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German Pages 214 [216] Year 2000
Zwischen Tradition und Innovation
Zwischen Tradition und Innovation Poetische Verfahren im Spannungsfeld Klassischer und Neuerer Literatur und Literaturwissenschaft
Herausgegeben von
Jürgen Paul Schwindt
Κ · G · Saur München · Leipzig 2000
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zwischen Tradition und Innovation : poetische Verfahren im Spannungsfeld Klassischer und Neuerer Literatur und Literaturwissenschaft / hrsg. von Jürgen Paul Schwindt. München ; Leipzig : Saur, 2000 ISBN 3-598-73000-4 €> 2000 by Κ. G. Saur Verlag GmbH & Co. KG, München Part of Reed Elsevier Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. All Rights Strictly Reserved. Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlages ist unzulässig. Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, 99947 Bad Langensalza
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
VII
Martin Hose Der alte Streit zwischen Innovation und Tradition. Über das Problem der Originalität in der griechischen Literatur
1
Jürgen Paul Schwindt Römische »Avantgarden«. Von den hellenistischen Anfängen bis zum 'archaistischen' Ausklang. Eine Forschungsskizze
25
Peter von Möllendorff Aeneas und Odysseus. Die 'Tore des Schlafs' in Aen. 6, 893-99
43
Rene Nünlist Rhetorische Ironie - Dramatische Ironie. Definitions- und Interpretationsprobleme
67
Melanie Möller Der Stil ist der Mensch? Zu einem Topos der antiken Literaturkritik
88
Karin Westerwelle Beauti und force als Kriterien, die Alten und die Modernen zu verstehen. Aspekte der Quer eile in Michel de Montaignes Essais
109
Arnd Kerkhecker Kallimachos, Wieland und der Zeus des Phidias
135
Bettina Full J' aime le souvenir de ces epoques nues. Antike im Karikaturverfahren bei Charles Baudelaire
163
Jürgen Paul Schwindt Chronodramatik und Ästhetische Theorie. Perspektiven kunstwissenschaftlicher Altertumsforschung
182
Die Autoren des Bandes
205
Vorbemerkung
Vorliegender Band dokumentiert eine Reihe von Vorträgen, die zum größeren Teil im Rahmen des Ersten Interdisziplinären Kolloquiums: Klassische Philologie und Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld im Sommersemester 1999 gehalten wurden. Das leitende Interesse aller hier versammelten Beiträge ist es, die Tauglichkeit literaturwissenschaftlicher Verfahren und Fragestellungen bei der Erforschung der griechisch-römischen Literatur und ihrer europäischen Nachwirkung zu prüfen und womöglich den Horizont fruchtbarer interdisziplinärer Arbeit in philologisch-literaturwissenschaftlichen Fallstudien genauer zu vermessen. Thematischer Schwerpunkt ist die Frage literarischer Originalität im Spannungsfeld von älterer und neuerer Literatur. An ausgewählten Texten und Autoren werden Grundprobleme älterer und neuerer Literaturwissenschaft im methodischen Zusammenhang expliziert: die Kategorie des 'Neuen' in der Literatur (Hose), die 'Avantgarden'-Frage (Schwindt), das Verhältnis von 'Poiesis' und 'Mimesis' (Möller, Westerwelle), Probleme der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik griechischer und lateinischer Dichtung (von Möllendorff, Nünlist), Beispiele struktureller Antikerezeption, die sich nicht nur auf der motivischen Ebene, sondern in den poetischen Verfahren selbst niederschlägt (Full, Kerkhecker, Schwindt). Im Eröffungsbeitrag "Der alte Streit zwischen Innovation und Tradition. Über das Problem der Originalität in der griechischen Literatur" handelt Martin Hose von den materialen und ideengeschichtlichen Grundlagen der Originalitätsdebatte in der frühen und klassischen griechischen Literatur und gelangt zu wichtigen Präzisierungen der herkömmlichen Auffassung von der Entwicklung der griechischen Literatur beim Eintritt in ihre spätund nachklassische Phase. Von der hellenisch-hellenistischen Debatte über das Verhältnis von Tradition und Innovation ist die römische Auseinandersetzung von Beginn an nicht zu trennen; sie nimmt vielmehr von den griechischen Positionen ihren natürlichen Ausgangspunkt. Die Möglichkeiten einer hellenistisch-römischen Literaturgeschichte unter dem Signum ihrer formal-ästhetischen 'Avantgardizität' untersucht der zweite Beitrag ("Römische »Avantgarden«. Von den hellenistischen Anfängen bis zum 'archaistischen' Ausklang. Eine Forschungsskizze").
VIII
Vorbemerkung
Der Grundfrage der Beziehung literarischer Texte im diachronischen Gefüge der Literaturgeschichte widmet sich Peter von Möllendorff am Beispiel der Traumtor-Szene in Odyssee und Aeneis ("Aeneas und Odysseus. Die 'Tore des Schlafs' in Aen. 6, 893-99"). Im Zugriff auf neueste Kommunikations- und Rezeptionstheorie demonstriert der Autor die Möglichkeiten und Grenzen eines am latinistischen exemplum erprobten Modells von Intertextualität. Mit einem Generalproblem literarisch-literaturwissenschaftlicher Hermeneutik hat es auch der nächste Beitrag zu tun. Rene Nünlists Studie "Rhetorische Ironie - Dramatische Ironie. Definitions- und Interpretationsprobleme" handelt von den Schwierigkeiten, die mit der Bestimmung rhetorischer Figuren(systeme) im einzelnen verbunden sind. An ausgewählten Partien des griechischen Epos und Dramas dokumentiert der Autor die Fruchtbarkeit eines reflektierteren, d.h. Erkenntnisse der sprachwissenschaftlichen Pragmatik und Erzählforschung nutzenden Umgangs mit der 'literarischen' Ironie. Von erheblicher Bedeutung fur die Analyse rhetorisch-literaturwissenschaftlicher Begrifflichkeit (von Möllendorff, Nünlist) wie das Verständnis literarhistorischer Entwicklung (Hose, Schwindt) ist die Erforschung des griechisch-römischen " Stü"-Begriffs. Melanie Möllers Beitrag ("Der Stil ist der Mensch? Zu einem Topos der antiken Literaturkritik") handelt von einer Grundannahme jenes vormodernen Verständnisses von Literatur, das der 'Mimesis' entschieden vor der phantastischen, lebensweltlichen Kategorien sich entziehenden 'Poiesis' den Vorzug gibt. Die seit Mitte des 1. Jhs. v. Chr. häufiger werdenden Autonomisierungsversuche bilden den Horizont der Untersuchung, vor dem die gegenläufige Tendenz der Bezähmung des Phantastischen im Zerrspiegel einer anthropologisch und charakterologisch fundierten Literaturkritik und theorie desto sichtbarer wird. Die 'andere' Seite im Wettstreit mimetischer und mimesiskritischer Positionen tritt in den Vordergrund in Karin Westerwelles Beitrag ("Beaute und force als Kriterien, die Alten und die Modernen zu verstehen. Aspekte der Querelle in Michel de Montäignes Essais"). Bei der Untersuchung der Montaigneschen Poetik der Antikezitation wird deutlich, wie der Autor lange vor der querelle des 17. Jahrhunderts Positionen ausgebildet hat, die eine moderne Theorie der Imagination in entscheidenden Punkten antizipieren. Einem kuriosen Fall struktureller Antikerezeption ist Arnd Kerkhecker auf die Spur gekommen. In seiner Studie ("Kallimachos, Wieland und der Zeus des Phidias") geht er u.a. der Frage nach, wie es möglich sei, daß
Vorbemerkung
IX
Wieland im 'Aristipp' Einsichten formuliert, die die Kenntnis eines erst im 20. Jahrhundert bekannt gewordenen Iambenfragments des Kallimachos voraussetzen sollten. Wie lassen sich die auffallenden kulturhistorischen Strukturanalogien erklären? Gibt es (poetologische) Bilder, die - epochenübergreifend - Epoche gemacht haben? Noch der Mitbegründer der Ästhetischen Moderne Charles Baudelaire entwickelt seine kunstkritischen Positionen in der Auseinandersetzung mit der klassischen Antike, genauer: ihrer neoklassizistischen Rezeption im Frankreich des 19. Jahrhunderts. In ihrem Beitrag V aime le souvenir de ces ipoques nues. Antike im Karikaturverfahren bei Charles Baudelaire" kann Bettina Full durch eindringliche Analyse zweier paradigmatischer Texte des Autors zeigen, wie die seinen Werken inhärenten Bezüge auf die Welt der Antike diese nicht in sentimentalisch-elegischer Absicht evozieren, sondern als Karikaturen ihrer affirmativen Anverwandlung konzipiert sind. Von den Widerständen, die die Deutungsmacht einer sich in Jahrhunderten verfestigenden philologischen Tradition den Innovationsgelüsten moderner Kunst und Literatur bereiten kann, handelt auch der abschließende Beitrag ("Chronodramatik und Ästhetische Theorie. Perspektiven kunstwissenschaftlicher Altertumsforschung"). Er ist dem Versuch gewidmet, eines der produktivsten Mißverständnisse in der Rezeption der griechisch-römischen Antike im Kontext der modernen wissenschaftlichen und künstlerischen Theoriebildung neu zu verhandeln: Zu prüfen sind die Perspektiven einer Rehabilitierung der 'Einheit der Zeit' als ästhetischer Kategorie. Es wäre vermessen, abschließend die Quintessenz der hier entwickelten Ansichten ziehen zu wollen. Der Herausgeber erwiese seinen Mitautoren und der Sache, um die es geht, einen schlechten Dienst. Deutlich wurde in den meisten Beiträgen vor allem dies: wie wenig Tradition und Innovation in der künstlerischen Praxis voneinander zu trennen sind. Gerade der Rückgang auf antike Überlieferung erweist sich oft genug als das innovative
Wie diffizil sich die Auseinandersetzung mit antiken literarischen Traditionen unter den Bedingungen einer selbstbewußt gewordenen künstlerischen Moderne gestaltet, davon zeugt auch der hier nicht wieder veröffentlichte Vortrag des Berliner Zeichentheoretikers und Sprachphilosophen Oliver Robert Scholz ("Zweimal zwei Hälften. Symbolon und Eros in Goethes 'Die Wahlverwandtschaften'" [s. Neue Rundschau 110, 1999, 6 9 76]): kann er doch nachweisen, daß die Beziehung der 'Wahlverwandtschaften' auf den platonischen Androgynenmythos der Aristophanesrede (Symposion 189c - 193d) tiefer reicht, als die Motivforschung stets vermutet hat. Scholz' Erkenntnisse eröffnen Perspektiven auch für eine erneuerte Strukturanalyse des Goetheschen Romans.
χ
Vorbemerkung
Moment moderner Literatur, indem sie durch die Schichten einer bis in die Antike selbst zurückreichenden Deutungstradition hindurch den zeitlosen Kern literarischer Phänomene offenlegt. Die Leser des vorliegenden Bandes werden ihre eigenen Schlüsse ziehen aus den mitgeteilten Befunden, wie dies zuvor bereits die Teilnehmer des Kolloquiums getan haben. Ihnen allen, besonders meinen Kolleginnen und Kollegen aus den altertums-, literatur- und sprachwissenschaftlichen Fächern und - nicht zuletzt - unseren Studierenden und Qualifikanten, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Daß sich gleich das Erste Interdisziplinäre Kolloquium in eine breitere Öffentlichkeit wagen darf und schon im Wintersemester 1999/2000 ein Zweites Kolloquium zum Thema »Vom Bild zur Epoche. Konstruktionen tropischer Rede in Antike und Neuzeit« (mit interdisziplinären Beiträgen von M.Asper, M.Flashar, L.Giuliani, S.Gödde, A.Kerkhecker, J.Muraäow, T.Schmitz und G.Vogt-Spira) folgen konnte, ist auch ihrer immerwachen Neugierde und Gesprächslust geschuldet. Für zuverlässige Unterstützung bei der Herstellung der Druckvorlage bin ich Herrn Marc Steinmann zu Dank verpflichtet. Jps
31. März 2000
Der alte Streit zwischen Innovation und Tradition. Über das Problem der Originalität in der griechischen Literatur Martin Hose - München Emst Vogt zum 6.11.2000 zugeeignet
Wer sich mit dem Thema der Originalität in Bezug auf die griechische Literatur befassen will, gerät in die Gefahr, sich heillos in verschiedene Aspekte, die mit dem Thema gegeben sind, zu verstricken. Denn wir sind es gewohnt, in der griechischen Literatur paradigmatisch jene 'Ursprünglichkeit' vertreten zu sehen, die zur Beschäftigung mit ihr anreizt. Seit Winckelmann 1755 seine epochemachenden "Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst"1 und fast zeitgleich Young die "Conjectures on original composition" 1759 (bereits 1760 in deutscher Übersetzung) publizierten und damit das sich ausbildende Konzept der Genie-Ästhetik2 auf die griechische Kunst und Literatur, hier zuvörderst auf Homer, bezogen, durfte sich deijenige, der sich mit dieser Kultur und Literatur befaßte, als Sachwalter eines besonders wertvollen, klassischen Gegenstandes fühlen. Daß freilich hierbei Reduktionsmechanismen zugrunde lagen, blieb - naheliegend - außerhalb des Blickfeldes. Man ließ den Alten Orient außer acht, im 18. Jhdt. aus Gründen der Emanzipation der Philologie von der Theologie, im 19. Jhdt. aus Gewohnheit und in der ersten Hälfte des 20. Jhdts. auch (allerdings kaum allein) infolge eines latenten Antisemitismus. Erst seit etwa 20 Jahren ist diese Reduktion beseitigt.3 Die
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Siehe hierzu und zu der durch Winckelmann inaugurierten Zuspitzung der Antithese 'Antik-Modern' zu 'Griechisch-Modern' M. Fuhrmann, Die Querelle des Anciens et des Modernes, der Nationalismus und die Deutsche Klassik, in: M. F., Brechungen. Wirkungsgeschichtliche Studien zur antik-europäischen Bildungstradition, Stuttgart 1982, 129-149 bzw. 233-237 (zuerst 1979). 2 Siehe dazu J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, Darmstadt 1988. 3 Siehe zu den geistes- bzw. kulturgeschichtlichen Konstellationen, in denen sich die Abschottung vollzog, W. Burkert, Homerstudien und Orient, in: J. Latacz (Hrsg.), Zweihundert Jahre Homerforschung, Stuttgart/Leipzig 1991, 155-181. Nachdem die Arbeiten
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Martin Hose
zweite große Verkürzung in der Auseinandersetzung mit der griechischen Literatur lag in der Eingrenzung auf die Klassik, d. h. Homer, Sophokles und Piaton, ein Vorgang, der etwa um 1800 auf die Schullektüre übergriff und Autoren wie Plutarch, der Schiller - aus Übersetzungen - nach Ausweis der Räuber noch vertraut war, aus dem öffentlichen Gedächtnis tilgen half. Als gleichsam bemerkenswerte Nebenwirkung dieser Konstruktion der griechischen Literatur stellte sich ein schlechtes Gewissen bei denjenigen Philologen ein, die sich der lateinischen Literatur verschrieben hatten und nun ihrerseits deren Originalität zu begründen suchten.4 Man behalf sich hier in zweierlei Weise: in der verstärkten Auseinandersetzung mit denjenigen Bereichen der römischen Literatur, in denen das griechische Element gar nicht zu erwarten war, also der Satire, oder aber von anderen Aspekten überlagert erscheinen konnte, so etwa im Falle der römischen Komödie. Der zweite Weg bestand in einer listigen Umformulierung des Originalitätskonzepts. Friedrich Leo argumentierte subtil, daß die Originalität der römischen Literatur zuvörderst darin bestehe, daß sie als erste Literatur nicht originell sei.5 Es sei freilich nicht verschwiegen, daß sich die Latinistik seit etwa einer Generation aus diesem Gefühl einer Inferiorität gegenüber der Gräzistik und deren vermeintlich wertvollerem Gegenstandsbereich befreit hat. Doch das ist eine andere Geschichte. Für den, der sich nun mit der griechischen Literatur (selbst in ihrer reduzierten, klassischen Form) beschäftigt, ergibt sich indes eine Beobachtung, die angesichts des für diese Literatur errichteten Originalitätsanspruchs eher bestürzend ist. Augenscheinlich war es denjenigen, die zur griechischen Literatur beitrugen, gar nicht darum zu tun, originell zu sein. Goethes berühmtes Wort, in dem er prägnant das Konzept der 'Ursprünglichkeit' der Literatur postuliert, eben jenes „Jeder sei auf seine Art Grieche! Aber er sei's" 6 - hätten es am Ende die griechischen Literaten überhaupt begriffen? Uvo Hölscher hat in seinem berühmten 'Selbstgespräch über den Humanismus' eine Notiz aus Nietzsches 'Wir Philologen': "Eivon Franz Dornseiff (gesammelt etwa in: Antike und Alter Orient, Leipzig 1956, siehe dazu J. Werner, "Die Welt hat nicht mit den Griechen angefangen". Franz Dornseiff (1888-1960) als klassischer Philologe und als Germanist, Abh. Leipzig, Phil.-hist. Kl. 76.1, 1999, 17-21) ohne Resonanz im Fach blieben, vollzogen die Öffnung insbesondere W. Burkert (s. zuletzt dessen The Orientalizing Revolution, Cambridge/Mass. 1992) und M. L. West (zuletzt The East Face of Helicon, Oxford 1997). 4 Vgl. dazu insgesamt P. L. Schmidt, Zwischen Anpassungsdruck und Autonomiestreben: Die deutsche Latinistik vom Beginn bis in die 20er Jahre des 20. Jhdts., in: H. Flashar (Hrsg.), Altertumswissenschaft in den 20er Jahren, Stuttgart 1995, 115-182. 5 Fr. Leo, Die Originalität der römischen Literatur, Göttingen 1904. 6 Fuhrmann 137.
Der alte Streit zwischen Innovation und Tradition
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gentlich überfällt uns das Altertum, wenn wir jung sind, mit einer Fülle von Trivialitäten" folgendermaßen weitergeführt: "Wir müssen uns eingestehen, daß das Altertum daran niemals Anstoß genommen hat. Man wiederholt und variiert Tropen, Motive, Bilder und Gedanken, und gerade den höchsten Kunstwerken scheint eher ihre vollkommenste Erfüllung als ihre Durchbrechung zu gelingen. Selbst ein so negativer Geist wie Lukian bleibt parodistisch im Gehege dieser Normen. Wir Philologen pflegen uns mit der Erkenntnis, daß es dem Altertum nicht auf Neuheit, nicht auf Originalität ankam, über unseren Überdruß hinwegzuhelfen."7 Die hier knapp skizzierte Position darf als communis opinio unseres Faches angesprochen werden. Allerdings gilt es, die Gefahr einer pauschalen Feststellung zu meiden, in der Antike habe man den Gesichtspunkt, den wir heute mit Originalität bezeichnen, nicht gekannt oder wenigstens nicht - in welchen Zusammenhängen auch immer - benutzt. Eine nähere Betrachtung kann hier durchaus eine differenziertere Situation nachzeichnen; und die nachfolgenden Überlegungen sollen einen ersten Eindruck geben, der natürlich noch weiter vertiefbar wäre. Es soll im folgenden gezeigt werden, daß in der griechischen Literatur das Konzept der Originalität durchaus entstanden ist, und zwar unter bestimmten Bedingungen, daß es aber infolge einer rekonstruierbaren Weichenstellung ins Abseits geriet zugunsten eines konkurrierenden Modells, der imitatio.
1 Als Ausgangspunkt der Untersuchung soll ein Fragment fungieren, das aus dem Proöm der Persika des Epikers Choirilos von Samos stammt. Dieser Dichter klagt am Ende des 5. Jhdts. v. Chr.: α μάκαρ, όστις έην κείνο ν χρόνον ίδρις άοιδής, Μουσάων θεράπων, δτ' ακήρατο? ήν έτι Χειμών νϋν δ' οτε πάντα δέδασται, έχουσι δέ πείρατα τέχναι,
7
U. Hölscher, Selbstgespräch über den Humanismus, in: Die Chance des Unbehagens. Zur Situation der klassischen Studien, Göttingen 1965, 5 3 - 8 6 bzw. 8 9 - 9 1 , Zitat 61.
Martin Hose
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ύστατοι ώστε δρόμου καταλειπόμεθ', ούδέ ττη έστι πάντη παττταίνοντα νεο£υγές άρμα πελάσσαι.8 "Selig der, der zu jener Zeit kundig des Gesangs war, ein Musendiener, als deren Wiese noch ungemäht war. Jetzt aber, da alles zerteilt ist und die Künste ihre Grenzen erreicht haben, sind wir zurückgeblieben wie Verlierer beim Wettlauf, und auch nicht, selbst wenn man überall Ausschau hält, findet sich irgendwo ein Platz, einen frisch angeschirrten Wagen zu fahren."
Die Wiese der Musen ist abgemäht, die Künste sind an ihre Grenzen gelangt. Diese Gedanken setzen in Erstaunen. Denn Choirilos scheint offensichtlich darin ein Problem zu sehen, daß die ihm vorausliegende Dichtung alle Möglichkeiten erschöpft habe. Für ein neues Werk - so kann man sein Bild vom Wagen 9 fassen - ist kein Raum mehr. In diesen Versen steht damit implizit die Vorstellung, daß ein gutes Gedicht Neuland betreten muß. Dem Literaturhistoriker ist nun durchaus vertraut, daß Choirilos mit seinem Epos Persika einen neuen Weg zu gehen meinte, wenn er den großen Perserkrieg von 480 zum Gegenstand hexametrischer Dichtung machte.10 Denn in einem weiteren Fragment aus dem Proöm (vielleicht stand es sogar am Anfang des Werkes11) bittet er die Musen: ήγεό μοι λόγον άλλον, όπως Άσίης άπό γαίης ήλθε ν ές Εύρώττην πόλεμος μέγας 12 "Erzähle mir eine andere Geschichte, wie aus Asien nach Europa der große Krieg kam".
Die Wahl des Gegenstandes - d e r Perserkrieg- wird hier dezidiert als άλλος λόγος apostrophiert,13 und die Andersartigkeit begründet sich natür8
H. Lloyd-Jones, P. Parsons (Hrsgg.), Supplementum Hellenisticum, Berlin/New York 1983, dort Nr. 317 = Frg. 2 bei A. Bernabe (Hrsg.), Poetarum Epicorum Graecorum Testimonia et Fragmenta, Pars I, Leipzig 1987. 9 Zu diesem Bild siehe jetzt R. Nünlist, Poetologische Bildersprache in der frühgriechischen Dichtung, Stuttgart/Leipzig 1998, 255-264. 10 Vgl. dazu E. Bethe, s.v. Choirilos (Nr. 2), RE III. 2, 1899, Spp. 2359-2361, hier 2359. 11 So P. Parsons u. H. Lloyd-Jones, Suppl. Hell. p. 147 zu SH 316. 12 SH 316 = Frg. 1 Bernabe. 13 Gegen A. Barigazzi, Mimnermo e Filita, Antimaco e Cherilo nel Proemio degli Aitia di Callimaco, Hermes 84, 1956, 162-182, hier 178, der im άλλος λόγος den dritten Teil des Werkes angekündigt sieht, G. Huxley, Choirilos of Samos, GRBS 10, 1969, 12-29, hier 15, fur die hier zugrundegelegte Bedeutung.
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lieh durch die Differenz zum trojanischen Krieg und Homer, also zu einem 'großen Krieg', der von Europa nach Asien getragen wurde. Man könnte nun einwenden, daß diese Andersartigkeit auch durch die Differenz zwischen Mythos und Historie bei der Stoffwahl begründet sein mag, 14 doch sei nur daran erinnert, daß etwa zur gleichen Zeit, da Choirilos seine Persika verfaßte, der Historiker Thukydides im 1. Buch seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges geradezu selbstverständlich von einer Historizität des trojanischen Kriegs ausgeht. 15 Choirilos sieht die Andersartigkeit seines Werkes vielmehr darin, ein noch unbehandeltes Thema gefunden zu haben, einen Raum, um im Bild seiner Klage zu bleiben, für seinen frisch angeschirrten Wagen. Mit diesem Konzept entspricht Choirilos in bestimmter Weise durchaus einer Vorstellung von Originalität, wie sie sich im 17. und 18. Jhdt. ausbildete. 16 So heißt es etwa bei Diderot in der Enzyklopädie 17 , daß man in der Malerei dann von einem Original sprechen dürfe, wenn es nach der 'Imagination' bzw. der Natur gestaltet sei. Schöpferische Phantasie und imitatio naturae sind bei Duff und Young die Bestandteile der Originalität, 18 und Choirilos insinuiert, daß er seine Persika nicht in Nachahmung anderer Epen verfaßt hat; die Wahl des Gegenstandes und die Ausführung könnten auf'schöpferische Phantasie' weisen. Etwa zur gleichen Zeit, da Choirilos diese Verse dichtete, schrieb der berühmte Rhetor Isokrates:
14 So etwa W. Suerbaum, Untersuchungen zur Selbstdarstellung älterer römischer Dichter, Hildesheim 1968, 18/9; ähnlich R. Häußler, Das historische Epos der Griechen und Römer bis Vergil, Heidelberg 1976, 70 ("Verschmelzung von Mythos und Historie"); ähnlich S. Koster, Antike Epostheorien, Wiesbaden 1970, 18, der im Begriff λόγος· den 'geschichtlich erforschbaren' Stoff benannt sieht. Jedoch scheint Choirilos durch άλλος vorauszusetzen, daß die alten, jetzt verbrauchten Stoffe auch λόγοι sind. 15 Vgl. etwa 1, 9 - 1 2 . Siehe dazu A. Tsakmakis, Thukydides über die Vergangenheit, Tübingen 1995, 3 5 - 3 8 . 16 Dazu zusammenfassend I. Sauer, s. v. Original/Originalität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Spp. 1373-1378. 17 D. Diderot, Oeuvres Completes, Bd. 16, Paris 1876, 179, s. v. Original. 18 W. Duff, An Essay on Original Genius (hrsg. v. J. L. Mahoney, Gainsville 1964). Vgl. dazu Sauer 1374, s. ferner H. Blumenberg, Nachahmung der Natur, Studium Generale 10, Heft 5, 1957, 2 6 6 - 2 8 3 ; U. Hohner, Die Problematik der Naturnachahmung in der Ästhetik des 18. Jhdts., Erlangen 1976.
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"Es ist selten, bei Gegenständen (oder: Personen) von Bedeutung etwas zu finden, was noch niemand zuvor gesagt hat, bei nichtigen und geringen Gegenständen ist, was auch immer man äußert, gänzlich eigener Besitz."19 Hier liegt also eine Problemanzeige vor, die Choirilos' Klage entspricht. Allerdings sucht Isokrates einen anderen Ausweg als der Epiker. Denn das Zitat entstammt seiner Lobrede auf Helena. Dieses Thema hatte zuvor sein Lehrer Gorgias behandelt, und Isokrates bezieht sich ausführlich 20 auf dessen Enkomion, wenn er fortfahrt: "Deshalb lobe ich den, der über die Helena schrieb, am meisten von allen, die etwas gut sagen wollten, weil er einer solchen Frau gedachte ... Allerdings beging er, ohne es selbst zu bemerken, einen kleinen Fehler. Denn er sagt zwar, eine Lobrede auf sie verfaßt zu haben, er hat aber tatsächlich eine Verteidigungsrede fur ihre Handlungen formuliert."21 In diesen Worten steckt ein ganzes Konzept. Isokrates definiert nämlich, scheinbar beiläufig, die Absicht des - allgemein gesprochen - Schriftstellers als ευ λέγειν, gut sprechen. Hieraus ergibt sich, daß es nicht auf ein neues Thema oder einen neuen Gegenstand ankommt, sondern auf die vollendete Behandlung des Themas. Und da Gorgias in den Augen des Isokrates aufgrund seines Fehlers dieses Ziel verfehlt hat,22 ist eine neuerliche Behandlung legitim. In einer anderen Rede benennt Isokrates Prämissen und Ziel abstrakter: es sei möglich, auf vielfältige Weise über dasselbe zu handeln, und legitimes Ziel des Redners dürfe sein, besser zu reden.23 Isokrates formuliert damit ein Konzept der literarischen Mimesis24, einen Gegenentwurf
19 Helena § 13: περί μεν τών δόξαν εχόντων σπάνι,ον εύρεΐν, α μηδείς πρότερο ν είρηκε, περί δε τών φαύλων και ταπεινών, ότι άν Tis τύχη φθεγξάμενο?, απαν ϊδιόν εστίν. 20 Siehe dazu Th. Buchheim (Hrsg.), Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien. Griechisch-Deutsch, Hamburg 1989, 159 (Anm. zu II 1 ). 21 Helena § 14. 22 Ob Isokrates' Kritik berechtigt ist, steht auf einem anderen Blatt. S. dazu L. Braun, Die schöne Helena, wie Gorgias und Isokrates sie sehen, Hermes 110, 1982, 158-174, hier 164/5. 23 Isokrates 4,8: επειδή δ' οί λόγοι τοιαύτην έχουσι την φύσιν ώσθ' οΐόν τ' είναι περί τών αύτών πολλαχώς έξηγήσασθαι ..., ούκετι φευκτέον ταϋτ' έστί, περί ων έτεροι πρότερον είρήκασιν, άλλ' άμεινον εκείνων ειπείν πειρατέον. 24 Zum Begriff Mimesis in der griechischen Literatur bis Isokrates vgl. St. Halliwell, Aristotle's Poetics, London, 2. Aufl. 1998, 109-137, mit weiterer Literatur.
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zur Originalität. 25 Es ist augenfällig, daß sowohl Choirilos' Bemühen um Originalität als auch Isokrates' Mimesis-Rezept etwa zeitgleich erscheinen, daß also um die Wende vom 5. zum 4. Jhdt. ein Problembewußtsein dafür nachgewiesen werden kann, daß Literatur-würdige Themen nur begrenzt vorhanden sind. Es liegt nun nahe, diesen Befund mit der sich ausbildenden Buchkultur zu verbinden. 26 Denn gerade am Ende des 5. Jhdts. ist die Möglichkeit, Bücher zu erwerben und zu besitzen, sicher bezeugt. Erinnert sei etwa an die berühmte Bemerkung, die Piaton dem Sokrates in der Apologie in den Mund legt, man könne sich für eine Drachme die Schriften des Anaxagoras in Athen besorgen (Apologie 26d/e). Hieraus ergibt sich dann eine Anreicherung des 'kulturellen Gedächtnisses' in der griechischen Welt, die die Dichter (und Logographen) mit einem völlig neuen Problem konfrontierte, nämlich der potentiellen Konkurrenz nicht nur zu zeitgenössischen, sondern auch zu älteren Texten. Hier scheint mir deshalb der Ort, an dem sich in Griechenland das Konzept der 'Originalität' gebildet hat. Wenn dies zutrifft, dürfte in der frühen griechischen Literatur weder die Position des Choirilos noch die des Isokrates mit ihren Voraussetzungen vorzufinden sein. Anders formuliert: Der Anspruch, Neues zu sagen, wie auch das Rezept, Vorliegendes zu übertreffen, dürfte dort nicht angebunden sein an das aporetische Moment der Stofferschöpfung, das als solches generell fehlen müßte.
