Das romantische Drama: Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation [Reprint 2012 ed.] 9783110911596, 9783484321038

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German Pages 296 [300] Year 2000

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Table of contents :
Vorwort
Romantisches Drama. Befragung eines Begriffes
Die Theorie des romantischen Dramas bei Friedrich Schlegel
Narrenfiguren in der dramatischen Literatur der Romantik
Szenen der »Verwandlung«. Novalis und das Drama
Ludwig Tiecks Leben und Tod der heiligen Genoveva. Konzept und Struktur im Kontext des frühromantischen Diskurses
Clemens Brentano: Die Schwelle als Schwäche oder Stärke des romantischen Dramas?
Durch die Wüste. Achim von Arnims uferloses Drama Halle und Jerusalem
Dramaturgie der Vertauschung. Achim von Arnims Die Päpstin Johanna
Verworrne Doppelschrift. Christlich-nationale Erneuerung und poetische Ambivalenz in Eichendorffs Ezelin von Romano
Dramaturgie der Zerstreuung. Schiller und das romantische Drama
Zeitgenossenschaft. Kleists Amphitryon, ein romantisches Drama
Der schizoide Mund. Nachwirkungen von Tiecks Verkehrter Welt auf die Produktionsgrammatik späterer Autoren
Romantische Verdopplungen – komische Verwechslungen. Von der romantischen Reflexionsphilosophie über die Verwechslungskomödie zur Posse und zurück
Literatur zum Drama der Romantik (Auswahl)
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Das romantische Drama: Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation [Reprint 2012 ed.]
 9783110911596, 9783484321038

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 103

Das romantische Drama Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation

Herausgegeben von Uwe Japp, Stefan Scherer und Claudia Stockinger

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Das romantische Drama : produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation / hrsg. von Uwe Japp .... - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; Bd. 103) ISBN 3-484-32103-2 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Gerhard Schulz Romantisches Drama. Befragung eines Begriffes

VII

1

Michele Cometa Die Theorie des romantischen Dramas bei Friedrich Schlegel

21

Jürgen Brummack Narrenfiguren in der dramatischen Literatur der Romantik

45

Johannes Endres Szenen der »Verwandlung«. Novalis und das Drama

65

Ludwig Stockinger Ludwig Tiecks Leben und Tod der heiligen Genoveva. Konzept und Struktur im Kontext des frühromantischen Diskurses

89

John Francis Fetzer Clemens Brentano: Die Schwelle als Schwäche oder Stärke des romantischen Dramas?

119

Detlef Kremer Durch die Wüste. Achim von Arnims uferloses Drama Halle und Jerusalem

137

Uwe Japp Dramaturgie der Vertauschung. Achim von Arnims Die Päpstin Johanna

159

VI

Inhaltsverzeichnis

Stefan Scherer Verworrne Doppelschrift. Christlich-nationale Erneuerung und poetische Ambivalenz in Eichendorffs Ezelin von Romano

175

Claudia Stockinger Dramaturgie der Zerstreuung. Schiller und das romantische Drama.. 199 Hans Joachim Kreutzer Zeitgenossenschaft. Kleists Amphitryon, ein romantisches Drama. . . 227 Volker Nolle Der schizoide Mund. Nachwirkungen Tiecks Verkehrter Welt auf die Produktionsgrammatik späterervon Autoren

241

Ralf Simon Romantische Verdopplungen - komische Verwechslungen. Von der romantischen Reflexionsphilosophie über die Verwechslungskomödie zur Posse und zurück

259

Literatur zum Drama der Romantik (Auswahl)

281

Vorwort

Die Beiträge des vorliegenden Bandes dokumentieren eine Tagung, die vom 13. bis 15. September 1999 an der Universität Karlsruhe unter dem Titel Produktive Synthese. Das romantische Drama zwischen Anverwandlung der Tradition und Innovation der Form stattgefunden hat. Ausgangspunkt war die Beobachtung, daß die dramatische Produktion romantischer Autoren bislang noch nicht systematisch gewürdigt worden ist. Dafür gibt es zwei Gründe: zum einen die von der frühromantischen Theorie profilierte Orientierung am Roman als dem romantischen Buch; genauer untersucht sind deshalb Formen romantischer Prosa vom Kunstmärchen bis zum Universalroman sowie - über deren Musikalisierung - die romantische Lyrik. Zum anderen reicht aus wertender Perspektive der Beitrag der Romantiker zum Drama nicht an ihre erzählerischen und lyrischen Hervorbringungen heran, wobei die Theaterferne bzw. Bühnenuntauglichkeit als Problem benannt wird. Tieck dagegen attestiert auch dem >Universaldrama< eine ganz ähnliche Produktivität wie Schlegel dem Roman. Gegen die Theaterferne wiederum ist eine der originellsten Erfindungen der Romantik geltend zu machen: die schriftliche Inszenierung des Dramas, das in zahlreichen Fällen durchaus für die Bühne konzipiert war. Die Tagung behandelte demnach eine gegenüber dem zeitgleichen >klassischen< Drama vernachlässigte generische Konstellation, deren eigenständige Verfaßtheit auf ihre Vor- und Wirkungsgeschichte hin perspektiviert werden sollte. Werden für das Drama der Klassik Kriterien der Einheit, der Höhe und des Maßes vorgebracht, so für das romantische Drama Versatilität, Mischung und Witz, also Vielgestaltigkeit. Dem entspricht, daß dabei sehr unterschiedliche Traditionen wirksam werden, von Aristophanes über Shakespeare, Calderón, die Commedia dell'arte zu den >Volksbüchern< oder Märchenvorlagen. Bei den bislang vorliegenden Forschungsbeiträgen zum romantischen Drama handelt es sich um knappe Überblicksdarstellungen,1 die von der

Roger Paulin: The Drama. In: The Romantic Period in Germany, hg. von S. Prawer, New York 1970, S. 172-203; Alan Menhennet: Romantic Drama (General). In: The Romantic Movement, London 1981, S. 108-125; John Fet-

Vili

Vorwort

Leitfrage ausgehen, welche Texte dieser Form zuzurechnen seien und inwieweit von einem romantischen Drama überhaupt gesprochen werden könne.2 Die konkrete Beschreibung der Stücke läßt jedoch implizit klassizistische Kategorien erkennen, so, wenn Kluge auf der Suche nach einem »unverwechselbaren Formtyp« dramatischer Texte in der Romantik die »Idee der Entzweiung« und deren Überwindung zum »Wesenskern« einer »Theorie des romantischen Dramas« erklärt.3 In anderer Weise legt Schmidt dem romantischen Drama und seiner Theorie problematische, nämlich an der Wirkungsästhetik des 18. Jahrhunderts ausgerichtete Beurteilungskriterien zugrunde, wenn er es auf seine gemeinschaftsbildende politische Funktion im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen seit der Französischen Revolution vereinseitigt. Aus dieser Perspektive erscheint das von ihm behandelte Korpus (in der Hauptsache bestehend aus den in Friedrich Kinds Harfe zwischen 1815 und 1819 publizierten Dramen) von der Auswahl ebenso wie in literaturgeschichtlicher Kontextualisierung kontingent.4 Neben der stilgeschichtlichen Übersicht von Gerhard Storz5 bietet nur Gerhard Schulz in seiner Literaturgeschichte einen weniger wertenden als beschreibenden Überblick über die dramatische Produktion der Romantik, deren Vielfalt vom Universaldrama über das Historiendrama bis zum Mysterienspiel in kurzen Darstellungen vorgeführt wird.6 Ausführlicher untersucht ist in diesem Zusammenhang die Komödie der Romantik. Im Vordergrund der Forschung stehen die satirischen Implikationen der >interesselosen< Spielkomödie, das Verhältnis von »Poesie und Polemik«7 und typologische Fragestellungen, die zwischen satirischen und

2

3 4

5

6

7

zer: Das Drama der Romantik. In: Romantik-Handbuch, hg. von Helmut Schanze, Stuttgart 1994, S. 289-310. Gerhard Kluge: Das romantische Drama. In: Handbuch des deutschen Dramas, hg. von Walter Hinck, Düsseldorf 1980, S. 186-199. Kluge: Das romantische Drama (wie Anm. 2), S. 187, S. 190. Peter Schmidt: Romantisches Drama. Zur Theorie eines Paradoxons. In: Deutsche Dramentheorien I. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland, hg. und eingeleitet von Reinhold Grimm, Frankfurt/M. 1971, S. 245-269, v. a. 234-238. Gerhard Storz: Klassik und Romantik. Eine stilgeschichtliche Darstellung, Mannheim-Wien-Zürich 1972, S. 205-239. Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Bd. 1: Das Zeitalter der Französischen Revolution 17891806, München 1983, S. 528-570; Bd. 2: Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration 1806-1830, München 1989, S. 562-628. Ernst Ribbat: Poesie und Polemik. Zur Entstehungsgeschichte der romantischen Schule und zur Literatursatire Ludwig Tiecks. In: Romantik. Ein litera-

Vonvort

IX

spielerischen Lustspielen unterscheiden; 8 insbesondere die Spiel-im-SpielStruktur hat hier Beachtung gefunden. 9 Einen komparatistischen Ansatz bietet der von Gerald Gillespie herausgegebene Sammelband Romantic Drama,10 der den von Gerhart Hoffmeister beschriebenen europäischen Charakter der Romantik" auf den Bereich des Dramas ausweitet. Das Hauptinteresse der Auseinandersetzungen mit dem romantischen Drama sollte auf der Vermittlung zwischen aktueller Romantikforschung und der dramatischen Literatur der kanonisierten romantischen Autoren liegen. Für den vorliegenden Tagungsband ergab sich daraus eine Dreiteilung der Beiträge. Am Anfang stehen Untersuchungen zur Konstituierung des Gegenstands (Gerhard Schulz), zur Theorie des romantischen Dramas (Michele Cometa) und zur Struktur der romantischen Komödie (Jürgen Brummack). Daran schließen sich autor- und werkzentrierte Deutungen an (Johannes Endres, Ludwig Stockinger, John Fetzer, Detlef Kremer, Uwe Japp, Stefan Scherer). Abschließend folgen Beiträge zum dramengeschichtlichen Kontext (Claudia Stockinger, Hans Joachim Kreutzer) und zur Wirkungsgeschichte (Volker Nolle, Ralf Simon). Ermöglicht wurde die Tagimg durch verschiedene Institutionen, die uns mit finanziellen Mitteln großzügig unterstützt haben: Zu nennen sind die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Ministerium für Forschung, Wissenschaft und Kunst des Landes Baden-Württemberg, die Karlsruher Hochschulvereinigung und die Sparkasse Karlsruhe, nicht zuletzt das Rektorat der Universität Karlsruhe und die Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften.

Karlsruhe 2000

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Die Herausgeber

Unwissenschaftliches Studienbuch, hg. von E. R., Königstein/Ts. 1979, S. 5 8 79. Gerhard Kluge: Spiel und Witz im romantischen Lustspiel. Zur Struktur der Komödiendichtung der deutschen Romantik, phil. Diss. Köln 1963; Jürgen Brummack: Komödie und Satire der Romantik. In: Europäische Romantik I, hg. von Karl Robert Mandelkow, Wiesbaden 1982, S. 273-290; Uwe Japp: Die Komödie der Romantik. Typologie und Überblick, Tübingen 1999. Vgl. z. B. Manfred Schmeling: Das Spiel im Spiel. Ein Beitrag zur Vergleichenden Literaturkritik, Rheinfelden 1977. Romantic Drama, hg. von Gerald Gillespie, Amsterdam-Philadelphia 1994. Gerhart Hoffineister: Deutsche und europäische Romantik, Stuttgart 1978.

Gerhard Schulz

Romantisches Drama. Befragung eines Begriffes

1. Fragen sind der Anfang aller Wissenschaft. Soll ernsthaft vom romantischen Drama< die Rede sein, so wird sich dieser Begriff die Frage gefallen lassen müssen, ob er überhaupt einer sei. Denn genau genommen handelt es sich ja eigentlich um ein Begriffspaar, dessen beide Bestandteile von höchst unterschiedlicher Natur sind. Was ein Drama ist, darüber besteht prinzipielles Einverständnis, in welchen Formen auch immer es auftreten mag. Ein »ächter dramatischer Dichter« sei derjenige, »der alles dem Auge vorführt und den Zuschauer alles selber sehen läßt«,' erklärt Ludwig Tieck in seinem Aufsatz über Shakspeare 's Behandlung des Wunderbaren: Gestalten sprechen und agieren im Drama vor unseren Augen und Ohren. Mit dem Romantischen hingegen ist es schwieriger bestellt, denn seine Bedeutungen sind so zahlreich und unterschiedlich, wie es Blumen auf einer Sommerwiese gibt. Vor jedem Gebrauch dieses Begriffes ist also zunächst Einverständnis über seine jeweilige Verwendimg herzustellen. Für die Literaturwissenschaft sind >Romantik< und >romantisch< historische Begriffe, und für die Germanistik insbesondere stellt sich assoziativ sogleich die Temporalbezeichnung >um 1800< ein. Allerdings ist dabei eine Erfahrung ähnlich derjenigen zu machen, die dem Betrachten der Fraktale moderner Chaos-Philosophie entspricht: daß nämlich jede Annäherung an Details nur immer wieder neue, komplexere Detailsysteme sichtbar werden läßt. Bei dem Begriff >romantisches Drama< etwa treten für die Gebildeten unter den Germanisten sogleich gewisse Namen ins Bewußtsein, derjenige Tiecks wohl an erster Stelle, denn vor allem dessen Gestiefelter Kater und vielleicht auch noch der Prinz Zerbino sowie das Trauerspiel von Leben und Tod der heiligen Genoveva haben in der Literaturgeschichte so etwas wie romantische Klassizität erreicht, auch wenn ihre Bekanntheit begrenzt und ihre Verfügbarkeit beschränkt ist. Derartige

Ludwig Tieck: Kritische Schriften, Leipzig 1848 (Nachdruck Berlin-New York 1974), Bd. 1, S. 74.

2

Gerhard Schulz

Stiefväterlichkeit scheint ohnehin symptomatisch für das >romantische Drama< zu sein: in der Arnim-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags sind seine Dramen entgegen dem ursprünglichen Plan erklärungslos unter den Redaktionstisch gefallen, und dabei war Arnim der wohl fruchtbarste deutsche Dramatiker seiner Zeit. Zacharias Werner, den die Madame de Staël immerhin als den nach Schillers Tod »ersten dramatischen Schriftsteller Deutschlands«2 bezeichnete, ist nur im Nachdruck einer ungenügenden zeitgenössischen Ausgabe erreichbar. Lediglich Clemens Brentanos Dramen sind gut ediert zugänglich. Vorauszusetzen ist eine umfassende Kenntnis der dramatischen Produktion Arnims, Brentanos, Tiecks oder Werners selbst unter Fachleuten kaum. Das gilt wahrscheinlich noch mehr für Fouqué, von dem es immerhin ein paar Dutzend Schauspiele gibt, oder von den Dramen Eichendorffs und Uhlands. Die Frage, ob für ein solches Defizit nicht nur mangelnde Bildungsbereitschaft, sondern auch der Gegenstand selbst verantwortlich sein könnte, muß erlaubt sein. Man gesteht den eben genannten Autoren samt ihren Werken gemeinhin eine Art von >Romantizität< a priori zu und stützt sich dabei in der deutschen Literaturwissenschaft traditionell auf Definitionen dieses Begriffes, denen zeitgenössische Bestimmungen wie Friedrich Schlegels 116. Athenäums-Fragment zugrunde liegen, worin bekanntlich das Romantische zusammengebracht wird mit der Vorstellung einer »progressiven Universalpoesie«, die dereinst »alle getrennte Gattungen der Poesie« vereinigen und »das Leben und die Gesellschaft poetisch machen«3 sollte. Je weiter man sich jedoch in der Literatur jener Jahrhundertwende umsieht, desto schwieriger wird es, mit dem Begriff >romantisch< sicher und überzeugend zu operieren. Die Brüder Schlegel zum Beispiel, ohne die es >Romantik< für die Literaturwissenschaft sicherlich nicht gäbe, haben jeder ein Drama geschrieben. Aber waren dieser Ion und dieser Alarcos, die unter dem Gelächter des Publikums in Weimar durchfielen, tatsächlich romantische »Universalpoesie« und hatten sie es nach dem Willen der Autoren überhaupt sein sollen? Wie steht es mit der Romantizität bei sekundären Talenten wie Heinrich von Collin, Wilhelm von Schütz, Adolph Müllner oder Theodor Körner, dessen Zriny 2

3

Anne Louise Germaine de Staël-Holstein: Über Deutschland. Aus dem Französischen übertragen sowie mit einem Nachwort und Anmerkungen versehen von Robert Habs, München [o. J.], S. 284. Friedrich Schlegel: 1794-1802. Seine prosaischen Jugendschriften, hg. von J. Minor, Wien 1882, Bd. 2, S. 220.

