Das späte Echo von Kriegskindheiten: Die Folgen des Zweiten Weltkriegs in Lebensverläufen und Zeitgeschichte 9783666404610, 9783525404614, 9783647404615


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Das späte Echo von Kriegskindheiten: Die Folgen des Zweiten Weltkriegs in Lebensverläufen und Zeitgeschichte
 9783666404610, 9783525404614, 9783647404615

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Insa Fooken / Gereon Heuft (Hg.)

Das späte Echo von Kriegskindheiten Die Folgen des Zweiten Weltkriegs in Lebensverläufen und Zeitgeschichte

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

Mit 8 Abbildungen und 5 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40461-5 Umschlagabbildung: Henri Rousseau, Der Krieg oder die reitende Zwietracht, 1894/akg-images/Laurent Lecat © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Hannelore Kraft Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Hartmut Radebold, Insa Fooken und Gereon Heuft Vorwort und kurze Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Fehlende und ferne (Kriegs-)Väter – lebensgeschichtliche Spuren einer spezifischen Familienkonstellation Insa Fooken Das Echo des toten Kriegsvaters im Lebensverlauf der Töchter – eine thematische Gemengelage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Klaus Lieberz Vateridealisierung als protektiver Faktor – Eindrücke aus der Mannheimer Kohortenstudie (MKS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Kriegs- und Verlusterfahrungen als literarisches Thema Christa Karpenstein-Eßbach Kriegsgewalt in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Jana Mikota »Der Vater ist im Krieg …« – Kriegsväter in der zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendliteratur . . . . . . . . . . . . 58

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Inhalt

Kriegskindheitserfahrungen als Thema in gesellschaftlichen Institutionen und Diskursen Markus Köster Kindheiten des Zweiten Weltkriegs im Geschichtsunterricht – exemplarische Überlegungen zu Lernzielen, Quellen und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Martin Erhardt Kriegskinder − (k)ein Thema für die kirchliche Bildungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Almut Leh Nie wieder Krieg. Zum friedenspolitischen Engagement ehemaliger Kriegskinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Maria Kröger Die Kinder des Zweiten Weltkriegs im öffentlichen Diskurs. Ein Programmschwerpunkt der Katholisch-Sozialen Akademie Franz Hitze Haus, Münster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Zeithistorische Besonderheiten und biographische Verwerfungen der Kriegsfolgen Bertram von der Stein »Dann lass ich uns eine Polin kommen« – transgenerationelle Traumatisierungen, Ressentiments und Missverständnisse samt Reaktualisierung in Pflegesituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Eike Hinze Kindheit als Objekt der Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

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Inhalt7

Kriegsprägungen und Transgenerationalität Johannes Kiess, Oliver Decker, Tobias Grave, Katharina Rothe, Marliese Weißmann und Elmar Brähler Erinnertes elterliches Erziehungsverhalten und politische Einstellungen in den Generationen des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit – Ergebnisse der »Mitte-Studien« . . . . 147 Werner Bohleber Traumatische Kriegserfahrungen und deren transgenerationelle Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Ulrich Lamparter und Christa Holstein Empirische Befunde zur »zweiten Generation« am Beispiel des »Hamburger Feuersturms« (1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Verdeckte Spuren des Krieges in der Versorgung und Pflege im Alter Katrin Naechster Verdeckte Spuren des Krieges – Beobachtungen einer Krankenhausseelsorgerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Werner Vogel Kriegskindheiten – von Bedeutung für die Versorgung von Patienten in der geriatrischen Klinik? . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Inka Wilhelm und Susanne Zank Unsichtbare Wunden – der Zweite Weltkrieg und pflegerische Versorgung heute. Eine empirische Studie zum Einfluss von Kriegstraumatisierungen auf aktuelle Pflegesituationen . . . . . . 227

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Inhalt

Kriegsbelastungen in Kindheit und Jugend – Symptomspezifika und Behandlungsaufträge im Alter Rolf D. Hirsch Unklare Symptome bei psychischen Störungen im Alter – an traumatisierende Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg denken 239 Georgia Böwing und Harald J. Freyberger Die Verbindung von PTSD und aktueller gerontopsychiatrischer Symptomatik an Fallbeispielen . . . . . . . 251 Carolin Wendt, Simone Freitag und Silke Schmidt Zur Bedeutung des Lebensalters bei der Vertreibung – erlebte Traumata und posttraumatische Belastungssymptome im höheren Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Michael Noll-Hussong PTSD und somatoforme Schmerzsymptomatik im Alter . . . . . 275 Gereon Heuft und Katharina Hucklenbroich Psychotherapie und Psychotraumatologie bei schweren psychischen Belastungen aus der Kindheit während des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

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Hannelore Kraft

Grußwort

Ich freue mich, dass der 2. Internationale Kongress »Kindheiten in Europa im II. Weltkrieg« in der Stadt des Westfälischen Friedens stattfindet und begrüße Sie herzlich bei uns in Nordrhein-Westfalen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind fast 70 Jahre vergangen und drei Generationen geboren worden. Doch die Vergangenheit ist niemals vergangen. Für viele Menschen in ganz Europa, die den mörderischsten Krieg aller Zeiten als Kinder oder Jugendliche erlebt haben, fand das Leiden auch nach 1945 kein Ende. Nach dem Krieg fragte sie kaum jemand, ob sie den Verlust der Eltern, ob sie existenzielle Bedrohungen und schwerste Entbehrungen hatten verarbeiten können – oder eben nicht. Ihre Hilf- und Sprachlosigkeit fand ihre Entsprechung im geringen öffentlichen Interesse an ihrer Not. Doch nach einem Leben voller Verpflichtungen brechen bei vielen Menschen die Erfahrungen von Tod, Zerstörung und Trennung auf. Manche Studien stellen fest, dass ein Drittel der im Krieg Geborenen als traumatisiert gelten kann, und nach Ansicht von Medizinern leiden Kriegskinder häufiger unter Ängsten, Depressionen und psychosomatischen Beschwerden als der Bevölkerungsdurchschnitt. Lange Zeit blieb den Betroffenen nur der zweifelhafte Trost, andere hätten es noch schwerer gehabt als sie. Doch endlich werden die Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs wissenschaftlich und publizistisch aufgearbeitet. Der Kongress in Münster gehört zu den herausragenden Foren des Austauschs und der Diskussion darüber. Er zeichnet sich aus durch seine breite interdisziplinäre Perspektive und die Teilnahme von Referenten aus anderen europäischen Staaten und aus Israel. Denn bei der Erkundung der deutschen Nachkriegskindheit darf man niemals vergessen, dass diese Kriegs- und Nachkriegsschicksale letztlich von der zerstörerischen Politik des Nationalsozialismus verursacht wurden. Es ist gut, dass der Kongress © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Grußwort

für sich ebenfalls in Anspruch nimmt, Aussagen zur Situation der Menschen in aktuellen Kriegsgebieten zu formulieren. Ich wünsche Ihnen intensive Beratungen und große internationale Resonanz. Ihre Arbeit wird immer wichtiger. Denn die Schädigungen von Kindern durch Kriege und Konflikte weltweit nehmen kein Ende – und die Schatten kriegerischer Auseinander­setzungen reichen bis heute weit in das Leben vieler Menschen hinein.

Hannelore Kraft, Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen

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Vorwort und kurze Einführung

Am 22. und 23. Februar 2013 fand in Münster unter der Schirmherrschaft der Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft, der 2. Internationale Kongress zum Thema »Kindheiten im Zweiten Weltkrieg in Europa« statt. Das im Programmheft abgedruckte Grußwort der Ministerpräsidentin ist in diesem Band dokumentiert. An der Spitze eines wissenschaftlichen Beirats übernahm Herr Univ.-Prof. Dr. med. Gereon Heuft, Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Münster, die Ausrichtung der Veranstaltung vor Ort. Dabei wurden er und der gesamte Beirat in hervorragender Weise von der Leitung der Katholischen Akademie Franz Hitze Haus Münster unterstützt: Herrn Prof. DDr. Thomas Sternberg als Akademieleiter und Frau Maria Kröger als Leiterin des Fachbereiches 4 »Generationen, Integration und Kommunikation«. Die Akademie ermöglichte es mit ihren vielfältigen räumlichen und organisatorischen Ressourcen, den Kongress trotz etwa 300 teilnehmenden Personen in einer »familiären« Atmosphäre zu gestalten. Die Referenten und die verschiedenen Teilnehmerkreise konnten somit auch jenseits der Diskussionszeiten in den Symposien, in den Pausen und bei den gemeinsamen Mahlzeiten miteinander ins Gespräch kommen. Vom 14. bis zum 16. April 2005 fand an der Johann-WolfgangGoethe-Universität in Frankfurt am Main der 1. Internationale Kongress zum Thema »Die Generation der Kriegskinder und ihre Botschaft für Europa 60 Jahre nach Kriegsende« statt. Hier wurden erstmals Betroffene aus vielen Ländern Europas zusammengeführt und es wurde die Möglichkeit geschaffen, die bis zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegenden Forschungsergebnisse vieler Wissenschaftsdisziplinen vorzustellen und sich darüber diskursiv auszutauschen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Vorwort und kurze Einführung

(Radebold, Heuft u. Fooken, 2009; Ewers, Mikota, Reulecke u. Zinnecker, 2006). Viele der Betroffenen, die bis dahin die oft belastenden und/oder traumatisierenden Erfahrungen, die sie in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit gemacht hatten, eher verdrängten bzw. diffus darunter litten, wissen seitdem um die Nachwirkungen dieser Erlebnisse, die ja nicht untypisch sind für viele Angehörige der Kriegskindergeneration gerade in ihrem jetzigen Alternsprozess. Dieser Kongress wurde vorbereitet und durchgeführt von der interdisziplinären Forschergruppe »weltkrieg2kindheiten«, in der die Disziplinen Geschichte, Literatur- und Sozialwissenschaft, Gerontologie, Psychologie, Psychoanalyse und Medizin vertreten waren. Acht Jahre nach diesem ersten Kongress war es das Ziel derselben Gruppe, zu einer Bestandsaufnahme neuer Erkenntnisse und Ergebnisse der inzwischen erfolgten Forschung zu kommen und den Austausch über wichtige neue Fragestellungen – möglichst aus internationaler Perspektive – voranzubringen. Die in Beratung, Therapie, Bildungsarbeit, Seelsorge, Hospizarbeit und insbesondere in Versorgung und Pflege tätigen Berufsgruppen werden inzwischen zunehmend mit den Langzeitfolgen dieses Krieges konfrontiert und benötigten dringend fundierte Informationen und Unterstützung für ihre tägliche Arbeit. Die Relevanz der Fragestellungen ergibt sich nicht nur aus einer rein europäischen historischen Perspektive. Auch heute finden tagtäglich weltweit kriegerische Auseinandersetzungen statt, bei denen wiederum insbesondere Kinder und Frauen betroffen sind. Die hier berichteten Erfahrungen werfen somit die Frage auf, wie sich die uns bekannten Folgen zumindest sekundär präventiv verringern lassen könnten. Nicht alle Präsentationen und Veranstaltungen des Kongresses eigneten sich aufgrund der eingesetzten Medien (z. B. Autorenlesungen, Filmvorführungen) gleichermaßen für einen Beitrag in dieser Publikation. Im Kongressablauf ist aber der Thematisierung lebenslanger individueller und familiärer Folgen des Zweiten Weltkriegs im letzten Jahrzehnt durch die Einbeziehung wichtiger Sachbücher, Biographien und Dokumentarfilme viel Raum gegeben worden. So bot der Kongress unter anderem die Chance des Austauschs mit den Autorinnen Hilke Lorenz: »Kriegskinder – das Schicksal einer Gene© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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ration« (2003), Sabine Bode: »Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen« (2004), Ann-Ev Ustorf: »Wir Kinder der Kriegskinder. Die Kinder im Schatten des Zweiten Weltkriegs« (2008), Katja Thimm: »Vatertage. Eine deutsche Geschichte« (2011) und Barbara Stambolis: »Töchter ohne Väter. Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht« (2012) sowie mit den Dokumentarfilmern Tina Soliman: »Sei froh, dass Du lebst. Kriegskinder erinnern sich« (2005) und Andreas Fischer: »Söhne ohne Väter« (2007). Auch sonst stellt dieses Buch keine komplette Wiedergabe aller Kongressbeiträge dar, sondern präsentiert eine Auswahl von Themen, die von den Referenten selbst als geeignet und passend für diese Publikation eingebracht wurden. Letztlich ist ein beeindruckendes Spektrum von unterschiedlichen disziplinären Perspektiven und Akzentsetzungen zusammengekommen, die in sieben Themenkreisen zusammengefasst wurden. Sie sollen im Folgenden kurz skizziert werden. Es beginnt mit zwei Beiträgen zu möglichen lebensgeschichtlichen Spuren und psychischen Folgen einer spezifischen Familienkonstellation, die sich ergibt, wenn Väter gänzlich fehlen oder aber mittelbar »fern« sind. Die folgenden beiden Beiträge thematisieren Kriegs- und Verlusterfahrungen als literarisches Thema, sowohl in der allgemeinen Literatur als auch in der Kinderliteratur. Mit vier weiteren Beiträgen wird der Tatsache Rechnung getragen, dass die Erfahrungen, die mit einer Kriegskindheit verbunden sein können, in verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen und öffentlichen Diskursen (z. B. Geschichtsunterricht, kirchliche Bildungsarbeit, Selbsthilfegruppe) zum Thema gemacht werden. Auch spezifische Besonderheiten, die mit zeitgeschichtlichen Umständen zusammenhängen (Kriegsauswirkungen in Polen, Kinder als Zeitzeugen) kommen in zwei Beiträgen zur Sprache genauso wie das Thema der transgenerationellen Weitergabe typischer zeitgebundener und/oder kriegstraumatischer Prägungen in den drei folgenden Texten. Drei weitere Beiträge gehen den verdeckten Spuren des Krieges in der Versorgung und Pflege im Alter nach und schließlich geht es – insbesondere aus Sicht verschiedener medizinischer Fachrichtungen – in den letzten fünf Beiträgen um die Frage nach spezifischen Behandlungsauf© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Vorwort und kurze Einführung

trägen und Symptomen im Alter, wenn Kindheit und Jugend durch Kriegsbelastungen geprägt waren. Alles in allem ist hier tatsächlich so etwas wie ein »spätes Echo« von Kriegskindheitserfahrungen im Zweiten Weltkrieg eingefangen worden, ein Echo, das lange in den Lebensverläufen der betroffenen Menschen und Familien sowie in den zeitgeschichtlichen Diskursen nachhallen kann. Wir freuen uns, dass dieser repräsentative Querschnitt der verschiedenen beteiligten Fachdisziplinen, so wie sie beim Kongress vertreten waren, nun als Publikation vorliegt. Zu unserem Bedauern konnten wir beim Kongress zahlreiche Anmeldungen von Interessenten aus Platzgründen nicht mehr berücksichtigen. Wir hoffen, dass nun dieser Band die vielen in dieser Thematik engagierten Personen in anregender Weise über wesentliche Ergebnisse dieses zweiten Kriegskinderkongresses informiert und sie ermutigt, sich weiter mit diesem Thema in ihren jeweiligen Fächern und Professionen zu befassen. Hartmut Radebold, Insa Fooken und Gereon Heuft

Literatur Radebold, H., Heuft, G., Fooken, I. (Hrsg.) (2009). Kindheiten im Zweiten Weltkrieg. Kriegserfahrungen und deren Folgen aus psychohistorischer Perspektive (2. Aufl.). Weinheim: Juventa. Ewers, H.-H., Mikota, J., Reulecke, J., Zinnecker, J. (Hrsg.) (2006). Erinnerungen an Kriegskindheiten. Erfahrungsräume, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik unter sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Weinheim: Juventa.

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Fehlende und ferne (Kriegs-)Väter – lebensgeschichtliche Spuren einer spezifischen Familienkonstellation

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Insa Fooken

Das Echo des toten Kriegsvaters im Lebensverlauf der Töchter – eine thematische Gemengelage

Die Spur früher Vaterlosigkeit – ein durchgängiges Thema bis ins Alter? Viele der Frauen und Männer, die kriegsbedingt (fast) dauerhaft vaterlos aufgewachsen sind, waren im Zweiten Weltkrieg noch Kinder bzw. sind erst im Kriegsverlauf zwischen den Jahren 1939 und 1945 geboren worden. Die meisten von ihnen haben ihre leiblichen Väter – wenn überhaupt – nur ein paar wenige Jahre konkret erlebt. Manche haben den Vater noch kennengelernt, bevor dieser eingezogen wurde, andere erinnern zumindest noch rudimentär eine kurze gemeinsame Zeit mit Vater und Mutter. Ein Teil der hier zu Wort kommenden Frauen hat allerdings keinerlei konkrete Erinnerung mehr an den Vater – alle diese Väter sind letztlich, wie es damals oft unscharf und fast euphemistisch formuliert wurde, »im Krieg geblieben«. So waren die Kindheiten dieser Frauen dadurch geprägt, dass die Väter nach dem Ende des Kriegs zwar eine nicht unbeträchtliche psychische Präsenz beibehielten, physisch aber nicht mehr da waren. Dabei kann diese historische Zeit generell als eine vaterferne und vaterarme Epoche bezeichnet werden (vgl. Stambolis, 2013). Dennoch unterschied sich die Situation der Kinder, deren Väter tot oder vermisst waren, deutlich von den Lebenszusammenhängen der Kriegskinder, deren Kindheiten von der Rückkehr der Väter aus dem Krieg bzw. der Kriegsgefangenschaft bestimmt wurden. Paradoxerweise erfuhren letztere zum Teil spezifische Formen von Vaterschädigungen, da ihre Väter als zumeist junge Soldaten oft physisch und/oder psychisch so verstört waren, dass sie einer von den Kindern phantasierten Vaterrolle kaum gerecht wurden, sondern eher (neues) Leid über ihre Frauen und Kinder brachten (vgl. Jetter, 2004). Diese unterschiedlichen Kriegskindheitserfahrungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Insa Fooken

führen bis heute noch manchmal dazu, dass diese beiden Gruppen von Kriegskindern sich im Vergleich mit der jeweils anderen als in ganz besonderer Weise benachteiligt und belastet fühlen. Dabei haben einige der hier befragten vaterlosen Töchter nach dem Tod des oft idealisierten leiblichen Vaters später auch noch Formen von Vaterschädigungen im Zusammenhang mit neuen Partnern ihrer Mütter bzw. mit ihren Stiefvätern erlitten. Aber das war nicht die Regel, denn auch hier gab es gegenteilige Erfahrungen – so wurden manche Stiefväter partiell oder auch generell als hinreichend kompensierender Vaterersatz akzeptiert. Die im Folgenden durchgeführte Analyse biographischer Texte von vaterlosen Töchtern ist aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive heraus vorgenommen worden. Es geht somit um die Erfassung von Entwicklungs- und Veränderungsprozessen bzw. um Formen und Möglichkeiten von Bewältigung und Weiterentwicklung über die gesamte Lebensspanne – angefangen mit der frühen Kindheit bis zur jetzigen Lebenssituation im (beginnenden) Alter – und es geht weniger um Störungen, Krisen, Probleme und deren pathogene Wirkungen. Gerade angesichts der ja vorhandenen Entwicklungsrisiken, Lebenswidrigkeiten, Bedrohungen und Traumata kommt den möglichen Ressourcen und Kompetenzen eine ungemein wichtige Bedeutung zu. Von Interesse sind im Rahmen dieser Analyse darüber hinaus auch die Daseinsthemen und Lebensziele der Frauen, ihre Lebensansprüche sowie ihre Einschätzungen von so etwas wie eigenem »Lebenserfolg«. Einige wichtige Erkenntnisse dieser Analyse können hier bereits kurz vorweggenommen werden: Es handelt sich insgesamt gesehen um eine thematische Gemengelage. Auch wenn das Bestimmtsein von der Sehnsucht nach dem Vater ein ganz zentrales Thema und Lebensgefühl der Frauen beschreibt (vgl. Stambolis, 2012), ist auch dieser Themenkomplex in ganz unterschiedliche psychische Konstellationen und Konnotationen eingebunden. So wird die Vatersehnsucht oft begleitet von Ambivalenzgefühlen und Ambiguitätserleben im Sinne einer schwer zu definierenden gefühlten Uneindeutigkeit der Lebenszusammenhänge (vgl. Boss, 2000, 2006; Lüscher, 2012). Die verunsichernde Frage, ob sie das fühlen dürfen, was sie fühlen, hat viele Frauen lebenslang begleitet. Daneben gibt es aber auch – manchmal wegen, manchmal trotz der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

Das Echo des toten Kriegsvaters im Lebensverlauf der Töchter19

Vatersehnsucht – viele Belege und Evidenz für Lebensbewältigung, vor allem für das Bedürfnis nach Lebensbewältigung, die Suche nach Ich-Integrität (vgl. Erikson, 1950/1966) und das aktive Ringen um psychische Sicherheit. Definiert man die Erlangung von Resilienz als Ausdruck eines generalisierten regulatorischen Kapitals (vgl. Fooken, 2013), dann haben sich letztlich viele der befragten Frauen trotz ursprünglich vorhandener Vulnerabilität als resilient erwiesen. Der frühe kriegsbedingte Vaterverlust ist somit durchaus ein Thema bis ins Alter, aber viele der befragten Frauen eignen sich in diesem Zusammenhang die eigene Lebensgeschichte nicht ausschließlich als Opfergeschichte an. Dabei zeigen sie ihre psychische Widerstandskraft auf eine eher leise und unprätentiöse Art als Bereitschaft, den Gefährdungen und der Fragilität der Lebensvollzüge ihre ganz eigene Form einer selbstbestimmten Anpassung entgegenzusetzen.

Quellenmaterial, Methode und Stichprobenbeschreibung Das Quellenmaterial dieses Beitrags besteht aus autobiographischen Texten von vaterlosen Töchtern, die im Rahmen eines zeithistorischen Forschungsprojekts zusammengetragen wurden (vgl. Stambolis, 2012, 2013). Dabei handelt es sich um Antworten auf einen offenen Fragenkatalog mit neun Themenkreisen, die im weitesten Sinn alle etwas mit der kriegsbedingten Vaterlosigkeit von Töchtern zu tun haben, sowie um die Erfassung einer Reihe von themenrelevanten soziodemografischen Merkmalen. Umfang, Ausführlichkeit und Prägnanz der schriftlich formulierten Antworten fielen sehr unterschiedlich aus, so dass die komparatistische Analyse des Materials bzw. die Entwicklung eines darauf basierenden Auswertungssystems nur begrenzt möglich war. Da allen Befragten klar war, dass es um eine Studie zum bislang wenig beforschten Thema vaterlos aufgewachsener Töchter des Zweiten Weltkriegs ging, nahmen der Vaterverlust und seine Folgen im Lebensverlauf der Töchter einen relativ breiten Raum in den Antworten ein. Gerade deswegen war es einigen Frauen wichtig, darauf zu verweisen, dass durch diese Vorgabe dem Thema der frühen Vaterlosigkeit möglicherweise eine zu große Bedeutung zukommen würde. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Insa Fooken

Der Zugang zur Stichprobe verlief nach dem Schneeballprinzip im Kontext verschiedener Aktivitäten der interdisziplinären Forschungsgruppe »Kinder des Weltkriegs« (Radebold, Heuft u. Fooken, 2009). Insgesamt wurden etwa 160 Fragebögen verschickt, von denen in sehr unterschiedlichen Zeitabständen etwa 120 Bögen mehr oder weniger vollständig ausgefüllt zurückkamen. Das Prozedere der Auswertung des Materials bezog sich zunächst auf soziodemografische Aspekte, auf die Lebensumstände des Aufwachsens und der weiteren biographischen Entwicklung sowie auf die mehr oder weniger objektiven Angaben zum Vaterverlust. Um die subjektiven und mentalen Repräsentationen der Geschehensabläufe aus der Sicht der befragten Frauen zu erfassen, wurde zunächst ein Drittel der Fragebögen gesichtet, um erst dann verschiedene themenrelevante theoretische Konzepte an das Material heranzutragen. Danach erfolgte ein zweites, diesmal stärker theoriegeleitetes Lesen, um Auswertungskategorien zu entwickeln, die eine gewisse Vergleichbarkeit des Materials ermöglichten, gleichzeitig aber auch so viel Individualität wie möglich abbilden sollten (vgl. Fooken, 2013). Die hier beschriebene Stichprobe besteht aus autobiographischen Skizzen und Texten von insgesamt 84 (kriegsbedingt) vaterlos aufgewachsenen Frauen der Geburtsjahrgänge 1933 bis 1945. Gut ein Viertel (28 %) von ihnen wurde noch vor dem Krieg bis 1938 geboren und kannte somit den Vater noch in Friedenszeiten. Knapp die Hälfte (45 %) der Frauen kam in den ersten vier Kriegjahren zwischen 1939 und 1942 zur Welt, das heißt in einer Zeit, in der (noch) nicht unbedingt zu erkennen war, dass dieser Krieg in schrecklicher Weise zu Ende gehen würde. Ein weiteres Viertel (26 %) der Befragten kam in den letzten Kriegsjahren zwischen 1943 und 1945 auf die Welt, das heißt in einer Zeit, in der den meisten Menschen klar gewesen sein müsste, dass Deutschland diesen Krieg nicht mehr gewinnen würde. Im Durchschnitt waren die Frauen vier Jahre alt, als sie den Vater verloren, wobei die in den letzten Kriegsjahren geborenen Frauen in der Regel ihre Väter gar nicht mehr kennenlernten. Die Väter starben mehrheitlich jung, durchschnittlich im Alter von 37 Jahren, während die Mütter zumeist ausgesprochen hochaltrig wurden (im Schnitt 80 Jahre) und somit die Lebensverläufe ihrer Töchter oft über Jahrzehnte hinweg beeinflussten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Schaut man sich an, wie die Todesumstände der Väter kodifiziert wurden, dann galt bei knapp einem Drittel der Frauen der Vater als »gefallen«, bei gut einem weiteren Drittel waren die Väter an anderen Kriegsfolgen gestorben (z. B. in der Gefangenschaft) und beim verbleibenden Drittel handelte es sich um »vermisste« bzw. »verschollene« Väter, deren Todesumstände zu zwei Dritteln wiederum dauerhaft ungeklärt blieben. Nur 17 % der Mütter heirateten wieder, so dass es einen Stiefvater gab – mit unterschiedlichen Bewertungen und Reaktionen darauf seitens der Töchter. Die meisten Mütter waren somit alleinerziehend und weibliche Lebenskontexte dominierten den Alltag. Bei gut einem Viertel der Frauen kamen zu den ohnehin gegebenen kriegsbedingten Belastungen die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung hinzu. Hinsichtlich der formalen Bildungsabschlüsse handelt es sich um eine Gruppe von Frauen mit relativ hohen Bildungs- und Ausbildungsabschlüssen: Etwa 40 % der hier befragten Frauen haben mittlere Schulabschlüsse und weitere 45 % einen Fachoberschulbzw. Gymnasialabschluss. Ähnlich sieht es bei den Lehr-, Ausbildungs- und Studienabschlüssen aus. Trotz der für diese Geburtsjahrgänge eher ungewöhnlich hohen formalen Ausbildungs- und Bildungsqualifikationen haben die meisten Frauen dennoch »selbstverständlich« geheiratet, im Schnitt zwei bis drei Kinder bekommen und ihre berufliche Orientierung partiell zurückgestellt. Interessanterweise ist der Anteil derjenigen, die im Verlauf ihrer ehelichen Beziehungen geschieden wurden, ausgesprochen hoch (42 %). Angesichts der zumeist gegebenen sexuellen Unerfahrenheit, der rigiden moralischen Normen und dem Fehlen guter elterlicher Partnerschaftsmodelle entpuppte sich der fehlende Vater aus subjektiv ganz unterschiedlichen Erklärungszusammenhängen heraus als eine gravierende Hypothek bei der Gestaltung von Partnerschaften. Das galt verstärkt, wenn beide Partner vaterlos aufgewachsen waren.

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Kriegskindheit und Vaterverlust – das unmittelbare kindliche Erleben Wie hat man sich das damalige kindliche Erleben vorzustellen? Die Antworten der Frauen auf einige der Fragen lassen vermuten, dass die Art der sprachlichen Benennung des väterlichen Schicksals sich wie eine Chiffre in die mentale Struktur der Kinder eingebrannt hat. Wahrscheinlich ist die Nachricht vom Tod des Vaters bzw. vom damit verbundenen Geschehen seinerzeit in einer Weise verbalisiert und kommuniziert worden, die nicht bedachte, was Kinder sich hierunter vorstellen würden. Viele der Frauen nennen auf den Antwortbögen das genaue Datum, manchmal sogar die Uhrzeit, oder sie nutzen Sprachformeln, mit denen das Zu-Tode-Kommen der Väter damals wahrscheinlich benannt wurde: »Von Granate im Panzerstand zerfetzt«, »Bauchschuss«, »Beim Untergang der Steuben ertrunken«, »Am 3. November im Lager in Russland verhungert«, »Gefallen« oder »Vermisst in Stalingrad«. Eine der Befragten beantwortete die erste Frage des Fragebogens, die sich auf das Geburtsdatum der Frauen bezog, mit »Lungensteckschuss«. Sie hat diese Antwort dann durchgestrichen und später noch einmal bei der Frage nach dem väterlichen Tod wiederholt. Die Antwort wirkt aber in gewisser Weise wie symptomatisch für die von Kindheit an oft übermächtige innere Präsenz des toten Vaters – die gleichzeitig auch eine Abwehr der Trauer darstellt. Vergegenwärtigt man sich das kindliche Alter, in dem die meisten der Frauen den Vaterverlust erlebten, muss man davon ausgehen, dass sie damals wahrscheinlich über keine klaren Todeskonzepte verfügten, noch letztlich wirklich wussten, dass Tod dauerhafte Trennung, Irreversibilität und Endgültigkeit bedeutet (vgl. Wittkowski, 1990). Schon allein so unscharfe Formulierungen wie die, dass der Vater »gefallen« sei oder »vermisst« werde, waren Anlass für vielfältige kindliche Phantasien über die Existenzform des Vaters. Somit stellten sich für die Kinder ihre Lebenszusammenhänge durchgängig als uneindeutig (ambig) dar. Man spürte die Abwesenheit von Männern und Vätern und dennoch waren die normativen Leitbilder von »intakten, heilen Familien« weiterhin gültig. Was fühlten und dachten die Mädchen bzw. was glaubten sie, was sie denken und fühlen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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sollten? Sollten sie traurig sein, weil es die Mutter auch war? Sollten sie fröhlich sein, um die Mutter aufzuheitern? Sollten sie hoffen, sollten sie bangen? In jedem Fall sollten sie brav und tüchtig sein, nicht auffallen, und es der Mutter nicht zusätzlich noch schwerer machen. Die Uneindeutigkeiten und Ambivalenzgefühle beherrschten gerade auch die Beziehung zum toten Vater. Er war präsent als Foto an der Wand, in Uniform, es gab Feldpostbriefe mit seinen Fragen und Ermahnungen. Es gab Rituale, die die Trauer in Schach halten oder die gegen alle Wahrscheinlichkeit ersehnte Rückkehr beschwören sollten – der Vater war somit gleichzeitig da und nicht da. Da es ja auch nach Jahren immer noch spät heimkehrende Väter gab, blieben die ambige Lebenssituation und die ambivalenten Gefühlslagen lange bestehen – es war ein Hin-und-Her-Kippen zwischen Hoffnung auf Wiederkehr des Vaters, verzehrender Sehnsucht nach dem idealisierten Vater und der irgendwie auch tiefen Gewissheit, den Vater endgültig verloren zu haben. Boss (2000, 2006) verweist darauf, dass ein solcher ambiguous loss, ein uneindeutiger Verlust, die notwendige Trauerarbeit verhindert. Viele Frauen berichten zudem vom Beschweigen des Verlustes gegenüber den Kindern sowie davon, keinen Trost erfahren zu haben, da insbesondere die Mütter oft psychisch nicht erreichbar waren. Kamen dann im sozialen Umfeld Ausgrenzungserfahrungen hinzu (als Flüchtlingskind, als vaterloses Kind aus einer unvollständigen Familie bzw. ärmlichsten Verhältnissen etc.), wuchsen die Gefühle von Ohnmacht und Einsamkeit – in diesem Erlebensraum konnte sich dann immer wieder virulent eine unstillbare und oft lebenslang währende Sehnsucht nach dem Vater als idealisierter Inbegriff einer Halt, Geborgenheit, Anerkennung und Vollständigkeit gewährenden Instanz entfalten.

Die Pfade der Sehnsucht und die Fähigkeit zur Improvisation Zu Recht müssen Leid, Not und Kummer der vaterlosen Töchter berichtet und betrauert werden. Aber es wäre ein unvollständiges Bild, wenn die Lebensgeschichten der hier befragten Frauen nur aus diesem Blickwinkel dargestellt würden. Betrachtet man die gesamte Entwicklung der Frauen bis ins Alter hinein, fällt bei vielen die Fähig© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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keit auf, all die Ungereimtheiten, Widersprüche, Gefährdungen und Unvollständigkeiten in ihren Lebensverläufen doch irgendwie selbstreflexiv integriert zu haben. Man könnte mit Lüscher von der Entwicklung einer Ambivalenz- bzw. Ambiguitätstoleranz sprechen, die es den Frauen ermöglicht, »sich unter Bezugnahme auf ein offenes oder verdecktes Verständnis ihrer selbst im Labyrinth des Lebens [zu] orientieren« (Lüscher, 2010, S. 137). Lüscher sieht hier eine Nähe zum Spiel mit freier musikalischer Improvisation. In gewisser Weise haben sich auch die hier befragten Frauen als sensible Improvisationskünstlerinnen erwiesen, die ihre Spielräume gegen viele Widerstände gerade im Zuge des Älterwerdens nutzen. Es spricht vieles dafür, dass die vielen Facetten des Sehnsuchtsthemas als Ausdruck von Lebenskompetenz, Daseinsbewältigung und in gewisser Weise von Resilienz bewertet werden können. So manifestiert sich hier möglicherweise eine leicht übersehene menschliche Kraft, nämlich die Kraft der Träume, Phantasien und imaginären Wunscherfüllungen. Das sich in dieser Befragung auffächernde große Spektrum der Sehnsuchtsbilder (vgl. Fooken, 2012) könnte somit als ein Ausdruck von Kreativität und nicht unbedingt (nur) von Pathologie bewertet werden. Von der heutigen Situation im Alter her betrachtet, lassen sich zwei unterschiedliche Verlaufsformen der Sehnsucht identifizieren. Bei etwas weniger als der Hälfte der Frauen ist die Intensität des Sehnsuchtsthemas moderat ausgeprägt, entweder, weil das immer schon so war oder weil sich das Gefühl eingestellt hat, die notwendige Trauerarbeit geleistet zu haben, so dass die Sehnsucht ihre bedrängende Qualität verlieren konnte. Bei etwas mehr als der Hälfte der Befragten hingegen entfaltet das Phänomen Sehnsucht weiterhin eine beträchtliche Virulenz. Dies bedeutet entweder eine Verstärkung der leidvoll erlebten Sehnsucht im Alter oder sie wird als punktuell immer wiederkehrender Einbruch bei bestimmten Anlässen erlebt oder zeigt sich als ein kontinuierliches, lebenslanges und nie endendes Thema. Dennoch bedeutet auch eine hohe Ausprägung des Sehnsuchtsthemas nicht per se psychische Belastung und Unausweichlichkeit. Nach Baltes kommt der Sehnsucht die Funktion zu, eine imaginierte und idealisierte Alternative gegenüber einer »als unvollkommen erlebten Gegenwart« (2008, S. 80) aufzubauen. Sehnsucht kann damit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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eben auch als eine Fähigkeit bewertet werden, Leid zu überwinden – zumindest partiell und punktuell. Der Mangel, die Unvollkommenheit, die Einsamkeit, die reale Unverbundenheit mit dem geliebten (Vater-)Objekt können sich in der Sehnsucht nach dem idealisierten Objekt kurzfristig aufheben, sie können sich allerdings langfristig auch wieder verstärken. »Die Sehnsucht kann trösten und quälen zugleich«, konstatiert Hantel-Quitmann (2011, S. 21). So finden sich in diesen Texten die zermürbenden Schmerzspuren der Sehnsucht, aber auch Transformationen des Sehnsuchtsgefühls, die dann durchaus als Trost, Heilung, Integration oder Ganzwerdung empfunden werden. In seiner Phänomenologie der Sehnsucht führt Baltes (2008, S. 80 f.) sechs Komponenten an, die sich auch in den Antworten der Frauen finden: ȤȤ persönliche Utopie im Sinne einer »Sehnsucht, dass sich doch alles wie im Märchen erfüllen sollte«. ȤȤ Gefühle der Unvollständigkeit und Unfertigkeit des Lebens, die sich beispielhaft immer dann zeigen, »wenn die Familie öffentlich aufgetreten ist bei der Konfirmation oder der Hochzeit, denn da fehlte der Vater ganz besonders schmerzlich«, oder die bis heute schmerzlich daran erinnern, »den Vater nie kennen gelernt zu haben, weil ich nie das Leben mit ihm teilen konnte, auch nicht wenigstens für eine kurze Zeit, so dass ich eine eigene Erinnerung an ihn haben könnte. Ich würde auch heute noch ein paar Jahre meines Lebens dafür geben, wenn ich meinen Vater sehen, sprechen und umarmen könnte, um zu erfahren, welch ein Mensch er war und wie er als Vater gewesen wäre«. ȤȤ Dreizeitigkeit als ein gleichzeitig erlebter Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, beispielhaft beschrieben als Bild eines »alten Traums«, der »immer wieder auftaucht« und die Zukunft verschließt, denn der Vater »wird nie mehr zurückkommen«. ȤȤ emotionale Ambivalenz, wenn gesagt wird: »ich habe gelernt, die Ambivalenz auszuhalten zwischen einerseits der grausamen Tatsache, dass er Nazi war und ich ihn deshalb ablehne und der Sehnsucht nach Liebe zu ihm«. ȤȤ reflexive und evaluative Prozesse des Bewertens und Neubestimmens, wenn berichtet wird, dass »ich erneut die intensive Spurensuche aufgenommen [habe], und sie hat mich nicht mehr © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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losgelassen. Im letzten Sommer war ich in Russland und habe das Grab meines Vaters gesucht. Nach schwierigen Recherchen habe ich es gefunden. Ich habe das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Es schließt sich für mich ein Kreis, der zu Beginn meines Lebens begonnen hat«. ȤȤ symbolische Bedeutung, beispielhaft formuliert als: »mein Ziel war eine ganz besonders glückliche Ehe und Familie. Da ging alle Sehnsucht hin, eine heile Familie zu erleben«.