2 Nun ist es methodisch bekanntlich nahezu aussichtslos, die Nicht-Existenz von bestimmten Dingen nachweisen zu wollen; und die Behauptung, daß man kein Gegenbeispiel kenne, dürfte kaum zufriedenstellen. Daher ist ein anderer Weg zu beschreiten. Es soll in der gebotenen Kürze gezeigt werden, daß diejenigen Hinweise, die die archaischen und klassischen Dichter bzw. Literaten zum Feld von innovatio und imitatio geben, in einem anderen Kontext stehen. Zunächst eine Vorbemerkung: Eine Behandlung unseres Themas in der frühen griechischen Literatur muß sich auf gelegentliche Bemerkungen in dieser Literatur selbst beschränken, da wir zwar von eini25
Man könnte aus 4,8: ούκέτι φ€υκτέον sogar schließen, daß er mit seinem Konzept dezidiert gegen ihm bekannte Forderungen nach 'Originalität' Stellung bezieht. 26 Dazu grundsätzlich W. Rosier, Die griechische Schriftkultur der Antike, in: H. Günther, O. Ludwig (Hrsgg.), Schrift und Schriftlichkeit, Bd. 1,1, Berlin/New York 1994, 511-517; E. Pöhlmann, Einführung in die Überlieferungsgeschichte und die Textkritik der antiken Literatur, Bd. 1, Darmstadt 1994.
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gen literaturkritischen bzw. -theoretischen Abhandlungen besonders aus dem Bereich der Sophistik wissen,27 diese aber relativ spurlos verloren sind. Die Betrachtung kann bei chronologischer Ausrichtung nur mit dem homerischen Epos beginnen. In der Odyssee verteidigt Telemachos den Sänger Phemios, der mit einem Lied über die Heimkehr der Achaier Penelope betrübt hatte, mit dem Argument: τ η ν γ α ρ άοιδήν μάλλον έπικλείουσ' άνθρωποι, ή t l s άκουόντεσσι ν ε ω τ ά τ η άμφιπέληται. "Denn das Lied rühmen die Menschen mehr, das für die Hörer rings das 'Neueste' ist." (Od. 1, 351/2).
Auf den ersten Blick scheint hier der Gesichtspunkt der Originalität auf, was aber an der Übersetzung von νεωτάτη liegt, νέος bedeutet nämlich nicht, 'neu' im Sinne von 'neuartig, zuvor nicht existent', sondern heißt 'jugendlich' oder 'frisch' 28 . Neuartig in der Bedeutung 'originell' nach dem Verständnis des 18. Jhdts. hieße dagegen καινός, wie ich später zeigen werde.29 Telemachs Satz ist damit im Hinblick auf unsere Problemstellung gänzlich indifferent, weil er lediglich auf das "frische" Lied, d.h. das gerade entstandene gemünzt ist.30 Sowohl Choirilos' Persika als auch Isokrates' Helena könnten natürlich von ihren Verfassern so beschrieben werden. Und Telemachs Positionierung ist nicht zufällig, da im homerischen Epos nirgendwo der Gedanke einer Erfindung oder eines Erfinders erscheint, die τέχναι vielmehr von Göttern vermittelt erscheinen31 - in diesen Kontext gehört die Vorstellung, der Sänger oder Dichter sei von den Musen inspiriert.32 Ähnlich steht es um das Selbstbewußtsein des homerischen Helden,
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Siehe dazu W. Kranz, Die Urform der attischen Tragödie und Komödie, Neue Jahrbücher 43, 1919, 145-168; ders., Stasimon, Berlin 1933, 1-33, besonders auch 268/9. 28 Siehe dazu LSJ s. v. veos. 29 Die Grundbedeutung von καινό? ist "ungewohnt, außerordentlich", so etwa Aischylos, Ag. 1071; siehe dazu Jakob Wackernagel, Kleine Schriften, Göttingen 1953, 799. 30 Siehe dazu den Kommentar von G. Lanata (Hrsg.), Poetica Pre-Platonica, Florenz 1963, 18/19 zu dieser Stelle. 31 Siehe dazu A. Kleingünther, ΠΡΩΤΟΣ ΕΤΡΕΤΗΣ, Philologus Suppl. 26.1, Leipzig 1933, 9-11; K. Thraede, s.v. Erfinder II (geistesgeschichtlich), RAC 5, 1962, 1191-1278, vgl. dort 1193/94; s. ferner K. Thraede, Das Lob des Erfinders, RhM 105, 1962, 158186. 32 Vgl. dazu M. Schmidt, s.v. αυτοδίδακτο?, in: LfrE, Bd. 1, 1619/20; den Aspekt des Stolzes auf die eigene 'schöpferische' Kraft - so H. Maehler, Die Auffassung des Dichterberufs im frühen Griechentum bis zur Zeit Pindars, Göttingen 1963, 22/23 - bzw. den impliziten Anspruch auf künstlerische Originalität - so W. Verdenius, The Principles of
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der seine Erfolge stärker als Geschenk, als Gabe der Götter, denn als Resultat der eigenen Leistung sieht. 33 Anders verhält es sich in dem Bereich, den wir als 'frühgriechische Lyrik' zu bezeichnen pflegen. Zu den Möglichkeiten, die sich in den Gattungen der Lyrik, wohl infolge des jeweiligen Sitzes im Leben, boten, also zuvörderst Symposion und Kult, gehörten neben der Betonung der eigenen Person - oder des lyrischen Ichs 34 - auch die 'Verortung' des jeweiligen Gedichts innerhalb von Gattungs- (oder: Aufftihrungs-)zusammenhängen. Man hat diesen Befund bekanntlich geistesgeschichtlich interpretiert, d. h. als Entdeckung von Individualität, zu der auch die Einsicht gehören sollte, zu individuellen und das heißt in der Konsequenz: originellen Schöpfungen fähig zu sein. Eine Diskussion der hiermit verbundenen Probleme kann an dieser Stelle nicht unternommen werden, auch läßt sich ein anderes Erklärungsmuster, das weniger kontrovers sein dürfte, zumindest für die von mir so bezeichnete 'Verortung', ins Feld fuhren. Denn es ist auffällig, daß über ihre 'Erfindung' in der Hauptsache die sogenannten Chorlyriker sprechen, also diejenigen, die mit ihren Liedern in einem Agon, einem Wettbewerb stehen. Dieser Wettbewerb kann synchron sein, d. h. man steht in Konkurrenz zu Dichtern bei derselben Gelegenheit, wie auch diachron, wenn das eigene Lied dem indirekten Vergleich mit etwa einem ein Jahr zuvor aufgeführten Beitrag zum Fest steht. Vor diesem Hintergrund finden Verse ihren Ort wie etwa Alkmans έ π η δέ y e και μ έ λ ο ς 'Αλκμάν
ευρε γεγλωσσαμέναν κακκαβίδων όπα συνθέμενος (PMG 3935) "Die Worte natürlich und auch die Melodie hat Alkman erfunden, nachdem er auf die tonreiche Stimme der Haselhühner geachtet hat."
Greek Literary Criticism, Mnemosyne 36, 1983, 14-59, hier 2 2 - kann ich nicht erkennen. 33 Siehe dazu E. Heitsch, Erfolg als Gabe oder Leistung, in: Et Scholae et Vitae. Festschrift K. Bayer, München 1985, 7-13. 34 Material bei O. Tsagarakis, Self-Expression in Early Greek Lyric Elegiac and Jambic Poetry, Wiesbaden 1977; W. Kranz, Sphragis. Ichform und Namenssiegel als Eingangs- und Schlußmotiv antiker Dichtung, RhM 104, 1961, 3-46, 97-124; vgl. femer W. Kranz, Das Verhältnis des Schöpfers zu seinem Werk in der althellenischen Literatur, NJbb 27, 1924, 65-86. 35 Der Text ist umstritten, siehe die adnotatio bei D. L. Page (Hrsg.), Poetae Melici Graeci, Oxford 1962, bzw. M. Davies (Hrsg.), Poetarum Melicorum Graecorum Fragments Vol. 1, Oxford 1991.
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In diesen Versen könnte man eine imitatio naturae entdecken und ihnen so ein zentrales Moment der Originalität im neuzeitlichen Sinn zuerkennen. Eine solche Behandlungsweise ließe sich sogar auf die spätere Antike beziehen. Denn der Aristoteles-Schüler Chamaileon, dem wir mittelbar die Tradierung dieser Verse verdanken, zitiert Alkman als Beleg für seine Vorstellungen der Kulturentstehung?6 Indes liegt in Alkmans Versen ein anderer Akzent: Der Dichter - Bruno Gentiii hat darauf aufmerksam gemacht37 stellt nicht seine μιμησις der Vogelstimmen heraus, sondern seine μάθησις. Er hat von den Vögeln gelernt. Die Konsequenz dieser Akzentuierung liegt damit nicht im Anspruch Alkmans auf 'Originalität', sondern auf seinem 'Können', was sich auch an anderen Fragmenten beobachten ließe.38 Ein 'Könnensbewußtsein', um diesen von Christian Meier geprägten Begriff zu zitieren,39 prägt die griechischen Lyriker,40 allerdings wahrscheinlich thematisiert, um das eigene Werk gegenüber Konkurrenten zu profilieren. Bei Pindar, soweit ich sehe, begegnet unter den Konzepten dieser Profilierung im Kontext eines 'Könnensbewußtseins' erstmals dezidiert der Verweis auf seine Innovationen, allerdings eher im Sinne von 'Erneuerung', nicht von Originalität. Dies hat bereits die spätere antike Literaturkritik erkannt: "Stets nämlich nennt er sich selbst selbstgelehrt" (άεί γάρ εαυτόν λέγει αύτοδίδακτον) heißt es in einem Scholion.41 An einer Reihe von Stel-
36
S. F. Wehrli (Hrsg.), Die Schule des Aristoteles, Heft 9, Phainias v. Eresos, Chamaileon, Praxiphanes, Basel/Stuttgart 1957, zitiert die Partie Athenaios 389 F als Frg. 24 des Chamaileon und weist sie im Kommentar (S. 78/9) - zögernd - einer Schrift über Alkman zu. Siehe zur Einordnung des Chamaileon in die Positionen antiker Kulturentstehungstheorien D. Giordano (Hrsg.), Chamaeleontis Heracleotae Fragmenta, Bologna 2 1990, 147/8. 37 B. Gentiii, Poesia e Pubblico nella Grecia Antica, Rom 1984, 69. 38 PMG 40; 41; 16; 38. 39 Chr. Meier, Ein antikes Äquivalent des Fortschrittsgedankens: Das "KönnensBewußtsein" des 5. Jhdts. v. Chr., in: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt 1980, 435-499. Wesentlich für die Kontroverse über die Existenz eines antiken und zumal griechischen Konzepts von "Fortschritt", in der Meiers Arbeit Position bezieht, sind W. K. C. Guthrie, In the Beginning. Some Greek Views on the Origins of Life and Early State of Man, Ithaca 1957; Ludwig Edelstein, The Idea of Progress in Classical Antiquity, Baltimore 1967; E. R. Dodds, The Ancient Concept of Progress, Oxford 1973. Vgl. auch J. Kerschensteiner, Antike Gedanken zum Kulturfortschritt und seiner Ambivalenz, in: F. Hörmann (Hrsg.), Dialog Schule - Wissenschaft, Bd. 9, Werte der Antike, München 1975, 26-53. 40 Zu diesem Bereich gehört auch der Anspruch auf Wissen bzw. Einsicht, dazu M. Treu, Von der Weisheit der Dichter, Gymnasium 72, 1965, 433-449. 41 Schol. zu O. 9, 152d [1,302,16 Dr.], Zur Unabhängigkeit Pindars siehe C. M. Bowra, Pindar, Oxford 1964, 192-197.
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len betont er die 'Neuheit' in seinen Liedern. 4 2 In Olympie
3, 4 - 6 heißt e s
etwa: 4 3 Μοΐσα δ'ούτω TTOL παρέσ τ α μοι νεοσίγαλον εύρόντι τρόπον Δωρίω φωνάν έναρμόξαι. πεδίλω άγλαόκωμον "So stand mir die Muse bei, daß ich, neuartig glänzende Sangesart findend, passend zum dorischen Festtakt schuf den Festzug". Merkwürdig erscheint Nemee
8, 20/21:
πολλά γ ά ρ πολλά λέλεκται, νεαρά δ' έξευρόντα δόμεν βασάνω έ ζ έλεγχον, ά π α ? κίνδυνο?. "Denn Vieles ist auf vielfaltige Weise schon erzählt, und wenn man Neues finden und am Prüfstein zur Probe vorlegen will, ist es allemal eine Gefahr." W i e s o liegt in der Innovation eine Gefahr? Hier kommt die Konkurrenzsituation ins Spiel. Simonides, der berühmte ältere Rivale Pindars, fühlte sich durch dessen Innovationsrhetorik so gestört, daß er dichtete: ε ξ ε λ έ γ χ ε ι νέος olvos οϋπω πέρυσι δώρον αμπέλου' κούρων δ' δδε μΰθος κενεόφρων (PMG 602 44 ). "Noch übertrifft nicht der junge Wein das Geschenk des Weinstocks aus dem letzten Jahr. Junger Männer törichte Rede ist das." D i e s ist v o n der antiken Literaturkritik als Angriff auf Pindar gedeutet worden, und zwar auf ein Merkmal seiner Poesie, denn man brachte damit - als Replik - Olympie
9, 4 8 / 9 in Verbindung: 4 5
α'ίνει δε παλαιόν μεν οίνον, άνθεα δ' ϋμνων νεωτέρων. "Preise den alten Wein, aber die Blüten neuer Lieder."
42 43 44 45
Vgl. dazu W.J.Verdenius, Commentaries on Pindar I, Leiden 1987,11/12 zu 0 . 3 , 4. Vgl. I. 5, 63. Ich übernehme in V. 3 die Herstellung von Page. Schol. Pindar Ο. 9, 74 [1,285 Dr.].
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Bevor man die Verbindung als späte Philologen-Konstruktion abtut, sollte man einen Seitenblick auf Bakchylides, den Neffen und gleichfalls Rivalen Pindars, werfen. Denn auch er scheint in die Kontroverse einzugreifen: ε τ ε ρ ο ς έξ έτέρου σ ο φ ό ς τ ό τ ε π ά λ α ι τ ό τ ε νυν (ούδέ γ α ρ ρ α σ τ ο ν ) άρρητων έ π έ ω ν π ύ λ α ς έ ξ ε υ ρ ε ΐ ν (Frg. 5 Sn/M). "Einer ist vom anderen weise, so war es früher, so ist es jetzt. (Denn es ist auch nicht besonders leicht) ungesagter Wörter Tore aufzufinden."
In den letzten Versen des Fragments46 scheint sich eine Haltung anzukündigen, die auf Choirilos verweist. Doch ist die Voraussetzung noch eine andere: Bakchylides drängt den Hörer zu dem Eingeständnis, daß die Betonung des Neuen im pindarischen Stil lediglich Schein sei,47 daß poetische Produktion seit alters in den Bahnen von Tradition verläuft. 48 Resignation oder die Suche nach neuen Wegen liegt hier nicht vor; die Stellungnahme bedeutet vielmehr ein Bekenntnis zu Simonides' Traditionalismus. Für eine andere Gattung, die uns seit etwa der Mitte des 5. Jhdts. kenntlich zu werden beginnt, scheint der Innovationsdruck konstitutiv - für die (attische) Komödie nämlich. Innovation ist hier vornehmlich bereits beim Stoff (allerdings auch bei den Formen49) erforderlich. Gegenstand der Alten wie auch der Mittleren Komödie kann alles sein, so scheint es: die Polis, das Theater, die Natur, der Mensch etc. 'Neuheit' und Überraschung wurde vom Dichter, der beim Agon erfolgreich sein wollte, durchaus erwartet, wie sich aus einigen Bemerkungen in Parabasen des Aristophanes erkennen
46
Siehe dazu Lanata 102/3. Daß Bakchylides selbst in 19,8-10 bittet: ύφαινε νυν ev ταΐς- ττοΧυηράτοις t l καινόν όλβίαις Άθάναις, steht auf einem anderen Blatt. 48 Für die Archäologie der Intertextualitätstheorie scheint dieses BakchylidesFragment wichtiges Material zu bieten. 49 Siehe dazu zuletzt B. Zimmermann, Innovation und Tradition in den Komödien des Aristophanes, Seminari Romani di Cultura Greca, 1 2 , 1 9 9 8 , 2 7 5 - 2 8 7 . 47
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läßt.50 Auf den Punkt brachte dieses Prinzip im 4. Jhdt. Antiphanes, aus dessen Komödie Poiesis eine berühmte Partie erhalten ist: ...μακάριόν έστι ή τραγωδία ( - die Lobpreisung erinnert an Choirilos' Klage! - ) π ο ί η μ α κατά π ά ν τ ' e'i ye πρώτον οί λόγοι ύπό των θεατών ε ί σ ι ν έγνωρισμενοι, π ρ ι ν καί τιν' ε ι π ε ί ν , ώστ' ύπομνήσαι μόνον δεΐ τον ποιητήν... ή μι ν δέ τ α ΰ τ ' ούκ ε σ τ ί ν , αλλά π ά ν τ α δεΐ εύρεΐν, ονόματα καινά, καινά π ρ ά γ μ α τ α καινού? λόγους, κ ά π ε ι τ α τ ά διακείμενα πρότερον, τ ά νϋν παρόντα... (Frg. 189 Κ-Α 5 1 ). "Wie glücklich dran in all und jedem ist doch die Tragödiendichtung! Denn da ist zunächst der Stoff dem Publikum längst vertraut, eh' einer noch etwas gesprochen hat. Der Dichter braucht nichts zu tun, als die Erinnerung zu wecken ... ... So gut hat's unsereiner nicht, da alles wir erfinden müssen: neue Namen, neuen Stoff und neue Reden; das, was vor dem Stück geschah, und was in ihm passiert...".
Wichtig an dieser Partie scheint, daß nach dem Verständnis des 4. Jhdts. die Innovation, das καινόν, ebenso konstitutiv für die Komödie ist wie sie es für die Tragödie scheinbar nicht war. Denn in der ernsten Schwestergattung, in der eine offene poetologische Reflexion nicht üblich war,52 stehen natürlich
50 Wolken 546-8, Wespen 1050-1054; vgl. auch den Hinweis auf Neues, das geboten wird, in den Wespen 1044 u. 1536; vgl. auch Kratinos' Fragment 152 K-Α (der Sinn ist aber unklar). Die Konkurrenz der Dichter ist auch Hintergrund für implizite 'Plagiatsbeschuldigungen' wie Eupolis Frg. 89 K-Α, die nur auf der Grundlage der autonomen Erfindung denkbar werden. Siehe dazu E. Stemplinger, Das Plagiat in der griechischen Literatur, Leipzig/Berlin 1912, 12-14. 51 Übers, nach O. Weinreich (Hrsg.) Aristophanes. Sämtliche Komödien, Zürich; Stuttgart 1968, 795. Weinreich legt in V. 18/9 die Ergänzung Kaibels zugrunde. In V. 19 lese ich mit Richards διακείμενα. 52 An einigen Stellen erfolgt eine - indirekte - Thematisierung über Doppeldeutigkeiten der Formulierung, etwa in Euripides' Medea V. 546 (zum sog. Agon logon)·, häufiger finden sich derlei als selbstbezügliche Reflexion lesbare Partien in Chorliedern, vgl. dazu A. Henrichs, Dancing in Athens, Dancing on Delos. Some Patterns of Choral Projection in Euripides, Philologus 140, 1996, 48-62; ders. 'Why should I dance?', Choral SelfReferentiality in Greek Tragedy, Arion 3rd ser. 3.1, 1995, 56-111, bzw. "Warum soll ich denn tanzen?", Dionysisches im Chor der griechischen Tragödie, Leipzig 1996, dort jeweils weitere Literatur. Der Aspekt der 'Innovation' wird jedoch dabei kaum angesprochen, eine Ausnahme bildet Euripides, Troerinnen V. 511-14, wo der Chor von der Muse καινοί ύμνοι erbittet.
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auch erhebliche Neuerungen selbst im Bereich des Stoffs zu Buche. Aber selbst eine so gravierende Änderung wie die "ägyptische Helena" des Euripides53 wird im Stück selbst nicht ausdrücklich als 'Kainotomia' angesprochen54, dies tut die Komödie. 55 Hier darf der Durchgang durch die Vorgeschichte der Originalitätsproblematik beendet werden. Wir haben an einigen Fällen gesehen, wie die Frage nach der Innovation erörtert wurde, und als Hintergrund dieser Frage die agonale Einbettung der 'Literatur' feststellen können. Isokrates und Choirilos standen indes vor einem anderen Problem, der Frage nämlich, ob und wie angesichts einer erdrückenden literarischen Tradition überhaupt noch eine Produktion möglich ist. Wenn diese These zutrifft, müßte sich für das späte 5. und 4. Jhdt. angesichts der Allgemeinheit des Problems eine breitere Diskussion nachweisen lassen. Diese Diskussion soll nun nachgezeichnet werden.
3 Am Beginn dieses Teils des Aufsatzes steht der Sophist Hippias56, der wohl in den letzten Jahrzehnten des 5. Jhdts. eine Συναγωγή, "Zusammenfuhrung" betitelte Schrift verfaßt hat57. Andreas Patzer hat den Nachrichten und Fragmenten dieser Schrift eine scharfsinnige Analyse gewidmet, deren Ergebnisse hier übernommen werden. Im Proöm58 dieser Synagoge schreibt Hippias: "Hiervon (gemeint ist: was Hippias vermitteln will) ist manches wohl (oder: auf gleiche Weise, das Adverb 'ίσως· erlaubt beides59) von Orpheus, manches von Musaios in aller Kürze, von dem einen an diesem, von dem anderen an 53 Siehe dazu R. Kannicht (Hrsg.), Euripides Helena, Bd. 1, Einleitung und Text, Heidelberg 1969, 21-26. 54 Bezeichnenderweise findet sich ein Hinweis auf den innovativen Zug der Helena versteckt im Orestes V. 129: Ιστι δ' ή πάλαι γυνή. 55 Aristophanes, Thesmophoriazusen V. 850. Ähnlich nimmt auch Telekleides (Frg. 41 K - Α ) auf entsprechende Neuerungen des Euripides Bezug. Siehe dazu zuletzt F. Conti Bizzarro, Poetica e critica letteraria nei frammenti dei Poeti Comici Greci, Neapel 1999, 178-185. 56 Dazu insgesamt A. Patzer, Der Sophist Hippias als Philosophiehistoriker, Freiburg/München 1986. 57 DK 86 Β 4. 58 Zur Zuweisung von DK 86 Β 6 an das Proöm s. Patzer 31/2. 59 Siehe die Diskussion bei Patzer 26-29.
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jenem Ort60 gesagt, manches von Hesiod, manches von Homer, manches von den übrigen Dichtern, manches in den Prosaschriften von den Griechen wie von den Barbaren. Ich nun habe aus all diesen das Wichtigste (τά μέγιστα) und Verwandte zusammengestellt und werde daraus diesen neuen (καινόν) und vielgestaltigen Logos machen" (DK 86 Β 6). Eine 'enzyklopädische Anthologie' 61 erstellt Hippias also - und wenn man den Sinn dieser Schrift darin sieht, daß ihr Benutzer in die Lage gesetzt wird, eventuell radikales sophistisches Denken durch eine Art 'Altersbeweis' als traditionell zu entschärfen und somit akzeptabler zu präsentieren, 62 so darf man sagen, daß bei Hippias die spätere Last der Tradition noch als Chance der Innovation begriffen ist. Wichtig scheint mir ferner, daß auch bei Hippias der Gedanke an 'Originalität' im Zusammenhang mit der entstehenden Buchkultur steht. Allerdings ist Hippias' Weg ein später nicht mehr weiter verfolgter Weg. Aus einer Reihe von Zeugnissen läßt sich vielmehr für das späte 5. und nahezu gesamte 4. Jhdt. eine Polarisierung rekonstruieren, deren Positionen bereits mit Choirilos, dem Innovator, und Isokrates, dem Traditionalisten, vorgestellt sind. Pointiert formuliert, liegt die Differenz zwischen den Zielen καινά λέγειν ("Neues sagen") und καινώς λέγειν ("auf neue Weise 63 sagen"). Diese Kontroverse ist bislang in der Hauptsache mit dem Blick auf die Erneuerungen in der Musik behandelt worden. 64 Doch läßt sie sich auch als Debatte um die Berechtigung von Innovation und Streben nach Originalität' lesen. Einen Fanfarenstoß bedeuten hier die Verse des Timotheos: ούκ άείδω τά παλαιά, καινά γάρ άμά κρείσσω' νέος ό Zeus βασιλεύει, τό πάλαι δ' ήν Κρόνο? άρχων' άπίτω Μοΰσα παλαιά (PMG 796). "Nicht singe ich das alte Zeug, denn meine neuen Lieder sind besser (eigentlich: stärker).
60
Zu dieser Übersetzung s. Patzer 21/22. Patzer 32. 62 Vgl. Patzer 111/2. 63 Vgl. Isokrates 13, 13. 64 Siehe dazu B. Zimmermann, Dithyrambos. Geschichte einer Gattung, Göttingen 1992, 117-136. 61
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Der junge Zeus ist König, in grauer Vorzeit war Kronos Herrscher. Weg mit der alten Muse."
Timotheos verkündet hier nicht nur ein stolzes dichterisches Selbstbewußtsein, er überhöht sein Konzept des 'neuen Liedes' durch eine Analogie: wie Zeus Kronos in der Sukzession der Götterherrscher überwunden hat, so ist auch sein Lied 'stärker'. Ob ihm bewußt war, daß er mit dieser Analogie das 'Alte', also Hesiods Theogonie,65 eher aufhob und integrierte als fortjagte? Innovationen wurden im Bereich der Gattungen gewagt, Grenzen erweitert - dies hatte man natürlich schon immer getan, aber jetzt geschah es unter Inanspruchnahme einer 'Innovationsrhetorik', die in der Kritik (s. u.) und späteren Reflexen kenntlich wird. Mir scheint, daß als später Reflex der sog. 2. Prolog der Mythiamben des Babrios auf diese Tradition Bezug nimmt. Dort heißt es: Μΰθος μεν, ώ παΐ βασιλέως- 'Αλεξάνδρου, Σύρων παλαιών έστιν εϋρεμ' ανθρώπων, οι πρίν ποτ' ήσαν επί Νίνου τε και Βήλου. πρώτος δε, φασίν, ειπε και Λιβυστίνοις λόγου? Κυβίσσης·. άλλ' έγώ νέη μοΰση δίδωμι καθαρω χρυσίω χαλινώσας τον μυθίαμβον ώσπερ ϊππον όπλίτην. ύπ' έμοΰ δε πρώτου της- θύρης άνοιχθείσης είσήλθον άλλοι... "Diese Fabel, ο Sohn des Königs Alexander, ist die Erfindung alter Syrer, die unter der Regierung des Ninos und Belos einst lebten. Als erster, so heißt es, hat sie den Kindern der Griechen der weise Äsop erzählt, und es erzählte auch den Libyern Geschichten Kybisses" (V. l-6a).
Soweit liegt hier ein traditioneller 'Erfinder-Katalog' vor. Doch Babrios fahrt dann fort: "Aber ich gebe eine neue Muse, die ich mit reinem Gold gezäumt habe, den Mythiambos,
65
V. 487-500.
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wie ein Schlachtroß. Nachdem ich als erster das Tor geöffnet hatte, strömten erst andere hinein ..." (V. 6b-10).
Ein Anspruch auf Originalität liegt hier vor, begründet mit der 'Kreuzung der Gattungen'66 Fabel und Jambos. Sogar explizite Polemik gegen die 'Traditionalisten' ist kenntlich. Aelian berichtet in seinen Bunten Geschichten von einem Bild des Malers Galaton,67 auf dem der sich erbrechende Homer dargestellt sei, von dessen Erbrochenem alle anderen Dichter schöpften. 68 In einer höchst gemäßigten Form findet sich ein Plädoyer für Innovation sogar bei Xenophon. In der Kyrupädie läßt Xenophon den jungen Kyros zahllose Weisheiten durch Gespräche mit seinem Vater erfahren.69 So gibt ihm Kambyses auch den Rat, im Krieg Neues, Überraschendes einzusetzen, "ganz wie die 'Musiker' nicht nur gebrauchen, was sie gelernt haben, sondern auch Neues zu entwickeln versuchen. Und besonders bringt das Neue und Unverbrauchte in der Musenkunst Ruhm ein ..." (Kyr. 1, 6, 38).
4 Die Gegenposition, der Rekurs auf die Tradition, läßt sich vom späten 5. Jhdt. an nachzeichnen. Reich vertreten ist sie in der Komödie; dies ist, allgemein betrachtet, leicht erklärlich, weil für die attische Alte und Mittlere Komödie die in der umgebenden Realität diagnostizierte Abweichung von der Norm eine der wesentlichen Stoffquellen darstellt.70 Als eine solche 66
Dazu W. Kroll, Studien zum Verständnis der römischen Literatur, Stuttgart 1924, 202-224, B. Zimmermann, Gattungsmischung, Manierismus, Archaismus, Lexis 3, 1989, 25-36. 67 Galaton ist nicht datierbar, s. O. Rossbach, s. v. Galaton (2), RE VII 1, 1912, 559. Die Versuche von D. A. Traill, Callimachus' Singing Sea (Hymn 2, 106), CPh 93, 1998, 215-22, hier 217/8, ihn mit der Einrichtung des Homereions zu verbinden, vermögen die Argumentation von C. O. Brink, Ennius and the Hellenistic Worship of Homer, AJPh 93, 1972, 547-67, hier 555, nicht zu widerlegen. 68 Hier liegt eine polemische Replik vor gegen den als Quelle allen Wissens betrachteten Homer, der etwa in den anonymen anapästischen 'Laudes Homeri' (p. 187/88 bei J. U. Powell [Hrsg.], Collectanea Alexandrina, Oxford 1925) erscheint. S. dazu insgesamt M. Hillgruber, Die pseudoplutarchische Schrift De Homero, Teil 1, Stuttgart; Leipzig 1994, 5-35. 69 S. dazu B. Zimmermann, Roman und Enkomion - Xenophons "Erziehung des Kyros", WJB 15, 1989, 97-105, hier 100. 70 Vgl. dazu Verf., Der aristophanische Held, Drama 3, 1995, 27-50. Daß innerhalb einer Komödie die Auseinandersetzung mit dem 'Abnormen' durch Aufbau von 'Ge-
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Normabweichung läßt sich jede künstlerische Innovation betrachten, und dies ist der Ausgangspunkt für etwa eine berühmte Partie aus dem Cheiron des Pherekrates, in der die personifizierte Musike die technischen und gestalterischen Neuerungen der Lyriker als eine Reihe von Vergewaltigungen, die sie an ihr begangen hätten, schildert.71 Die Tendenz zu Experimenten mit Gattungsgrenzen greift im 4. Jhdt. more comico Anaxilas auf: ή μουσική δ' ώσπερ Λιβύη, προ? των θεών αίεί τι καινόν κατ' ένιαυτόν θηρίον τίκτει.72 "Die Musenkunst, genau wie Libyen (dieser Kontinent ist im Griechischen sprichwörtlich für das Hervorbringen von Ungeheuern73), bei den Göttern, gebiert Jahr für Jahr aufs Neue stets irgend ein neues Untier."