Romantisches Drama

3

Szenen über Brautnacht und Tod enthält, die klingen, als hätte ein martialischer Zwilling von Novalis sie verfaßt? Und wie sieht es gar mit der Romantizität von Hölderlins EmpedoHes, den Dramen der Gtinderrode, Kleists oder Goethes und Schillers aus? Schiller nennt seine Jungfrau von Orleans »eine romantische Tragödie«. Aber war sie das und wenn ja, was ist dann darunter zu verstehen? Es wird nicht wenige Begriffspuristen geben, die Schiller den Gebrauch des Begriffes für ein eigenes Werk ganz einfach verbieten möchten, gilt er ihnen doch als >Klassiker< und nicht als >RomantikerGroßerzählungenromantischRevision< ihrer inneren Beziehungen, eine nüchterne und respektlose >Neuschreibung< und >Rekonstruktion< der Inhalte. Hier kündet sich die Idee einer »praktischen Literatur« an, wie er sie nennt, d. h. die Kunst, Form zu geben und gleichzeitig umzuformen, den Buchstaben zu demütigen zum Vorteil des Geistes: »Die >διασκευη< muß eine Polemik gegen den Buchstaben sein« liest man in den Philosophischen Lehrjahren. Die Deutung der literarischen und philosophischen Texte entwickelt sich also in drei Vorgängen: die Charakterisierung, die Zergliederung und die διασκευή, mit anderen Worten also die Analyse, die Dekonstruktion und der Wiederaufbau in einem völlig neuen Geiste. Auf diese Weise ist die διασκευή ein Beginnen und eine Grundlegung zu einer neuen Ausführung. Welch besseres Feld, um die Theorie der >Restruktion< anzuwenden, als die Apokryphen Shakespeares, wo es darum geht, von den kleinsten Elementen aus das Netz der Beziehungen zu den großen Dramen sicherer Herkunft zu rekonstruieren?

5.

Die bisher erwähnten Materialien fließen in die Pariser Vorlesungen über die Wissenschaft der europäischen Litteratur ein, in denen der griechischen Tragödie und Komödie viel Raum gegeben wird, ohne daß deshalb die Grundlage verblaßt, auf der Schlegel seine geschichtlichen und systematischen Abhandlungen umreißt: das neue moderne Drama. In der Charakteristik der griechischen Komödie, der vollkommensten und jedenfalls der wichtigsten Abhandlung, die Schlegel dem Thema gewidmet hat (es genügt eine Gegenüberstellung mit den Vorlesungen des Bruders), ist es kein Zufall, daß der Zerbino des Freundes Tieck plötzlich hervorblinzelt. Ein bedeutsames Beispiel eines romantischen Dramas, welches für Schlegel die vollkommenste Inkarnation des dramatischen Witzes darstellt. Im 8

KA 18,48 [303],

Die Theorie des romantischen

Dramas bei Friedrich

Schlegel

27

übrigen breitet er in seinen der Komödie gewidmeten Pariser Vorlesungen von 1803 die Theorie des Witzes in ihrer ganzen Komplexität aus und ist entschieden auf eine Grundlegung des modernen Dramas ausgerichtet.

6.

Es gibt endlich - und hiermit beschließen wir diesen kurzen excursus eine letzte große Phase der Überlegungen über das moderne Drama. Diese wird jetzt von Beiträgen belebt, welche ein neues Stadium in Friedrich Schlegels Denken reflektieren. Unschwer in Weiterfuhrung der vorhergegangenen lesbar - wie es beim gesamten theoretischen Schlegel möglich ist - , zeigt diese aber im Namen des Übertrittes zum katholischen Glauben die endgültige Umdeutung seines theoretischen Wortschatzes und nicht nur bei der Theorie des Dramas (man sollte auch die kurzen, aber treffenden theatralischen Rezensionen des Wiener Österreichischen Beobachters nicht vergessen und sie mit einer ausführlichen Abhandlung würdigen). Die Gliederungen der Theorie der dramatischen Gattungen ändern sich, oder besser gesagt, sie zeichnen sich deutlicher ab; neue, voll entwickelte romantische Formen werden in die historisch-ästhetische Systematik aufgenommen, es ändern sich auch die Methoden und die Ziele der Kombinationen unter diesen Formen. Zum Beispiel ist die katholische Umfiinktionierung der Triaden, welche die Theorie der Gattungen untermauert hatten, besonders bedeutungsvoll: Die epische, mythische Poesie entspricht d[er] Fülle, Erhabenheit, Würde nach d[em] Prinzip d[es] Vaters. Die Tragödie entspricht d[em] Prinzip d[es] Sohns - die festl[iche] κωμ [Komödie] dem Prinzip des Geistes.'

Die Starre dieser triadischen Struktur weicht bald einem biegsameren und offenen System der Gattungen, die miteinander in Bezug stehen und die wesentlich in der großen dramatischen romantischen Form zusammenfließen werden. Hier ist die ursprüngliche Ansicht Schlegels immer noch vorherrschend: die Vermischung des Tragischen und des Komischen10 in einer neuen Form, welche - wie wir am Ende dieser Abhandlung in Erinnerung bringen werden - in mehreren Punkten die Ergebnisse des Melo-

9 10

KA 17, 74 [209], Vgl. KA 17, 316 [246]: »Im romantischen Drama sollte ein tragischer und ein KOMISCHER Chor Statt finden [...]«.

28

Michele Cometa

dramas des neunzehnten Jahrhunderts und der Wagneropern vorwegnimmt.

7.

Diese ausfuhrliche Zusammenstellung der einzelnen Phasen von Schlegels >dramaturgischer Sendung< war \nötig, um die Gesamtheit seines kritischen Werdeganges hervorzuheben, der sonst unterbewertet oder zumindest nur als gelegentliche Konfrontation eines fruchtbaren und genialen Denkers betrachtet werden könnte, die aber nicht im Zusammenhang mit der wirklichen Entwicklung der romantischen Poetologie steht. Die Dauer und Beständigkeit einiger roten Fäden in Schlegels Denken lassen jedoch vermuten, daß seine Theorie die romantische Poetik des Dramas beeinflußt hat, und sei es nur durch die umfangreichen Beziehungen des Autors. Eines dieser Leitmotive ist das wahrhaft frühzeitige Interesse für Aristophanes als Klassiker der Moderne. In seiner frühen geschichtlichen Systematik, die während der neunziger Jahre noch unter dem Einfluß Winckelmanns und Lessings geplant worden war, wird uns einerseits die Triade der Tragiker nach der Idee dargeboten, daß wir uns in Gegenwart einer »Naturgeschichte des Schönen und der Kunst«11 befinden, wo die »harte Größe ohne Anmut« des Aischylos aufgehoben wird im erhabenen Schönen des Sophokles und, durch die »kraftvolle und gesetzlose Schwelgerei« des Euripides,12 in die endgültige Krise getrieben wird; andererseits ist es dank Aristophanes, der mit seiner Komödie das einzige Gegenstück zum Tragischen bietet, so daß Athen, die Polis, ihre perfekte poetische Inkarnation erreicht: Das lenkende oder vielmehr herrschende Prinzip vom Anfange der Athenischen Schulen bis zu Ende war der öffentliche Geschmack, und dieser war nichts als reine Äußerung der öffentlichen Sittlichkeit [...]. Besonders die poetische Darstellung des öffentlichen Lebens, die alte Komödie, ist davon ein erhabenes Beispiel.13

11

12 13

Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm (wie Anm. 2), S. 173. K A I , 537. K A I , 13.

Die Theorie des romantischen Dramas bei Friedrich Schlegel

29

Es ist, als ob die Tragödie - eine Gattung, welche eine Entwicklung von Aischylos' Natürlichkeit zur Schönheit Sophokles' und zur Künstlichkeit Euripides' durchmacht - vom Zusammenleben mit der antiken Komödie erleuchtet würde und so ihre Aufgabe der Öffentlichkeit und der öffentlichen Moralität enthüllt. Daß Kunst grundsätzlich mit dem Bereich der Sittlichkeit zu tun hat, scheint gerade im Zusammenhang mit Winckelmann klar, in dem sich diese Schlegelschen Überlegungen entwickeln. Es ist kein Zufall, daß Sophokles' tragische Kunst, wo die allzu menschliche Tragik des Aischylos in eine ideale Schönheit auf Kosten des Ausdruckes erhoben wird - man denke nur an die berühmte Beschreibung des Laokoon - , in einen Vergleich mit der Bildhauerei14 gesetzt wird und die Beispiele der Niobe und des Laokoon hervorgehoben werden. Ein Topos, welcher, bereits von Lessing vorweggenommen, bis zu den Vorlesungen August Wilhelms weiterleben wird. Schlegel denkt das Tragische als >WeltschmerzVielheitZwiespalt< gezwungen wird. Dieses Leiden kann als reiner Schmerz Gottes dargestellt werden - wie es bei Aischylos ist - oder als versöhnender Schmerz des Menschen: Und wenn wir nirgends so erhabene Darstellungen eines wahrhaft göttlichen Leidens finden als im Äschylus, so finden wir nirgends so harmonisch schöne des menschlichen Leidens als im Sophokles [...]. Er nahm nicht das Ganze tragisch, sondern mehr schön; nur das einzelne nahm er tragisch. Gerade wie im Laokoon das höchste mögliche Leiden und der Schmerz ausgedrückt sind, aber durchaus mit der größten Schönheit und Anmut, so auch im Sophokles. Alles auch noch so harte und schwere Leiden löst sich bei ihm in stillen, ruhigen Schmerz und Anmut auf.16

Wenn der Vergleich mit der Bildhauerei Schlegels frühe Gedanken innerhalb eines rigorosen Klassizismus hält, so öffnet sein Interesse für Euripides und die >Episierung des Dramas< eine neue Perspektive. Gerade die Episierung des Dramas berechtigt Schlegel in seiner Suche nach einem Drama, welches »wie ein Roman« in sich sowohl Momente des ausdrück14

15 16

Vgl. noch 1811, KA 17, 267 [171]: »Ist die dramatische π [Poesie] vielleicht] mit d[er] Sculptur am nächsten verwandt? -«, und auch den Vergleich zwischen Sophokles und Polyklet im Studium-Aufsatz (ΚΑ 1, 297). K A U , 79. KA 11,79.

30

Michele Cometa

lieh philosophischen Denkens aufnehmen kann wie auch Formen der Selbstironie, welche, wie bekannt, den Grundgedanken seiner romantischen Theorie darstellen. Euripides ist bei Schlegel eindeutig der >Zerstörer< der griechischen Tragödie, derjenige, der die Harmonie mit Künstlichkeit ersetzt hat, die Kraft mit Weichlichkeit, die Gesamtheit mit Einzelheiten." Er ist jedoch auch derjenige, der paradoxerweise das Drama wieder zur epischen Totalität zurückgeführt hat, zur >göttlichen Fülle< Homers und vor allem zur Philosophie. 18 Deshalb nähert sich Euripides, der immer die Verständlichkeit und Anmut gesucht hat, der >neuen Operanders< zu verstehen, aus sich selbst herauszutreten, der unendlichen Fülle des Lebens entgegen: In jedem auat[systematischen] Werk muß ein Prolog sein, ein Epilog und ein Centrolog (oder eine Parekbase). - Je centrischer, je systematischer. - 3 2

Die Parekbase ist deshalb vor allem eine Charakteristik des Romans, der an mehreren Stellen durch das Ausleihen der Kategorien der Komödie beschrieben wird: »Parekbase und Chor jedem Roman nothwendig (als Potenz)/«.33 Und die Definition der Komödie bedient sich ihrerseits des weiten Repertoires der Theorie des Romans. In der Charakteristik der griechischen Komödie der Pariser Vorlesungen ist es nicht schwer für diejenigen, die Schlegels Ästhetik kennen, die charakteristischen Züge der Theorie des Romans herauszufinden: Jene Regellosigkeit der alten Komödie war also nicht Mangel an Kunst und bloße unpoetische Willkür, wie dies auch schon die kunstreiche Ausführung der einzelnen Teile [...] zeigt, sondern sie liegt in dem Charakter der Gattung selbst, wenn diese streng gesondert wird. Die Unverträglichkeit der Parekbasis mit der Einheit ist bloß scheinbar. Es gibt hier eben, weil es reine Komödie ist, 30 31 32 33

KA11, 88. KA 16, 118 [397]. KA 16, 164 [942], KA 16,265 [133],

Die Theorie des romantischen Dramas bei Friedrich

Schlegel

35

eine durchaus und total verschiedene Einheit von der in der Tragödie und allen ernsthaften Werken. Diese eigentümliche Einheit der Komödie entspricht vollkommen dem Inhalt derselben, wo alles, also auch die Handlung selbst, Witz, Scherz und Spiel ist, eine Handlung, die ohne allen Zweck und alle Absicht sich in sich selbst auflöst, durchaus unsinnig, närrisch und possenhaft ist. Eben diese Regellosigkeit, Formlosigkeit, Wildheit und absolute Willkürlichkeit der Handlung ist die schönste und beste Form der Komödie.34 In einer späteren Kölner Vorlesung von 1807 wird der chronologische und ästhetische Zusammenhang zwischen den Gattungen des Romans und der Komödie deutlich, wie auch in den Fragmenten von 1797: Sollte es nicht ein Dichtungswerk geben können das zugleich Roman und classischfej Komödie wäre, wo Mythologie in d[er] Zukunft läge, in Geist und Buchstabe classisch und doch universell und progressiv? Das Instrument dieser progressiven und die Zukunft vorausreichenden >Behandlung< ist die Ironie. So kann Schlegel sagen: »Die Ironie ist eine permanente Parekbase«36, welche der Roman dank seiner Vorliebe für das Humoristische erträgt. »Der Roman tendenzirt zur Parekbase/ welche fortgesezt etwas humoristisches hat«.37 Es wundert deshalb nicht, daß wir gerade in der Charakteristik der Komödie - wie wir bereits sehen konnten - eine der glänzendsten Abhandlungen über den Witz finden, den genetischen Grundsatz der Schlegelschen Poetologie: In der alten griechischen Komödie finden sich nun alle diese Bedingungen, die den Witz zum wahren, unendlichen, göttlichen Witz erheben, vollkommen vereinigt. Hier herrscht die unbedingteste, gesetzloseste Freiheit der Phantasie, die ausgelassenste Willkür in Hinsicht der Wahl und Behandlung der Gegenstände, eine unendliche Fülle der drolligsten, abenteuerlichsten Erfindungen, der possenhaftesten Zusammenstellungen und Parodien ernster, ehrwürdiger Dinge.38 Die Komödie ist jedoch wesentlich mehr als die natürliche Mimesis des Romans in dramatischer Form. Sie ist die Gattung, die mehr als jede andere in sich Elemente wie >das Häßlichedas Schlechte< und >den Schmerz< aufnehmen kann und auch riskiert, in der >Behandlung< ein destruktives Element auf anthropologischer Ebene zu preisen, wie die >Lust

34 35 36 37 38

KA11, 89. KA 16, 94 [106], KA 18, 85 [668]. KA 16, 96 [137], ΚΑ,ΙΙ, 93.

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Michele Cometa

am Schlechtem, die in sich aber unendliche Vitalität trägt.39 Gerade wenn man sich in die Anthropologie der Schlegelschen Komödie vertieft, merkt man, daß ihre Psychologie eine »überraschende Plötzlichkeit der Kontraste« darstellt,40 ein Rausch, der sich durch eine »Mischung« des Tragischen und des Komischen aufbaut. Diese Eigenschaften der griechischen Komödie kehren natürlich in der Interpretation Shakespeares wieder. Im Studium-A\iîsdXz, der glänzendsten, wenn auch verborgenen Theorie der Moderne aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, werden die Dramen Shakespeares mit der gleichen theoretischen Ausrüstung charakterisiert, wie sie bei der Aristophanischen Komödie in Szene gesetzt wurde: Keins seiner Dramen ist in Masse schön; nie bestimmt Schönheit die Anordnung des Ganzen. Auch die einzelnen Schönheiten sind wie in der Natur nur selten von häßlichen Zusätzen rein, und sie sind nur Mittel eines andern Zwecks; sie dienen dem charakteristischen oder philosophischen Interesse [...]. Nicht selten ist seine Fülle eine unauflösliche Verwirrung und das Resultat des Ganzen ein unendlicher Streit.4'

9. Es ist unnötig, hier auf die Genealogie Shakespeare/romantisches Drama einzugehen. Viel wichtiger ist es, zum Schluß das endgültige Ergebnis der langen und fruchtbaren Vorbereitung einer Theorie des romantischen Dramas42 nach dem Glaubensübertritt 1808 hervorzuheben. Nach und nach verbreitet sich die Überzeugung, daß es zwei romantische Gattungen gibt, den »Roman« und das »Schauspiel«, die Formen, die das »Zeitalter« darstellen und die von ihm abhängen,43 weil sie Ausdruck des modernen Individuums und der Nation sind. Beide Formen leben von der Einwirkung verschiedener Gattungen und sogar verschiedener Kunstformen, sie verhalten sich zueinander wie das »Einathmen« und »Ausathmen« der gesamten menschlichen Poesie,44 sie sind zur Verbindung von Tragischem

39 40 41 42

43 44

KA 11, 31. KA11, 31. KA 1,250f. KA 17, 83 [247]: »Im Drama aber gilt wohl das Gesetz einer steten Hinfiihrung und der allmähligen Uebergänge vom Modernen zum Romantischen«.. KA 17, 281 [17] und 315 [239], KA 17, 303 [157],

Die Theorie des romantischen

Dramas

bei Friedrich

Schlegel

37

und Komischem 45 bereit, was sie vor dem Abfall ins »Prosaische« bewahrt, und schließlich ist das Drama die mystische Gattung par

excel-

lence'. Die ganze Ansicht vom Drama, daß es sey eine Darstellung des höhern und vollständigen Lebens, als Untergang, Verklärung, Versöhnung, Sieg oder Opfer ist eine CHRISTLICHE] und beruht auf d[em] Begriff d[er] WŒDERGEBURTH. Auch in der π [Poesie] ist xpChristus alles in Allem und höchstes Princip.46 Jedes Drama, so wird Schlegel noch in den letzten Jahren sagen (1823), inszeniert letztlich das Urteil Gottes: Drama. So wie in der epischen Dichtung eine Hinneigung zur Schöpfung vorwaltet, in dem kosmogonischen Bestandteil; so ist in der dramatischen Dichtkunst eine deutliche Beziehung auf ein göttliches Gericht, wovon das blinde Schicksal nur eine Abart oder eine Verdrehung und Mißverständniß ist. - Ueberhaupt liegt in dem Drama die Idee von dem Durchfechten eines rechtlichen und gerichtlichen Kampfes des Lebens, obwohl von höherer Art zum Grunde. - Schon im Aeschylus ist diese Tendenz zum göttlichen Gericht sehr vorwaltend. Auch meine Eintheilung von drey Arten des Dramas, des Untergangs, der Versöhnung und der Verklärung. -47 Zusammen mit der religiösen Forderung zeichnet sich auch die Notwendigkeit eines Dramas ab, welches national und deutsch sein soll und deshalb eine Darstellung der Geschichte der germanischen Völker liefern wird: Um ein Deutsches Drama zu gründen, muß mit d[en] historisch belehrenden Stücken der Anfang gemacht werden; mit d[en] Spektakelstücken (musika45

46 47

KA 17, 302 [155]: »Schon die strenge Absonderung des Tragischen und Komischen muß in wenigen Schritten zum Prosaischen führen - worin liegt dieß eigentlich]? - Durch die bloße Absonderung schon geschieht d[em] Mythus Gewalt; die tragische Anspannung fodert d[en] Gegensatz d.[es] Komischen. Die höchste tragische sowohl als komische Begeisterung läßt nothwendig je mehr und mehr nach und sinkt endlich zum Prosaischen«, und KA 17, 424 [89]: »Zwischen der Tragödie und Komödie kein Unterschied in den Schematen; bloß in dem mehreren oder minderen Gebrauch der einen oder der andern [...]«. KA 17, 319 [269]. KA 17, 498 [153]. Schlegel neigt dazu, in der letzten Phase seines Denkens eine katholische Auslegung des Dramas auch auf dessen griechische Herkunft auszudehnen: »Alle Tragödien des Sophokles führen eingentl[ich] aus dem heidnischen Verhängniß in die Ansicht d.[er] Vorsehung hinüber. Das Verhängniß sollte im christlichen historischen Trauerspiel nur im Einzelnen (in Scenen und Acten) nicht im Ganzen vorkommen oder doch untergeordnet sein« (KA 17, 106 [367]).