Die Patina der Sehnsucht und die »tanzenden Tränen« In der wiederholten Beschäftigung mit den sehr persönlichen Zeugnissen der vaterlosen Frauen wurde zunehmend deutlich, dass es vielen der hier befragten Frauen nicht gerecht würde, ihre Lebensgeschichten nur als »Leid«- und »Opfergeschichte« wahrzunehmen, obwohl das Leid und die Not der damaligen Kinder zunächst sehr im Vordergrund stehen. Insbesondere das Bemühen um Formen einer selbstreflexiven Aneignung der eigenen Lebensgeschichte ermöglicht zumeist die Erkenntnis der erarbeiteten eigenen psychischen Stärke. So erinnern sich viele Frauen daran, dass sie in der Kindheit auf sich selbst geworfen waren, aber sie wissen mittlerweile auch, dass sie entweder aus eigener Kraft mit der Situation fertig geworden sind oder in der Lage waren, sich soziale Unterstützung verfügbar zu machen. So empfinden die meisten der Frauen im Alter eine Art uneitlen Stolz auf ihre Lebensleistung. Sie haben dabei weder vergessen noch verdrängt, wie schwer alles war, wie sehr sie sich gesehnt haben und wie die Patina der Sehnsucht ihr Lebensgefühl grundiert hat. Genau auf diesem Hintergrund können sie aber gut nachempfinden, wie es Kindern heutzutage in unübersichtlichen und überfordernden Lebensumständen geht, sie müssen das Leid der anderen nicht an ihrem eigenen relativieren. Nicht alle, aber viele der Frauen können sich mittlerweile zugestehen, dass sie trotz vieler aversiver Lebensumstände aus eigener Kraft viel erreicht haben. Das heißt dann zumeist auch, dass sie mit Interesse und Stolz auf ihre Kinder und Enkel schauen können und das eigene Trauma eher nicht transgenerational weitergeben müssen. In seinem Gedicht »Initiale« transformiert Rainer Maria Rilke die hier beschriebene © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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thematische Gemengelage in Poesie: »Aus unendlichen Sehnsüchten steigen endliche Taten wie schwache Fontänen […]. Aber, die sich uns sonst verschweigen, unsere fröhlichen Kräfte – zeigen sich in diesen tanzenden Tränen« (Rilke, 1899/1966, S. 147).

Literatur Baltes, P. B. (2008). Positionspapier: Entwurf einer Lebensspannen-Psychologie der Sehnsucht. Utopie eines vollkommenen und perfekten Lebens. Psychologische Rundschau, 59 (2), 77–86. Boss, P. (2000). Leben mit ungelöstem Leid. Ein psychologischer Ratgeber. München: C. H. Beck. Boss, P. (2006). Loss, trauma, and resilience. Therapeutic work with ambiguous loss. New York u. London: W.W. Norton & Company. Erikson, E. H. (1950/1966). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fooken, I. (2012). Die Einsamkeit der Sehnsucht – Zur lebenslangen Vater-Sehnsucht vaterloser Töchter. Psychotherapie im Alter, 17 (4), 505–518. Fooken, I. (2013). »Ich wollte ihm eine Freude machen« – Spuren »toter Kriegsväter« in den Lebensverläufen der Töchter aus entwicklungspsychologischer Sicht. In B. Stambolis (Hrsg.), Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten. Beiträge zu einem historischen und gesellschaftlichen Schlüsselthema (S. 86–114). Weinheim u. München: Beltz Juventa. Hantel-Quitmann, W. R. (2011). Sehnsucht. Das unstillbare Gefühl. Stuttgart: Klett-Cotta. Jetter, M. (2004). Mein Kriegsvater. Hamburg: Hoffmann und Campe. Lüscher, K. (2010). »Homo ambivalens«: Herausforderung für Psychotherapie und Gesellschaft. Psychotherapeut, 54 (2), 1–10. Lüscher, K. (2012). Menschen als »homines ambivalentes«. In D. Korczak (Hrsg.), Ambivalenzerfahrungen (S. 11–32). Kröning: Asanger. Radebold, H., Heuft, G., Fooken, I. (Hrsg.) (2009). Kindheiten im Zweiten Weltkrieg. Kriegserfahrungen und deren Folgen aus psychohistorischer Perspektive (2. Aufl.). Weinheim: Juventa. Rilke, R. M. (1899/1966). Werke in drei Bänden, Band 1, Gedicht-Zyklen (S. 147). Frankfurt a. M.: Insel. Stambolis, B. (2012). Töchter ohne Väter: Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht. Stuttgart: Klett-Cotta. Stambolis, B. (2013). Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten. Beiträge zu einem historischen und gesellschaftlichen Schlüsselthema. Weinheim u. München: Beltz Juventa. Wittowski, J. (1990). Psychologie des Todes. Wiesbaden: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Vateridealisierung als protektiver Faktor – Eindrücke aus der Mannheimer Kohortenstudie (MKS)

Vorbemerkungen Die Mannheimer Kohortenstudie (MKS) wurde in den 1970er Jahren unter der Leitung von Heinz Schepank konzipiert und angegangen. Dabei handelt es sich um eine epidemiologische Langzeituntersuchung bezogen auf sogenannte Psychogene Störungen (Anpassungsstörungen, neurotische und psychosomatische Störungen, Süchte, Persönlichkeitsstörungen), durchgeführt an drei Alterskohorten der (deutschen) Mannheimer Allgemeinbevölkerung. Mannheim stand dabei für eine repräsentative deutsche Großstadt. Es handelt sich um die Jahrgänge 1935, 1945 und 1955, also um zwei »Kriegsjahrgänge« und einen »Nachkriegsjahrgang«. Untersucht wurden insgesamt 600 Probanden, jeweils 200 eines jeden Jahrgangs, jeweils zur Hälfte Frauen und Männer. Das Design der Studie war so angelegt, dass eine repräsentative Aussage über die Verhältnisse in der Stadtbevölkerung getroffen werden konnte (Schepank 1987, 1990; Franz, Lieberz u. Schepank, 2000; Lieberz, Franz u. Schepank, 2011). Im Mittelpunkt dieser Untersuchung standen zwei Fragen: 1. Wie häufig sind psychogene Störungen in der allgemeinen deutschen Stadtbevölkerung? 2. Welchen Verlauf nehmen diese Störungen im Laufe der Zeit? Die Untersuchung begann nach einem Probelauf mit der sogenannten »A-Studie« zwischen 1979 und 1982. Es folgten über mehrere Jahre weitere Querschnittsuntersuchungen. Mit der sogenannten »E-Studie« wurde nach insgesamt 25 Jahren Verlaufsbeobachtung die Untersuchung abgeschlossen. Jede Untersuchung beinhaltete ein persönlich durchgeführtes, mehrstündiges tiefenpsychologisches Interview durch psychoanalytisch ausgebildete und erfahrene Unter© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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sucher sowie den zusätzlichen Einsatz verschiedenster psychometrischer Instrumente. Das anspruchsvolle methodische Vorgehen erbrachte gesicherte und seinerzeit sehr überraschende und zunächst von starken Zweifeln begleitete Erkenntnisse. Es zeigte sich, dass ein Viertel der erwachsenen Stadtbevölkerung im Alter zwischen 25 und 45 Jahren psychogene Beschwerden von Krankheitswert aufwies, ein Ergebnis, welches in der »B-Studie« drei Jahre später (unter teilweiser Verblendung, d. h. bei der Hälfte der Untersuchungen kannten die Nachuntersucher nicht die Voruntersuchung und deren Beurteilungen) repliziert und damit gesichert werden konnte. Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass insbesondere Frauen aus den unteren sozialen Schichten ein besonderes Gefährdungspotenzial hinsichtlich einer Chronifizierung der genannten Krankheitsbilder aufweisen (Lieberz, Spies u. Schepank, 1998). Es wurde zudem deutlich, dass psychogene Erkrankungen die Bemühungen der Menschen um eine Verbesserung ihrer sozialen Position in der Gesellschaft erheblich beeinträchtigen. Die Mannheimer Kohortenstudie bezog ausdrücklich Kriegsjahrgänge ein, um den Einfluss kollektiver Erfahrungen auf die spätere seelische Gesundheit zu untersuchen. Da im Zusammenhang mit Kriegsereignissen der Vaterverlust zu den häufigen frühkindlichen/ kindlichen Belastungsfaktoren gehört, war zu prüfen, ob ein solcher Vaterverlust mit einer Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit der Betroffenen verbunden war (Brähler, Schumacher u. Strauß, 2000; Brähler, Decker u. Radebold, 2004; Fooken u. Zinnecker, 2007; Franz, Lieberz, Schmitz u. Schepank, 1999; Franz, Lieberz u. Schepank, 2004; Franz, 2006; Franz, Hardt u. Brähler, 2007; Heuft, Schneider, Klaiberg u. Brähler, 2007; Radebold 2000, 2004, 2010). Das Fehlen des Vaters über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erwies sich als ein trennscharfes Kriterium zwischen den sehr gesunden und den sehr kranken Probanden (Lieberz et al., 1998). Erwartungsgemäß fehlt der Vater im Jahrgang 1935 am häufigsten (58,4 %), gefolgt vom Jahrgang 1945 (41,2 %) und dem Jahrgang 1955 (11,8 %). Betrachtet man den besonders betroffenen Jahrgang 1935 gesondert, dann zeigt sich hinsichtlich der gesundheitlichen Beeinträchtigung interessanterweise zunächst ein erheblicher Geschlechtseffekt, aber auch die Vaterlosigkeit schlägt in signifikanter Weise © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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zu Buche. Insgesamt verdoppelt das Fehlen des Vaters die Wahrscheinlichkeit einer »Fallzugehörigkeit« über den Zeitraum von über zehn Jahren (Franz et al., 1999). Die im Rahmen unserer E-Studie durchgeführte Untersuchung eines Teilkollektivs von Kriegskindern (n = 50) lässt allerdings einschränkend erkennen, dass die väterliche Abwesenheit in den weiteren Kontext zusätzlich einwirkender Variablen gestellt werden muss. Dies soll im Folgenden anhand zweier Fallbeispiele von Kriegskindern des Jahrganges 1935 aus der Kohortenuntersuchung demonstriert werden (Hiltl et al., 2009).

Stabile seelische Gesundheit vs. chronische Erkrankung – zwei Fallbeispiele Herr A.: Kontinuierliche seelische Gesundheit Bei der A-Untersuchung (1981, Proband 367, 46-jähriger kinderlos verheirateter Chemiker) werden vom Untersucher als wesentliches Leitsymptom Ein- und Durchschlafstörungen beschrieben, eine Symptomatik, die offenbar bis in die Jugendzeit zurückreicht. Im Zusammenhang mit seiner inneren Anspannung berichtet der Proband über zeitweise ausgeprägte Kopfschmerzen wie auch hin und wieder auftretende, subjektiv stark beunruhigende Herzstiche. Ein Alkoholkonsum von einem dreiviertel Liter Wein am Abend wird vom Untersucher als nicht unbedenklich eingeschätzt. Es werden weiter Beschwerden in Form von Müdigkeit, Mattigkeit und Energielosigkeit geschildert, allerdings hat der Untersucher insgesamt den Eindruck, dass der Proband doch recht gut ausbalanciert und gesundheitlich nur mäßig beeinträchtigt ist. Er wird deshalb nicht als »Fall« eingestuft und eine Änderung für die nächste Zukunft wird nicht erwartet. Im zentralen quantitativen Beurteilungsinstrument der gesamten Studie, dem Beeinträchtigungs-Schwere-Score (BSS) nach Schepank (1995), wurde dem Probanden auf allen Subskalen (körperliche, psychische und sozialkommunikative Beeinträchtigungen) jeweils ein Punkt zugeteilt, in der Summe also drei Punkte. Damit lag er deutlich unterhalb des sogenannten »Cut offs« von fünf Punkten, ab dem eine Beeinträchtigung von Krankheitswert angenommen werden kann. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Das »blind« durchgeführte B-Interview (1984, Proband 49 Jahre alt) bestätigt im Wesentlichen die früheren Befunde. Insgesamt kommt auch diese Untersucherin zu der Auffassung, dass die Symptome allesamt gering bis mäßig ausgeprägt seien und keine ICD-­ Diagnose vergeben werden könne. Wesentliche Änderungen für die nächsten Jahre wurden nicht erwartet (BSS wiederum 1-1-1, gesamt drei Punkte). Diese Prognose bestätigte sich denn auch zum Zeitpunkt der DeStudie 1991. Zum Zeitpunkt dieser Untersuchung hat der 56-jährige Herr A. als Chemiker in einem Großunternehmen den Gipfelpunkt seiner Karriere überschritten und sucht nach ergänzenden und sinngebenden Beschäftigungen außerhalb des beruflichen Feldes. Die früheren Beschwerden bestehen fort, ohne Krankheitswertigkeit zu erlangen. Insgesamt wird die sicherlich nicht immer symptomfreie Entwicklung trotz der biographischen Belastungen und Unebenheiten als erfreulich und gelungen angesehen. Dem Probanden wurden zu diesem Zeitpunkt im psychischen und körperlichen Subscore des BSS jeweils ein Punkt, insgesamt also diesmal zwei Punkte zugeteilt. So sind also drei verschiedene Untersucher über zehn Jahre zu einer ähnlichen Einschätzung hinsichtlich des seelischen Gesundheitszustandes des Probanden gekommen (Schepank, 1995). Genese und Entwicklung von Herrn A. Herr A. wurde als Ältester von drei Söhnen in eine großbürgerliche und großstädtische Umwelt hineingeboren. Der Vater (Jahrgang 1898, 37 Jahre alt bei der Geburt von Herrn A.), war höherer Beamter und NSDAP-Mitglied, die Mutter (Jahrgang 1913, 22 Jahre alt bei der Geburt von Herrn A.) war als »höhere Tochter« immer Hausfrau. Ein Bruder war drei Jahre jünger, ein weiterer Bruder sechs Jahre jünger. Wichtiges Familienmitglied war die vermögende Großmutter väterlicherseits, in deren Haus die Familie lebte. Mit sieben Jahren wurde der Proband mit seiner Mutter und den Geschwistern aufs Land evakuiert. Er kehrte erst 14-jährig (1949) in seine weitgehend zerstörte Heimatstadt zurück. Der Vater war inzwischen wegen seiner Nazi-Vergangenheit von den Russen interniert worden und kam dabei um. Die Schule besuchte der Proband ohne Schwierigkeiten, machte das Abitur, studierte dann Chemie, promovierte, war zunächst an der Universität tätig, bevor er

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dann in die Industrie wechselte. Im Alter von 23 Jahren heiratete er seine Frau, eine Lehrerin. Die Ehe blieb kinderlos. Herr A. machte eine gute berufliche Entwicklung.

Von großer Bedeutung in der Familie von Herrn A. war offenbar die Großmutter väterlicherseits, die das Vermögen in der Familie besaß. Der Vater heiratete erst recht spät eine 15 Jahre jüngere Frau. Die Mutter scheint im Elternhaus des Probanden eine eher untergeordnete »Tochterposition« eingenommen zu haben. Der Proband wurde als Ältester einer dreiköpfigen gleichgeschlechtlichen Geschwisterreihe groß und erfreute sich als »Erstgeborener« in dieser »stolzen Familie« der besonderen Gunst des Vaters. »Ich war der Große«, »Vaters Liebling«. Einen Einschnitt in diesem Lebenslauf stellte zweifellos die Evakuierung der Familie (ohne Vater) dar. Herr A. hat seinen Vater nicht mehr wiedergesehen und eine Vater-Idealisierung beibehalten. Mit der Trennung vom Vater und seinem endgültigen Verlust fühlte Herr A. sich dem überstarken Einfluss der Mutter ausgeliefert. Diese erlebte er immer als ängstlich und unselbstständig. Sie habe depressiv aber pflichtbewusst und tapfer ihr Schicksal getragen, bis sie sich 1976 (im Alter von 63 Jahren, der Proband war 41 Jahre alt) suizidierte. Unter diesem Einfluss entwickelte er sich in den folgenden Jahren zu einem eher gehemmt wirkenden, stark leistungsorientierten »Primustypen«. Mit seiner »supergutbürgerlichen« Erziehung sei er bei den Kameraden häufig angeeckt und gehänselt worden. Er hat eine stark leistungsorientierte Haltung beibehalten und damit eine gute berufliche Karriere gemacht. Hilfreich dabei war sicher, dass er aufgrund seiner natürlichen Intelligenz, des vermögenden und gutbürgerlichen Hintergrundes, seiner frühen Unterstützung durch den Vater als »Großer« wie auch seiner Stellung in der dreiköpfigen gleichgeschlechtlichen Geschwisterreihe als Ältester eine gewisse Überlegenheit erwarb. Auch stand er in einer stolzen Familientradition, der er nacheiferte. Das Gespräch mit Herrn A. wird von den Untersuchern als angenehm beschrieben. Er wird als intelligente und differenzierte Persönlichkeit gekennzeichnet, die zwar eine gewisse Härte, Konsequenz und Standhaftigkeit zeige, aber ihre Macht nicht zu sehr einsetze. Diese Überlegenheit mag zuweilen eine Steigerung zur Über© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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heblichkeit, ja Arroganz erfahren haben, wie sie übereinstimmend von verschiedenen Untersuchern auch beschrieben wird. Dies könnte die »normale« Überheblichkeit seiner sozialen Klasse ebenso wie die erfolgreiche Lebensbewältigung des Probanden widerspiegeln. Es könnte freilich auch auf eine untergründige Unsicherheit hinweisen, die sowohl auf die Schwierigkeit der Identifikation mit der ängstlichunsicheren Mutter wie auch auf den frühen Verlust des Vaters und dessen eher unrühmliche Vergangenheit zurückgeführt werden kann. Bezüglich der Frauen im Leben von Herrn A. sind starke Gegensätze auszumachen. Zum einen die mächtige, beherrschende Großmutter väterlicherseits, von der das Familiengeschick abhing und deren Einfluss schwer zu entrinnen war. Zum anderen die ängstlich-depressive und abhängige Tochter-Mutter, die Hilfe, Unterstützung und Beistand brauchte, sich aber letztlich dennoch suizidierte. Es scheint, als habe der Proband in der Beziehung zum anderen Geschlecht eine stark ambivalente Einstellung entwickelt: Entweder werden Frauen als übermächtig gefürchtet oder aber sie werden als fordernd und schuldgefühlserzeugend erlebt. Dann sind mitleidige Rücksichtnahme und stille Verachtung die untergründigen Begleiter. Eine mangelnde Integration depressiv-hilfsbedürftiger Erlebnisseiten wäre die Folge. Es müsste angenommen werden, dass Herr A. Schwierigkeiten haben dürfte, seine weichen, gutmütigen, anhänglichen und hingebungsvollen Seiten anzunehmen und zu leben. Sein Leben wäre etwas zu einseitig auf die Abwehr dieser verletzlichen Seiten und auf narzisstische Unverwundbarkeit als Ideal ausgerichtet. Das Streben um die Erfüllung narzisstisch-überzogener Leistungsund Elitevorstellungen würde dann die Gefahr beinhalten, dass er seine zunehmende Vereinsamung übersieht. So notiert die zweite Untersucherin: Er scheint an einem Mangel an Sensibilität und Einfühlungsvermögen für andere zu leiden, wirkt manchmal ruppig, sehr rational, distanziert, fast etwas kühl, spart bestimmte Bereiche aus: zum Beispiel die Beziehung zur Ehefrau und Sexualität. In Bezug auf die Ehe entsteht der Eindruck, dass mit der Ehefrau kaum gemeinsame Interessen bestehen und ein »Nebeneinanderherleben«, eine Entfremdung zu verzeichnen ist.

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Herr B.: Chronische seelische Krankheit Beim Erstkontakt im Rahmen des A-Interviews (1982, Proband 489, 47-jähriger verheirateter Sozialhilfeempfänger, fünf Kinder) beschreibt der Untersucher den 47-jährigen Probanden als vorgealtert und übergewichtig sowie in einer heruntergekommenen Umgebung lebend. Im Vordergrund des Beschwerdebildes standen seit 1964 – trotz zwischenzeitlich erfolgter operativer Intervention – anhaltende Schmerzen im LWS-Bereich mit Ausstrahlung ins linke Bein. Gelegentlich auch Kopf-, Nacken- und Schulterschmerzen. Weiterhin wird ein stark ausgeprägtes depressives Syndrom mit vielfältiger Symptomausprägung deutlich: Herr B. klagt über verstärkt auftretende Konzentrationsstörungen, es falle ihm schwer, Fernsehstücken oder Zeitungsartikeln mit ausreichendem Interesse zu folgen. Trübe und grüblerische Gedanken können weit zurückverfolgt werden und haben bereits 1974/75 während einer Umschulung zu einem Suizidversuch Anlass gegeben. Allgemeine Schwäche und Mattigkeit, aber auch starke innere Unruhe, Reizbarkeit mit Impulsdurchbrüchen, Herzklopfen und Herzjagen werden geschildert. Die Ehesituation ist konfliktgeladen, Sexualität seit langem ausgespart. Der offensichtliche Alkoholkonsum wird bagatellisiert. Der Untersucher gewinnt den Eindruck, dass Impulse zur Änderung der Situation nicht mehr ausreichend stark seien und erwartet für die Zukunft einen ungünstigen Verlauf. Im BSS werden dem Probanden insgesamt acht Punkte zugewiesen, auf der Subskala der körperlichen Beeinträchtigung zwei Punkte sowie auf den Subskalen der psychischen und sozialkommunikativen Beeinträchtigung jeweils drei Punkte. Im »blind« durchgeführten B-Interview (1985, Proband 50 Jahre alt) bestätigt die Untersucherin den Ersteindruck und schreibt: Sozialhilfeempfänger mit exzessivem Missbrauch von Medikamenten, Nikotin und Alkohol. In den letzten drei Jahren überwiegend krankgeschrieben, Rentenantrag bisher nicht bewilligt. Es besteht weiter die schon aufgezeigte Schmerzsymptomatik in Verbindung mit vielfältigen psychischen und körperlichen Erscheinungen der Depression. Dazu die schon erwähnte Reizbarkeit und ein hoher Angstpegel in Verbindung mit Herzbeschwerden. Im Vordergrund aber steht die Bekämpfung all dieser Beschwerden durch zahlreiche © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Medikamente (Schmerz- und Schlafmittel) und Alkohol. Der Proband imponiert der Untersucherin schon vom Augenschein her als schwer kranker Mann. Die Prognose wird weiter als äußerst ungünstig angesehen. Im BSS werden insgesamt neun Punkte vergeben, auf jeder Unterskala jeweils drei Punkte. Dieser ungünstige Eindruck muss dann leider auch bei der letzten Untersuchung im Rahmen der De-Studie 1991 (Proband jetzt 56 Jahre alt) bestätigt werden. Jetzt wirkt Herr B. auf den Untersucher nicht nur stark vorgealtert, sondern schon auf den ersten Eindruck heruntergekommen, verwahrlost, »wie ein Penner«. Festzustellen ist jetzt außerdem eine sichtbare Operationsnarbe am Kopf und eine linksseitige armbetonte Hemiparese. Diese ist nach Angaben des Probanden auf einen »Schlaganfall« 1991 zurückzuführen. Wahrscheinlicher ist aber, dass der Proband auf der Straße in betrunkenem Zustand gefallen ist und sich dabei eine intrakranielle Blutung zuzog. Der Untersucher hat insgesamt nun den Eindruck, dass der Proband sich selbst völlig aufgegeben hat und von seiner zwischenzeitlich geschiedenen Frau und einer Tochter das »Gnadenbrot« bekommt. Im BSS werden trotz dieser ungünstigen Entwicklung diesmal insgesamt acht Punkte vergeben, jeweils zwei Punkte auf der körperlichen und psychischen, der Höchstwert von vier Punkten auf der sozialkommunikativen Subskala. Dieser ungünstige Verlauf mit erheblichen Beeinträchtigungen sowohl im körperlichen wie auch im psychischen und sozialkommunikativen Bereich hat von den Untersuchern eine überraschend milde Beurteilung im Beeinträchtigungsschwere-Score (BSS) erfahren. Dies kann wohl nur dadurch erklärt werden, dass bei der Einschätzung der jeweiligen Symptomschwere der Sieben-Tage-Zeitraum zu berücksichtigen war. Bei einer stärkeren Einbeziehung des Gesamtverlaufs über die Jahre hätte der Gesamtpunktwert ohne Zweifel auch bei zehn Punkten liegen können. Genese und Entwicklung von Herrn B. Herr B. wird als ältestes Kind geboren. Der Vater (25 Jahre alt bei der Geburt von Herrn B.), war Schornsteinfeger, die Mutter (24 Jahre alt bei der Geburt des Probanden) Hausfrau. Schwangerschaft, Geburt und frühkindliche Entwicklung sollen unauffällig verlaufen sein. Vom

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vierten bis zum zehnten Lebensjahr lebt er als Einzelkind im Isolierkontakt mit der Mutter, weil der Vater als Soldat im Krieg ist. Rückkehr des Vaters erfolgt 1945, 1946 findet die Geburt einer Schwester statt, 1948 die Geburt eines Bruders. Nach einer Lehre als Schornsteinfeger (wie der Vater) geht er zur Volkspolizei (frühere DDR). Dort erweist er sich als nicht integrierbar, er gibt diesen Weg auf, gerät in Auseinandersetzung mit dem »System«, kommt ins Gefängnis, macht dort eine weitere Lehre als Maschinenschlosser und setzt sich nach der Entlassung 1956 in die BRD ab. Hier versucht er schnell Wurzeln zu schlagen: 1958 wird ein uneheliches Kind geboren, 1959 findet die Heirat statt und dann werden in schneller Folge bis 1967 fünf weitere Kinder geboren. Spätestens nach der Geburt des jüngsten Kindes beginnt in augenfälliger Weise die »Krankheitskarriere« des Probanden: 1969 Wirbelsäulenoperation, 1974 Suizidversuch, Umschulung, ab 1978 arbeitslos (43-jährig), 50 % Schwerbehinderung, Sozialhilfe, Anstieg der familiären Spannungen, zunehmender Alkoholabusus, Selbstaufgabe, 1988 Scheidung auf Initiative der Ehefrau. Der Kontakt zur Ursprungsfamilie ist schon lange abgerissen, vom Tod des Vaters 1990 wird er gar nicht benachrichtigt, testamentarisch ist er enterbt worden. Die eigenen Kinder nehmen fast durchweg eine ungünstige Entwicklung: Alle besuchen die Sonderschule, sind dann entweder Gelegenheitsarbeiter und/oder Sozialhilfeempfänger, zum Teil kriminell. Erste kritische Anzeichen in diesem Entwicklungsgang lassen sich bereits in früher Kindheit in Form von gröberer und anhaltender Primordialsymptomatik (Pavor nocturnus, Nägelkauen, Einnässen bis zum achten Lebensjahr) ausmachen.

Ein entscheidender Einbruch war offenbar die Rückkehr des Vaters aus dem Krieg, die abrupt den langjährigen Isolierkontakt des Probanden zur Mutter beendete. Herr B. musste nun seine »Entthronung« und die damit verbundene wachsende Distanz zur Mutter verarbeiten, andererseits sollte er sich einem ihm eher fremden und unvertrauten, kriegsgeprägten, ehrgeizigen und vor den Schwierigkeiten des Wiederaufbaus stehenden Mann »unterwerfen«. Denn der Vater war aus der Sicht des Probanden sehr streng, auf Zucht und Ordnung bedacht, und führte ein Regiment, welches auf Unterord© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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nung, Demütigung und Erniedrigung ausgerichtet gewesen sei. Herr B. entwickelte nun Gefühle des Ausgeschlossenseins, des störenden »Fremdkörpers« in der neuen Familie des Vaters. Er reagierte mit depressivem Rückzug. Die in der Jugendzeit deutlich werdenden Entwicklungen sind als Versuche zu verstehen, andrängenden Weglauftendenzen zu widerstehen und dem Identifikationswunsch mit dem Vater zu folgen: Lehre als Schornsteinfeger, Wechsel zur Polizei. Gleichzeitig lassen jugendlich-rebellische Strebungen den Probanden gegen den Strom schwimmen, bedingen ein Aufbegehren gegenüber autoritären Strukturen (Polizei, DDR) und deren Unterwerfungs-, Ausgrenzungsund Vernichtungstendenzen. Unter den äußerlich strukturierenden Zwangsbedingungen des Gefängnisaufenthaltes lässt er wieder Anpassungsbemühungen erkennen. Nach Wegfall der Gefängnismauern zeigt sich aber, dass Enttäuschungsprotest und Weglauftendenzen der sozialen Integration im Wege stehen. Wäre man bis hierher noch geneigt, die Entwicklung des Probanden seinem jugendlichen Alter und den zweifellos oppositionsfördernden gesellschaftlichen Umständen zuzuschreiben, so zeigt die weitere Entwicklung doch, dass das Scheitern des Probanden tiefer greifende Wurzeln hat. Rückzugstendenzen bis zur Einzelgängerei hatten sich bereits im Kindes- und Jugendalter angedeutet, der Wechsel zwischen Unterwerfung (oder besser sehnsüchtiger Identifikation) und Protest kennzeichnete die Jugend des Probanden. Im jungen Erwachsenenalter sucht er Wurzeln zu schlagen und sich festzulegen. Dieses verständliche Anliegen wirkt aber schlecht vorbereitet. An sich ist der Proband zu diesem Zeitpunkt noch jung und könnte sich zunächst dem Aufbau einer tragfähigeren Existenz zuwenden. Stattdessen zeugt er ein uneheliches Kind, heiratet dann und bekommt in Folge weitere fünf Kinder. Dies wirkt unüberlegt, überhastet, ungeduldig und signalisiert Impulsivität, Einsamkeitsintoleranz, Frustrationsintoleranz, Geltungsdrang und Ansprüchlichkeit. Einsamkeitsintoleranz insofern, als Herr B. seine Frau mit vielen Kindern an sich bindet und sich damit gegen seine Trennungsängstlichkeit absichert. Frustrationsintoleranz insofern, als er ohne Not eine kurzfristige und schnelle Umsetzung seiner Wünsche erkennen lässt, aber keinen langfristig und planvoll angelegten Lebensaufbau. Im © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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positiven Sinne ließe sich eine gewisse Risikobereitschaft erkennen, im negativen Sinne ein planloses Agieren, eine Selbstüberschätzung, Schwierigkeiten in der Realitätsprüfung mit gröberen Verleugnungsstrategien und mangelnde Antizipationsfähigkeit. Auch entsteht der Eindruck, als wolle er den stets in Lauerstellung befindlichen Weglauftendenzen wieder eine äußere (Gefängnis-) Mauer in Form einer Großfamilie entgegensetzen. Der Proband scheint zu spüren, dass er äußerliche Strukturierungshilfen benötigt, Vorgaben braucht, Druck oder Zwang, um seine Pflichten zu erfüllen, um nicht den leichten Weg der Vermeidung zu gehen (»Ich wollte schon immer weg, konnte aber nicht«). Auch scheint er sich an das väterliche Vorbild anzulehnen: der Vater war erst jahrelang weg, fehlte in dieser Zeit als Objekt liebevoller und dosierter Reibung und erschwerte damit einen unbefangenen und schuldgefühlsfreieren Umgang mit aggressiven Strebungen. Später erwies sich der Vater, sei es aus strukturellen oder situativen Gegebenheiten, im Erleben des Probanden als zu starr, zu wenig flexibel, zu wenig Freiraum gewährend, als dass daraus eine eigenständigere Steuerungsfähigkeit hätte erwachsen können. So wollte der Proband später einerseits den Vater übertreffen, ein »großer«, ein (Ideal-)Vater sein, seine Kinder nicht verlassen, sondern bleiben und standhalten, und er wollte es vor allem anders und besser machen. Andererseits war er darauf schlecht vorbereitet, hatte kein Vorbild, mit dem er sich ohne große Vorbehalte identifizieren konnte. Stattdessen dürfte die Rückkehr des Vaters und die sich daran anschließende Interaktion die regressiven Tendenzen, sein Verharren in enger Mutterbindung und sein Vermeidungsverhalten eher verstärkt und die Grundlage für eine stärkere Regressionsanfälligkeit gelegt haben. Die Enttäuschung über den Vater mag auch unbewusste Rache- und Schuldphantasien unterhalten und in typischer Kompromisshaftigkeit dazu Anlass gegeben haben, dem Vater durch das Selbstopfer zu demonstrieren, dass er als Vater ein Versager war. Für seine ehrgeizigen Ziele war Herr B. nicht gut genug vorbereitet. Das charakteristische Nebeneinander von Leistungswillen und Leistungsprotest spiegelt sich auch in seinen familiären Entscheidungen. Einerseits legt er sich früh fest, übernimmt schnell Verantwortung und versucht lange Zeit, seinen Mann zu stehen und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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seinen Aufgaben nachzukommen. Andererseits lässt er eine Neigung erkennen, sich zu viel zuzumuten, zu viel aufzuladen, sich und seine Kräfte zu überschätzen und immer wieder auftretende Überforderungssignale zu übergehen. Mit jedem Kind gerät er mehr unter Druck, sieht sich Erwartungen und Ansprüchen ausgesetzt, die er zunehmend schlechter erfüllen kann, regrediert unter dem sich aufbauenden Spannungsdruck (Ich-Regression), reagiert immer planloser und impulsiver und verliert dadurch weiter an Ansehen und Macht. Gegenüberstellung der beiden Probanden Die Früherfahrungen beider männlichen Probanden zeigen Gemeinsamkeiten und deutliche Unterschiede. Beide gehören dem Geburtsjahrgang 1935 an und haben demgemäß ähnliche Kollektiverfahrungen: Der Krieg hat in beiden Familien nachhaltige Spuren hinterlassen, die Trennung von den Vätern, alleingelassene Mütter, Evakuierung, später Wiederaufbau etc. Es finden sich aber auch bedeutsame Unterschiede: Herr A. entstammt einer vermögenden Akademikerfamilie mit stolzer Familientradition und damit einer ganz anderen sozialen Gruppe als Herr B., der diese Zeitumstände aus der Perspektive einer aufstiegsorientierten Handwerkerfamilie (Schornsteinfeger) erlebt. Beide Probanden sind zwar die Ältesten in einer dreiköpfigen Geschwisterreihe, jedoch bestehen auch hier große Unterschiede. Herr A. kann die gesamte Frühkindheit in gesicherten Lebensumständen, vollständiger, ranghoher Mehrgenerationenfamilie und als bevorzugter Sohn eines schon recht alten, akademisch gebildeten Vaters verbringen. Die Kontaktangebote sind vielfältiger, die Geborgenheit in der sozialen Gruppe selbstverständlich, Rivalitäten beziehen sich altersangemessen auf den jüngeren Bruder. Der Vater geht hier erst später, dafür aber endgültig verloren. Zurück bleibt eine schmerzhafte und nie ganz verwundene Leere, gefüllt von einer Idealisierung, die späterer Realitätsprüfung nicht uneingeschränkt standhalten kann. Herr B. dagegen hat relativ junge Eltern, erfährt die Trennung vom Vater in der kindlichen Trotzphase und verbleibt über Jahre im Isolierkontakt mit der verunsicherten Mutter. Er erlebt die Rückkehr eines noch recht jungen und eher rivalisierenden Vaters, der nach © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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dem Krieg eine neue Lebensperspektive zu entwerfen beginnt, in der dem Probanden subjektiv wenig Platz zukommt. Die jetzt nachgeborenen Geschwister haben einen großen Altersabstand, bleiben dem Probanden fremd und scheinen zu einer anderen Familie zu gehören. So entwickeln sich ganz unterschiedliche Vaterbilder. Während der Vater von Herrn A. ungestört der Idealisierung durch seinen Sohn dienen kann, fällt er in späteren Entwicklungsphasen als zu überprüfendes Vorbild aus. Der Vater von Herrn B. steht dagegen als idealisiertes Triangulierungsobjekt in einer entscheidenden Entwicklungsphase nicht zur Verfügung und kann auch später kaum positive Vorbildfunktionen erfüllen. Als Ergebnis bleibt bei Herrn A. eine unaufgelöste Vateridealisierung zurück, verbunden mit unrealistisch hohen Selbstideal-Vorstellungen. Bei Herrn B. finden wir eine mangelnde Vateridealisierung mit untergründiger Sehnsucht nach einem aus der Mutterabhängigkeit erlösenden, befreienden und steuernden Objekt mit immer wiederkehrender Enttäuschung an den »realen Vätern«. Bei beiden Männern fällt der Vater also aus, aber doch in sehr unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Folgen.