Das in diesen Versen thematisierte Unbehagen an den augenscheinlich zahlreichen Versuchen, das Spektrum der traditionellen Gattungen zu erweitern oder zu verändern,74 läßt sich einerseits auf Choirilos' Klage zurückbeziehen. Die Grenzen der Künste waren erreicht, und Choirilos' Persika bedeuteten insofern eine Veränderung der Gattung 'Epos', als hier ein bislang ungewöhnlicher Stoff zugrunde gelegt wurde. Andererseits deutet das Anaxilas-Fragment, wie es scheint, auf den kardinalen Punkt der Kontroverse, die Gattungsfrage. Denn diese wird auch im philosophischen Diskurs über die Innovationsproblematik aufgegriffen. Piaton erörtert sie mehrfach und verbindet sie mit dem Problem politischer Innovation - oder aus seiner Sicht: politischen Verfalls. So warnt er im Rahmen seiner Staatskonstruktion in der Politeia: "Um es also in kurzem zu sagen, hierauf müssen die Vorsteher der Stadt halten, daß es nicht ihnen unvermerkt in Verfall gerate, sondern sie dieses ja vor
genweiten' erfolgen kann (vgl. etwa Aristophanes' Vögel), steht auf einem anderen Blatt. Siehe dazu Fr. Heberlein, Pluthygieia. Zur Gegenwelt bei Aristophanes, Frankfurt 1980. 71 Pherekrates Frg. 155 K-A. 72 Frg. 27 K-A. 73 Siehe Aristoteles De gen. an. 2,7; 746b7; Zenobius vulg. 2,51. 74 Interessant in diesem Zusammenhang ist Antiphanes Frg. 207 K - A (dazu H.-G. Nesselrath, Die attische Mittlere Komödie, Berlin/New York 1990, 250/1), ein lobender "Nachruf auf den verstorbenen Dithyrambiker Philoxenos, dessen Neuerungen (V. 2/3 ... πρώτιστα μεν γαρ όνόμασιν ίδίοισι και καινοΐσι χρήται πανταχού) als maßvoll gelobt (V. 5 ώς ευ κέκραται) und zu den Produktionen der eigenen Zeit (V. 7 οί νϋν δέ...) in Kontrast gesetzt werden, die als albern und nichtig dargestellt sind (V. 7-9).
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allen Dingen verhüten, daß nichts geneuert werde in der Gymnastik und der Musenkunst gegen die Einrichtung, vielmehr sie diese aufs möglichste aufrechthalten. Und wenn einer sagt, 'es ehren den Gesang am meisten die Menschen, der von den Sängern als neuester immer ertönt' sich wohl vorsehen, daß nicht etwa einer glaube, der Dichter meine nicht bloß neue Gesänge, sondern neue Gattungen des Gesanges und lobe dieses. Dergleichen darf man aber nicht loben und es auch nicht so verstehen. Denn Gattungen der Musenkunst neu einzuführen, muß man scheuen, als wage man dabei alles ..." (424 b3-c4). Piaton zitiert hier - mit einer Abweichung 7 5 - den bereits erwähnten Odyssee-Passus (1, 351/2), um ihn so zu deuten, daß aus ihm nicht die Lizenz zu Innovationen im Gattungsbereich abgeleitet werden darf. Man kann aus dieser 'Exegese' schließen, daß Piaton hier implizit gegen Dichter polemisiert, die ihre Gattungsexperimente durch den Verweis auf Homer legitimieren, also etwa wie Hippias verfahren. In den Nomoi (700a-701b) projiziert Piaton diese Position in die Geschichte. 76 Der Athener referiert dort den Verfall der inneren Ordnung in Athen, den er an die Tendenz zur Innovation anbindet: Einst waren die Gattungen der Poesie klar voneinander getrennt und der Staat war wohlgeordnet. "Später aber machten im Laufe der Zeit Dichter den Anfang mit der unmusischen Gesetzesverletzung ... indem sie ... Threnoi mit Hymnen und Paiane mit Dithyramben vermischten und Flöten durch Kitharaspiel nachahmten ... Indem sie nun solche Werke schufen und entsprechende Ansichten dazu äußerten, flößten sie den meisten Menschen eine Gesetzesverachtung gegenüber der Musenkunst ein..." Hieraus folgte dann eine allgemeine Gesetzesgeringschätzung. Mit einer derartigen Argumentation, die die Literatur-Ästhetik mit der Ethik und Politik verknüpfen will, erfährt die Produktivität des Literaten eine gravierende Einschränkung. Piaton stigmatisiert Innovation und Origina-
75
Siehe dazu St. West in: A. Heubeck, St. West., J. B. Hainsworth, A Commentary on Homer's Odyssey, Bd. 1, Oxford 1988, 119. 76 Vgl. ferner Buch 2 der Nomoi, wo die Rolle der Musenkünste für die Erziehung erklärt wird.
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lität, was gewiß Resultat seines philosophischen Konzepts ist.77 Als Stichwort möge hier 'die ontologische Verklammerung des Mimesis-Begriffs' dienen.78 Man kann nun auch Aristoteles' Verhältnis zu Innovation und Tradition, zumal in der Poetik, betrachten. Auf den ersten Blick vermeidet der Stageirite hier eine Positionierung im Stile Piatons79 - was auch unter dem Aspekt seiner Abgrenzung von ihm gesehen werden kann.80 Konzeptionell allerdings fuhrt Aristoteles' teleologische Sicht der Gattungsgeschichte nahezu auf Piatons Ergebnis: "Die Entwicklung der Tragödie hörte auf, sobald sie ihre eigentliche Natur verwirklicht hatte," heißt es in Kapitel 4 (1449a 14/15). Gemeint ist damit die Tragödie, wie sie Sophokles dichtet.81 Die Innovationen auf dem Weg zu diesem τ έ λ ο ς · verzeichnet Aristoteles nach Art der Heuremata-Kataloge: 82 Aischylos fuhrt den zweiten Schauspieler ein, Sophokles den dritten etc. Aber über das Stadium der Sophokleischen Tragödie hinaus finden sich keine systematischen Ausführungen mehr über Veränderungen. Dies geht so weit, daß die Textoberfläche der Poetik den Eindruck erweckt, als handele die Schrift lediglich von der Tragödie des 5. Jhdts.83 Da man nun das Aristotelische Entwicklungsschema als "Anwendungsfall des Entelechie-Gedankens" 84 betrachten kann, ist nach Erreichen der Vollendung85 nur noch die Frage möglich, wie weit sich einzelne Stücke der 'Idealform', d. h. der 'besten Tragödie' annähern. Innovation oder Originalität haben damit in Aristoteles' System keinen Platz - und als Resultat darf
77
A u s der reichen Literatur zu diesem Bereich s. G. Ferrari, Plato and Poetry, in: G. Kennedy (Hrsg.), The Cambridge History o f Literary Criticism, Bd. 1, Cambridge 1989, 9 2 - 1 4 8 ; P. Murray (Hrsg.), Plato on Poetry, Cambridge 1995, 1 - 3 3 . 78 H. Flashar, D i e Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie, Poetica 16, 1984, 1 - 2 3 , Zitat 13. 79 Indes findet sich gelegentliche Kritik an den 'Neuerern' wie Timotheos, 1461b 3 0 32; 1454a 29. 80 Noch immer unentbehrlich dazu G. Finsler, Piaton und die Aristotelische Poetik, Leipzig 1900. 81 Vgl. Flashar 2. 82 Siehe dazu Kleingünther 140-143 (ohne Hinweis auf Aristoteles), der Vergleichsmaterial bietet. 83 Vgl. Flashar 2. 84 M. Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, 12. 85 Der merkwürdige Satz "Zu untersuchen, ob die Tragödie hinsichtlich ihrer Elemente bereits einen hinlänglichen Entwicklungsstand erreicht hat oder nicht, und hierüber an und für sich und im Hinblick auf die Aufführungen zu befinden, ist ein anderes Problem" (1449a 7ff.) wird nicht weiter ausgeführt, vgl. Fuhrmann, Einführung 12 Anm. 15.
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man, zumindest für einzelne Gattungen, seine Position als traditionalistisch beschreiben. Aus den Zeugnissen erwächst somit das Bild einer im 4. Jhdt. sich ausbildenden Dominanz der Tradition, die Innovation wird - theoriegestützt zurückgedrängt. Daß dies insbesondere im Bereich der Theater-Praxis Entsprechungen hat, ist bekannt; ich brauche nur kurz in Erinnerung zu rufen, daß das Prinzip der 'Einmaligkeit' von Stückaufführungen unterhöhlt wurde: seit 386 produzierte man alte Tragödien in Athen wieder, seit 341 waren diese Stücke fester Bestandteil der Dionysien, seit 339 durfte sogar die Alte Komödie hier teilnehmen, von 311 an regelmäßig.86 Man kann auch die berühmten Maßnahmen der Ära Lykurgs unter dem Gesichtspunkt des Traditionalismus sehen:87 das Staatsexemplar der Texte der drei Tragiker, auf den die Schauspieler gesetzlich verpflichtet wurden,88 und die Errichtung eines steinernen Auditoriums im Dionysostheater lassen sich durchaus auch als innere und äußere Versteinerung des kulturellen Lebens in Athen lesen. Diese Weichenstellungen insbesondere in der 2. Hälfte des 4. Jhdts. machen erklärlich, warum fortan in der Literatur die Konzeption von Innovation und darauf aufbauender Originalität kaum noch aufgerufen wird. Bezeichnend ist, daß etwa der Verfasser der Schrift Über das Erhabene gegen das Haschen nach Neuem in der Literatur, τό καινόσττουδον (Kap. 5), polemisiert.89
5 Allerdings wäre ein Schluß mit dieser Perspektive wohl zu finster. Denn natürlich endet die Geschichte der Originalität in der griechischen Literatur nicht mit dem 4. Jhdt. Die hellenistische Dichtung, deren Kennzeichen geradezu Originalität ist, da hier gerade im Bereich der Gattungen Neues entsteht, vermeidet geradezu auffällig Fanfarenstöße in der Manier des Timotheos.90 Die Gedichte Theokrits etwa, insbesondere seine bukolischen ldyl-
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Dazu H.-J. Newiger, Drama und Theater, Stuttgart 1996, 21, mit Nachweisen. Dazu B. Hintzen-Bohlen, Retrospektive Tendenzen im Athen der Lykurg-Ära, in: M. Flashar u. a. (Hrsg.), Retrospektive, München 1996, 87-112. 88 Dazu R. Pfeiffer, Geschichte der klassischen Philologie, Reinbek 1970, 109, mit Nachweisen. 89 Dazu Fuhrmann, Einfuhrung 174/5. 90 Ausnahmen bilden - natürlich - eher die poetae minores: Boiskos v. Kyzikos (SH 233): Βοΐσκος άπό Κυζικοΰ, καινού γραφεύς ποιήματος ... Philikos (SH 677): καινογράφου συνθέσεως της Φιλικού, γραμματικοί, δώρα φέρω ττρός ύμας. 87
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len, stellen durch die Kreuzung von Stoff (das Hirtenleben) und Form (hexametrische Dichtung in dorischem Dialekt) eine kühne, originelle Schöpfung dar, die eine beträchtliche Gattungstradition stiften.91 Da nun aber Theokrit an keiner Stelle 'Erfinderstolz' bekennt, ist die moderne Forschung immer wieder versucht, seine nicht existenten Vorgänger zu rekonstruieren.92 Subtil verfährt Kallimachos. Sein berühmtes Wort άμάρτυρον ουδέν άείδω (Frg. 612) läßt sich nicht einordnen,93 könnte aber andeuten, daß er seine Verbindung mit der Tradition zu betonen sucht. Deutlich ist freilich der sog. Aitien-Prolog, wo Kallimachos den Apoll ihm die poetologische Maxime befehlen läßt: π ρ ο ς δέ σ ε και τόδ' άνωγα, τά μή ττατέουσι. αμαξαι τ ά σ τ ε ί β ε ι ν , έτερων ι χ ν ι α μή καθ' όμά δίφρον eXäv μηδ' ο ΐ μ ο ν άνά πλατύν, άλλα κελεύθους άτρίτττους, εί και σ τ ε ι ν ο τ έ ρ η ν ε λ ά σ ε ι ς (Frg. 1 , 2 5 - 2 8 ) . "Außerdem befehle ich dir, auf Spuren, die Wagen nicht befahren, zu gehen, weder mit anderen gemein noch auf breiter Straße zu treiben, sondern die Pfade, die noch keiner berührt, zu wandeln, so eng sie auch sind."
Kallimachos läßt sich also 'Originalität' befehlen. 94 Die Metapher von Weg und Wagen scheint dabei zugleich Choirilos zu zitieren und eine neue Art von 'Ausweg' anzudeuten, nicht die breite Straße, sondern den schmalen 'Pfad', woraus sich freilich ein anderes Tempo der Fahrt ergibt - und damit Kallimachos' poetologisches Konzept. Zugleich aber leistet diese Metapher noch etwas anderes.95 In ihr wird eine traditionelle moralische griechische Maxime evoziert, die Hesiod96 in den Werken und Tagen formuliert hat: τ η ν μ ε ν τοι κακότητα και ίλαδόν έ σ τ ι ν έλέσθαι ρηιδίως. λείη μ ε ν όδός, μάλα δ' έγγύθι ν α ί ε ι . τ η ς δ' α ρ ε τ ή ς ίδρωτα θεοί ττροπάροιθεν έθηκαν αθάνατοι, μακρός δέ και όρθιος ο ΐ μ ο ς έ ς αύτήν...
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Siehe dazu R. Nauta, Gattungsgeschichte als Rezeptionsgeschichte am Beispiel der Entstehung der Bukolik, A&A 36,1990,116-137. 92 Vgl. zu diesem Problem B. Effe, Rez. D. M. Halperin, Before Pastoral, Gnomon 56, 1984,388-391. 93 Dazu M. Asper, Onomata allotria, Stuttgart 1997, 71 mit Anm. 205. 94 Vgl. dazu Asper 46-72. 95 Vgl. Asper 94-99. 96 Zu Kallimachos und Hesiod s. H. Reinsch-Werner, Callimachus Hesiodicus, Berlin 1976, 334/5.
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"Ja, das Geringe und Schlechte, das kann man in Haufen erhalten ohne Bemühen, schön eben der Weg, ganz nahe, da wohnt es. Vor die Vollendung jedoch haben Schweiß die unsterblichen Götter gesetzt. Steil steigend und lang ist der Pfad, der dorthin führt..." (Op. 287-290).
Der schmale Pfad ist der Weg zur Tugend - die Innovation, die Kallimachos programmatisch konstatiert, ist über diese Metapher auch moralisch gea d e l t - und so wird eine Gegenposition zu Piaton bezogen! Die Vorsicht freilich und die Bemühungen, die Verbindungen mit Vorgängern wie Philitas zu betonen, kennzeichnen den Aitienprolog 97 und weisen damit darauf, wie wenig selbstverständlich das Konzept der Innovation im Hellenismus war. Als Abschluß stehe ein Streiflicht aus der Kaiserzeit. "Als ich mich neulich in dieser Versammlung hatte hören lassen, näherten sich mir, als ich in meine Wohnung zurückkehrte, viele von meinen Hörern, reichten mir die Hand und gaben mir ... ihren Beifall mit den lebhaftesten Zeichen der Bewunderung zu erkennen. Sie begleiteten mich eine gute Strekke weit, und ich hörte von allen Seiten nichts als laute Ausrufungen und Lobeserhebungen, die mich ganz schamrot machten, da ich nur zu sehr in Sorge sein mußte, sie nicht verdient zu haben. Indessen liefen alle diese Lobsprüche einzig und allein darauf hinaus, es sei in meinen Aufsätzen alles so neu und unerhört. 'Zum Herakles, wie original!' (Griechisch: ώ της- καινότητος - dies ist in der Übersetzung Wielands,98 die hier zitiert ist, das griechische Äquivalent für 'Originalität'. Hier liegt der oben angekündigte Beleg für die These, daß das 18. Jhdt. originell mit καινόν übersetzte.) riefen sie... Ich will gerne glauben, daß diese Ausrufe eine Folge der Eindrücke waren, die die Vorlesung auf sie machten ...Aber ich muß gestehen, es fehlte viel, daß mir dieses Lob angenehm gewesen wäre ... So ist denn das alles, was an meinen Schriften gefallen kann, daß ich nicht auf der gemeinen Heerstraße hinter allen anderen herziehe?"
97 Auf den Prolog insgesamt und besonders die neuen Lesungen kann hier nicht eingegangen werden. 98 Zitiert nach: C. M. Wieland (Übers, u. Komm.), Lucians von Samosata Sämtliche Werke, Dritter Teil, Wien; Prag 1797,410/11.
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So eröffnet im 2. Jhdt. n. Chr. Lukian seine Schrift Zeuxis (lib. 63). Lukian scheint im folgenden enttäuscht, daß seine Hörer nicht auf seinen subtilen Umgang mit den Konventionen geachtet haben, statt dessen auf eine 'Beigabe' ihr Lob gründen. Seine Enttäuschung dokumentiert, ein wie großes Gewicht der Traditionalismus in der Literatur bekommen hatte, zumal in der philosophischen oder rhetorischen Tradition, in welcher Lukian und insbesondere die Kultur der 2. Sophistik stehen. Damit ist hier der Punkt erreicht, an dem das eingangs zitierte Wort Uvo Hölschers seine vollste Geltung hat. Daß freilich ein weiter Weg dahin gefuhrt hat und daß es nicht das alleinige ästhetische Prinzip in der griechischen Literaturgeschichte gewesen ist, hat unser Gang durch die Zeiten vielleicht erweisen können.
Römische »Avantgarden«. Von den hellenistischen Anfängen bis zum 'archaistischen' Ausklang. - Eine Forschungsskizze Jürgen Paul Schwindt
Gibt es römische 'Avantgarden', und, wenn j a , inwiefern? Welches sind die Kriterien, die eine Zuordnung ermöglichen? Gibt es eine Signatur des Avantgardistischen, die älter ist als der (literatur)historische N a m e ? Die Applikation des Avantgardenbegriffs auf literarische Bewegungen, die z.T. mehr als zwei Jahrtausende zurückliegen, bedarf der methodischen Rechtfertigung: Was hat man sich vom Transfer der Avantgardenmetapher 1 auf antike Literaturen zu versprechen? W o läge der Erkenntnisgewinn, wenn m a n griechisch-römische Phänomene in unzeitgemäßen Termini beschriebe? Und vor allem: Lassen sich Begriff und Vorstellung, wie unentschieden und unscharf sie seien, 2 entlehnen, ohne daß solche Beleihung in die Fänge postmoderner Beliebigkeit fuhrt? 1
Für die hier versuchte Historisierung des Phänomens ist der Umstand nicht unwesentlich, daß der Begriff der Avantgarde auch im Kontext der literarischen Moderne metaphorisch gebraucht wird und sich überdies durchweg ein Bewußtsein vom metaphorischen Charakter der Avantgarde erhalten hat. 'Avantgarden' heißen ursprünglich jene militärischen Vortrupps, die weit in feindliches Gebiet ausgreifend die Lage jenseits der eigenen Stellungen erkunden und dabei auch schon 'Neuland' hinzugewinnen. Ein Schüler Saint-Simons, Olinde Rodrigues, hat den Begriff in seiner Schrift "L'Artiste, le Savant et l'Industriel" (1825) auf die Kunst übertragen. Erst Apollinaire hat die avantgardistische Metaphorik konsequent an die eigene kunsttheoretische Terminologie adaptiert. Einzelheiten bei H.Böhringer, Avantgarde - Geschichten einer Metapher, Archiv für Begriffsgeschichte 22, 1978, 90-114. Eine gewisse Unschärfe ist geradezu charakteristisch für den intuitiven, antibegrifflichen Impuls, der vielen avantgardistischen Kunstströmungen eignet. Eine umfangreiche Sammlung der wichtigsten Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938) jetzt hrsg. v. W.Asholt u. W.Fähnders, Stuttgart/Weimar 1995. Zu älterer, praeavantgardistischer Programmatik s. den Sammelband von G.Wunberg, Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende, Frankfurt a.M. 1971. Nützliche Übersichten über die literaturwissenschaftlichen Definitionsversuche der 'Avantgarden' bei E.Lohner, Die Problematik des Begriffes der Avantgarde, in: Herkommen und Erneuerung. Essays für O.Seidlin, hrsg. v. G.Gillespie u. E.Lohner, Tübingen 1976, 26-38, H.U.Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in:
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Der Zeitpunkt der Übertragung des Avantgardenbegriffs könnte günstiger nicht sein. Soweit sich die Avantgarden nicht selbst fur tot erklärt haben, hat dies die Theorie der Avantgarden besorgt: Da ist die Rede von den "Aporien der Avantgarden",3 der "Avantgarde als Phantom",4 der Avantgarde als Retrogarde im Sinne beflissen-retrospektiver Traditionsvermeidung.5 Neoavantgarden, Postmodernismen sind entstanden.6 Geschrieben sind die Geschichten der Avantgarden, die Ästhetiken und Theorien der avantgardistischen Bewegungen.7 Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland IV, hrsg. v. O.Brunner, W.Conze u. R.Koselleck, Stuttgart 1978, 93-131, bes. 120ff., W.Wehle, Avantgarde: ein historisch-systematisches Paradigma 'moderner' Literatur und Kunst, in: Lyrik und Malerei der Avantgarde, hrsg. v. R.Warning u. W.Wehle, München 1982, 9-40, M.Hardt, Zu Begriff, Geschichte und Theorie der literarischen Avantgarde, in: Italia Viva. FS H.L.Scheel, hrsg. v. W.Hirdt u. R.Klescewski, Tübingen 1983, 155-68, R.Neuhäuser, "Avantgarde" und "Avantgardismus". Zur Problematik von Epochenschwellen und Epochenstrukturen, in: Europäische Avantgarde, hrsg. v. P.V.Zima u. J.Strutz, Frankfurt a.M. etc. 1987, 21-35, K.Hiridina, Avantgarde ein Begriff der Literaturgeschichte?, in: Kulturelles Erbe zwischen Tradition und Avantgarde, hrsg. v. T.Metscher u. C.Marzahn, Köln etc. 1991, 225-33, G.Bollenbeck, Avantgarde, in: Moderne Literatur in Grundbegriffen, hrsg. v. D.Borchmeyer u. V.Zmegac, Tübingen 1994, 41-47, u. zuletzt G.Jäger, Avantgarde, in: RDLW 1, 1997, 183-87. 3 So der Titel eines Beitrages von H.M.Enzensberger für den Norddeutschen Rundfunk ( 1962), abgedr. in: ders., Einzelheiten, Frankfurt a.M. 1962, 290-315. 4 Titel eines Essays von W.Lange, Akzente 40,1993, 507-24. 5 In diesem Sinne jetzt N.Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995 (als stw-Bd.: ebd. 1997), bes. 198f. 6 Zu den postmodernen appendices der Avantgarden siehe C. u. P.Bürger (Hrsg.), Postmoderne: Alltag, Allegorie und Avantgarde, Frankfurt a.M. 1987, 4 1992, sowie E.Fischer-Lichte/K.Schwind (Hrsg.), Avantgarde und Postmoderne - Prozesse struktureller und funktioneller Veränderungen, Tübingen 1991. Zum Problem der Neoavantgarden s. die ältere Studie von M.SzaboIcsi, Avant-garde, Neo-avant-garde, Modernism: Questions and Suggestions, New Literary History 3, 1971,49-70. 7 Um nur die einflußreichsten zu nennen:' R.Poggioli, The Theory of the AvantGarde, Cambridge (Mass.) 1968, K.H.Bohrer, Die gefährdete Phantasie oder Surrealismus und Terror, München 1970, P. Bürger, Der französische Surrealismus. Studien zum Problem der avantgardistischen Literatur, Frankfurt a.M. 1971 (um Neue Studien erweiterte Ausg.: ebd. 21996), J.Weightman, The Concept of the Avant-Garde. Explorations in Modernism, Bradford/London 1973, P.Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974, '1993 (vgl. hierzu W.M.Lüdke [Hrsg.], 'Theorie der Avantgarde'. Antworten auf Peter Bürgers Bestimmung von Kunst und bürgerlicher Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1976), K.H.Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München/Wien 1978, ders., Die drei Kulturen, in: Stichworte zur 'Geistigen Situation der Zeit' II: Politik und Kultur, hrsg. v. J.Habermas, Frankfurt a.M. 1979, 636-69, ders., Die Furcht vor dem Unbekannten. Zur Vermittlungs-Struktur von Tradition und Moderne, in: ders., Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981 (mit Nachwort versehener Nachdr.: ebd. 1998), 68-85, u.
Römische »Avantgarden«
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Es möchte an der Zeit sein, sich des unbestrittenen Kerns sogenannt avancierter literarischer B e w e g u n g e n neu zu versichern. 8 D i e s könnte im Rückgriff auf Literaturen geschehen, die außerhalb des Gesichtskreises hitzig geführter moderner und postmoderner Debatten liegen. M ö g l i c h , daß die Rede v o m Scheitern der Avantgarden 9 dann ihren besonderen (propagandistischen) Sinn verlöre, w e n n in der historischen Rückverlängerung der Perspektive der N a c h w e i s gelänge, wie die frühesten europäischen Literaturen in bestimmten Phasen der ästhetischen Souveränität ein 'avantgardistisches' (Selbst)Bewußtsein ausgebildet haben, das sich nicht nur in einer auf ein Höchstmaß an R e f l e x i o n und Imagination sich stützenden künstlerischen Programmatik 1 0 niedergeschlagen, sondern unmittelbar in literaturgeschichtliche Prozessualität übersetzt hat. D i e konsequente Mortifizierung des avantgardistischen Gedankens erwiese sich in der dialektischen Tektonik einer Ereignis-Literaturgeschichte ohne Teleologie als seine Rettung: 'Archiv' und 'Avantgarde' (in den zeitgenössischen
B.Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München/Wien 1992 - Zu frühen Avantgarden vorwiegend deutscher Provenienz s. jetzt H.Koopmann, Deutsche Literaturtheorien zwischen 1880 und 1920. Eine Einführung, Darmstadt 1997. 8 Wie weit sich der Begriff einer avantgardistischen Literatur fassen läßt, erhellt aus den gelegentlich versuchten Rückdatierungen auf ältere Epochen. Für E.Ionesco etwa "toutes les grandes oeuvres ont fait partie a leur epoque d'une veritable avant-garde" (in einem Interview in Mouvements litteraires d'avant-garde, Paris 1976). In diesem Sinne auch A.Marino, Essai d'une definition de 1'avant-garde, Revue de l'Universite de Bruxelles 1975, 1, 64-120, dort 90f.: "Toutes ces constations conduisent ä la reconnaissance de l'existence du phenomene de l'avant-garde - pour ainsi dire - eternelle, effet periodique de l'opposition permanente entre "nouveaute" et "tradition", ordre et aventure, classique et moderne, veritable systole et diastole de la litterature ...". 9 S. - außer den oben, Anm. 3-5 genannten Positionen - bes. die Beiträge zum Themenheft der Neuen Rundschau·. "Abschied von der Avantgarde?", Jg. 106, Heft 4, 1995. Aktuelle Beispiele sind die Texte von H.D.Kittsteiner, Die Geschichte nach dem Ende der Kunst, Merkur 52, 1998, 4, 294-307, u. U.Greiner, Schrott der Avantgarde. Eine Polemik wider den Subventionskulturbetrieb, in: Die Zeit, 16. 4. 98, 44f. Ein zwiespältiges Bild vermittelt die Debatte Stimmen zum Methodenstreit, die soeben in Texte zur Kunst 8, 1998, Nr. 29, S. 78-93, erschienen ist. 10 Die Insistenz auf dem hohen reflexiven und imaginären Potential des Kunstwerks ist charakteristisch fur das Phänomen der solitären Avantgarde, wie sie v.a. in Adornos Ästhetik gegenüber den weit verbreiteten soziologistischen Bestimmungen profiliert ist. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970, 43f., reetabliert die ästhetischen Avantgarden gegen "politisch avantgardistische[n] Eifer" (Picasso des Kubismus, Pissarro): "Avantgardistische Doktrinen können, faßt man ihren Gegensatz zur communis opinio nur abstrakt genug und bleiben sie einigermaßen gemäßigt, zuweilen elitär umfunktioniert werden; die Namen Pound und Eliot stehen dafür ein" (ebd., 377); solcher 'Elitismus' schließt programmatische Reflexion jedoch keineswegs aus (s. P.Boulez) (vgl. ebd., 508).
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Theoriedebatten oft gegeneinander ausgespielt11) schlössen sich danach nicht nur nicht aus, sondern trieben einander unablässig hervor. Für die klassisch-philologische Hermeneutik aber wäre - schlüge das heuristische Verfahren günstig aus und würde die Untersuchung in größerem Rahmen durchgeführt, als es an dieser Stelle möglich ist - zum mindesten dies gewonnen: daß sie an bestimmten, vielleicht nur zu vertraut gewordenen Gegenständen aufs neue den Stachel der Unruhe, ein produktives Befremden empfände, das manche ihrer interpretatorischen Gewißheiten in respektvolle Distanz setzte zu den großen Umwälzungen und Erschütterungen, die bemerkenswerte literarische Epochen für gewöhnlich sind. Nirgends macht sich die vielbeschworene hermeneutische Differenz empfindlicher bemerkbar als in der Betrachtung der Zentren, der Keimzellen kunstgeschichtlicher Umbildung und Entwicklung. Es müßte gar am Ende die philologische Erklärung selbst eine avantgardistische sein.12 Gesetzt den Fall, eine bestimmte Bewußtseinsdisposition der Philologie hätte zwar den Transfer klassizistischer, romantizistischer, historistischteleologischer Vorstellungen gefördert,13 den der avantgardistischen aber behindert, so wäre zu fragen: warum? Was dem Historismus und seinem verlängerten Arm, der modernen Sozialgeschichte, nur zu leicht entgeht, was auch "dazwischen": in Zeiten der strukturkonservativen Geistesgeschichte und des Dritten Humanismus und ihrer sog. progressiven Pendants im marxistischen Utopismus und der engagierten Literaturkritik gern übersehen wird, sind die Brüche, ist der Affront, das Heraustreten (nicht Herausfallen) aus dem sozialen Verband, das die neue Literatur konstituiert. Angemaßte "A-sozialität" ist in der griechisch-römischen Literatur nur eine mögliche avantgardistische Disposition,14 nicht selten ist im genauen Gegenteil die usurpatorische Vereinnahmung des sozialen Dispositifs durch 11
Regelmäßig zum Nachteil der 'Avantgarden', die über der exzessiven Erforschung bes. der kulturellen memoria beinahe nur mehr als historische Reminiszenz überdauern. 12 Über den Zerfall des historisch zuletzt für das frühe 19. Jahrhundert verbürgten Zusammenhangs von Klassischer Philologie und künstlerischer 'Avantgarde' s. M.Riedel, Zwischen Dichtung und Philologie - Goethe und Friedrich August Wolf, DVJS 71,1997, 92-109, dens., Die Erfindung des Philologen - Friedrich August Wolf und Friedrich Nietzsche, A&A 42, 1996, 119-136, u. meinen Beitrag unten, S. 182-204, dort S. 183. 13 Hierzu Verf., Prolegomena zu einer »Phänomenologie« der römischen Literaturgeschichtsschreibung. Von den Anfängen bis Quintilian, Göttingen 2000, passim. 14 Zur 'nicht-gesellschaftlichen' Komponente der neoterischen Dichtung s. unten S. 34—36. Die systematische Untersuchung jener Bereiche der antiken Literatur, die sich deutlich, z.T. programmatisch lebensweltlicher Vereinnahmung verweigern, ist konzipiert als Teil des noch in der Planungssphase befindlichen Bielefelder Forschungskollegs 'Literatur und Lebenswelt. Kulturelle Dynamik und ästhetische Sinnproduktion'.