38

Michele

Cometa

lische Festspielen) und einleitenden Prologen und Nachspielen findet es sich dann nach jener Grundlage leicht; die Intriguenstücke (romantische Liebesspiele) kommen ganz zuletzt.48 Das nationale Element wird also überwiegend, und Schlegel findet auch die verschiedenen geschichtlichen Formen dieses Elements in den nationalen Traditionen. In einem Fragment von 1808 - als er möglicherweise schon in Wien angekommen war - ist sicherlich die Wendung zu den katholischen Idealen, die ihn zur ideologischen Gründung des Dramas der Restauration führen wird, bereits vorgezeichnet. Die historischen Dramen müssen national [sein] - und zwar in einem engern Sinne. - Für Oesterreich z. B. die Geschichte von Ungarn, die Fundgrube dramatischer Gegenstände, [...] desgleichen] die Geschichte der Babenberger, allenfalls die der Habsburger VOR Maximilian. - Für Preußen war Werner ganz auf dem rechten Weg mit d[em] Alt-Preußischen und Pohlnischen; Kotzebue mit Russischen Sitten u. s. w. Für Deutschland wäre der Umfang der Gegenstände am weitesten zu nehmen. - Vielleicht französische der bessern romantischen Zeit - vielleicht altnordische zur Aufrechterhaltung der Nationalität - oder historische dänische und schwedische - auch altenglische von d[en] Angelsachsen - Gegenstände aus der deutschen Zeit d[er] Völkerwanderung. 49 Schlegel zeigt, daß er klare Ideen bezüglich der Entwicklung der deutschen Dramaturgie und des deutschen Theaters hat. Es ist bedeutsam, daß er, übereinstimmend mit den Versuchen seiner Zeit - von denen Spuren in den Fragmenten zu finden sind - grundlegend die Zentralität der romantischen Gattungen wie das Zauberspiel, die Volkskomödie, das Festspiel, 50 versteht, w o der Mittelpunkt das phantastische und musikalische Element ist. Es handelt sich jedenfalls um Gattungen mit einer starken Bindung an die Geschichte und also an die Fülle des Lebens, und sie verschließen sich niemals dem Phantastischen und Sentimentalen; im Gegenteil, sie schließen es ein: Es liesse sich ein Griech.fisches] Drama und Trauerspiel für die deutsche Bühne denken, ganz anders als das französische, anders auch als die Calderon-

48

49 50

KA 17, 51 [109], Vgl. auch KA 17, 379 [293], über den notwendigen philosophischen Charakter des deutschen Dramas. KA 17, 151 [140], »Vielleicht sind in d.[er] dramatischen] 7t[Poesie] die beiden Hauptgattungen d[es] historischen Trauerspiels und des romantischen Festspiels - nicht absolut zu trennen, sondern jeder Dichter bezeichnet seinen Weg durch einen eigentümlichen] Uebergang von d[er] einen Gattung zu andern« (KA 17, 99 [314]).

Die Theorie des romantischen

Dramas bei Friedrich

Schlegel

39

sehe Umbildung, und entfernt von der pedantischen Gelehrsamkeit Deutsch antiker Tragödick. Man nähme die Gegenstände, die sich eigneten zu dem unbewußten Geist des Christenthums, der Religion der Liebe. - Immer aber wäre dieß nur eine Grundlage, des Theaters, nicht ein Theater selbst. Eine allgemeine, objektive Komödie kann es für Deutschland nicht geben. < Die Komödie sollte in Deutschland] immer lokal sein.> Die rührenden Dramen wird jeder auf die Länge überdrüßig. Die allgemeine Stimme hat durch die Vorliebe für die Spektakelstücke und Ritterspiele längst fur | das historische Drama als Grund und Wesen unsrer Bühne entschieden. Eben dahin neigt sich die Tendenz unsrer ausgezeichneten und besten Dichter.51 Natürlich ist in den deutschsprachigen Ländern die Nationalfrage eng an die der Religion geblinden. Es ist kein Zufall, daß Schlegel die Unterteilung zwischen Katholiken und Protestanten auch für das Drama entscheidend findet. Er empfiehlt, die protestantische Zeit überhaupt zu überspringen und sich so ans Mittelalter und an die »gesamte nordische Mythologie« 52 zu halten. Das neue deutsche Drama muß also historisch sein, und Schlegel, der eine Gedankenform bereits im Studium-Axiísaiz

übernom-

men hatte, unterscheidet zwischen der »aesthetischen Einheit« der Antiken und der neuen geschichtlichen Einheit< der Modernen, zwischen klassischer Tragödie und romantischem Drama: Für das Drama ist d[er] Unterschied der bloßen aesthetischen Einheit [...], und der höhern episch-historischen Einheit von sehr großer praktischer Wichtigkeit. Das letzte ist allein das rechte. Doch mag man Uebergänge suchen.53 So erscheint es notwendig, die modernen Gattungen, die in sich ein den Griechen unbekanntes diachronisches Element enthalten, neu zu definieren und neu zu bezeichnen: 54 51 52 53 54

KA 17, 136 [78], KA 17, 183 [52], KA 17, 121 [25], KA 17, 334 [39]. Die Bildhauerei hatte bis jetzt die natürliche Parallele zum Drama gebildet, nun suchte Schlegel andere Kunstformen, um neue Analogien zum nationalen Drama zu finden, zum Beispiel den Holzschnitt: »Die Kraft d[er] Darstellung, wie in Holzschnitten gehört dahin. - Das heroisch Deutsche ließe sich durch Parthien in alten Alex.fandrinern] erreichen. - Das Leben in der Beschränkung aber höchsten Bildung in der

40

Michele Cometa

Der theoretische Wendepunkt erfolgt, als Schlegel in seinen Notizen von 1810 zu dem Schluß kommt, die zuvor gefundenen Gattungen nicht synchron gegenüberzustellen, sondern ihr natürliches diachronisches Element hervorzuheben. Auf diese Weise enthält das romantische Drama verschiedene >Grade< von Gattungen, die sich geschichtlich aufeinander folgen. Das Lustspiel, als direkter Nachkomme der griechischen Komödie, ist das Drama der Bedeutung und der Versöhnung und hat moralischen und sozialen Wert. Die besten Beispiele sind der Nathan und der Tasso. Seine Untergattungen sind die geschichtliche Komödie und die bürgerlichen Intrigen· und Charakter-Stücke. Die Oper ist die romantische Verschmelzung von Einheit und fantastischer Fülle. In seiner magisch-romantischen Version ist sie das Drama der Erscheinung, aber sie kann auch in einem trauervollen Niedergang zum Untergangs-Drama werden. Es ist bedeutsam, daß Schlegel dieser Variante eine weitläufige Analyse in den Fragmenten von 1811 widmet, wobei die Oper die »musikalische« Gattung ist, da sie tragische, epische und phantastische Elemente in sich modulieren kann, ohne dabei die Form zu zerstören. Die Beispiele zeigen wiederum, daß der Weg, den Schlegel aufzeigt, derjenige ist, der in Wirklichkeit im Wagnerschen Drama eingeschlagen wird: Die Poesie des Untergangs wirkt in d.[er] epischen Form viel milder, sanfter und elegischer, als in der dramatischen. Doch ist keine gänzl[iche] Trennung, sondern nur ein Prädominiren zu verstehen.55 In diesen Fragmenten taucht ständig die Anspielung auf Tiecks Genoveva.56 Noch bedeutsamer ist natürlich der Bezug auf die alte germanische Sage: Besser immer noch die mythisch musikalisch elegische Tragödie als Poesie des Untergangs = Oper. Die wahre Oper muß tragisch - aber | zugleich] höchst

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Komödie ; das Leben mehr in der schönsten Blüthe als höchste Fülle in der Oper, das Leben in seiner reinsten höchsten Erscheinung in der Tragödie. In jenen beiden Fällen also das Leben in der höchsten Lebendigkeit. - Im historischen Schauspiel muß dieß alles gemischt sein - vielleicht auch verschmolzen. (Nur das Opernmäßige nicht. - Dieß steht d.[em] historischen wohl gegen über) - doch in so fern nicht, als alle historischen Stücke in einem gewissen Sinne Spektakelstücke sind. Prolog vielleicht] auch eine eigne Gattung von Schauspielen. Gelegentlich Festspiel [e]« (KA 17, 141 [99]). KA 17,259 [124], KA 17, 260 [129].

Die Theorie

des romantischen

Dramas

bei Friedrich

Schlegel

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fantastisch seyn (Niebelungenlied - Sigurds Tod?) - (Donauw. [eib] nach T[ieck]s Idee.)

Die Oper hat außerdem den natürlichen Vorteil, gerade die Unterschiede der theatralischen Gattungen auszulöschen und in sich auch andere Kunstformen einzubeziehen. Man kann in dem gleichen Fragment lesen: Die Trennung der dramatischen Gattungen ist wenigstens ein äußeres Bedürfiiiß, da sie gewissermaßen unvermeidlich] ist, so muß sie wenigstens für den höchsten Kunstzweck benutzt werden.5*

Schließlich gibt es das Trauerspiel, das Drama der »Verklärung«, die romantische Neuformulierung der Tragödie, von der die christliche Heilsgeschichte direkt abhängt und von der aus sie sich entfaltet. Sosehr, daß man bereits 1808 lesen kann: »Zum Drama NUR Verklärung - nicht Versöhnung, und auch nicht Untergang«.59 Die »Verklärung«, für Schlegel eine Art weltlicher Erlösung, die man nach dem christlichen Modell durch das »Opfer« erlangt60, ist die » Wiederherstellung

des göttlichen

Wortes«,61

d a s alte M ä r t y r e r d r a m a u n d d a s

Calderónsche Erlösungsdrama - in der romantischen Poetik unbestreitbar aktuelle Themen: Eine Hauptfrage ist nun, soll das gute und böse Princip zugleich im historischen] Drama vorgestellt werden - die irdische Verklärung des heiligen Helden, und das Versinken in den Abgrund der höllischen Gewalten, BEIDES? - Dann wäre Tieck im Wesentlichen sehr auf d[em] rechten Wege gewesen. 62

Auf diese Weise werden alle Formen des Märtyrerdramas studiert, wo die beiden neuen Bestandteile des romantischen Dramas, nämlich der >Kampf< und der >SiegLebensrätselsVergangenen< ist allgemein das des Verfügenkönnens. So kann der Synkretismus von Elementen verschiedner Herkunft im Rahmen eines leitenden Konzepts zu einem Gestaltungsmittel werden. Eine der Einzelausgaben des Gestiefelten Katers, der >Hanswurst< als >Hofiiarr< auftreten läßt, gibt >Bergamo< als Druckort an und behauptet, aus dem Italienischen übersetzt zu sein. Im Prinz Zerbino könnte die Konstellation: Zerbino, Hanswurst und Polykomikus mit dem Narrenattribut der Eselsohren interessant sein (der seine Verbindung zum Satan gelöst hat). In Eichendorffs Krieg den Philistern begegnet der Narr der Poetischen im Ratsaal der Philister einer Figur, die auf einer Seite »als Harlekin mit Schellenkappe gekleidet ist« (>Zweites Abenteuen, zu Beginn). Hierher gehört es wohl auch, daß Brentanos Satire Gustav Wasa, um auf den >Narren< und das >Tollhaus< in Kotzebues Hyperboreischem Esel zu antworten, sowohl das >Narrenhaus< als auch >PritschenmeisterKasperle< und, in kryptischer Anspielung, >Hanswurst< ins Spiel bringt.5

4

5

Herbert Hohenemser: Pulcinella, Harlekin, Hanswurst. Ein Versuch über den zeitbeständigen Typus des Narren auf der Bühne, Emsdetten 1940, S. 57. - Einen Cap. Zerbino hat Callot in den Balli di Sfessania; ferner Gherardi: Le théâtre italien. Bd. 4: La Baguette de Vulcain (vgl. Hohenemser: Pulcinella, Harlekin, Hanswurst, S. 40). Karl Friedrich Flögel: Geschichte der Hofnarren, Liegnitz-Leipzig 1789 (Reprint 1977), S. 35. Clemens Brentano: Gustav Wasa. In: ders.: Werke. Bd. 4, hg. von Friedhelm Kemp, München 1966, S. 7-126, hier S. 120-123; und S. 20: »FÜRST: [...] Herr Baron, nehmen Sie Ihre ganze Familie mit. Sie können sich alle auf mei-

Narrenfiguren in der dramatischen Literatur der Romantik

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Man kann ferner sehen, wie das Bewußtsein der Herkunft der Motive mitgedichtet und selbst zum Wirkungsmittel gemacht wird. Tartaglia und Pantalon in Brentanos Lustigen Musikanten wissen, daß sie italienische Theaterfiguren sind, und realisieren diesen ihren Rollentypus, indem sie sich darüber verständigen, daß sie es nicht sind.6 Porporino, Valeria und Valerio im Ponce de Leon gehen als Harlekin (Grazioso), Kolombine und Pantalon verkleidet auf den Maskenball und zeigen damit ihre Konfiguration in dieser Komödie an. Eichendorff (Krieg den Philistern) stellt das historisierende Rollenspiel schon als ein Signum seiner Epoche dar, hat mit dem charakterisierenden Gebrauch metrischer Formen daran teil und reflektiert die Zugehörigkeit seines eigenen Texts zu dieser Epoche in der Verwendung einer Narrenfigur. Es scheint mir ein fruchtbarer Gesichtspunkt zu sein, nach dem Stellenwert dieser Gestaltungsmittel zu fragen. Dabei kann man eine innerromantische Traditionsbildung feststellen. Die späteren Beispiele sind zwar nicht mehr unmittelbar gegen Gottscheds Theaterreform gesetzt, wohl aber gegen die Verbürgerlichung, für die sie steht, so daß der Bedeutungshorizont, der die Auswahl aus der reichen Bedeutungsgeschichte und Ikonographie des Narren lenkt, derselbe bleibt. Welche Qualitäten des traditionalen Figurais sind in der romantischen Rezeption produktiv geworden? Ich möchte drei hervorheben. Die Zuordnung des Hofnarren zum König konnte einer Literatur interessant sein, die anders als das bürgerliche Lustspiel auch das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, den Geist des Zeitalters, den Menschen (und nicht nur den Bürger) zu ihrem Gegenstand machen wollte. An Der gestiefelte Kater und Prinz Zerbino, Krieg den Philistern und Das Incognito, auch an Leonce und Lena kann man die Folgen sehen und in einigen Fällen bemerken, wie die Komödie durch Überanstrengung ihrer Form dazu tendiert, aus einem Bühnenstück zu einem romantischen Buch< zu werden. Technisch ganz anders, aber funktional vergleichbar ist die Usurpation der Herrschaft durch die Dienerfiguren der Commedia dell'arte in der Ker-