Fazit Anhand von zwei Fallbeispielen aus einer epidemiologischen Langzeitstudie werden unterschiedliche Verläufe und Folgen eines »Vaterverlustes« aufgezeigt. Es sollte dabei verdeutlicht werden, dass das Lebensereignis »Vaterverlust« als solches keine nachweisbaren gesundheitlichen Folgeschäden mit sich bringen muss, sondern dass dieser Verlust immer im Kontext verschiedener Einflüsse gesehen und interpretiert werden muss. Hierher gehören soziale Faktoren wie zum Beispiel die unterschiedliche Schichtzugehörigkeit ebenso wie schicksalsmäßige und biographische Gegebenheiten, wie zum Beispiel das Alter des Vaters, das Alter des Probanden, in dem der Verlust stattfand, die Tatsache, ob es sich um einen endgültigen oder vorübergehenden – wenngleich, wie hier, auch länger dauernden Verlust – handelt oder ob ausgleichend wirkende Ersatzbeziehungen vorhanden waren. Damit verbunden sind entwicklungsbedingte psychologische Momente, wie zum Beispiel die Tatsache einer statt© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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gefundenen Vateridealisierung. So kann man die hier aufgeführten Beispiele als Beleg dafür nehmen, dass eine früh stattgefundene Vateridealisierung (auch mit später nicht ausreichender Entidealisierung) auf lange Sicht weniger ungünstige Auswirkungen auf die Gesundheit hat, als eine nicht hinreichend aufgebaute frühe Vateridealisierung. Der Vater ist in ebenso hohem Maße als Entwicklungsmotor für die Selbstentwicklung und Selbstregulation wichtig wie für die spätere psychische Gesundheit (Lieberz, 2013). Mit einem Vaterverlust verbundene nachteilige Langzeitfolgen gehen dabei mit Annahmen über strukturelle »Leerstellen/Defizite« (z. B. Steuerung) einher oder auch über einen »Wiederholungszwang« im Sinne der Vatersuche (z. B. die immer wiederkehrende Erfahrung »schlechter« Ersatzväter). Es ist jedoch keinesfalls anzunehmen, dass ein fehlender Vater beeinträchtigender wäre als beispielsweise ein süchtiger, gewalttätiger oder suizidaler Vater. Wie Tress (1986) aufgezeigt hat, kann es »gesünder« sein, keinen Vater zu haben als einen »schlechten« Vater. Zu berücksichtigen ist dabei vor allem die Komplexität der Familienzusammenstellung (Hiltl et al., 2008, 2009; Lieberz 2013). Die beiden hier geschilderten Fallbeispiele sollen verdeutlichen, dass dabei der Vaterbindung und der Vateridealisierung (gelungen/ausgeblieben oder unvollständig) eine entscheidende protektive Bedeutung für die spätere Entwicklung und seelische Gesundheit zukommt.

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Kriegs- und Verlusterfahrungen als literarisches Thema

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Christa Karpenstein-Eßbach

Kriegsgewalt in der Literatur

Vorbemerkung So wie in Traumatherapien Menschen ermutigt werden, Stücke ihrer Erinnerung an erlebte Grausamkeiten in Farben und Formen eines Bildes zu bannen, so können niedergeschriebene, autobiographische Erzählungen beim Umgang mit Kriegsfolgen helfen. Aber damit sind die Möglichkeiten von Literatur nicht erschöpft. Kriegsfolgen können auch Thema von fiktionaler Literatur, von Gedichten und Dramen werden. Könnte es möglich sein, dass uns die künstlerisch geformte Sprache der Literatur zumindest auf einen Weg führt, auf dem uns die Erfahrung der Grausamkeit von Kriegen auf eine andere Weise berühren kann? Dass die Literatur in einer anderen Weise zu uns spricht, als wir dies inzwischen aus der medialen Aufbereitung von Kriegen kennen? Und dass diejenigen, die den Krieg nicht aus der medialen Ferne, sondern aus der Nähe kennen, im Sprechen der Literatur ihre Stimme entdecken könnten? Dies sind die Fragen, die die Leistungskraft der Literatur für die Artikulation extremer Erfahrungen betreffen. Ich möchte ihnen im Rahmen der Literarisierungen der Neuen Kriege unserer Gegenwart nachgehen.

Zur Literarisierung der »Neuen Kriege« Seit den Umbrüchen von 1989 und dem Ende der bipolaren Weltordnung gibt es Neue Kriege, die auch als »kleine Kriege«, »Bürgerkriege« oder »asymmetrische Kriege« bezeichnet werden. Theorien und historio-politische Analysen dieser Kriege heben als Charakteristika, grob umrissen, hervor: ihre Entstaatlichung, ungewisse Frontlinien, asymmetrische Gewalt, Brutalisierung und Resexualisierung, militärische und kommunikative Medialisierung, die Depolitisie© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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rung des Krieges bei gleichzeitiger Rückkehr der Vorstellung vom »gerechten Krieg«, die Flexibilisierung von Kampfeinheiten und eine kriegerische Gewalt in Näheverhältnissen, die unkontrollierbar die Umwelt erfasst. Aus der Fülle der Forschungsliteratur zur Gestalt der Neuen Kriege sei hier insbesondere auf die Arbeiten von Herfried Münkler (2002, 2006), von Martin van Creveld (2004), Sven Chojnacki (2004) und Anna Geis (2006) hingewiesen. Diese Kriege sind Thema einer Literatur geworden, die im Raum der Fiktion eine eigene Anschaulichkeit und Vorstellung vom Charakter dieser Konflikte zu erzeugen sucht. Zugleich ist jedoch die schon angesichts der Erfahrung von zwei Weltkriegen erhobene prinzipielle Frage nach der überhaupt möglichen Darstellbarkeit von Kriegen nicht verstummt. Wie schon Walter Benjamin (1936/1977) in seinem Aufsatz »Der Erzähler« das Ende jeder glaubwürdigen Repräsentation des Krieges diagnostiziert hatte, kehren Aussagen wieder, wonach grundsätzlich die literarische Kapitulation vor dem Krieg zu drohen scheint. So müssten sich Erzählungen vom Krieg »an dem Problem ab(arbeiten), wie sie ihrem Gegenstand (sic!) mit den ihnen zur Verfügung stehenden ästhetischen Mitteln habhaft werden können« (Koch, 2007, S. 12); die Frage wird gestellt: »Wie aber das ungeheuerliche Phänomen wiedergeben und darstellen?« (Thomsen, 1984, S. 205); vermerkt werden ganz allgemein die »Grenzen der Darstellbarkeit des Krieges« (Petersen, 2004, S. 6). Tatsächlich aber gibt es eine Fülle von Literarisierungen Neuer Kriege, die sie der Einbildungskraft plastisch vorstellbar machen. Ich möchte in einem ersten Teil meine Weise der Untersuchung dieser Literatur knapp skizzieren, um danach beispielhaft auf literarische Werke einzugehen. Es ist das Kennzeichen von Literatur, dass sie über einen Reichtum von gattungsmäßigen Darstellungs- und Aussageweisen verfügt, deren Ordnungen Subjektpositionen und Gegenstandsfelder auf sehr verschiedene Weise formieren. Deshalb kommt den literarischen Gattungen gerade auch bei der Literarisierung der Neuen Kriege eine besondere Bedeutung zu. Diese, wenn man so will, poetologische Ausrichtung mag zunächst ungewohnt erscheinen – und dies, von einer möglichen literaturwissenschaftlichen Gattungsskepsis einmal ganz abgesehen, zumal dann, wenn es um ein Thema wie Neue © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

Kriegsgewalt in der Literatur49

Kriege geht, weil es nahezuliegen scheint, dem inhaltlichen »Was« von Aussage und Urteil Vorrang einzuräumen. Im Unterschied zu den um diese Fragen des »Was« zentrierten nichtliterarischen Diskursen – sei es denen des Alltags oder der Wissenschaft – besteht die besondere Leistung der gattungsmäßig verfassten Redeweisen darin, Kriegsgewalt mit den Mitteln literarischer Form darstellen zu können. Es handelt sich hier um ein Alleinstellungsmerkmal der Literatur. Es ist ein großer Unterschied, ob über den Krieg in prosaischer, lyrischer oder dramatischer Weise geschrieben wird – in poetischen Kunstformen im Übrigen, vor denen nationale Bestimmungen von Literatur zurücktreten. Wenn, kurz gesagt, im Falle des Romans das »Was« des Aussagens in einer alltagsnahen Sprache im Zentrum steht1, so im Falle der Lyrik das »Wie« eines Wort-Ereignisses zwischen normaler und poetischer Sprache, während das Drama die literarische Gattung par excellence ist, in der das kollisionsträchtige Handeln von Akteuren, ohne die Zentrierung um eine Erzähler- bzw. individuelle Sprecherinstanz, in der Öffentlichkeit der Aufführung unmittelbar zur Anschauung gebracht werden kann. In den diversifizierten gattungsmäßigen Redeweisen liegt die Leistungskraft von Literatur. Sie fällt mit diesem ihrem Können in das Gebiet der Ästhetik. Sie hat mit der philosophischen Disziplin der Ethik nichts zu tun. Dies gilt auch für die Literarisierung von Kriegen. Das mag ein im ersten Moment schwierig zu akzeptierender Gedanke sein, weil das Ethos des ethischen Urteilens gerade auch angesichts von Kriegen verständlicherweise sogleich seine Geltung beansprucht – so sehr auch die Ethik ihrerseits sehr schnell mit der ganzen Abgründigkeit einer ethischen Reflexion von Kriegen konfrontiert ist. Zweifellos gibt es eine literarische Gattung, die jenem ethischen Bedürfnis in besonderer Weise entgegenkommt: der Roman. Es ist nicht zufällig, dass Walter Benjamin den Erzähler als die Gestalt bezeichnet hat, in welcher sich der Gerechte selbst begegnet. 1

Aktuelle Untersuchungen, in denen Romane und explizit oder implizit autobiographische Texte im Zentrum stehen, stammen von: Isabelle von Treskow, Albrecht Buschmann und Anja Bandau (2005), Anja Bandau, Albrecht Buschmann und Isabella von Treskow (2008), Matthias Schöning (2009) und Paul Michael Lützeler (2009).

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Christa Karpenstein-Eßbach

Die Trennung von Ästhetik und Ethik ist hingegen stark zu machen – nicht zuletzt gegenüber lautstarker Moral, die immer schnell, und angesichts von Kriegen zumal, bei der Hand ist. Ästhetik ist Erziehung zur Empfindlichkeit. Literatur, in der ästhetischen Perspektive ihres Könnens, leistet, was der oftmals moralisch überfrachtete Sensationalismus von Medien verfehlt und die Diskurse des Wissens auf Distanz halten. Es gibt keine Ästhetik des Krieges, aber eine Literarisierung des Krieges in ästhetischen Formen, die gegenüber dem Krieg höchst empfindlich machen.

Literarische Beispiele: Lyrik Für die folgenden Beispiele literarischer Werke möchte ich mich zunächst auf Lyrik und Drama beschränken und mit der Lyrik beginnen. Ausführliche Untersuchungen zu lyrischen, theatralischen und prosaischen Darstellungsweisen der Neuen Kriege und den damit verbundenen Spektren von Emotionen, Intensitäten und Leiderfahrungen finden sich bei Karpenstein-Eßbach (2011). Man kann das lyrische Sprechen unter anderem unter der Frage danach spezifizieren, welche Position die lyrische Stimme in der Ordnung der Personalpronomina besetzt: spricht sie im Bezug auf sich selbst (ich, wir), in dem auf Anwesende (du, ihr) oder in dem auf Dritte (er, sie, es, sie im Plural). Ich beziehe mich mit meinen Beispielen auf die lyrische Rede in der dritten Person Plural, denn sie ist vielleicht besonders dafür prädestiniert, eine personale Frontstellung gegenüber einem feindlichen »sie« zum Ausdruck zu bringen. Die Beispiele mögen zeigen, dass die lyrische Rede die kriegerischen Gewohnheiten solch klarer Frontstellungen zu unterlaufen vermag. In Maruša Kreses titellosem Gedicht, das sich auf den jugoslawischen Bürgerkrieg bezieht, entladen sich Hass und Wut auf eine ganze Serie vieler Personen und Phänomene im Ton von Beschimpfungen und Flüchen. »Diese Teufel, diese Sprachen, diese Bosheiten, diese Geigen, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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diese Damen, diese Zwerge, diese Bräute, diese zahnlosen Männer […]«  – so lauten die ersten Zeilen, die im Prinzip endlos weitergeführt werden könnten, weil in der keiner Ordnung folgenden Aufzählung all dieser verschiedenen »sie« auch alle möglichen anderen ihren Platz haben (Krese, 2001, o. S.). Es handelt sich um die Übermacht eines boshaften »sie«, bei der auch »Geigen« und »Bräute« zu Feinden werden. »Sie« steht einem »wir« gegenüber, das von dieser Boshaftigkeit angesteckt und ergriffen wird und sich ihnen schließlich auf furchtbare Weise anverwandelt: »Sie haben die Ratten in die Stadt gebracht dass sie uns die Gedanken nehmen und die Wörter, […] dass wir ohne Licht bleiben, uns gegenseitig abschlachten und ihnen den Ruhm verschaffen.« Von all diesen »Sie« geht eine gemeinsame Gewalt und Zerstörung aus, die dann in ein »Wir« übergeht, das sich ihnen nicht mehr entziehen kann, weil keine Verfluchung »sie« auf Distanz halten kann. In der Pluralform der dritten Person kann die kollektive Kriegsgewalt in besonderem Maße zum Ausdruck gebracht werden. Dies geschieht ohne jede Anklänge an die Rhetorik des Heroismus, an den erhabenen Momentanismus der Gewalt und ohne die Bezeichnung eines »sie«, das als ein stabiler Feind auf der anderen Seite steht. Wie monströs dieses »sie« hingegen ist, lässt sich an Mario Luzis Gedicht »Soldateska« (Luzi, 1995, S. 90) zeigen, das mit der grauenhaften Ankunft der Soldaten in nächster Nähe endet.

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Soldateska Wo waren sie nur gewesen? Wo waren sie nur gewesen?Zu welch törichtem und verdrehtem Wettkampf und verdrehtem Wettkampfhatte der harte Gong sie gerufen? Antwort bekamen sie keine, die Zurückkehrenden, die Zurückkehrenden,weder von den zerstreuten die Zurückkehrenden,Gesichtern jener verpflanzten Leute, jener verpflanzten Leute,noch vom Glas oder den Steinen oder den Steinender Türme und Paläste, oder den Steinender Türme und Paläste,in denen jene waren – oder waren sie es nicht? –, – oder waren sie es nicht? –,die sie beauftragt hatten. Auch das bezweifelte ihre Intelligenz. ihre Intelligenz.Und sie verziehen jenes Zaudern nicht, jenes Zaudern nicht,die Gruppenführer waren davon irritiert, waren davon irritiert,lästig war ihre verletzte Humanität verletzte Humanitätden läppischen Doktoren. Wo also und in welcher Zeit außerhalb ihres Bewusstseins, doch nicht des Grams, doch nicht des Grams,hatte es sich verzehrt, jenes lange Vergleichen von Schlauheit und Geduld, von Schlauheit und Geduld,später die Raserei, das Entsetzen und, wer weiß, wer weiß,der Kindsmord,

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das Sakrileg, die Folter …? Sie verloren sich, jetzt, Sie verloren sich, jetzt,wichen sie zurück in einen begehrten Schoß zu einer ersehnten neuen Empfängnis. Exaudi. zu einer ersehnten neuen Empfängnis. Exaudi.Mater exaudi nos.

Soldaten sind formierte Einheiten, die gemeinhin der Disziplin, Kontrolle und dem Gehorsam im Rahmen einer hierarchisch gegliederten Organisationsform unterliegen. Der Titel spricht hingegen von einer »Soldateska« – ein Terminus für die Söldnerheere der frühen Neuzeit – also einem ungeordneten Haufen von Kämpfern. So ungeordnet und regellos wie sie sind die Zeilen des Gedichts gesetzt, in denen kein Maß zu erkennen ist, das die versetzten Zeilen regiert oder einsichtig machte, warum einige Zeilen zu einer Zweier- oder Dreiereinheit zusammengefasst sind, während andere als Solitäre abgesetzt sind. Man darf diese Formensprache so semantisieren, dass sie jenes »sie« buchstäblich ansichtig macht, das die versprengte Soldateska charakterisiert, und zwar im Modus einer im Text abgebildeten Aktion, die die Einheit der Zeilen zerbricht und die sich von einer zur anderen so steigert wie die Gewalt der Soldateska selbst. Zu Beginn handelt es sich noch um »Zurückkehrende« aus einem »verdrehten Wettkampf«, also um eine Lage am Ende der Kämpfe, aber das Gedicht berichtet genau von der Verdrehung dieses Endes in eine erneute Rückkehr, von einem entfesselten Kreis archaischer Gewalt, die zu einer »neuen Empfängnis« der Gewalt im Akt der Vergewaltigung führt. Nimmt man den Verlaufsbogen dieser soldatesken Entfesselung von Gewalt in den Blick, dann zeigt sich, dass psychische oder bewusstseinsmäßige Hemmungen oder Blockaden von Stufe zu Stufe immer weiter abgebaut werden. Eine ganze Reihe von Worten und Formulierungen verweisen auf Momente des Zögerns und Innehaltens: das Warten auf Antwort, das Zweifeln an denen, die den Befehl zum Krieg gegeben hatten, ebenso wie die Rede von »Zaudern«, »irritiert«, »lästig«, dem »lange(n) Vergleichen/von Schlauheit und Geduld« oder vom »Gram«; selbst das Gefühl von »ihre(r) verletzten Humanität«, das »sie« immerhin gehabt haben müssen, wenn es © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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»lästig« werden kann, wird angesprochen. Der dritte und längste der Sätze, die an die anfänglichen beiden Fragen anschließen, benennt dann die »Zeit außerhalb des Bewusstseins«, der die »Raserei«, das »Entsetzen«, die Grausamkeit einer vollständig entfesselten Gewalt folgen. Das von der Soldateska begangene Sakrileg findet in den letzten Worten seinen Ausdruck, wenn die religiöse Formel, mit der die Mutter Gottes angerufen wird, nun den Opfern der Gewalt die Ankunft der Soldateska verkündet. Am Ende der zersprengten Zeilen scheinen die Stimmen derer, die als »außerhalb ihres Bewusstseins« Stehende beschrieben und über die man deshalb nur schreiben kann, eine entsetzliche Präsenz zu gewinnen. Auf welchen der Neuen Kriege sich das Gedicht bezieht, bleibt unklar, nicht aber, dass es in Gestalt der Rede über sie ihre in den Kriegstheorien so bezeichnete Enthegung auf verstörende Weise darstellt.

Literarisches Beispiel: Drama Wenn es um das Drama geht, möchte ich einen bestimmten Typus konfliktuöser Dramatisierung ins Zentrum stellen, der, neben anderen, häufiger zu finden ist. Die Neuen Kriege erscheinen hier aber nicht im Licht der Konfrontation feindlicher Großeinheiten, sondern als Drama auf der Ebene familialer Konstellationen. Die dramatis personae sind Kriegsfamilien, und sie erinnern auf erstaunliche Weise an die Verschränkungen von Kriegen mit Familienverhältnissen, wie sie aus den antiken Tragödien bekannt sind. Das Stück »Verbrennungen« des 1968 im Libanon geborenen franko-kanadischen Schriftstellers, Regisseurs und Schauspielers Wajdi Mouawad (Mouawad, 2007) bezieht sich auf den Krieg im Nahen Osten. Dargestellt wird die Familiengeschichte von Nawal Marwan, die, 1935 geboren und 2002 gestorben, den größten Teil ihres Lebens in diesem Krieg verbrachte. Ihre Vergangenheit wird in verschiedenen Szenen mit der Gegenwart des Geschehens, das im Jahr 2002 anzusiedeln ist, kombiniert. Nawal, deren Tod zu Beginn des Stückes feststeht, tritt in diesen Szenen im Alter von 14 bis 19, mit 40 und mit 60 Jahren auf. Daten spielen bei der dramatischen Rekonstruktion der Geschichte dieser Kriegsfamilie eine zentrale Rolle. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Anfang der 1980er war Nawal Marwan mit ihren beiden Kindern, den Zwillingen Jeanne und Simon, aus dem Krieg im Nahen Osten in den sicheren Westen geflohen. Das Stück beginnt mit der Eröffnung des Testaments der Mutter, die die letzten fünf Jahre ihres Lebens nur geschwiegen hatte; es enthält zwei Aufträge: an die Tochter Jeanne, den tot geglaubten Vater zu finden, an den Sohn Simon, den Bruder zu finden, von dessen Existenz beide so wenig wussten wie von der des Vaters. Das Stück umfasst 38 Szenen, die in vier Teilen jeweils zu einer »Verbrennung« zusammengefasst sind: der Nawals, der der Kindheit, der von Jannaane (der andere Name von Jeanne) und der von Sarwane (der andere Name von Simon). Die Szenen spielen an verschiedenen Orten, blenden verschiedene Zeiten des Geschehens des Krieges und nach dem Krieg ineinander und umfassen insgesamt einen Zeitraum von 1950 bis 2002. In ihrem Verlauf stellt sich, in einer sich unaufhaltsam aufbauenden Katastrophe, in Kürze gesagt, Folgendes heraus: Aus einer frühen Liebesbeziehung der 15-jährigen Nawal geht 1950 ihr Sohn Nihad hervor; er wird gegen den Willen der jungen Mutter in ein Waisenhaus gegeben, überlebt dort ein Rachemassaker, wird Heckenschütze im Bürgerkrieg, tritt in die Miliz ein und wird zum obersten Folterer und Vergewaltiger in einem Gefängnis. Nawal verlässt ihre verhasste Familie, sucht erfolglos ihren Sohn, lernt die Gräuel des Bürgerkrieges kennen, erschießt den Chef der Milizen, wird 1979 gefangengenommen, im Gefängnis von einem Mann namens Abu Tarek immer wieder vergewaltigt, schwanger und gebiert 1980 die Zwillinge Jeanne und Simon. Der Vater ihrer im Gefängnis geborenen Kinder Jeanne und Simon ist ihr Sohn Nihad, den sie gesucht und während eines späteren Kriegsverbrecherprozesses erkannt hatte. Was die schweigende Mutter seit vermutlich 1995 wusste, wird von den Zwillingen, die schließlich ihrem Bruder-Vater gegenüberstehen, aufgedeckt, indem sie in das Heimatland ihrer Mutter reisen, um den Auftrag des Testaments zu erfüllen. Vor Beginn des Stückes ist alles schon geschehen, die dramatische Handlung besteht in der Aufdeckung der Gräuel des Krieges. Die dramatis personae stehen, der antiken Tragödie vergleichbar, in einem Schuldzusammenhang, der Stück für Stück erkennbar wird. Jeanne, Tochter und Mathematikerin, formuliert vor dem Hintergrund der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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mathematischen Theorie über die Sichtbarkeitsgraphen von Vielecken die Frage: »Wie sieht der Grundriss des Hauses aus, in dem die Mitglieder der Familie wohnen, die von dieser Anwendung dargestellt werden?« (Mouawad, 2007, S. 25). Diesen Grundriss hat der Krieg gezeichnet, der diese Familie im wirklichen Sinne des Wortes hervorgebracht hat und im Inneren der Familie haust. Die Dramatisierung der unheimlichen Anwesenheit des Krieges im Inneren der Familie ist kein literarischer Einzelfall; sie findet sich zum Beispiel auch bei Dražan Gunjača (2003) oder Biljana Srbljanović (1999). Was der Zuschauer im Verlauf des Stücks von Mouawad zunehmend zu ahnen beginnt, stellt sich am Ende als Gewissheit heraus: die Zerstörung von Verwandtschaftsverhältnissen und Genealogien, wenn, wie Simon sagt, »eins plus eins eins ergeben können« (Mouawad, 2007, S. 107), also Vater und Bruder in einer Person zusammenfallen. Der Erfahrung religiös begründeter Bürgerkriege hatte Lessing im »Nathan« noch einen anderen Rekurs auf Verwandtschafts- und Familienbeziehungen entgegensetzen können, wenn er seine Figuren eine ursprüngliche und geordnete Versipptheit im Sinne der noahchidischen Religion entdecken lässt. Mouawads Stück hingegen zeigt einen Krieg, in dem die Körper zu Waffen der Destruktion von Genealogien gemacht und Verwandtschaften so unerkennbar werden, dass der Bürgerkrieg den Inzest mit Blindheit entfesselt und der elementare Kulturbruch nicht einmal mehr ins Bewusstsein gelangt.

Fazit Die wenigen Beispiele, die hier aus Lyrik und Drama vorgestellt wurden, mögen deutlich machen, wie sehr es der Kraft der formgebundenen literarischen Redeweisen zu verdanken ist, dass uns eine Vorstellung von den Grausamkeiten der Neuen Kriege gegeben werden kann – eine Vorstellung, die über die Sicherheit moralischer Entrüstung hinaus in das Gebiet ästhetisch evozierter Empfindlichkeit reicht.

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Literatur Bandau, A., Buschmann, A., Treskow, I. von (Hrsg.) (2008). Literaturen des Bürgerkriegs. Berlin: trafo. Benjamin, W. (1936/1977). Der Erzähler. In H. Schweppenhäuser, W. Tiedemann (Hrsg.), Gesammelte Schriften. Bd. II. 2 (S. 438–465). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Chojnacki, S. (2004). Wandel der Kriegsformen? – Ein kritischer Literaturbericht. Leviathan, 32 (3), 402–424. Creveld, M. von (2004). Die Zukunft des Krieges. Neuausgabe mit einem Vorwort von Peter Waldmann. Hamburg: Murmann. Geis, A. (2006). Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse. Baden-Baden: Nomos. Gunjača, D. (2003). Balkan-Roulette. Frankfurt a. M. u. München: Fouqué Literaturverlag. Karpenstein-Eßbach, C. (2011). Orte der Grausamkeit. Die Neuen Kriege in der Literatur. München: Fink. Koch, L. (2007). Krieg als Imaginationsraum. In L. Koch, M. Vogel (Hrsg.), Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900 (S. 10–14). Würzburg: Königshausen und Neumann. Krese, M. (2001). Diese Teufel (Gedichte Nr. 15). In M. Krese (Hrsg.), Selbst das Testament ging verloren (o. S.). Wien: Edition Korrespondenzen. Lützeler, P. M. (2009). Bürgerkrieg global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman. München: Fink. Luzi, M. (1995). Soldateska. Lettre international, 31, IV. Vj., 10. Mouawad, W. (2007). Verbrennungen. Aus dem Frankokanadischen von U. Menke. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren. Münkler, H. (2002). Die neuen Kriege. Reinbek: Rowohlt. Münkler, H. (2006). Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie. Weilerswist: Velbrück. Petersen, C. (Hrsg.) (2004). Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien. Bd. I: Nordamerika und Europa. Kiel: Ludwig. Srbljanović, B. (1999). Belgrader Trilogie. Frankfurt: Verlag der Autoren. Thomsen, P. (1984). Weltkrieg als tragische Satire. Karl Kraus und »Die letzten Tage der Menschheit«. In B. Hüppauf (Hrsg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft (S. 205–220). Königstein/Ts.: Athenäum/Hain. Treskow, I. von, Buschmann, A., Bandau, A. (Hrsg.) (2005). Bürgerkrieg. Erfahrung und Repräsentation. Berlin: trafo.

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»Der Vater ist im Krieg …«1 – Kriegsväter in der zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendliteratur2

Einführung »Wenn mein Vater aus der Gefangenschaft heimkommt und wenn er dann ein Geld verdient, hat die Mama gesagt, dann darf ich auch Klavier lernen«, sagte der Hansi. »Und wenn er vielleicht dann viel Geld verdient, dann krieg ich sogar eine richtige Ziehharmonika« (Nöstlinger, 1988, S. 114). Dieses Zitat aus dem Kinderroman »Zwei Wochen im Mai« (1981) der österreichischen Autorin Christine Nöstlinger greift die Thematik der abwesenden Väter während des Zweiten Weltkriegs in der zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendliteratur auf. Der Junge Hansi äußert seine kindlichen Erwartungen, denn er hofft, dass nach der Rückkehr des Vaters die Familie wieder zu Wohlstand kommt und er ein Musikinstrument spielen darf. In diesem Beitrag geht es somit um die Frage, wie Vaterlosigkeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur thematisiert wird. Konkret geht es in Nöstlingers Roman darum, ob Hansis Wünsche nach einer Rückkehr des Vaters erfüllt werden oder nicht. Der Topos des abwesenden Vaters ist keine Erfindung von Autorinnen und Autoren aus der Zeit nach 1968, sondern gehört zum festen Repertoire der Kinder- und Jugendliteratur. Bereits in der Zeit der Weimarer Republik lebte »Emil« (aus Erich Kästners 1 Nöstlinger (1996, S. 5) 2 Die hier ausgewählten Romane schildern insbesondere Probleme, die Jugendliche zu Beginn ihrer Pubertät erleben. Insofern handelt es sich weniger um Kinderromane, sondern eher um Jugendromane für Leserinnen und Leser in der beginnenden Adoleszenz.

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1929 geschriebenem Klassiker »Emil und die Detektive«) mit seiner Mutter zusammen und auch »Nickelmanns Vater« ist im Roman »Nickelmann erlebt Berlin« (1931) von Tami Oelfken nicht anwesend. Dennoch sind abwesende Väter eher eine Ausnahme in der damaligen Kinder- und Jugendliteratur. Häufiger hingegen findet sich das Thema Vaterlosigkeit, einschließlich der sich daraus ergebenden möglichen Schwierigkeiten wie auch Chancen für das Aufwachsen betroffener Kinder, in den literarischen Texten der (post-)modernen Gesellschaften. Dabei deutete sich im Rahmen einer ersten Sichtung zeitgeschichtlicher Kinder- und Jugendromane bereits an, dass das Thema der Vaterlosigkeit mitsamt den Folgen für Kinder weniger als ein singuläres Phänomen, sondern meist im Kontext von Themen wie Flucht, Vertreibung oder Hunger behandelt wird.

Zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur – ein kurzer Überblick Während im Jahr 2005, das heißt sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, innerhalb der (auto-)biographischen Allgemeinliteratur ein regelrechter Erinnerungsboom ausgelöst wurde, stellt die zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur nur ein kleines Segment im Gesamtfeld der Kinder- und Jugendliteratur dar. Von den 216 Titeln, die sich zwischen den Jahren 2000 bis 2012 auf den Nominierungslisten des Deutschen Jugendliteraturpreises finden, sind nur elf Titel dem Bereich zeitgeschichtlicher Kinder- und Jugendliteratur zuzuordnen. In diesen Romanen wird vor allem das Leben während und nach der Shoah sowie das Phänomen der Kollaboration in verschiedenen Ländern thematisiert.3 Darüber hinaus greift der zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendroman aktuelle Diskurse aus der Geschichtswissenschaft auf, bedient sich der einschlägigen Debatten 3 Es handelt sich um folgende Titel (in Klammern wird das Jahr der Nominierung genannt): Els Beerten: Als gäbe es einen Himmel (2012); Monika Helfer/Michael Köhlmeier: Rosie und der Urgroßvater (2011); Tami ShemTov: Das Mädchen mit den drei Namen (2010); Morris Gleitzman: Einmal (2010); Peter van Gestel: Wintereis (2009); Markus Zusak: Die Bücherdiebin (2009); Włodzimierz Odojewski: Ein Sommer in Venedig (2008); John Boyne: Der Junge im gestreiften Pyjama (2008); Uri Orlev: Lauf, Junge, lauf

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aus den Kultur- und Erinnerungswissenschaften und modelliert somit ein Stück Nachkriegsgeschichte. Ferner ist bei den hier ausgewählten Texten eine gewisse Offenheit zu beobachten und sie zeichnen sich zudem durch eine Annäherung an die Erwachsenenliteratur aus. Was versteht die Kinder- und Jugendliteraturforschung unter dem Begriff der zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendliteratur? Glasenapp unterteilt die geschichtserzählende Kinder- und Jugendliteratur in zwei große Subgenres, nämlich in historische und zeitgeschichtliche Romane. Für beide gilt: »Die Erzählung von historischen Ereignissen in fiktionalisierter Form« (Glasenapp, 2011, S. 269). Dahrendorf (1997) definiert den Gegenstand darüber hinaus wie folgt: »In der Bundesrepublik während der 60er Jahre aufgekommener Terminus für diejenige – vor allem erzählende – Kinderund Jugendliteratur, deren Geschichten entweder vor konkretem zeitgeschichtlichen Hintergrund spielen, aber so, daß das ›Gespielte‹ ohne diesen Hintergrund so nicht möglich wäre (…), oder Zeitgeschichte ausdrücklich thematisieren, so daß Figuren und Handlungen mehr oder weniger zum Vorwand werden können. Mit ›Zeitgeschichte‹ ist die jüngste oder jüngere Vergangenheit gemeint, eine Vergangenheit, in deren unmittelbarer Auswirkung wir heute noch leben […]« (Dahrendorf, 1997, zit. nach Lange, 2000, S. 462). Bereits in den 1950er Jahren entstehen nach Glasenapp (2011) erste zeitgeschichtliche Romane für Kinder, die jedoch zunächst die Auswirkungen des Weltkrieges auf die deutsche Bevölkerung schildern – etwa Flüchtlingsgeschichten wie Willi Fährmanns »Das Jahr der Wölfe« (1962). Seit den 1960er Jahren lassen sich allerdings Verschiebungen erkennen: In den ersten Jahren konzentrierte sich die Kinder- und Jugendliteratur auf die deutsche, also auf die nichtjüdische Geschichte, ab den 1980er Jahren nahm der Blick auf die Shoah (2005); Mirjam Pressler: Malka Mai (2002); Peter Härtling: Reise gegen den Wind (2001) (vgl. alle Angaben unter »Rückblicke deutscher Jugendliteraturpreis 2000–2012«).

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immer mehr zu und mittlerweile werden auch Romane geschrieben, die sich mit Generationenfragen auseinandersetzen. Aber: »Weitaus weniger als das ›Dritte Reich‹ und der Holocaust ist hingegen die unmittelbare Nachkriegsgeschichte ins Blickfeld der Kinder- und Jugendliteratur geraten. Akzentuiert wird zwar in allen neueren Romanen, dass es in dieser Epoche weniger um die deutsche Niederlage als um die Chance eines Neuanfangs geht, im Zentrum steht jedoch das durch die Wirren der letzten Kriegstage, durch die Unsicherheit der politischen Situation sowie der ungewissen Zukunft hervorgerufene Gefühl, einer Zeit des Übergangs und des Umbruchs beizuwohnen. Von diesem Gefühl der äußeren, aber auch der inneren Unsicherheit sind die kindlichen wie jugendlichen Protagonisten in besonderem Maße betroffen« (Glasenapp, 2011, S. 282).

Das Thema Vaterlosigkeit in zeitgeschichtlichen Jugendromanen Für die hier vorgenommene Analyse wurden folgende Romane ausgewählt: »Kartoffelkäferzeiten« (1990) von Paul Maar, »Monis Jahr« (2003) von Kirsten Boie, »Unterland« (2012) von Anne C. Voorhoeve, »Zuckerbrot und Maggisuppe« (2002) von Dagmar Chidolue, »Zwei Wochen im Mai« (1981) und »Maikäfer flieg« (1973) von Christine Nöstlinger. Was sind typische Merkmale bei der Schilderung des Themas Vaterlosigkeit in diesen zeitgeschichtlichen Jugendromanen? Die Handlung ist zumeist in die unmittelbare Nachkriegszeit versetzt und neben dem abwesenden wird auch der Vater, der aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, beschrieben. Es handelt sich nicht um autobiographische Texte, zumindest lässt sich das nicht aus den Voroder Nachworten erschließen. In den hier analysierten Texten stehen insbesondere die vaterlosen Töchter im Mittelpunkt der Handlung und es wird gezeigt, wie die Mädchen mit der (temporären) väterlichen Abwesenheit umgehen. Lediglich im Roman »Monis Jahr« kehrt der Vater nicht aus dem Krieg zurück. Exemplarisch wird darüber hinaus das Nachkriegsleben in ländlicher oder großstädtischer © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Umgebung gezeigt. Es sind somit Jugendromane, die Nachkriegsgeschichte schildern, durchaus ein Happyend andeuten und eine Reihe von Konflikten, die in der Allgemeinliteratur selbstverständlich in die Handlung integriert werden, eher ausklammern. Interessant ist aber, dass in den Texten eine Art feministischer Konflikt zwischen den Generationen aufgegriffen wird, konkret: zwischen Töchtern und Vätern. Bei Abwesenheit der Väter ist es vor allem die Mutter der Väter, die die Werte und Normen des Vaters aufrechterhält und an seine Rückkehr glaubt. Anhand bestimmter Charakterisierungen der kindlichen Protagonistinnen deutet sich ein erster emanzipatorischer Aufbruch der weiblichen Generation in den Nachkriegsjahren an, der nicht nur die Erneuerung der Kinderund Jugendliteratur kennzeichnet, sondern auch das konkret veränderte reale Leben der Frauen. Den kindlichen Leserinnen werden somit nicht nur die früheren Diskurse zwischen den Generationen offenbart, sondern auch der Mut und das selbstständige Handeln der Mädchenfiguren. Oder anders gesagt: Kennzeichnend für die aktuelle zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur ist demnach ein neuer Konflikt zwischen den Generationen und die Autorinnen scheuen sich nicht, die Schwierigkeiten, die eine Rückkehr des Vaters aus dem Krieg bedeuten konnte, offen zu formulieren. Die zurückgekehrten Väter werden zumeist nicht als Helden gefeiert, sondern eher als gebrochen gezeigt und meistens als wenig bereit, sich den neuen Rollenmustern anzupassen. Generell geht es in den hier untersuchten Texten nicht nur um das Thema der Vaterlosigkeit, sondern immer auch um die Darstellung der Nachkriegszeit.