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die selbstbewußte Behauptung einer gesellschaftlichen Führungsrolle,15 das Verhältnis zur U m - und Mitwelt ist in jedem Fall ein dynamisch gespanntes; charakteristisch nennen mag man auch die Frivolität, die in der Mischung von Autonobilitierung durch den elitären künstlerischen Akt und sozialem digout16 oder auch seinem Komplement, der politischen Selbstverpflichtung, liegen kann; avantgardistisches Bewußtsein neigt paradoxerweise zur Verbindung mit Gleichgesinntem; in solchen Fällen kommt es zur Ausbildung komplizierter Gruppenrituale;17 avantgardentypisch ist des weiteren ein Bewußtsein vom künstlerischen und kunsttheoretischen Fortschritt, das sich gleichermaßen in textimmanenter ästhetischer Reflexion (bes. in Einleitungen bzw. Einleitungsgedichten,18 Digressionen 19 oder Nachschriften [vornehmlich sphragides20]) und in der Form der poetologischen (und zumeist poetischen) Programmschrift äußern kann,21 die Selbstinthronisation des avantgardistischen künstlerischen Bewußtseins geschieht fast regelmäßig in der Inszenierung einer querelle,22 die mythologische Selbsterhöhung im Bild der Dichterweihe tritt bisweilen unterstützend hin-
15
Zur Unterstützung der augusteischen Politik durch literarische Eliten siehe unten S.
37. 16
Eine knappe Übersicht über elitistische loci communes in der hellenistischrömischen Literatur bei W.Kroll, Dichter und Kritiker, in: ders., Studien zum Verständnis der römischen Literatur, Stuttgart 1924 (Nachdr.: 1964), 117-38, dort 117-19. 17 Hier wäre das hochdifferenzierte intertextuelle Verweisungssystem (Erwähnung der Dichterfreunde und ihrer Werke, Widmungen, Rezensionen, Mäzenatentum, Symposien, gemeinsame Reisen u. dgl.) ins Feld zu führen. 18 Ich nenne nur den Aitien-Prolog des Kallimachos, Verg. ecl. 6, 1-12, u. georg. 3, 1 48, sowie die programmatischen Einleitungsgedichte Catulls, Horaz' (c. 1, 1) u. Properz' (2,1; 4,1). 19 So in Theokrit c. 7; vgl. auch Tibull 1, 4, 57-72, Petrons Lucan-Kritik (sat. 118-25) oder desselben ridikülisierende Darstellung des frühkaiserzeitlichen Deklamationsbetriebs (ebd. Iff.). 20 Z.B. Kall. Apoll. 105ff„ Hör. carm. 3, 30; epist. 1, 20; Prop. 2, 34, 59ff., Ov. am. 3, 15; met. 15, 871ff. 21 Bekannteste Beispiele sind wohl die Literaturbriefe des Horaz, vornehmlich die Augustus-Epistel und die ars poetica. Hierher gehören auch die zahlreichen programmatischen Gedichte etwa des Kallimachos (z.B. ep. 6, 27 u. 28), Catull (s. unten Anm. 45), Vergil (z.B. ecl. 9), Horaz (etwa c. 1, 6; 1, 32; 2, 13; 2, 19; 2, 20; 3, 4; 3, 25; 4, 2; 4,3; 4, 8; 4, 9) u. Properz (z.B. 1, 7; 1, 9; 2,13; 3, 2). 22 Zur Adaptation des Begriffs an die klassisch-philologische Begrifflichkeit s. Verf., Prolegomena (wie Anm. 13), 174-206 u. 215f. 23 Vgl. A.Kambylis, Die Dichterweihe und ihre Symbolik. Untersuchungen zu Hesiodos, Kallimachos, Properz und Ennius, Heidelberg 1965, u. E.Pöhlmann, Dichterweihe und Gattungswahl, in: Candide Iudex. Beiträge zur augusteischen Dichtung (= FS W.Wimmel), hrsg. v. A.E.Radke, Stuttgart 1998, 247-60. Für die frühe republikanische
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Fragen wir nun nach dem Avancierten der avancierten
griechisch-
römischen Literatur. In der gebotenen Kürze nehme ich vier Abschnitte der Literaturgeschichte näher in den Blick; ich will am Ende sehen, ob sie sich irgend stimmig positionieren lassen.
I. D e v i a n z . A u t o n o m i e . Literatur Vier Jahrhunderte lang währt der Auftakt der frühesten überlieferten europäischen Literatur; E p o s und Lehrgedicht, Lyrik und Dramatik bilden sich sukzessive als Avantgardes
naturelles
im neu anhebenden Diskurs der p o e -
tischen Gattungen; eine per se, qua Invention avantgardistische Literatur. Erst als die Literatur im späten vierten Jahrhundert unter peripatetischem Einfluß beginnt, ihrer Historizität sich bewußt zu werden, als die Frage aufkommt, w i e ein E p o s nach dem Epos, sc. dem homerischen, w i e Lehrdichtung nach der Lehrdichtung, sc. der hesiodeischen, w i e Lyrik nach der Lyrik, sc. der bald kanonisch gewordenen Enneade der frühgriechischen Lyriker, w i e Dramatik nach dem Drama, sc. dem attischen gedacht werden könne, stellt sich vehement die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit künstlerischer Innovation. 2 4 Indem das künstlerische Bewußtsein i m A u s gang einer grandiosen Epoche neu sich formiert, indem alles - wenigstens
Dichtung ist grundlegend noch immer W.Suerbaum, Untersuchungen zur Selbstdarstellung älterer römischer Dichter. Livius Andronicus -Naevius - Ennius, Hildesheim 1968. Wichtiges Indiz für die Diagnose avantgardistischen Bewußtseins ist mitunter auch seine Ironisierung und Parodierung: wie in der berühmten Eingangspartie der Satirensammlung des Persius (zuletzt behandelt v. S.Koster, Der Prolog des Persius, in: Beiträge zur hellenistischen Literatur und ihrer Rezeption in Rom, hrsg. v. P.Steinmetz, Stuttgart 1990, 155-63). Vgl. auch die Umdeutung des alten poe/o-Begriffs zur Vorstellung vom göttlich inspirierten vates u. darüber H.Dahlmann, Vates, Philologus 97, 1948, 337-53, sowie J.K.Newman, The Concept of Vates in Augustan Poetry, Brüssel 1967. S. auch unten Anm. 63. 24 Der Begriff der "Innovation" wird von der Klassischen Philologie noch kaum verwendet. Übermächtig ist die traditionelle Perspektivierung antiker Literaturgeschichte nach den Kategorien der mimesis und zelosis (imitatio u. aemulatio). Seit kurzem verfugen wir über eine Sammlung von z.T. glänzenden Studien zu diversen Feldern antiker Innovation: Innovations of Antiquity, hrsg. v. R.Hexter u. D.Seiden, New York/London 1992. Nicht zu trennen von der Frage der Innovation ist die Frage nach dem Vorhandensein eines Bewußtseins von geschichtlicher, politisch-gesellschaftlicher, wissenschaftlicher u. künstlerischer Progression. Besonders letztere ist in der vielleicht verdienstvollsten Vorstudie durch E.R.Dodds, The Ancient Concept of Progress, Oxford 1973, nicht behandelt: mit der absehbaren Konsequenz der weiteren Festschreibung des Modells vom überwiegend pessimistisch-dekadenten bzw. zyklischen Geschichtsdenken der griechisch-römischen Antike.
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nach Maßgabe der aristotelischen Teleologie 25 - in nicht mehr zu erreichender Vollendung schon dagewesen ist, ist die Frage nach der exzeptionellen, 'avantgardistischen' Literatur die Frage nach dem Überleben der Kunst. Die jüngere philologisch-historische Tradition neigt dazu, die literaturgeschichtliche Zäsur, die im Zeitalter Alexanders und der postalexandrischen Diadochenkämpfe statthat,26 unter den Prämissen des makropolitischen, -sozialen und -ökonomischen Wandels von der hellenischen polisGesellschaft zur mediterranen koine zu lesen.27 Die Legitimität solchen Verfahrens soll nicht bestritten werden. Problematisch aber wird eine derartige Beschreibung, wenn das Verständnis der neu entstehenden, kosmopolitischen Kultur ausschließlich im Horizont ihrer exoterischen Determinanten gesucht wird. Das Paradigma solch unfruchtbar verengter Fragestellung ist der Hof. Nach dem analogon besonders der mittelalterlichen, der Renaissance- und Barockliteratur konstruiert die Geschichtsschreibung die alexandrinische höfische Poesie. 28 Die Berechtigung solcher Begriffsübertragung hat Arnd Kerkhecker jüngst in einer scharfsinnigen Studie genauerer Prüfung unterzogen.29 Wenn die am "Hofe" zu Alexandria versammelten Poeten30 ihrem Nahverhältnis zum Herrscherhause zum Trotz nur selten eigentlich "höfisch" schrieben 25
Die für die aristotelische Literaturtheorie zentrale Stelle ist Poetik 1449a7—15. Zum Problem der Abgrenzung des Hellenismus in der griechischen Literaturgeschichte s. die Studie von R.Kassel, Berlin/New York 1987 (wieder abgedr. in: ders., Kleine Schriften, hrsg. v. H.-G.Nesselrath, Berlin/New York 1991, 154-73). 27 Ich verzichte auf die Dokumentation der weit verbreiteten Lehrmeinung, nenne nur einige neuere Studien, die nicht zwar die hier vorgeschlagene Deutung stützen, aber doch fruchtbare Neuansätze bes. in kulturgeschichtlicher und literaturwissenschaftlicher Perspektive bieten: G.Zanker, Realism in Alexandrian Poetry: A Literature and its Audience, London etc. 1987, G.O.Hutchinson, Hellenistic Poetry, Oxford 1988, P.Bing, The WellRead Muse. Present and Past in Callimachus and the Hellenistic Poets, Göttingen 1988, J.Sirinelli, Les Enfants d'Alexandre. La litterature et la pensee grecque (331 av. J.-C. 519 ap. J.-C.), Paris 1993, A.Cameron, Callimachus and His Critics, Princeton 1995, M.A.Seiler, Ποίησι? Ποιήσεως. Alexandrinische Dichtung κατά λεπτόν in strukturaler und humanethologischer Deutung, Stuttgart/Leipzig 1997, u. zuletzt R.Hunter, Hellenismus, in: Einleitung in die griechische Philologie, hrsg. v. H.-G.Nesselrath, Stuttgart/Leipzig 1997, 246-68. Ein reichhaltiges Repertorium der hellenistischen literarischen und bildkünstlerischen Formensprache liefert B.H.Fowler, The Hellenistic Aesthetic, Madison 1989. 28 Die maßgebliche Studie jetzt von G.Weber, Dichtung und höfische Gesellschaft. Die Rezeption von Zeitgeschichte am Hof der ersten drei Ptolemäer, Stuttgart 1993 (= Hermes Einzelschriften 62). 29 A.K., Μουσεων ev ταλάρω - Dichter und Dichtung am Ptolemäerhof, A&A 43, 1997, 124-44. 30 Das prosopographische Material jetzt bequem zugänglich bei Weber, ebd. (wie Anm. 28), 95-101 u. 419-27. 26
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(die panegyrischen Stücke sind der Sache nach etwas ganz anderes31), will Kerkhecker dahinter das eher wissenschaftlich ausgeprägte Interesse der ersten Ptolemäer erkennen. Dies habe die Entwicklung einer gelehrten alexandrinischen Poesie gefördert, deren geschichtliche Eigenart gerade nicht, wie oft angenommen, in ihrem politischen Charakter, sondern im Rückzug auf das Private liege. Nur ein übellauniger Leser würde einer solchen Lesart unterstellen können, sie verbleibe, indem sie die obrigkeitliche Protektion der mächtig aufkommenden wissenschaftlichen Disziplinen zu einer bedeutenden Konstituente der neuen hellenistischen Poesie erkläre, in eben dem literatursoziologischen Rahmen, an dessen Überschreitung ihr ursprünglich gelegen war. Zu Recht verweist Kerkhecker mit Nachdruck auf die Bedeutung, die der Gelehrsamkeit in der alexandrinischen Literatur zukommt. Man unterschätzte ihre Rolle, wenn man das Ideal des poeta doctus vornehmlich für einen soz/a/emanzipatorischen Diskurs vereinnahmen wollte. Das schillernd Oberflächliche, gesucht Akzidentielle, Ornamentale der hellenistischen Dichtung verleiht ihren Texten - wie gerade Kerkheckers eindrucksvolle Lektüre der Iambenfragmente demonstrieren kann32 - eine Tiefendimension, die dem mimetischen Erklärerblick leicht entgeht. Der Verdacht, hier rühre man an klassisches Kunsthandwerk, ist immer rasch zur Hand, wenn Dichtung von vornherein unter gesellschaftlichen Prämissen evaluiert wird. Was nicht sofort anschließbar ist, fällt heraus aus dem Netz kategorialer kunstrichterlicher Verfügungen. Ich bin nicht sicher, ob man schon hinreichend erwogen hat, wie es möglich sei, daß eine selbstbewußt auftretende Epochenpoetik wie die alexandrinische sich ganz in formalen Kategorien beschreiben und womöglich erschöpfen ließe. Zum ersten Mal wird die Literatur so unbedingt auf sich selbst gestellt, daß dem Betrachter die vollständige Abstraktion von soziopolitischer Fundierung, die Literatur ohne Netz als Regression in die formale Substanz erscheinen muß. Dieser 'Formalismus' ist nun aber nichts weniger als seine geometrische Außenfläche, er darf mit ihr nicht verwechselt werden, obwohl das Kunstmäßige dieser Kunst eben an diesem exzessiven Kult der Oberfläche zu hängen scheint. Damit die neue Literatur mit dem 31 Kerkhecker faßt sie unter den Begriff der "dynastischen Poesie", ebd., 139 (gedacht ist v.a. an Kallimachos' Werke Victoria Berenices, Coma Berenices, γάμος 'Αρσινόης, έκθέωσις 'Αρσινόης, Elegie auf Magas u. Berenice, eingestreuter Königspreis in den Hymnen I, II u. IV, sowie an Theokrits Idylle XIV u. XV, den Preis Hierons in XVI, den Hymnos auf Philadelphos [XVII]). 32 A.K., Callimachus' Book of Iambi, Oxford 1999. S. auch den Beitrag zu diesem Band, unten S. 135-162.
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Kunsthandwerk nicht verwechselt werden könne, muß sie ihm sich anverwandeln in einer Weise, die den Unterschied der Form vom Inhalt fast zum Verschwinden bringt. Das Neue an der neuen Kunst ist die Symbiose von Dichtung und Philologie. Sie kommentieren einander und bringen sich wechselweise gegenseitig hervor. Hellenistische Poesie ist Text in einem geradezu modernen Sinn. Sie ist die Protoavantgarde aller modernen nachbenannten künstlerischen Bewegungen. Sie beschäftigt sich mit sich selbst, sie ist ihr eigenes surplus, das in vordergründiger Anschließbarkeit an andere Diskursformen nicht aufgeht. Indem die hellenistische Literatur die evidenten soziopolitischen Bezüge der älteren hellenischen Dichtung wesentlich preisgibt, indem sie mithin auf die partikularen Dissidenzen verzichtet, wird sie als ästhetisches Phänomen potentiell omnidissident. Nachzufragen wäre künftig weniger der vereinzelten gesellschaftlichen Orientierung33 als dem ganzen Ausmaß der kunsthandwerklich überformten Strategien einer Ästhetik der Abweichung resp., wenn man sie rein formal fassen will: der Devianz. Ein solches Programm muß, wenn es fremdkulturell adaptiert wird, Sensation machen. Es verspricht eigenwillige Erfolge, unabsehbare Mischung, wo es auf gänzlich andersartige Lebensräume stößt: Zum ersten Mal in der europäischen Literaturgeschichte tritt eine sich von ihren bescheidenen Anfängen emanzipierende Nationalliteratur in das Verhältnis der Rezeptivität zu einer anderen bedeutenden, ja, beinahe schon in ihren Höhepunkten abschließend entwickelten Fremdliteratur.34 Ein lebhafterer Gegensatz als der hellenistisch-römische ist kaum zu denken. Dabei ist das Verhältnis der aufstrebenden italischen Vormacht zur hellenistischen Welt dem eben beschriebenen zwischen hellenistischer und (alt)hellenischer Kultur zunächst nicht unähnlich. 33
Zumal wir mit E.-R.Schwinges bahnbrechender Studie Künstlichkeit von Kunst. Zur Geschichtlichkeit der alexandrinischen Poesie, München 1986, über ein treffliches Kompendium der relevanten dissidenzverdächtigen Partien verfugen. 34 Vgl. hierzu jetzt die von G.Vogt-Spira u. Bettina Rommel hrsg. Fallstudien: Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, Stuttgart 1999, bes. Vogt-Spiras eigenen Beitrag: Literarische Imitatio und kulturelle Identität. Die Rezeption griechischer Muster in der Selbstwahrnehmung römischer Literatur, 22-37, sowie dess. früheren Aufsatz: Die Kulturbegegnung Roms mit den Griechen, in: M.Schuster (Hrsg.), Die Begegnung mit dem Fremden. Wertungen und Wirkungen in Hochkulturen vom Altertum bis zur Gegenwart, Stuttgart/Leipzig 1996, 11-33. Eine nützliche Einführung in Grundfragen literarischer Abhängigkeitsverhältnisse liefert C.Zintzen, Das Zusammenwirken von Rezeption und Originalität am Beispiel römischer Autoren, in: ders./H.Lange (Hrsg.), Zum Problem der Rezeption in den Geisteswissenschaften, Stuttgart 1986 (=Abh.Akad.Mainz, Heft 7), 1 5 38.
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Wie sollte eine römische 'Literatur' nach den Avantgardes naturelles und ihrer hellenistischen Perfektion gedacht werden können? Mußte römische Literatur, wo sie an der griechischen Maß nahm, nicht α priori retrogardistisch scheinen? Will man den Begriff der Avantgarde nicht von vorneherein um seine supranationale Komponente beschneiden und schon solche literarischen Strömungen avanciert nennen, die ein fremdkulturelles Phänomen nationalsprachlich assimilieren35 und - bestenfalls - umprägen,36 dann wird man nach künstlerischen Bewegungen Ausschau halten, die die Kunstgeschichte um Innovationen eigenen Rechts bereichert haben. Von solchen Neuerungen kann aber in Rom nicht vor dem Aufkommen jener Gruppierung die Rede sein, die das Avantgardistische bereits in dem Namen trägt, den ihr ihre Verächter selbstlos verliehen haben, der Neoterik.37
II. 'Dys-Soziales' Dichten und 'Ästhetische Sozialisation' 38 Selbst die desperate Überlieferungslage, die uns nur das Werk eines Vertreters der neuen Richtung, des Catull, erhalten hat, läßt noch soviel erkennen, daß hier eine Gruppe junger Autoren gegen die altvordere römische Literatur antrat, die es abzulösen galt durch die rigorose Verfeinerung der poetologischen Kriterien und entsprechend der poetischen Verfahren; wenn die Rebellen hierin z.T. auf die Maximen der alexandrinischen Dichtergelehrten rekurrierten, besagt dies noch nichts fur die innovative Potenz39 der neoterischen Literatur.
35 So etwa die frühen literarischen Übersetzungen des Livius Andronicus und noch die 'klassizistische' Menander-Nachfolge des Terenz. 36 Zu denken ist etwa an die epischen Großversuche des Naevius und Ennius, das italisierte Theater des Plautus, die Adaptation hellenistischer Rhetorik, Philosophie, Politikwissenschaft u. Astrologie (Arat) durch Cicero. Für die Einschätzung der 'praeneoterischen' Traditionen, bes. des sog. 'Kreises um Q.Lutatius Catulus', sind unentbehrlich die Studien J.Granarolos, bes. D'Ennius ä Catulle, Paris 1971. 37 Die prominenten Stellen sind Cie. orat. 161 (poetae novi) u. Att. 7, 2, 1 (οί νεώτεροι). 38 Für anregende Diskussionen danke ich Melanie Möller. S. ihren Beitrag zu diesem Band, unten S. 88-108, dort S. 102ff., sowie meine eigene Studie Catulls »obszöne« Bekenntniskunst. Eine pathopoetologische Etude (erscheint). Auf die dort entwickelte Deutung des 16. Gedichts nehmen die folgenden Ausführungen - im verkürzenden Vorgriff - Bezug. 39 An den Doppelsinn der innovatio haben zuletzt - mit Berufung auf J.Derrida, Marges de la philosophie, Paris 1972, 376-78 - R.Hexter u. D.Seiden in der Einleitung ihres
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Die Neoterik galt und gilt (s. in neuester Zeit Raoul Schrott40) vielen für den antiken Inbegriff der Praefiguration moderner Authentizität. Lang war der Weg, bis man die spezifisch neoterische Dissoziation von Kunst und Leben erkannte.41 Die ausdrückliche Anerkennung des Abgrundes, der nach Catulls eigenen Worten - in c. 16 - die Poesie von der profanen Wirklichkeit trennt,42 mußte besonders die Verfechter und beflissenen Nachschreiber eines Catullischen Lebensromans schmerzen, nahmen sie doch Alles und Jedes in den Werken des Autors zum Ausweis eines als Innovation gefeierten Authentischen.43 Authentizität konnte als Eintrittskarte des Catull in den Pantheon moderner Autoren figurieren. Wer diesen Konsensus in Frage stellte, lief Gefahr, noch das geringe Kapital unfraglicher 'Modernität' antiker Literatur zu verspielen. Und wirklich kann die Bedeutung des Autors für die Profilierung einer selbstbewußten Wissenschaft von der römischen Literatur kaum überschätzt werden. In Catull vor allem glaubte man zu finden, was den meisten römischen Autoren offenkundig abging: jene Unmittelbarkeit des lyrischen Sprechens, die in einem etwas trivialen Sinn als Charakteristikum erst wieder der modernen Poesie gelten durfte. Die größte Herausforderung solchen Einvernehmens über den Erlebnischarakter des Catullischen oeuvres war und ist Catull selbst. Wie den offenkundigen Widerspruch zwischen authentischem Sprechen und äußerster Artifizialität beBandes Innovations of Antiquity (oben Anm. 24), xxii, erinnert: "Paradoxically, the Latin innovare means both tu renew or restore a thing to its former state and to change it". 40
Der von der deutschsprachigen Literaturkritik ganz überwiegend gefeierte Jungpoet ist für seine wüste, so anmaßende wie oberflächliche Kompilation Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren, Frankfurt a.M. 1997 (dort, 141-50, zu Catull), von hellsichtigeren Rezensenten des Feuilletons zu Recht hart getadelt worden (bekannt geworden sind mir bisher die Stellungnahmen von L.Deitz, Berliner Zeitung, 18./19. 10. 97, A.Kilb, Die Zeit, 14. 11. 97, W.Winkler, Die Zeit, 12. 12. 97). 41 Den entscheidenden Einschnitt markiert ein Aufsatz von U.Knoche, Erlebnis und dichterischer Ausdruck in der lateinischen Poesie, Gymnasium 65, 1958, 146-65 (wieder abgedr. in: ders., Ausgewählte kleine Schriften, hrsg. v. W.-W.Ehlers, Frankfurt a.M. 1986). In neuerer Zeit wichtig v.a. E.Link, Poetologisches bei Catull. Die Welt virtuoser Poesie und die Leidenschaft des Artisten - ein Programm, (Diss. Heidelberg 1977), Erlangen 1982, u. E.A.Schmidt, Catull, Heidelberg 1985. Ansätze zu einer differenzierteren Betrachtung des Problems schon bei O.Weinreich, Die Distichen des Catull, Tübingen 1926, u. T.Wheeler, Catullus and the Tradition of Ancient Poetry, Berkeley 1934 (Nachdr.: ebd. 1964). 42 "Nam castum esse decet pium poetam / ipsum, versiculos nihil necesse est" (c. 16, 5f. [zitiert nach der Ausg. v. R.A.B.Mynors, Oxford 1958]). 43 Bes. F.Stoessl, C.Valerius Catullus. Mensch, Leben, Dichtung, Meisenheim am Glan 1977, u. ders., Die biographische Methode in der Catull-Forschung, Grazer Beiträge 10, 1981 (1983), 105-34. Aus älterer Forschung sind v.a. L.Schwabe, Quaestiones Catullianae I, Gießen 1862, u. L.Brunir, De ordine et temporibus carminum Valerii Catulli, ActaSoc. Scient.Fenn. 7,1863, 599-657, zu nennen.
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meistern? Wie Catull für eine neuschöpferische römische Literatur retten? Wie für eine mentalitätsgeschichtsbesessene Moderne? Ich kann die Antwort hier nur andeuten: nicht, indem man das Neoterische sei es fur einen sozialkritischen44 sei es für einen ästhetizistischen Diskurs vereinnahmt, auch nicht, indem man seine immanente Poetologie immer nur aus den Fragmenten einer als freundlich, gefallig, gesellig mißdeuteten Atmosphäre von Bohemekultur und heiterer Urbanität rekonstruiert. Nachgewiesen werden muß, nachgewiesen werden kann, daß in der neoterischen Literatur zuerst auch und vor allem die Stigmatisierung gesellschaftlicher Deformation in einen Modus poetischer Obsession überfuhrt ist. Die Sprache der Abweisung, der Ausgrenzung und des Hasses, die - wie man nur zu gern übersieht - oft die Sprache gerade der poetologisch relevanten Gedichte ist,45 ist die Kodifikation einer poetischen Haltung, ihre Selbstfeier in der Weise einer literarischen Implosion. Der Bruch mit der apoetischen Profanie eint die jungen Künstler und ist ihre ästhetische Sozialisation. Das Lebensweltliche muß negiert werden, damit die Kunst seine Stelle einnehmen könne. Eliminiert wird Lebenswelt durch ihre Steigerung ins Extrem. Anders ausgedrückt: durch den identifikatorischen Gestus der Literatur, die an das Leben sich anschmiegt und es in der ultimativen Mimikry verschlingt. Philologische Analyse führte danach auf die Detektion einer poetischen Haltung, eines poetischen Bewußtseins. Das Authentische der neoterischen Poesie ist eine Authentizität zweiter Ordnung; es ist die Rückverwandlung eines seiner lebensweltlichen Bezüge qua Kunst Entkleideten in das kalte transsoziale Feuer eines lebensweltlichen Kerns, der sich selbst verbrennt.
III. Avantgarden der Restauration oder Verrat und Rettung der Kunst? Der nachcatullischen Generation stellt sich das Problem künstlerischer Progression verschärft. In ihrer Jugend sind Vergil und Horaz vermutlich noch mit neoterischen Zirkeln in Kontakt gekommen.46 Von Vergil haben sich manche einschlägige Versuche in der sog. appendix Vergiliana erhalten.47 44
Die überzeugendste Darstellung dieses Aspekts bei A.D.Leeman, Catullus, Angry young man, Hermeneus 35, 1964, 101-14 (dt. in: ders., Form und Sinn. Studien zur römischen Literatur, Frankfurt a.M. 1985, 111-21). Vgl. auch H.P.Syndikus, Catull und die Politik, sowie W.Olbrich, Catull und die Politik, beide Gymnasium 93,1986,34-51. 45 Außer c. 16 bes. c. 36, c. 42, c. 44 u. c. 105 (vgl. auch c. 6, c. 14 u. c. 95). 46 Zu Vergils Catullrezeption s. bes. J.K.Newman, Roman Catullus and the Modification of the Alexandrian Sensibility, Hildesheim 1990, 393-420. 47 S. E.A.Schmidt, Form and Transformation in Vergil's Catalepton, AJPh 92, 1971, 252-65.
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Schon hier wird deutlich, wie rasch sich das Neoterische in der Neoteriknachfolge verbraucht hat. Das berühmte catalepton 10 präsentiert Catulls phaseltis-Gedicht als parodistische Kunstübung48 und ironisches Zitat. Auf dem Wege der versifizierten Reminiszenzen war aber nicht weiterzukommen. Von Vergils bukolisch-ländlicher bis zur Heldendichtung der Aeneis ist die konsequente Überfuhrung neoterischer Programmatik in geschichtsphilosophisch überformte, verhaltene Monumentalität zu beobachten. 49 Horaz tut es ihm in den Römeroden und programmatischen Kunstbriefen über Fragen der Literatur und Moral gleich. Avantgardistisch ist jetzt nicht die angemaßte, sondern die wirkliche Stellung der augusteischen Poeten en tete de la course. Die Avantgarde, die sich zum Führungsstab einer nationalrömischen Restauration macht, eröffnet zugleich die Front gegen die letzten Zöpfe des ancien regime einer, wie Horaz im Augustusbrief urteilt, halberzogenen Literatur.50 Solche Politisierung brachte schon innerhalb der augusteischen Literatur die Gegenbewegung der jungklassischen Elegiker Tibull, Properz, Ovid hervor. Mit ihrer dezidierten Wiederausweisung des Politischen aus dem poetischen Diskurs, 51 mit Ovids 'chaotischer' Epos-Textur zumal, 52 kehrt 48
S. W.Ax, Phaselus ille /Sabinus ille: ein Beitrag zur neueren Diskussion um die Beziehung zwischen Texten, in: Literaturparodie in Antike und Mittelalter, hrsg. v. W.Ax u. R.F.Glei, Trier 1993, 75-100. 49 Vgl. die überzeugende Gesamtdarstellung durch R.F.Glei, Der Vater der Dinge. Interpretationen zur politischen, literarischen und kulturellen Dimension des Krieges bei Vergil, Trier 1991, bes. 43f. u. 57-61. S. jetzt auch dens., The Show must go on: The Death of Marcellus and the Future of the Augustan Principate (Aeneid 6.860-86), in: H P.Stahl, Vergil's Aeneid·. Augustan Epic and Political Context, London 1998, 119-34. 50 Hor. epist. 2. 1, 63-68: Interdum volgus rectum videt, est ubipeccat. /si veteres ita miratur laudatque poetas / ut nihil anteferat, nihil illis comparet, errat: / si quaedam nimis antique, si pleraque dure / dicere credit eos, ignave multa fatetur, / et sapit et mecum facit et love iudicat aequo. Die verbreitete Urteilsschwäche des römischen Publikums hat ihr Pendant im handwerklich Fehlerhaften der älteren und zeitgenössischen Autoren (zusammenfassend 159f.: ... sed in longum tarnen aevum / manserunt hodieque manent vestigia ruris) und steht, so der Dichter im Ausklang der einleitenden (an Augustus gerichteten) Adresse, in auffallendem Kontrast, zum politischen Urteilsvermögen des römischen Volkes: sed tuus hoc populus sapiens et iustus in uno / te nostris ducibus, te Grais anteferendo, / cetera nequaquam simili ratione modoque / aestimat et, nisi quae terris semota suisque / temporibus defimcta videt, fastidit et odit (18-22 [Text nach Shackleton Bailey]). 51 Vgl. D.Little, Politics in Augustan Poetry, in: ANRW II 30, 1 (1982), 254-370, der freilich die scharfe Zäsur verkennt, die das Schaffen Vergils und Horaz' von den Werken der jüngeren Autoren scheidet. Eine dezidiert politische Deutung der Metamorphosen hat U.Schmitzer, Zeitgeschichte in Ovids Metamorphosen. Mythologische Dichtung unter politischem Anspruch, (Diss. Erlangen-Nümberg 1989) Stuttgart 1990, vorgelegt. Berechtigter Einspruch durch R.F.Glei (s. die folgende Anm.), bes. 103.