6

nen Jagdwagen setzen. HANS: Auf die Wursfì [...] FÜRST: Besteigt alle die Wurst, meine Lieben. Morgen sehen wir uns öffentlich, und Hans wird als Oberforstmeister angezeigt. (Er schwingt sich auf den Esel und reitet davon; die Wurst fährt ab)« (meine Hervorhebungen). Brentano scheint also die Fahrt in die Komödie auf dem Jagdwagen aus dem Wort >Hanswurst< entwickelt zu haben (ebenso wie die Handlung um den Herrn Abonnement aus dem >abonnement suspenduDie Gestalt des NarrenDer Mythos des Frühlings: KomödieRatgeber< der Familie ein Paar, dient aber nur der Unterhaltung, und es gehört zu seiner Rolle, daß man auf die Ratschläge, die er gibt, nicht hört. Welches ist seine Funktion im Stück? Manfred Frank" hat Sprach- und Figurengestaltung im Ritter Blaubart unter der Kategorie der Zukunftsoffenheit interpretiert. Mit Blick auf den Untertitel könnte man von erinnerter Zukunftsoffenheit sprechen. Der Rückgriff auf das »Ammenmärchen« soll die Tür zu der Grotte der Kindheit aufsperren helfen, deren Offenheit für den Schrecken und den Zauber des Wirklichen dem >harten Ernst< des Realitätsprinzips verschlossen ist (>Prolognicht recht wagen, so zu sein, wie sie ihrer Natur nach sind< (II 2; Anna). Die eigentliche Oppositionsfigur zu Anton ist sein Bruder Simon, ein erkenntniskranker Melancholiker, der mit seinen Zweifeln und Ahnungen am Ende recht behält. Da er die Gefährlichkeit Blaubarts spürt, wird man eine Affinität annehmen dürfen. Dafür spricht auch, daß Peter Berner ihm rät, seine Krankheit durch eine Ehe zu kurieren. Er ist derjenige, der sein Außenseitertum durch Machtübung, auf Kosten anderer, wahrt. Die Kunst des Arztes kann in beiden Fällen nicht helfen. Der Narr hat eine Nähe zu diesen beiden, die ihm denn auch Wohlwollen. Mit dem Blaubart hat er gemeinsam, daß sie Gezeichnete sind. Bin ich nicht so gezeichnet, daß jeder Mensch von mir sagen wird: wenn der Kerl nicht zum Narren, oder zum Taugenichts zu gebrauchen ist, so ist er völlig unnütz. (Kluckliohn, 36)

Weil er glaubwürdig sagen kann, daß ihm das Leben zur Last ist, wird er verschont. Es war eine List, war aber zugleich seine Wahrheit. Mit Ritter Simon hat er die Verbindung von Krankheit und Geist gemeinsam. Aber als Narr ist er kein Täter. Er wird von Sieger zu Sieger weitergereicht, bis

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"

Konstanz 1981, S. 73-75; mit Hinweisen auf den Schwank von Hans Sachs und das Volksbuch sowie einem Porträt des Hofnarren Claus von Rannstedt. I I , erste Fassung. Die Umarbeitung für den Phantasus bleibt außer Betracht. Manfred Frank: Das Problem >Zeit< in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung, zweite überarbeitete Auflage, Paderborn-MünchenWien-Zürich 1990 [ 1972], S. 336-352.

Narrenfiguren in der dramatischen Literatur der Romantik

55

er bei Simon ankommt, der ihn als einen Weisen erkennt. Zusammen werden sie auf dem Blaubartschloß wohnen - zwar im Herrschaftsbereich Antons, aber doch jenseits seiner lebenstüchtigen Verständigkeit und auch jenseits der eingerosteten Häuslichkeit des Ritters Hans. Die Ehestiftungen am Schluß sind für beide ohne Belang.18 Wichtig sind die Anachronismen. Der Melancholiker geht mit den Aporien der Transzendentalphilosophie um und setzt sich mit der materialistischen Anthropologie des Arztes auseinander, ist also eine >moderne< Figur mit aktuellen Bezügen. Neben diesen Ritter gestellt kann der Narr die aktuelle Wirklichkeit eines historisch Verdrängten repräsentieren. Damit hat er eine Nähe zum Autor, zum Konstitutionsprinzip des Textes. Daß er seine Narrheit als Kunst statt als Handwerk betitelt sehen will (I 3), darf man als Wink nehmen. Allerdings ist er nur ein Moment neben andern. Die Narrheit, die dem Leben zu raten weiß, aber nicht gehört wird, weil sie sonst nicht Narrheit bliebe, steht neben dem Außenseitertum, das die Humanitätsphrase verhöhnt (Peter Berner);19 der Neugier, die bis zu dem Schrecken reicht, dem sie nicht gewachsen ist (Agnes); der Vernunft, die sich selber ergründen will und darüber toll zu werden scheint (Simon). Gemeinsam ist ihnen die Differenz zu dem, was bei Tieck »Aufklärung« heißt und in solchen Fällen mit dem Namen des Narren nicht spart (vgl. Anton in I 2; II 2; IV 2). Der Geist dieser >Aufklärung< wird in den >Literaturkomödien< durch die Formen des zeitgenössischen Erfolgstheaters repräsentiert. Dabei werden traditionelle Narrenfiguren so verwendet, daß »aus den Vortrefflichen und Verständigen«, die die deutschen Lustspieldichter schildern, »ohne daß sie es merken, unvergleichliche Narren« werden (Frank, 648).20 Im Gestiefelten Kater hat Hanswurst im Binnenstück das Amt des Hofnarren inne, steht mit dem Hofgelehrten »in einem Gehalte« (II 4), hat mit diesem für die Unterhaltung des Königs zu sorgen und weiß sich am Hofe zu behaupten. Für die Fabel des Binnenstücks hat er im übrigen keine Bedeu-

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Überhaupt stehen Tiecks Narren - insofern Narren - außerhalb der Liebeshandlung oder verlassen sie wieder: Der heimkehrende Hanswurst tritt aus ihr heraus an die Rampe; und Grünhelm in der Verkehrten Weit springt über sie aus dem Stück und aus der Ehe heraus. Daß im Prinz Zerbino Hanswurst der >ehrwtirdige deutsche Hausvater einer zahlreichen Familie< ist, dient ihm gerade als Ausweis seiner Erhebung zum >Stande eines Hofrats< (I 1). »[...] solche Eures Gelichters sind mir lieb, [...] Ihr gebt Euch für nichts aus, Ilor heuchelt keinen Wert, keine Würde, die ich so oft die Würde der Menschen nennen höre; ich kenne nichts so Jämmerliches« (I 3; Kluckhohn, 38, 6-10). Die verkehrte Welt, vierte Zwischenmusik: >Variazo IIagierthandeltFabel< hat, die aus den Handlungen der Akteure gefügt wird? Ich komme darauf zurück, möchte vorher jedoch die Weiterfuhrung dieser Rolle im Prinz Zerbino ins Spiel bringen. Sie bedeutet eine Vertiefung. Hanswurst ist inzwischen Hofrat geworden, von dem man aber noch weiß, daß er früher als Narr gedient hat. So überlagern sich in ihm drei Rollen. Als Hofrat bekennt er sich mit beflissenem Eifer zu Aufklärung, Fortschritt und Menschheitsglück: »Herzlich gern mag ich all das Zeug durcheinander leiden« (I 1; S 10, 13f.). Als Opponent der Gelehrten am Hof trägt er eine Sprach-, Wissenschafts- und Bewußtseinskritik vor, die über die Einrede gegen Leander im Gestiefelten Kater weit hinausgeht. Dabei wird interessanterweise die Hanswurstrolle aktiviert. Statt daß das Erbe des Hanswurst ihn hindert, weiser Narr zu sein, wird es vielmehr in höchst künstlicher Weise zu einem konstitutiven Moment davon gemacht. Wenn, in der Sitzung der Akademie, der Philosoph den Nachweis führt, daß die Tugend der gewisseste Weg ist, zum Glück zu gelangen; und wenn Hanswurst ihm die Prämisse bestreitet, indem er andeutet, daß er selbst »diesen unwiderstehlichen Trieb«, »diesen Stachel zur Tugend« nicht in sich fühle (S 10, 64f.; Saal der Akademie), dann spricht er ganz in der Rolle des verschmitzten Gauners, der älter ist als die Benevolenzphilosophie. Und wenn er dem Arzt gegenüber, der auf die >Wirklichkeit< pocht, bezweifelt, daß es überhaupt eine Wirklichkeit gibt, so zunächst in der Rolle dessen, der den Spielcharakter des Stücks bewußt macht:

Narrenfiguren

in der dramatischen

Literatur der

Romantik

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- Es giebt gar keine Wirklichkeit. - Keine Wirklichkeit? [...] Und was wäre denn ich, und diese Herren, und der König, und der Hof, und der Hofgelehrte [...]? - Geburten der Phantasie. (S 10, 15f.)

Aber natürlich geht es dabei nicht nur um das Spiel, um das »Geschick dramat'scher Rollen« (S 10, 148) und um das zu erwartende Geschick des gerade realisierten Stücks bei der literarischen Kritik (S 10, 148f.), sondern, in dem allen gespiegelt, auch um den Rollencharakter der gesellschaftlichen Existenz und um die Wirklichkeit als undurchschaute Erfindung oder Konstruktion, wie es Hinzes Rede von der »ordentlichen, zweckmäßigen, - [...] eigentlichen Wirklichkeit« (S 10, 65f.) dann anzeigt. Der alternde Höfling und Narr ist ein Humorist und ein Skeptiker von Graden - ein als Hanswurst wiedergekehrter Diogenes von Sinope, wie ihn Jean Paul in § 40 seiner Vorschule der Ästhetik für die moderne komische Kunst fordert (und in Leibgeber-Schoppe gewiß großartiger realisiert). Er lehnt es ab, Grundsätze zu haben, weil er dann »den Grundsätzen und dem Zusammenhange zu Gefallen die Lücken mit Abgeschmacktheiten würde füllen müssen«; versteht die Ordnung des Wissens als Gewöhnung (S 10, 29), den alltäglichen Sprachgebrauch als permanentes sacrificium intellectus der tragenden Ordnung zuliebe; und die darauf beruhende Sinnerwartung als naiv: Dieser Hofgelehrte ist eine Art von Gelehrten und er war ein ganz guter Mann, als er noch etwas dummer war, aber der verderbliche Scharfsinn hat ihn nun gänzlich hingeopfert, denn er kann nun nicht drei mal drei zusammenrechnen, oline an die neun Musen, ein Spiel Kegel und die vollkommenste Zahl des Pythagoras zu denken, und weil ihm alles zugleich einfallt, so ist er des Glaubens, diese Begebenheit müßte auch in sich selbst zusammenhängen. (S 10, 21)

Je klüger umso dümmer. Nachdem die sterblichen Menschen vom Baum der Erkenntnis genascht, weiß der Narr, und ihnen die Augen so sehr aufgegangen sind, daß sie ihnen übergingen, hat ihnen, den aus dem Paradies Verjagten, ein mitleidiger Engel zum Trost in ihrer Verlassenheit die Gabe der Dummheit gebracht, damit sie sie als Weisheit ansehen, so daß sie, gefragt, die Dummheit immer verleugnen werden. Sich daraus zu der Heiterkeit einer freieren Ansicht zu erheben, dazu braucht es mehr »Courage«, als man immer aufzubringen vermag (S 10, 31-34). Dies Lob der Dummheit in der Menschheitsgeschichte ist die Grundlage von Tiecks Gegenwartskritik in den Literaturkomödien, die ja das Zeitalter als ganzes

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Jürgen

Brummack

meint, auch wenn sie von der Berliner Aufklärung und ihrem »Ton der Anmaßung und Allwissenheit« ihren Ausgang nimmt (S 6, XXXI). »Es ist nun nicht mehr von dieser oder jener Thorheit die Rede, sondern die Zeit selbst ist thöricht geworden« (KS 1, 154).21 Die >Aufklärung< oder, mit einem Wort Dürrenmatts, »unsere Welt der selbstverschuldeten Mündigkeit des unmündigen Menschen«,22 ist gleichsam die verabredete oder organisierte Verleugnung der Dummheit. Die heitere Einsicht des Narren bezeichnet aber auch ein Moment von Tiecks Poesie. Und obwohl er die Poetik des Zerbino von einem Jäger mit Waldhorn formulieren läßt, die der Verkehrten Welt von der Musik in Worten und nicht etwa von einer Narrenfigur, kann man doch von einer Verwandtheit dieser Texte mit Narrenrede sprechen, deren Torheit jedenfalls mehr als bloß »Albernheit« ist. Goethe, berichtet Tieck, habe ihn aufgefordert, »den ernsthaften Theil« des Zerbino, die untergeordnete Geschichte des Dorus, der Lila, des Helikanus, Waldbruders und der Cleora zusammenzuziehen, und als ein selbstständiges idyllisches oder lyrisches Drama der Weimarschen Bühne zu geben. Ich konnte mich nicht entschließen, diese poetischen Töne vom Spaß der übrigen Figuren abzusondern, weil ich, vielleicht irrig, glaubte, ein Theil sei dem andern unentbehrlich. (S 6, LH)

Es hätte etwa dasselbe bedeutet, wie den Kreisler-Teil des Kater Murr, den Oberhof-Teil des Münchhausen für sich zu edieren oder von Jean Paul nur die poetischen Stellen der Romane zu anthologisieren. In der Verkehrten Welt muß das der modernen Pädagogik ergebene Ehepaar Rabe es erleben, daß Gevatter Brusebart dem kleinen Wilhelm einen Hanswurst zum Spielen bringt, und bestellt ihm »gleich darauf beim Drechsler einen kleinen belvederischen Apoll« als Antidoten (Phantasus-Fassung IV 2; Frank, 629). Die Kunst von Tiecks Komödien ist der »gotischen Fratze« des Hanswurst jedenfalls näher als dem belvederischen Apoll; denn ihr Poetisches liegt weniger in der fest umrissenen Gestalt als in der Mischung, in der wechselseitigen Relativierung der Formen und Töne, im

21

22

Vgl. den klugen Aufsatz von Ulrike Landfester: »... die Zeit selbst ist thöricht geworden...«. Ludwig Tiecks Komödie Der gestiefelte Kater (1797) in der Tradition des Spiel im •Sp/eZ-Dramas. In: Ludwig Tieck. Literaturprogramm und Lebensinszenierung im Kontext seiner Zeit, hg. von Walter Schmitz, Tübingen 1997, S. 101-133. Friedrich Dürrenmatt/Charlotte Kerr: Rollenspiele. Protokoll einer fiktiven Inszenierung und Achterloo III, Zürich 1986, S. 200 (>ZwischenwortHandlung< von Tiecks Literaturkomödien. »Denn Handlung wünscht Ihr doch«, sagt ironisch der Jäger als Chor (S 10, 96). Alle drei Texte haben eine einfache Fabel, die man in wenigen Worten nacherzählen kann: das Mißglücken eines Theaterabends; das Aufheben einer revolutionären Handlung; eine erzwungene Anpassung in keinem Falle eine Veränderung, eine Erneuerung der Welt. Im Sinne Lotmans sind es sujetlose Texte.24 Insofern ist das Handeln der Narrenfiguren ein Nichthandeln, es führt nicht zu einer neuen, oder guten, Ordnung. Wohl aber hilft es an der schlechten Ordnung die gute Verwirrung des Textes erzeugen, die dem Leser den auf der Ebene des Dargestellten verhinderten Überstieg ermöglicht; wozu paßt, daß einige Rollenfiguren in die Aufführung oder in den Text einzugreifen versuchen. Apoll bleibt dabei an seinem Nichtort, Hanswurst ist der in der Hofratrolle sichtbarlich verborgene Narr, Narrenrede das verhüllende Enthüllen der Poesie, deren Exil die Kunst ist. Sie ist das Unaussprechliche in der Sprache, das Unbedingte im Bedingten, das Andere des Zeitalters - nicht das Künftige, jedenfalls nicht im Sinne einer neuen Ordnung der Welt, die ja wieder nur bedingt sein könnte. Mit den letzten Worten der >Poetischen< im Zerbino wird das geradezu demonstriert: »Und auch wir wollen künftig dem allgemeinen Besten nützlich sein.«

3. Wer in der Literatur der Epoche nach Narrenfiguren als Spiegelung des prekären Status von Kunst und Künstler sucht, wird in der Prosa die bedeutenderen Beispiele finden. Aber auch in der dramatischen Literatur gibt es interessante Versuche. Ich denke in erster Linie an Eichendorff, daneben auch an Büchner. Krieg den Philistern ist gewissermaßen eine Fortsetzung des Zerbino< - mit einer Bestandsaufnahme des seitdem entstandenen neuen, romantischen Philistertums im Namen der Poesie, wie 23

24

Emst Ribbat: Ludwig Tieck. Studien zur Konzeption und Praxis romantischer Poesie. Kronberg/Ts. 1978, S. 202. Jurij M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes, hg. von Rainer Gräbel, Frankfurt 1973 [zuerst russ. 1970], Kap. 8. 3.