»Viel besser war noch, dass im März mein Vater von der Front kam«4 – temporäre Vaterlosigkeit Eine temporäre Vaterlosigkeit wird immer wieder in der zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendliteratur thematisiert: Geschildert werden Monate oder Jahre, in denen der Vater abwesend war und die Frauen selbstständig ihre Kinder ernährten. Erzählt wird zunächst aus der Sicht eines kindlichen/jugendlichen Protagonisten die Kriegs4 Nöstlinger (1996, S. 20)

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und Nachkriegszeit bis zur Rückkehr des Vaters aus der Gefangenschaft. Seine Erlebnisse an der Front bleiben dagegen im Hintergrund, denn der Vater schweigt. Die Geschichten machen jedoch deutlich, dass Frauen sich auch ohne ihre Männer behaupten konnten und die Konflikte nach der Rückkehr sich oft um Freiheiten und Emanzipation drehen. Es sind die Männer, die in tradierten Lebensmustern denken. Sind die Väter noch in Gefangenschaft, kommen Briefe an, ansonsten geht das Leben für die Frauen und Kinder weiter. 1990 erscheint der Roman »Kartoffelkäferzeiten« von Paul Maar. Angesiedelt ist die Handlung in einem Dorf namens Hesterhausen und der Zeitraum reicht von Januar 1948 bis März 1950. Im Mittelpunkt der Geschichte steht das Mädchen Johanna, das zu Beginn der Handlung zwölf Jahre alt ist und am 18. März 1935 geboren wurde. Sie lebt bei ihrer Mutter und Großmutter. Der Vater ist in russischer Gefangenschaft. »Jetzt antwortet Oma Mariechen für Johanna. ›Er [der Vater] ist in russischer Gefangenschaft‹, sagte sie. ›Aber er hat uns schon zweimal geschrieben‹, fügte Johanna hinzu. ›Ja, ja‹, sagte Tante Rosas Tochter und seufzte. ›Überall das Gleiche! Die Männer sind im Krieg geblieben oder in Gefangenschaft. Das ganze Dorf voller Frauen und kein einziger Mann!‹« (Maar, 2002, S. 13). Das Leben ohne Väter wird ebenso geschildert wie der Hunger der Nachkriegsjahre, die Flüchtlinge, die in den ländlichen Gebieten Unterschlupf suchen, die Alliierten und die Liebesgeschichten zwischen Alliierten und deutschen Frauen, aber auch die Rückkehr der Väter aus der Gefangenschaft. Johanna erlebt zunächst, wie ihre Großmütter, ihre Tante und ihre Mutter ohne Söhne, Väter und Ehemänner zurechtkommen und den Alltag meistern. Johannas Familie führt eine Gastwirtschaft im Dorf, die Oma und ihre Töchter bewirten trotz Krieg die Leute. Der Vater war ursprünglich Koch in der Wirtschaft, aber seit dem Krieg wurde auch diese Arbeit von den Frauen übernommen. Johanna beobachtet im gesamten Dorf, wie Frauen das Leben aufrechterhalten. Aber Johanna steht auch am Beginn ihrer Pubertät und ihre Sorgen und Ängste werden geschil© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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dert, die nicht immer mit der Kriegssituation zusammenhängen, sondern alltägliche Sorgen und Ängste eines heranwachsenden Mädchens sind: Der erste Kuss, das Verliebtsein, Gespräche mit der besten Freundin. Aber auch der Umgang mit der Vergangenheit beschäftigt Johanna und sie stellt viele Fragen nach der NS-Zeit, die ihr nicht immer beantwortet werden. Am 2. November 1948 kehrt dann der Vater aus der Gefangenschaft zurück. »Johanna hätte ihn wahrscheinlich nicht wiedererkannt, wenn sie ihm auf der Straße begegnet wäre. Er sah so anders aus als auf den Fotos, wie er da, ohne anzuklopfen, durch die Küchentür trat. Aber als ihre Mutter aufsprang und dem unrasierten Mann im langen Soldatenmantel mit einem Freudenschrei in die Arme fiel, wusste sie, dass ihr Vater heimgekehrt war« (Maar, 2002, S. 209). Mit seiner Rückkehr verändert sich Johannas Leben, das bis dahin durchaus etwas Freies hatte. Der Vater ist von einer Traurigkeit umgeben, scheint stumm seine Erlebnisse zu verarbeiten und lacht nicht, so dass »seine Traurigkeit […] ansteckend [wirkte] wie die Masern« (Maar, 2002, S. 219) ist. Und auch Johannas Mutter leidet unter dem Vater. »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, ich weiß es wirklich nicht. Ich komme einfach nicht an ihn heran. Er verschließt sich, er ist ein Fremder« (Maar, 2002, S. 220). Mit solchen Sätzen, die Johanna heimlich belauscht, beklagt sich die Mutter bei ihrer Mutter, die ihre Tochter um Geduld bittet. Sie nennt die Haltung des Vaters »Stacheldrahtkrankheit« (Maar, 2002, S. 220). Es ist dann Tante Fanni, die Johanna die Krankheit erläutert und ihr klar macht, dass ihr Vater Schlimmes erlebt hat. Der Vater zeigt wenig Verständnis für die Sorgen seiner Umwelt, die ihm belanglos vorkommen. Dies aber erschwert das Zusammenleben. Während sich Johanna neue Musik anhört oder sich um ihre Kleidung sorgt, verschwindet der Vater in seinem Zimmer und zeigt ihr so seine Missachtung, ohne zu sprechen. Johanna versteht das Verhalten nicht und greift ihren © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Vater an, der jedoch darauf nur oberflächlich reagiert und ihren Einwand nicht ernst nimmt. Der Konflikt spitzt sich zu, als die Fleischlieferungen immer enger werden, der Vater dementsprechend die Gastwirtschaft nicht betreiben kann und das Hausschwein schlachten möchte. Seine Schwiegermutter lehnt dies jedoch ab, sagt, dass es immer noch ihr Schwein sei. Auch Johanna gefällt das Leben mit dem Vater weniger als erwartet, was sie ihrem Freund Manni erläutert. »›Das ist mir egal‹, antwortete Johanna. ›Früher hat’s mir besser gefallen.‹ ›Warum?‹, fragte Manni. ›Ich finde es gut, wenn man genug Geld hat. Was gefällt dir denn nicht?‹ ›Vorher war’s viel ruhiger. Jetzt ist immer nur ein Gerenne, am Wochenende meine ich, und ein Geschrei. Papa will aber auch alles bestimmen‹« (Maar, 2002, S. 244). Der Vater begreift sich weiterhin als das Familienoberhaupt und auch als der Ernährer der Familie, trifft wichtige Entscheidungen ohne Absprache und bestimmt auch Johannas Rolle innerhalb der Familie. Ihren Wunsch, das Dorf zu verlassen, akzeptiert er genauso wenig wie auch die Veränderungen, die aus dem Fehlen der Männer resultieren. Nichtsdestotrotz hat Johanna auch Ruhepole, die es ihr ermöglichen, mit der schwierigen Situation fertig zu werden. Zum einen entwirft der Roman einen starken Halt der Frauen, die sich trotz einzelner Konflikte unterstützen. Auch Johanna weiß, dass sie sich auf ihre Tante, Mutter und Großmutter verlassen kann. In Krisenzeiten hat die Familie ihre festen Gewohnheiten nicht aufgegeben und das gibt Johanna Halt und Geborgenheit. In »Zuckerbrot und Maggisuppe« schildert Dagmar Chidolue die Geschichte des Mädchens Jutta, das mit seiner Familie als Flüchtling in Gütersloh ein neues Zuhause gefunden hat. Jutta lebt mit ihrer Mutter und ihrem Vater zunächst in einem Lager, wird von den Kindern in ihrer Klasse, die aus Gütersloh stammen, als Flüchtlingskind verspottet und muss sich dagegen behaupten. Zugleich kämpfen in der Familie die Eltern mit den Verlusten. Während jedoch Johannas Vater nicht über seine Erfahrungen im Krieg erzählt, besitzt Jutta sogar ein Fotoalbum mit Fotografien aus dem Krieg. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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»Papa hat ein schönes Fotoalbum vom Krieg. Er ist schon auf der ganzen Welt gewesen. Beim Russen und beim Franzosen und wer weiß noch wo. Er hat Fotos davon und auf jedem Bild lacht er. An seiner Seite sind Frauen zu sehen, rechts und links« (Chidolue, 2002, S. 49). Damit scheint der Vater sich weitaus offener seinen Erlebnissen zu stellen, die von seiner Tochter als ein Abenteuer reflektiert werden. Ähnlich wie schon in »Kartoffelkäferzeiten« reagiert auch hier die Bevölkerung widersprüchlich auf die Flüchtlinge und eine Anerkennung ist schwer. Jutta selbst leidet Hunger, die Familie ist arm und auf die Fürsorge anderer angewiesen. In Gütersloh lernt Jutta unterschiedliche Familien kennen und auch hier ist der abwesende Vater ein Bestandteil der Gesellschaft. »Ingelein hat keinen Vater mehr. Viele Kinder haben ihren Vater verloren. Das nennt man so. Man sagt auch: Jemand ist gefallen, wenn er im Krieg geblieben ist« (Chidolue, 2002, S. 20). Juttas Vater ist anwesend. Er war in englischer Gefangenschaft, wurde während des Krieges verletzt – und die Familie funktioniert. Damit entwirft Chidolue anders als Maar eben nicht eine Kriegsfamilie mit Konflikten, sondern eine mehr oder weniger intakte, in der dennoch die Verluste weiterhin präsent sind. Im Mittelpunkt der Schilderung steht die Flüchtlingskindheit und tatsächlich ist Dagmar Chidolues Roman charakteristisch für den Umgang mit dem abwesenden Vater in der zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendliteratur. Einen weiteren Aspekt, der jedoch an dieser Stelle nur gestreift werden kann, greift Anne C. Voorhoeve in ihrem Roman »Unterland« (2012) auf: Es ist der Vater, der zwar aus dem Krieg zurückkehrt, aber nicht erkannt werden darf. Seine nationalsozialistische Vergangenheit, sein Untertauchen werden hier thematisiert und auch die Frage aufgeworfen, ob man ihn verraten darf oder nicht. Damit nähert sich Anne C. Voorhoeve einem neuen Thema der zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendliteratur, setzt neue Schwerpunkte, konzentriert sich weniger auf die Konflikte zwischen Kindern und den zurückgekehrten Vätern, sondern vielmehr auch auf die Verbrechen der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Väter im Zweiten Weltkrieg. Und noch etwas zeigt der Roman: Die zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur entwickelt sich weiter.

»Man kann ihn für tot erklären lassen«5– der abwesende Vater »Monis Jahr« (2003) wird von Kirsten Boie in der Großstadt Hamburg angesiedelt. Im Mittelpunkt steht die zehnjährige Monika, die 1944 oder 1945 geboren ist. Sie kennt ihren Vater nicht, da sie aus einer kurzen Beziehung und einer Kriegsheirat entstanden ist. Der Vater wird seit zehn Jahren vermisst, die Mutter, die ihrem Mann kaum nachtrauert, glaubt nicht mehr an seine Rückkehr. Doch Mutter und Tochter leben bei der Schwiegermutter, die immer noch um ihren Sohn trauert, und daher kommt es immer mehr zu Konflikten zwischen Monis Mutter und Großmutter. Die Mutter möchte schließlich ihren Mann für tot erklären, um ein eigenes Leben führen zu können. Während Maar darstellt, wie sich das Leben der Familie nach einer Rückkehr verändert, zeigt Boie, wie das Leben ohne Vater während der Nachkriegszeit funktioniert. Auch hier sind es wieder Frauen, die den Alltag meistern. Neben den Alltagsproblemen kommt es auch zu Konflikten mit den Flüchtlingen, die weiterhin das Leben prägen. Ähnlich wie in »Kartoffelkäferzeiten« geht es auch in »Monis Jahr« letztendlich um das Mädchen Moni und ihr Leben in den Nachkriegsjahren. Sie besucht eine höhere Schule und soll es im Leben besser als die Kriegsgeneration haben. Eine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte der NSZeit findet auch hier nicht statt, denn ähnlich wie Maar zeigt auch Boie, wie sehr die deutsche Bevölkerung mit der eigenen Situation kämpfte und die Shoah verdrängte. Nichtsdestotrotz kritisieren beide Texte den Umgang mit der Geschichte im Nachkriegsdeutschland und sind somit auch das Ergebnis einer Literatur, die sich nach 1968 herausgebildet hat. Auch Moni wird mit der Politik der Nachkriegsjahre konfrontiert: Sie ist mit Hilli, dem Nachbarsmädchen, befreundet. Mit Hilli wird eine Figur eingeführt, deren Eltern im Konzentrationslager waren und deren Vater an den Folgen der Inhaftierung 5 Boie (2003, S. 68)

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verstorben ist. Moni selbst vermisst ihren Vater nicht, weiß auch gar nicht, wie das Leben mit einem Vater aussehen könnte. Doch immer wieder kehren Männer aus der Gefangenschaft heim und die Oma macht sich Hoffnungen, auch ihren vermissten Sohn zu sehen. In Monis Schulklasse wird die Rückkehr der Väter diskutiert und es wird deutlich, dass die Mädchen durchaus unter den Vätern leiden und von ihnen geschlagen werden. Männer, so deutet es der Roman an, kehren traumatisiert zurück und lassen ihre Sorgen und Ängste in der Familie. Ein Gespräch zwischen Moni und Rita, deren Vater aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt ist, soll zeigen, wie die Kinder die Heimkehr wahrnehmen. »Vier Tage später ist Rita zurück in der Schule. ›Na?‹, sagt Moni. Rita lehnt sich gegen ihr Pult. ›Er hat eine Glatze‹, sagt sie leise. ›Er war so hübsch, auf dem Foto war er so hübsch, aber in Wirklichkeit hat er eine Glatze.‹ […] ›Ich musste ihn küssen‹, sagt Rita. ›Gleich als er angekommen ist. Er hat – er hat schlecht gerochen. Und ich kenn ihn doch gar nicht! Aber er will mich die ganze Zeit küssen.‹ […] ›Er wird so schnell böse‹, flüstert Rita, und jetzt werden ihre Augen feucht. ›Gestern Abend hab ich Wasser aufgesetzt, und da hab ich vergessen, die Tülle auf den Pfeifkessel zu tun, und da hat es längst gekocht, aber es hat ja nicht gepfiffen, und darum hab ich es nicht gemerkt, und da war die ganze Küche voll Dampf.‹ […] ›Er hat mich geschüttelt‹, sagt Rita, und jetzt laufen die Tränen wirklich. »Jetzt kehrt hier aber mal Zucht und Ordnung ein!«, hat er geschrien. »Und pariert wird jetzt auch!« Da muss er gleich am ersten Tag zu Hause schon merken, dass so ein Weiberhaushalt aus seiner Tochter einen Nichtsnutz gemacht hat!« (Boie, 2003, S. 224 f.). Andere Mädchen berichten ebenfalls, dass ihre Väter sie mit Regeln und zum Teil auch Gewalt überschütten und in alte Rollenmuster © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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drängen. Rita verlässt mit ihrer Familie Hamburg und während des Gespräches wünscht sich Moni, dass ihr Vater nicht zurückkommt, schämt sich dafür und weiß nicht, mit wem sie reden kann. Ihre Mutter selbst kennt auch solche Gefühle, hadert mit sich, ob sie eine neue Beziehung beginnen kann und vor allem darf. Doch im Laufe der Geschichte erkennen alle Parteien, dass der Sohn, Ehemann, Vater nicht mehr zurückkommen wird und ein Neuanfang notwendig ist. Großmutter und Mutter vermitteln Moni Geborgenheit und Sicherheit.

Vom Kriegsvater zum Friedensvater – die Ambivalenz der Töchter Die zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur, die die Abwesenheit und oftmals auch die Rückkehr des Vaters schildert, stellt zwar Konflikte zwischen Vätern und Töchtern dar, aber zumindest fehlt bei den hier vorgestellten Beispielen der anklagende Ton, der sich in der sogenannten allgemeinen »Väterliteratur« findet. Die Frage nach Schuld und Verantwortung wird nicht ausgeklammert, aber im Mittelpunkt stehen unterschiedliche Vorstellungen vom Leben und es sind vor allem die Väter, die die veränderten Lebensweisen schwer akzeptieren können. Die Rückkehr des Vaters führt zu Konflikten und zwar nicht aufgrund seiner Haltung gegenüber der NS-Zeit, denn diese wird wenig thematisiert, sondern aufgrund seiner Haltung zu seinen Töchtern: Er verlangt Gehorsam und Unterwerfung. Die psychischen Probleme der jungen Protagonistinnen werden nicht geschildert und man kann nur vermuten, wie ihr Lebensweg weiter verlaufen wird. Betont wird die Selbstständigkeit, der Wunsch nach Bildung und nach einem anderen Leben. Die hier vorgestellten Romane deuten jedoch nicht nur den Konflikt zwischen Töchtern und ihren Vätern an, sondern auch den Aufbruch einer weiblichen Generation. Johanna äußert ihre Wünsche, denn sie möchte das Dorf verlassen und bittet, fleht fast schon, ihre Tante an, sie nach Amerika zu holen. Die Enge der Wirtschaft, aber auch die Haltung des Vaters erschweren das Zusammenleben und auch die Mutter leidet sehr, denn, so Johanna:

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»Mama geht es nicht besonders gut. Sie weint manchmal. Ich weiß nicht genau, was sie hat, aber sie ist unglücklich. Ich bin auch unglücklich« (Maar, 2002, S. 271). Die kindlichen Protagonisten verbinden Wünsche mit der Rückkehr des Vaters, müssen jedoch erkennen, dass der Krieg ihn verändert hat und dass auch ihr Leben durch den Krieg anders ist. Das Zusammenleben der Menschen, auch das zeigt die hier vorgestellte Kinder- und Jugendliteratur, erweist sich als schwierig.

Literatur Boie, K. (2003). Monis Jahr. Hamburg: Oetinger. Chidolue, D. (2002). Zuckerbrot und Maggisuppe. Hamburg: Dressler. Dahrendorf, M. (1997). Das zeitgeschichtliche Jugendbuch zum Thema Faschismus/Nationalsozialismus: Überlegungen zum gesellschaftlichen Stellenwert, zur Eigenart und zur Didaktik. In B. Rank, C. Rosebrock (Hrsg.), Kinderliteratur, literarische Sozialisation und Schule (S. 201–226). Weinheim: Beltz. Fährmann, W. (1962). Das Jahr der Wölfe. Würzburg: Arena. Glasenapp, G. von (2011). Geschichtliche und zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur. In G. Lange (Hrsg.), Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch (S. 269–289). Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Kästner, E. (1929). Emil und die Detektive: ein Roman für Kinder. Berlin: Williams. Lange, G. (2000). Zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur. In G. Lange (Hrsg.), Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Band 1. (S. 462–494). Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Maar, P. (2002). Kartoffelkäferzeiten. Hamburg: Oetinger. Nöstlinger, C. (1981). Zwei Wochen im Mai. Weinheim: Beltz & Gelberg. Nöstlinger, C. (1996). Maikäfer flieg. Weinheim: Beltz & Gelberg. Oelfken, T. (1931). Nickelmann erlebt Berlin: ein Großstadtroman für Kinder und deren Freunde. Potsdam: Müller & Kiepenheuer. Rückblicke deutscher Jugendliteraturpreis 2000–2012. Zugriff am 15. 11. 2013 unter http://www.djlp.jugendliteratur.org/archiv_rueckblicke-24.html Voorhoeve, A. (2012). Unterland. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag.

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Kriegskindheitserfahrungen als Thema in gesellschaftlichen Institutionen und Diskursen

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Kindheiten des Zweiten Weltkriegs im Geschichtsunterricht – exemplarische Überlegungen zu Lernzielen, Quellen und Methoden

Vorbemerkung Ein Urantrieb historischen Erzählens liegt darin, dass die Älteren und Alten meinen, die Jungen müssten von dem erfahren, was in der eigenen Jugend wichtig und prägend war. Dieses Grundbedürfnis drückt auch und gerade der aktuellen Konjunktur von Kriegskindererzählungen zum Zweiten Weltkrieg seinen Stempel auf. Das ist durchaus legitim, stößt aber dort an seine Grenzen, wo solche biographischen Motive auf den Kosmos Schule stoßen, der mit seinen formalen Strukturen von Lehrplänen und Fächerkonkurrenzen wenig Raum für beliebige Erweiterungen lässt und deshalb zu Recht immer nach dem Mehrwert für die historische Bewusstseinsbildung fragt. Dieser Beitrag möchte exemplarisch Lernziele, Quellen und Methoden zeigen, mit denen sich das Thema »Kindheiten des Zweiten Weltkriegs« mit den Rahmenbedingungen des Geschichtsunterrichts verknüpfen lässt.

Lernziele im Geschichtsunterricht Wer heute – egal mit welchem historischen Thema – Resonanz und Akzeptanz in Schulen finden möchte, muss sich auf zwei grundlegende Prämissen einlassen, die die Vorgaben an den Geschichtsunterricht in den weiterführenden Schulen prägen: erstens die Orientierung der Lehrpläne an Kompetenzerwartungen und zweitens das Postulat eines reflektierten Geschichtsbewusstseins. Ausgehend von der Einführung länderübergreifender Bildungsstandards durch die Kultusministerkonferenz in Folge der Pisa-Studie von 2001 hat die Kompetenzorientierung inzwischen bundesweit Eingang in schulische Lehrpläne gefunden. Kompetenzorientierte © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Lehrpläne sollen – so die Grundidee – nicht bloße Inhalte, sondern fachbezogene Kompetenzen als Lernziele beschreiben. Bezogen auf den Geschichtsunterricht geht es also darum, nicht Daten und Fakten einzutrichtern, sondern die Schüler in die Lage zu versetzen, Geschichte selbst zu erforschen, zu verstehen und daraus Orientierung für das eigene Handeln zu gewinnen. Der 2007 in Kraft getretene NRW-Kernlehrplan Geschichte für die Sekundarstufe I des Gymnasiums (Ministerium für Schule und Weiterbildung, 2007) unterscheidet die vier Kompetenzbereiche Sach-, Methoden-, Urteils- und Handlungskompetenzen. Der Terminus Sachkompetenz umschreibt im Kern die Aneignung von Datenund Faktenwissen über historische Ereignisse, Personen, Ideen, Prozesse und Strukturen. Darüber hinaus geht es um die Fähigkeit, »Entwicklungen, Wandlungsprozesse und Lebensgeschichten in ihrem Zusammenhang zu untersuchen, zu verstehen und darzustellen, also Geschichte zu ›konstruieren‹, ferner auch die Narrationen anderer und die Angebote der Geschichtskultur zu analysieren (›de-konstruieren‹)« (S. 18). Schwerpunkte der Methodenkompetenz sind die Fähigkeit zur Informationsrecherche und zur Interpretation von Quellen sowie die Analyse von und die kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen historischer Darstellung. Urteilskompetenz wird definiert als die Fähigkeit, »historische Phänomene in den Kontexten ihrer jeweiligen Zeit und Gesellschaft zu verstehen, sich mit unterschiedlichen Sichtweisen auseinanderzusetzen und Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Handelns in jener Zeit zu bewerten« (S. 19) sowie durch Argumente begründete Sach- und Werturteile zu formulieren. Handlungskompetenz schließlich bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler sich kritisch mit historischen Deutungen auseinandersetzen sowie historische Themen explizit mit Gegenwartsfragen in Beziehung setzen und so »für eine lebensweltliche Anwendung und historische Orientierung […] nutzen« (S. 19). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Eng mit diesen vier Lernkompetenzen verbunden ist das Ziel, den Schülern ein »reflektiertes Geschichtsbewusstsein« zu vermitteln. Laut gymnasialem Kernlehrplan in NRW ist dieses unter anderem daran erkennbar, dass die Schülerinnen und Schüler »verstehen, dass die Darstellung von Geschichte nicht einfach als Sammlung von Fakten anzusehen ist, sondern Fragen folgt, die aus der Gegenwart an die Vergangenheit gestellt werden und damit von jeweiligen Interessen abhängig sind« und »Geschichte als durch gesellschaftliche Bedürfnisse nach Selbstdeutung, Identifikation und Legitimation vermittelten (Re-) Konstruktionsprozess verstehen, der einer ständigen methodisch gesicherten Überprüfung bedarf« (S. 15). Andreas Weinhold und Waltraud Schreiber bündeln die beiden Lehrplanparadigmen der Kompetenzorientierung und des reflektierten Geschichtsbewusstseins in dem Satz: »Entscheidend für das kompetenzorientierte Geschichtslernen ist … die Einsicht, dass zwischen der Vergangenheit und der Geschichte, wie sie ›im Nachhinein‹ erzählt wird, ein grundsätzlicher Unterschied besteht« (Weinhold u. Schreiber, 2011, S. 8). Unter Historikern und Geschichtsdidaktikern besteht heute weitgehend Konsens darüber, dass Vergangenheit immer durch historisches Erzählen vermittelt wird und dieses historische Erzählen – egal ob es sich um Zeitzeugenberichte, Filmdokumentationen oder wissenschaftliche Studien handelt – zwangsläufig an die Perspektive des Erzählenden gekoppelt ist, mithin abhängig von dessen Vorerfahrungen, Werturteilen, Interessen und Intentionen. Geschichtserzählungen sind also immer subjektiv. Daraus folgt nach Weinhold und Schreiber: »Ein auf aktive Teilhabe an der Geschichtskultur angelegter Geschichtsunterricht wird die Lernenden zur Skepsis gegen© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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über allen feststehenden Narrationen auffordern. Das gilt insbesondere für monoperspektivische Geschichtsdarstellungen […]. Zugleich wird er Schülerinnen und Schüler dazu in die Lage versetzen, die für solche Erzählungen typischen Konstruktionsmuster zu erkennen und beim Konstruieren eigener Geschichten zu unterlassen« (Weinhold u. Schreiber, 2011, S. 10). Das Prinzip der subjektiven Konstruktion von Geschichte gilt im Übrigen nicht erst für nachträgliche historische Erzählungen, sondern auch schon für die zeitgenössischen Quellen selbst: Auch sie bilden Vergangenheit, deren Überreste oder Traditionen sie sind, nicht eins zu eins ab. »Auch die Urheber der Quellen sind in ihre Zeit verwoben; leben […] in spezifischen Kontexten, verfolgen Interessen, müssen sich zu den Intentionen Anderer verhalten. Bewusst und unbewusst konstruieren sie, wenn sie darstellen, was ›gewesen‹ ist« (S. 9). Manchmal fehlen den Verfassern der Quellen Einblicke in Zusammenhänge, manchmal wollen sie diese auch nur nicht öffentlich machen, manchmal gezielt Fakten schönen, verfälschen, verbergen oder erfinden. In der Konsequenz schaffen Quellen »damit erst die ›Wirklichkeit‹, die sie zu repräsentieren scheinen« (S. 9) und sind in diesem Sinne immer subjektiver Ausdruck vergangenen Handelns und Denkens. Das Schülern zu vermitteln, ist heute ein zentrales Ziel von Geschichtsunterricht. Zusammengefasst ist historische Kompetenz mithin wesentlich narrative Kompetenz, und deren Kern ist die Fähigkeit zu verstehen, wie Geschichtserzählungen konstruiert sind und wie man sie dekonstruiert.

Quellen und Methoden Für das Thema dieses Tagungsbandes bedeutet dies, dass die Beschäftigung mit den historischen Quellen zur Geschichte der Kindheiten im Zweiten Weltkrieg in der Schule rekonstruierend und dekonstruierend erfolgen muss. Grundsätzlich lässt sich das Thema gut im © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Geschichtsunterricht behandeln, weil die Lehrpläne neben Kompetenzerwartungen auch sogenannte »obligatorische Inhaltsfelder« definieren, zu denen immer auch »Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg« gehören (Ministerium für Schule und Weiterbildung, 2007, S. 31). Üblicher Zeitraum für deren Behandlung ist das zehnte bzw. im achtjährigen Gymnasium das neunte Schuljahr. Im Folgenden sollen beispielhaft vier Quellengattungen zum Thema »Kindheiten des Zweiten Weltkriegs« vorgestellt und auf ihre Verwendbarkeit im schulischen Unterricht abgeklopft werden: zeitgenössische Schriftquellen, Fotografien, fiktionale Verarbeitungen und Zeitzeugenberichte. Zeitgenössische Schriftquellen – Fürsorgeakten Unter den zeitgenössisch entstandenen schriftlichen Quellen zu Kriegskindheiten des Zweiten Weltkriegs lassen sich grundsätzlich zwei Typen unterscheiden: auf der einen Seite sogenannte »Ego-Dokumente«, also Quellen aus der Hand von Kindern oder Jugendlichen selbst, zum Beispiel Tagebücher, Briefe oder Schulaufsätze; auf der anderen Seite Schriftdokumente, die aus erwachsener Perspektive über adoleszente Lebenswelten berichten, zum Beispiel Zeitungen oder Zeitschriften, Schulchroniken oder briefliche Äußerungen der Eltern, aber auch Polizei-, Gerichts- und Fürsorgeakten. Beide Typen können durchaus ergiebige Quellen sein, bedürfen aber jeweils in je spezifischer Weise einer kritisch-dekonstruierenden Analyse. Dies sei hier am Beispiel von Akten der Fürsorgeerziehung erläutert. Die Fürsorgeerziehung war ein aus der Kaiserzeit stammendes Instrument staatlicher Jugendfürsorge mit dem Ziel, »verwahrloste oder von Verwahrlosung bedrohte« Kinder und Jugendliche der Obhut ihrer Eltern zu entziehen, um sie in Heimen oder Pflegestellen zu erziehen. Ihre Anordnung erfolgte durch Beschluss der Amtsgerichte, die sich dafür auf Aussagen von Fürsorgerinnen, Nachbarn, Lehrern, Pfarrern und zum Teil auch den Betroffenen selbst und deren Eltern stützten. Die auf diese Weise entstandenen und in »Einzelfallakten« massenhaft über­liefer­ten Sozialdiagnosen konfrontieren den Historiker mit einem ambivalenten Quellenbefund (Kenkmann, 1992; Köster, 1999): Einerseits vermitteln sie sehr plastische Einblicke in Lebens­verhältnisse und menschliche Verhaltensspektren und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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zerstören dabei nicht zuletzt nachdrücklich jedes idyllisierende Bild unterschichtenspezifischer Bedingungen des Aufwachsens. Darüber hinaus scheinen in ihnen immer wieder schlaglichtartige Impressionen von Lebenserfahrungen, Lebensentwürfen und Lebensstilen Heranwachsender auf. Das gilt auch für die »Kriegskinder«-Thematik dieses Bandes. Dazu sei als Beispiel der Beschluss des Amtsgerichts Münster vom 5. Februar 1945 zur Einweisung des damals 15-jährigen Bernhard H. in Fürsorgeerziehung zitiert: »Der Jugendliche kam nach seiner Schulentlassung im Jahre 1943 als Bote zur Firma H[…] & Co in Münster. Diese Tätigkeit gefiel ihm nicht, er wollte ein Handwerk erlernen. Vom Arbeitsamt wurde er dann dem Schneidermeister F[…] in Albersloh überwiesen. Am 11. 4. 1944 wurde er dort als Schneiderlehrling eingestellt. Bei der Firma H[…]& Co und beim Schneidermeister F[…] hat sich der Jugendliche in mehreren Fällen der Arbeitsbummelei schuldig gemacht. Von beiden Stellen bekam er ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. […] Wegen der […] Arbeitsbummelei wurde der Jugendliche aufgegriffen, als er ein Kino besuchte und mit der Krätze behaftet war. Er musste eine Schmierkur machen […] Diese Kur konnte er zu Hause nicht vornehmen, weil seine Eltern bei ihren verwundeten Söhnen zu Besuch waren […] Nach seiner Rückkehr […] begab sich der Jugendliche nicht zu seinem Meister zurück, sondern beging eine neue Arbeitsbummelei. Bei Aufstellung einer Verfügungseinheit in Münster meldete sich der Jugendliche ebenfalls und wurde am 5. 10. 1944 notdienstverpflichtet. Er versuchte sich überall in den Vordergrund zu stellen und dadurch seine Vorteile zu erzielen. Ende November wurde der Jugendliche von der V-Einheit freigegeben und seinem Meister wieder zur Verfügung gestellt. Er kam dieser Aufforderung aber nicht nach, sondern begab sich zur Sanitätsstelle im hiesigen Bahnhofsbunker, wo er sich als Sanitäter ausgab und dort wieder zehn Tage bummelte. […] Zuletzt war er bei der hiesigen Kreisleitung als Melder. […] Im Emsbunker traf er de[n] Oberfeldwebel M[…], von dem er erfahren hatte, dass dieser seiner in Überlingen am Bodensee wohnenden Frau ein Weihnachtspaket schicken wollte. Dem Oberfeldwebel spiegelte er vor, dass er mit einem Sonderzug nach München fahre und das Paket wohl in München zur Post geben wollte. Der Oberfeldwebel übergab ihm das Paket, das 1 Kiste Zigar-

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ren, 7 Weihnachtskerzen, 1 Puppe und 5 verschiedene Bücher enthielt. Dieses Paket hat er zu Hause geöffnet. Die Zigarren hat er seinem Vater geschenkt, mit der Vorspiegelung, dass er sie gekauft habe. Die Puppe hat er seiner Mutter geschenkt. Der Jugendliche ist schon in hohem Grade verwahrlost. Er kommt sich als Held vor und ist in dieser Hinsicht wohl von seiner Umgebung noch bestärkt. Um Anordnungen von Behörden kümmert er sich nicht.«1

In hoher Dichte und Plastizität vermittelt die Quelle einen Eindruck von Alltagsleben, Träumen und Sorgen eines 14- bis 15-Jährigen in den Jahren 1943/44. Insbesondere illustriert sie den starken Drang, der tristen Alltagsrealität der »Heimatfront« durch immer neue Fluchtbewegungen zu entkommen. Zugleich spiegelt sie plastisch die Chaotisierung der Lebensbedingungen in der Endphase des Krieges und die Kontrolllücken, die sich dadurch auftaten. Die Durchsicht von Fürsorge-, Polizei- und Justizakten jener Jahre bringt – konträr zum offiziellen Bild einer idealistischen und »opferwilligen« deutschen Jugend – erstaunlich vielfältige Zeugnisse solch offener und versteckter Verweigerung gegen die Zumutungen des totalen Krieges zutage. Neben Schul- und Arbeitsverweigerungen dokumentieren die Akten unzählige Versuche, sich durch den Zusammenschluss in »Cliquen« oder indivi­du­elle Vergnügungen aller Art – von Kinobesuchen über das Poussieren mit Soldaten oder Kriegsgefangenen bis zu abenteuerlichen Reisen – der bedrückenden und fremdbestimmten Realität des Kriegs­all­tags zumindest mental zu entzie­hen. Doch so anschaulich in Quellen wie der zitierten zuweilen typische Alltagssituationen, schichtenspezifische Rollenmuster oder adoleszen­ter Eigen­sinn auf­b litzen, so falsch wäre es, die in den Berichten der Polizei, der Gerichte und der Jugendfürsorge gezeich­neten Persön­lichkeits­bilder für eine auch nur annähernd objektive Be­schreibung der Lebens­situa­tion der Betrof­fenen zu halten. Dagegen spricht dreier­lei: Erstens fußten die Sozialdiagnosen 1 Beschluss des Amtsgerichts Münster auf Anordnung der vorläufigen Fürsorgeerziehung gegen den 16-jährigen Bernhard H., 05. 02. 1945 (Archiv des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe, C 50 I)

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auf einer sehr selektiven Quellenbasis. Indem sie sich auf Vorurteile und Denunziationen, mehr oder minder zufällige Beobachtungen von Fürsor­ge­rin­nen, Lehrern oder Arbeitgebern und verhörähn­liche Befragungen der Jugendlichen selbst stützten, reduzierten sich in ihnen zwangsläufig komplexe Lebenssituationen auf Auffälligkeiten und Norm­abweichungen. Zweitens neigten die Berichte zu extre­men sprachlichen und inhaltlichen Schablonisierungen. Fast stereo­typ begeg­nen dem Leser immer wieder die gleichen Klischeetypen »verwahrloster« Jugend­licher: Da gab es den »unver­besserlichen Arbeitsbummelanten«, das »haltlos-triebhaf­te Mäd­chen«, den »rowdy­haften Halbstarken«, die »abenteuerlustige Vagabun­din«, den »lügen­haften Aufschnei­der« und so fort. Drittens und vor allem aber brachen sich in solchen Darstellungen die komplexen Lebens­situationen der Betroffenen in den normativ definierten Wahrnehmungsrastern der Bericht­erstatter. Hier prallten schlicht Welten aufeinander und ange­ sichts dieser Kluft offenbarten die Berichte oft mehr über ihre Verfasser als ihre Objekte. In ihnen spiegel­ten sich die generel­len Pro­ blem­re­zeptio­nen und Ord­nungs­vor­stellun­gen des Staates und der Gesell­schaft. Letztlich gerannen jugendliche Biographien unter dem »kontrollierenden Blick« (Kenkmann, 1992, S. 152) der Aufsichtsinstanzen »zu einer Serie von Notla­gen, Fehl­verhal­ten, Bedürf­tig­keit und Widersetzlichkeit« (Peukert, 1986, S. 211). Indem die Verfasser ihr sozialmo­ra­lisches Normengefüge auf ihre »Fälle« projizierten, konstruierten sie eine eigene soziale Wirk­lich­keit, die mit der Realität nur sehr bedingt zu tun hatte. Will man solche Quellen also im Geschichtsunterricht einsetzen, muss man genau diesen Konstruktcharakter einer »Fürsorgeakte« zum Thema machen. Das heißt, Schüler sollten lernen zu durchschauen, welchen Normen, Erfahrungen und Interessen die Verfasser dieser Akten verhaftet waren und sich so ganz im Sinne des oben zitierten Kernlehrplans »kritisch mit historischen Sachverhalten und Deutungen auseinandersetzen und dabei die Differenz von gegenwärtigen und historischen Normen berücksichtigen« (Ministerium für Schule und Weiterbildung, S. 15).