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die Literatur für kurze Zeit auf den Weg einer eher unpolitischen Kunst zurück. Die avancierte Literatur der späten Republik und des frühen Prinzipats hatte sich auf ihren Gipfelpunkten erschöpft und kam als Maßstab nur bedingt in Betracht. Die Zurückdrängung des Politischen der Literatur in julisch-claudischer Zeit ist anders als die Politikfeindschaft mancher Neoteriker erzwungen.53 Die Bahn der literarischen Entwicklung weist scharf nach innen. Im Innen des frühkaiserzeitlichen Literaturbetriebs entstehen freilich Texte, entwickeln sich Gattungen, die neue Möglichkeiten ästhetischer und politischer Dissidenz bereithalten.54
IV. Avantgarde und Mythopoiese Zum ersten Mal nach mehr als hundert Jahren ist es wieder die Prosa, die in den Mittelpunkt des Interesses an der künstlerischen Innovation rückt. Hier gelingt dem jüngeren Seneca Bahnbrechendes. Livius und Vellerns, Trogus und Vitruv, der ältere Seneca und der ältere Plinius waren an sprachlichen Experimenten nicht eigentlich interessiert und liefern mehr das Bild der Kunstsprache ihrer Zeit, als daß sie sie selbst gründlich verwandelt hätten.55 Seneca vollzieht den radikalen Bruch mit der kunstvollen Periodik großen Stils, wie ihn Cicero vorgeführt hatte. Die Schärfe des Traditionsbruchs mag man schon daraus ersehen, daß am Ende des Jahrhunderts Quintilian den jüngeren Seneca ganz fürs Ende seines Hunderte von Namen umfassenden Spektrums einer tausendjährigen Tradition griechisch-römischer Literatur aufgehoben hat: Ihn solle man erst lesen, wenn man sich schon eigenen 52 Hierzu jetzt R.F.Glei, Der interepische poetologische Diskurs: Zum Verhältnis von Metamorphosen und Aeneis, in: H.L.C.Tristram (Hrsg.), New Methods in the Research of Epic - Neue Methoden der Epenforschung, Tübingen 1998, 85-104. 53 Vgl. L.Alfonsi, Caratteristiche della letteratura giulio-claudia, in: ANRW II 32, 1 (1984), 3-39. 54 Hier ist bes. an die Sammlung versifizierter Fabeln des Phaedrus zu denken. Zum gesellschaftskritischen, mitunter satirischen Potential der Fabeln s. jetzt G.B.Conte, Latin Literature. A History, transl. by J.B.Solodow, rev. by D.Fowler a. G.W.Most, Baltimore/London 1994 (ital. Orig.: Florenz 1987), 434f. 55 Vgl. hierzu bes. G.O.Hutchinson, Latin Literature from Seneca to Juvenal. A Critical Study, Oxford 1993. Zu Livius im bes. s. H.Aili, Livy's Language. A Critical Survey of Research, in: ANRW II 30, 2 (1982), 998-1057, zu Vitruv L.Callebat, La prose du 'De Architectura' de Vitruve, ebd. II 30, 1, 1982, 696-722, zu Velleius u. dem älteren Seneca J.Hellegouarc'h, Velleius Paterculus et Seneque le Rheteur: remarques de langue et de style, in: Hommages ä H.Bardon, hrsg. v. M.Renard u. P.Laurens, Brüssel 1985, 212-24, zum älteren Plinius P.V.Cova, R.Gazich, G.E.Manzoni, G.Melzani, Studi sulla lingua di Plinio il Vecchio, Mailand 1986.
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reifen Urteils erfreue. 56 Interessanterweise beschreibt der spanische Redelehrer die Senecanische Prosa in den Termini pragmatisch-ethischer Philosophie: Da ist von Lastern, von Verderbtheit und Absinken der Maßstäbe die Rede. Ob hier die Ahnung von der Hegemonie des Ästhetischen über das Ethische im Raum steht?57 Wenn Avantgarden sich, wie das Beispiel des Hellenismus zeigen konnte, nicht ausschließlich von den gesellschaftlichen Verhältnissen her beschreiben lassen, sondern, wie ich nun behaupten möchte, auch von ihrer konstitutiven geschichtsbildformierenden Bedeutung für unsere Ansicht der Dinge, dann ist die Frage nur legitim, inwieweit Senecas avantgardistische Haltung, sein neuer Blick unseren Blick auf die Verhältnisse affiziert. Senecas wache, nervöse, im Staccato der Kurzsätze pulsierende Prosa erschafft einen neuen, interessanten Wahrnehmungsraum.58 Es ist ein literarhistorischer Gemeinplatz, daß die Künstler der sog. 'silbernen Epoche' 59 ganz Kinder ihrer Zeit sind; seltener hat man daran gedacht, das Verhältnis geradezu umzukehren. Die 'silberne' Zeit existiert fur uns nur in der Vorstellungswelt ihrer Beschreiber. Einseitig möchte danach jene Perspektivierung erscheinen, wonach eine besondere kollektive aus individualpsychologischen, soziopolitischen, ökonomischen, militärischen, religiösen und kulturellen Quellen gleichermaßen sich speisende Situation ein bestimmtes ingenium von bestimmter Disposition hervorgebracht haben soll. Nicht weniger wahr ist, daß wir jene Epoche als ein Amalgam aus eigenen zeittypischen Vorstellungen (und seien es die der Dekonstruktion) und jenen seiner zeitgenössischen Dokumentaristen (re)konstruieren; kaum zu überschätzen ist der Einfluß, den die Riege der Avantgardisten in julisch-claudischer Zeit auf das Geschichtsbild ganzer Generationen ausgeübt hat; noch heute erscheint die Zeit der ersten Caesaren vielen so paralytisch-konfus, wie es ein Konglomerat halb-suetonischer, halbtaciteischer Vorstellungen mit spezifi56 Inst. 10, 1, 13Of.: "Velles eum [sc. Senecam] suo ingenio dixisse, alieno iudicio ... / Verum sie quoque iam robustis et severiore genere satis firmatis legendus, vel ideo quod exercere potest utrimque iudicium" (Text nach Winterbottoms Oxoniensis). 57 Die Frage ist nicht zu trennen von jener anderen, unten S. 88-108 von M.Möller verhandelten Frage nach der Valenz anthropologisch fundierter literarkritischer Doktrinen in der römischen Literatur. Zu Seneca und Quintilian vgl. bes. ebd. S. 98-101. 58 Mit Absicht wähle ich einen Terminus der romantischen Literaturkritik. Die zahlreichen Parallelen der Epochenwechsel: augusteische/'silberne' bzw. klassische/romantische Literatur sind noch kaum systematisch erforscht. Die inhaltsästhetisch dominierte ältere Komparatistik hat eine vorurteilsfreiere vergleichende Strukturanalyse lange behindert. 59 Zur Genealogie der metallurgischen Epochenmetaphorik s. jetzt die anregende Studie von W.Ax, Quattuor linguae Latinae aetates. Neue Forschungen zur Geschichte der Begriffe "Goldene" und "Silberne" Latinität, Hermes 124, 1996, 220-40.
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sehen gegenwartskünstlerischen Beimischungen aus der großen Epoche des italienischen Films nur immer sein mag. Die voyeuristische fiebrige Prosa der frühkaiserzeitlichen Geschichtsschriftstellerei hat die Ansicht der römischen Dinge bis in unsere Tage nachhaltig geprägt. Der Senecanische Avantgardismus, das vehement sich artikulierende psychologische Interesse, der sezierende Blick des moralisierenden Autors korrespondiert lebhaft mit den anderen Meilensteinen der postaugusteischen Literatur: der welthaltigen, allzuständigen, panimitatistischen prosimetrischen Kunst des Petron60 und dem psychologische Detailkunst, 'romantisches' Welterleben und eine an Kühnheit kaum zu überbietende, nachgerade 'terroristische' Ästhetik gelassen mischenden Lucan.61 Die Tauglichkeit der mythexegetischen und mythokritischen Methode hätte sich daran zu erweisen, ob es ihr gelingt, sich von einseitigen Schlüssen: sei es von der Gesellschaft auf die Dichtung (Produktionsästhetik), sei es von der Dichtung auf die Gesellschaft (alle Spielarten der Rezeptionsästhetik) entfernt zu halten und ihren Standpunkt außerhalb des engen Depen60 Nach den großen philologischen Vorleistungen bes. durch Bücheler und - in unserer Zeit - K.Müller hat in den letzten drei Dezennien auch die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit den Satyrica bedeutende Fortschritte erzielt. Bemerkenswerte Beiträge bes. zu Erzählforschung und Kulturgeschichte von B.Effe, Entstehung und Funktion 'personaler' Erzählweisen in der Erzählliteratur der Antike, Poetica 7, 135-57, F.M.Fröhlke, Petron. Struktur und Wirklichkeit. Bausteine zu einer Poetik des antiken Romans, Frankfurt a.M./Bern 1977, R.Herzog, Fest, Terror und Tod in Petrons Satyrica, in: Das Fest, hrsg. v. W.Haug u. R.Warning, München 1989 (= Poetik und Hermeneutik 12), 120-50, S.Döpp, Leben und Tod in Petrons 'Satyrica', in: Tod und Jenseits im Altertum, hrsg. v. G.Binder u. B.Effe, Trier 1991, 144-66, G.B.Conte, The Hidden Author. An Interpretation of Petronius' Satyricon, Berkeley/Los Angeles/London 1996, u. zuletzt P.Toohey, Trimalchio's Constipation: Periodizing Madness, Eros, and Time, in: ders./M.GoIden (Hrsg.), Inventing Ancient Culture. Historicism, Periodization, and the Ancient World, London/New York 1997, 50-65. 61 Noch immer wertvoll die Beiträge des von M.Durry hrsg. Tagungsbandes Lucain, Genf 1968 (= Fond. Hardt/Entretiens 15). Vgl. außerdem M.Fuhrmann, Die Funktion grausiger und ekelhafter Motive in der lateinischen Dichtung, in: H.R.Jauß (Hrsg.), Die nicht mehr schönen Künste, München 1968 (= Poetik und Hermeneutik 3), 23-66 (mit Diskussion: Kanon und Lizenz in antiker Literatur, ebd., 531-47), G.B.Conte, Saggio di commento a Lucano, Pisa 1974 (Nachdr.: Urbino 1988), C.Martindale, Paradox, Hyperbole, and Literary Novelty in Lucan's De bello civili, Bull.Inst.Class.Stud.London 23, 1976, 45-54, E.Narducci, La prowidenza crudele: Lucano e la distruzione dei miti augustei, Pisa 1979, W.R.Johnson, Momentary Monsters: Lucan and His Heroes, Ithaca 1987, sowie J.Masters, Poetry and Civil War in Lucan's Bellum Civile, Cambridge 1992. Auch die vorgenannten Studien können kaum darüber hinwegtäuschen, daß die ästhetische Seite der Pharsalia noch immer ungenügend erforscht ist. In W.Rutz' Forschungsbericht, ANRW II 32, 3 (1985), 1457-1537, tritt der Künstler Lucan hinter dem Rhetoriker (1477-79), Philosophen (1479-81), Politiker (1481-88), Historiker 1489f.) und Didaktiker (1490-93) ganz zurück. Ein eigenes lemma ist bezeichnenderweise nicht eingerichtet.
Römische »Avantgarden«
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denzverhältnisses zu gewinnen. Hinter beiden Modellen hält sich der Schalk der Quellen-Kunde mehr schlecht als recht versteckt: quod erat demonstrandum, demonstrare nil potest. Die Soziologie und die ästhetische Metaphysik markieren die Enden der Irrwege eines und desselben zirkulären Modells. Ich fasse zusammen: Nach der Literaturwerdung der Literatur in hellenistischer Zeit, nach der Devianzästhetik der alexandrinischen Dichtergelehrten wird der avantgardistische Gestus in den Spätzeiten der römischen Republik repolitisiert: Abweichung wird zur Verweigerung, das Ungesellschaftliche zur leidenschaftlich gepflegten dyssozialen Pose, zur Verhöhnung des Spießertums und seiner inferioren Literatur. Die scheinbare Pervertierung des avantgardistischen Gedankens in der frühaugusteischen Literatur ist in Wahrheit seine Überfuhrung und Rettung in und durch die Literaturgeschichte: Wenn Horaz an der Spitze der spätneoterischen halbklassizistischen Bewegung sein restauratives gesellschaftliches Programm unter die Aufschrift seines preziösen Odi profanum volgus et arceo stellen kann62 und das Monumentalische vermittels einer exquisiten Rekusationstopik nur halb und halb gewährt,63 ist über das Schicksal der frühen Avantgarden das letzte Wort noch nicht gesprochen. Indem sie, unterstützt durch die Ovid verdankte Erweiterung des poetisch-ästhetischen Inventars der augusteischen Zeit,64 nach neuen Möglichkeiten künstlerischen Ausdrucks suchen, indem Lucan aufräumt mit den ältesten, mythologischen Insignien der epischen Literatur, Petron aus einer phantastischen Melange von Wahnsinn und Amoralität seine Weltsatire erschafft, Seneca die überlieferte Dramatik kühn über den Leisten seines sequentiellen, piktural-parataktischen Barocktheaters legt und in seiner Prosa Maßstäbe setzt, die erst Montaigne wieder hochhalten wird, dann wird man den gemeinsamen Untergang dieser drei Autoren in der Agonie der neronischen Spätzeit geradezu als Chiffre für das vorläufige Ende einer selbstbewußten und im avantgardistischen Sinne an-
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Die Exklusivität zumal der späten Horazischen Odendichtung hat zuletzt R.F.Glei betont: Ein Paradigma höfischer Kommunikation: Horaz' viertes Odenbuch als Spiegel dynastischer Politik, in: G.Binder, Konrad Ehlich (Hrsg.), Kommunikation durch Zeichen und Wort, Trier 1995, 333-50. 63 S. Verf., Prolegomena (wie Anm. 13), 185f - Entscheidend für die Ausbildung eines avantgardistischen Selbstbewußtseins ist die Entwicklung einer zwischen Musenpriestertum und Prophetie changierenden Dichteridee, nach M.v.Albrecht "wohl der faszinierendste Beitrag der augusteischen Epoche zur Literatur- und Geistesgeschichte" (Geschichte der römischen Literatur, 2 Bde, Bern/München 1992, 2 1994,1519). 64 Siehe v.a. E.A.Schmidt, Ovids poetische Menschenwelt. Die Metamorphosen als Metapher und Symphonie, SitzHeidAkadWiss 1991, 2, R.Herzog (s. unten Anm. 66) u. R.F.Glei (s. oben Anm. 52).
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spruchsvollen römischen Literatur lesen.65 Die ästhetische Dissidenz, die sich in der neoterischen Revolte vollendet und im Ovidischen Erzählkosmos ihr ästhetizistisches Nachspiel hat,66 erlebt ihre Katastrophe im Gefolge der ominösen Pisonischen Verschwörung. Schon bald darauf - pikanterweise in Zeiten eines liberaleren Regiments - verkommt die Avantgarde zum Zitat. Die in Kaisernähe operierenden poetae novelli der sog. archaistischen Epoche67 - welch oxymorale Konstellation - sind genau die Biedermänner, zu welchen auch avantgardeverdächtige Autoren in der philologischen Retraktation nur zu rasch werden.68 Wenn am Ende vielleicht doch einmal die geschichtsphilosophische These verstattet ist, könnte man wie folgt formulieren: In hellenistischer Zeit wird das avancierte Schreiben autonom, also Literatur, in der Neoterik erfährt es sich als ästhetischen Souverän, seine restaurative Unterwanderung, den Pakt mit der Macht übersteht, besser: unterlebt es und pflanzt sich fort in der ästhetischen Subversion. Seine vorübergehende Ausmerzung im Blutkarneval des Neronischen Dilettantismus69 ist in Wahrheit seine Apotheose: als mythopoetischer Keimzelle der Literatur und ihrer Geschichte.
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Merkwürdigerweise hat die Forschung Seneca, Lucan und Petron nie unter dem signum ihrer Avantgardizität zueinander in Beziehung gesetzt. Wo ich die Autoren im Zusammenhang behandelt finde, gibt für die Zuordnung entweder das Verwandtschaftsverhältnis (Seneca-Lucan) oder Petrons Lucan-Kritik (sat. 118-25) den Ausschlag (vgl. J.P.Sullivan, Petronius' 'Satyricon' and its Neronian Context, in: ANRW II 32, 3 [1985], 1666-86, bes. 1679ff.). Den polemisch prononcierten Antiklassizismus hat als verbindendes Moment D.Gagliardi benannt (La letteratura dell' irrazionale in etä neroniana [lineamenti d'ma ricercaj, in: ANRW II 32, 3,2047-65, dort 2050). 66 Vgl. bes. R.Herzog, Vom Aufhören. Darstellungsformen menschlicher Dauer im Ende, in: K.Stierle u, R.Warning (Hrsg.), Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996 (= Poetik und Hermeneutik 16), 283-329, v.a. 309-23. 67 Den in der Alten Philologie weit verbreiteten Glauben an die Berechtigung dieser Epochencharakteristik hat zuletzt U.Schindel in zwei Beiträgen mit guten Gründen erschüttert: Archaismus als Epochenbegriff - zum Selbstverständnis des 2. Jhs., Hermes 122, 1994, 327—41, u. Neues zur Begriffsgeschichte von Archaismus, Hermes 125, 1997, 249-52. 68 S. G.Schultz, Über das Capitel de versuum generibus bei Diomedes p. 506ff. K., Hermes 22, 1887, 260-81, dort 274-81, E.Castorina, I poetae novelli, Florenz 1949, A.Cameron, Poetae Novelli, HSPh 84, 1980, 127-75, P.Steinmetz, Untersuchungen zur römischen Literatur des zweiten Jahrhunderts nach Christi Geburt, Wiesbaden 1982, J . W.Beck, Annianus, Septimius Serenus und ein vergessenes Frg., Stuttgart 1994, u. zuletzt K.Sallmann (Hrsg.), Die Literatur des Umbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur. 117 bis 284 n. Chr. (= Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, hrsg. v. R.Herzog u. P.L.Schmidt, Bd. 4), München 1997, S.587ff. 69 Zum kulturgeschichtlichen Kontext s. jetzt M.Morford, Nero's Patronage and Participation in Literatur and the Arts, in: ANRW II32,3 (1985), 2003-31.
Aeneas und Odysseus. Die 'Tore des Schlafs' in Aen. 6, 893-99 Peter von Möllendorff - München
Tradition und Innovation - wo verbänden sie sich enger als in jenem literarischen Phänomen, das in der Geschichte der Literaturwissenschaft mit so unterschiedlichen Bezeichnungen wie Mimesis, Imitation, Quellenbenutzung, Anspielung, Parodie, schließlich Intertextualität etikettiert worden ist? Nicht nur die Bezeichnungen sind different, auch die Begriffe sind - je nach theoretischer Provenienz - bald weiter, bald enger gefaßt und stellen je andere Aspekte des Phänomens in den Vordergrund. Aber ihrer aller Kern ist doch die Wiederaufnahme und Verwendung von Elementen einer literarischen Tradition in der literarischen Avantgarde. Dabei gilt einerseits, daß die Tradition die Innovation befördert, indem der aufgenommene Text (Prätext) den aufnehmenden Text (Phänotext) vertieft, beglaubigt, in seinem Sinnpotential ergänzt oder erweitert, andererseits versetzt der Phänotext den Prätext durch seine Auseinandersetzung mit ihm recht eigentlich erst in den ehrenvollen Stand der Traditionalität, indem er ihn - in welcher Form auch immer - wiederholt und damit den Rezipienten zwingt, sich ihn in seiner originalen Gestalt ins Gedächtnis zu rufen und damit zu reaktivieren. Die Einbindung von Prätexten hat darüber hinaus fur den Autor des Phänotextes einen weiteren entscheidenden Vorzug, indem er seinen Leser zur Arbeit am Text zwingt: Er muß den Prätext nicht nur erkennen, sondern sieht sich auch genötigt, Prä- und Phänotext zu vergleichen, das Neue des Phäno- gegen das Alte des Prätextes zu stellen, den mit der Einbindung des Prätextes ermöglichten zusätzlichen Sinn zu erschließen, die eigentliche Innovation des Phänotextes in der Auseinandersetzung mit der vom Leser aktivierten Tradition des Prätextes nachzuvollziehen und mithin besser zu würdigen. Dieses Engagement ist umso stärker, je größer die intertextuelle Herausforderung für den Leser ist. Die Herausforderung ist in erster Linie intellektueller und emotionaler Natur. Je stärker das intertextuelle Signal ist, je leichter - dies hängt auch vom intendierten Rezipienten ab - die 'Anspielung' und der eingebundene Text zu identifizieren sind, desto geringer ist der intellektuelle Anteil an der Rezeption und desto größer ist der emotionale Anteil von Zustimmung oder Ablehnung: als Beispiel könnten etwa zur
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Beglaubigung oder als Objekt ausdrücklicher Polemik verwendete und entsprechend deutlich markierte Zitate (evt. sogar mit Angabe des Verfassers) dienen. Eine klar signalisierte, in ihrem Umfang genau markierte und somit plakative Anspielung kann den analytischen Zugang zu ihr womöglich sogar verhindern. Je schwächer und undeutlicher hingegen ein intertextuelles Signal ist und je schwerer es dem Rezipienten gemacht wird, erstens überhaupt zu bemerken, daß ein Prätext eingebunden worden ist, und zweitens diesen zu identifizieren und den genauen Umfang seiner Einbindung zu bestimmen, desto höher ist der intellektuelle Anteil an der Rezeption und desto geringer ist dann der Anteil (spontaner) emotionaler Reaktion. Je größer der intellektuelle Anteil an der Rezeption von Intertextualität sein soll, desto stärker reduziert sich für den Autor die Möglichkeit, eine angemessene - im Sinne von: seinen Produktionsabsichten entsprechende Rezeption sicherzustellen. Denn mit der zunehmend schwächeren Markierung intertextueller Einspiegelungen wird es ja zunehmend ungewisser, ob der Rezipient die Anspielung überhaupt bemerken wird, und wenn er sie bemerkt, so ist (etwa aufgrund einer - im Gegensatz zum ausgewiesenen Zitat - uneindeutigen Umfangsabgrenzung) nicht mehr sicher, ob er ihre vom Autor intendierte Bedeutung im Text richtig interpretiert. Führt diese Unmöglichkeit der Kontrolle insofern potentiell zu einer gestörten Kommunikation zwischen Autor und Rezipient, als letzterer den vom Autor dem Text eingeschriebenen Sinn nur defizitär aufnimmt, so wird man einen zweiten Fall von Kommunikationsstörung womöglich als gravierender ansehen: wenn nämlich der Rezipient meint, Intertextualitätssignale wahrzunehmen, die der Autor nicht, oder nicht absichtlich, gesetzt hat. Hier müssen wir unterscheiden zwischen einer Grundbefindlichkeit von Literatur einerseits und einer hermeneutischen Eigendynamik des Rezeptionsprozesses andererseits. Zum einen ruht alle auktoriale Tätigkeit auf einem Fundament (oft umfangreicher) präliminarischer Lektüre auf, anders gesagt: Innovation basiert fast immer auf einer vorgängigen Bekanntschaft mit der Tradition. Nicht alles aber, was der Autor vorgängig rezipiert hat, ist in seinem Gedächtnis beim Schreiben präsent, manches, vielleicht vieles, fließt 'unbewußt' ein. Es kann natürlich der Fall eintreten, daß ein Rezipient gerade einen solchen unbewußt eingespiegelten Prätext wiedererkennt (und je spontaner das passiert, desto mehr wird er dazu neigen, das betreffende Signal für absichtlich gesetzt zu halten). Zum anderen kann es sein, daß der Rezipient bei seiner hermeneutischen Tätigkeit eine Assoziationsbrücke schlägt und die Bezugnahme auf einen Prätext diagnostiziert, ohne daß er damit je bei anderen Rezipienten Konsens erzielen würde. In der Praxis dürften beide Fälle häufig nicht von-
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einander zu unterscheiden sein. Eine Unterscheidung ist auch nicht von Wichtigkeit, denn sie zeitigen dasselbe Resultat: der Rezipient konstituiert einen Textsinn über die Intentionen des Autors hinaus oder an ihnen vorbei. Dieses kommunikative Scheitern läßt sich durchaus als produktiv bezeichnen. Denn auf diese Weise entsteht im Verlauf der zahlreichen Lektüren, denen eine Textpassage unterworfen wird - und von denen viele in der einen oder anderen Weise dokumentiert oder weitergegeben werden, so daß sie für andere Rezipienten verfügbar sind - , auf der einen Seite eine Deutungstradition, eine Konfiguration von anerkannten Interpretationen der Textpartie, auf der anderen Seite ermöglicht die Offenheit der Sinnstiftung in der Rezeption die permanente Produktion innovativer Deutungen, die sich zum Teil eng an die Deutungstradition anschließen, zum Teil weit von ihr abrücken, aber doch stets nicht ohne sie zu denken und zu verstehen sind.1 Daß die obigen Darlegungen ein bei allen Differenzen im Einzelfall insgesamt zutreffendes Beschreibungsmodell für das Funktionieren sowie für die Vorteile und die Risiken liefern, die mit dem Einsatz dieser literarischen Technik verbunden sind, zeigt sich daran, wie aufsehenerregend die Fälle sind, die sich dieser Beschreibung nicht unmittelbar fügen. Als Beispiel möchte ich im folgenden den berühmten Schluß des sechsten Buches der Aeneis behandeln. Nach seiner Landung in Cumae ist Aeneas von der Sibylle in die Unterwelt hinabgeführt worden. Dort hat er nicht nur die traditionellen mythischen Orte des Überganges und der Bestrafung gesehen, sondern auch alte gefallene Kameraden und die seinetwegen durch Freitod aus dem Leben geschiedene Dido getroffen. Nachdem er den Goldenen Zweig, der ihm das Betreten der Unterwelt ermöglicht hatte, an der Schwelle des Palasttores des Dis niedergelegt hat, gelangt er ins Elysium und trifft dort seinen Vater Anchises, der ihm zum einen eschatologische Aufklärung erteilt - auf den Tod folgt Sühne und Wiedergeburt - , und ihn zum anderen in der sogenannten 'Heldenschau' mit einer Vision bedeutender Gestalten aus der zukünftigen römischen Geschichte bis hinein in die Gegenwart von Dichter und Leser konfrontiert: sie drängen an ihm vorbei zum Fluß Lethe, von wo aus sie nach dem Trank des Vergessens in ihre neuen Körper eingehen werden. 1
Dabei darf nicht vernachlässigt werden, daß die Deutungstradition und der Umgang mit ihr auch eine diachrone Dimension besitzen. Hinsichtlich der Interpretation intertextueller Bezugnahmen bedeutet dies, daß einem wesentlich später lebenden Rezipienten entweder bestimmte Prätexte nicht mehr oder nur mehr fragmentarisch zur Verfugung stehen oder daß sich die Deutungstradition, die sich an jenen Prätext geknüpft hat, störend zwischen ihn und den Rezipienten schiebt.
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Nachdem er ihn so - ich paraphrasiere die Verse 888-892 - mit Liebe zu seiner neuen Heimat Italien und zu den Nachfahren seines Geschlechtes erfüllt hat, enthüllt er ihm die Kriege, die er noch fuhren muß, belehrt ihn über die laurentischen Stämme, über die Stadt des Latinus (seines zukünftigen Schwiegervaters), sowie darüber, wie er alle Gefahren und Mühen meiden und meistern könne (6, 890-92). Hier bricht die Erzählung ab, und Vergil fährt fort (6, 893-99): "Sunt geminae Somni portae, quarum altera fertur cornea, qua veris facilis datur exitus umbris, altera candenti perfecta nitens elephanto, sed falsa ad caelum mittunt insomnia Manes, his ibi tum natum Anchises unaque Sibyllam prosequitur dictis portaque emittit eburna, ille viam secat ad navis sociosque revisit." "Siehe, da sind zwei Tore des Schlafs, von Hörne das eine, / Sagt man, wo leicht hindurch die wahren Träume entschweben; / Aber von glänzendem Elfenbein das andre gebildet, / Hier versenden die Manen zur Welt die falschen Gesichte. / Dorthin geleitet Anchises den Sohn und zugleich die Sibylle, / Immer noch redend, entläßt er durchs elfenbeinerne Tor sie. / Aber Aeneas geht rasch zu den Schiffen und grüßt die Gefährten."2
Das Motiv der Traumtore kennen wir zuerst aus einem Passus in der Odyssee (19, 559—567):3 Dort erklärt Penelope dem als Bettler verkleideten Odysseus, es gebe zwei Arten von Träumen: die, die sich erfüllen - sie kommen durch ein Tor aus Horn - , und die, die sich nicht erfüllen - sie kommen durch ein Tor aus Elfenbein: τόυ δ' αυτέ προσέειπε περίφρων Πηνελόπεια· "ξεΐν', ή τοι μεν όνεψοι αμήχανοι άκρίτόμυθοι γίνοντ', ούδέ τι πάντα τελείεται άνθρώττοισι. δοι,αί γάρ τε πΰλαι άμενηνών είσίν ονείρων αί μεν γάρ κεράεσσι τετεύχαται, αί δ' έλεφαντι.
2 Text nach: P. Vergili Maronis opera rec. R.A.B. Mynors, Oxford 1969 (corr. 1985). Übersetzung nach: Vergil, Aeneis. Übersetzt und hrsg. v. W. Plankl u. Mitw. v. K. Vretska, Stuttgart 1981. 3 Vgl. hierzu unter literarhistorischem Aspekt J.P. Schwindt, Tragischer und epischer Traum. Euripides, Iph. Taur. 42-64 und Homer, Od. τ 535-69, Hermes 126,1998, 1-14, hier insbes. 5-7.