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es Tieck gleichsam angekündigt hatte. Der Narr ist die herausragende Figur dieses >Dramatischen Märchens in fünf Abenteuern< - eine sehr ehrgeizige und ausgedachte Konzeption von hohem Aufschlußwert für die Dichtung des Autors und der Epoche. Er steht in drei wesentlichen Bezügen. Als Narr der Poetischen stellt er erstens das Pendant zu dem Narren auf Philisterseite dar, jenem schon erwähnten Doppelgänger des Bürgermeisters, welcher auf der linken, dem Bürgermeister zugekehrten, Seite wie dieser [in Amtskleidung und mit Perücke], auf der rechten Seite aber als Harlekin mit Schellenkappe gekleidet ist, und allen Bewegungen des Bürgermeisters folgt.25

Dieser Harlekinsnarr gibt sich als das eigentliche Ich des Bürgermeisters zu erkennen und kann es bei dessen öffentlichen Auftritten nicht unterlassen, mit seiner »fatalen Schelle heimlich zu klingeln, oder gar, wenn bei Andern einer [s]einer Kameraden die Kappe vorstreckt, ihm zuzunicken« (54, 24-27). Da Philistertum in diesem Werk als Herrschaft des Herkommens und des Privatinteresses erscheint, ist der heimliche Schalk, der das öffentliche Wichtigtun begleitet, die ihm passend zugeordnete Form des Narrentums. Der Narr der Poetischen kann sich mit einer solchen Rolle dagegen nicht zufrieden geben. Er definiert sich in der Begegnung mit dem Philister-Narren als »Doppelgänger aller menschlichen Torheiten«, ist aber deutlicher in seinem Handeln zu erkennen. Die Poetischen haben sich auf ihrem Schiff zu Lande der Philisterstadt genähert, um sie zu bekriegen. Ihr Regent bestimmt von seinem kleinen Meßtischchen aus die Richtlinien der Politik: einer Politik der Reform von oben, gestützt auf eine starke Beamtenschaft und im Einklang mit dem Zeitgeist, der ein Geist der Bewegung ist, symbolisiert durch die aufgehende Morgensonne und durch die Schiffahrt selbst. Das Volk freilich erlebt diese Politik als Überforderung, rebelliert sogar und muß von dem Staatspropagandisten beschwichtigt werden. Diese Rolle spielt der Narr. Er gehört dem Regenten zu und soll zwischen Staat und Volk vermitteln. Im Krieg mit den Philistern ist er als Spion tätig - eine Aufgabe, die er aus wissenschaftlichem Interesse und aus Verantwortung für das Ganze übernommen hat (52, 14-16). Eine tiefere Begründung seines Tuns gibt er

25

Joseph von Eichendorff: Dramen, hg. von Hartwig Schultz, Frankfurt/M. 1988, S. 52, 8-11. Nachweis der Eichendorff-Zitate im folgenden nach dieser Ausgabe durch bloße Angabe von Seiten- und Zeilenzahl im Text.

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in der Szene >Nacht. Zinne eines Turms in der PhilisterstadtZeitlosen< beispielsweise werden von dem Boten, der die Antike-Rezeption der Epoche vertritt, als die »unverdorbnen Kinder der Natur« begrüßt (94, 15), von dem Philister Pastinak dagegen als Nahrungslieferanten behandelt. Das Mittelalter ist ganz anders, als der Minnesänger in Begleitung des Narren es sich vorgestellt hat. Und die Gefährlichkeit des schlafenden Riesen Grobianus im Sagenwald der Urzeit wird von keinem der Beteiligten verstanden. Beide Kriegsparteien glauben nämlich, die erweckte deutsche Volkskraft auf ihrer Seite einsetzen zu können. Aber Grobianus haut schließlich »Philister und Poetische ohne Unterschied nieder, und streift mit dem Schwerte die Eisentür des Pulverturms« (127, 1-3). Und die Explosion macht dem ganzen Spuk ein Ende. Ob man Grobianus als Bild der drohenden Revolution versteht26 oder eher als komödiantischen Einfalle des Autors, eine Handlung zum Ende zu bringen, welche die Stagna-

26

Franz Xaver Ries: Zeitkritik bei Joseph von Eichendorff, Berlin 1997, S. 107—

111.

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tion der Epoche vor Augen führt27 - sicher ist zunächst, daß er von den Aktanten nicht begriffen wird. Der Nationalismus weiß nicht, was er tut, er ist Kostüm wie die altdeutsche Tracht. Die Handlungs-Konzepte der Zeit können das Ungeheure nur bannen, nicht beherrschen. Und die wirkliche Bewegung der Geschichte bleibt der politischen Aktion und dem Bewußtsein der Zeitgenossen entzogen. Das gilt aber auch für die Poesie, für Krieg den Philistern selbst. Der Narr ist nicht nur dem Regenten zugeordnet, er ist auch der Doppelgänger des fiktiven Verfassers, hat damit als fiktive Figur eine Verantwortung für den Text, der ohne seine Vermittlung oder Grenzüberschreitung zwischen Staat und Volk, Bewegung und Beharrung, Gegenwart und Geschichte nicht zustande käme. Das >Handeln< des Narren als fiktiver Figur im Verhältnis zu den Zeitrepräsentanten (prattein) und die Fügung der Fabel (poiein) sind verquickt. Daß die Dichtung ihre eigene Sphäre und Ordnung und damit Distanz gegenüber den Parolen der Zeit beansprucht, ist schon durch den Gebrauch des Verses offenbar. Sie ist aber auch Teil der Epoche, kann die Überschau des Ganzen deshalb gar nicht haben und die Dissonanz der Zeiterfahrung nicht in einer Geschichte mit geschlossener Handlung binden.28 Wenn sie trotzdem Totalitätsanspruch erhebt, ist das eben närrisch, was sich darin niederschlägt, daß das Epochenpanorama buntscheckig ausfallt. Weil es der Narr ist, der die Einheit der Fabel zustande bringt, kann sie die angestrebte Synthesis des Heterogenen nicht leisten, sondern nur den Versuch dazu bedeuten. Deswegen verläßt der fiktive Verfasser, als ihm am Ende ein Licht aufgeht, die Szene, und der Narr behält das letzte Wort. Schon Leontin in Ahnung und Gegenwart bemerkt, die Welt stelle sich ihm so buntscheckig dar, daß er »manchmal selber zum Narren darüber werden könnte«.29 Er gibt damit gleichsam das Gestaltungsprinzip des späteren Texts an, der, was Tieck (im Prolog) für die durch die Aufklärung bestimmte Moderne diagnostiziert hatte, auf die engere Epoche des Vormärz überträgt.

27

28

29

Hermann Körte: Das Ende der Morgenröte. Eichendorffs bürgerliche Welt, Frankfurt/M.-Bern-New York 1987, S. 82f. Dazu grundsätzlich Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. Bd. 1, München 1988 [zuerst frz. 1983], Kap. 122t., S. 65-77. Zweites Buch, 13. Kapitel mit Rückbezug auf Was ihr wollt (Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart. Erzählungen I, hg. von Wolfgang Frühwald und Brigitte Schillbach, Frankfurt/M. 1985, S. 218).

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Und die Poesie? Im >Ersten Abenteuer< spricht der Narr (während der Philosoph im Mastkorb nach Land ausschaut) von seinen Gedanken, die über die Sphäre der Arbeit hinausfliegen: Hör' Regent, so oft ich in eine Mühle trat, dachte ich immer: wie viel Lärmens um das liebe Brot! und wenn ich dann das Tosen und Pfeifen und Reiben hörte, und das Sausen des Sturmes und des Stromes dazwischen, und wie die Schwalben jauchzend sich kreuzten in dem Gebraus und wieder hinaußtrichen ins Himmelblau, da hat mich oft eine rechte tiefe Angst überfallen, als wären eben die verteufelten Schwalben da meine eignen Gedanken und flögen mir alle davon, und draußen wäre dann alles auf einmal still und weit und ganz anders, als wir es uns hier in der Mühle gedacht, ich plötzlich gesund und gescheut, und Dir alle verrückt. - (33, 17-28)

>Hier in der Mühle< - das meint nicht nur das ernste Geschäft des Regierens. Auch das >Dramatische MärchenPositive< der Satire aber nicht aus der Darstellung der Epoche hervorgehen lassen. Der Text selbst öffnet sich für dies Andere nur in den an Tieck erinnernden Strukturen der Selbstbezüglichkeit. Die Rückwendungen auf das fiktive Spiel und der gedichtete Hiatus zwischen dem von fiktiven Figuren geglaubten und dem vom Verfasser gestalteten Geschichtsbild31 verweisen auf ein Draußen, wo es »ganz anders« ist, »als wir es uns hier in der Mühle gedacht«. Die Tiecksche Heiterkeit allerdings fehlt. Wo der Kunst abverlangt wird, daß sie über die Wahrung individueller Freiheit hinaus auch die aus den Fugen gegangene Zeit einrenken soll, ist >Courage< offenbar nicht mehr genug. Damit hängt die Wandlung des literarischen Narren im Vormärz zusammen, wie zwei weitere Beispiele belegen mögen. In Eichendorffs Fragment gebliebenem Puppenspiel Das Incognito tritt Kasper als Hofnarr auf, wird in einer kleinen Stadt für den inkognito reisenden König gehalten und von dem jüdischen Finanzmann Paphnutius 30

31

Körte: Das Ende der Morgenröte (wie Anm. 27), S. 80; Ries: Zeitkritik (wie Anm. 26), S. 130. Vgl. grundsätzlich Hans Vilmar Geppert: Der »andere« historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung, Tübingen 1976.

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für die Ehe mit seiner Nichte Colombine vorgesehen. Der tumultuarische Einbruch der neuen Zeit in die Stadt macht dann einen >richtigen< Komödienschluß möglich. Kasper erhält wirklich seine Colombine, die emanzipierte Mathilde wird bei Paphnutius unter die Haube gebracht, und es ist der zurückgekehrte König, der die Ordnung herstellt. Es ist aber nur ein Scheinschluß. In Wahrheit wird die überanstrengte Komödienform zum Mittel gemacht, die disparaten Kräfte der Zeit in ihrer unversöhnten Dissonanz darzustellen. Durch die Komödie geht der »Ernst incognito«, sagt der Narr. Er behält auch hier das letzte Wort. In Leonce und Lena wird das liebende Paar durch den Narren vom Nichtort der Begegnung in die Ordnung der Ehe und des Staates geführt. Sein >Handeln< stiftet die Ehe und ordnet die Thronfolge, macht damit den Text als Komödie überhaupt möglich, kann aber, als Narrenhandeln, Individuum, Staat und Gesellschaft gerade nicht vermitteln, und zwar nun ohne daß, wie noch bei Tieck, das Spiel der Kunst sich genug sein könnte. So zeichnet sich ab, wie der Narr, in Kontinuität und doch in deutlicher Differenz zur Romantik, zu einer Epochenfigur des Vormärz wird. Sie wäre nur in übergreifendem Zusammenhang angemessen darzustellen.

Johannes Endres

Szenen der »Verwandlung«. Novalis und das Drama

»Das Drama muß, weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendetesten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden«. Mit solchen, enthusiastisch gestimmten Worten formuliert Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik zugleich Summe und Nachklang der idealistischen Dramentheorie in Deutschland.1 Setzt er doch einem ohnehin hochgespannten Bogen noch einmal die Spitze auf, freilich nur, um dann gleich im nächsten Atemzug der Gattung die Totenglocke zu läuten. Gerade die Besonderheit nämlich, die das Drama - einerseits - zum Gipfel der Künste qualifiziert, ist - andererseits - für dessen sicheren Untergang verantwortlich. Gemeint ist die Art und Weise, in der das Drama das Verhältnis von >Innen< und >AußenAuflösung< seiner selbst an. Denn: Der »romantischen« Geisteshaltung ist die Physiognomie des >Dramatischenromantische Drama< auch wieder eine neue Lebensmöglichkeit wenngleich er, genau besehen, die jüngere Gattungsentwicklung dabei nur post factum sanktioniert. Hegel weiter: Das Lyrische ist für die romantische Kunst gleichsam der elementarische Grundzug, ein Ton, den auch Epopöe und Drama anschlagen und der selbst die Werke der bildenden Kunst als ein allgemeiner Duft des Gemüts umhaucht, da hier Geist und Gemüt durch jedes ihrer Gebilde zum Geist und Gemüte sprechen wollen.5

Die sich daraus im Umkehrschluß für das Drama ergebenden Konsequenzen liegen mehr oder weniger auf der Hand: Den Mangel an »sinnlicher Realität«, an »Gegenwart und Wirklichkeit« hat die dramatische Poesie durch die »Beihilfe fast aller übrigen Künste« zu kompensieren - als da sind: Architektur, Malerei, Skulptur, Musik, Tanz sowie rhetorische Deklamation.6 Dieser ihrer »Schwesterkünste« bedient sich das Drama folglich als einer willkommenen »sinnlichen Grundlage und Umgebung«. Was Hegel hier in Angriff nimmt, unterscheidet sich allenfalls dem Namen nach von jener Erscheinung, die erstmals im Umkreis der Romantik als >Gesamtkunstwerk< theoretisiert wird.7 Dieses verdankt sich wiederum einer konstitutionellen Krise der zeitgenössischen Dramatik, der die theoretische und praktische Beantwortung der Frage nach der spezifischen >Darstellungsweise< des Dramas problematisch geworden ist - ein Phänomen, das in den kunstphilosophischen Diskussionen um 1800 omnipräsent ist und keineswegs auf Hegel beschränkt bleibt. Beide Aspekte nämlich, die poetologische Kategorie der >Darstellung< sowohl wie die Ausweitung des Dramas zur universellen Mischform, in der nicht nur die verschiedenen Dichtungs- und Empfindungsweisen (des Dramatischen, Epi-

4 5 6 7

Hegel: Ästhetik (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 508. Hegel: Ästhetik (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 508. Hegel: Ästhetik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 535f. Der Terminus >Gesamtkunstwerk( taucht zuerst in K. F. E. Trahndorfls Aesthetik oder Lehre von der Weltanschauung und Kunst (1827) auf (vgl. dazu Alfred R. Neumann: The earliest use of the term >GesamtkunstwerkPoetik des Dramas< sollen darum im folgenden einmal etwas genauer untersucht werden. Wenn dabei auch ein zusätzliches Licht auf Novalis' dichterisches Werk und vor allem auf einen auffälligen motivischen wie stilistischen Zug desselben fallen sollte, so wäre dies nur willkommen. Den Aufstieg der Kunst zu ihrem Gipfel und ihren gleichzeitigen Übergang zur »Auflösung der Kunst überhaupt« hat Hegel an einem Beispiel des romantischen Dramas< veranschaulicht, dem ich an dieser Stelle für Novalis nicht mehr nachgehen will: Die Rede ist von der »Komödie«, die, nach Hegel, »die Gegenwart und Wirksamkeit des Absoluten« nicht mehr in »positiver«, sondern nur noch in »negativer Form« darzustellen vermag.8 Ob Lustspiel oder Drama aber: Für Novalis' Überzeugungen zentral erscheint die folgende Bemerkung aus dem 4. Dialog, die von einem Sprecher Β vorgetragen wird: Ja, Lieber, und hier an den Säulen des Herkules lassen Sie uns umarmen, im Genuß der Überzeugung, daß es bey uns steht das Leben wie eine schöne, genialische Täuschung, wie ein herrliches Schauspiel zu betrachten [...]'

Worauf Sprecher A wiederum repliziert: »Diese Ansicht des Lebens, als Zeitliche Illusion, als Drama möge uns zur andern Natur werden« (HKA 2, 668). Solche Sätze mögen für einen Dichter überraschen, dessen literarische Leistungen fest mit dem Erscheinungsbild des Romans, der Lyrik, des Essays und des philosophischen Fragments verknüpft sind, Vorstellungen, die sich auf gesicherte Phänomene der dichterischen Produktion beziehen. Daß aber auch Verbindungslinien zum Drama führen, die keineswegs auf Allgemeinheiten - wie eine vage Andeutung des

8

9

Hegel: Ästhetik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 585f. - Vgl. Verf.: Novalis und das Lustspiel. Ein vergessener Beitrag zur Geschichte der Gattung. In: Aurora 58 (1998), S. 19-33 (die dort bereits behandelten Aspekte werden hier nicht wieder aufgegriffen). Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Stuttgart 1960ff., hier Bd. 2, S. 667 (im folgenden in Klammern im Text zitiert als HKAjnit Bandzahl und Seitennummer, ggf. Nr. des Fragments; zugrunde liegt die jeweils jüngste Auflage).

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Welttheater-Topos - 10 beschränkt bleiben, zeigen etliche Notizen aus Novalis' theoretischen Schriften. Darunter auch diese, nur scheinbar kryptische Beobachtung: (HKA 2, 573: [219])

In derartigen Betrachtungen greift Novalis ins Weiteste seines Welt- und Menschenbildes und zugleich ins Konkreteste und Spezifischste der Gattungstheorie im engeren Sinne aus. Verbunden mit der Maxime: »Poesie ist die große Kunst der Construction der transscendentalen Gesundheit. Der Poët ist der transscendentale Arzt« (HKA 2, 535:42), ergibt sich daraus doch wohl eine elementare Wertschätzung des Dramas bis in die höchste künstlerisch-anthropologische Sphäre hinauf. Wie tief diese Wertschätzung andererseits in Grundanschauungen des Novalis verwurzelt ist, belegt folgendes Bekenntnis, das wahrscheinlich in einen autobiographischen Versuch einmünden sollte: »Geschichte meines Lebens. Dramatische Logik einer eingreifenden Rede - ohne viel Epitheta ganz dialogisch« (HKA 3, 648:545). Jedenfalls scheint Novalis die Devise, die sich in den Materialien zum Ofterdingen-Roman findet: »Wer recht [!] poëtisch ist, dem ist die ganze Welt, ein fortlaufendes Drama«, selbst sehr wohl beherzigt zu haben. Es ist das, so Novalis, »Drama des Lebens - der Welt« (HKA 2, 539:60), das er auf dem »Theater« vorgestellt, als »thätige Reflexion der Menschen über sich selbst« in Szene gesetzt sich denkt und an dessen Faktur er seinerseits weiterzudichten die Absicht hat (HKA 3, 681:642). Was läge daher näher, als einen Text wie Glauben und Liebe, jene dichterische Inszenierung einer idealen politischen Herrschaft, getreu der Überzeugung, daß im »Staat alles Schauhandlung - Im Volk alles Schauspiel« sei (HKA 2, 440:71), einmal im Novalisschen Sinne, als dramatische Etüde also zu lesen." Daß sich dabei die Konturen des Dramas an den Rändern auch wieder auflösten und sich 10

11

Auch das gibt es natürlich: vgl. Novalis' Brief an seinen Bruder Erasmus von September (?) 1793 (HKA 4, 127). Auf das Thema >Novalis und das Drama< haben sich bislang eingelassen: Luciano Zagari: >Ein Schauspiel für ErosBlüthenstaub< - Werk und Wirkung des Novalis, hg. von Herbert Uerlings.