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Visuelle Quellen – Fotografien Fotografien sind für Schüler faszinierende historische Quellen. Anschaulich und unmittelbar können sie vergangene Ereignisse, Persönlichkeiten, Arbeits- und Lebensbedingungen lebendig machen. Entsprechend beliebt sind fotografische Abbildungen heute in Schulbüchern. Allzu oft fungieren sie aber nach wie vor als rein illustratives Beiwerk zu den schriftlichen Ausführungen. Weder wird ihnen ein eigener Quellenwert zugemessen noch werden die Schüler aufgefordert, sich kritisch mit dem Konstruktionscharakter von Fotografien auseinanderzusetzen. Dabei müsste im Sinne eines reflektierten Geschichtsbewusstseins ein entscheidendes Lernziel der Beschäftigung mit Fotografien im Unterricht sein, dass diese eben nicht einfach Abbildungen der Realität sind, sondern sich mit ihnen immer eine Deutungsabsicht verbindet, die den Interessen und Vorerfahrungen des Fotografen entspricht:

»Das Rechteck der Fotografie arbeitet keineswegs wie ein unschuldiges, unbeteiligtes Auge. Der Fotograf wählt aus, inszeniert, arrangiert, er bestimmt Ort und Zeitpunkt der Aufnahme, er wählt den Blickwinkel, er arbeitet das Bild aus, beschriftet es und reicht es weiter« (Holzer, 2007, S. 15). Vor diesem Hintergrund sollten Schülern auch im Geschichtsunterricht grundlegende Kompetenzen der Bilderschließung vermittelt werden, das heißt im Kern, dass sie lernen sollten, bei der Betrachtung eines Fotos Fragen bezüglich der Bildinhalte, Bildentstehung, Bildgestaltung und des historischen Kontextes des Bildes zu stellen (vgl. Weinhold, 2012). Der erste Schritt ist dabei eine genaue Betrachtung und Beschreibung des Bildinhalts: Wen oder was sieht man? Wie ist es dargestellt? Welche Zusammenhänge bestehen? Was ist außerhalb des Bildrahmens zu vermuten? Hinsichtlich der Bildentstehung gilt es vor allem nach dem Fotografen und seiner Biographie, dem Ort, der Situation und dem Zeitpunkt sowie nach der Zielsetzung der Aufnahme zu fragen. Die Beschäftigung mit der Bildgestaltung thematisiert die Perspektive (Normal-, Unter-, Aufsicht), die Distanz des Fotografen zum Motiv, den Bildaufbau und seine Wirkung, Farbgebung, Lichtführung und Kontraste. Auch das Ausmaß der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Inszenierung und gegebenenfalls nachträgliche Manipulationen des Bildes durch Beschnitt oder Retuschen sind in diesem Zusammenhang anzusprechen. Schließlich sollte eine Fotografie auch auf das Verhältnis zu ihrem historischen Kontext hin analysiert, also zum Beispiel gefragt werden, in welcher Zeit das Foto entstand, ob eine Interpretation des Dargestellten erkennbar ist, etwa eine Idealisierung, Abwertung oder Verfälschung, und ob dem Bild eine politische Aussage zuzuordnen ist. Wie gegensätzlich die Botschaften von motivisch ähnlichen Fotografien von »Kriegskindern« des Zweiten Weltkriegs sein können, lässt sich plastisch am Beispiel zweier in Westfalen entstandener Porträts von Hitlerjungen zeigen. Das eine stammt aus der Hand des 1918 in Lippstadt geborenen Walter Nies, der seit 1943 als Fotograf für die HJ-Gebietsführung Westfalen-Süd tätig war (Becker, 2006). Es zeigt in Untersicht und Halbprofil einen Hitlerjungen in Uniform, der mit seiner rechten Hand eine aufgesetzte Hakenkreuzfahne hält (siehe Abbildung 1). Das Foto ist vermutlich im Sommer 1944 auf einem HJ-Gebietssportfest in Lüdenscheid entstanden. Der etwa 16-jährige Jugendliche steht unter einem Torbogen, sein Blick ist augenscheinlich hoch konzentriert geradeaus gerichtet, die linke Hand zur Faust geballt, und der Haarschnitt wirkt ebenso akkurat wie die Uniform. Das Motiv erscheint uns vertraut, es entspricht ganz dem allseits bekannten Bildkanon der NS-Propagandadarstellungen der »gläubigen deutschen Jugend«, die auch im sechsten Kriegsjahr noch nichts von ihrer entschlossenen Bereitschaft zum »Kampf für Führer, Volk und Vaterland« verloren zu haben scheint. Zu diesem Eindruck tragen sowohl die heroisierende Untersichtperspektive und das die Markanz des Gesichts betonende Halbprofil bei als auch die Akkuratesse der Kleidung, die gestalterische Parallelisierung von Person und Fahne und die ausdrucksstarke Gestik und Mimik. Das Foto ist selbstverständlich kein zufälliger Schnappschuss, sondern eine sorgfältige propagandistische Inszenierung im Sinne des NSRegimes. Genau das war ja auch der Auftrag, den der HJ-Fotograf Walter Nies zu erfüllen hatte. Das zweite Bild scheint auf den ersten Blick ein sehr ähnliches Motiv zu zeigen. Es entstand einige Jahre früher, circa 1941, im © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Abbildung 1: Porträt eines fahnentragenden Hitlerjungen, ca. 1944; Walter Nies/Stadtarchiv Lippstadt

münsterländischen Raesfeld. Fotograf war ein Mann namens Ignaz Böckenhoff. Der 1911 geborene Landwirtssohn wollte eigentlich katholischer Priester werden, dies blieb ihm aber mangels Abitur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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verwehrt. So wohnte er zeitlebens in seinem Geburtsort Raesfeld, machte sich so gut er konnte auf dem elterlichen Hof nützlich und engagierte sich im katholischen Vereinsleben. Seine Passion gehörte der Fotografie; mit seiner Kamera wurde er seit den 1930er Jahren zum Dokumentaristen seines Dorfes und dessen Bevölkerung im Wandel der Zeiten. Ein besonderes Gespür entwickelte der fotografierende Außenseiter, der dem Nationalsozialismus mit großer Skepsis begegnete, dabei für die »schleichenden politischen Veränderungen [und] die zunehmende Ideologisierung und Militarisierung des dörflichen Lebens« (Jakob u. Goebel, 2002, S. 16). So entstand auch eine Serie von Fotografien, die jeweils einzelne Hitlerjungen bzw. Jungvolkangehörige in Uniform porträtieren. Eines von ihnen zeigt den Jungvolk-Jungen Rolf Baltruschat (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Porträt des Jungvolk-Jungen Rolf Baltruschat, circa 1941; Ignaz Böckenhoff/LWL-Medienzentrum für Westfalen

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Der etwa elf- bis zwölfjährige Junge steht mittig vor einer Hecke oder einem Wäldchen. Auf Augenhöhe blickt er in die Kamera. Das Haar ist exakt gescheitelt, der Blick freundlich, aber zurückhaltend. Die Uniform, die er mit sichtlichem Stolz trägt, erweist sich bei genauer Betrachtung als schlecht sitzend. Das Koppel der hochgezogenen Hose reicht weit über den Bauch, das Hemd ist entsprechend zerknittert, das Halstuch hängt schief und die Hemdsärmel scheinen zu kurz zu sein. Bei all dem strahlt das Foto eine große Vertrautheit, ja Intimität zwischen Fotografen und Fotografiertem aus. Nicht ein Hitlerjunge ist hier porträtiert worden, sondern ein Nachbarskind, das trotz der Autorität vorschützenden Uniform eher schutzbedürftig als Respekt gebietend wirkt. Wenn man das Bild mit anderen Motiven Böckenhoffs vergleicht, etwa der anrührenden Aufnahme einer Mutter mit ihren Kindern, die ein Foto des an der Front stehenden Vaters in die Kamera hält, drängt sich die Vermutung auf, dass es dem Fotografen auch beim Porträt des Jungvolk-Jungen Baltruschat letztlich darum ging, die »existenzielle Bedrohung des Menschen durch Ideologien und Krieg« (Jakob u. Goebel, 2002, S. 17) ins Bild zu rücken. In jedem Fall setzt das Foto einen Kontrapunkt zur heroisierenden Darstellung der Kriegskinder und -jugendlichen in der offiziellen NS-Propagandafotografie. Gerade deshalb eignen sich beide Fotos gut zur vergleichenden Behandlung im Geschichtsunterricht, vermitteln sie doch eindrücklich die Standortgebundenheit und Subjektivität der scheinbar objektiven Quelle Fotografie. Fiktionale Geschichtserzählungen – ein Spielfilm Das Medium Spielfilm erfreut sich in der historischen Bildungsarbeit seit langem großer Beliebtheit. Das verwundert nicht, bieten bewegte Bilder doch schon durch ihre spezifische Ästhetik und sinnliche Qualität besondere Möglichkeiten, um junge Menschen für geschichtliche Themen zu interessieren. Filmische Erzählungen fokussieren komplexe Handlungen auf Kernstränge, sie erzählen Ereignisse aus der Sicht weniger Personen, die gleichwohl schon aus dramaturgischen Gründen häufig mehrperspektivische Positionen erkennen lassen, und sie fordern so zur Parteinahme und Identifikation auf. Vor allem transportieren Spielfilme »nicht nur Wissen und Informationen, sondern auch Gefühle, sprechen das Unterbewusst© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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sein an und provozieren bei den Betrachtern Gefühlsäußerungen« (Schneider, 2002, S. 369). So können Filme plastische Brücken in die Vergangenheit schlagen, sie vermitteln eine unmittelbar beeindruckende, anschauliche Vorstellung von historischen Ereignissen und bauen Distanz zum vergangenen Geschehen ab. Kaum ein Medium kann vergangene Zeiten deshalb so intensiv lebendig werden lassen wie Spielfilme; Geschichte wird durch sie sichtbar, nachvollziehbar, spürbar. Thilo Werner hat die Bedeutung solchen emphatischen Lernens über das Medium Film in eine kurze rhetorische Frage gefasst: »Wie sonst sollen wir Lehren aus der Geschichte ziehen, wenn uns die Geschichte nicht auch emotional betroffen macht?« (Werner, 2004, S. 20). Dass Spielfilme auch für das Thema »Kriegskinder« großes didaktisches Potenzial bergen, zeigt beispielhaft der australisch-deutschbritische Film »Lore«, der 2012 unter der Regie von Cate Shortland nach Rachel Seifferts Novelle »Die dunkle Kammer« entstand (siehe Abbildung 3). Seine Handlung spielt im Frühjahr 1945: Die 15-jährige Lore ist die Tochter eines hochrangigen SS-Offiziers. Als die Amerikaner näherrücken und die Eltern vor der Verhaftung fliehen, macht sich Lore mit ihren vier jüngeren Geschwistern, darunter ein Säugling, aus dem Schwarzwald auf den Weg nach Norden zu ihrer Großmutter. Hunger, Kälte, Gewalt, Chaos und Todesbedrohung werden zu ständigen Begleitern ihrer Odyssee. Zugleich gerät Lores fest gefügtes nationalsozialistisches Weltbild durch die Konfrontation mit den NS-Gewaltverbrechen, in die ihr Vater als KZ-Kommandant tief verstrickt war, zunehmend ins Wanken; um so mehr, als sich ihnen ein Junge anschließt, der sich als jüdischer KZ-Häftling zu entpuppen scheint (am Ende aber doch keiner ist). Obwohl er den Geschwistern aus lebensbedrohlichen Situationen hilft, reagiert Lore auf seine fürsorglichen Annäherungen mit ideologisch motivierten Abwehrreflexen. Sie sieht in dem jungen Mann keinen Verbündeten, sondern »den minderwertigen ›Parasiten‹, der sie auf irritierende Weise erotisch anzuziehen scheint« (Wach, 2012, S. 48). Nachdem vier der fünf Geschwister

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Abbildung 3: Filmplakat des Films »Lore« von Cate Shortland (Deutschland/ Australien/Großbritannien 2012); Piffl Medien/filmportal.de

schließlich doch noch das symbolträchtig auf einer Hallig gelegene großmütterliche Haus erreicht haben, zieht Lore einen dramatischen Schlussstrich. Sie widersetzt sich der Großmutter, die ungeachtet des totalen moralischen Zusammenbruchs des bisherigen Weltbilds

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zur Tagesordnung übergeht und die Kinder mit sinnentleerter Disziplin traktiert, und zerstört in einer metaphorischen Abrechnung deren kitschige Porzellanfiguren-Sammlung.

Der filmisch perfekt gestaltete aufwühlende Kinostreifen eignet sich in mehrfacher Hinsicht zur unterrichtlichen Vertiefung des Themas Kriegskindheiten in den Klassen 9 bis 13. Zum einen veranschaulicht er in bedrückender Intensität die absoluten Ausnahmeerfahrungen, denen sich zahllose Kinder und Jugendliche am Ende des Krieges ausgesetzt sahen: Neben der existenziellen materiellen Not zeigt er ihre psychisch-moralische Desorientierung, hervorgerufen durch den Verlust von Familien­ angehörigen und der vertrauten Umgebung, die kaum zu verarbeitenden Erlebnisse der Kriegs- und Zusammenbruchszeit – insbesondere die zahlreichen Grenzerfahrun­gen mit Tod, Not und Gewalt –, und auch den Kollaps des politischen Weltbildes und das Fehlen glaubwürdiger Autoritäten. Zum anderen regt er damit zur Reflexion der Fragen von Schuld, Verantwortung, missbrauchtem Idealismus, Wegsehen und Nicht-wahrhaben-Wollen der nationalsozialistischen Verbrechen an und berührt so ein Grundthema der deutschen Nachkriegsgeschichte, das auch in der unterrichtlichen Behandlung dieser Zeit einen zentralen Stellenwert hat. »Lore« ist also eine bemerkenswert cineastische Geschichtserzählung über Kriegskinder-Schicksale im Jahr 1945. Wie alle Narrationen sollte indes auch ein Spielfilm wie dieser im Geschichtsunterricht nicht nur auf die in ihm vermittelten Themen und Inhalte hin betrachtet, sondern zugleich kritisch-dekonstruierend analysiert werden. Das heißt, Schüler sollten an ihm lernen, dass Spielfilme wie jede Geschichtserzählung nie authentische Abbildungen der Vergangenheit sind, sondern immer an Standort und Perspektive ihrer Macher gebundene narrative Konstrukte. Denn seiner erzählerischen Intention gemäß wählt und interpretiert ein Filmemacher aus der Fülle möglicher historischer Stoffe stets jene, mit denen sich eine filmisch »gute Geschichte« erzählen lässt. Und eine gute Geschichte, dass bedeutet im Kino notwendig und legitimerweise dramaturgische Verdichtung, Dramatisierung, Emotionalisierung und Personalisierung. Entsprechend besteht die erste Aufgabe der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Beschäftigung mit Spielfilmen im Geschichtsunterricht im Abgleich von filmischer Aussage und historischer Realität, mithin in der »Trennung von Dramaturgie, Mythologie und Geschichte« (Schillinger, 2006, S. 6). Weil die Aussagen eines Filmes auch und vor allem durch seine Visualität bestimmt werden, sollten dann neben inhaltlichen und dramaturgischen Aspekten auch filmsprachliche Gestaltungs- und Darstellungselemente wie Einstellungsgrößen, Perspektiven, der Einsatz von Licht und Farbe, Kamerabewegungen, Ton sowie Bildgestaltung und Bildkomposition, Schnitt, Montage und Rhythmus der filmischen Einheiten untersucht und in ihrer Aussagekraft bewertet werden. Schließlich sind im Geschichtsunterricht auch Fragen nach dem Wann, Wo, Wie und Warum der Entstehung, nach Zielgruppen und Wirkungen des analysierten Films zu stellen. Damit beinhaltet eine historische Filmanalyse immer auch kritische Medienreflexion. Denn nur im Wissen um die Konstruktion und Konstruiertheit von filmischen Geschichtserzählungen und durch die Analyse der von ihnen transportierten Geschichtsbilder lässt sich ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein ausbilden. Zudem kann gerade die Verbindung von historischer Bildung und Medienwirkungsanalyse für junge Menschen eine besondere Lernmotivation schaffen. Zeitzeugen Bei aller Unterschiedlichkeit weisen Zeitzeugenberichte als Geschichtserzählungen ähnliche Konstruktionsprinzipien auf wie Spielfilme. Analog zu diesen greift ein Zeitzeuge fast zwangsläufig auf die Stilmittel der erzählerischen Verdichtung und Dramatisierung, der Personalisierung und Emotionalisierung zurück. Das ist keineswegs illegitim, denn gerade durch seine erzählerische Qualität kann ein Zeitzeugenbericht bei jungen Menschen Geschichtsbewusstsein wecken und ihnen Handlungsorientierung bieten. Ein biographischer Zugang konfrontiert eben nicht mit abstrakten Daten und Fakten über den Zweiten Weltkrieg, sondern mit Personen, die diese Zeit am eigenen Leibe erlebt haben. Ein Zeitzeuge kann so durch seine Person eine unmittelbare Brücke zwischen der Geschichte und der Jetztzeit und damit der Lebenswelt der Jugendlichen her© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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stellen, umso mehr, wenn er oder sie über seine eigene Jugendzeit berichtet, die Schülerinnen und Schüler also mit den Erfahrungen eines damals Gleichaltrigen vertraut gemacht werden. Es ist zum Beispiel ein gewichtiger Unterschied, ob Schüler in einem Text über das Ausmaß der Zerstörungen des Bombenkrieges lesen oder ob sie dessen bedrückende Folgen ganz konkret in der Begegnung mit einem Zeitzeugen nachvollziehen können, der diese Folgen damals als Kind oder Jugendlicher erlebt hat. Die quasi-persönliche Begegnung mit physischem Leid und psychischen Erschütterungen regt zur Frage nach Ursachen und Folgen von Kriegen an, sie vermittelt den elementaren Stellenwert von friedlichem Konfliktaustrag, und sie kann die Sensibilität und Engagementbereitschaft gegenüber jeder Form von Unrecht und Gewalt stärken. Aber auch hier gilt: Die Herstellung von Aufmerksamkeit und Betroffenheit – getreu dem nach Zeitzeugenvorträgen fast stereotyp kolportierten Satz »Man konnte eine Stecknadel fallen hören« – ist sicher ein guter Anfang, kann aber nicht das Ende des Lernprozesses im Geschichtsunterricht sein. Zwar ist Zeitzeuge nicht »der natürliche Feind des Historikers«, als den Hans-Günther Hockerts ihn einmal scherzhaft bezeichnet hat, trotzdem gilt es, seine Aussagen kritisch zu analysieren und sie vor allem in den historischen Kontext einzuordnen. Wenn also ein Zeitzeuge oder eine Zeitzeugin in der Schule über seine/ihre Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg berichtet, sei es über die Schrecken des Bombenkriegs, den Verlust von Vater, Mutter oder Geschwistern oder die Flucht und Vertreibung bei Kriegsende, gilt es mit den Schülern kontextuell zu erarbeiten, worin die historisch-politischen Ursachen für jenes Leid liegen, das der Erzähler/die Erzählerin als Kind erlebt hat. Insbesondere sollte der Blick dabei auf die Kriegsziele, Kriegsstrategien und Kriegsverbrechen des nationalsozialistischen Deutschland und deren Opfer gerichtet werden, um eine einseitig-exkulpierende Wahrnehmung »der Deutschen« als »Auch-nur-Opfer« zu vermeiden. Werden diese Prämissen beachtet, eröffnen Zeitzeugen eine große Chance, abstrakte Geschichte anhand eines einzelnen Lebens begreifbar zu machen, sie regen also ganz im Sinne der neuen Lehrpläne dazu an, »sich mit Neugier und innerer Anteilnahme fragend der eigenen Geschichte wie auch der Geschichte anderer Menschen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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und Kulturen zuzuwenden« (Ministerium für Schule und Weiterbildung, 2007, S. 15).

Schlussbemerkungen Letztlich gilt diese Aussage für alle in diesem Beitrag beschriebenen Quellentypen und Herangehensweisen zum Thema »Kindheiten des Zweiten Weltkriegs«. So lässt sich dieses Thema insgesamt im Geschichtsunterricht auch unter den Rahmenbedingungen kompetenzorientierter Lehrpläne vielfältig behandeln. Eine besonders wichtige Rolle kann es zur Förderung von Handlungskompetenz übernehmen, bieten sich angesichts der fortdauernden Realität kriegerischer Konflikte überall auf der Welt Gegenwartsbezüge und die Diskussion des heutigen Umgangs mit Unrecht und Gewalt, Krieg und Vertreibung doch geradezu an.

Literatur Becker, C. (2006). Die Welt durch den Sucher gesehen und weiter gegeben. Der Lippstädter Fotograf Walter Nies. In B. Stambolis, V. Jakob (Hrsg.), Kriegskinder. Zwischen Hitlerjugend und Nachkriegsalltag. Fotografien von Walter Nies (S. 37–40). Münster: Agenda. Holzer, A. (2007). Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Darmstadt: Primus. Jakob, V., Goebel, R. (2002). Menschen vom Lande. Ignaz Böckenhoff. Essen: Klartext. Kenkmann, A. (1992). Fürsorgeberichte. In B.-A. Rusinek, V. Ackermann, J. Engelbrecht (Hrsg.), Einführung in die Interpretation histo­ri­scher Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit (S. 133–152). Paderborn: Schöningh. Köster, M. (1999). Jugend, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft im Wandel. Westfalen zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Paderborn: Schöningh. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (2007). Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I (G8) in Nordrhein-Westfalen. Frechen: Ritterbach. Peukert, D. J. K. (1986). Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Fall der deutschen Jugend­fürsorge von 1878 bis 1932. Köln: Bund. Schillinger, J. (2006). Kronzeugen der Vergangenheit? Historische Spielfilme im Geschichtsunterricht. Praxis Geschichte, 5, 4–9. Schneider, G. (2002). Filme. In G. Schneider, H.-J. Pandel (Hrsg.), Handbuch Medien im Geschichtsunterricht (S. 365–386). Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag.

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Wach, A. (2012). Lore. film-dienst, 22, 48. Weinhold, A. (2012). Den fotografischen Blick durchschauen lernen. Zum Umgang mit historischen Fotos im Geschichtsunterricht. Medienbrief, 2, 40–43. Weinhold, A., Schreiber, W. (2011). Grundlagen eines kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts. Handreichung zum Basismodul für die Lehrerfortbildung in NRW. Unveröffentlichtes Typoskript. Werner, T. (2004). Holocaust-Spielfilme im Geschichtsunterricht. Schindlers Liste, Der Pianist, Drei Tage im April, Das Leben ist schön, Zug des Lebens. Norderstedt: Books on Demand.

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Persönliche Vorbemerkungen Menschen, die zwischen Ende der 1920er und Ende der 1940er Jahre geboren wurden, haben die Schrecken der Kriegs- und Nachkriegszeit aus der Perspektive des Kindes erlebt. Die Erlebnisse dieser Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs, der persönliche wie familiäre Umgang damit sowie die Auswirkungen und Folgen dieser Erfahrungen beschäftigen seit einigen Jahren auch den öffentlichen Diskurs. Literatur und Filme zum Thema Kriegskinder, Fotoausstellungen, Lesungen und Erzählcafés sowie Beratungsangebote und angeleitete Gesprächsgruppen machen auf die gesellschaftspolitische Wichtigkeit des Problems und auf die sozialpolitische Dynamik des Themas aufmerksam. Auch in der Evangelischen Kirche ist diese Entwicklung ein Stück weit spürbar, denn solche Angebote existieren auch in kirchlichen Räumen und finden dort durchaus regen Zuspruch. Seit 2005 arbeite ich bei der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau. Dort bin ich auf der Ebene der Landeskirche als Bildungsreferent in der Erwachsenenbildung für die (Bildungs-) Arbeit mit und für ältere Menschen zuständig. Im Jahre 1955 nahe der deutsch-französischen Grenze als ältestes von sechs Kindern zweier Kriegskinder geboren – Mutter Halbfranzösin, Jahrgang 1932, Vater Deutscher, Jahrgang 1930 –, sind mir familiäre Irritationen und Ambivalenzen der Nachkriegszeit nicht fremd. Und was heute im gesellschaftspolitischen Diskurs zunehmend mehr Bedeutung und Anerkennung findet, nämlich dass Schuld und Leid im Krieg bei vielen Menschen gleichzeitig existierten, trifft auch auf meine Herkunft zu. Der gescheite wie sinnvolle Spruch meiner französischen Oma: »Bei einem erneuten Krieg müssten wir in unserer Familie auf uns selbst schießen«, war mir eine wichtige und prä© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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gende Botschaft, auch für meine Kriegsdienstverweigerung im Jahre 1972. Beruflich begegnete mir das Kriegskinderthema erstmals 2009 als Anfrage eines Dekanats. Aus diesem Kontakt entwickelten sich eine anspruchsvolle Seminaridee und eine bis heute sehr tragfähige Kooperation mit interessierten Kolleginnen und Kollegen aus der evangelischen Erwachsenenbildung vor Ort. Seither versuche ich regelmäßig einen Fachtag zur Kriegskinderthematik anzubieten, jeweils in einer anderen Region der Landeskirche. Damals war ich noch ein Kind – Kriegskinder und ihr langer Lebensweg bis heute, lautet der Titel dieser Veranstaltung. Bevor das Seminarkonzept etwas ausführlicher vorgestellt wird, soll im Folgenden anhand einiger ausgewählter Initiativen die wachsende, wenn auch nach wie vor randständige Bedeutung der Kriegskinderthematik in der Evangelischen Kirche bzw. in der Erwachsenenbildung der Evangelischen Landeskirche in Hessen und Nassau veranschaulicht werden.

Verschiedene Initiativen und Angebotsformate zur Kriegskinderthematik – Erfahrungsberichte Einzelberatungen, Gesprächsgruppen, Vortragsveranstaltungen, Schreibwerkstätten, Erzählcafés, Fotoausstellungen und Fachtagungen mit Workshops – für alle diese Initiativen und Angebotsformate im Rahmen von kirchlichen Beratungsangeboten und Bildungsveranstaltungen für die Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs gibt es mittlerweile wichtige Erfahrungswerte. Einzelberatung und Gesprächsgruppe – Entlastung, Reflexion, Hilfestellung In einigen psychologischen Beratungsstellen verschiedener evangelischer Landeskirchen hat die Kriegskinderthematik und somit die Arbeit mit Menschen, die im Zweiten Weltkrieg als Kinder traumatisiert wurden, in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Diese Entwicklung gilt für den Bereich der Beratung ebenso wie für das Angebot von Gesprächsgruppen. Im Unterschied zur Einzelberatung wird bei einer Gruppenarbeit über einen längeren Zeitraum und unter fachlicher Anleitung mit Gleichgesinnten gearbeitet. Beispielhaft seien hier die Beobachtungen und Empfehlungen des ehe© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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maligen Pfarrers und Leiters einer Psychologischen Beratungsstelle Wolfgang Winter erwähnt. Seiner Meinung nach ist der Bedarf an solchen Angeboten unvermindert groß und seine Erfahrungen als Berater und Leiter solcher Gesprächsgruppen beschreibt er folgendermaßen: »Eine solche Gesprächsgruppe für Kriegskinder hat vor allem drei Funktionen für die teilnehmenden Frauen und Männer: 1.  Entlastung vom Druck der Erinnerungen. 2. Bearbeitung von heute noch wirksamen Problemen und Konflikten in der Lebensbewältigung. 3. Hilfestellung für die Entwicklung neuer Perspektiven für die nächsten Lebensjahre« (Winter, 2012, S. 9). Vorträge »Traumatische Kriegserfahrungen« – Auswirkung, Bearbeitung, Unterstützung Die Familientherapeutin Margarete Hecker hat in unterschiedlichen Zusammenhängen Vorträge zum Thema Traumatische Kriegserfahrungen –Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen gehalten und ihre langjährige therapeutische Arbeit mit betroffenen Menschen, Paaren und Familien eingebracht. In entsprechenden Vortragsankündigungen verschiedener Pro Familia Beratungsstellen heißt es:

»Unausgesprochen blieb vieles: Traumatische Erfahrungen und die damit einhergehenden Gefühle sollten nicht berührt werden. Die Verletzungen, Scham- und Schuldgefühle der Kriegs- und Nachkriegsgeneration in Deutschland belasten zum Teil noch nachfolgende Generationen.« Die Erfahrung zeigt, dass viele Kinder der Kriegskinder die Zusammenhänge ihrer Familiengeschichte nicht wirklich kennen (Hecker, 2011/2013). Die Therapeutin schlussfolgert, dass dies bei den Betroffenen zu Blockaden führen kann, sich im Hier und Jetzt zu verwurzeln. Viele Kinder der Kriegskinder fühlen sich deshalb nicht richtig heimisch, lassen sich nur schwer auf tiefere Beziehungen ein oder bürden sich viel Arbeit auf. Eine weitere Besonderheit sieht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Frau Hecker darin, dass viele Kriegskinder durch ihr Aushalten und Schweigen die eigenen Eltern schützen wollen. So berichten beispielsweise Frauen, deren Mütter im Krieg vergewaltigt wurden, dass ihnen, den Töchtern, der Zugang zu einer unbeschwerten Sexualität erschwert gewesen sei. Mit ihren Vorträgen möchte Frau Hecker über die Kriegskinderthematik informieren und die Menschen hinsichtlich individueller wie familiärer Erfahrungen sensibilisieren. Zudem sollen Wege aufgezeigt werden, wie vergessene Bilder zurückgeholt und Erfahrungen miteinander geteilt werden können, damit es leichter wird, die eigene Geschichte anzunehmen. Beratung, Therapie oder die Methode der Familienrekonstruktion können helfen, Zugänge zu traumatisierenden Erfahrungen zu schaffen. Dadurch können betroffene Menschen in ihrer biographischen Reflexion und in der Bewältigung schwieriger Erlebnisse Unterstützung erfahren. Schreibwerkstätten – Geschichten erzählen, Erinnerungen aufschreiben, Zeitgeschichte vermitteln »Erzähl doch mal  … 60  Jahre danach  – Erinnerungen an das Kriegs­ende«, so lautet der Titel eines Sammelbandes des Evangelischen Dekanats Reinheim, heute Dekanat Vorderer Odenwald (vgl. Jablonski u. Bergmann, 2005). Dieses Buch entstand im Rahmen einer Schreibwerkstatt und wurde im Selbstverlag von Karin Jablonski und Bernhard Bergmann herausgegeben. Verschiedene Menschen aus der Region hatten sich durch Erzählcafés zusammengefunden. Der Gemeindepädagogin Karin Jablonski ist es dabei gelungen, diese Zeitzeugen für eine Schreibwerkstatt zu motivieren. Im Vorwort des Buchs wird eine alte, jüdische Lebensweisheit zitiert:

»Das Vergessenwollen verlängert das Exil, das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung« (S. 9). In diesem Sinne haben über fünfzig Frauen und Männer aus verschiedenen Gemeinden ihre Erinnerungen an das Kriegsende und die ersten Jahre der Nachkriegszeit aufgeschrieben. Dabei werden unter anderem Erfahrungen mit Bombenangriffen und anderen lebensbedrohlichen Situationen wie Wohnungsbränden oder gefährlichen Momenten in Schusslinien beschrieben. An anderer Stelle © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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handelt das Buch von Flucht und Vertreibung, aber auch von der Ankunft an neuen Orten und damit vom Neuanfang vieler Menschen in dieser Gegend. Es werden sehr persönliche Erlebnisse erzählt, wie zum Beispiel die eigene Konfirmation unter den Bedingungen des Kriegsendes. Ebenso Alltagsgeschichten wie beispielsweise über die Faszination, die das erste Kaugummi ausgelöst hat. Auch der Handel mit Zigaretten und anderen Gebrauchsgütern oder die erste Begegnung mit schwarzen amerikanischen Soldaten werden sehr anschaulich vermittelt. Aus dieser Schreibwerkstatt mit ihren vielen unterschiedlichen und bisweilen sehr detaillierten Beschreibungen ist somit ein lebendiges Stück Zeitgeschichte für die Region entstanden. Erzählcafés – über Erlittenes sprechen, Erfahrungen teilen Bombenalarm, Nächte in Kellern, Getrenntsein von den Müttern, der Verlust von Vätern, Hunger und Angst, keine Erklärungen und fehlender Schutz – das sind Erfahrungen vieler Kriegskinder. Diese Menschen stehen heute im letzten Abschnitt ihres Lebens. »Im Alter wacht die Kindheit auf«, sagt der Philosoph Gadamer (1993, S. 22) und deshalb stehen solche Erlebnisse im Mittelpunkt der Erzählcafés im Dekanat Offenbach am Main. Nach dem Motto Ich war damals noch ein Kind arbeitet hier die evangelische Erwachsenenbildung seit Ende des vergangenen Jahrzehnts auf vielfältige Weise zur Kriegskinderthematik. Die Initiatoren der verschiedenen Veranstaltungsformate sind Stephanie Ludwig, Jörg Engelmann und Alexander Kaestner, die gleichfalls die Erfahrung gemacht haben, dass die meisten Kriegskinder über ihre Erlebnisse sprechen wollen. Diese Menschen haben Belastendes erlebt und tragen sehr persönliche Geschichten in sich. Sie möchten darüber reden, wollen ihre Erfahrungen teilen und mitteilen. Andererseits mangelt es in den meisten Familien an einer angemessenen Gesprächskultur für solche Themen. Es gibt folglich keinen Raum für das Erlebte. Wie wichtig jedoch ein solches Gesprächsforum sein kann, zeigen sowohl die positiven Reaktionen betroffener Frauen und Männer auf die Erzählcafés als auch die öffentliche Resonanz auf die anderen Veranstaltungen im Dekanat. Schließlich weisen die Verantwortlichen auf eine zusätzliche Bedeutung dieser Veranstaltungen hin: Die alten Menschen haben den Schrecken des Krieges überlebt und in diesem © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Sinne sind alle Angebote zur Kriegskinderthematik für die betroffenen Menschen auch eine kleine Feier des Überlebens. Fotoausstellung – Ich war damals noch ein Kind Mit einer besonderen Ausstellung rückte die evangelische Kirche in Offenbach am Main die Generation der Kriegskinder im Jahre 2009 in den Mittelpunkt, siebzig Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Man hatte einen Fotowettbewerb ausgeschrieben und interessierte Menschen aus der Stadt aufgefordert, ihre Fotos einzuschicken. Es handelte sich um Fotos, die den Alltag in dieser Stadt während des Krieges dokumentieren und etwas vom eigenen Leben oder dem der Angehörigen als Kind zur Zeit des Zweiten Weltkriegs zeigen. Um möglichst viele Menschen anzusprechen, wurde in Verbindung mit dieser Ausstellung ein Fotowettbewerb ausgeschrieben. Die drei besten Fotos wurden später von einer Jury ausgewählt und entsprechend prämiert. Diese Idee traf auf eine große Resonanz bei der Offenbacher Bevölkerung. Die Fotografien zeigen das damalige Leben der Stadt in ganz unterschiedlichen Facetten. Einige Fotos erzählen alltägliche Geschichten vom Leben zu Hause, andere vermitteln Eindrücke von der Essensausgabe auf dem Marktplatz. Wieder andere Bilder zeigen zerstörte Häuser und verzweifelte Menschen nach Bombenangriffen. Gleichzeitig sind Fotografien von Kindern dabei, die in ihrem Stadtteil unbeschwert zwischen den Trümmern spielen. Auch Bilder von der Front sind zu sehen. Sie lassen ein wenig die Angst und den Schrecken im Leben der Soldaten erahnen. Für die Ausstellung wählten die Veranstalter einen symbolträchtigen und stadtbekannten Ort. Die Fotogalerie wurde in der Turmruine der alten Offenbacher Schlosskirche aufgebaut, die während des Zweiten Weltkriegs zerstört worden war. Fachtag: »Damals war ich noch ein Kind – Kriegskinder und ihr langer Lebensweg bis heute« – Informieren, Differenzieren, Vernetzen Dieser Fachtag wurde seit 2011 zweimal von mir angeboten und es ist beabsichtigt, ihn regelmäßig auch in anderen Regionen der Landeskirche durchzuführen. Mit jeweils rund fünfzig Teilnehmenden fand diese Seminarform bisher großen Anklang und eine gute © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Resonanz in der regionalen Öffentlichkeit. Inhaltlich geht das Seminarkonzept im ersten Teil auf die gesellschaftspolitische Bedeutung der Kriegskinderthematik ein und beschäftigt sich zudem mit den biographischen Auswirkungen von Kriegserlebnissen im Kindesalter. Dabei werden historische wie kulturelle Hintergründe der Thematik beleuchtet und die individuelle wie gesellschaftliche Entwicklung im Nachkriegsdeutschland bis in die heutige Zeit aus der Perspektive der Kriegskinder nachgezeichnet. Das Hauptreferat am Vormittag wird durch ausgewiesene Experten vorgenommen, bislang konnte Professor Hartmut Radebold dafür gewonnen werden. Um auch regional auf die Kriegskinderthematik aufmerksam zu machen, wird der Fachtag jeweils in Kooperation mit der evangelischen Erwachsenenbildung vor Ort durchgeführt. Gemeinsam sollen weitere Vernetzungen zu diesem Thema ermöglicht und entsprechende Angebote für interessierte und betroffene Menschen angeregt werden. Im zweiten Teil des Tages sieht dieses Seminarkonzept eine Differenzierung der Kriegskinderthematik vor, um Anregungen für die praktische Arbeit zu geben. Dazu wurden beim letzten Fachtag im Rheinhessischen Gau-Odernheim im März 2013 am Nachmittag vier Workshops angeboten: Erster Workshop: »Ich war damals noch ein Kind – Kind sein im Zweiten Weltkrieg und danach« Dieser Workshop wurde von der Diplom-Pädagogin Stephanie Ludwig durchgeführt und folgendermaßen angekündigt: »Mit Veranstaltungen zu diesem Thema sollen Menschen ermutigt und dazu befähigt werden, sich selbst auf die Spur zu kommen. Indem sie sich mit Erfahrungen aus der Kindheit auseinandersetzen, können sie Zusammenhänge zwischen der Vergangenheit und heutigem Ergehen entdecken. Nicht nur diejenigen, die die Zeit des Krieges als Kind selbst erlebt haben, haben etwas zu erzählen. Auch die nächste Generation – die Kinder dieser damaligen Kinder – sind durch die Erzählungen und Gefühle ihrer Eltern – ob sie ausgesprochen waren oder nicht – geprägt. Sich selbst auf die Spur kommen – das gelingt, wenn wir die Chance zum Erzählen haben. Wer von sich erzählt, erkennt sich. Dazu bedarf es einer aufmerksamen Umgebung und interessierter Zuhörer und

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Zuhörerinnen. Es kann befreiend sein zu hören, dass andere Ähnliches erlebt haben, die nun mit Verständnis auf das Erzählte reagieren. Es geht dabei nicht um eine Darstellung, ›wie es wirklich war‹. Die Geschichten, die man sich erzählt, sind nicht eine Ansammlung von Fakten, es gehören dazu Erfahrungen und Erinnerungen, Emotionen und Reflexionen. Erst die erzählte Geschichte macht aus dem Lebensverlauf eine Lebensgeschichte. Und die nächste Generation wird weitergeben, was sie selbst erlebt und was sie von den Älteren gehört hat. Sie werden die Zeitzeugen der zweiten Generation sein. Wer sich mit der eigenen Biografie beschäftigt, wird auf die Kräfte und Fähigkeiten stoßen, die es ihm oder ihr ermöglicht haben, heute hier zu stehen, wo sie sind. Nicht nur belastende Erinnerungen kommen zum Vorschein, sondern auch Beispiele des glücklichen Überlebens und gelungene Momente. Der Blick auf das, was war, setzt Kräfte frei für das, was kommen wird oder kommen soll. Diese Form der Lebensbilanz kann eine neue Lebensplanung ermöglichen.«

Zweiter Workshop: »Kriegskinder und Psychotraumatologie« Dieser Workshop wurde vom Diplom-Psychologen Michael Gallisch angeboten, der als Leiter einer Beratungsstelle des Diakonischen Werkes in Hessen und Nassau über viel Erfahrung verfügt in der Beratung und Therapie von betroffenen Menschen, die im Alter ihre traumatischen Erlebnisse als Kriegskinder bearbeiten. Daher wird in diesem Workshop ausführlich das Thema Psychotraumatologie angesprochen, aber auch ein Blick auf die Kriegs- und Nachkriegszeit geworfen, der zeigt, wie die Menschen in diesen Jahren geprägt wurden. Es geht hier insbesondere um die psychischen und physischen Auswirkungen, die traumatische Erfahrungen bei Kriegskindern nachhaltig hinterlassen haben. Dritter Workshop: »Auswirkungen des Nationalsozialismus auf nachfolgende Generationen« Dieser Workshop wurde von der Diplom-Pädagogin Katrin Einert durchgeführt, die sich mit Forschungsergebnissen hinsichtlich der Auswirkung des Nationalsozialismus auf die nachfolgende(n) Generation(en) beschäftigt. Mit einem Vortrag dazu sollen die Teilnehmenden informiert und zu einer Diskussion über die Nachkriegszeit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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angeregt werden. Außerdem wird ein Projekt vorgestellt, das auf den Zusammenhang von Kriegserlebnissen und Sozialisation bzw. Erziehung im Nationalsozialismus eingeht. Vierter Workshop: »Gespräch zwischen den Generationen« Dieser Workshop wurde von Patricia Goetz, Leiterin des Seniorenbüros Winkelsmühle, und dem evangelischen Theologen Alexander Kaestner gemeinsam konzipiert. Hier geht es darum, das Gespräch zwischen den Generationen zu verschiedenen Aspekten der Kriegskinderproblematik in Gang zu bringen und weiterzuführen. In solchen intergenerationellen Dialogen sollen Hindernisse in der Verständigung zwischen jung und alt aufgezeigt und nach Lösungswegen gesucht werden. Zusammen mit den Teilnehmenden wird danach geschaut, was die Kommunikation in solchen Fällen erleichtert und welche Faktoren das Gespräch miteinander eher behindern. In diesem Workshop waren vier betroffene Menschen – zwei Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs mit jeweils einem erwachsenen Enkelkind – zur Mitarbeit bereit. Der erste Teil war einem moderierten Gespräch unter ihnen vorbehalten, während in der zweiten Hälfte des Workshops sich dann alle Teilnehmenden mit ihren Fragen einbringen und am Gespräch beteiligen konnten.