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των ο'ϊ μεν κ' έλθωσι δια πριστοΰ έλέφαντος, οϊ ρ' έλεφαίρονται, εττε' άκράαντα φέροντες· οϊ δέ δια ζεστών κεράων ελθωσι θύρα£ε, οϊ ρ' έτυμα κραίνουσι, βροτών οτε κεν τ ι ς ϊδηται. ..." "Ihm erwiderte drauf die kluge Penelopeia: / 'Fremdling, freilich, es gibt wohl unerklärliche, dunkle / Träume, und es erfüllen sich auch nicht alle den Menschen. / Sind doch zweierlei Art die Pforten der luftigen Träume, / Eine ist aus Horn und elfenbeinern die andre. / Jene Träume, die durch das Tor von Elfenbein treten, / Sind nur täuschender Trug und reden nur nichtige Worte; / Die aber aus dem Glanz des hellen Homes hervorgehn, / Finden ihre Erfüllung, wenn sterbliche Menschen sie schauten. /...' " 4
Daß Vergil tatsächlich auf die Odyssee anspielt, erhellt aus folgendem Sachverhalt: Verwendungen des Motivs finden sich vor Vergil an drei Stellen,5 dort aber stets in einer so verkürzten Form, daß beim Leser seine Kenntnis offensichtlich vorausgesetzt ist. Es scheint, daß das Motiv eine quasi folkloristische Eigenständigkeit gewonnen hat. Anders Vergil: Er nimmt das Motiv nicht nur inhaltlich auf, sondern imitiert auch die Form seiner Präsentation bei Homer, wo ebenfalls der Zusammenhang von Material des jeweiligen Tores und Charakter der durch es entweichenden Träume in mehreren parallelen Versen expliziert wird (vgl. Aen. 6, 893-896 und Od. 19, 562-567). Hinzu kommt das auffallige, weil die fiktionale Geschlossenheit des Textes störende fertur (6, 893), das explizit auf eine Quelle hinweist. Da in der Aeneis Bezugnahmen auf Ilias und Odyssee geradezu werkkonstitutiv sind,6 muß der Hinweis für den zeitgenössischen Rezipienten recht plakativ gewesen sein. Es dürfte genau diese Plakativität gewesen sein, die in der oben beschriebenen Weise eine eigentlich analytische Auseinandersetzung verhinderte - u n d womöglich bis heute verhindert hat. Denn schon Servius nahm die Anspielung genau in dem Umfang auf, in dem sie unmittelbar vor Augen tritt, und folgerte lakonisch:
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Text nach: Homeri Odyssea, rec. P. von der Mühll, Basel 1971. Übersetzung nach: Homer, Odyssee. Verdeutscht von Thassilo von Scheffer, Bremen o.J. 5 Soph. Electra 645, Plat. Charm. 173a sowie Hör. c. 3,27,41 (wohl 23 v. Chr. publiziert); vgl. J.S. Hanson, Dreams and Visions in the Graeco-Roman World and Early Christianity, ANRW II, 23, 2 (1980), 1395-1427, hier 1398f. Anm. 25. Das Epigramm AP 7, 42 ist anonym und daher undatiert, obgleich sicher postkallimacheisch. 6 Die Literatur hierzu ist unübersehbar; als Standardwerk sei gleichwohl zitiert: G.N. Knauer, Die Aeneis und Homer. Studien zur poetischen Technik Vergils, mit Listen der Homerzitate in der Aeneis, Göttingen 1964 [= Hypomnemata 7].
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"et poetice apertus est sensus: vult [sc. Vergilius] autem intellegi falsa esse omnia quae dixit."7 Dabei wird nichts anderes umgesetzt als der reine Inhalt jener wenigen Verse der Odyssee, ohne Rücksicht auf den Kontext, in dem sie dort stehen, auf die jeweiligen Sprecher und auf den Grund, weshalb sie dort vorgetragen werden. Auch alle mir bekannten neueren Deutungen nehmen indirekt von diesem Referenztext ihren Ausgang, beschränken seinen Einfluß auf Vergils Darlegungen jedoch auf genau jene Zuordnung von Träumen und Toren und damit auf die Opposition 'Wahr-Falsch'. Der Grund hierfür kann meines Erachtens nur der sein, daß gerade die Evidenz der Tatsache einer Anspielung sowie ihre unverstellte Identifizierbarkeit die Annahme nahelegten, daß auch ihr Verständnis im Sinnzusammenhang der ^e«ew-Passage sich ebenso unmittelbar ergeben müßte.8 Die außerordentliche Vielfalt der Deutungen seit Servius und die bis heute nicht erzielte Einigkeit - hier liegt einmal das Paradox vor, daß eine evidente und plakative Anspielung keine communis opinio, sondern nur ein Konglomerat von opiniones diversissimae als Deutungstradition hervorgebracht hat - machen es jedoch wahrscheinlich, daß diese Evidenz eine trügerische ist. Es soll daher im folgenden der Weg beschritten werden, die Anspielung von der analytischen Seite her anzugehen und zu überprüfen, wie weit die Einbeziehung von Kontext, Sprechern und Sinnzusammenhang des Originals in der Interpretation der Aeneis-Passage führt.9
7 Servius ad Aen. 6, 893. Vgl. zu Servius ausfuhrlich K. Pollmann, Etymologie, Allegorese und epische Struktur. Zu den Toren der Träume bei Homer und Vergil, Philologus 137,1993,232-251, hier 241-247. 8 Als Unterstützung für die Richtigkeit dieser Überlegung sehe ich die Tatsache an, daß unsere Stelle in den großen Forschungsmonographien und -aufsätzen zur Intertextualität in der lateinischen Literatur trotz der Fülle des dort untersuchten Materials nie der Betrachtung für würdig befunden wird. Der Grund dafür kann nur sein, daß die ausgefeilte Methodik des Nachweises und der Analyse auch noch verstecktester Anspielungen hier so gar kein Betätigungsfeld zu finden schien. Als Beispiele seien genannt: G. Giangrande, 'Arte allusiva' and Alexandrian Epic Poetry, CQ 17, 1967, 85-97, G.B. Conte, The Rhetoric of Imitation: Genre and Poetic Memory in Virgil and Other Latin Poets, Ithaca 1986, J. Farrell, Vergil's Georgics and the Traditions of Ancient Epic: The Art of Allusion in Literary History, New York/Oxford 1991, R.O.A.M. Lyne, Vergil's Aeneid: Subversion by Intertextuality, Catullus 66, 39-40 and Other Examples, G&R 41, 1994, 187-204, S. Hinds, Allusion and Intertext. Dynamics of appropriation in Roman poetry, Cambridge 1998. Auch Knauer (Anm. 6) geht nur am Rande auf die Anspielung ein. 9 Eine Vorgehensweise, die grundsätzlich schon Knauer (Anm. 6) 145 nahelegt; aber es ist natürlich immer Auffassungssache, wie groß man den beizuziehenden Kontext ansetzen will.
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Gleichwohl kann ein neuer Zugang gerade zu diesem Text nicht mehr direkt gewonnen werden. D i e immense Forschungstradition, die sich um j e ne w e n i g e n Verse rankt, fordert schon deshalb eine vorgängige Auseinandersetzung mit ihr, weil das in ihr grundsätzlich gewählte Verfahren einer reduzierten Auswertung der Anspielung auf die Odyssee
ja dem v o m Text
selbst gesetzten Signal zunächst einmal adäquater ist. Es ist daher im folgenden zunächst zu zeigen, w e l c h e prinzipiellen Schwächen einerseits mit dieser Art des Zugangs verbunden sind und w e l c h e Fragen sich andererseits als mit unserer Passage so stark verknüpft erwiesen haben, daß j e d e neue Interpretation der Stelle auf sie eine Antwort geben können muß. Die Forschungsgeschichte läßt sich in fiktionsimmanente und metatextuelle Deutungen unterteilen. Ich beginne mit den fiktionsimmanenten Deutungsansätzen der Forschung. Everett (1900) und Norden (1927)'° nahmen (basierend auf Aussagen bei Ovid und Horaz) an, die Erwähnung der Traumtore impliziere eine Zeitangabe: Die Besucher verließen die Unterwelt vor Mitternacht, weil vor Mitternacht die falschen Träume kämen. Dagegen spricht, daß Aen. 2,268ff. das Traumbild Hektars dem Aeneas ebenfalls eindeutig vor Mitternacht erscheint: Da seine Worte aber wahr sind, ist diese These hinfällig." Andere sahen darin eine Ortsangabe, so Hirst (1912), Highbarger (1940), Steiner (1952) und zuletzt noch Jönsson/Roos (1996):12 sie setzten das elfenbeinerne Tor neben die von Vergil am Eingang der Unterwelt situierte Ulme, in der die vana somnia hängen (6, 282284), nahmen also einen Rundgang an. Der Text selbst sagt davon allerdings nichts,
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W. Everett, Upon Virgil, Aeneid VI, vss. 893-898, CR 14, 1900, 153f.; E. Norden, P. Vergilius Maro. Aeneis Buch VI, Darmstadt 4195 7 [= Leipzig 31927, neu vergl. mit 2 1916; '1903] adloc. Vgl. auch J. van Ooteghem, Somni Portae, LEC 16.4, 1948, 386390. 11 Everett (Anm. 10) 154 hat das Problem gesehen und mit einem Hinweis auf Aen. 6, 513f. (namque ut supremam falsa inter gaudia noctem / egerimus, nosti) zu entkräften versucht, wo Deiphobus berichte, daß die Festfeier der Trojaner bis tief in die Nacht gedauert habe, so daß man kaum vor Mitternacht zu Bett gelangt sei. Das Argument verfangt jedoch nicht. An jener Stelle im 6. Buch wird nichts über die Dauer der Festnacht gesagt, während die Formulierungen in 2, 268 (tempus erat quo prima quies mortalibus aegris incipit [mit mortales aegri können dezidiert nicht die feiernden Trojaner gemeint sein, sondern es handelt sich um eine formale Angabe für frühe Nacht]) und in 2, 249253 (ille dies, festa velamus fronde per urhem. / Vertitur interea caelum et ruit Oceano nox. /.../... fiisi per moenia Teucri / conticuere; sopor fessos complectitur artus) eindeutig sind: Das Fest begann am Tag unmittelbar nach der Einholung des hölzernen Pferdes und dauerte bis in die Nacht, aber nicht bis nach Mitternacht. 12 M.E. Hirst, The Gates of Virgil's Underworld: A Reminiscence of Lucretius, CR 26, 1912, 82f.; E.L. Highbarger, The Gates of Sleep, Baltimore 1940; H.R. Steiner, Der Traum in der Aeneis, Bern/Stuttgart 1952, 88-96; Α. Jönsson/B.-A. Roos, A note on Aeneid 6.893-8, Eranos 94,1996, 21-28.
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scheint die beiden Tore vielmehr an einem Ort zu lokalisieren. Beide Tore zusammengenommen aber passen nicht zu den vana somnia, die angesichts ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zu den greulichen umbrae von Bellum, Discordia, Morbus, Senectus, Egestas u.a. zu diesen Schreckgestalten gehören und die Menschen ängstigen, indem sie von selbst die Unterwelt verlassen, nicht aber - wie die falsa insomnia an unserer Stelle hinausgeschickt werden.13 Ebenfalls handlungsimmanent deutend schlug Rolland (1957)14 vor, Aeneas sei nach dem Niederlegen des Goldenen Zweiges schutzlos und müsse sich, um die Unterwelt ungehindert verlassen zu können, durch das dichter bevölkerte Tor der falschen, trügerischen Träume schleichen; ähnlich meinte man verschiedentlich, Aeneas und Sibylle seien keine verae umbrae und könnten daher nicht das hörnerne Tor benutzen:15 die Gegenfrage, ob sie denn falsa insomnia seien, vermied man tunlichst. Christmann (1976),16 gefolgt von Molyviati-Toptsis (1995),17 sah in den Darlegungen des Anchises zumindest in den Partien, die Aeneas' unmittelbare Zukunft betreffen, fromme Lügen, die nur dazu dienen sollten, Aeneas zu den schwierigen Kämpfen, die auf ihn warteten, anzufeuern: So wisse Aeneas im zweiten Teil des Epos oft nicht, wie er sich verhalten solle, obwohl ihm Anchises das doch gezeigt haben müsse; und auch seine Vorhersage, Aeneas werde
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Vgl. E.C. Kopff/N. Marinatos Kopff, Aeneas: False Dream or Messenger of the Manes? (Aeneid 6. 893ff.), Philologus 120, 1976, 246-250. Die komplizierte Diskussion um die Bedeutung des Begriffes insomnium (6, 896) ist aufgearbeitet bei Pollmann (Anm. 7) 237f. mit weiteren Verweisen. Bedeutsam scheint mir die einzige Parallelstelle in der Aeneis in 4, 9. Dort klagt Dido bei Anna über nächtliche Visionen, die sie erschrecken (Anna soror, quae me suspensam insomnia terrent): es ist die Frage, ob hier von (für eine Traumdeutung zu vernachlässigenden: vgl. Macrob. somn. 1, 3, 5) Alpträumen die Rede ist oder von Träumen, die Angst machen, weil sie etwas Unangenehmes vorhersagen; der Ausgang der Liebesbeziehung zwischen Dido und Aeneas läßt letzteres durchaus für möglich halten. Da der Begriff insomnium von Vergil selbst geprägt worden ist (vgl. TLL VII 1 [1934-1964], s.v. 1. insomnium, 1937f.), sollte man an unserer Stelle weniger auf spätere Verwendungen und terminologische Festlegungen schauen als auf die Traumdichotomie in der Odyssee-Vorlage (zu ihr vgl. A. Amory, The Gates of Horn and Ivory, YCS 20, 1966, 1-57, insbesondere 3-35 u. 32: insomnia und umbrae sind synonym verwendet und bezeichnen, wie die Attribute verae / falsa zeigen, eine Wahrheitsdifferenz, nicht hingegen die emotionale Wirkung von Träumen; vgl. auch Pollmann [Anm. 7] 237). 14 L.F. Rolland, La porte d'ivoire (Virgile, Eneide VI 898), REL 35, 1957,204-223. 15 Vgl. bspw. Kopff/Marinatos Kopff (Anm. 13); N. Reed, The Gates of Sleep in Aeneid 6, CQ 23, 1973, 311-315. Dagegen bereits gut J.J. Bray, The Ivory Gate, in: M. Kelly (Hrsg.), For Service to Classical Studies. Essays in Honour of Francis Letters, Melbourne 1966, 55-69, hier 56-58. 16 E. Christmann, Der Tod des Aeneas und die Pforten des Schlafes, in: H. Görgemanns/E.A. Schmidt (Hrsg.), Studien zum antiken Epos, Meisenheim 1976, 251-279. 17 U. Molyviati-Toptsis, Sed falsa ad caelum mittunt insomnia manes (Aeneid 6, 896), AJPh 116, 1995, 639-652.
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noch lang leben (6, 764), treffe nach der übereinstimmenden Überlieferung nicht zu.18 Dieser Täuschungscharakter der Vorhersagen werde dem Leser durch das Motiv des Elfenbeintores angezeigt. Es scheint mir gleichwohl wenig glaubhaft, daß Vergil dies dem gebildeten Leser derart auffällig mitteilen soll: Würde der das nicht von allein merken müssen? Christmanns Beobachtung allerdings, daß Aeneas im zweiten Teil des Werkes sein Wissen von den künftigen Generationen sowie von Anchises' Vorhersagen über die Kämpfe in Latium nirgends explizit zur Grundlage seines Handelns macht, ist zu einem Topos der Forschung avanciert und liegt den Arbeiten etwa von Michels (1944) und (1981), Nagata (1985) und Pollmann (1993)" zugrunde. Insbesondere weist man immer wieder darauf hin, daß Aeneas am Ende des achten Buches, als er den Schild mit den darauf eingetriebenen Szenen aus der römischen Geschichte betrachtet hat, sich an den Bildern freue, ohne doch ihren Sinn zu verstehen (8, 730: miratur rerumque ignarus imagine gaudet): Müßte er das nicht, wenn er sich an das in der Unterwelt Gesehene erinnerte? Und so leitet man aus diesem Negativbefund ab, das Motiv des elfenbeinernen Tores signalisiere dem Leser, daß Aeneas alles Gesehene vergessen habe, wie man einen Traum vergesse. Die Ebene der leser-relevanten 'Durchblicke' auf die spätere römische Geschichte einerseits und die der fiktionalen Handlungsebene andererseits dürften sich nicht miteinander vermischen:20 Aeneas solle kein allwissender Held werden, er solle seiner pietas (offensichtlich verstanden als blinde Gefolgschaft) treu bleiben.21 Oder: sein Blick richte sich auch nachher mehr auf eine Wiedergründung Trojas denn auf eine
18 Beide Vorwürfe lassen sich insofern wenn nicht entkräften, so doch abschwächen, als man berücksichtigen sollte, daß die Prophezeiungen des Anchises insgesamt eine Anspielung auf die Zukunftsvorhersage darstellen, die Tiresias dem Odysseus in Od. 11,100-137 gibt. Sowohl der Hinweis des Anchises auf das hohe Alter des Aeneas ist dort präfiguriert (11,136) als auch die Vagheit der Hinweise auf noch zu bestehende Kämpfe (zwar recht klar zu Trinakria, aber mehr als oberflächlich zu Ithaka [11, 115120]). Entsprechendes bei Vergil mag also schlicht auf diese intertextuelle Verbindung zurückzuführen sein, zumal die Widersprüchlichkeiten mit dem folgenden nicht gerade besonders auffallig sind: Denn immerhin besteht Aeneas die Kämpfe erfolgreich, und von seinem Tod erfahrt der Leser ja in der Aeneis nicht. 19 A.K. Michels, Lucretius and the Sixth Book of the Aeneid, AJPh 65, 1944, 135— 148; dies., The insomnium of Aeneas, CQ 31, 1981, 140-146; Y. Nagata, The Gates of Sleep and the Basic Structure of the Aeneid, Japanese Classical Studies 1985, 71-79; Pollmann (Anm. 7). 20 So Pollmann (Anm. 7) 247-251; R.S. Kilpatrick, The stuff of doors and dreams (Vergil, Aeneid 6. 893-98), Vergilius 41, 1995, 63-70; Nagata (Anm. 19); Michels (1981 [Anm. 19]). Diese Auffassung hängt eng mit dem Verständnis von insomnium zusammen: Begreift man es als einen irrelevanten Traum, so ist damit das baldige Vergessen schon impliziert. Ähnlich F.M. Brignoli, La porta d'avorio nel libro VI dell' Eneide, GIF 7, 1954, 61-67: Aeneas, so deute das Motiv vom elfenbeinernen Tor an, sei nicht in der Lage, das Gesehene zu verstehen, während dem Leser klar sei, was gemeint sei. 21 So H.C. Gotoff, The Difficulty of the Ascent from Avernus, CP 80, 1985, 35-40.
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Neugründung Roms,22 so daß die Heldenschau mehr ein Spektakel denn fur Aeneas' weiteres Handeln relevant sei. Nun ist es zwar keineswegs unumstritten, daß Aeneas sich an nichts erinnere. Noch in der jüngsten Literatur wird das Gegenteil angenommen,23 ganz zu schweigen von der gesamten früheren v4ewew-Forschung; und auch offensichtliche Modelle wie Ciceros Somnium Scipionis und der Traum des Aeneas bei Quintus Fabius Pictor,24 in denen die Träumenden sich an ihren Traum erinnern, zeigen, daß die Annahme des Gegenteils bei Vergil sich nicht auf Parallelen stützen kann; ein weiteres starkes Gegenargument ist Aeneas' Traum in 3, 147-178:25 dort verkünden ihm die Penaten unter anderem, die Götter würden die von ihm zu gründende Stadt und ihre Enkel eines Tages in alle Himmel heben. Dieser Traum findet nicht in der Unterwelt statt - und doch läßt Aeneas in der zweiten Hälfte des Werkes nie ein Wort darüber verlauten, daß er von dieser Zukunft weiß. Ihn kann er aber nicht vergessen haben, denn er handelt ja immerhin im weiteren Verlauf des 3. Buches nach ihm. Gewiß darf man Aeneas außerdem zugutehalten, daß er bei der Heldenschau mehr mit einem Wust an nebelhaften ungeordneten Eindrücken konfrontiert als mit wirklichem Wissen ausgestattet wurde, so daß er am Ende des 8. Buches nicht zwangsläufig einen Zusammenhang zu dem früher Gesehenen herstellen muß.26 Des weiteren sollte man bedenken, daß der Leser am Ende des 6. Buches dieses 'Nicht-Wissen' des Helden noch nicht voraussehen und also das Motiv, wenn es denn eine solche Bedeutung hat, gar nicht verstehen kann; ob es wahrscheinlich ist, daß er im nachhinein darauf als Erklärungsmodell rekurrieren würde, scheint zumindest fraglich. Und schließlich: Wenn alles nur ein zu vergessender Traum wäre, so müßte man fragen, wieso Vergil den Anchises überhaupt Voraussagen über die folgenden Ereignisse in Latium (also unabhängig von der Ebene der Durchblicke auf die große römische Geschichte) geben läßt: Sie wären überflüssig, oder man wäre wieder bei einer Täuschungsabsicht des Anchises
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So Michels (1981 [Anm. 19]), Nagata (Anm. 19). Vgl. Kopff/Marinatos Kopff (Anm. 13); R. Herzog, Aeneas' episches Vergessen. Zur Poetik der memoria, in: A. Haverkamp/R. Lachmann (Hrsg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993 [= P&H XV], 81-116. 24 Cie. Div. 1,21 (der jene Erzählung vom Traum des Aeneas als Beispiel für erfundene Träume bringt; gab es - so Verstraete [s.u.] - eine ältere literarische und historiographische Tradition, die Aeneas einen Traum vor der Landung in Latium unterschob und die in klassischer Zeit als zweifelhaft angesehen wurde?). Vgl. Michels (1981 [Anm. 19]) und B.C. Verstraete, The Implication of the Epicurean and Lucretian Theory of Dreams for Falsa Insomnia in Aeneid 6.896, CW 74, 1980-81, 7-10. 25 Vgl. außerdem Aen. 7, 122-9 und 12, 110f„ dazu Michels (1981 [Anm. 19]) 140f. Anm. 3. 26 G.P. Goold, The Voice of Virgil: The Pageant of Rome in Aeneid 6, in: T. Woodman/J. Powell (Hrsg.), Author and Audience in Latin Literature, Cambridge 1992, 110123. 241-245, hier 122f., schlägt vor, Vergil wolle darstellen, daß Aeneas das Spektakel der Heldenschau nicht verstehe. Vgl. im übrigen unten, S. 63-65. 23
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angekommen. Diese aber ist aus fiktionsimmanenten Gründen unwahrscheinlich: Denn wenn sie bewirken sollte, daß Aeneas mit gesteigerter Zuversicht nach Latium geht, so wäre diese Zuversicht j a nur auf die wenigen Augenblicke, die Aeneas noch in der Gesellschaft des Anchises verbringen wird, beschränkt, aber gerade dann - nämlich aufgrund des Vergessens - nicht mehr vorhanden, wenn er ihrer tatsächlich bedürfte: in Italien. Ich komme zu den metatextuellen Deutungen, die das Elfenbeintor als Interpretationssignal für den Leser auffassen. Hier hat man etwa gemeint, Vergil distanziere sich von dem allzu überwältigenden literarischen ψεΰδος der Hadesbeschreibung (so schon der spätantike Kommentator Servius, dann Steiner [1952], Otis [1959], Oberg [1987] 2 7 ). Oder: Vergil wolle die Notwendigkeit andeuten, den Text allegorisch zu lesen; so Wlosok (1983, 1987), Tarrant (1982), Williams (1983), West (1990), Brenk (1992): 2 8 Den jeweiligen Textsinn erschließen dann aber alle in unterschiedlicher Weise. Oder schließlich, mit deutlicher Nähe zur sogenannten 'two-voices-theory': Vergil weise indirekt darauf hin, daß die römische Geschichte sich in der idealen Form, wie sie Anchises zeichne, nicht erfüllen werde; so O'Hara (1990) und schärfer Dominik (1996). 2 9 Eine Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen ist schwieriger - zumal sich meine eigene Deutung ebenfalls in die metatextuelle Phalanx einreiht - und wäre auf mehreren Ebenen zu führen. Ich kann dies hier aus Raumgründen nicht tun, möchte aber doch wenigstens auf folgende Einwände hinweisen. So ist aus literarkritischer Sicht zunächst festzuhalten, daß eine Selbstdesavouierung Vergils in Form der Abwertung der eigenen Erzählung als ψεΰδος an einer so zentralen Stelle des Werkes deplaziert wäre. Im Falle allegorisieren-
27 Zu Servius s.o., Anm. 7. Steiner (Anm. 12); B . Otis, Three problems o f Aeneid 6, TAPhA 90, 1959, 173-179; J . Öberg, Some Interpretative Notes on Vergil's Aeneid, Book 6, Eranos 85, 1987, 105-109, hier 108f. Ähnlich urteilt N. Horsfall, A Companion to the Study o f Virgil, Leiden/Köln 1 9 9 5 , 1 4 4 - 1 5 4 . 28 A. Wlosok, Et poeticae figmentum et philosophiae veritatem, Listy Filologicke 106, 1983, 1 3 - 1 9 [Nachdr. in: dies., Kleine Schriften, Heidelberg 1990, 3 8 4 - 3 9 1 ] ; dies., Gemina Doctrina? Über Berechtigung und Voraussetzungen allegorischer Aeneisinterpretation, in: F S F. Deila Corte II, Urbino 1987, 5 1 7 - 5 2 7 [Nachdr. in: dies., Kleine Schriften, 3 9 2 - 4 0 2 ] ; R. Tarrant, Aeneas and the Gates o f Sleep, CP 77, 1982, 5 1 - 5 5 ; G. Williams, Technique and Ideas in the Aeneid, New Haven/London 1983, 57; P.A. West, The bough and the gate, in: S.J. Harrison (Hrsg.), Oxford Readings in Vergil's Aeneid, Oxford 1990, 224—238; F.E. Brenk, The Gates o f Dreams and an Image o f Life: Consolation and Allegory at the End o f Vergil's Aeneid VI, in: C. Deroux (Hrsg.), Studies in Latin Literature and Roman History VI, Brüssel 1992, 2 7 7 - 2 9 4 . Grundsätzlich gegen allegorische Deutungen der Stelle wendet sich Bray (Anm. 15) 64. 29 J . J . O'Hara, Death and the Optimistic Prophecy in Vergil's Aeneid, Princeton 1990, 1 7 0 - 1 7 2 ; W.J. Dominik, Reading Vergil's Aeneid: The Gates o f Sleep (VI 8 9 3 - 8 9 8 ) , Maia n.s. 48, 1996, 129-138. Krasser: J . - Y . Maleuvre, Porte d'ivoire et Rameau d'or: elements de cacozelie dans le sixieme livre de l'Eneide, REA 98, 1996, 9 1 - 1 0 7 , der direkte Polemik gegen historische Persönlichkeiten annimmt.
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der Deutung macht hingegen die oben erwähnte Deutungsvielfalt mißtrauisch; oft wird hier auch das Submotiv 'Traum' in der Deutung vernachlässigt. Und schließlich ließe sich zur Einordnung in die 'two-voices-theory' sagen, daß sich bereits in der Heldenschau selbst genügend negative Aspekte der römischen Geschichte festmachen lassen, so daß es ihrer gesonderten Markierung am Ende nicht mehr bedarf.30
Das Motiv als solches stellt ein Rätsel für den Leser dar. Warum bedarf es einer Hervorhebung, daß Aeneas und die Sibylle die Unterwelt durch das elfenbeinerne Tor der Träume verlassen? Der Rekurs auf Homer - es wurde bereits gesagt - liegt nahe, liefert aber wider Erwarten keinen unmittelbaren Hinweis, der zur Lösung der den Vergilischen Text betreffenden Fragen beitragen würde. Vielmehr erweist sich der Prätext als widerborstig: denn der Kontext des Traum-Motives ist dort ein völlig anderer als an unserer Stelle; hierzu gleich mehr. Gerade diese Widerborstigkeit bei gleichzeitiger Eindeutigkeit der Bezugnahme möchte ich aber als Erhöhung des intellektuellen Deutungsanreizes für den Leser ansehen, jedenfalls für den Leser, der sich mit der Plakativität der Anspielung nicht zufrieden gibt oder sie gar nur als (mehr oder minder ge- oder mißglückte) poetische Ausschmückung betrachtet: denn er muß sich ja fragen, welche Absicht Vergil dazu bestimmt hat, an einer gewichtigen Schnittstelle seines Werkes solch ein doppeltes Aenigma einzufügen. Ich halte dafür, daß es für den Leser keinen anderen Weg gibt, als sich zunächst mit der schnell erkannten Bezugnahme auf die Odyssee selbst auseinanderzusetzen. Bei der Untersuchung des Homerischen Referenztextes werden wir - soviel im voraus - feststellen, daß sich bei der Lektüre genau die gleiche Frage stellt wie für unsere Vergil-Passage, nämlich die Frage, welche Funktion das Motiv von den Toren der Träume gerade an dieser Stelle hat. Muß der Rezipient aber an beide Texte die gleiche Frage richten, so läßt sich immerhin vermuten, daß, gelingt es ihm, die Frage für Homer zu beantworten, er daraus auch Folgerungen für eine Lösung des VergilProblems ableiten kann. Die Schwierigkeiten des Homertextes stellen also
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Nur der Vollständigkeit halber seien hier für den interessierten Leser einige weitere Arbeiten genannt: G.T. Cockburn, Aeneas and the Gates of Sleep: an Etymological Approach, Phoenix 46, 1992, 362-364 [vgl. dazu Jönsson/Roos (Anm. 12) 23 Anm. 10; J.J. O'Hara, An unconvincing argument about Aeneas and the gates of sleep, Phoenix 50, 1996, 331-334]; R.J. Edgeworth, The Ivory Gate and the Threshold of Apollo, C&M 37, 1986, 145-160; T.J. Haarhoff, The Gates of Sleep, G&R 17, 1948, 88-90; G.R. Levy, The Gate of Horn, London 1948; W.R. Nethercut, Three mysteries in the Aeneid, Vergilius 19, 1973,28-32.