Szenen der

»Verwandlung«

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in Nachbarräume des Gattungsspektrums verwischten, wäre durchaus nicht als Einwand zu betrachten, sondern ist in der Sache der Novalisschen Dramen-Poetik begründet. Wie später Hegel so besteht auch Novalis darauf, daß sich das Drama der »Beihilfe fast aller übrigen Künste« zu bedienen habe. Erst die >Mischung< verleiht dem Drama das Eigentliche seines Wesens; erst im Zusammenspiel mit seinen >Schwesterkünsten< kommt es gattungsgeschichtlich zu sich selbst. Wie das »ächte Schauspiel« aus der »Vermischung des Lust- und Trauerspiels« - durch »zarte symbolische Verbindung« - entsteht (HKA3, 651:561 und 650:558), so ist auch das Drama überhaupt durch allseitige Berührungen und Überschneidungen mit Lyrik und Epik definiert. Hierin wiederholt das Drama wiederum eine allgemeinere Tendenz der Epochengeschichte: Vereinigung< auch in seinem - weit ausgreifenden - ästhetischen Grundriß wider. Plastik, Musik und Poesie verhalten sich wie Epos, Lyra und Drama. Es sind unzertrennliche Elemente, die in jedem freyen Kunstwesen zusammen, und nur nach Beschaffenheit, in verschiednen Verhältnissen geeinigt sind. (HKA 2, 564:197)

Die Maßstäbe, die Novalis damit für die Einordnung seines eigenen literarischen Wirkens vorgibt, sind nur zu deutlich - auch wenn sie sich vorläufig noch in die Form einer Frage kleiden: »Sind Epos - Lyra - und Drama etwa nur die 3 Elemente jedes Gedichts - und nur das vorzüglich Epos, wo das Epos vorzüglich heraustritt und so fort« (HKA 2, 589f.: 276). Insbesondere das spezifisch dramatische Fluidum seiner RomanKunst hebt Novalis nachdrücklich hervor - im Anschluß an ein »Project zu einem Roman« notiert er sich: »Eigentliche romantische Prosa - höchst abwechselnd - wunderbar - sonderliche Wendungen - rasche Sprünge durchaus dramatisch« (HKA 3, 654:575f.). In seine zahlreichen Überlegungen zur Funktion der >MischungWechsels< und des >Übergangs< im Rahmen einer progressiven romantischen Universalpoesie bezieht Novalis also auch das Drama an zentraler Stelle mit ein.

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Allerdings, so wird man fragen dürfen - auch ohne Friedrich Schlegels spöttisches Wort vom »Rührey«12 zu zitieren: Was macht die Eigentümlichkeit des >Dramas< in solch vielfaltigen Legierungsformen denn überhaupt noch aus? Gerade vor dem Hintergrund der Schlegelschen Gattungstheorie erscheinen Novalis' Formulierungen denn auch alles andere als originell. Angefangen vom Gang der Dichtungszeitalter - von einer epischen zur lyrischen und dramatischen Periode - bis hin zu Feststellungen zum Mischungscharakter der neueren, romantischen Poesie lassen sich genaue sprachliche und gedankliche Vorbilder schon bei Schlegel finden.13 Ganz zu schweigen von Schellings kunstphilosophischen Distinktionen, nach denen das Drama die »Naturen beider entgegengesetzten Gattungen [des »epischen« und des »lyrischen Gedichts«; J. E.] in sich« begreift und so - man denkt natürlich an Hegel voraus - »die letzte Synthese aller Poesie« vorfuhrt.14 Insonderheit liegt dem »modernen Drama« die »Mischung des Entgegengesetzten, also vorzüglich des Tragischen und Komischen« und so auch aller übrigen Gattungsstile »als Princip [...] zu Grunde«.15 Zwar erscheint Schellings Philosophie der Kunst erst 1803, kann also als Quelle für Novalis nicht in Frage kommen - der Gemeingültigkeit, ja Beliebigkeit der Novalisschen Dramentheorie, die gewissermaßen zum Kollektivbesitz frühromantischen Symphilosophierens gehört, scheint dies keinen Abbruch zu tun.16

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Das bekannte Diktum im Brief an Friedrich Schleiermacher, Ende Juli 1798. Vgl. Friedrich Schlegel: Von den Schulen der griechischen Poesie (1794). In: ders.: Kritische Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von JeanJacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 1 , 1 . Abteilung, Paderborn u. a. 1979, S. 3-18; und Friedrich Schlegel: Fragmente zur Litteratur und Poesie (1797). In: ders.: Kritische Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von JeanJacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 16, 2. Abteilung, Paderborn u. a. 1981, S. 110f.:318: »Alles was in der alt[en] π [Poesie] getrennt war, ist in d[er] mod.[ernen] gemischt; u[nd] was in d[er] mod.[ernen] getrennt war in d[er] alt[en] gemischt«. Allerdings sind und bleiben für Schlegel die »E7t[epische], Xup[lyrische], δρ.[dramatische] Form [...] von bestimmtem und ewig[em] Unterschied«. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst. In: ders.: Sämtliche Werke, hg. von K. F. A. Schelling, 1. Abtheilung, Bd. 5, Stuttgart 18561861, S. 687 und 692. Schelling: Philosophie der Kunst (wie Anm. 14), S. 718. Freilich kann man das hier zugrunde liegende poetologische Argument noch sehr viel weiter, bis zu Aristoteles, zurückverfolgen, der bereits vom >dramatischen< Organisationsprinzip der >epischen< Dichtung spricht (im 23. Kapitel seiner Poetik).

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Doch ein derartiger Eindruck spiegelt nur die eine Seite der Wahrheit wider. Zwar sucht - und findet - Novalis die Gemeinsamkeit des frühromantischen Denkens, ohne sich aber damit zu begnügen. Vielmehr münden seine Reflexionen über das Drama in eine durchaus eigenwillige dichterische Konzeption ein, die, wie mir scheint, noch nicht hinlänglich als solche erkannt ist. Dies zu zeigen, bedarf es allerdings einer weiteren Ausholbewegung. Wie schon angedeutet, spielt das - ausgangs des 18. Jahrhunderts prominente - Theorem der >Darstellung< auch bei Novalis eine wichtige Rolle. Bekannt ist seine Definition der Poesie als »Gemütherregungskunst« (HKA 3, 639:507), eine Bestimmimg, die häufig - und vielleicht nicht ganz zu Recht - als Beleg einer wirkungsästhetischen Dichtungsauffassung angeführt wird.17 Ihr liegt wiederum die folgende Novalissche Erkenntnis zugrunde: »Poesie ist Darstellung des Gemiiths der innern Welt in ihrer Gesamtheit« (HKA 3, 650:553). Gemütserregung und Gemütsdarstellung gehen folglich Hand in Hand; der Weg zur Perzeption des Zuschauers/Zuhörers führt über einen gleichgestimmten Akkord des Kunstwerks selbst, das seinerseits ganz aus der inneren Vorstellung des Dichters lebt. Die dabei beteiligten Welten von Innen und Außen, von ästhetischer und außerästhetischer Wirklichkeit wechselweise aufeinander zu beziehen, diese Aufgabe macht sich das poetische und poetologische Denken des Novalis immer wieder zueigen. Novalis weiter: Die Darstellung des Gemüths muß, wie die Darstellung der Natur, selbstthätig, eigenthümlich allgemein, verknüpfend und schöpferisch seyn. Nicht wie es ist, sondern wie es seyn könnte, und seyn muß (HKA 3, 650:557).

Aus solchen >Incitamenten< fügen sich die für Novalis fundamentalen »Gesetze der symbolischen Construction der transscendentalen Welt« zusammen (HKA 2, 536:48)." Wie kann, so lautet die entscheidende, aber keineswegs neue Frage, die Kunst denn eine schöne Täuschung sein, ohne gleichzeitig zu betrügen? Novalis antwortet darauf mit einer - erkenntnistheoretisch gefärbten - »Theorie der Darstellung«, einer »Darstellung [...] des Nichtseyns im Seyn, um das Seyn für sich auf gewisse Weise d a seyn zu lassen« (HKA 2, 106:2). Der Kontext, auf den Novalis mit derartigen Reflexionen anspielt, wird deutlicher, wenn man die von Lessing im Lao17

18

Vgl. etwa Herbert Uerlings: Novalis (Friedrich von Hardenberg), Stuttgart 1998, S. 165. Die Forschung spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »narrativen Konstruktion immanenter Transzendenz« (vgl. Herbert Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung, Stuttgart 1991, passim).

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λοοη-Aufsatz geführte Diskussion mit heranzieht. Ausgehend von den »Grenzen der Malerei und Poesie«, heißt es dort gleich eingangs über deren grundlegende Gemeinsamkeit: Der erste, welcher die Malerei und Poesie mit einander verglich, war ein Mann von feinem Gefühle, der von beiden Künsten eine ähnliche Wirkung auf sich verspürte [gemeint ist M. Mendelssohn; J. E.]. Beide, empfand er, stellen uns abwesende Dinge als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit vor; beide täuschen, und beider Täuschung gefallt.19

Daß sich Novalis dieser Zusammenhänge bewußt ist, beweisen die späteren Aufzeichnungen zu seiner Lessing-Lektüre, insbesondere natürlich zum Laokoon (vgl. HKA 2, 379:40). Ohne diesen aber wird Novalis' Verwendung des >DarstellungsDarstellung< seine in der Folgezeit bestimmende semantische Färbung und kunstheoretische Vorzugsstellung mit auf den Weg.20 Als solcher löst er - bzw. der Parallelbegriff der künstlerischen >Illusion< - den angestammten Begriff der >Intuition< ab, der als Ausdruck einer streng rationalistischen Beziehung von Kunst und Wirklichkeit ausgedient hat, einer Beziehimg, die die fraglose Überschreitung der sinnlichen Anschauung zugunsten eines vom Dichter imaginär Geschauten vorsieht. Statt dessen geht es Lessing erstmals um die » Verwandlung« des »Gegenstandes der Anschauung« in »täuschende Lebendigkeit«.21 Den neuen Comment zwischen >Anschauung< und >Denken< resümiert Lessing - im Hinblick auf die Darstellungsleistung des Künstlers - wie folgt: »Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben«.22 Diese Neuordnung der Dinge läßt sich Novalis nicht entgehen. Neben Malerei und Poesie bezieht er sogar als Drittes die - ja schon von Lessing, wenn auch nur am Rande bedachte - Musik mit ein. 19

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21 22

Gotthold Ephraim Lessing: Laookon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766). In: ders.: Werke, hg. von Herbert G. Göpfert, Bd. 6, München 1974, S. 9. Darauf haben in jüngster Zeit v. a. die Arbeiten von Inka Mülder-Bach hingewiesen: Bild und Bewegung. Zur Theorie bildnerischer Illusion in Lessings Laokoon. In: DVjs 66 (1992), S. 1-30; und dies.: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der >Darstellung< im 18. Jahrhundert, München 1998. Lessings historische Position wird dagegen radikal verkürzt von David E. Wellbery: Lessing's Laokoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason, Cambridge 1984. So Mülder-Bach: Bild und Bewegung (wie Anm. 20), S. 14 (Herv. J. E.). Lessing: Laokoon (wie Anm. 19), S. 26.

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Welche der Künste, so fragt sich Novalis, leistet in bezug auf ihren Gegenstand das Höchste? Während die Malerei den ihrigen aus der Welt der »Erscheinungen« nimmt, die Musik hingegen rein aus der Phantasie der »Kunst«, der Maler also dem Musiker gegenüber leichteres Spiel zu haben scheint, kehrt sich die Reihenfolge in der Frage der künstlerischen Mittel jedoch gerade um. Der Maler bedient sich »einer unendlich schwereren Zeichensprache, als der Musiker«, weil er (der Maler) - im Gegensatz zu diesem (dem Musiker), der »in der That heraus und nicht herein« sieht und fühlt - , sowohl herein als auch heraus sehen, fühlen und bilden können muß (HKA 2, 574f.:226; vgl. 111,243:19). So viel dünkt mich, werde daraus gewiß, daß die Malerey bey weitem schwieriger als die Musik sey. Daß Sie eine Stufe gleichsam dem Heiligthume des Geistes näher [...] (HKA 2, 575:226).23

Damit bewegt sich Novalis, wie mir scheint, in auffälliger Nähe zur aufklärerischen Ästhetik, ja die eigentümlich Novalissche Denkfigur der >Wechselrepraesentation< (vgl. HKA 3, 266:137) und des >ordo inversusHerein-< und wieder >Hinaus-Sinnens< und >-Denkens< (vgl. HKA 3, 123), stellt sich in diesem Lichte als gleichsam aufklärerisches Erbe dar. Als das »Wesentliche der Darstellung« nach Novalis erscheint somit der »Sfarenwechsel«, d. h.: »Das Sinnliche muß geistig, das Geistige sinnlich dargestellt werden« (HKA 2, 282f.:633). Diejenige Kunstform aber, die für Derartiges kraft ihrer poetologischen Herkunft prädestiniert ist, ist das Drama,24 verstanden als - wir würden vielleicht sagen >multimediales< Schauspiel: »Vollkommene Oper ist eine freye Vereinigung aller [Künste], die höchste Stufe des Dramas. Epos ist wohl nur ein unvollkommnes Drama. Epos ist ein poetisch erzähltes Drama« (HKA 2, 590:276). 23

24

Zu Novalis' musikalischer Poetik< vgl. v. a. Barbara Naumann: Musikalisches Ideen-Instrument. Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik, Stuttgart 1990. Zum historisch-genetischen Zusammenhang von >DarstellungIllusion< und >Drama< vgl. auch Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions (wie Anm. 20), S. 120ff. und S. 230f.; sowie Bernhard Asmuth: >DramaDarstellung< auch bei Lessing im Genus des Dramas: »[...] und die höchste Gattung der Poesie ist die, welche die willkürlichen Zeichen gänzlich zu natürlichen Zeichen macht. Das ist aber die dramatische; denn in dieser hören die Worte auf, willkürliche Zeichen zu sein, und werden natürliche Zeichen willkürlicher Dinge« (an Friedrich Nicolai, 26. 5. 1769).

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Auch mit dieser, oft staunend registrierten Erklärung steht Novalis jedoch in den Bahnen der aufklärerischen, und zwar der Lessingschen Tradition. Bereits im 27. Paralipomenon zum Laokoon (das Novalis freilich nicht gekannt haben kann) heißt es über die »Verbindung der Poesie und Musik«, daß diese - in Gestalt der »Oper« - »unstreitig unter allen möglichen [Verbindungen willkürlicher und natürlicher Zeichen; J.E.] die vollkommenste« sei.25 Da für Novalis aber feststeht, daß die »Poésie im strengern Sinn [...] fast die Mittelkunst zwischen den bildenden und tönenden Künsten« ist (HKA 3, 297:323),26 ist umgekehrt auch die Aufgabe des dramatischen Künstlers präjudiziell: Er hat die Poesie an ihren würdigsten Platz, das »schöne Schaupielhaus« zu führen, wo man »plastische Kunstwercke nie ohne Musik«, »musikalische Kunstwercke [...] nur in schön dekorirten Sälen«, »[pjoetische Kunstwercke aber nie ohne beydes zugleich genießen« soll und kann (HKA 2, 537:59).27 Ebenfalls analog zu Lessings Bestimmung, wonach die »Kunst des Schauspielers [...] zwischen bildenden Künsten und Poesie mitten inne« steht,28 folgert Novalis weiter: »Ein guter Schauspieler ist in der That ein plastisches und [!] poëtisches Instrument. Eine Oper, ein Ballet sind in der That plastisch poetische Koncerte« (HKA 2, 575:226). Damit unterscheidet sich Novalis zumindest im Grad der Entschiedenheit vom Tenor der romantischen

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Lessing: Laokoon (wie Anm. 19), S. 651f.; vgl. auch das 26. und 27. Stück der Hamburgischen Dramaturgie (1767/69) (Lessing: Werke [wie Anm. 19], Bd. 4, S. 348-358). Auch hier ließen sich ebenso wieder Entsprechungen bei Friedrich Schlegel anfuhren: »So wäre die Malerei die eigentlich Zentralkunst? - Das ist offenbar die Poesie zwischen Musik und Malerei« (zitiert nach Karl Konrad Polheim: Zur romantischen Einheit der Künste. In: Bildende Kunst und Literatur. Beiträge zum Problem ihrer Wechselbeziehungen im neunzehnten Jahrhundert, hg. von Wolfdietrich Rasch, Frankfurt/M. 1970, S. 157-178, hier S. 167). Schlegels Diktum datiert aus dem Jahr 1811. Anregungen zur »doppelten Verwandtschaft der Poesie mit der Tonkunst und mit der bildenden Kunst« hat Novalis natürlich auch bei Schiller sammeln können (vgl. Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung [1795], In: ders.: Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 5, München "1989, S. 734f„ Anm. 1). So im 5. Stück der Hamburgischen Dramaturgie (Lessing: Werke [wie Anm. 25], S. 256). Während in der Regel die Differenzen zwischen der aufklärerischem und der >romantischen< Lösung des >Laokoonproblems< betont werden, sollen hier einmal die Übereinstimmungen stärker akzentuiert werden (vgl. Paul Böckmann: Das Laokoonproblem und seine Auflösung im neunzehnten Jahrhundert. In: Bildende Kunst und Literatur [wie Anm. 26], S. 59-73, 74-78 [Diskussion]).