Ausblick Wir leben inzwischen in einer Gesellschaft des langen Lebens. Das Alter emanzipiert sich. Es ist jünger und aktiver geworden und die Lebenserwartung steigt weiterhin an. Von daher gehe ich davon aus, dass die gesellschaftspolitische und fachpolitische Akzeptanz sowie die generationsübergreifende Relevanz der Kriegskinderthematik (Kinder der Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs) zunehmen werden. Hinzu kommt: Die Achtundsechziger sind jetzt um die 68 Jahre alt bzw. im Alter angekommen. Und diese Wertewandelgeneration bringt Erfahrungen und Erwartungen an ihr eigenes Älterwerden mit ein, die für eine politische, persönliche und intergenerationelle Bearbeitung der Kriegskinderproblematik durchaus förderlich sein können. Die evangelische Erwachsenenbildung ist deshalb aufgefordert, sich dieses Themenfelds anzunehmen. Zumal gerade die jun© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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gen Alten bzw. das dritte Lebensalter – also die Menschen zwischen sechzig und etwa achtzig bis 85 Jahren – die derzeit am stärksten wachsende Gruppe innerhalb der Evangelischen Kirche darstellen. Diese Menschen wollen nicht mehr primär über ihr kalendarisches Alter angesprochen werden wie bei der traditionellen Altenarbeit, sondern entlang ihrer Lebensthemen. Und ein Kriegskind oder ein Nachkriegskind oder ein Kind von Kriegskindern zu sein kann eines dieser Lebensthemen sein.

Literatur Gadamer, H.-G. (1993). Im Alter wacht die Kindheit auf. Ein Gespräch mit dem 93 Jahre alten Philosophen Hans-Georg Gadamer über den Humor der alten Tage, den Tod und den Schatz der Erinnerungen. Die ZEIT vom 26. 03. 1993, 22. Hecker, M. (2011/2013). Traumatische Kriegserfahrungen – Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen. Vortragsankündigungen der Pro Familia Beratungsstellen Darmstadt (14. 09. 2011) und Bensheim (08. 10. 2013). Jablonski, K., Bergmann, B. (Hrsg.) (2005). Erzähl doch mal … 60 Jahre danach – Erinnerungen an das Kriegsende. Reinheim: Selbstverlag des Evangelischen Dekanats Reinheim. Winter, W. (2012). Kriegskinder in der Psychologischen Beratung. EAfA/Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Altenarbeit in der EKD: Informationsrundbrief, 57 (4), 9.

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Nie wieder Krieg Zum friedenspolitischen Engagement ehemaliger Kriegskinder

Vorbemerkungen und Fragestellungen »Kinder des Weltkriegs« – unter diesem Namen entsteht derzeit ein Zeitzeugen-Archiv, dessen Aufbau sich der Verein »Kriegskinder für den Frieden« vorgenommen hat. Ziel dieses Vorhabens ist es, eine repräsentative Sammlung von biographischen Interviews zu erstellen, die als Quellen für die wissenschaftliche Forschung zur Verfügung stehen. Rund 800 Interviews sind geplant, eine notwendige Größenordnung, wenn man die Kriegserfahrungen der Jahrgänge von 1930 bis 1949 systematisch und repräsentativ abbilden will. Im Rahmen dieses ambitionierten Großprojekts haben Alexander von Plato und ich im Sommer 2011 insgesamt 14 Interviews geführt, sieben davon habe ich selbst geführt bzw. war daran beteiligt. Aufgrund dieser kleinen Stichprobe lassen sich zwar keine verallgemeinernden Aussagen machen, aber auch wenige Interviews sind geeignet, mögliche Besonderheiten herauszustellen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu benennen und damit den Blick für weiterführende Fragestellungen und Analysen zu schärfen. Allerdings muss eine weitere Einschränkung hinsichtlich dieser Stichprobe erwähnt werden: Alle Interviewpartner wurden angesprochen über den Verein »Kriegskinder für den Frieden« bzw. es sind fast alle Mitglieder des Vereins. Somit handelt es sich um ein Sample, das – retrospektiv wie auch prospektiv – in gewisser Weise festgelegt ist, denn Kriegskinder, die sich für den Frieden engagieren, sind eine spezielle Gruppe von Kriegskindern, genauso wie Friedensaktivisten, die Kriegskinder waren, eine spezielle Gruppe innerhalb der Friedensbewegung sind. »Kriegskinder für den Frieden« stehen somit weder für Kriegskinder insgesamt – oder für eine zufällige Auswahl aus dieser Gesamtheit – noch für die Friedensbewegung, sondern © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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sie sind eine sehr spezielle Gruppe. Geht es allerdings genau um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kriegskinderfahrung einerseits und friedenspolitischem Engagement andererseits, dann erweist sich die Beschäftigung mit dieser Gruppe als ausgesprochen interessant. Man ist zunächst geneigt, dieses Verhältnis als einen selbstverständlichen Zusammenhang zu betrachten. Denn: Was liegt näher, als dass sich Kriegskinder für den Frieden engagieren? Aber ist das tatsächlich so naheliegend, beinahe zwangsläufig? Ist die eigene Kriegserfahrung die zentrale Begründung für das Engagement für den Frieden? Wie wird die eigene Kriegserfahrung überhaupt im Rückblick wahrgenommen und bewertet?

Sieben Kriegskindheiten – biographische Zugänge Im Folgenden möchte ich sieben Kriegskinder vorstellen, die 2011 im Rahmen des bereits erwähnten kleinen Befragungsprojektes interviewt wurden. Es handelt sich um drei Männer und vier Frauen, darunter zwei Ehepaare, von denen eines gemeinsam, das andere an zwei getrennten Terminen interviewt wurde. Geboren sind die Interviewten zwischen 1934 und 1943; der Älteste war somit bei Kriegsende elf Jahre alt, die Jüngste gerade einmal zwei Jahre. In einem ersten Schritt werden die Schilderungen der konkreten Erlebnisse und Erfahrungen der Befragten wiedergeben. Allen Interviewten war bekannt, dass sie mit ihrem Interview am bereits erwähnten Großprojekt »Kriegskinder-Archiv« teilnahmen. Schon vorab hatten sie ihr Einverständnis erklärt, dass das Interview in dieses Archiv eingehen und damit für Forschungszwecke zur Verfügung stehen würde. Damit war das Thema »Kriegskindheit« als Schwerpunkt für das Interview gesetzt. Gleichwohl war den Interviewpartnern im Anschreiben und nochmals zu Beginn des Interviews erklärt worden, dass sich das Interview auf die gesamte Lebensgeschichte, also nicht nur auf die Erfahrungen in der Kriegsund unmittelbaren Nachkriegszeit erstrecken sollte. Diese lebensgeschichtliche Dimension ist besonders wichtig, weil sich die Frage der langfristigen Folgen nur im biographischen Längsschnitt bis heute und unter Berücksichtigung möglichst aller Lebensbereiche einschätzen lässt. In allen Interviews lautete die Eingangsfrage des© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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halb immer: »Erzählen Sie uns bitte Ihre Lebensgeschichte.« Dieser Aufforderung folgten die hier befragten Kriegskinder bereitwillig. Erlebnisse, die mit dem »heimlichen« Hauptthema, dem der Kriegskindheit, zu tun hatten, wurden in der biographischen Erzählung allerdings besonders hervorgehoben und zumeist auch besonders ausgebreitet. Herr R., geboren 1934 Der älteste Interviewpartner dieses kleinen Samples, Herr R., wurde 1934 in einer Kleinstadt im Bergischen Land geboren. Da sein Vater in einem Rüstungsbetrieb arbeitete, wurde er nicht eingezogen, so dass die Familie beisammen blieb. Erfahrbar wurde der Krieg in Form von Bomben- und Tieffliegerangriffen. Bei den schweren Luftangriffen auf Wuppertal im Frühjahr 1943 kamen eine Tante und deren Sohn ums Leben, eine andere Tante wurde ausgebombt. In der Endphase des Krieges, erzählt Herr R., geriet er selbst zweimal unter Tieffliegerbeschuss, einmal während der Feldarbeit, einmal während des Schulbesuchs. Und auch das Elternhaus wurde durch Tiefflieger beschädigt. Besonders eindrücklich erinnert er sich an verbrannte Leichen, Soldaten, die sich aus einem angeschossenen Panzer nicht hatten befreien können. Während die Schilderung des Krieges durch Gewalt bestimmt ist, die teils mittelbar, teils unmittelbar erfahren wurde, dominiert in der Erinnerung an die Nachkriegszeit das geschäftige Improvisieren und Organisieren mit Hamsterfahrten, Schwarzschlachten und Kompensationsgeschäften aller Art. Befragt nach der prägenden Bedeutung seiner Kriegs- und Nachkriegserfahrungen nennt Herr R. allerdings etwas ganz anderes: verhinderte Berufswünsche. Zwar konnte er nach dem Krieg die unterbrochene Schulausbildung fortsetzten und mit dem Zeugnis der Mittleren Reife abschließen. Er konnte aber nicht seinen Berufswunsch verwirklichen und Förster werden, weil der Zugang zu dieser Laufbahn durch die Eingliederung von Förstern aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten besonderen Beschränkungen unterlag. Insofern ist der Ausschluss dieser Perspektive tatsächlich als Kriegsfolge zu bewerten.

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Herr H., geboren 1936 Herr H. wurde 1936 in Hinterpommern geboren und hat Kriegsende und Nachkriegszeit als zweifache Flucht erfahren. Der Vater, ein Beamter, war als Kriegsversehrter aus dem Ersten Weltkrieg nicht »kriegsverwendungsfähig« und blieb bei der Familie. Erfahrbar, im doppelten Wortsinn, wurde der Krieg erst im Januar 1945, als die Familie vor der Roten Armee fliehen musste. Bei eisiger Kälte und Tieffliegerbeschuss ging es im Treck nach Mecklenburg, insgesamt eine psychisch und physisch höchst belastende Ausnahmesituation, die manche konkrete Erinnerung hinterlassen hat. In Mecklenburg konnte die Familie zunächst recht gut Fuß fassen. Der Vater, der der SPD nahegestanden habe, wurde von den sowjetischen Besatzungstruppen als Bürgermeister, bald sogar als Bezirksbürgermeister eingesetzt, während Herr H. und sein jüngerer Bruder die Schule besuchten. Eine dramatische Wendung zum Schlechten nahmen die Ereignisse mit der Verhaftung des Vaters 1948 oder 1949, deren Hintergründe sich nicht mehr eindeutig klären lassen. Umso eindrücklicher waren die Folgen. Herr H. fand sich als Zwölfjähriger in der Rolle des Ernährers wieder, was er auch rückwirkend als schwere Belastung beschreibt. Konkret bedeutete dies, dass er nach der Schule bei den umliegenden Bauern arbeitete, womit er wesentlich zur Versorgung der dreiköpfigen Familie beitrug. Der Vater kam nach einigen Monaten wieder frei, war aber bald von neuerlicher Verhaftung bedroht, der er sich durch Flucht in den Westen entziehen konnte. Der Rest der Familie folgte wenig später mit illegaler Fluchthilfe. Im Westen fand der Vater jedoch keine Anstellung mehr, und auch um seine Anerkennung als Frührentner musste er lange kämpfen. Möglicherweise, so der Sohn, sei in der Haft in der SBZ etwas geschehen, worüber der Vater nicht sprach. Er sei jedenfalls seither ein gebrochener Mann gewesen. Die wirtschaftliche Lage der Familie war äußerst schwierig. »Wir waren richtig arm«, fasst Herr H. die Folgen der zweifachen Flucht zusammen. Vor allem die Schuldbildung blieb auf der Strecke. Obwohl die beiden Brüder sehr gute Schüler waren, mussten sie auf den Besuch des Gymnasiums verzichten. Zwar gelang Herrn H. eine bemerkenswerte Berufskarriere, die über eine Verwaltungslehre in den Kultur- und Bildungsbereich führte, wo er immer wieder neue, spannende Herausforderungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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meisterte. Gleichwohl benennt Herr H. die verpasste akademische Ausbildung neben dem Verlust der Heimat als wesentliche persönliche Folge des Krieges. Wenn jemand vom »Studium« spricht oder wie beiläufig im Vorbeigehen sagen kann »Hier ist meine Schule«, dann empfinde er so etwas wie Neid, gesteht er. Frau H., geboren 1938 Bei Frau H., geboren 1938 in Ostwestfalen, sind die Kriegserinnerungen wiederum mit Bombenangriffen und Sirenengeheul assoziiert. Weil ein wichtiger Güterbahnhof im Ort lag, war er mehrfach Ziel feindlicher Bomberverbände. Und einmal, es war bereits März 1945, wurden Frau H. und ihre ein Jahr jüngere Schwester beinahe selbst Opfer einer Bombe, die im Nachbarhaus detonierte und die dortigen Bewohner tötete. Ob und wie Frau H. diese Gefahr damals empfunden hat, bleibt unklar. Dominant ist in der Erzählung die Sorge der Eltern, die ihre Töchter daraufhin für die letzten Wochen des Krieges zu Verwandten aufs Land schickten. Jedenfalls resümiert Frau H., die sich zu Beginn des Interviews recht deutlich als »Kriegskind« positioniert hatte, sie sei im Wesentlichen von den Schrecken des Krieges verschont geblieben. Das mag auch daran liegen, dass in der biographischen Gesamterzählung ein anderer Strang größere Bedeutung entfaltet: der tyrannische Vater, der wegen einer Behinderung nicht eingezogen wurde und dafür zu Hause den »kleinen Hausdiktator« gab, dem die psychisch labile Mutter nichts entgegensetzen konnte. Ihm lastet Frau H. ihre unerfüllten Bildungswünsche an. Auf Druck des Vaters musste sie mit 16 Jahren noch vor Erlangen der Mittleren Reife die Realschule verlassen, um Geld zu verdienen. Eine Ausbildung konnte sie gerade noch durchsetzen, aber ein Medizinstudium, wie sie es sich gewünscht hätte, fand keinerlei Unterstützung. Zwar suchte sie sich später eigene Wege, die verpassten Bildungswünsche in Teilen nachzuholen, die Verletzung durch den Vater wiegt aber schwer und überlagert in der biographischen Selbstdeutung das Motiv der Kriegskindheit. Frau P., geboren 1940 Frau P. stammt aus einem akademischen Elternhaus, in dem Bildung, einschließlich Studium, auch für die Töchter, eine sehr wichtige Rolle © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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spielte. Bei Frau P., geboren 1940 im Spreewald, bildet die Flucht bzw. deren Folgen das Motiv ihrer Kriegserzählung. Die Flucht im Februar 1945 mit dem Personenzug in den Harz verlief vergleichsweise unspektakulär, als tiefgreifende Veränderung erlebte das Kind aber die Folgen: das Herausgerissenwerden aus dem gewohnten Umfeld, das Abgeschnittensein von Orten außerhalb der Familie, die ihr Sicherheit und Geborgenheit vermittelt hatten. Was ihr nach der Flucht blieb, war die überforderte Kleinfamilie, geprägt von der zunehmend gestressten Mutter, die ihren fünf Kindern kaum Fürsorge zuteilwerden lassen konnte, was Frau P. im Rückblick für sich als »Zeit der Unbehaustheit« beschreibt. Die Flucht bewertet sie deshalb als entscheidendes Ereignis, das ihre Persönlichkeit geprägt hat. Gelernt habe sie dabei, immer allein fertig werden zu müssen – aus Mangel an verlässlichen Alternativen; Vertrauen in andere falle ihr schwer. Ihr Leben bilanzierend, stellt sie fest, sie habe ein gutes Leben, aber eine Grundstruktur von Angst. Frau R., geboren 1941 Auch bei Frau R., geboren 1941 im Ruhrgebiet, ist es die familiäre Situation, mit deren Veränderung der Krieg in ihr Leben einbricht, und das zunächst sogar positiv. Denn als die Stadtwohnung nach einem Bombenangriff zerstört war, zogen Mutter und Tochter, der Vater war eingezogen, zu Onkel und Tante in eine kleine Bauernschaft im Sauerland. Das Leben dort erinnert Frau R. als die reine Idylle. Und auch der Vater wurde von ihr nicht vermisst; im Gegenteil, ohne Probleme hatte sie den kinderlosen Onkel zum Ersatzvater erkoren. Schwierig wurde es deshalb erst 1947, als der Vater aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte und – aus der Sicht des Kindes – den familiären Frieden störte. Noch mehr verübelte sie dem Vater, dass er das Landleben für beendet erklärte und mit Frau und Tochter in eine Mietwohnung ins Ruhrgebiet zurückkehrte. Dort musste Frau R. nun zur Schule gehen und nicht, wie lange erhofft, in die idyllische Dorfschule bei Onkel und Tante. Ein herzliches Verhältnis habe sie zu ihrem Vater auch über die Jahre nicht aufbauen können. Wie schon in anderen geschilderten Fällen sieht sich auch Frau P. langfristig aber vor allem durch die Verhinderung ihrer Bildungswünsche geprägt. Die Eltern versagten ihr die höhere Schul© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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bildung – vermutlich weil diese einfach nicht zu ihrem Frauenbild passte. Zielstrebig und sehr erfolgreich investierte Frau R. später in das Nachholen der verpassten Bildung: Trotz zweier Kinder, dafür mit Unterstützung der zum Haushalt gehörigen Schwiegereltern, holte sie zum Teil in Abendschulform Mittlere Reife und Abitur nach, absolvierte dann ein Lehramtsstudium und trat mit 34 Jahren die erste Stelle als Lehrerin an; später wurde sie Konrektorin und Rektorin und war in der Lehrerausbildung tätig. In ihrer Wahrnehmung bot die Notwendigkeit zum Wiederaufbau nach dem Krieg langfristige Entwicklungschancen, die sie hat nutzen können. Demgegenüber kritisiert allerdings ihre Tochter heute, die Mutter habe sich, ebenso wie der Vater, zu sehr auf Aufbau und berufliches Fortkommen orientiert. Herr M., geboren 1941 Herrn M., geboren 1941 im Schwarzwald, könnte man als Täterkind bezeichnen. Der Vater war seit 1935 als Lehrer an Napola-Schulen tätig; nach dem Krieg war er deshalb drei Jahre interniert; erst 1951 wurde er wieder als Lehrer eingestellt. Beide Eltern stammten aber aus wohlhabenden Verhältnissen, so dass dieser berufliche Bruch zumindest keine finanziellen Probleme nach sich zog. Das schwierige, ambivalente Verhältnis zum Vater wie auch zur Mutter ist das zentrale Thema des Interviews. Vor allem dem Vater gegenüber habe er gelernt, dass er sich keine Schwäche erlauben durfte, sondern immer funktionieren musste. Das »Funktionierenmüssen« sieht Herr M. generell als Kennzeichen der Kriegskinder. Zumindest bei ihm waren die psychischen Kosten hoch: Schon als Kind und Jugendlicher habe er unter Depressionen gelitten. Die Angst sei bis heute sein Lebensthema. Gleichwohl war er beruflich im medizinischen Bereich sehr erfolgreich. Er hat eine Frau und zwei Kinder. Frau M., geboren 1943 Frau M., 1943 in Süddeutschland geboren, ist die Jüngste in dieser kleinen Stichprobe. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt, weil er bei Stalingrad gefallen ist. Ihre ganze Kindheit sei vom Tod des Vaters überschattet gewesen. Diesen Mann, den sie nie gesehen hatte, erlebte sie gleichwohl als © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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höchst präsent. Sowohl die Mutter als auch die Großeltern hätten in ihr immer den verstorbenen Ehemann bzw. Sohn gesehen. Vor allem in puncto Klugheit habe sie nach dem Vater geraten müssen. Frau M. bezeichnet sich deshalb einmal als »Phantomkind«, ein anderes Mal als »Stellvertreterkind«. Aufgewachsen ist sie im Haus der Großeltern väterlicherseits, wo neben ihr und ihrer Mutter noch eine Tante mit ihren drei Kindern lebte. Dieses großfamiliäre Zusammenleben empfand Frau M. als sehr problematisch. Vor allem die Beziehung der drei Frauen untereinander sei sehr schwierig gewesen. Die wichtigste Bezugsperson für sie war die Großmutter, während die eigene Mutter ihr kaum Wärme vermittelt habe. Wie die anderen Kinder im Haus habe sie die Mutter als Tante angesprochen. In diesem schwierigen Umfeld habe sie gelernt, sich selbst weitgehend zurückzunehmen. Die Zufriedenheit der anderen, vor allem der Großmutter, sei ihr am wichtigsten gewesen. Die Maximen ihrer Kindheit waren deshalb Funktionieren und Gehorchen. Etwa zeitgleich mit der Einschulung heiratet die Mutter erneut, was Frau M. als Schock erlebte, auf den sie niemand vorbereitet hatte. Der Stiefvater habe ihr aber viel Geduld entgegengebracht, und über die Jahre entstand offenbar ein recht gutes Verhältnis. Frau M. machte Abitur, studierte zunächst einige Semester Medizin und machte später eine Ausbildung im Bereich Psychotherapie. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Als Kriegskind sieht sie sich eigentlich nicht.

Kriegskinder, die keine sein wollen – Bewertung der geschilderten Erfahrungen für das eigene Leben Es ist auffällig, dass die Interviewten sich mit der Selbstdeutung als »Kriegskind« schwertun. Keiner der Interviewten präsentierte sich umstandslos als Kriegskind. Das ist umso erstaunlicher, weil die Interviewten davon ausgehen konnten, dass sie an einer Befragung teilnahmen, die sich an »Kriegskinder« richtete. Alle hatten zugestimmt, ihr Interview für das im Aufbau befindliche Zeitzeugen-Archiv »Kinder des Weltkriegs« zur Verfügung zu stellen. Und auch ihre Mitgliedschaft im Verein »Kriegskinder für den Frieden« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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begründete die Vermutung, dass sich die Befragten als Kriegskinder sehen. In den Interviews wurde aber deutlich, dass diese Zuschreibung zwar formal, dem Jahrgang nach, akzeptiert wird, die inhaltliche Bedeutung dieser Zuschreibung aber Gegenstand höchst differenzierter Überlegungen und Abwägungen ist. In allen Interviews war die Frage »Was an meinem Leben ist durch Krieg und Nachkriegszeit bestimmt?« der rote Faden, zu dem das Gespräch immer wieder zurückkehrte. Somit erweist sich das, was als Gesprächsvoraussetzung vermutet wurde, faktisch eher als Gegenstand eines Aushandlungsprozesses, der im Interview geführt wird. Alle bekundeten ein großes Interesse daran, diese Gemengelage zumindest etwas zu entwirren. Hier »etwas klarer zu sehen«, wie Frau P. es nennt, bildete bei manchen geradezu die Motivation zum Interview. »Welches in meiner Geschichte hat wirklich mit Flucht und Nazisachen und Krieg oder so etwas zu tun, und was ist einfach persönliche Geschichte, durch die Familie, wie sie nun einmal war, und wie ich dann geworden bin?« Objektiv von außen betrachtet, bringen alle Befragten Erfahrungen mit, die sie als Kriegskinder ausweisen. Warum fällt es ihnen aber so schwer, diese Definition auf sich zu beziehen, selbst dann, wenn sie durch ihr friedenspolitisches Engagement gewissermaßen über jeden Zweifel an ihrer political correctness erhaben sind? Die Interviews lassen vermuten, dass diese Haltung zum einen mit dem Opfer-Thema zusammenhängt, das im Begriff »Kriegskind« mitschwingt. Etwas überspitzt formuliert, würde das bedeuten: Kriegskinder hatten es schwer und ihr ganzes Leben ist davon gezeichnet. Es ist nachvollziehbar, dass sich die Befragten mit einem solchen Bild nicht identifizieren können. Sie alle sind zu Recht der Meinung, aus ihrem Leben etwas gemacht zu haben, was in der lebensgeschichtlichen Dimension der Interviews deutlich wird. Bei vielen spielte das Thema unerfüllter Bildungswünsche eine große Rolle. Welche Anstrengungen hier unternommen wurden, diese Wünsche dennoch umzusetzen, wie viel Energie in Weiterbildungsmaßnahmen, Lehrgänge und Qualifizierungsmöglichkeiten aller Art investiert wurde, ist beeindruckend. Der Erfolg auch dieser Investitionen kann sich sehen lassen. Die Interviewten sind zu Recht stolz auf das unter schwierigen Umständen Erreichte. Eine Leidens- oder Opfergeschichte können sie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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nicht präsentieren und wollen sie für sich nicht akzeptieren. Allerdings geben die Interviewten auch Hinweise auf die subjektiven Kosten ihrer Erfolgsbiographien. Vom »Funktionierenmüssen« ist mehrfach die Rede oder von der kritischen Wahrnehmung durch die eigenen Kinder, die den Eltern ein Zuviel an Aufstiegsorientierung bescheinigen. Es gibt einen zweiten Aspekt, der die Schwierigkeiten der Zeitzeugen mit einer möglichen Selbstdefinition als Kriegskind erhellt. Meines Erachtens ist es die Eindeutigkeit der Erklärung, die der Begriff »Kriegskind« suggeriert, die von den Interviewten als unangemessen empfunden wird. Und wieder möchte ich sagen: zu Recht. In den Schilderungen der Kriegs- und Nachkriegszeit nimmt die Familie breiten Raum ein, und zwar sehr häufig im Sinne einer Problemanzeige. Die Familie, sei es die kriegsbedingt geschrumpfte Kleinfamilie, sei es die zur Notgemeinschaft erweiterte Großfamilie, wird oftmals nicht als Hort des Schutzes und der Geborgenheit erfahren. Wir hören nicht nur von abwesenden, sondern auch von höchst anwesenden, dabei aber tyrannischen oder auch gebrochenen Vätern, von überforderten, mit sich selbst oder anderen, noch stärker Not leidenden beschäftigten Müttern und von Kindern, die sich dabei fühlen wie »unter die Räder gekommen«. Die Familie, das wird sehr deutlich, stand vielfach unter Druck, die Beziehungen waren gestört oder belastet, und die Kinder waren gut beraten, sich anzupassen, sich möglichst unsichtbar zu machen und zu funktionieren. Gerade in diesem komplexen Feld des familiären Beziehungsgeflechtes ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, Ursachen und Wirkungen eindeutig zu benennen. In Bezug auf die Wechselwirkung von Krieg und familiärer Situation kann man aber einen mittelbaren Zusammenhang mit negativer Dynamik konstatieren – genau so beschreiben und analysieren das auch die Zeitzeugen. Die möglicherweise ohnehin schwierigen Beziehungen wurden unter dem Druck, dem die Familien in unterschiedlicher Weise kriegsbedingt ausgesetzt waren, noch schwieriger. Entscheidend ist aber, dass neben der Einflussgröße »Krieg« auch die familiären sowie die individuellen Komponenten, repräsentiert durch die spezifischen Akteure und ihre Beziehungen untereinander, erhebliche Bedeutung für die eigene Lebensgeschichte haben. Das Etikett »Kriegskind« wird dieser Komplexität nur unzureichend gerecht. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

Nie wieder Krieg113

Beide Aspekte, der Stolz auf das in schwierigen Zeiten Erreichte sowie der differenzierte Blick auf den Einfluss von Kriegsumständen einerseits und die Wahrnehmung von familiären, individuellen Faktoren andererseits kommen in der hypothetischen Frage »Was wäre gewesen, wenn?« zum Ausdruck. Hier die Version von Herrn H.: »Ich weiß auch nicht, wie es gewesen wäre, wenn ich nicht die Flucht hinter mir gehabt hätte, die Vertreibung […]. Ich wäre schon ganz gerne nahtlos ins Gymnasium gegangen, Abitur gemacht, studiert. Nur ob ich dann heute so wäre, wie ich bin, weiß ich nicht.«

Wie kommen Kriegskinder zur Friedensbewegung? So bleibt die Frage nach dem »Warum« des friedenspolitischen Engagements, denn die scheinbar naheliegende Antwort – Kriegskinder engagieren sich aufgrund ihrer Kriegskinderfahrungen für den Frieden – geht nicht auf, weil sich die Befragten gar nicht eindeutig als Kriegskinder sehen. Man muss einen Umweg nehmen, um eine Antwort zu finden. Tatsächlich scheint es weniger die gemeinsame Erfahrung ihrer Kriegskindheit zu sein, die die hier befragten »Kriegskinder für den Frieden« verbindet. Auffällig ist vielmehr eine politisch links orientierte, progressive Haltung, die sich mehr oder weniger ausgeprägt bei allen Befragten nachweisen lässt. Wirken viele der Erzählungen und Erfahrungen aus Interviews mit der Kriegskindergeneration aus anderen Kontexten sehr vertraut, fiel bei den hier Befragten eher Untypisches auf: die Häufigkeit von linken Positionen, die Beteiligung am politischen Protest und die Unterstützung gesellschaftlicher Veränderungen. Es würde zu weit gehen, die hier Befragten als »Alt-68er« zu bezeichnen, in die Nähe der »68er-Protestbewegung« gehören sie aber allemal. Mit ihren Lebenswegen repräsentieren sie keinesfalls den politischen und gesellschaftlichen »Mainstream« ihrer Generation. Einer der drei Akademiker, Herr M., war in der Studentenbewegung aktiv. Frau P. erinnert sich, dass sie von ihrem Vater als »Apo-Girl« bezeichnet wurde, auch wenn das »deutlich übertrieben« gewesen sei. Auffällig ist aber, dass Kindererziehung und Wohnformen, zentrale Themen der Studentenbewegung, kritisch hinterfragt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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und teils unkonventionell gelebt wurden: Einige der Interviewten wohnten in Wohngemeinschaften, experimentierten mit Modellen »erweiterter Elternschaft«, erzogen ihre Kinder antiautoritär und gründeten als Elterninitiativen Kindergärten. Mehrere der Interviewten beteiligten sich in den 1970er und 1980er Jahren aktiv in der Frauen-, der Anti-Atomkraft- und der Friedensbewegung, einige waren auch bei den Grünen. Frau M. wurde wegen ihrer Beteiligung an einer Sitzblockade gar zu einer Geldstrafe von mehreren Tagessätzen verurteilt. Viele übernahmen Ehrenämter, sei es im Bereich Natur- und Umweltschutz, sei es im sozialen oder medizinischen Bereich. Dass alle die Grünen gewählt haben, sobald die Partei existierte, wundert nach diesem schlaglichtartigen Überblick nicht. Und auch die Aktivität im Verein »Kriegskinder für den Frieden« fügt sich gut in dieses Bild. Der genaue Blick auf das friedenspolitische Engagement der befragten »Kriegskinder« zeigt: Was scheinbar so selbstverständlich daherkommt, ist tatsächlich komplex und widersprüchlich. Die anfänglich geäußerte Vermutung muss geradezu umgekehrt werden: Die Befragten erscheinen am Ende weniger als Kriegskinder, die sich quasi naturwüchsig für den Frieden engagieren, sondern sie sind eher Friedensaktivisten, die zwar Kriegskinder waren, sich bei näherer Betrachtung mit dieser Zuordnung aber außerordentlich schwertun. Das Engagement in der Friedensbewegung passt zu ihren politischen Haltungen und ist Ausdruck ihrer sozialen Verantwortung. Diese mögen durchaus aus den Erfahrungen ihrer Kriegskindheit resultieren, verallgemeinerbar für die Generation der Kriegskinder sind sie deswegen nicht. Vielmehr verweisen die Interviews auf die vielfältigen, weniger normativ gesteuerten als individuell geprägten Erfahrungen und Möglichkeiten des Umgangs mit der eigenen Kriegskindheit.

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Die Kinder des Zweiten Weltkriegs im öffentlichen Diskurs Ein Programmschwerpunkt der Katholisch-Sozialen Akademie Franz Hitze Haus, Münster

Vorbemerkung Die Akademie Franz Hitze Haus widmet sich seit 2007 in einem Programmschwerpunkt den Erfahrungen und Lebensläufen jener Kinder, die Vaterlosigkeit, Flucht und Vertreibung, Bombennächte, Evakuierungen und andere Belastungen im Zweiten Weltkrieg erlebten. Somit hat die Akademie sich, wie die Paderborner Historikerin Barbara Stambolis betont, »zu einem zentralen Ort für erfahrungs- und mentalitätsgeschichtlich ausgerichtete Veranstaltungen zu Kriegskindheiten im 20. Jahrhundert entwickelt« (Stambolis, 2013, S. 6). Dass der zweite internationale Kongress »Kindheiten im Zweiten Weltkrieg in Europa« in der Akademie Franz Hitze Haus seinen Ort gefunden hat, kann als ein herausragendes Ereignis in der Geschichte des Hauses bezeichnet werden. Die Akademie ist zu einem wichtigen Anziehungspunkt für Menschen geworden, die sich privat oder professionell mit Kriegskindheiten auseinandersetzen. Dabei steht nicht nur die Frage im Mittelpunkt, wie sich traumatische Erfahrungen in den Lebensverläufen der Kriegskinder auswirken, sondern auch, welche Spuren sie in den darauffolgenden Generationen, also bei den Kindern und Enkeln der ehemaligen Kriegskinder hinterlassen. Wie die skizzierte Auseinandersetzung in der Akademie Franz Hitze Haus zum Thema eines interdisziplinären öffentlichen Diskurses geworden ist, soll im Folgenden nachgezeichnet werden.