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einerseits ein Hindernis, andererseits aber auch einen Anreiz für den Leser dar. Die Situation im 19. Buch der Odyssee stellt den dramatischen Höhepunkt einer Szenenfolge dar, in deren Verlauf Penelope der Erkenntnis, daß Odysseus wiedergekehrt ist, immer näher kommt. Bereits im 17. Gesang, in dem Telemachos, der von seiner Erkundungsfahrt zurückgekommen und seinem Vater bei Eumaios begegnet ist, seiner Mutter Bericht erstattet, hört sie von dem Seher Theoklymenos, daß Odysseus schon im Lande sei (17, 152-165). Im selben Gesang 17, 539-547 niest Telemachos, als Penelope den Wunsch äußert, Odysseus möge zurückkehren: Selbst Penelope versteht das als gutes Omen. Im 18. Gesang bemüht sie sich um ein Gespräch mit dem Bettler, der - so hat man ihr gesagt - Nachricht von Odysseus' Wohlbefinden haben soll. Daraus erklärt sich ihre innere Erregung, die darin gipfelt, daß sie sich den Freiern zeigt, um ihnen Geschenke zu entlocken und damit den Besitz ihres Mannes und ihres Sohnes zu mehren, obwohl sie sich des Risikos bewußt ist, daß sie damit das Verlangen der Freier noch steigert. Im 19. Gesang trifft sie nun mit dem Bettler zusammen. Er beweist ihr, wie gut er Odysseus kennt, und kann ihr glaubhaft versichern, daß Odysseus in unmittelbarer Nähe ist: "Wahrlich, wie ichs verkünde, wird sich dir alles erfüllen. / Noch dies Sonnenjahr wird wiederkehren Odysseus, / Ehe der Mond geschwunden und voll der neue sich rundet" (19, 305-307). Penelopes Reaktion zeigt ihre innere Zerrissenheit: "Möchte sich doch dies Wort, ο Fremder, sicher erfüllen, / ... / Aber schon schaut mein ahnendes Herz, was wirklich geschehn wird: / Nicht kehrt Odysseus nach Hause ..." (19, 309. 312-314). Es folgt die Szene der Fußwaschung, bei der die alte Magd Eurykleia Odysseus erkennt, während Penelope von Athene abgelenkt wird; Odysseus hindert die Magd daran, Penelope aufzuklären, ohne daß wir einen Grund hierfür erfahren. Immerhin ist auch der Königin die große Ähnlichkeit ihres Gastes mit ihrem Mann aufgefallen (19,358-360. 378-385). Nun will sie den Bettler, den sie eigentlich schon zur Nacht verabschiedet hatte, doch noch "eine einzige Kleinigkeit" fragen (19, 509). Diese 'Kleinigkeit' wird ihr Traum sein. Zuvor legt sie ihm jedoch ihre Zwangslage dar. Schon vorher (19, 137-161) hat sie ihm erklärt, daß die Freier ihre List, ein Totenhemd für Laertes zu weben, es nachts aber immer wieder aufzutrennen,
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durchschaut und sie zur Vollendung des Gewandes gezwungen haben, an die sie wiederum ihre Einwilligung zu einer neuen Eheschließung geknüpft hatte. Offiziell hat sie Odysseus fur tot erklärt (19, 141); ihre Eltern drängen, für ihren Sohn wäre eine neuerliche Ehe seiner Mutter insofern von Vorteil, als dann sein Vermögen vor den Freiern sicher wäre. An sich muß sich Penelope nun entscheiden. Und doch nagt ein letzter Zweifel an ihr: "Also zerrt am Herzen auch mir ein schwankender Zwiespalt, / Ob ich beim Sohn verharre und alles treulich verwalte, / Meinen Besitz, die Mägde, die stolze Höhe des Hauses, / Treu dem Lager des Gatten und scheuend die Stimme des Volkes, / Oder von allen Achaiern, die mich im Palaste umwerben, / Mir den edelsten wähle und seinen unendlichen Brautschatz" (19, 524528). Und nun erzählt sie den Traum, den ihr der Bettler deuten soll. Sie träumte, sie habe Gänse aufgezogen, doch sei ein Adler herbeigeflogen, der alle Tiere hingemordet habe und wieder davongeflogen sei. Sie habe im Traum geweint, da sei der Adler zurückgekehrt und habe ihr mit menschlicher Stimme verkündet, er sei Odysseus, der zurückkehren und die Freier erschlagen werde. Odysseus, der um die Wahrheit zumindest des einen Teiles des Traumes weiß, nämlich desjenigen Teiles, der von seiner Rückkehr spricht, weigert sich, ihn gegen seine explizite Botschaft zu deuten. Darauf erklärt Penelope (19, 559-569), von den Träumen kämen die wahren - die, die sich erfüllen - durch das Tor aus Horn, die falschen, die Unerfüllbares verkünden, durch das Tor aus Elfenbein. Ihr Traum sei einer von den 'elfenbeinernen' und werde sich nicht erfüllen. Und sie beschließt, den Bogenwettkampf auszurichten, um den würdigsten Freier zu ermitteln. Die Abruptheit und Radikalität dieser Entscheidung hat die Interpreten immer wieder beschäftigt. Hinzu kommen zwei weitere Fragen. Wieso hält Penelope den Traum für unwahr, und zwar trotz der gegenteiligen Versicherungen des immerhin um Deutung gebetenen Fremden, der seine Vertrauenswürdigkeit und seine Vertrautheit mit dem Schicksal des Odysseus doch schon mehr als bewiesen hat? Wieso hat sie ihm diesen Traum überhaupt vorgelegt?31 Denn der Traum deutet sich in der Tat in einer Weise selbst, die eine andere Deutung eben wirklich ausschließt, und diese Deutung fügt
31 Vgl. bspw. W. Büchner, Die Penelopeszenen in der Odyssee, Hermes 75, 1940, 129-167, hier 146-150; H. Vester, Das 19. Buch der Odyssee, Gymnasium 75, 1968, 417-434; J. Russo, Interview and Aftermath: Dream, Fantasy, and Intuition in Odyssey 19 and 20, AJPh 103, 1982,4-18.
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sich nicht nur zu dem, was Penelope seit zwei Gesängen von mehreren Seiten gehört hat, sondern auch zu der Prophezeiung des Halitherses im 2. Gesang und zu Helenas Prophezeiung im 15. Gesang.32 In 2, 146-176 waren dem versammelten Volke über der Agora zwei Adler erschienen, die sich bekämpften und dann nach rechts davonflogen. Dies hatte der alte Halitherses als nahe Rückkehr des Odysseus gedeutet, eine Rückkehr, die er schon beim Auszug des Odysseus nach Troja fur das 20. Jahr geweissagt hatte. In 15, 160-181 hatte bei Telemachs Abreise aus Sparta ein Adler eine Gans im Hof gerissen und war mit ihr nach rechts davon geflogen. Helena deutete dies als Rückkehr und Rache des Odysseus. Vergleicht man diese Epiphanien und Penelopes Traum, so ist letzterer sogar klarer und damit weniger deutungsbedürftig. Niemand, und schon gar nicht ein Bettler gegenüber einer Königin, würde ihn gegen seine explizite Aussage auslegen. Penelope kann also von dem Bettler nicht erwarten, daß er den Traum vom sensus apertus abweichend deutet; eine bloße Bestätigung dessen, was der Traum ausdrücklich sagt, kann ihr aber auch nichts nützen (dies zeigt ja auch ihre spätere harsche Reaktion). Es bleibt dann aber nur eine Erklärungsmöglichkeit (die in der Forschung auch erwogen wurde, sich aber nicht durchgesetzt hat33): Penelope ahnt offensichtlich hinter dem Bettler Odysseus - dies fugt sich gut zu den vielen Hinweisen, die sie schon erhalten hat, und zu ihrem Gefühl eines zunehmenden Hingezogenwerdens zu dem Bettler - und will ihn auf die Probe stellen. Denn der Traum setzt Odysseus unter Druck. Penelope hat ihm eine Brücke gebaut und kann erwarten, daß er das Signal - einen Traum von seiner Rückkehr, der nichts zu deuten übrig läßt, und der ihm zur Deutung vorgelegt wird - versteht und sich - in Zweisamkeit und unbeobachtet - zu erkennen gibt. Tut er es nicht, sind ihr allerdings die Hände gebunden: denn sie kann den Bettler nicht weiter und vor allem nicht offener bedrängen, ohne sich der Gefahr der Lächerlichkeit auszusetzen. Als nun keine Enthüllung kommt, sondern nur eine banale Bestätigung, muß ihre Enttäuschung groß sein: Wenn sich der Bettler jetzt nicht als ihr Mann zu erkennen gegeben hat, dann kann er es nicht sein. Und nur diese Enttäuschung vermag psychologisch ihre plötzliche Entscheidung für den Agon der Freier zu erklären. Aufgestachelt von sich häufenden Vorhersagen und Hinweisen auf Odysseus' Ankunft, aufgerüttelt durch das Gefühl der Vertrautheit mit dem Bettler - der ihr ja sogar selbst die Möglichkeit nahegelegt hatte, Odysseus könne in Verkleidung kommen (19,296-299) - hat sie alles auf eine Karte gesetzt und verloren.
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Vgl. hierzu Schwindt (Anm. 3). Vgl. Büchner (Anm. 31) 149, Russo (Anm. 31).
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Für sie ist klar: Er ist nicht Odysseus. Nun steht sie selbst unter Zugzwang, und es scheint mir deshalb legitim, ihre Ausführungen zum Wesen der Träume als rhetorisch geschickte Überleitung zu verstehen, die ihre Enttäuschung kaschieren und ihr selbst den Rückzug aus ihrer verletzbaren Position ermöglichen soll. Und dann beschließt sie, der offiziellen Todeserklärung die entsprechenden Taten folgen zu lassen. Für sie ist Odysseus erst in diesem Augenblick wirklich gestorben. Folgerichtig wird Penelope, als alles, was ihr der Traum vorhergesagt hat, eingetreten ist und Odysseus äußerlich weitgehend als der alte vor ihr steht, sich weigern, ihn anzuerkennen. Sie wird von ihm ein untrügliches Zeichen verlangen; und dieses Zeichen wird in einem Wissen bestehen, dessen Wahrhaftigkeit nicht mehr hinterfragbar und vorspiegelbar ist: Odysseus' Wissen, wie sein und Penelopes Ehebett verfertigt ist (23, 87-230. 177-206). Ich halte also fest: die Traumszene am Ende des 19. Gesanges der Odyssee läßt eine harsche Spannung entstehen. Odysseus weiß, daß der Traum wahr gesprochen hat. Penelope ist mit gutem Grund sicher, daß er falsch war, und daß der Mann, der vor ihr sitzt, nicht Odysseus ist. Odysseus wird beweisen müssen, daß er wirklich der ist, der zu sein er vorgibt. In den Augen seiner Frau gestorben, wird er seine Position legitimieren müssen, und zwar durch ein Wissen, das nur er besitzt. Kehren wir jetzt zu Vergil zurück und fragen wir, ob uns Penelopes Traum - solchermaßen in einen weiten (und zugegebenermaßen spekulativen) Kontext gestellt - zu einem besseren Verständnis unserer Passage verhilft! Zunächst möchte ich die banale, aber bisweilen vernachlässigte Tatsache hervorheben, daß der Inhalt von Penelopes Traum - die Rückkehr des Odysseus und die Vernichtung der Freier - durchaus dem entspricht, was Aeneas in der zweiten Aeneis-Hälfte erwartet. So ist seine Ankunft in Italien von Beginn an als Heimkehr zum alten Ursprung konnotiert; 34 überhaupt ist die Aeneis ja in ihrer Gesamtanlage stärker an der Odyssee als an der Ilias orientiert. 35 Andererseits sind Aeneas und seine Kameraden doch auch wieder Fremde, externi, die sich in die latinische Bevölkerung integrieren müssen, so wie auch Odysseus auf Ithaka ein Fremder geworden ist, der seine Ansprüche erst legitimieren muß. 36 Aeneas wird sich in Latium mit Turnus als seinem Konkurrenten bei der Werbung um Lavinia auseinander-
34 Vgl. W. Suerbaum, Der Aeneas Vergils - Mann zwischen Vergangenheit und Zukunft, Gymnasium 100, 1993, 419-447, hier 429-433. 35 Vgl. Knauer (Anm. 6) 327f. 36 Vgl. Suerbaum (Anm. 34) 433.
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setzen und ihn töten müssen,37 so wie Odysseus Antinoos und die anderen Freier töten wird und doch für Penelope - ich wiederhole mich - auch selbst wieder in den Freierstatus zurückgefallen ist.38 Es fugt sich jedoch nicht nur der Inhalt des Traumes, sondern auch sein Erzählkontext zu Vergil. Um dies zu zeigen, müssen wir die Figurenkonstellationen und -perspektiven der beiden Passagen miteinander vergleichen, und ich möchte dabei auf zwei zentrale Beziehungsmöglichkeiten aufmerksam machen. Zum einen: In der Odyssee steht auf der einen Seite Penelope: Sie fordert Odysseus zur Deutung des Traumes auf, und sie entlarvt den Traum im nachhinein als unwahr; ihr gegenüber steht Odysseus: er deutet den Traum, und er weiß zugleich um die Wahrheit des Traumes. Im Traum selbst steht im Mittelpunkt eine Gestalt, die ich als Traum-Odysseus bezeichnen möchte. Was könnte dieser Konstellation bei Vergil entsprechen? Da Aeneas die Pforten des Schlafes durchschreitet, sich also wie ein echter Traum verhält, dürfte er ein Pendant zum Traum-Odysseus darstellen. Da Penelope in der Odyssee den Traum erzählt (wenn nicht gar erfindet39), muß ihr bei Vergil Anchises entsprechen, der Aeneas und Sibylle durch die Pforten des Schlafes hindurchschickt. Es bietet sich dann aber an, ihn als fiktionsimmanente auktoriale Instanz und damit als Chiffre für den Autor selbst zu verstehen. Eine solche Gleichsetzung ist nicht nur ein hermeneutisches Kabinettstück37
Vgl. Suerbaum (Anm. 34) 432. Der Augenblick der Rückkehr des Aeneas aus der Unterwelt und seiner Ankunft in Italien entspricht also strukturell der Rückkehr des Odysseus aus dem Land der Phäaken und seiner Ankunft auf Ithaka. Wollte Vergil auf dieses Motiv der Odyssee Bezug nehmen, so standen ihm zwei Stellen des griechischen Epos zur Verfügung. Zum einen die reale Rückkehr des Odysseus in Od 13,70-125: Odysseus sinkt auf dem Schiff der Phäaken in einen todesartigen Schlaf (13, 79f.), die Phäaken legen ihn schlafend am Strand von Ithaka nieder, gerade an der Nymphengrotte mit ihren zwei Türen für Götter und Menschen (13, 103-112. 116-121). Zum anderen der Traum der Penelope aus dem 19. Gesang, wie er oben referiert worden ist. Die Motivanalogie des 'Schlafes' verbindet die beiden Stellen miteinander, die Junktur 'Schlaf und 'Tod' im 13. Gesang bietet einen Anknüpfungspunkt für die Verbindung 'Traum, Schlaf und 'Unterwelt' am Ende von Aeneis 6. Auch daß an allen drei Stellen von zwei Toren die Rede ist, darf gewiß Aufmerksamkeit erregen - die beiden Tore einander jeweils zuzuordnen ist allerdings gänzlich unmöglich. Dennoch erscheint die Annahme nicht abwegig, daß Vergil an unserer Stelle auch den zitierten Passus aus dem 13. Gesang der Odyssee im Kopf gehabt haben könnte und somit die Momente der Rückkehr und der Ankunft des Odysseus und des Aeneas auf komplexe Weise miteinander verzahnt. Die allegorische Deutung von Brenk (Anm. 28) richtet sich gänzlich am Nymphengrottenmotiv der Odyssee und seiner neuplatonischen Interpretation aus, vernachlässigt jedoch dafür die Reminiszenz an den 19. Gesang. 39 Vgl. Russo (Anm. 31) 10. 38
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chen eines frei assoziierenden Lesers, sondern wird von Vergil selbst nahegelegt. So ist es zum einen gerade die Seele des Dichters Musaios, die Aeneas den Weg zu seinem Vater zeigt (6, 666-668), zum anderen begrüßt Anchises selbst seinen Sohn mit den Worten "quas ego te terras et quanta per aequora vectum / accipio! quantis iactatum, nate, periclis!" (6, 692f.). "Wieviel Länder hast du durchwandert und wie viele Meere, / Welche Gefahren bestanden, damit ich dich endlich begrüße!"
und spielt damit auf das Proöm des Werkes an, wo der Autor von Aeneas sagt: "Laviniaque venit / litora, multum ille et terris iactatus et alto / vi superum" (1,2—4).40 "... zu Laviniums Küste / ...; über Wasser und Lande verschlug ihn / Göttergewalt."
Die Figur Anchises benutzt also Formulierungen wie der in eigener Person sprechende Autor und kann deshalb als quasi-auktoriale Instanz angesehen werden. Ähnliches durfte ja auch schon fur die Sibylle gelten, die Aeneas im ersten Teil des sechsten Buches führte: Ihre Darlegungen über den Hades werden eingeleitet durch ein Binnenproöm des Autors (6, 264-267), als dessen fiktionsimmanente Vertreterin sie daher offensichtlich im folgenden fungiert, bis sie von Anchises abgelöst wird. Daß die Information, die Anchises seinem Sohn über die kosmischen Vorgänge und insbesondere in der Heldenschau über die künftige römische Geschichte erteilt, zugleich einen 'Durchblick', eine Information des Autors für den Leser darstellt, ist nur ein weiteres Argument fur die obige Gleichsetzung, ebenso wie die Beobachtung, daß das Rätsel des Motivs von den Toren des Schlafes ja nur für den Leser eines ist, während wir von einer Reaktion des Protagonisten und seiner Begleiterin nichts erfahren: Auch dies rückt Anchises auf eine metapoetische Ebene. Akzeptiert man allerdings diese Annäherung von Penelope, Anchises und Autor, so kommt man m. E. nicht umhin, den deutenden und wissenden Odysseus als Präflguration des ebenfalls deutenden Lesers anzusehen. Die Frage nach dem Wissen des Lesers, also dem Pendant zum Wissen des Odysseus um die Wahrheit des Traumes, ließe sich dann unter Rückgriff auf den Trauminhalt in der Odyssee zunächst so beantworten, daß der Leser na40
Vgl. Conte (Anm. 8) 32-39; dazu Farrell (Anm. 8) 20f.
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türlich genau weiß, daß Aeneas nach Italien 'zurückkehren' wird und sich dort mit seinen Konkurrenten siegreich auseinandersetzen wird. Ich komme hierauf noch zurück. Nehmen wir also die Informationen zusammen, die der Leser durch eine solche Analyse der Anspielung auf die Odyssee erhält, dann ergibt sich daraus etwa folgendes: Einerseits wird ihm (durch seine Gleichsetzung mit dem deutenden Odysseus, wie ich sie oben vorgeschlagen habe) die Richtigkeit seines Wissens bestätigt, daß der Aeneas, den er hier die Unterwelt durch die Somni Portae verlassen sieht, in der Tat der Rückkehrer Aeneas ist, der in Latium die Grundlage zu seiner Herrschaft legen und damit das Ziel seiner Fahrt erreichen wird. Dies scheint banal, es wird aber relevant, wenn man in Betracht zieht, daß der Leser andererseits erfahrt, daß der Aeneas, den er hier aus der Unterwelt zurückkehren sieht, gerade nicht mit jenem Rückkehrer Aeneas identisch ist: Denn das ist ja genau der Falsifikationspunkt, an dem Penelope in der Odyssee das Motiv vom elfenbeinernen Tor festmachte. Das ist widersprüchlich, und ich werde auch darauf zurückkommen. Die zweite Beziehungsmöglichkeit zeigt sich in folgender Überlegung. Bei Homer sind der Traumdeuter Odysseus und sein Objekt - der TraumOdysseus - ein und dieselbe Person. Das scheint zunächst gegenläufig zu Vergils Version, nach der, lösen wir die Anspielung wie bisher 1:1 auf, dem Traumdeuter Odysseus der Leser, dem Traum-Odysseus aber Aeneas entspricht. Wollen wir die Auflösung der Anspielung wie gehabt weiterfuhren, so müssen wir folgern, daß es die Identifikation mit dem Helden, also mit Aeneas, ist, zu der Vergil seinen Leser auffordert. Eine erneute Komplikation, auf die ich noch zurückkomme. Es ist nun zu überlegen, wie sich diese disparaten Hinweise, die sich aus der Bezugnahme auf Homer ergeben, sinnvoll miteinander verbinden lassen. Wenn sich aus der Kombination der aus der CWyssee-Anspielung resultierenden Informationen ergibt, daß der Aeneas, der die Unterwelt verläßt, nicht der Aeneas ist, der sie betrat, so ist als erstes der Punkt zu fixieren, an dem eine solche Wandlung stattgefunden haben kann. Einen plausiblen Wendepunkt darf man wohl in den Versen 6, 630-636 sehen, in denen Aeneas den Goldenen Zweig beim Palast des Dis, genauer gesagt: an der Schwelle des Palasttores, niederlegt. Denn die drei 'Toranlagen', die Sibylle und Aeneas bei ihrem Besuch des Hades durchschreiten, legen ein zeitliches Raster über den Text. Zuerst führt sie das antrum, durch das sie die Unterwelt in 6, 262 betreten, von der fiktiven Gegenwart des Textes in eine myth-historische Vergangenheit. Dann bringt sie das Tor des Unterweltpalastes von dem auf diese Vergangenheit hin orientierten Teil der Hades-
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schau zu dem Teil, in dem eine zeitlose Vision von den Geschicken der menschlichen Seele allgemein und eine konkret historische Vision nicht nur von der unmittelbaren Zukunft des Aeneas, sondern auch von der Zukunft des ganzen römischen Reiches entworfen wird. Und schließlich läßt sie die porta eburna aus dieser 'Zukunft' wieder in die fiktive Gegenwart zurück. Die porta Ditis ist also die Schaltstelle zwischen einer myth-historischen und einer zeitlos-futurischen Ausrichtung der Vergilischen Unterwelt. Von hier an, nach der Niederlegung des Goldenen Zweiges, wandelt sich das Individuum Aeneas mit seiner (noch rückwärtsgewandten) Mission der Gründung eines neuen Troja vor den Augen des Lesers zu einem Glied in einer unendlich langen Kette von menschlichen Existenzen in der Vergangenheit (etwa Dardanus, Anchises) und in der Zukunft (etwa Romulus, Augustus). Der νόστος, die Heimkehr, die Aeneas bislang mit dem Homerischen Odysseus verband, wird somit an dieser Stelle vom Motiv eines individuellen Schicksals zum Motiv der Erfüllung einer nicht nur überindividuellen, sondern auch überzeitlichen Vorsehung erhoben.41 Eines unserer Probleme aus dem vorangegangenen Abschnitt läßt sich mithin jetzt klären. Für den Leser, der aus der Perspektive des Traumdeuters Odysseus auf den Text schaut, sind der Hadeswanderer Aeneas und der Aeneas des siebten Buches miteinander identisch, da es sich weiterhin um Aeneas handelt. Für den Leser, der die falsifizierende Perspektive der Penelope (also, aus Sicht des Vergilischen Textes gesprochen, die Perspektive des Autors) wählt, sind sie hingegen nicht identisch, und zwar deshalb, weil Aeneas nach seinem Besuch des Hades, nach seiner Information durch Anchises durch ein Wissen legitimiert ist, das er zuvor nicht besaß, und weil er sich von einer individuellen zu einer überindividuellen Gestalt gewandelt hat. Hinzu treten nun die interpretatorischen Konsequenzen aus der Deutung der figuralen Doppelung von Traumdeuter Odysseus und Traum-Odysseus, die den Leser zur Identifikation mit dem Helden, mit Aeneas auffordert. Diese Aufforderung zur Identifikation ist im 6. Buch gut vorbereitet. Zum einen durch die Lehre von der Wiedergeburt: Sie legte es dem Rezipienten nahe, sich aufgrund seines Römertums mit Fug und Recht ebenfalls als 41
Hierzu paßt, daß in der Heldenschau die Kräfte und Menschen, die Rom nach Ansicht Vergils zu dem gemacht haben, was es ist, weniger als Individuen denn als "Typen, Potenzen und Urformen" gezeichnet werden; vgl. M. v. Albrecht, Vergils Geschichtsauffassung in der 'Heldenschau', WS 80, 1967, 156-182, hier 178. Entsprechend verliert auch Aeneas in gewisser Weise mit der Betrachtung der vorbeiziehenden Helden seinen Individualstatus und gewinnt auf diese Weise "die sprengende Gewalt eines Samenkorns" (ebd. 179).
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Glied jener Kette der Vorsehung wahrzunehmen. Zum anderen durch die Heldenschau: Denn durfte nicht der römische Leser angesichts der merkwürdigen gleichzeitigen Gegenwart von Römern verschiedenster Epochen sich zu dem Gedankenspiel animiert fühlen, auch er selbst könne schon unter den an Aeneas vorbeiziehenden Schatten gewesen sein? Eine auktoriale Bestätigung solcher Gedankenspiele findet der Leser dann am Ende des Buches, wenn er die Implikationen der Homerischen Doppelung der Odysseus-Gestalt für das Verständnis Vergils analysiert. Wie Aeneas, so ist auch der römische Leser ein Glied in der Kette der Wiedergeburten: Aeneas ist zum Prototyp des Römers geworden.42 Schließt man sich dieser Interpretation an, so lösen sich zwei Probleme, die sich der Deutung der Somni Portae immer wieder gestellt haben. Erstens die oben schon angesprochene Frage nach dem Verhältnis des Motives zu seinem Kontext: Die Rätselhaftigkeit der Passage provoziert den Leser an dieser Schnittstelle des Werkes, innezuhalten und zu überlegen, wie sich aus den disparaten Teilmotiven der Hadeswanderung - mythhistorischer Bereich, Goldener Zweig, Heldenschau und Lehre von der Metempsychose - ein homogener Textsinn bilden läßt; mit der Anspielung auf Homer bekommt er eine entsprechende Deutungshilfe -hierzu unten mehr - an die Hand. Zweitens die Tatsache, daß Aeneas sein frisch erworbenes Wissen in der zweiten Hälfte des Epos nicht zur Sprache bringt, geschweige denn sein Handeln erkennbar daran ausrichtet. Ich habe dieses Interpretationsproblem bereits oben erwähnt und halte es grundsätzlich für einen hermeneutisch glücklichen Griff von Christmann,43 es mit dem Motiv des elfenbeinernen Tores in Verbindung gebracht zu haben. Seine Annahme, das Motiv insinuiere dem Leser, Aeneas sei von Anchises getäuscht worden oder habe seine Erlebnisse im Hades schlicht vergessen, wie man eben falsche und nichtige Träume vergesse, überzeugt mich allerdings aus verschiedenen Gründen nicht - einige dieser Gründe habe ich bereits bei meinem Überblick über die Forschung genannt - , vor allem aber deshalb nicht, weil sie von der Konkretheit der Homer-Anspielung abstrahiert, wo es eben nicht um irgendei-
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Suerbaum (Anm. 34) 445 äußert Bedenken, ob Aeneas ein "Proto-Römer" sei. Mit diesem Ausdruck soll jedoch keinesfalls impliziert sein, daß Aeneas hier als Vorbild fur den zeitgenössischen civis von Vergil gezeichnet werde. Wenn schon, dann ist er ProtoRömer in dem Sinne, daß er als derjenige, der am Anfang der gens Romana steht, gute wie schlechte Seiten des Römertums - beide sind in der Heldenschau sichtbar geworden - rein verkörpert. 43 S.o. Anm. 16.
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nen, sondern um einen ganz bestimmten (und zudem wahren, also keineswegs nichtigen) Traum geht. Akzeptiert man nun meine Deutung, so erklärt sich Aeneas' späteres Schweigen damit, daß der Leser der Analyse des Motives des elfenbeinernen Tores die Aufforderung entnehmen soll, sich mit dem 'Ur-Römer' Aeneas zu identifizieren, und zwar über ein α priori zu postulierendes Grundmaß an Empathie hinaus. Wenn nämlich dieser 'Ur-Römer' dann auf seinem Weg zur Gründung des Weltreiches Rom 'lückenhaft' handelt, bestimmte, erwartbare Reaktionen vermissen läßt, kann und soll der zeitgenössische Römer sie aus sich und seinem Wissen heraus ergänzen - aus einem Wissen, das er in größerem Umfang und in größerer Genauigkeit als der Held besitzt: Denn was fur den Protagonisten kaum mehr als ein wenn auch eindrucksvoller, so doch nur nebelhafter Schwärm von (überdies alles andere als vollständigen) Bildern ist, provoziert ja im Leser die Aktivierung seines viel präziseren und detaillierteren historischen Wissens. 44 Und schließlich konnte der Rezipient auch diesen Hinweis - daß es um die Aktualisierung eines Wissens geht - bereits seiner Analyse der Homeranspielung entnehmen. Denn dort, im 19. Gesang der Odyssee, hat die Notwendigkeit fur Odysseus, im weiteren Verlauf der Handlung sein Geheimwissen zu aktivieren und sich damit zu legitimieren, ihren eigentlichen Ursprung. Aeneas und mit ihm der römische Leser haben ihr Geheimwissen mit den Ausführungen des Anchises erhalten, ein Wissen, das ihre jeweiligen Herrschaftsansprüche legitimiert: den Anspruch des Aeneas auf die Herrschaft über Latium, den Anspruch des Römers auf die Weltherrschaft: "tu regere imperio populos, Romane, memento" (6, 851), "Du aber, Römer, gedenke mit Macht der Völker zu walten,"
sagte schon Anchises am Höhepunkt der Heldenschau. Die Gültigkeit dieses Anspruchs beruht auf dem Wissen um seine metaphysische und historische 44 Vgl. Suerbaum (Anm. 34) 435: Der Leser müsse "auf Distanz zu Aeneas gehen, denn ... Aeneas ist von uns durch den Augusteer Vergil, durch den deutlich erkennbaren vermittelnden Dichter getrennt; Aeneas erscheint uns zwar gedankenreich, aber blutleer, ein beseelter Schemen". Ebenso möchte auch ich die 'Identifikation des Lesers mit dem Helden' mehr als ein Begleiten denn als ein In-ihm-Aufgehen verstehen, wobei die Tätigkeit des Lesers zu einem großen Teil in - wie die hochkomplexe Konstruktion der Heldenschau, die komplizierte platonisch-pythagoreische Eschatologie und schließlich auch das Motiv der Somni Portae zeigen - intellektueller Konstruktionsarbeit besteht. Eine solche lückenhafte Reaktion des Aeneas ist etwa seine naiv anmutende Freude über die Bilder des Schildes (s.o. S. 51-53): es ist m. E. gerade eine solche 'Durchblick'Situation, in der vom Leser erwartet wird, daß er sein Wissen aktualisiert.
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Notwendigkeit und Unausweichlichkeit, wie sie Anchises dem ersten und dem (vorläufig) letzten Glied in der Kette, Aeneas und dem Leser, offenbart hat. Und da Vergil seinen Helden von diesem Wissen im weiteren Verlauf der Erzählung schweigen läßt, ist es am Ende der Leser, der - wie Homers Odysseus - sein Wissen quasi stellvertretend aktivieren muß und sich dadurch seiner Stellung als Römer, als Romanus, versichert. So gewinnt also das Submotiv des Wissens, das wir oben als einen Verbindungsstrang zwischen dem Homerischen Traumdeuter Odysseus und dem Leser der Vergilischen Hadesschau angesehen haben, vor diesem Hintergrund eine weit tiefere Dimension als zunächst gedacht, aber doch immer noch im Einklang mit der Odyssee. Daß die vorstehenden Überlegungen an keiner Stelle Beweiskraft haben, bedarf keiner besonderen Hervorhebung; zudem ist dies ein Manko, das sie mit allen anderen Versuchen der Erklärung unserer Stelle gemeinsam haben. Dem vielleicht nächstliegenden Einwand, daß man weitere Beispiele so hochdifferenzierter Anspielungen nicht leicht finden wird, läßt sich dabei zumindest entgegenhalten, daß hier einerseits der seltene Fall vorliegt, daß Plakativität der Bezugnahme und unmittelbare Sinnstiftung durch sie nicht koinzidieren, und daß andererseits gerade die Frage, wie weit man bei der Auflösung solcher Intertextualitäten gehen darf, in jüngster Zeit wieder diskutiert wird,45 so daß es von daher angezeigt scheint, die möglichen Wege auch im konkreten Einzelfall versuchsweise bis zum Ende auszuschreiten. Ausgangspunkt der Untersuchung war die Beobachtung, daß ein den Bezugstext nur an seiner motivischen Oberfläche zur Kenntnis nehmendes Textverständnis zu einer stark diversifizierten Deutungstradition gefuhrt hat. Hält man die Plakativität des intertextuellen Signals aber fur einen unhintergehbaren auktorialen Hinweis, so ist man, wie mir scheint, verpflichtet, die Anspielung einmal in all ihren Facetten und in ihrer ganzen möglichen Breite zu betrachten. Der Umgang mit Intertextualität bietet fur Autor und Rezipient einen hohen Reiz und bei gelingender Analyse einen hohen Gewinn, wie das hier vorgelegte Ergebnis zeigt: Der Leser ist selbst aktiv geworden, er hat sein Wissen und seinen Status als Römer bewußt einbringen müssen, um dem Anspruch des Textes zu genügen, und er hat sich in seiner Eigenschaft als Leser engagieren müssen, um dem Text und seiner Herausforderung gerecht zu werden. Dieses Engagement des Lesers besteht in seiner Bereitschaft, seine Kenntnis der literarischen Tradition in den Dienst von Vergils Innovationswollen zu stellen, ja mehr noch: sich mit die45
Vgl. Hinds (Anm. 8) 17-51.