Szenen der

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Meinung. Während Friedrich Schlegel lediglich im Konjunktiv spricht, wenn er - an einer einzigen Stelle, wenn ich recht sehe - glaubt fordern zu können: Die Oper muß romantisch sein, da Musik und Mahlerei es sind; die moderne Tanzkunst viell.[eicht] eine Mischung romani.[ischer] Fantasie und class.fischer] Plastik. Man müßte die Alt[en] darin [?] übertreffen können. 2 ' - drückt sich F. W. J. Schelling gar noch vorsichtiger aus: »Ich bemerke nur noch«, heißt es am Ende der Philosophie

der Kunst,

daß die vollkommenste Zusammensetzung aller Künste, die Vereinigung von Poesie und Musik durch Gesang, von Poesie und Malerei durch Tanz, selbst wieder synthesirt die componirteste Theatererscheinung ist, dergleichen das Drama des Alterthums war, wovon uns nur eine Karrikatur, die O p e r , geblieben ist, die in höherem und edlerem Styl von Seiten der Poesie sowohl als der übrigen concurrirenden Künste uns am ehesten zur Aufiührung des alten mit Musik und Gesang verbundenen Dramas zurückfuhren könnte.30 Bei aller scheinbaren Übereinstimmung ist es doch ein wesentlicher Gesichtspunkt, der das > dramatische Gesamtkunstwerk< des Novalis von demjenigen Schlegels und Schellings - aber auch Richard Wagners - abhebt: Novalis argumentiert, wann immer er auf das Drama sieht, niemals aus geschichtsphilosophischer Perspektive - er erachtet das >romantische Drama< nicht als eine Derivationsstufe des antiken, die romantische >Mischungskunst< nicht als eine (dialektische) Restitution des klassischen Dramas (eine Anschauung, die ja noch Wagners Philosophie der >neuen Kunst< zugrunde liegt).31 Was bedeutet es also, wenn Novalis statt dessen

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F. Schlegel: Kritische Ausgabe (wie Anm. 13), Bd. 16, S. 118:402. Schelling: Philosophie der Kunst (wie Anm. 14), S. 736; vgl. auch Novalis' Feststellung: »Unser Theater ist durchaus unpoëtisch - nur Operette und Oper nähern sich der Poesie [...]« (HKA 3, 691:695). Freilich bleibt zu bedenken, daß der Indikativ Präsens bei Novalis durchaus auch postulatorischen Charakter haben kann (den Hinweis verdanke ich Ludwig Stockinger). Vgl. hierzu v. a. Jürgen Söring: >GesamtkunstwerkAbsoluter KunstWechsel< wird verlangt (Richard Wag-

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auf den »Inhalt des Dramas« zu sprechen kommt? Scheinbar umständlich versucht er, den für ihn maßgeblichen Punkt zu benennen: Der Inhalt des Dramas ist ein Werden oder ein Vergehn. Es enthält die Darstellung der Entstehung einer organischen Gestalt aus dem Flüssigen [...]. Es enthält die Darstellung der Auflösung [...]. Es kann beydes zugleich enthalten und dann ist es ein vollständiges Drama. Man sieht leicht, daß der Inhalt desselben eine Verwandlung - ein Läuterungs, Reduktionsproceß seyn müsse (HKA 2, 535:44). Allenfalls aus den Beispielen, die dann folgen: dem Oedipus in Colonos und dem Philoktet des Sophokles, scheint der Sinn dieser Digression hervorzugehen. Aber es ist, wie ich meine, weniger der Gedanke der dramatischen >KatharsisVerwandlung< von einer Sterblichen zur Unsterblichen. Pantheas (vorletzte Worte: »Begränzt und Sterblich war unser Daseyn auf Erden, unsre Wonne, unsre Seligkeit, aber in Elysium wird sie endlos und unsterblich seyn wie die Freude der seligen Götter« (HKA 6/1, 472).

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Vgl. HKA 1, 455 und HKA 6/1, 33f. Als Muster dieser Versuche lassen sich unschwer immer wieder Goethe und Lessing identifizieren. Als unmittelbares stoffliches Vorbild kann wohl Christian Graf von Stolbergs >Schauspiel in Chören< Otanes (1787) gelten, worin bereits eine Panthea auftritt (vgl. Christian Graf von Stolberg/Friedrich Leopold Graf von Stolberg: Gesammelte Werke. Bd. 4-5, Nachdruck Hildesheim-New York 1974, S. 149-251). Vgl. darüber hinaus die Hinweise bei Eicheldinger (HKA 6/2, 479f.).

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Natürlich sind die dramatischen Entsprechungen zu Goethes Proserpina (1778) nicht zu überhören," Entsprechungen, die aber eben auch und nicht zuletzt die dramatische Form betreffen. Die Verbindung von Bühnendeklamation und Instrumentalmusik ist es, die dem >Melodrama< oder >Monodramalächelnde Rose< zum Vorschein kommt. 52 Beim »ersten Kuß« aber, so weiß auch einer der Ratgeber der Lehrlinge bei Novalis, »wird eine neue Welt dir aufgethan« (HKA 1, 91). Begrüßt wird der »Günstling des

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Vgl. Rousseaus Essai sur l'origine des langues où il est parlé de la mélodie et de l'imitation musicale (1753/61). Édition Critiques, Bordeaux 1970. Dem Einfluß der Rousseauschen Musik-Theorie auf die Poesieauffassung der deutschen Romantik ist Christine Lubkoll nachgegangen: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800, Freiburg 1995, besonders S. 43ff. und S. 11 (zu Novalis). Vgl. weiterhin die Rousseau variierende Überlegung von Novalis: »Unsre Sprache - sie war zu Anfang viel musicalischer und hat sich nur nachgerade so prosaisirt - so enttönt. [...] Sie muß wieder Gesang werden« (HKA 3, 283f.:245). Vgl. dazu Rousseaus Commentaire des intermèdes musicaux zum Pygmalion (Œuvres Complètes, Bd. 2 [wie Anm. 42], S. 1229f.) sowie die Ausführungen von Strohschneider-Kohrs: Künstlerthematik und monodramatische Form (wie Anm. 45), bes. S. 48f. Als »Grundprinzip« des Textes hat schon Gerhard Neumann - aus ganz anderem Blickwinkel - dasjenige der »Verwandlung« erkannt (Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe, München 1976, S. 411). Vgl. daneben auch das Gedicht Geschichte der Poesie (»Göttin Dichtkunst kam in Rosenblüthe [...]«) (HKA 6/1,225f.). Berühmt ist Logaus Epigramm (um das sich wiederum G. Kellers Sinngedicht [1881] motivisch rankt): »Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen? / Küß eine weiße Galatea: sie wird errötend lachen«. Von ihm hat sich, wie mir scheint, auch Christoph Martin Wieland zu seiner - Isis- und PygmalionLegende amalgamierenden - Behandlung des Motivs im Peregrinus Proteus (1791) inspirieren lassen, ein Roman, den der Wieland-Leser Novalis gewiß gekannt hat (C. M. Wieland: Sämmtliche Werlte. Hamburger Reprintausgabe, Hamburg 1984, Bd. 9, besonders S. 182).

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Glücks« darin durch »seine Braut«, eben das Rosenblüthchen, das ihn mit einem »Lächeln«, wie es heißt, empfangt (HKA 1, 110). Unter den zahlreichen Zuschreibungen, die die ägyptische Isis-Göttin in der deutschen Literatur seit Reinhold, Schiller, Wieland, Mozart, Goethe und anderen erfahren hat, ist die der Geliebten eher unvertraut. Anders als die Verknüpfung von Isis und Venus/Aphrodite ist die Verlebendigung der Göttin zur veritablen »Jungfrau und Mutter« - wie Novalis sich notiert (HKA 2, 618:429) - durchaus nicht geläufig.53 Letztere hat Novalis ohne Zweifel aus dem Pygmalion-Mythos hierher übertragen. Die Situation eines Naturund Wahrheitssuchers gleich Hyazinth wird von Novalis denn auch ausdrücklich mit derjenigen Pygmalions gleichgesetzt: Wer unglücklich in der jetzigen Welt ist, wer nicht findet, was er sucht - der gehe in die Bücher und Künstlerwelt - in die Natur - [...]. Eine Geliebte und einen Freund - Ein Vaterland, und einen Gott findet er hier gewiß - Sie schlummern, aber weissagenden, vielbedeutenden Schlummer. Einst kommt die Zeit, wo jeder Eingeweihte der bessern Welt, wie Pygmalion [!], seine um sich geschaffne und versammelte Welt, mit der Glorie einer höhern Morgenröthe [Herv. J. E.], erwachen und seine lange Treue und Liebe erwiedern sieht. (HKA 2, 398:686)

Als weiterer Anstoß könnte Novalis auch August Wilhelm Schlegels Gedicht Pygmalion (1796) gedient haben, das die Silhouetten von Isis und Galatea ebenfalls miteinander verschränkt: »Zur Geliebten hat er [Pygmalion] sich erlesen«, heißt es dort, »[d]ie noch nie ein sterblich Auge sah« - eine Qualifizierung, die für Isis geradezu sprechend ist.54 Wenden wir uns aber dem Entscheidenden der Novalisschen Um-Bildung zu. Als Hyazinth endlich vor den Tempel zu Sais gelangt, übermannt ihn der Schlaf. Denn »nur der Traum«, so weiß er, darf ihn »in das Allerheiligste fuhren« (HKA 1, 94f.). Durch »unendliche Gemächer voll seltsamer Sachen auf lauter reitzenden Klängen und in abwechselnden Accorden« nä53

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Diese Zusammenhänge kann ich hier nicht näher ausführen - sie sind einer größeren Studie vorbehalten. Vgl. auch die Anmerkungen zum Schleier bei Eicheldinger (HKA 6/2,288f.). August Wilhelm Schlegel: Sämmtliche Werke, hg. von Eduard Böcking. Bd. 1, Nachdruck Hildesheim-New York 1971, S. 38-48, hier S. 39, vgl. auch S. 41. Es möge genügen, für weiteres auf Plutarchs >Kodierung< der berühmten Inschrift zu Sais hinzuweisen, die dann Schiller und Kant - und eben Novalis Rätsel aufgibt: »Ich bin alles, was ward, ist und sein wird, und noch kein Sterblicher hat jemals mein Gewand gelüftet« (Plutarch: Über Isis und Osiris, Übersetzung und Kommmentar von Theodor Hopfeer, Darmstadt 1967, S. 8 und 83f.) - nach Hopfner eine Anspielung, die sich »auf das Sexuelle« bezieht, daß nämlich »niemand mit ihr Geschlechtsverkehr gepflogen [...]«.

Szenen der » Verwandlung«

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hert er sich der »himmlischen Jungfrau«. Von Musik begleitet also fühlt sich der Jüngling zur - von Kant und Schiller inkriminierten Hebung des Schleiers der Isis ermutigt und berechtigt: »und Rosenblüthchen sank« - ganz wie es sich für eine Pygmalion-Statue gehört - »in seine Arme« (ebd.).56 Was über die ehemals lebendige »Natur« und den mit ihr vertrauten Menschen gesagt wird, das gilt auch für Hyazinths göttlichirdische Freundin: »So genoß sie himmlische Stunden mit dem Dichter [...]« (HKA 1, 84). Für Novalis' Weiterdichtung der Pygmalion-Legende charakteristisch ist aber das Medium, das sie zugleich trägt und ermöglicht. Im Augenblick der Vereinigung von Hyazinth und Rosenblüthchen ertönt nämlich abermals eine »ferne Musik« (HKA 1, 95), eine »liebliche Nachtmusik«, die der »stillen«, »sanftauflösenden Umarmung«, dem »rätsellösenden Kusse«, gleichsam souffliert (HKA 1, 110)." Ich denke, das Stilprinzip des Melodramas wird aus solchen szenischen und choreographischen Anordnungen doch deutlich, zumal Novalis - in derselben Erzählung - den »schöpferischen Moment des eigentlichen Genusses«, der »innern Selbstempfangni[s]«, programmatisch als ein »unermeßliches Schauspiel« beeichnet (HKA 1, 101). Der - pygmalionische - Schöpfungsmythos also als Drama inszeniert, das ist zumindest eine, bislang kaum gesehene Dimension des Märchens, das, als Nachbild des Goetheschen Märchens, ohnedies als »eine erzählte Oper« ausgewiesen ist (HKA 2, 535:45). Nun sind der Forschung die sozusagen akustischen Qualitäten der Lehrlinge zu Sais nicht entgangen. Nach Ingrid Kreuzer ist der »Handlungsraum« der Erzählung eigentlich als ein »Schallraum« und »Sprechraum« zu verstehen, dessen »Stimmen« sich zu einer »auditiven Ästhetik«

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Vgl. Norbert Klatt: >... Des Wissens heißer DurstKontakt< des Jünglings mit seiner »Braut« bzw. »Sich Selbst« dagegen noch auf den Sehsinn beschränkt (vgl. HKA 1, 110). Wie denn das Schleier-Heben, was hier ebenfalls nur angedeutet werden soll, in Novalis' Werk immer wieder und geradezu leitmotivisch von musikalischdramatischen Pantomimen begleitet wird (vgl. den Heinrich von Ofterdingen·, HKA 1, 217f„ 227-229,238f. u. ö.).

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verbinden.5' Dabei schließt Novalis jedoch die Sinne des Sehens und der körperlich-räumlichen Wahrnehmimg keineswegs aus seiner Darstellung aus.59 Nicht um eine einseitige Privilegierung des >Hörens< oder der Musik geht es, sondern um die Gleichberechtigung - bzw. eine wechselseitige Substitution - von optischer, akustischer und haptischer Illusion. So konnte es-Novalis auch in Rousseaus Dictionnaire de Musique (1765/67?) nachlesen, ein Titel, den er nachweislich gekannt und benutzt hat (vgl. HKA3, 316). Eine Hierarchie der Sinne, wie sie für die rationalistische Aufklärung typisch ist,60 kennt Novalis dagegen nicht, wenngleich sie ihm von Seiten der Forschung gelegentlich nachgesagt wird.61 Dies wird besonders deutlich, weiin man sich den poetologischen Kontext des >dramatischen Märchens< von Hyazinth und Rosenblüth noch einmal vergegenwärtigt. In seiner epochemachenden Abhandlung über die Plastik von 1778 hatte sich Johann Gottfried Herder einschlägig zu einigen »Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume« geäußert (so der Untertitel seines Aufsatzes). Hierin werden die seit Lessings Laokoon virulenten Fragen der spezifischen Mittel und Möglichkeiten der bildenden Kunst, der Malerei und der Musik mit gro-

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" Ingrid Kreuzer: Novalis: Die Lehrlinge zu Sais. Fragen zur Struktur, Gattung und immanenten Ästhetik. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 23 (1979), S. 276-308 (wenn im folgenden Einwände gegen diese Interpretation erhoben werden, so soll das deren grundlegende Verdienste nicht schmälern). Kreuzer hat sicher recht, wenn sie konstatiert: »Der Gesamttext gehört überhaupt keiner eindeutigen Gattung an, sondern partizipiert an mehrern Genres [...]« (S. 285, vgl. auch S. 304-306) - nur: das >Drama< gehört ganz sicher auch dazu. - Zur neueren Diskussion der Lehrlinge - die noch immer im Schatten der strukturalistischen Arbeiten von Striedter und Gaier steht - vgl. die (stets ausgewogene) Darstellung bei Uerlings: Novalis (wie Anm. 17), S. 152-175. 59 So Kreuzer: Novalis (wie Anm. 58), S. 290 und 295. 60 Zur >sinnengeschichtlichen< Zwischenstellung des Novalis - zwischen Aufklärung und Romantik - vgl. Ulrich Stadler: Hardenbergs >poetische Theorie der FemröhreVolksbuch< verbreitet war, in die Zeit Karl Martells verlegt wird. Die Abwesenheit des Ehemanns als Basis des Konflikts wird somit durch den Krieg der Franken gegen die Araber motiviert; der geschichtliche Bezug, in den der Stoff damit gerät, ist die Schlacht bei Poitiers im Jahre 732. Diese Version lag Tieck vor, und es ist gerade die hier erreichte Kombination von Elementen, durch die sich der Stoff für eine Vermittlung des frühromantischen Geschichtskonzepts angeboten hat. Die Handlung ist nämlich in einer Zeit situiert, in der jene Ordnung des Mittelalters, die in Hardenbergs Europa beschworen wird, entstanden ist. Gerade durch die Gestalt Karl Martells wird der Zeitpunkt erfaßt, der den Anfang der Zusammenarbeit von Kirche und Monarchie markiert. Nach der literaturgeschichtlichen Konzeption von Friedrich Schlegel, wie er sie 1800 im Gespräch über die Poesie erstmals zusammenfassend formuliert, ist nun überdies die Poesie der christlich-europäischen Kultur in der Be-

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Vgl. Hardenberg: Europa (wie Anm. 19), S. 524. Zum Verhältnis des Textes zu den Vorlagen vgl. Johannes Ranftl: Ludwig Tiecks Genoveva. Als romantische Dichtung betrachtet, Graz 1899, S. 31-66.