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Akademien als Orte kritischer Zusammenschau – Die Anfänge des Programmschwerpunkts Akademien sind Orte einer kritischen Zusammenschau zeitgeschichtlicher und wissenschaftlicher Entwicklungen. An dieser Schnittstelle erwachte 2007 das Interesse, sich dem Kaleidoskop der Themen und Aspekte zu widmen, mit deren Aktualisierung die Generation der Kriegskinder im Prozess des Älterwerdens konfrontiert ist. Der erste 2005 in Frankfurt stattgefundene internationale Kongress »Die Generation der Kriegskinder und ihre Botschaft nach Kriegsende« ließ ein enormes Bedürfnis deutlich werden: Kriegskinder wollten ihren eigenen Erfahrungen und deren Auswirkungen auf ihr späteres Lebens Aufmerksamkeit schenken. Die Zäsur des 60. Jahrestages des Kriegsendes veränderte auch die Erinnerungskultur: Viel stärker anerkannt wurde nun, dass auch Deutsche im Zweiten Weltkrieg und danach Opfer kriegsbedingter Belastungen geworden waren (Kossert, 2008, S. 15). Dieser Wendepunkt im öffentlichen Diskurs lenkte das Augenmerk auch auf die Erfahrungsgeschichten der Kriegskinder hin. In der Akademie Franz Hitze Haus waren diese Prozesse impulsgebend für eine Programmentwicklung, deren starke Dynamik zu Beginn nicht absehbar war: Das weite Feld der Kriegskinderforschung wurde mit der Methodik der Geschichtswissenschaft betreten. Mit erfahrungs- und mentalitätsgeschichtlich ausgerichteten Veranstaltungen bot die Akademie Zeitzeugen mit ihren subjektiven Wahrnehmungen und Lebensnarrativen die Möglichkeit, individuelle Lebenserfahrungen in einen zeitgeschichtlichen, größeren Kontext einzuordnen. Es gelang, die Generation der zwischen 1930 und 1945 geborenen Kriegskinder zu erreichen. Ihr eigenes Älterwerden und ihr Wissen um die nur noch begrenzt zur Verfügung stehende Lebenszeit drängte sie, ihre eigene Biographie mit ihren belastenden, oft ungeklärten Anteilen zu verstehen. Die Erinnerung an die Erfahrungen und Folgen des Zweiten Weltkriegs für die Kriegskindergeneration steht in thematischer Kontinuität zum Akademieprogramm. Kirchen und ihre Institutionen sind bedeutende Träger der Erinnerungskultur der nationalsozialistischen Vergangenheit. In besonderer Weise hat sich auch die Akademie Franz Hitze Haus immer als Ort der Auseinandersetzung mit der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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nationalsozialistischen Diktatur, ihren Verbrechen und deren Folgen verstanden und führt dies in der politischen und politisch-historischen Arbeit insbesondere mit Schülern und Schülerinnen fort.

Themen und Erfahrungen Von 2007 bis 2013 wurde eine Fülle von Veranstaltungen konzipiert und durchgeführt, die sich vor allem auf die Themenfelder Vaterlosigkeit und mentales Erbe konzentrierten. Vaterlosigkeit Ein Schwerpunktthema war die kriegsbedingte Vaterlosigkeit, die das Heranwachsen und die Lebensläufe der Töchter und Söhne in entscheidender Weise beeinflusst hat. Folgende Veranstaltungen wurden dazu angeboten: ȤȤ Vaterlose Töchter. Frauen aus der Generation der Kinder des Zweiten Weltkriegs erinnern sich (2007), ȤȤ Söhne ohne Väter. Vom Verlust der Kriegsgeneration (2008), ȤȤ Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten. Facetten eines gegenwärtigen und historischen Schlüsselthemas (2011), ȤȤ Töchter und Söhne ohne Väter. Dem Lebensgefühl von Kindern des Zweiten Weltkriegs auf der Spur (2012).

Die erste Veranstaltung widmete sich dem Leben vaterloser Töchter. Mehr als 65 Jahre nach Kriegsende stellten sich damit vermehrt Frauen einem ihrer großen Lebensthemen und versuchten, ihre subjektiven Rückblicke zu deuten und einzuordnen. Dieser Auftakt stellte Weichen für die Weiterentwicklung des Themenfeldes. Das nachfolgende Forschungsprojekt nahm seinen Anfang, indem Barbara Stambolis 120 Frauen befragte, die zwischen 1930 und 1945 geboren wurden und vaterlos aufwuchsen. Forschungsgegenstand waren unter anderem lebensprägende Einflüsse ihres vaterlosen Aufwachsens auf ihre Partnerschaften und das Verhältnis zu eigenen Kindern (Stambolis, 2012, S. 13). Mit diesem Projekt schloss die Historikerin eine Forschungslücke, nachdem die Erfahrungen vaterloser Söhne bereits umfangreich thematisiert worden waren (Schulz, Radebold u. Reulecke, 2009). Für die Akademie war es eine große © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Chance, diese Forschungsarbeiten sukzessive mit Veranstaltungen zu begleiten. So wurden die Prägungen vaterloser Söhne sowie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Lebensgefühl vaterloser Söhne und Töchter thematisiert. Ein erster Höhepunkt war sicherlich die dreitägige Fachtagung »Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten. Ein historisches und gegenwärtiges Schlüsselthema«, die einen Bogen spannte von der (kriegsbedingten) Vaterlosigkeit im 20. Jahrhundert zur Bedeutung von Vaterlosigkeit im 21. Jahrhundert. Die interdisziplinäre Besetzung ermöglichte einen wissenschaftlichen Diskurs, der viele Aspekte der bisherigen Veranstaltungen vertiefte. Analysen zum Wandel von Familienstrukturen und Männlichkeitsbildern, die Bedeutung von väterlichen Orientierungen und die nachhaltige Wirkung von Beeinträchtigungen im Kindes- und Jugendalter wurden intensiv diskutiert. Ist das zentrale Lebensthema vieler Kriegskinder, ohne Vater aufgewachsen zu sein, in seiner historischen Komplexität nicht unmittelbar auf Erfahrungen und Wirkungen gegenwärtiger Vaterlosigkeit übertragbar, so zeigte sich zugleich: Gegenwärtige Erfahrungen sind nicht zu trennen von der Tiefendimension der Vaterlosigkeit als Thema des 20. Jahrhunderts. Großeltern der heute vaterlos aufwachsenden Kinder und Jugendlichen fürchten im Rückblick auf ihr eigenes Leben, dass (auch) ihren Enkeln der Vater fehlen wird. Mentales Erbe Angehörige der Kriegskindergeneration fragen sich heute zunehmend, was sie bewusst oder unbewusst ererbt, verinnerlicht und an folgende Generationen weitergegeben haben. Wertetraditionen, Erziehungsvorstellungen und Lebensumstände in Kriegs- und Nachkriegsjahren wurden mit Blick auf ihre historische Nachhaltigkeit diskutiert. Folgende Veranstaltungen wurden dazu angeboten: ȤȤ Kriegskinder und Lebensentwürfe im Alter. Bedeutung von Kindheit und Jugend im II. Weltkrieg und in der Nachkriegszeit (2008), ȤȤ Flüchtlingskindheiten. Erfahrungen und Rückblicke auf ein erfolgreiches Leben, ȤȤ Kriegserinnerungen als »mentales Gepäck«. 70 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs (2009), © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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ȤȤ Husten ist Charaktersache. Zur Weitergabe von Erziehungsnormen im 20. Jahrhundert (2010), ȤȤ Lieder, die bleiben. Generationen und ihre musikalischen Erinnerungen (2011). Die Veranstaltungen veranschaulichten die Erfahrungen der Menschen im unmittelbaren Kriegsalltag. Eine höchst aussagekräftige Quelle, um dem alltäglichen, extrem bedrückenden Kriegsgeschehen auf die Spur zu kommen, stellen die in großer Zahl geschriebenen und auch überlieferten Kriegsbriefe dar. Sie geben einen Eindruck, wie die Menschen im Zweiten Weltkrieg die Extremsituationen zu bewältigen suchten. Darüber hinaus eröffneten umfangreiches Bildmaterial und Musik unmittelbare Zugänge zum Kriegserleben. Besonderes Augenmerk galt den psychischen, sozialen und körperlichen Belastungen der Kinder und Jugendlichen im Zweiten Weltkrieg und den zu identifizierenden Spuren dieser lebensgeschichtlich frühen Erfahrungen im Prozess des Älterwerdens.

Resümee und Ausblick Ein Kernstück der Akademiearbeit ist es, einen differenzierten Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu ermöglichen. Im Rückblick auf die skizzierte Themenfolge lässt sich resümierend feststellen, dass in diesen Veranstaltungen ein solcher Dialog gelungen ist. Anwesende Kriegskinder bekamen eine Stimme, ihre Erfahrungen fanden Gehör, und zugleich war es ein vordringliches Interesse, die individuellen Erinnerungen zeitgeschichtlich einzuordnen und exemplarisch Phänomene zu beschreiben. Auch wenn der zweite internationale Kongress über Kindheiten im Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt wegen seiner internationalen und interdisziplinären Dimension so etwas wie einen zweiten Höhepunkt in der Reihe der Veranstaltungen darstellte, markiert er doch alles andere als ein Ende der thematischen Auseinandersetzung. Vielmehr wurde deutlich, wie vielfältig sich die Thematik in den nächsten Jahren weiterentwickeln wird. Das Jahr 2014 – Hundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs – gibt Anlass für erfahrungs- und mentalitätsgeschichtliche © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Veranstaltungen, die das 20. Jahrhundert auch unter der Perspektive der Kinder- und Jugendgenerationen in Gänze in den Blick nehmen werden. In einigen Familien wenden sich mittlerweile auch schon die in den Jahren 1930 bis 1945 geborenen einstigen Kriegskinder zusammen mit ihren Kindern weiter zurückliegenden Spuren ihrer Familiengeschichten zu, das heißt, verstärkt auch den Anfängen des 20. Jahrhunderts und besonders dem Ersten Weltkrieg und seinen Folgen. Es stellt sich dabei heraus, dass viele Väter und Mütter der Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkriegs, da zwischen 1900/1902 und 1914/1918 geboren, Kriegskinder des Ersten Weltkriegs waren. Diese »Elterngeneration« hat ihren Nachkommen von eigenen Belastungen offenbar zeitlebens kaum etwas berichtet. Über generationenübergreifende Erfahrungen bzw. deren Wiederholungen wurde in den Familien wenig gesprochen. Möglicherweise werden wir erst heute sensibler gegenüber diesem Thema, seit Angehörige der Kriegskindergeneration sich zu fragen begonnen haben, unter welchen Bedingungen ihre Eltern aufgewachsen sind. In diese Richtung wird das Akademieprogramm seinen hier umrissenen thematischen Schwerpunkt 2014 erweitern. Zudem rückt gegenwärtig der Erfahrungs-Transfer in den Bereichen der Gerontopsychiatrie und Gerontologie ins Blickfeld. So gehören viele heute pflegebedürftige Menschen der Generation der Kinder des Zweiten Weltkriegs an. Fachkräfte in Pflege- und Betreuungssituationen erleben eindrücklich, wie sich Erlebnisse aus Kinder- und Jugendzeit Bahn brechen. Am Ende ihres Lebens haben Menschen dieser Generation erneut psychische Herausforderungen zu bewältigen. Darüber hinaus schärft das »Nach-Denken« der Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs aber vor allem die Aufmerksamkeit für Menschen unserer Zeit, deren Leben von Krieg, Gewalt und Entwurzelung geprägt ist. Die Rückschau auf das Leben der Kriegskinder sensibilisiert für das Schicksal von Kindern in heutigen Kriegsgebieten weltweit. Auch hier deuten sich Perspektiven für ein Weiterdenken an.

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Literatur Kossert, A., (2008). Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. München: Siedler. Schulz, H., Radebold, H., Reulecke, J. (2009). Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration (3. Aufl.). Berlin: Links. Stambolis, B. (2012). Töchter ohne Väter. Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht. Stuttgart: Klett-Cotta. Stambolis, B. (Hrsg.) (2013). Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten. Beiträge zu einem historischen und gesellschaftlichen Schlüsselthema. Weinheim u. München: Juventa.

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Zeithistorische Besonderheiten und biographische Verwerfungen der Kriegsfolgen

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»Dann lass ich uns eine Polin kommen« – transgenerationelle Traumatisierungen, Ressentiments und Missverständnisse samt Reaktualisierung in Pflegesituationen

Traumatisierungen und Ressentiments Kriege haben, ebenso wie Ressentiments, Nachwirkungen über Generationen. Dies betrifft Deutschland, von dessen Staat Krieg und Massenvernichtung ausgingen, genauso wie Polen, das als Staat lange Zeit gar nicht existierte und dessen Territorium nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltsam nach Westen verschoben wurde. Äußerer Druck und Gedankenlosigkeit führen zu sprachlichen Fehlleistungen, hinter denen tief sitzende Ressentiments und Vorurteile stecken. Diese prallen oft ungefiltert in schwierigen Pflegesituationen aufeinander. Von überforderten Angehörigen und Pflegebedürftigen hört man oft den Satz: »Dann lass ich uns eine Polin kommen.« Bei aller Hilflosigkeit schwingt da auch etwas Verächtliches mit. Manchmal werden Osteuropäerinnen im Vergleich mit Einheimischen zwar als liebevoller beschrieben, aber gerade dahinter verstecken sich viel alte »Minen«, die im Krieg nicht explodiert sind.

Notkonvergenz und Notkumulation Zeitgeschichte findet man in jeder Arztpraxis. In Pflegesituationen prallen drei Formen aktueller Notstände aufeinander, wobei die Gefahr destruktiver Verwicklung, aber auch die Chance einer neuen Begegnung gleichermaßen bestehen: ȤȤ Pflegebedürftige alte deutsche Menschen kämpfen mit Autonomieverlust. Dabei werden alte Kriegstraumatisierungen wieder wach. Die Konfrontation mit russischer oder polnischer Sprache erinnert viele ältere Frauen an Vergewaltigungen und Racheaktionen. Erinnerungen an Flucht, Vertreibung und Eigentumsverlust verstärken alte Vorurteile, die behaupten, Osteuropäer wären kriminell. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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ȤȤ Osteuropäische Pflegekräfte kommen meist aus wirtschaftlicher Not nach Deutschland. Ihre Vorfahren haben oft Gewalterfahrungen mit Deutschen gemacht. Zwar wird das deutsche Wirtschaftswunder gelobt, aber die historische Ungerechtigkeit, dass Westdeutschland traumhaften Wohlstand genießen konnte, wiegt schwer. Pflegekräfte im mittleren Alter finanzieren oft unter eigenen Entbehrungen ihren Kindern eine Ausbildung oder ein Studium. Manchmal treffen gebildete Osteuropäerinnen auf relativ ungebildete Deutsche. ȤȤ Angehörige sind oft überfordert und kämpfen mit Schuldgefühlen, die projektiv auf das Pflegepersonal verschoben werden. Wenn Nachfahren deutscher Vertriebener auf Nachfahren polnischer Kriegsopfer treffen, bleiben durch die Vermischung alter und neuer Misstrauenshaltungen Konflikte oft nicht aus.

Tausend Jahre problematische Nachbarschaft Zur über tausendjährigen gemeinsamen Geschichte seien hier nur einige Sachverhalte kurz skizziert: Mörl (2008) verweist auf tausend Jahre schlechter nachbarlicher Beziehungen. Nur so viel sei gesagt: Für die Transitregion Mitteleuropa war das ethnische Kaleidoskop lange Zeit die Norm. Doch im Zeitalter des Nationalismus erwies sich die Vielfalt als Störfaktor. Im geschichtlichen Auf und Ab waren zwei Besiedlungswellen für Mitteleuropa besonders wichtig. Auf eine Ära nach Westen gerichteter Wanderungen der Slawen erfolgte im Mittelalter eine Flut deutscher Siedler, die sich über Elbe und Oder ergoss und tief in Länder slawischer Dominanz eindrang. Im 19. und 20. Jahrhundert machten sich die slawischen Völker – auch unter dem Einfluss des Panslawismus – bemerkbar. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen die alliierten Regierungen, die östlich der neu gezogenen Grenzen lebenden Deutschen zu vertreiben. Schließlich war Mitteleuropa im 20. Jahrhundert gleich zwei Formen von totalitären Diktaturen ausgesetzt: Faschismus und Kommunismus. Die Menschen wurden Täter, Mitläufer und Opfer der einen oder der anderen Seite. Genozid, Massenmord, ethnische Säuberung, Zwangsarbeit, soziale Zwangsmaßnahmen wurden praktiziert. Menschen, die es wagten, gegen Hitler und Stalin zu opponie© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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ren, wurden ausgelöscht. Historische Untersuchungen gibt es viele, wobei geschriebene Geschichte anfällig für nationale Egoismen und unredliche Polarisierungen ist. Im Nationalsozialismus fanden bereits bestehende Ressentiments ihren Höhepunkt. Jahrhundertealte Vorurteile aus der Ostkolonisation wurden zugespitzt, die nicht nur bei Neonazis fortwirken: Slawische Menschen seien Untermenschen, und den Slawen wird abgesprochen, eine eigene Kultur zu haben (Pinder, 1943; Zillich, 1968), die Übernahme deutschen Stadtrechts im Mittelalter wird gleichgesetzt mit der Behauptung, die Städte seien von Deutschen gegründet worden, und schließlich seien Slawen, vor allem Polen, träge, hinterhältig und würden stehlen. Es besteht Ignoranz über Geschichte, Kultur und Baukunst der slawischen Völker. Die Vernichtung der staatlichen Souveränität Polens im 18. Jahrhundert und nach 1933 sei die Folge »polnischer Wirtschaft«. Zwangsumsiedlungen von Polen durch Deutsche und Russen, die Verschleppung als Fremdarbeiter auch nach Westdeutschland und die Ermordung der polnischen Intelligenz durch die Nazis belasten die Beziehungen zwischen den Völkern bis heute und haben tiefe Wunden in den Seelen der Menschen hinterlassen, die in zugespitzten Pflegesituationen erneut aufreißen können.

Identitätsdiffusion durch mangelnde psychohistorische Differenzierung Aus deutscher Sicht besteht in Bezug auf die Unterscheidung nationaler Identitäten Verwirrung. Wer wird als Pole eingeordnet? Deutsche Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten nannte man im Rheinland oft »Pimocken« oder »unsere Freunde aus der kalten Heimat«, denen keine Kultur zugestanden wurde. Oberschlesier, die nach Deutschland als Spätaussiedler kamen, wurden als »Wasserpollacken« nicht als echte Deutsche angesehen. Zu fragen ist: Sind Menschen, die aus Zentralpolen oder dem ehemaligen Ostpolen stammen, nicht auch Schlesier, wenn sie nach 1945 in Breslau geboren wurden? Oft stehen sich in Deutschland nach der Wende Menschen gegenüber, die in unterschiedlicher Weise mit den heutigen polnischen Gebieten zu tun haben, aber nicht selten selbst eine – verschüttete – © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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divergierende Vorgeschichte haben. Einschlägige psychohistorische Kenntnisse sind auch bei Therapeuten rar. Von Nordostdeutschland bis hin nach Bayern und Franken gab es bis ins Mittelalter slawisches Siedlungsgebiet. Die gemischte Bevölkerung sprach zunehmend Deutsch. Nach der Reformation war Deutsch auch die Sprache der Kirche. Orts- und Familiennamen gehen oft bis auf vorschriftliche Zeit zurück. Dabei wird vergessen, dass das deutsche Volk auch slawische Wurzeln hat.

Die Betroffenen Folgende Fallbeispiele entstammen ambulanten und stationären Psychotherapien, psychosomatischen Konsiliardiensten in verschiedenen Kliniken sowie Erfahrungen aus der Supervision mit einem Hospiz- und Krankenpflegeverein. Die Patienten gehörten den Geburtsjahrgängen 1917 bis 1994 an. An den Vorgesprächen nahmen zehn Männer und acht Frauen teil. In längeren Therapien befanden sich 29 Frauen und 15 Männer. Bei allen Patienten, die in die Praxis kamen, war mindestens ein Elternteil, Großelternteil oder Urgroßelternteil vom Zweiten Weltkrieg betroffen, meist vertrieben. Bei sieben Patienten war es zu einer Vergewaltigung der Mutter durch russische Soldaten und zu zwei Erschießungen gekommen. Fall 1: Aggressionshemmung Eine scheinbar gelungene deutsch-polnische Symbiose: Der Sohn eines pensionierten Studienrates fährt mit seinen Eltern in den Heimatort des Vaters in Oberschlesien. Dort übernachten die Eltern im ehemaligen Elternhaus des Vaters. Der Vater, Historiker und Altphilologe, freundet sich mit der polnischen Familie an, die – aus Ostpolen vertrieben – in seinem Elternhaus einquartiert wurde. Während des Kalten Krieges erhält der Lateinlehrer Einrichtungsgegenstände seiner Eltern und hilft im Gegenzug den Polen bei der Renovierung ihres Hauses. Verbindend für beide Familien sind ein gemeinsames Vertriebenenschicksal und der gleiche Beruf der Väter. Später heiratet der Sohn des deutschen Studienrates (heute 53 Jahre alt) die Tochter der polnischen Familie. Jetzt leben sie mit zwei Kindern in einer deutschen Großstadt. Der überfreundliche Sohn, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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er leidet an einem Morbus Crohn, sucht sich wegen ausgeprägter Aggressionshemmungen therapeutische Hilfe. Seine Beschwerden haben auch mit der psychohistorischen Vorgeschichte dieser »Versöhnungsfamilie« zu tun. Die betonte Tabuvermeidung im deutschpolnischen Verhältnis prägt das harmonisierende Familienklima, in dem Sprengstücke von Aggressionen manchmal hervorbrechen. Der Vater, den eine entfernte Verwandte seiner Schwiegertochter pflegt, ist sehr zufrieden, da er mit seiner Pflegerin Deutsch und Polnisch sprechen kann. Nach einer langjährigen Psychoanalyse, in deren Zentrum unterdrückte Schuldzuweisungen und Aggressionen des Sohnes stehen, gehen die Symptome zurück. Fall 2: Verunglimpfung Eine demente ostpreußische Lehrerin beschimpft in einem Hospiz das Pflegepersonal als Pollacken und Drecksjuden. Es kommt zum Teamkonflikt: Die betroffenen polnischen Pflegekräfte werden von den »einheimischen« Pflegekräften aufgefordert, professionell damit umzugehen, ein wirkliches Verständnis der Problematik fehlt aber. Von den Osteuropäern im Team wird hingegen die Bevorzugung der einheimischen Kräfte bemängelt. Es kommt somit zu einer »Verlagerung des Krieges« auf die Teamebene: Ein vorsichtiger Hinweis auf die psychohistorische Dimension entspannt die Lage. Hass und Gewaltphantasien des Pflegepersonals sowie Vergeltungsphantasien der Osteuropäer können bei den grundsätzlich recht offenen Pflegekräften zur Sprache kommen. Fall 3: Gefühlsverwirrungen Eine junge Frau hat Streit mit ihrer polnischen Großmutter, weil sie in Deutschland als Altenpflegerin tätig ist. Die Großmutter hatte den Untergang Warschaus als Kind erlebt und hat einen unbändigen Hass auf Deutsche. Als die Enkelin den Enkel einer pflegebedürftigen Deutschen heiraten will, droht die polnische Großmutter mit Kontaktabbruch. Die Patientin erlebt eine höchst verwirrende Akzentverschiebung zwischen Täter- und Opferklischees: Während die polnische Großmutter sich aggressiv und rachsüchtig verhält, ist die deutsche, von der Pflegerin abhängige Großmutter verständnisvoll und freundlich. Sie unterstützt die Beziehung des Enkels und stellt in Aussicht, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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der geplanten jungen Familie ihr Haus zu vermachen. Die polnische Großmutter hat nichts zu vererben, sie lebt allein in einem Plattenbau am Stadtrand von Warschau. »Wir sind wegen des Wohlstandsgefälles die Verlierer«, habe die polnische Großmutter gesagt, niemand pflege sie, sie sei arm. Die Patientin kommt in Behandlung wegen psychogenen Schwindels. Die zweijährige Psychoanalyse beinhaltet wesentliche Fragen zu Identität, Selbstwert und zum Vorwurf, sich parasitär zu verhalten und die polnische Großmutter zu verraten. Fall 4: Keine Probleme Eine alte schlesische Ärztin mit einer Polyneuropathie wird pflegebedürftig. Sie wird von einer ostpolnischen Medizinstudentin unterstützt und empfindet dies als Bereicherung. Die Beziehung erscheint deshalb unproblematisch.

Transgenerationelle Traumata Deckphänomene sind Teilwahrheiten und Hilfskonstruktionen, die verhindern, dass traumatische Ereignisse Bedeutung erlangen, assimiliert werden und ein notwendiger Trauerprozess stattfindet. Sie sind wie ein Pflaster auf oberflächlich zugeheilten Wunden, in deren Tiefe sich ein Abszess gebildet hat. Diese pathologische Normalität hängt mit Einkapselung und Abspaltung des Traumas und der Unfähigkeit zu trauern zusammen. So kann hinter betont toleranter Aussöhnungshaltung, Friedensappellen, Wiedergutmachungsgesten und der in der DDR gepflegten Zwangsfreundschaft mit der östlichen sozialistischen Brudernation viel Sprengstoff liegen, der in angespannten persönlichen Begegnungen explodieren kann. Bei der Begegnung zwischen Polen und Deutschen wird deutlich, dass kollektive Traumatisierungen einen generationsübergreifenden Einfluss haben. Dies gilt insbesondere bei einer aktuellen gegenseitigen Abhängigkeit, die beiderseits das Selbstwertgefühl tangieren kann. Es kommt zur Weitergabe dissoziierter Wahrnehmung und Erinnerung. Patienten der Kriegsnachfahren-Generation kommen häufig erst in eine Psychotherapie, wenn ein unspezifisches, aber charakteristisches Abwehrmuster zusammenbricht. Ereignisse, die Ähnlichkeit mit den Traumatisierungen der Eltern haben und Aspekte © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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von Reinszenierung und Wiederholung aufweisen, wirken dabei auslösend. Die Pflegesituation berührt in diesem Zusammenhang auf beiden Seiten existenzielle Nöte. Kinder von Kriegsgeschädigten haben oft durch eine transgenerationelle Identifizierung Traumatisierungen und Ressentiments verinnerlicht, die als innere oder äußere Konflikte in den Nachfolgegenerationen wieder aufreißen können. Der Krieg mit der Erfahrung von Flucht und Vertreibung zerriss die räumliche, zeitliche und soziale Integration des Selbst. Erikson (1976) beschreibt Identität als Übergangsraum zwischen innerer personaler und äußerer sozialer Entwicklung. Was Grinberg und Grinberg (1990, S. 151) in Bezug auf Traumata von Migranten anmerken, kann auch auf ein besiegtes Volk übertragen werden, genauso wie auf ein Volk, das seit Jahrhunderten Fremdherrschaften und territorialen Fragmentierungen ausgesetzt war: Es kommen Ängste vor Vernichtung und Zerstückelungsphantasien auf. Transgenerationelle Traumatisierungen werden unbewusst weitergegeben: Nebulöse Andeutungen schaffen eine diffuse, von Trauma und Schuld der Eltern durchdrungene Atmosphäre, die tabuisierend ungeklärt bleibt. Traumatische Affekte und Erinnerungsbilder bleiben getrennt und werden an Nachkommen weitergegeben (Spiegel u. Cardena, 1991, S. 366 ff.; Gampel, 1994, S. 301 ff.; Brenneis, 1998, S. 801 ff.; Eckstaedt, 1999, S. 137 ff.; Hirsch, 1999, S. 125 ff.; Volkan, 2000, S. 945, 2002; Kogan, 2008). Diese Vorgänge erinnern an die von Freud (1917/1946, S. 428 ff.) beschriebene pathologische Trauer. Phantasie und Realität sind amorph »verbacken«. Die Ablösung von den Eltern ist oft schuldbeladen und wird erschwert unter Loyalitätskonflikten. Viele Betroffene können die Fragmente ihrer Identität nicht zusammensetzen. Der Eindruck von Personen, die drei Generationen angehören, drängt sich auf. Die Störung der gegenwärtigen Identität durch die Fixierung auf die Vergangenheit führt zu Schwierigkeiten in der Gegenwart.

Besinnung auf die gemeinsame Basis Es gibt traumatische Verstrickungen, die eine respektvolle und differenzierte Aufarbeitung verlangen. Es gibt aber auch jahrhundertealte Gemeinsamkeiten europäischer Kultur. Europäische Metropolen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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künden von mehr Gemeinsamkeit als von Trennendem. Bezieht man sich auf die Kunstgeschichte, so kann man feststellen, dass zahlreiche Bautraditionen, die den europäischen Osten befruchtet haben, international sind und von der Romanik bis zum 19. Jahrhundert aus gesamteuropäischen Wurzeln stammen. Polnische Restauratoren haben die gemeinsame Geschichte des europäischen Ostens unterstrichen und daran angeknüpft. Die polnische Bevölkerung hat durch die Westverschiebung der ostpolnischen Region um Lemberg herum ein ähnliches Vertriebenenschicksal erlitten wie die vertriebenen Ostdeutschen. Die neuen Breslauer waren oft aus Lemberg stammende Polen. Die Lemberger Universität hat an die Universität Breslau angeknüpft. Kulturell gibt es zwischen den beiden Städten viele Gemeinsamkeiten. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass nach einer Phase der Trauer und der Abwehr ein Neuanfang in den Gemeinsamkeiten und in mehr oder weniger positiven Erfahrungen versucht wird (Davies u. Moorhouse, 2002). Für die Polen war es der letztlich gelungene Versuch, ihrer zerstörten Identität bildhaft zu trotzen, während das Verhältnis der Deutschen zum Berliner Schloss bis heute deren Ambivalenz zu ihrer Geschichte dokumentiert. Sollte es planmäßig fertig werden, ist die heutige Kriegsenkelgeneration im Rentenalter.

Ausblick Schmerzliche Erinnerungsarbeit bedeutet die Aufarbeitung der Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und seiner unbewussten Folgen. Nach Mitscherlich und Mitscherlich (1967) gelingt bei historischen Katastrophen eine Bearbeitung nur dann, wenn durch Rekonstruktion, Erinnerung, Lockerung der Abwehr und Anerkennung von Schuld das Trauma in einen neuen Kontext gestellt werden. Mögliche Verwicklungen der Vorfahren in eine »Kriegsschuld« können in ihrem ganzen Ausmaß erst wahrgenommen werden, wenn Abwehrstrategien selbstreflexiv durchgearbeitet worden sind. Nur so werden Täter- und Opferidentifizierungen mit der Elterngeneration überwunden. Gerade in Teams mit osteuropäischen Pflegekräften ist dringend eine Supervision geboten, die psychohistorische und transgenerationelle Gesichtspunkte berücksichtigt. Auch die Über© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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windung der Befangenheit deutscher Therapeuten, Themen wie NSVergangenheit der Eltern und Traumatisierungen durch Flucht und Vertreibung anzusprechen, wäre hilfreich. Bei jüngeren Patienten, die ohne affektive Beteiligung über den Krieg berichten, besteht die Gefahr, in der Gegenübertragung die Verleugnung und Verzerrung der Eltern zu übernehmen. Es ist aber wichtig zu erkennen, inwieweit der Patient mit dem Schweigegebot seiner Eltern identifiziert ist; dies gilt sowohl für Täter- als auch Opfernachkommen. In Psychotherapien und Supervisionen von Pflegeteams ist darauf zu achten, dass die Vergangenheit zwar berücksichtigt wird, aber nicht alles Geschehen dominiert. Abwehrmechanismen wie Verleugnung, Affektisolierung, narzisstische Abwehrformationen, kontraphobische Tendenzen, altruistische Abtretungstendenzen im Hinblick auf Themen wie Krieg, Flucht und Vertreibung müssen aufmerksam betrachtet werden. Deshalb sind nicht nur Übertragungsdeutungen sondern auch rekonstruktive Deutungen so wichtig, als Hilfe bei dem Versuch einer therapeutischen Rekonstruktion transgenerationeller Traumen. Sie helfen, die Ent-Identifizierung zu unterstützen sowie Verwicklungen zwischen Pflegebedürftigen und osteuropäischen Pflegepersonen zu verstehen. »Nachkommen« sind als Subjekte der Geschichte zu betrachten, die oft unbewusst die Last der Traumatisierungen und Schuld der vorangehenden Generation mit sich schleppen. Grenzverwischungen sind ein universales Phänomen zwischen traumatisierten Völkern und Generationen und sie vollziehen sich auf mehreren Ebenen: Die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart sind verwischt, Phantasie und Realität gehen ineinander über und transgenerationell sind oft Selbst und Objekt nicht getrennt. Bei kollektiven Traumata können oft erst die Nachkommen nach einer Latenzzeit Trauerarbeit leisten. Deshalb könnte erst jetzt, über sechzig Jahre nach Kriegsende, eine entscheidende Phase der Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen stattfinden. Als Nachkommen der Kriegsgeneration sollten wir diese Chance nutzen.

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Literatur Brenneis, C. B. (1998). Gedächtnissysteme und der psychoanalytische Abruf von Trauma-Erinnerungen. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 958–995. Davies, N., Moorhouse R. (2002). Breslau – die Blume Europas. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt. München: Droemer. Eckstaedt, A. (1999). Ein Vertriebenenschicksal in der dritten Generation. In A.-M. Schlösser, K. Höhfeld (Hrsg.), Trennungen (S. 137–153). Gießen: Psychosozial. Erikson, E. H. (1976). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, S. (1917/1946). Trauer und Melancholie. Gesammelte Werke, Bd. X (S. 428–446). London: Imago Publishing Co. Gampel, Y. (1994). Identifizierung, Identität und generationsübergreifende Transmission. Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, IX (3), 301–319. Hirsch, M. (1999). Die Wirkung schwerer Verluste auf die zweite Generation am Beispiel des Überlebensschuldgefühls und des »Ersatzkindes«. In A.-M. Schlösser, K. Höhfeld (Hrsg.), Trennungen (S. 125–136). Gießen: Psychosozial. Grinberg, L., Grinberg, R. (1990). Psychoanalyse der Migration und des Exils. Stuttgart: Klett-Cotta. Kogan, I. (2008). Die Durchlässigkeit der Grenzen in Holocaust-Überlebenden und ihren Nachkommen. In H. Radebold, W. Bohleber, J. Zinnecker (Hrsg.), Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen (S. 119–127). Weinheim u. München: Juventa. Mitscherlich A., Mitscherlich, M. (1967). Die Unfähigkeit zu trauern. München: Piper. Mörl, G. (2008). Die Deutschen – ein slawisches Volk. Die verdrängten Wurzeln einer europäischen Nation. Norderstedt: Books on Demand. Pinder, W. (1943). Die Kunst der deutschen Kaiserzeit. Leipzig: Seemann. Spiegel, D., Cardena, E. (1991). Desintegrated experience: The dissociative disorder revisited. Journal of Abnormal Psychology, 100, 366–378. Volkan, V. (2000). Gruppenidentität und auserwähltes Trauma. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 54 (9–10), 931–951. Volkan, V. (2002). Nach der Vertreibung. In A.-M. Schlösser, A. Gerlach (Hrsg), Gewalt und Zivilisation (S. 183–212). Gießen: Psychosozial. Zillich, H. (1968). Siebenbürgen. Ein abendländisches Schicksal. Königsstein: Langewiesche.

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Bilder von Kindern zum Ende des Krieges Der Film »Der Untergang« (2004) beschreibt Hitlers letzte Tage im Führerbunker. In einer Rahmenhandlung taucht ein 13-jähriger Junge auf, der noch als Kindersoldat am Endkampf teilnimmt, schließlich voller Panik flüchtet, nachdem ein Soldat an seiner Seite erschossen wird, und der dann seine Eltern tot auffindet: der Vater von Nazi-Schergen ermordet, die Mutter suizidiert. Er entkommt schließlich dem Inferno. Und in der Schlussszene sieht man, wie Hitlers ebenfalls entkommene Sekretärin mit ihm auf dem Fahrrad dem Sonnenuntergang entgegenfährt. Diese Szene suggeriert, dass beide den Schrecken hinter sich gelassen haben und ein neues friedliches Leben vor ihnen liegt. Es scheint keine Spuren der Hölle, die hinter ihnen liegt, mehr zu geben. So weit ein Spielfilm, der etwa sechzig Jahre nach dem Kriegsende in Berlin gedreht wurde. Aber Fotografien, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgenommen wurden, zeigen ein ähnliches Bild. Kinder spielen in Ruinen, ein Lächeln auf dem Gesicht. Die Sonne scheint. Der Schrecken scheint überwunden. Die Kinder wachsen in ein neues Leben hinein. So wollte man es in den Jahrzehnten nach der deutschen Niederlage sehen. Die Kinder sind die Garanten für eine glückliche Zukunft. Mögen sich die Erwachsenen auch mit Erinnerungen herumplagen, die Kinder werden das Schlimme schon vergessen. Sie repräsentieren den Neubeginn.

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Kriegskindheiten in (deutschen) Psychoanalysen – lange verleugnet? Es ist erstaunlich, dass eine solche durch kollektive Verdrängung hervorgerufene Sichtweise auch von den Psychoanalytikern nicht systematisch hinterfragt wurde. Es brauchte mehr als fünfzig Jahre, bis das Schicksal der sogenannten Kriegskinder das Interesse der Analytiker erregte – von Analytikern zumeist, die derselben Generation angehörten und die in der Begegnung mit ebenfalls älteren Patienten ein Wiederaufleben der unerledigten Spuren erlebten, die jene wirren Jahre in ihnen hinterlassen hatten und die in ihren eigenen Analysen oft nur ungenügend durchgearbeitet worden waren. Die sich in dieser großen Latenz manifestierende gesellschaftliche Abwehr hat natürlich viel mit einem verleugnenden Umgang mit Schuld- und Schamgefühlen zu tun. Die Erwachsenen der Nachkriegszeit waren oft selbst traumatisiert und wollten sich auch der Verstrickung in das Nazi-System nicht stellen. Sie errichteten um die Vergangenheit eine Mauer des inneren und äußeren Schweigens. Die Kinder erfuhren so im Allgemeinen keine Hilfe in der Verarbeitung ihrer belastenden Erlebnisse, so dass sie auf die Mechanismen der Abspaltung, Verleugnung und Verdrängung angewiesen waren, um ihr seelisches Gleichgewicht zu bewahren. Der Preis dafür war allerdings hoch und bestand in der Abspaltung von Persönlichkeitsanteilen, die mit den belastenden und traumatischen Erlebnissen ihrer Kindheit verbunden waren. Viele Beiträge in diesem Buch beschäftigen sich mit den seelischen Störungen, die sich auf dem Boden dieser Abwehrprozesse im späteren Leben und auch im Alter manifestierten. In diesem Zusammenhang sind auch die Ergebnisse der von der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung durchgeführten Katamnese-Studie von Interesse, die bei einem unerwartet hohen Prozentsatz der untersuchten Patienten frühe Traumatisierungen im Krieg und in der Nachkriegszeit nachweisen konnte (Leuzinger-Bohleber, Rüger, Stuhr u. Beutel, 2002). Analytiker und Patienten in Deutschland wurzeln in der gleichen schuld- und schambesetzten Vergangenheit und sind gleichermaßen über ihre Familien einer traumatischen Zeitgeschichte ausgesetzt. Das machte es gerade den Analytikern in den ersten Jahrzehnten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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nach dem Krieg oft schwer, eine zum analytischen Arbeiten notwendige kritische, aber auch analytisch-neutrale Distanz gegenüber den Folgen der Kriegskindheit in ihren Patienten zu gewinnen. Diese affektive Abwehr gegen das Thema erlebte ich selbst. Auf dem ersten Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung auf deutschem Boden nach dem Krieg, 1985 in Hamburg, hielt ich einen Vortrag über die Analyse einer Frau, in deren Pathogenese der Krieg und der Verlust des Vaters eine entscheidende Rolle gespielt hatten (Hinze, 1986). Sie war eines der Kriegskinder. In diesem Vortrag setzte ich mich intensiv mit dem Einfluss der Zeitgeschichte auf die innere Welt von Patienten auseinander. Als dann 15 Jahre später Analytiker in Deutschland begannen, sich mit dem Problem der Kriegskinder zu beschäftigen, kam ich überhaupt nicht auf den Gedanken, dass ich mich mit diesem Thema doch schon lange vorher auseinandergesetzt hatte. Ich hatte diese Arbeit innerlich unter der Rubrik »Fallgeschichte« abgeheftet und den – damals sehr wohl von mir bearbeiteten – Zusammenhang zwischen späterer Lebensgeschichte und Kindheit im Krieg und in der Nachkriegszeit nachhaltig verleugnet. Der Grund hierfür wurde mir rasch klar. Ich war selbst ein Kriegskind.

Das Leiden der Kinder in Kriegen und dessen Fortwirken im Lebenslauf – ein universelles Thema Ist das Thema der Kriegskindheiten also ein typisch deutsches Thema? Das ist mit Sicherheit zu verneinen. Die Verheerungen, die der deutsche Überfall auf die europäischen Nachbarländer zur Folge hatte, muss auch dort zahllose Kinder auf das Schwerste traumatisiert haben. Jedoch spiegelt sich dies in Fallgeschichten aus Analysen oder Psychotherapien der später erwachsen Gewordenen nur unzureichend wider. Meine Erfahrungen mit Supervisionen von psychoanalytischen Behandlungen in Osteuropa haben mir immer wieder vor Augen geführt, dass die traumatischen Auswirkungen des stalinistischen Terrors und der deutschen Okkupation auf die Familiengeschichten der Patienten nur selten in der Therapie auftauchten bzw. berücksichtigt wurden. Der Einfluss der Zeitgeschichte verschwand hinter den persönlichen und individuellen Psychopatho© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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logien. Die Erfahrungen in Deutschland haben uns gelehrt, dass die Bearbeitung dieser zeitgeschichtlichen Einflüsse einen genügend großen inneren und äußeren Abstand voraussetzt. Hier muss man mit vielen Jahrzehnten rechnen. Und selbst dann sind schwerwiegende innere Widerstände zu überwinden, die auch bei den Opferländern von Krieg und Verfolgung mit Schuld und Scham zusammenhängen mögen (Überlebensschuld, Kollaboration, Kompromisse mit den Besatzern). Die Entwicklung von möglichen Spätfolgen durch die Einwirkung von Kriegsgeschehen in der Kindheit konnte ich kürzlich quasi in statu nascendi beobachten. Die junge Frau in der Rezeption eines Hotels in Sarajewo war eine Studentin. Ich erzählte ihr von der bedrückenden, gerade eröffneten Ausstellung über Srebenica. Sie fing dabei plötzlich an zu reden und konnte kaum ein Ende finden. Während der Belagerung von Sarajewo sei sie noch ein Kind gewesen. Gewiss sei diese Zeit schrecklich gewesen. Aber ihre Eltern hätten ja eigentlich alles erdulden müssen und hätten sie als Kind beschützt. Man müsse vergessen und vergeben. Das sei jetzt alles für sie schon erledigt und verarbeitet. Während sie dies freundlich und ohne jegliche Gefühlsaufwallung erzählte, konnte ich mich als Zuhörer kaum der Tränen erwehren. Ich fühlte mich mit dem nicht verarbeiteten Leid in ihr identifiziert. Sie fuhr fort, von ihrer (nicht dementen) Großmutter zu erzählen. Die würde sich jetzt vermehrt wieder an die Ereignisse während der italienischen und deutschen Besetzung im Krieg erinnern. Sogar die Namen der Offiziere kämen ihr wieder in den Sinn. Diese Begegnung zeigt so deutlich, wie Erinnerungen an traumatische Erlebnisse in der Kindheit nach einer langen Zeit des Vergessens im Alter wieder im Bewusstsein lebendig werden können. Wie wird die junge Frau mit ihrem verdrängten und verleugneten Leid im weiteren Lebensweg fertig werden? Hier ist es an der Zeit, den Gebrauch des Trauma-Begriffs zu untersuchen. Ist von Kriegskindern die Rede, assoziiert man im Allgemeinen sofort Traumatisierungen und deren psychische Folgen. Die Beschäftigung mit dem seelischen Trauma und seinen Folgezuständen hat heutzutage Hochkonjunktur in wissenschaftlichen Arbeiten. Auch die Psychoanalyse ist davon betroffen. Das ist zum einen sicher darauf zurückzuführen, dass man gelernt hat, aufmerk© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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samer die Folgen von Krieg und Verfolgung zu beachten. Andererseits können Trauma-Theorien auch deswegen so verlockend sein, weil sich endlich einfache und klare Kausalketten bei der Entstehung seelischer Störungen anbieten, mit oft entsprechend eindimensionalen Therapievorschlägen. Aber Patienten, in deren innerer Welt der Krieg, wie auch immer vermittelt, tiefe Spuren hinterlassen hat, sind nicht einfach Traumatisierte mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Sondern traumatisierende Einflüsse durchdringen sich in einer komplexen Dialektik mit unterschiedlichen Entwicklungslinien der Persönlichkeit. Das Trauma ist nicht immer als ein nicht symbolisierbarer Fremdkörper im Seelenleben zu konzeptualisieren, auch wenn eine unkritische Rezeption neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu der Annahme eines solchen strikten Schubladendenkens hinsichtlich der verschiedenen Gedächtnissysteme führen mag. Aber die Hirnstruktur beeindruckt ja gerade durch die vielfältigen neuronalen Verbindungen und Verflechtungen. Im jeweiligen Einzelfall sind wir mit den Durchdringungen und Verbindungen konfrontiert und mit vielfältigen quantitativen Abstufungen. Ich hoffe, die folgenden zwei Fallvignetten können hiervon einen Eindruck vermitteln. Der unkritische Gebrauch des Traumabegriffs dagegen kann zum Kästchen- und Schwarz-Weiß-Denken verführen. Werner Bohleber (2000) hat die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse beschrieben und dabei auch die Probleme aufgezeigt, die sich aus einer unkritischen Ausweitung des Traumabegriffs und der daraus resultierenden Unschärfe und Beliebigkeit ergeben.

Zwei Fallbeispiele Herr A. Der 70-jährige Herr A. litt unter quälenden Zwangsgedanken, bedrückenden Träumen und depressiven Verstimmungen. Mit einer infantilen Mutter und einem emotional kargen Vater, der später eingezogen wurde, boten die ersten Lebensjahre keinen guten Nährboden für eine gesunde Entwicklung. In den letzten Kriegsjahren zog die Mutter mit den Kindern wegen der Bombenangriffe zu ihrem im Osten auf dem Lande wohnenden Vater. Herr A. erinnert sich an diesen Großvater als einen sadistischen, fast verrückten Menschen, vor dem seine Mutter

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ihn kaum schützen konnte. Das Dorf erlebte er als ein dumpfes Pandämonium, von Gewalt durchdrungen: Gewalt gegen die Tiere, nächtliche Schreie, Gewalt der Männer gegen die Frauen und Gewalt der Erwachsenen gegen die Kinder. Als die Rote Armee in das Dorf einzog, war er zehn Jahre alt. Er wurde Zeuge von Mord und Vergewaltigung, auch der eigenen Mutter, von Flucht in den Wald und Überfällen marodierender Haufen. Diese Erinnerungen sind vom Affekt abgespalten. Er hat wohl die schreckliche äußere Realität damals als eine Bestätigung seiner vorbestehenden aggressiven und sexuellen Phantasien erlebt. Sein späteres Leben war dann geprägt von einer Hemmung im Erleben und Ausleben triebhafter Wünsche und Impulse, sowie von einer Hemmung in seinen Versuchen, sich beruflich und sozial selbst zu verwirklichen. Aggressiv sein hieß für ihn, das Objekt ganz konkret zu töten. Und der Vatermord konnte ebenfalls nicht symbolisch erlebt werden, sondern nur ganz konkretistisch. Natürlich liegt es nahe, in dieser Krankengeschichte das Trauma in den Vordergrund zu rücken und Herrn A. in die Rubrik »Kriegskinder« einzuordnen. Aber die Traumatisierungen trafen auf einen 10-jährigen Jungen, der bereits eine sehr individuelle Entwicklung mit Belastungen und schädigenden Einflüssen anderer Art hinter sich hatte. Er hat auf seine ganz persönliche Art versucht, die damaligen Schrecken zu bewältigen und sich, wenn auch mit starken Einschränkungen und Symptombildung, im späteren Leben zu stabilisieren. Ihn als Patienten mit einem chronifizierten Posttraumatischen Belastungssyndrom zu kennzeichnen würde seiner unverwechselbar eigenen Entwicklung nicht gerecht werden. Frau B. Es ist nicht leicht, mit der 45-jährigen Frau B. in der Psychotherapie einen vertrauensvollen Kontakt herzustellen. Sie ist extrem kränkbar und fühlt sich schnell kritisiert und angegriffen. In einer Stunde kommt sie auf ihre Mutter zu sprechen, zu der sie ein äußerst ambivalentes und gespanntes Verhältnis hat. Sie hatte schon früher einmal erzählt, wie das Erziehungsideal der Mutter offensichtlich auch von der NaziIdeologie geprägt war: Man sollte stark sein, keine Gefühle zeigen, sich immer beherrschen. In dieser Stunde nun erzählte Frau B., wie ihr Großvater mütterlicherseits jahrelang von den Russen in einem Lager festgehalten wurde. Auf ihr intensives Drängen hätte die Mutter

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ihr einmal erzählt, wie sie und ihre Mutter (Großmutter der Patientin) geweint hätten, als die Nachricht sie erreichte, dass der Vater entlassen worden sei. In diesem Moment fängt Frau B. heftig an zu schluchzen – etwas, das bisher nie vorgekommen ist. Der Analytiker war selbst sehr gerührt und spürte, wie in diesem Augenblick die Patientin einen Zugang zu einem abgespaltenen Teil ihrer Mutter gewann, der mit deren Beschädigung durch Krieg und Nachkriegszeit zu tun hatte, und gleichzeitig auch zu etwas Abgewehrtem in ihr selbst. Durchtränkt mit der damaligen Ideologie hatte sich die halbwüchsige Mutter in den Wirren von Krieg und Nachkriegszeit affektiv abgeschottet und war zu einer harten, tüchtigen Frau geworden. Gleichzeitig mit dem Zugang zu diesem abgespaltenen Teil ihrer Mutter setzt sich Frau B. mit ihren eigenen Phantasien auseinander – ausgehend von Bücherfunden im Schrank der Mutter über Eugenik und Euthanasie – ob sie wohl selbst mit ihren schwachen und gefühlshaften Seiten in den Augen ihrer Mutter als lebensunwert gegolten habe.

Diese beiden Fallbeispiele zeigen, wie wir in unserer täglichen Arbeit mit den Folgen dieser wirren und schwierigen Jahre konfrontiert sind, auch in der nachfolgenden Generation. Sie zeigen auch, wie komplex im Allgemeinen das Ineinandergreifen von Zeitgeschichte, Trauma, Entwicklung und eventueller Vermittlung an folgende Generationen ist. Viele Menschen sind in ihrer Kindheit während des Krieges und in der Nachkriegszeit ihre Entwicklung stark beeinträchtigenden Faktoren ausgesetzt gewesen, zum Teil auch traumatischer Art. Aber Kriege sind nur ein extremer Sonderfall von solchen Einflüssen und Beeinträchtigungen. Man denke nur an die Bedingungen, unter denen Arbeiterkinder in der Industrialisierungsphase des Frühkapitalismus aufwuchsen. Ein Blick in die Geschichte der Kindheit mag lohnen, um die eigene Perspektive neu einzustellen.

Einige Anmerkungen zur Geschichte der Kindheit und zum Kindeswohl »Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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Fürsorge für sie, und desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell missbraucht wurden« (deMause, 1977, S. 12). Mit diesen Sätzen leitet Lloyd deMause seine Arbeit »Evolution der Kindheit« ein. In seinem Vorwort schreibt er: »Vielleicht ist die herzlose Behandlung von Kindern – Kindesmord, Weggabe, Vernachlässigung, barbarische Wickelpraktiken, absichtliches Verhungernlassen, Prügel, Isolierung usw. – nur ein Aspekt der Grausamkeit der menschlichen Natur, der tief verwurzelten Missachtung der Rechte und Gefühle anderer. Kinder können sich gegen Angriffe der körperlich stärkeren Erwachsenen nicht wehren; sie sind Opfer von Kräften, über die sie selbst nicht verfügen, und sie wurden und werden auf alle erdenklichen – und oft auch undenklichen – Weisen gequält, in denen sich bewusste und – viel häufiger – unbewusste Motive ihrer Eltern ausdrücken« (deMause, 1977, S. 8). Diese Zitate mögen hier genügen, um auf das Leid aufmerksam zu machen, dem Kinder in früheren Jahrhunderten ausgesetzt waren. Nun haben sich diese Zustände in der Moderne, besonders in den westlichen Gesellschaften deutlich zum Besseren gewendet. Ein Blick in die Medien macht aber deutlich, wie oft auch heute noch in aller Welt Kinder Opfer gesellschaftlicher Umbrüche und kriegerischer Auseinandersetzungen werden. Das Schicksal der Kinder im vom Bürgerkrieg zerrütteten Syrien oder der zur Arbeit gezwungenen Kinder in Ländern Asiens und Afrikas zeigt nur extreme Ausprägungen davon. Kinder als das schwächste Glied in der Gesellschaft unterliegen in besonderem Maße der Prägewirkung zeitgeschichtlich bedingter Prozesse und Veränderungen. Nun könnte man dagegen einwenden, dass zumindest in unserer Gesellschaft der kindlichen Entwicklung eine solche Aufmerksamkeit gezollt wird, dass vermeidbare Beeinträchtigungen und Schädigungen immer mehr reduziert werden. Aber liegen die Verhältnisse wirklich so einfach und fast ideal? Um dieser Frage nachzugehen, lohnt es sich, einen Blick auf die öffentliche Diskussion einiger Pro© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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blemfelder zu werfen, die das Kindeswohl unmittelbar berühren. Dabei kann die Thematik hier nur jeweils kurz angerissen werden. In den letzten Jahren wird die frühe Betreuung von Kleinkindern in Krippen intensiv und oft auch sehr heftig diskutiert. Dabei kann man sich oft des Eindrucks nicht erwehren, dass ökonomische und ideologische Interessen den Vorrang gegenüber dem Wohl der Kinder haben. Kritische Untersuchungen wie die NICHD-Studie (vgl. Textor, o. J.) werden nicht ausreichend zur Kenntnis genommen. Andererseits führt eine Idealisierung der rein mütterlichen Betreuung auch nicht weiter. Man wünschte sich eine stärkere Berücksichtigung des Kindeswohls, wozu auch Variablen wie Glück und Zufriedenheit der kleinen Kinder gehören. Einen ähnlichen Eindruck gewinnt man bei den öffentlichen Diskussionen über die Beschneidung kleiner Jungen bei Juden und Muslimen. Im Streit ideologisch und religiös fixierter Standpunkte vermisst man oft ein angemessenes Abwägen einer möglichen traumatischen Wirkung des Eingriffs gegenüber dem Wert des Aufwachsens von Kindern in einer traditionellen, Sicherheit und Rückhalt vermittelnden Religionsgemeinschaft. Die moderne Reproduktionsmedizin führt zu Entwicklungen, die schwerwiegende ethische Fragen aufwerfen. Dazu gehört auch die Frage der Adoption von Kindern durch homosexuelle Paare. Es ist als großer gesellschaftlicher Fortschritt zu betrachten, dass Lebensgemeinschaften homosexueller Partner gesellschaftlich und gesetzlich anerkannt werden. Es ist aber eine andere Frage, wie man zum Aufziehen von Kindern in solchen Partnerschaften steht. Wieder prallen in der Diskussion dieser Frage ideologische Standpunkte aufeinander, während dem Wohl der Kinder weniger Aufmerksamkeit beigemessen wird. Zu schnell wird für einen vermeintlichen Nutzen oder Schaden argumentiert, anstatt zu untersuchen, auf welche Weise Kinder in solchen Partnerschaften in ihrer Entwicklung beeinflusst werden. Diese hier nur kurz skizzierten Beispiele zeigen, wie auch heute die Entwicklung von Kindern und ihr Wohlergehen von zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst werden. Die Fragen, ob dies zu ihrem Wohl oder Schaden geschieht, werden oft weniger im Interesse der Kinder zu klären © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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versucht. Ideologische Standpunkte und ökonomische Interessen bestimmen viel stärker den öffentlichen Diskurs. Die Beschäftigung mit Kindheiten im Zweiten Weltkrieg hat die Wissenschaft und die Öffentlichkeit sensibilisiert gegenüber der Tatsache, dass Kinder durch gesellschaftliche Katastrophen, wie sie Kriege darstellen, in ihrer Entwicklung schwer beeinträchtigt und traumatisiert werden können, mit oft lebenslangen Konsequenzen für die seelische und körperliche Gesundheit. Die Fokussierung auf diese Fragestellung sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass das Wohlergehen von Kindern ständig durch zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Veränderungen beeinflusst wird. Auch heute kann dadurch das Kindeswohl beeinträchtigt werden. Die ausschließliche Zentrierung auf die sogenannten Kriegskinder kann auch der Abwehr dagegen dienen, diese Einflüsse angemessen zur Kenntnis zu nehmen. Kinder stellen das schwächste Glied in einer Gesellschaft dar. Ihr Wohlergehen sollte nicht im Wettstreit ideologischer Standpunkte und ökonomischer Interessen untergehen.

Literatur Bohleber, W. (2000). Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 54, 797–839. deMause, L. (1977). Evolution der Kindheit. In L. deMause (Hrsg.), Hört Ihr die Kinder weinen (S. 12–111). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hinze, E. (1986). The influence of historical events on psychoanalysis: A case history. The International Journal of Psychoanalysis, 67, 459–466. Leuzinger-Bohleber, M., Rüger, B., Stuhr, U., Beutel, M. (2002). »Forschen und Heilen« in der Psychoanalyse. Stuttgart: Kohlhammer. Textor, M. R. (o. J.). Die »NICHD Study of Early Child Care« – ein Überblick. In M. R. Textor (Hrsg.), Kindergartenpädagogik – Online-Handbuch. Zugriff am 09. 12. 2013 unter http://www.kindergartenpaedagogik.de/1602.html

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Kriegsprägungen und Transgenerationalität

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Johannes Kiess, Oliver Decker, Tobias Grave, Katharina Rothe, Marliese Weißmann und Elmar Brähler

Erinnertes elterliches Erziehungsverhalten und politische Einstellungen in den Generationen des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit1 – Ergebnisse der »Mitte-Studien« Sozialisation und Vorurteil Wegweisend für das genannte Thema waren die Studien zu Autorität und Familie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. In diesen wurde zum ersten Mal auf empirischer Grundlage der Zusammenhang von Sozialisation und antidemokratischer Einstellung untersucht. Der Befund wurde begriffsprägend und gab sowohl der noch in Deutschland durchgeführten wie auch der im Exil in Angriff genommenen Studie den Namen: »The Authoritarian Personality« (Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson u. Sandford, 1950; deutsch: »Die Autoritäre Persönlichkeit«), welche wiederum auf den weniger bekannten, aber richtungsweisenden »Studien über Autorität und Familie« aufbaute (Horkheimer, Fromm u. Marcuse, 1936/1987). Die Autoren kamen in ihren Studien zu dem Ergebnis, dass die antidemokratische Einstellung in Deutschland weit verbreitet und in allen politischen Lagern anzutreffen war. Dieser Befund wurde mit dem Konzept des Autoritären Charakters begründet, eine Erklärung, die bis heute diskutiert wird. Das Erscheinungsbild des autoritätsgebundenen Charakters haben die beiden Exponenten der Kritischen Theorie, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, nach ihrer Rückkehr aus dem Exil folgendermaßen beschrieben: »Diese Autoritätsgebundenheit bedeutet […] die bedingungslose Anerkennung dessen, was ist und Macht hat und dem irrationalen Nachdruck auf konventionelle Werte […] und entsprechend auf konventionelles, unkritisches Verhalten. […] man verhält 1

Dieser Beitrag ist die gekürzte und grundsätzlich überarbeitete Version eines 2012 erschienen Aufsatzes (Decker et al., 2012c).

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sich unterwürfig zu den idealisierten moralischen Autoritäten der Gruppe […], steht aber zugleich auf dem Sprung, den, der nicht dazugehört […] zu verdammen« (Horkheimer u. Adorno, 1952, S. 368). Weiterhin zeichne sich der autoritäre Charakter durch »Anerkennung jeglicher gegebener Ordnung« verbunden »mit einer Schwäche des Ichs« aus. Er beurteile die Welt nach »zweigeteilten Klischees und sei geneigt, die unveränderliche Natur oder gar okkulte Mächte für alles Übel verantwortlich zu machen«. Adorno und Horkheimer konstatieren den »unbewußten Wunsch nach Zerstörung«, den sich der autoritätsgebundene Charakter selbst nicht eingesteht, aber »in andere hineinsieht« und ihn dann als Verfolgung des Fremden, Abweichenden ausleben kann. »Immerzu phantasiert er von verbotenen und schlimmen Dingen, die in der Welt vorgehen, besonders auch von sexuellen Ausschweifungen« (S. 369). Diese »projektive Identifizierung« sei die Kehrseite der »auffälligen Beziehungslosigkeit, der Flachheit ihres Empfindens, auch den ihnen angeblich nächsten Menschen gegenüber« (S. 369). Mit dieser Quintessenz gaben Horkheimer und Adorno im Jahr 1952 eine kompakte Zusammenfassung dessen, was das Frankfurter Institut zwanzig Jahre zuvor schon beschäftigt hatte und womit der hohe methodische Aufwand der »Studien über Autorität und Familie« Anfang der 1930er Jahre begründet wurde. Dabei sind sowohl mit dem Begriff des »Charakters« als auch mit dem Begriff der »Familie« bereits wesentliche theoretische Annahmen zur Entstehung der Vorurteilsstruktur beim Namen genannt. Aufbauend auf der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie Sigmund Freuds wurde idealtypisch eine Sozialisationserfahrung beschrieben, welche die demokratische Gesellschaft durch die Vergesellschaftung ihrer Mitglieder von innen heraus bedrohte. Mit der Psychoanalyse sollte gelingen, was das programmatische Ziel des Instituts war: Erkenntnisse zu gewinnen über die Wirkung der Gesellschaft auf die in dieser Gesellschaft lebenden Individuen (Horkheimer, 1937, S. 199). Das war nun die Denkfigur, an welche die Autoren der »Studien über Autorität und Familie« anschlossen, als sie begannen, die Gesellschaft in ihrer Wirkungsweise zu untersuchen. Unter allen Sozialisationsinstanzen nahm aus © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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ihrer Sicht die Familie mit ihrem prägenden Einfluss eine grundlegende Funktion im engsten Sinne des Wortes ein. Sie betrachteten die Vergesellschaftung in eine autoritär strukturierte Gesellschaft, in der die frühe, in der Erziehung erfahrene Gewalt einerseits zu einer Anerkennung von Autoritäten überhaupt führte, andererseits zugleich eine Ambivalenz gegenüber diesen Autoritäten produzierte. Letzteres, weil sich die Anerkennung der Autorität über die Anerkennung der Gewalt vollzieht – der Gewalt der Eltern –, wie bei aller in der Sozialisation erfahrenen Unterwerfung unter eine herrschende Ordnung. Die »Studien zum Autoritären Charakter«, wie sie in der deutschen Übersetzung hießen, sind ein Meilenstein der empirischen Sozialforschung. Ungeachtet dessen waren empirische Forschungen zu diesem Konzept in den Sozialwissenschaften der Bundesrepublik lange Zeit eher die Ausnahme als die Regel (Pohrt, 1991, S. 21). Die meisten Studien widmeten sich dem Zusammenhang von objektiver sozio-ökonomischer Lage und politischer Einstellung und weniger den Bedingungsfaktoren bei der subjektiven Bewertung der sozioökonomischen Lage (exemplarisch Heitmeyer u. Mansel, 2008). Doch hat das Konzept des Autoritären Charakters die Forschung nie ganz losgelassen. So bezogen sich in den 1980er Jahren sowohl die SINUS-Studie (Greiffenhagen, 1981) als auch der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer (Heitmeyer, 1987) auf den Einfluss, den die sozio-ökonomische Lage wiederum auf die Ausbildung der politischen Einstellung nimmt. Inzwischen gibt es in der Forschung verschiedene Versuche, sich wieder an den Studien zum Autoritären Charakter zu orientieren. Das macht deutlich, dass die Rekonstruktion der Bedingungen politischer Einstellung auch in der Gegenwart auf breites Interesse stößt. In Anbetracht zahlreicher Veröffentlichungen wurde bereits festgestellt, dass die »Fieberkurve des wissenschaftlichen Outputs zum Autoritarismus« (Six, 1997, S. 224) nach oben zeigt. Dabei wird die Frage aktuell, ob und in welchem Zusammenhang eine verallgemeinerte Sozialisationserfahrung, zum Beispiel die Konzeption des »Autoritären Charakters«, heute noch Gegenstand der Forschung sein kann. Ein genauerer Blick macht deutlich, dass in den neueren wissenschaftlichen Untersuchungen zum Forschungsfeld »Autorita© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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rismus« von einem »Charakter« oder einer »Persönlichkeit« nicht mehr die Rede ist. Gesucht wird nach einem Einflussfaktor auf antidemokratische und zumeist rechtsextreme Einstellung, verzichtet wird auf die Annahmen zur Sozialisation und Persönlichkeit – und damit auf deutlich mehr als die psychoanalytische Vorstellung von der frühkindlichen Bildung der Psyche und ihrer Inhalte (und damit auch: auf das konstitutive Moment von Gewalt in der Sozialisation). Betrachtet man die aktuelle Forschung, so zeigt sich, dass nur noch wenige Wissenschaftler/-innen in der Tradition des Konzepts des Autoritären Charakters stehen, der Einfluss des Autoritarismus auf politische Einstellungen aber als gesichert gilt. Allerdings wird mit dem Autoritarismus eher ein stabiles kognitives Orientierungssystem beschrieben, das die Bindung an konventionelle Werte, autoritäre Unterwürfigkeit und Aggression beinhaltet (Winkler, 2001), während die Annahmen zur sozialisatorischen Begründung des Autoritarismus keine Rolle spielen. Als prominenteste Vertreter einer Autoritarismusforschung, die auf die psychoanalytischen Annahmen zur Sozialisation und Persönlichkeit ausdrücklich verzichtet und ein lerntheoretisches Modell des Erwerbs bevorzugt, können Oesterreich und Altemeyer gelten (Altemeyer, 1988; Oesterreich, 1998). In der Forschung ist die Ansicht weit verbreitet, dass zur Erklärung des Rechtsextremismus der Autoritarismus unter den konkurrierenden Forschungsansätzen die höchste Erklärungskraft hat (Fuchs, 2003); auf die psychoanalytische Annahme zur Sozialisation wird hingegen nur noch selten Bezug genommen. Eine der wenigen Ausnahmen stellen die am klassischen Autoritären Charakter orientierten Studien von Hopf und Hopf zum Zusammenhang von Bindungsverhalten, Gewalterfahrung und rechtsextremer Einstellung dar (Hopf u. Hopf, 1997). Aber auch Autoren und Autorinnen, die sich mit ihrer Forschung ausdrücklich in die Tradition der Studien zum Autoritären Charakter stellen, üben Kritik an diesem Konzept: Der Autoritäre Charakter, so der Vorwurf, beziehe sich als ein an der Psychoanalyse orientiertes Modell bei der Rekonstruktion der Entwicklung von rechtsextremer oder antidemokratischer Einstellung primär auf die Kindheit – und damit auf den kürzesten Zeitraum im Leben eines Menschen. Völlig außer Acht gelassen würden Entwicklungsaufgaben und Sozialisationserfahrungen über die gesamte Lebensspanne, die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404614 — ISBN E-Book: 9783647404615

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über die Ausbildung der Persönlichkeit mitentscheiden2. Mittlerweile wird der lebenslange sozialisatorische Einfluss als bestimmend für die politische Einstellung angesehen: Neben der Familie gelten andere Sozialisationsinstanzen – die Schule, Gleichaltrige und in zunehmenden Maße auch die Medien – als bedeutsam für die politische Sozialisation (Rippl, 2008, S. 448). Der Fokus der Forschung verlagert sich von der primären Sozialisation – der Kindheit in einer Kleinfamilie – auf die Bedeutung von Peers und Medien. Damit stellt sich die Frage, welcher Stellenwert die erfahrene Erziehung durch die Eltern noch bei der Erklärung von vorurteilsgebundener Einstellung haben kann. Auf Grundlage der in den seit 2002 an der Universität Leipzig durchgeführten »Mitte«-Studien zu rechtsextremer Einstellung gewonnenen Daten soll im Folgenden dieser Frage nachgegangen werden. Wir behalten dabei im Blick, dass die Generationen des »Zeitalters der Katastrophe« (Hobsbawm, 1994, S. 21 ff.), also die Zeitzeugen der beiden Weltkriege, besondere gesellschaftliche Verwerfungen in der Zwischenkriegszeit, während der Kriegsjahre und auch in den Nachkriegsjahren erlebten. In der Tat hatte die wie »The Authoritarian Personality« ebenfalls von Max Horkheimer herausgegebene Studie »Dynamics of Prejudice« schon sehr früh auf die Folgen von Kriegserfahrung, hier insbesondere bei Veteranen, hingewiesen (Bettelheim u. Janowitz, 1950). Aber auch in der Zivilbevölkerung sind die psychosozialen Folgen des Zweiten Weltkriegs bis heute nachweisbar (Decker u. Brähler, 2006).

Die »Mitte-Studien« Daten und Methode Die »Mitte«-Studien basieren auf seit 2002 im Zwei-Jahres-Rhythmus durchgeführten repräsentativen Surveys. Zwischen 2000 und 5000 Proband/-innen wurden jeweils mit einem Fragebogen zur 2

Die Argumentation kann hier nur im Groben nachgezeichnet werden, um die Abkehr von den sozialisatorischen Annahmen des Autoritären Charakters zu verdeutlichen. Eine Übersicht über den Stellenwert von Sozialisationserfahrungen und politischer Einstellung findet sich in einer neueren Veröffentlichung (Rippl, 2008).

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rechtsextremen Einstellung befragt, wobei auch weitere Fragestellungen untersucht wurden (Decker, Niedermayer u. Brähler, 2003; Decker u. Brähler, 2005; Decker, Brähler u. Geißler, 2006; Decker u. Brähler, 2008; Decker, Kiess, Weißmann u. Brähler, 2012a; Decker, Kiess u. Brähler, 2012b; Decker, Kiess u. Brähler, 2013). In den Jahren 2007 und 2008 wurde eine Gruppendiskussionsstudie durchgeführt (Decker, Rothe, Weissmann, Geißler u. Brähler, 2008), für die aus der Stichprobe der Erhebung von 2006 Teilnehmende für zwölf FokusGruppen im gesamten Bundesgebiet gewonnen werden konnten. In der Erhebung des Jahres 2006 kamen neben einer Autoritarismus-Kurzskala und dem Rechtsextremismus-Fragebogen in der Leipziger Form auch je ein Instrument zur Messung des erfahrenen elterlichen Erziehungsverhaltens, der Dominanzorientierung der Befragten sowie sexistischer Einstellung zum Einsatz. Aus diesem Grunde findet weiter unten eine Konzentration auf die Ergebnisse von 2006 statt. Die Ergebnisse sowohl aus den fragebogengestützten Erhebungen als auch aus der Gruppendiskussionsstudie werden aufeinander bezogen vorgestellt. Die Beschreibung der Methode und des Studiendesigns soll hier mit Rücksicht auf die Vorstellung der Ergebnisse nur kurz ausfallen. Mehr Gewicht wird auf den Ertrag des »mixed methods«-Vorgehens gelegt (Decker, Rothe, Weißmann, Kiess u. Brähler, 2013). Die Stärke einer Methodenkombination wird hier nicht in der hierarchischen Funktionszuweisung gesehen, etwa im Voranschreiten von einer explorativen Funktion der qualitativen Daten zu einer Hypothesenprüfung der quantitativen Daten, sondern in einer methodischen Triangulierung (Flick, 2010), wie sie auch andernorts in der Forschung zum Vorurteil Anwendung gefunden hat (Flecker, Kirschenhofer, Krenn u. Papouschek, 2005; Krüger u. Pfaff, 2006). Dabei formulieren wir als integratives Moment der beiden Daten das Kriterium eines verstehenden Zugangs zum in Frage stehenden Phänomen. Damit wird erkennbar nicht nach dem methodischen Zugang, sondern nach dem Erkenntnisinteresse, welches einer Forschung zugrunde liegt, unterschieden (Habermas, 1968).

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Erfahrene Erziehung und rechtsextreme Einstellung – Ergebnisse der Repräsentativerhebung in den »Mitte«-Studien Entsprechend der Ausgangsfrage der »Mitte«-Studien zur rechtsextremen Einstellung in Deutschland ist ein Fragebogen zur rechtsextremen Einstellung das Kernelement der Erhebung. In diesem Fragebogen wird entlang von 18 Aussagen diese politische Einstellung erhoben (zu den Gütekriterien des Fragebogens: vgl. Decker, Hinz, Geißler u. Brähler, 2013). Die Proband/-innen werden gebeten, ihre Position zu diesen Aussagen auf einer fünfstufigen Skala von »lehne voll und ganz ab« bis »stimme voll und ganz zu« zu bestimmen. Die Aussagen werden den Dimensionen »Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur« (z. B. »Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit harter Hand regiert«), Chauvinismus (z. B. »Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland«), Ausländerfeindlichkeit (z. B. »Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet«), Antisemitismus (z. B. »Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen«), Sozialdarwinismus (z. B. »Es gibt wertvolles und unwertes Leben«) und Verharmlosung der NS-Vergangenheit (z. B. »Der Nationalsozialismus hatte auch seine guten Seiten«) zugeordnet. Für die folgende Darstellung wurde der prozentuale Anteil derjenigen ermittelt, welche im Durchschnitt allen 18 Aussagen des Fragebogen zustimmten. Diese Gruppe bezeichnen wir als manifeste Rechtsextreme mit geschlossenem Weltbild. Für die weitere Untersuchung wurde die Stichprobe von 2006 in sechs Alterskohorten unterteilt. Damit können ausreichend große Untersuchungsgruppen gebildet werden, bei denen auch Veränderungen der Erziehungserfahrung über die Generationen beschreibbar werden (siehe Tabelle 1).

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Tabelle 1: Altersgruppe und rechtsextreme Einstellung 2006 Geburtsjahrgänge

Anzahl (% der Gesamtstichprobe)

davon %-Anteil manifest rechtsextrem Eingestellter

vor 1940

974 (20,3 %)

12,6 %

1940–1949

808 (16,8 %)

8,9 %

1950–1959

830 (17,3 %)

9,8 %

1960–1969

911 (19,0 %)

5,7 %

1970–1979

639 (13,3 %)

7,5 %

ab 1980

636 (13,3 %)

5,5 %

insgesamt

4798

8,6 %

Während in der Gesamtstichprobe 8,6 % eine manifeste und geschlossene rechtsextreme Einstellung aufweisen, können über die Altersgruppen deutliche Unterschiede festgestellt werden. Der hohe Anteil von manifest Rechtsextremen bei den Geburtsjahrgängen vor 1940 bestätigt sich darin, dass sie zwar nur 20,3 % der Befragten stellen, aber 29,9 % der manifest Rechtsextremen (diese und die folgende Angabe zum Anteil bei den manifest rechtsextrem Eingestellten ohne Abbildung). Diese Differenz ist bei den Geburtsjahrgängen zwischen 1960 und 1969 mit umgekehrten Vorzeichen anzutreffen. Diese Jahrgänge stellen 19 % der Befragten, aber nur 12,7 % der manifest Rechtsextremen. Bei den Jahrgängen von 1940 bis 1959 entspricht der Anteil an Rechtsextremen jeweils etwa dem erwarteten bzw. dem Bevölkerungsanteil. Der Anteil der Personen mit rechtsextremen Einstellungen ist über die Altersgruppen signifikant unterschiedlich (Pearson’s p