Ludwig Tiecks >Leben und Tod der heiligen Genoveva
Romantischen Poesie< darzustellen. In Tiecks Bearbeitung der Stoffvorlage werden nun die historischpolitische Karl-Martell-Handlung und die private Handlung um Siegfried, Golo und Genoveva so aufeinander bezogen, daß Analogien zwischen der dargestellten Epoche und der Gegenwart deutlich werden. Daß dieses Mittelalter die Gegenwart spiegelt und daß es deswegen auch Zeichen der Begrenztheit wie Unglauben, Sehnsucht nach wahrer Religion in der Vergangenheit, die Wirkimg von Macht und Geld aufweist,30 ergibt sich aus dem frühromantischen Geschichtskonzept. 31 Die spezifische Weise, in der das >romantisierte< Mittelalter mit der Gegenwart konfrontiert wird, läßt sich am besten an der dramentechnischen Gestaltung der Figur des Bonifatius verdeutlichen, der in einem Prolog in das Spiel einfuhrt. Ich bin der wackre Bonifatius, Der einst von Englands Ufern in die Wälder Der Deutschen, Christus' heiigen Glauben brachte. (G, 361)

Der Nebentext beschreibt das Bühnenbild als »[e]ine Kapelle schwach erleuchtet« (G, 361); und Bonifatius »tritt mit Schwert und Palmenzweigen herein« (ebd.), also mit den Attributen der christlichen Ikonographie, wie eine sprechende Statue, die von einem Altar dieser Kapelle herab gestiegen ist. In den Begriffen der Dramenanalyse Manfred Pfisters handelt es sich hier und in den beiden noch folgenden Auftritten des Bonifa29

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Vgl. Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. In: ders.: Kritische Ausgabe, Bd. 2 (wie Anm. 15), S. 234-362, hier S. 296f. So sagt z.B. der Köhler Grimoald: »Die Mönche sind zum Beten in der Welt, / Ritter und Knecht um wacker dreinzuschlagen, / Wir aber mit der Hand uns zu ernähren« (G, 364). Diese Trennung der Stände verfehlt eindeutig das Ideal der Einheit von Arbeit, Krieg und Religion, das in der Replik sofort vom Diener Wendelin als Postulat ausgesprochen wird: »Doch mag sich alles gut zusammenfugen« (G, 364). In ähnlicher Funktion wird die schäferliche Liebe zwischen Heinrich und Else in die Realität materieller und sozialer Bedingungen eingebettet, die alles andere als arkadisch ist (vgl. G, 376). Vgl. Hardenberg: Europa (wie Anm. 19), S. 509f.: »Noch war die Menschheit für dieses herrliche Reich nicht reif, nicht gebildet genug. Es war eine erste Liebe, die im Druck des Geschäftslebens entschlummerte.«

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tius - als Erzähler des Schicksals von Genoveva in den sieben Jahren ihres Aufenthalts in der »Wüste« (G, 507-513) und als Sprecher des Epilogs (G, 55lf.) - um eine Episierung der dramatischen Sprechsituation durch eine Figur, die an der Grenze zwischen dem Typ einer spielinternen und einer spielexternen Figur steht32 bzw. die Merkmale beider Typen kombiniert. Bonifatius tritt zwar in der spielinternen Welt als Figur nicht auf, aber die anderen Figuren beziehen sich in ihren Reden auf ihn als Teil ihrer Welt. Dieser Struktur entspricht, daß die Auftritte des Bonifatius nicht in einem Raum jenseits des fíktionalen Handlungsraums der Dramenfiguren, also z. B. im Proszenium, stattfinden, sondern jeweils innerhalb des spielinternen Raums, denn die Szenenanweisungen »Kapelle« und »Wüste« gelten übergangslos auch für die anschließende Handlung. Dennoch hat der Bonifatius der Auftritte einen anderen Status als der Bonifatius, auf den sich die Figuren beziehen. Das wird schon durch die Ausstattung der Figur mit den ikonographischen Attributen angedeutet, die ihm erst nach seiner Heiligsprechung zukommen. Die lebendig gewordene Statue kann daher nicht Teil der Kapelle als Spielraum sein, so daß diese Kapelle im Übergang vom Prolog zum Spiel ihren Status verändert und zugleich identisch bleibt. Mit dieser Zwischenstellung von Bühnenbild und Figur wird signalisiert, daß Bonifatius einerseits der Epoche des frühen Mittelalters angehört, daß er andererseits ein überzeitliches Prinzip religiöser Grundlegung von Staat und Gesellschaft repräsentiert. Während er nun aber spielintern als Figur des Mittelalters der Vertreter einer religiösen Institution ist, der seinen Einfluß mit Hilfe von politischen Instanzen geltend macht und ihnen seinerseits Legitimität verleiht, ist er spielextern eine Figur, die durch die Kunst vergegenwärtigt wird. Da nun Bonifatius die Gegenwart als Zeit des Endes jener institutionellen Religion charakterisiert, die er selbst in Europa begründet hat, wechselt er das Medium seines Wirkens: von den leeren »Tempeln« auf eine Bühne des Theaters. Dieser Orts- und Medienwechsel könnte so verstanden werden, als erhebe der Autor den Anspruch, den Ort der Realpräsenz des Absoluten vom religiösen Ritual, das an den Raum und die Institution der Kirche gebunden ist, auf die Theaterbühne zu übertragen, durch die Aufführung des Dramas Liturgie und Sakrament zu ersetzen und das Theater so der ursprünglichen kultischen Funktion des griechischen Theaters wieder anzu-

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Vgl. Pfister: Drama (wie Anm. 18), S. 109-121.

Ludwig Tiecks >Leben und Tod der heiligen Genoveva
Lesedrama< konzipiert, und das heißt, daß die Bühne, auf der die Kunst die Religion vergegenwärtigt, eine vom Leser zu imaginierende Bühne ist.34 Die gegenwärtige Institution des Theaters, die als Ort einer neuen ästhetischen Liturgie zur Verfugung stünde, könnte das, was beansprucht wird, nicht leisten, denn die Entwicklung der Kultur hat in der Gegenwart die dafür vorauszusetzende Einheit der getrennten Systeme noch nicht erreicht, sie wird im Sinne der unendlichen Progressivität der romantischen Poesie auch in der erwarteten neuen Epoche nicht vollständig erreichbar sein. Die Imagination des Lesers kann aber auch nicht der Ort sein, an dem sich die Realpräsenz ereignet, da ihm die Gemeinschaftlichkeit und Öffentlichkeit eines Rituals fehlt. Der Leseakt kann das Defizit der gegenwärtigen Bühne also nicht vollständig kompensieren. An dieses Defizit wird aber dadurch erinnert, daß der Text nicht die Form des Romans hat, sondern mit der Form des Dramas den Anspruch auf die Darstellung in einer öffentlichen sprachlich-gestischen Aktion geltend macht und gleichzeitig das Scheitern dieses Anspruchs anzeigt.35 Die Struktur des >Lesedramas< kann somit als Ironiesignal interpretiert werden. Es gibt zu verstehen, daß die Kirnst mit ihren Mitteln hinter dem, was sie eigentlich anstrebt, die Wiedervereinigung von Kulthandlung und Kunst, immer zurückbleiben muß, und sie verweist gerade damit auf das verfehlte Ziel.36

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Eine solche Deutung könnte davon ausgehen, daß in der Frühromantik das Wissen um diese Funktion des griechischen Dramas präsent war. Vgl. ζ. B. Friedrich Schlegel: Vom ästhetischen Werte der griechischen Komödie. In: ders.: Kritische Ausgabe. Bd. 1, hg. von Ernst Behler, München-PaderbornWien 1979, S. 19-33, hier S. 23f. Der Bezugstext ist das 4. Kapitel von Aristoteles' Poetik. Zum Zusammenhang von Ritual und Theater vgl. die Hinweise bei Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur, Tübingen 1996, S. 225-233. Diesen Aspekt betont Tieck selbst im Vorwort von 1828 (vgl. Anm. 13), auf das sich auch Ribbat bezieht. Dies wäre eine Erklärung dafür, daß das Drama als vom Roman deutlich unterschiedene Form im Werk Tiecks und in der Romantik eine so große Rolle spielt, allerdings als >LesedramaLesedramas< realisiert den Text zwar in einer Art von theatralischer Aktion, vollzieht diese aber statt auf dem Theater in einem Raum zwischen Intimität und Öffentlichkeit, m einer Gemeinschaft von Kennern und Gleichgesinnten, was dem frühromantischen Selbstverständnis als einer - vorläufig - esoterischen Avantgarde entspricht. Die Möglichkeit, auf diese Weise auch an durch Textrezitation ausgelöste Entgrenzungserfahrungen heranzukommen,39 ist Tieck selbst nicht imbekannt gewesen, da er, wie in einem Brief an Wackenroder vom 12. Juni 1792 dokumentiert ist, zumindest einmal in seinem Leben ein solches Erlebnis hatte. Diese Erfahrung wird allerdings so wiedergegeben, daß dem Autor der schmale Grat zwischen der Entgrenzung und dem Ichverlust im Wahnsinn zeitlebens gegenwärtig geblieben sein dürfte.40 Bei der Analyse dieser ironisch gebrochenen Übertragung von religiöser Rede und Aktion auf die imaginierte Bühne des >Lesedramas< bzw. in 37

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Zur Funktion und zur Gestaltung von Dichterlesungen, die erst Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt worden sind, vgl. Braungart: Ritual (wie Anm. 33), S. 197-199. Entscheidend für das Verständnis der zeitlich vorausgehenden Lesungen scheint mir hier der Hinweis auf die Wirkung der >ReOralisierung< von Literatur in der Epoche der Schriftlichkeit: »Die Mündlichkeit der Dichterlesung läßt - wie im Ritual - Mimik und Gestik [...] eine Bedeutung zuwachsen, die der schriftliche Text von sich aus nicht hat. [...] Dichterlesungen können die Gemeinde-Bildung fördern oder zur GemeindeBildung führen. Sie sind vormodeme soziale Distributionsformen von Literatur.« (S. 198f.) Vgl. das Zitat in Anm. 8. Zu beachten ist hier der Hinweis Goethes auf seine Entrückung aus dem Zeitbewußtsein. Zu diesem Punkt vgl. Braungart: Ritual (wie Anm. 33), S. 73: »Rituale gibt es in einem Kontinuum zwischen >kontrolliert< und >streng< einerseits und >exzessiv< und >ekstatisch< andererseits.« Diese Formulierung ist allerdings nicht ganz glücklich, weil sie den Zusammenhang von ritueller Handlung im Sinne einer geregelten gemeinschaftlichen Aktion und ekstatischer Entgrenzung zu wenig betont. Vgl. Wilhelm Heinrich Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Silvio Vietta und Richard Littlejohns, Bd. 2, Heidelberg 1991, S. 47-50: Tieck liest Grosses Genius in einem >Vorlesemarathon< von vier Uhr nachmittags bis nachts um zwei Uhr und gerät dann in einen Zustand der Entrückung, in dem Gefühle des Erhabenen und Schönen von grauenerregenden Wahnbildern abgelöst werden.

Ludwig Tiecks >Leben und Tod der heiligen Genoveva
vorromantischenLesedramaIdeenLesedramas< ausgehend, läßt sich auch plausibel machen, daß und warum diese Kunst einen Heiligen der katholischen Kirche im Prolog auftreten läßt und damit bei den Adressaten an reaktivierbare kollektive Erinnerungsbestände appelliert: an die Tradition der bildenden Kunst der Kirche, an die Tradition der kirchlich überlieferten Legende und Heiligenverehrung und an die in der Gegenwart noch lebendigen Restbestände des im 8. Jahrhundert begründeten politischen und religiösen Systems,46 die immer noch zu faszinieren vermögen. Bonifatius bietet allerdings eine Deutung dieser Erinnerungsbestände an, die sie an die aktuellen Intellektuellendiskurse anschließbar machen: Nun kehr ich wieder Und oftmals geht in dieser späten Zeit Mein Geist umher und schaut nach Christen um, Und wenn ich die Gesinnung und die Herzen Der Menschen prüfe, die an selber Stätte wohnen, Wo sonst die Tempel standen mit den Bildern, Wo sonst in Andacht stille Seelen knieten, [...] Und wenn mein schweres Auge nunmehr schaut, Wie keiner sich und Gotte mehr vertraut Und auf dem Sande seine Wohnung baut, Wie wenige nur meinen Namen kennen, [...] So wend ich härmend und voll Zorn den Blick Und geh in die Verborgenheit zurück. Gesang des Priesters aus der Ferne. Jetzt wird ein Spiel euch vor die Augen treten, O laßt den harten Sinn sich gern erweichen, Daß ihr die Kunde aus der alten Zeit, Als noch die Tugend galt, die Religion, Der Eifer für das Höchste, gerne duldet. (G, 361 f.)

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gleichzeitig reflektiert wird, so daß sich die literarische Reproduktion dieses Zustands immer selbst an der Erreichung des Ziels hindern muß. Der Text, der wahrscheinlich Tiecks Brief eines jungen Mahlers zugrunde liegt, nämlich Wackenroders Schilderung eines feierlichen Hochamts im Dom zu Bamberg, eignet sich als Quelle für die Analyse dieses Phänomens sehr gut. Das Ich nimmt zu Beginn die Haltung eines aufgeklärten Beobachters ein, der sich mit Nicolais Reiseberichten vorbereitet hat und wie ein Ethnologe nur eine Art Beobachtungsprotokoll erstellen möchte. Er wird dann durch die Gewalt des Rituals vom Beobachter zum Teilnehmer, der es nicht vermeiden kann, vor der Monstranz niederzuknien; vgl. Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe (wie Anm. 40), Bd. 2, S. 204.

Ludwig Tiecks >Leben und Tod der heiligen Genoveva
Neuen Mythologie^ einen verbreiteten Stoff der christlichen Tradition im Medium der modernen romantischen Literatur zu vermitteln, nicht um die institutionelle Gestalt der mittelalterlichen Lösung zu restaurieren, sondern um in der poetisierten Darstellung dieser Problemlösung in einer imaginierten theatralischen Aktion für die Erneuerung des Prinzips einer solchen Verbindung zu werben, wie dies auch die Absicht von Hardenbergs Europa ist.

4. Die Darstellung des mittelalterlichen Systems geschieht spielintern in der Karl-Martell-Handlimg in einer Reihe von Kontrasten und Korrespondenzen zwischen den Franken und Arabern. Die Opposition der kulturellen Orientierungen wird in einigen Szenen eingeführt, die im fränkischen Feldlager am Abend und in der Nacht vor der Schlacht bei Poitiers spielen. Die Unterhändler des arabischen Heerführers Abdorrhaman kommen zu Karl und fordern ihn auf, sich zu ergeben. Karl weist dies zurück mit der Begründung, daß die Araber nicht an die Trinität und an Christus glauben, sondern an die Macht der Gestirne (vgl. G, 380f.), und er verbin47

A. W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Zweiter Theil (1802-1803): Geschichte der klassischen Litteratur, hg. von Jakob Minor, Stuttgart 1884, S. 49.

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det dies mit der Aufgabe, die Kultur der Franken gegen die Araber zu verteidigen. Dieser Sternenglaube der Araber wird nicht nur hier in der Fremdcharakterisierung angesprochen, sondern er ist auch Teil von deren Selbstcharakterisierung (vgl. G, 390). Bei diesem Motiv gibt es eine Korrespondenz auf der Seite der Franken, denn sie scheinen ebenfalls an die Astrologie zu glauben. In dieser Korrespondenz wird ein Kontrast ausgebildet, der prägend für das Konzept ist. In einer Szene, in der die Schlacht bei Poitiers siegreich geschlagen, aber der Krieg noch nicht gewonnen ist, kommt nämlich ein »Unbekannter« zu Karl Martell und prophezeit ihm in der Form von Terzinen die Erneuerung des Kaisertums bei den Deutschen durch Karl den Großen, also jene Institution, die der Leser noch vor Augen hat. Der »Unbekannte« leitet seine Prophetie wie die Araber aus der Beobachtung der Sterne ab: So hör mich Karl, von Heldenblut entsprossen, Denn große Dinge will ich dir verkünden. Die Kunst hat mir die Pforten aufgeschlossen, Und was ich sag sollst du wahrhaftig finden, Denn Sterne können niemals Lüge sprechen, Wer sie verhöhnt, belastet sich mit Sünden: [...] Was in den Himmelskreisen sich bewegt, Das muß auch bildlich auf der Erde walten, Das wird auch in des Menschen Brust erregt, [...] Drum wer die Weisheit kennt, kennt keinen Zügel, Er sieht die ganze Welt in jedem Zeichen, Zur Stemenwelt trägt ihn der kühne Flügel. Nur von der Gottheit muß er niemals weichen, Sonst sinkt er aus der Kunst in irdisch Bangen Und Satans Kraft mag ihn alsdann erreichen. (G, 406f.)

Der Unterschied der Astrologiekonzepte ist unschwer zu erkennen. Hier geht es nicht um einen deterministisch gefaßten Einfluß der Gestirne auf den Menschen, sondern um die symbolische Entsprechung von Mensch und Kosmos, die Repräsentanz des Ganzen in jeder Einzelgestalt. Diese Konzeption wird von den Frühromantikern nicht nur dem Weltbild der Antike zugeordnet, sondern in der europäischen Neuzeit auch der Pansophie des 17. Jahrhunderts, etwa in der Gestalt von Jakob Böhme, aber

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