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ser Tradition in äußerst intensiver Weise kritisch-hermeneutisch auseinanderzusetzen und aus dem Ergebnis jener Auseinandersetzung den innovativen Gedanken erst eigentlich selbst hervorzutreiben, dessen Konturen Vergil an dieser Stelle im Unklaren gelassen hat. Und so löst sich der Raum 'zwischen Tradition und Innovation' im Ineinander von Prä- und Phänotext auf und weicht einem Gewebe von zwei miteinander verschlungenen und in der Lektüre aufeinander hin perspektivierten Intertexten.
Odyssee
Deutung
Deutungsaufforderung
Verifikation
Falsifikation Traum-Odysseus
A Hadeswanderer Aeneas
Identifikation
Differenzierung Deutungsaufforderung
Deutung impliziter Leser
Anchises/ impliziter Autor Aeneis
Odysseus, der Traumdeuter •
Odysseus, die Traumgestalt •
• impliziter Leser
Τ Hadeswanderer Aeneas
Rhetorische Ironie - Dramatische Ironie. Definitions- und Interpretationsprobleme* Rene Nönlist - Basel "Irony ... irony ... irony. And we haven't yet started. It is unfortunate, it is even ironical, that for so ubiquitous and multifarious and, some say, alluring a phenomenon there should be but one word."1
Der als Motto vorangestellte (seinerseits ironische) Stoßseufzer aus der Feder von Dennis Enright gibt den Stand der Dinge zu treffend wieder, als daß er eines ausfuhrlichen Beweises bedürfte. Ein fast beliebiger Griff z.B. in die altertumswissenschaftliche Kommentarliteratur genügt: So steht 'irony' etwa im neuen Cambridge-Kommentar zu Homers Ilias für mindestens fünf unterschiedliche Ironie-Konzeptionen. 2 Der Verzicht auf eine Differenzierung und eine damit einhergehende Begriffsreflexion ist kein Manko speziell des genannten Kommentars, sondern die fast durchweg geltende Regel. Als Lösung dieser in mehrfacher Hinsicht unbefriedigenden Situation hat man u.a. mit dem Gedanken gespielt, 'Ironie' als literaturwissenschaftlichen Begriff aufzugeben. 3 Dies scheint angesichts der (auch alltagssprachlichen) Verbreitung von 'Ironie' weder praktikabel noch sinnvoll. Der vorliegende Beitrag geht daher einen anderen Weg: Er greift zwei zentrale IronieKonzeptionen heraus, die Rhetorische Ironie (Ironie als Redefigur) und die
* Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Vortrag, der außer im Bielefelder Kolloquium auch an der Universität von Amsterdam gehalten wurde. Den Organisatoren und den Diskussionsteilnehmern beider Veranstaltungen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. 1 Enright 1986, 7. 2 (1) 'Rhetorische Ironie' (zur Definition der einzelnen Konzeptionen s.u.): z.B. Kirk 1985, zu II. 1,410; (2) 'Dramatische Ironie': z.B. Kirk 1985, zu II. 2, 114; (3) 'Erzählte Ironie des Schicksals': z.B. Kirk 1990, zu II. 5, 53-54; (4) 'New Criticism-Ironie': z.B. Kirk 1990, zu II. 7, 61-62; (5) Ironie zur Bezeichnung des Paradoxen von Oxymora u.ä.: z.B. Kirk 1985, zu II. 3,243-244. - Die Bände der übrigen vier Kommentatoren (Hainsworth 1993, Janko 1992, Edwards 1991, Richardson 1993) präsentieren ein ähnliches Bild. 3 Vgl. Booth (1974, ix): "Once a term has been used to cover just about everything there is, it perhaps ought simply to be retired; if it can apply to everything, it can hardly be rescued for everyday purpose". Ähnlich Muecke 1969, 13.
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Dramatische Ironie, um an ihnen die geforderte Differenzierung und Begriffsreflexion exemplarisch vorzunehmen. Dadurch soll gezeigt werden, daß 'Ironie' als literaturwissenschaftlicher Terminus durchaus noch nicht ausgedient hat, solange man sich (und seinen Lesern) klarmacht, von welcher Ironie jeweils die Rede ist.4 (Aus diesem Grund ist es infolge der Anzahl und der Unterschiedlichkeit der einzelnen Ironie-Konzeptionen ratsam, 'Ironie' immer in Verbindung mit dem sie erläuternden Attribut zu verwenden, auch wenn dies manchmal etwas aufdringlich wirken mag.) Die Behandlung von Rhetorischer und Dramatischer Ironie ergab sich aus der Zielsetzung, diejenigen Ironie-Konzeptionen zu klären, die für die Interpretation literarischer Texte der griechisch-römischen Antike am relevantesten sind. (Diese Begriffsklärung kann allerdings auch für die Interpretation nicht-antiker Texte nutzbar gemacht werden.) - Um die getroffene Auswahl zu begründen, werden im folgenden die nicht eigens diskutierten Ironie-Konzeptionen wenigstens kurz gestreift. Philosophisch geprägte Ironie-Konzeptionen5 wie 'Welt-Ironie' (Hegel), 'Ironie der Geschichte' oder 'Ironie des Schicksals' aus ihrem angestammten Bereich auf die Interpretation literarischer Texte zu übertragen ist mit Vorbehalten verbunden: Denn jeder literarische Text verfugt in Form des (implizierten) Autors gewissermaßen über einen Schöpfer-Gott, der die im Text zur Darstellung gelangende 'mögliche Welt' lenkt und daher auch für die Ironie im Text verantwortlich gemacht werden kann. Die übliche Formulierung für den oft auch einfach 'Situationsironie' ('Situational Irony') genannten Typus lautet'es ist ironisch, daß ...'. 6 In bezug auf literarische Texte ist das aber zu wenig genau, weil diese Ironie einen bestimmbaren Ursprung hat: den (implizierten) Autor.7 Eine weitere Schwierigkeit be4
Etymologie und Begriffsgeschichte von griech. ειρωνεία können im vorliegenden Zusammenhang außer Betracht bleiben. Die Etymologie ist nach wie vor ungeklärt, und für die Begriffsgeschichte sei auf die einschlägigen Arbeiten von Ribbeck (1876), Büchner (1941) und Bergson (1971) verwiesen, die zusammengenommen ein gutes Bild von der Entwicklung des Begriffs geben. 5 Dazu Behler 1998, 620-622 (mit Lit.). 6 Noch deutlicher im Englischen (Muecke 1969,42): 'It is ironic' vs. 'He/She is being ironical'. 7 Vgl. Muecke (1969, 42): "Should we see this (sc. a pick-pocket having his own pocket picked while busy picking pockets) in a play or read about it in a novel [...] the position is less simple. Now we have an ironist being ironical by showing us something ironic happening." Später (63) nennt Muecke diesen Ironie-Typ 'Dramatized Irony'.
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steht - wie oft bei der Ironie - darin, wo die Grenze zu ziehen ist. Als entscheidendes Kriterium gilt im allgemeinen die 'Fallhöhe': Ein normaler Taschendiebstahl ist an sich nichts Ironisches. Er wird es erst dann, wenn der Bestohlene selbst ein Taschendieb ist, zumal wenn er gerade dabei ist, selbst einen Taschendiebstahl zu begehen.8 Oder um ein Beispiel aus der Homer-Forschung zu geben: Daß ausgerechnet diejenigen Väter, die die Zukunft voraussehen (Priester, Wahrsager), nicht in der Lage sind, ihre Söhne vor dem Tod auf dem Schlachtfeld zu bewahren, gilt nicht wenigen Interpreten als 'Ironie'. 9 Von den literarischen Ironie-Konzeptionen können hier diejenigen beiseite bleiben, die zweifelsfrei anhand von modernen Texten und für moderne Texte entwickelt worden sind. Dies gilt namentlich für die IronieKonzeption des New Criticism, der das Schlagwort der 'Autonomie des Kunstwerks' geprägt hat. In Verbindung mit diesem Autonomiepostulat grenzte sich der New Criticism u.a. dadurch von anderen Interpretationsrichtungen ab, daß er kontrastierende Bedeutungsebenen eines Textes nebeneinander zu ihrem Recht kommen ließ und nicht 'weginterpretierte'. Er versuchte weder, diese kontrastierenden Ebenen miteinander in Einklang zu bringen, noch zu entscheiden, welche 'richtig' und welche 'falsch' sei. Diese unaufgelösten Kontraste und Spannungen nannten die New Critics 'Ironie' . Gleichzeitig machten sie deutlich, daß sie diese Ironien für ein Qualitätsmerkmal von Literatur halten. Mehr noch: fur New Critics wie Cleanth Brooks wird 'Ironie' zum zentralen Qualitätsmerkmal eines literarischen Textes und damit sozusagen zum Synonym für Literatur schlechthin.10 Damit ist der New Criticism wesentlich mitverantwortlich für die inflationäre Verwendung von 'Ironie'. 11 - Beiseite bleiben kann auch die (sehr idiosynkratische) Ironie-Konzeption des Dekonstruktionisten Paul de Man, die
Dieser Terminus läuft aber Gefahr, mit 'Dramatischer Ironie' verwechselt zu werden. Ich schlage daher vor, in Anlehnung an die Terminologie Genettes (1994, 121-122 = 1972, 190-191) von 'erzählter (oder narrativisierter) Ironie des Schicksals bzw. Situationsironie' zu sprechen. 8 Vgl. Muecke 1970, 8. 32. 46 (ein ähnliches Beispiel - ohne Verwendung des Begriffs 'Ironie' - schon bei Aristoteles: Poetik 1452a). 9 Z.B. Kirk 1990, zu//. 5, 53-54. 10 Zum Ironie-Begriff der New Critics vgl. Dane 1991, 149-158. 11 Dies läßt sich u.a. auch damit erklären, daß der New Criticism in der 2. Hälfte des 20. Jhs. den Literaturunterricht v.a. an den nordamerikanischen, aber auch an den anderen englischsprachigen Mittelschulen und Universitäten über weite Strecken dominiert hat.
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freilich in einer späteren Phase der Ironie der New Critics zum Verwechseln ähnlich zu sehen beginnt. 12 Nicht ganz so klar liegen die Dinge im Fall der Romantischen Ironie (oft auch 'Literarische Ironie' genannt), zumal was ihre Anwendung auf antike Texte betrifft. Beschreiben läßt sich Romantische Ironie ungefähr als reserviert-distanzierte Grundhaltung des Autors zu seinem Text, seinem Stoff und allgemein zur Welt. Während Rhetorische Ironie (Ironie als Redefigur, s.u.) sich an der einzelnen Textstelle manifestiert, ist Romantische Ironie für den Text als ganzen prägend. Ja, es ist ein romantisch bzw. literarisch "hochironischer Text denkbar, in welchem sich keine einzige 'ironische Bemerkung' findet." 13 F. Schlegel hatte von der (erst später so genannten) Romantischen Ironie verlangt, daß sie "durchgängig im Ganzen und überall" wirksam sei.14 Dieser umfassende Universalitätsanspruch weckt gewisse Zweifel, ob es nicht doch ein Anachronismus ist, im Zusammenhang mit antiken Autoren von 'Romantischer Ironie' zu sprechen. Doch diese Diskussion kann hier nicht geführt werden. 15 - Bemerkenswert ist, daß die 'Einführung' der Romantischen Ironie mit einer deutlichen Abwertung der Rhetorischen verbunden ist: "Freilich gibt's auch eine rhetorische Ironie, welche sparsam gebraucht vortreffliche Wirkung tut, besonders im Polemischen; doch ist sie gegen die erhabene Urbanität der sokratischen Muse, was die Pracht der glänzenden Kunstrede gegen eine alte Tragödie in hohem Stil."16 Gleichzeitig bringt Schlegel mit Sokrates die Person ins Spiel, die wie keine andere mit der Konzeption der Ironie verbunden ist. Kein Buch, kein Artikel zum Thema 'Ironie', in dem nicht der Name 'Sokrates' vorkäme. Freilich scheint dafür größtenteils die Rezeptionsgeschichte verantwortlich zu sein, auch wenn bereits Piaton selbst gelegentlich von Sokrates' ειρωνεία spricht und die Lawine damit ungewollt verursacht haben dürfte. 17 Aufhorchen läßt zumal eine Stelle bei Quintilian. Darin ist davon die Rede, daß im Fall des Sokrates gleichsam das ganze Leben aus Ironie bestanden habe (9, 2,46-47), wodurch Quintilian ihn fast schon zum Romantischen
12
Dane 1991, 172-182. Allemann 1969, 12. 14 F. Schlegel, Kritische Fragmente Nr. 42, zitiert nach Behler 1998, 609. 15 Vgl. z.B. Schmitt 1989. - Das Grundbuch zur Romantischen Ironie ist nach wie vor Strohschneider-Kohrs 1977. 16 F. Schlegel (wie Anm. 14), 610; zu den Folgen dieser Abwertung s.u. S. 72. 17 Zur Bedeutung der Rezeptionsgeschichte für die Konzeption der 'Sokratischen Ironie' vgl. Dane 1991, 15-31. - Sokrates' ειρωνεία bei Piaton (ausschließlich im Mund von Sokrates' Gegnern!): Resp. 337a, Gorg. 489e, Apol. 38a. 13
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Ironiker avant la lettre macht.18 Der Somatischen Ironie genauer auf den Grund zu gehen ist hier nicht der Ort.19 Die Feststellung genügt, daß die wohl einzige Verbindung zwischen Sokrates und der Rhetorischen Ironie darin besteht, daß er sich ihrer gelegentlich bedient.
Rhetorische Ironie "Bei der Ironie ist das Gegenteil von dem gemeint, was mit den Worten gesagt wird." (Kayser 1948 = 1968,111-112) Diese fast beliebig ausgewählte Definition bringt ziemlich genau zum Ausdruck, was gemeinhin unter 'Rhetorischer Ironie', d.h. unter Ironie als Redefigur verstanden wird. Dabei fallt auf, daß - was keineswegs selbstverständlich ist - Vertreter verschiedener Kultur- und Sprachräume ihre Auffassung von Rhetorischer Ironie in dieser Definition wiedererkennen. Der Grund dafür wird darin liegen, daß sie auf einer langen Traditionsreihe fußt. Bereits die älteste noch greifbare Definition, diejenige von Anaximenes von Lampsakos (3. Jh. v. Chr.), sagt im Grunde das gleiche: 'Ironie bedeutet entweder: etwas sagen, indem man vorgibt, es nicht zu sagen, oder: Dinge durch Wörter zum Ausdruck bringen, die das Gegenteil bedeut e '20 ten. Diese (oder eine ähnliche, heute verlorene) Definition bildet die Grundlage für alle weiteren und wird nur in Einzelheiten modifiziert und ergänzt. So ist Rhetorische Ironie für die antiken Rhetoren in erster Linie ein Phänomen der mündlichen Rede, weshalb die Definition um den Punkt der prononcierten Betonung bzw. Vortragsweise ergänzt wird, z.B. bei Tryphon (2. Jh. v. Chr.):
18 Die genaue Interpretation des (zudem durch eine Korruptel entstellten) Passus ist schwierig, weil Quintilian sein zweistufiges Analogie-Modell (Ironie als Tropus verhält sich zu Ironie als Figur wie Metapher als Tropus zu Allegorie als Figur) auf einmal aufbricht und als dritte 'Ironie-Stufe' (ohne Analogon auf der Metapher-Allegorie-Seite) das gesamte Leben des Sokrates einfuhrt (dazu bald ausführlicher in der in Anm. 22 angekündigten Studie). - Grundsätzliche Bedenken gegen einen Vergleich von Sokratischer Ironie mit Romantischer Ironie äußert Schmitt 1989, 110 Anm. 18. 19 Dazu z.B. Boder 1973. 20 ειρωνεία δε έστι λέγειν τι μή προσποιούμενου λέγειν ή τ ο ΐ ς έναντίοι? όνόμασι τά πράγματα προσαγορεύειν (Anaximenes Rhet. p. 51 Fuhrmann).
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'Ironie ist eine Rede, die - in Verbindung mit einer gewissen emphatischen Vortragsweise - das Gegenteil durch das Gegenteil zum Ausdruck bringt.'21 Damit ist die Grundlage für viele Jahrhunderte gegeben. Denn: Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, ist 'Ironie' bis weit in die Neuzeit gleichbedeutend mit 'Rhetorischer Ironie'. Zwar versuchen die antiken und mittelalterlichen Rhetoren einander dadurch zu übertreffen, daß sie innerhalb der Rhetorischen Ironie stets ausgeklügeltere und weiter verzweigte Klassifikationssysteme entwickeln.22 An der Grunddefinition von Rhetorischer Ironie ändert sich aber nichts Wesentliches. Eine signifikante Veränderung wird erst durch die 'Einführung' der Romantischen Ironie (s.o.) bewirkt - und zwar indirekt. Die von Schlegel zum Ausdruck gebrachte Abwertung der Rhetorischen Ironie fällt zusammen mit einem grundsätzlich sinkenden Interesse für die literarische Rhetorik.23 Die Folge ist, daß die Beschäftigung mit Rhetorischer Ironie weitgehend zum Erliegen kommt und erst in der zweite Hälfte des 20. Jh.s von der noch jungen Linguistik wiederbelebt wird. Während die Literaturwissenschaft sich fast ausschließlich mit den literarischen Ironie-Konzeptionen beschäftigt, bleibt es der Linguistik vorbehalten, die Erforschung der Rhetorischen Ironie dadurch entscheidend voranzutreiben, daß sie u.a. den Nachweis für die Unzulänglichkeit der auf antike Vorläufer zurückgehenden Definition ('Bei der Ironie ist das Gegenteil von dem gemeint, was mit den Worten gesagt wird.') erbringt: (1) Die Definition ist zu weit gefaßt, weil sie z.B. die Lüge oder die Heuchelei nicht auszuschließen vermag. (2) Sie ist zu eng gefaßt, weil sie unterstellt, daß das exakte Gegenteil von dem gemeint ist, was vorgeblich gesagt wird. Dadurch wird die Bedeutungs-
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ειρωνεία έστί λόγος δια τοΰ εναντίου τό εναντίον μετά τίνος ηθικής ύποκρίσεως δηλών (Tryphon 3, 205 Spengel). 22 Zu den mittelalterlichen Rhetoren vgl. Knox 1989. Für die antiken Rhetoren hoffe ich diesen Nachweis bald an anderer Stelle fuhren zu können; vgl. vorläufig Büchner (1941, 356): "In ihrer gewohnten Weise verfolgten die späteren Rhetoren das Kunstmittel (sc. der Rhetorischen Ironie) bis in die feinsten Verästelungen und suchten jede Nuance durch einen besonderen Terminus auszuzeichnen. Sie auf diesem Gebiet zu begleiten ist schwierig, zumal da sie über die Teilung und die Benennung der Teile keineswegs einig waren." 23 Japp (1983, 38-39) vermutet, daß die alltagssprachliche Verwendbarkeit von Rhetorischer Ironie mit ein Grund fur die wachsende Geringschätzung war.
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vielfalt der Rhetorischen Ironie in unzulässigem Maß eingeschränkt, die ja oft mehr und anderes zum Ausdruck bringt als das genaue Gegenteil.24 (3) Die Definition ist leicht irreführend, weil die Formulierung 'mit den Worten' suggeriert, daß die Ironie sich notwendig an der sprachlichen Oberfläche manifestiert (s.u.). Eine Diskussion der verschiedenen linguistischen Verbesserungsvorschläge kann im vorliegenden Zusammenhang unterbleiben. Statt dessen wird im folgenden eine Definition von Rhetorischer Ironie entwickelt, die aus einer Beschäftigung mit diesen Vorschlägen hervorgegangen ist und maßgeblich auf Sprechakt-Theorie und Pragmatik aufbaut.25 Die Sprechakt-Theorie, die Kommunikation als eine sich vollziehende Handlung analysiert ('How to do things with words'), unterscheidet drei simultan ablaufende Sprechakte: den lokutiven, den illokutiven und den perlokutiven Sprechakt.26 Für die Ironie-Definition ist vor allem der illokutive Akt von Bedeutung. Leicht vereinfacht kann er beschrieben werden als die (vorgebliche) Sprech-Intention, mit der der Sprecher auf den Hörer 'einredet' (In-lokution). 27 Bekanntlich kann zwischen der vorgeblichen und der tatsächlichen Illokution eine Differenz bestehen. Die Feststellung 'Es zieht!' kann als Aufforderung gemeint sein, das Fenster zu schließen.28 Die24
Das läßt sich empirisch relativ leicht nachweisen: Es ist im allgemeinen leichter, sich darauf zu einigen, was der ironische Sprecher nicht hat sagen wollen (vgl. zum 'Mehr-Wert' auch Lapp 1997, 15-16). Allerdings ist das Kontradiktorische für die Rhetorische Ironie entscheidend. Während z.B. Metaphern oft übertragen und wörtlich gedeutet werden können, ist diese Möglichkeit bei der Rhetorischen Ironie nicht gegeben. Die ironische und die nicht-ironische Deutung schließen einander aus. Daß der ironische Sprecher 'etwas anderes' sagen will (so z.B. Cicero de oratore 3,203), ist daher als Beschreibung zu wenig genau. 23 Zu den verschiedenen linguistischen Definitionen Lapp 1997, dem die hier entwikkelte Definition entscheidende Anstöße verdankt. 26 Vgl. Levinson 1983, 236: "Austin isolates three basic senses in which in saying something one is doing something, and hence three kinds of acts that are simultaneously performed: (1) locutionary act: the utterance of a sentence with determinate sense and reference, (2) illocutionary act: the making of a statement, offer, promise, etc. in uttering a sentence, by virtue of the conventional force associated with it (or with its explicit performative paraphrase), (3) perlocutionary act: the bringing about of effects on the audience by means of uttering the sentence, such effects being special to the circumstances of utterance." 27 'Sprecher' und 'Hörer' entstammen dem geläufigen Kommunikationsmodell. Bei schriftlichen Texten sind sie sinngemäß durch 'Autor' und 'Leser' zu ersetzen. 28 Die Linguistik spricht hier von 'indirekten Sprechakten'. - In Searles Taxonomie der Illokutionsklassen übersetzt, wäre 'Es zieht!' vorgeblich 'assertiv', aber z.B. 'direk-
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se Differenz zwischen vorgeblicher und tatsächlicher Illokution ist die eine von zwei grundsätzlichen Möglichkeiten, Rhetorische Ironie zum Ausdruck zu bringen. Ein (erfundenes) Beispiel: Im Restaurant schüttet jemand Kaffee über die Hose seines Tischnachbarn. Wenn dieser darauf mit 'Danke!' reagiert, dankt er dem Verursacher nur vorgeblich, in Wahrheit will er ihn z.B. tadeln. Die Rhetorische Ironie basiert auf dem Wechsel des Illokutionstyps. Die zweite grundsätzliche Möglichkeit betrifft den sog. 'propositionalen Gehalt'. Dieser läßt sich an einem Satz wie 'Dieses Buch ist dick' illustrieren, der mit seinem propositionalen Gehalt (Buch = dick) praktisch deckungsgleich ist. Um beim Restaurant-Beispiel zu bleiben: Wenn der Verursacher auf 'Danke!' mit 'Ich hab's absichtlich getan' antwortet, liegt die Rhetorische Ironie im propositionalen Gehalt - er hat es natürlich nicht absichtlich getan und nicht im Wechsel des Illokutionstyps: Die Feststellung bleibt eine Feststellung. Lapp (1997, 97) betont zu Recht, daß eine Definition von Rhetorischer Ironie sowohl den propositionalen Gehalt als auch den Wechsel des Illokutionstyps einschließen muß. Im konkreten Einzelfall kann die Rhetorische Ironie natürlich in beidem zugleich zum Ausdruck kommen. Der nächste Schritt betrifft die Abgrenzung von Rhetorischer Ironie gegenüber anderen Formen unaufrichtigen Sprechens wie Lüge, Heuchelei usw. (vgl. oben, Einwand 1). Hierfür ist auf die mittlerweile klassische Untersuchung des Sprachphilosophen Paul Grice zurückzugreifen, der gezeigt hat, welchen Konversationsregeln Kommunikation unterworfen ist: "Grice identifies as guidelines of this sort four basic maxims of conversation or general principles underlying the efficient co-operative use of language, which jointly express a general co-operative principle. These principles are expressed as follows: The co-operative principle: make your contribution such as is required, at the stage at which it occurs, by the accepted purpose of direction of the talk exchange in which you are engaged. The maxim of Quality: try to make your contribution one that is true, specifically: (i) do not say what you believe to be false, (ii) do not say that for which you lack adequate evidence.
tiv' gemeint. Freilich ist das Prinzip der Illokutionsklassen in der Linguistik umstritten (Lewandowski 1990, s.v. Sprechakttheorie).
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The maxim of Quantity·, (i) make your contribution as informative as is required for the current purposes of the exchange; (ii) do not make your contribution more informative than is required. The maxim of Relevance: make your contributions relevant. The maxim of Manner, be perspicuous, and specifically: (i) avoid obscurity; (ii) avoid ambiguity; (iii) be brief; (iv) be orderly."29 Im vorliegenden Zusammenhang liegt das Augenmerk vor allem auf der ersten Maxime ('Quality'), die man am besten mit 'Aufrichtigkeitsmaxime' wiedergibt. 3 0 Rhetorische Ironie stellt eine Verletzung dieser Maxime dar. Freilich handelt es sich um eine Verletzung, die v o m Hörer wahrgenommen werden soll. 31 D i e Definition von Rhetorischer Ironie besteht somit aus den folgenden z w e i Bedingungen: (1) Die Aufrichtigkeitsmaxime des Griceschen Kooperationsprinzips ist seitens des Sprechers in bezug auf den (vorgeblichen) Illokutionstyp und/oder in bezug auf den zum Ausdruck gebrachten propositionalen Gehalt absichtlich verletzt. 32 (2) Diese absichtliche Verletzung der Aufrichtigkeitsmaxime soll vom Hörer als solche erkannt werden.33
29 Levinson 1983, 101-102; dort auch zum naheliegenden Einwand, die Konversationsregeln seien viel zu streng, als daß sie tatsächliches Kommunikationsverhalten adäquat beschrieben: "But Grice's point is subtly different. It is not the case, he will readily admit, that people follow these guidelines to the letter. Rather, in most ordinary kinds of talk these principles are oriented to, such that when talk does not proceed according to their specifications, hearers assume that, contrary to appearances, the principles are nevertheless being adhered to at some deeper level." Ähnlich Lapp 1997, 65. 30 Die gelegentlich gewählte Umschreibung 'Wahrheitsmaxime' trifft den Punkt nicht. Entscheidend ist nicht, ob der Sprecher die Wahrheit sagt (er kann sich z.B. irren), sondern, ob er aufrichtig ist. 31 Vgl. z.B. Lapp 1997, 99 (seine Hervorhebung): "Ironie kommt durch eine transparente Manipulation der Aufrichtigkeitsbedingung zustande." 32 Anders ausgedrückt: Der Sprecher hat nicht die propositionale Einstellung, die er zu haben vorgibt. Vgl. Lapp 1997, 163: "Im Falle einer Dissoziation nur auf illokutionärer Ebene, die hauptsächlich bei expressiven Sprechakten, wie Danken, Gratulieren, Grüßen etc. vorkommt, simuliert der Sprecher also die Einstellung (zum gesamten propositionalen Gehalt), die er vorgibt zu haben, im Falle einer Dissoziation auf propositionaler Ebene simuliert der Sprecher die Überzeugung (zu Teilen des propositionalen Gehalts), die er vorgibt zu haben." 33 'Absichtlich' ist jeweils zur Verdeutlichung dazugesetzt, obwohl es eigentlich überflüssig ist: Ein Verstoß gegen das Prinzip der Aufrichtigkeit erfolgt immer mit Absicht, wenn man einmal von Geisteskranken, pathologischen Lügnern etc. absieht.
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Die zweite Bedingung schafft die entscheidende Differenz zu Lüge, Heuchelei und anderen Formen unaufrichtigen Sprechens, bei denen der Sprecher unentdeckt bleiben will. Gleichzeitig macht die zweite Bedingung deutlich, daß das Gricesche Kooperationsprinzip nur auf der ersten Ebene verletzt ist, um auf einer zweiten Ebene durchaus eingehalten zu werden. 34 Zwei ergänzende Bemerkungen zur Definition sind notwendig: Zunächst ist auf eine Ungereimtheit aufmerksam zu machen. Sie besteht darin, daß die Definition in ihrer aktuellen Form sämtliche rhetorischen Fragen einschließt, auch die nicht-ironischen. Wer eine Frage stellt, ohne eine Antwort zu erwarten, verletzt das Aufrichtigkeitsprinzip in bezug auf den Illokutionstyp, ohne daß deswegen immer ein Fall von Rhetorischer Ironie vorliegen muß.35 Die zweite Ergänzung betrifft den möglichen Einwand, daß zu offensichtliche Ironie keine Ironie sei. Diese Auffassung ist weit verbreitet.36 Als Einwand gegen die zweite Bedingung ist sie aber nicht stichhaltig. Denn in letzter Konsequenz erwartet der ironische Sprecher, daß seine Rhetorische Ironie - zumindest potentiell - von jemandem verstanden wird. Unter Umständen nimmt er dabei in Kauf, daß ein (Teil seiner) Zuhörer sie nicht versteht. Dieses Opfer' der Ironie stellt aber lediglich eine Erweiterung dar, die für das eigentliche Ironie-Modell nicht wesentlich ist.37 Im übrigen mag man der Auffassung sein, daß zu offensichtliche Rhetorische Ironie schlecht, plump oder banal ist. Sie deswegen von der Definition ausschließen zu wollen ist aber nicht zulässig.38 Aus dem gleichen Grund ist die Auf-
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Rhetorische Ironie kann auch integrative Funktion haben (ein besonders anschauliches Beispiel schildert Booth 1974, 30-31). Die Funktion von Rhetorischer Ironie auf 'attackieren' oder 'lächerlich machen' zu beschränken ist nicht zulässig (Lapp 1997, 106). 35
Lapp (1997, 100-101) hat anhand der Frage 'Mußt du eigentlich immer diese Geräusche beim Essen machen?' auf dieses Problem aufmerksam gemacht, dem m.E. auch seine eigene Definition nicht zu entgehen vermag. 36 Vgl. z.B. Muecke 1969; Enright 1986, 2: "irony - whose touch must be light". 37 Die von Weinrich unter dem Stichwort 'triadisches Ironiemodell' propagierte Einfuhrung des 'Opfers' wird von Lapp (1997, 31-32) zu Recht als fakultative Erweiterung kritisiert. Ein vergleichbares triadisches Modell findet sich jetzt wieder bei Rispoli (1992, 23-24, ohne Nennung Weinrichs). 38 Lapp (1997) selbst nimmt zu diesem Fragenkomplex eine ambivalente Stellung ein: Auf der einen Seite bekennt er sich zum 'Uneindeutigen', 'Schwebenden' der Rhetorischen Ironie (30, 87, 142; auffälligerweise meist dann, wenn er ältere Arbeiten zitiert), auf der anderen Seite macht er mehrfach deutlich, daß die Transparenz (des Verstoßes gegen die Aufrichtigkeitsmaxime) fur die Rhetorische Ironie konstitutiv ist (99, 146, 148; vgl. oben Anm. 31).
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fassung abzulehnen, Sarkasmus (was immer das genau ist, s.u.) sei nicht eine Form von (Rhetorischer) Ironie.39 Als nächstes ist zu fragen, woran der Hörer erkennt, daß der Sprecher die Aufrichtigkeitsmaxime absichtlich verletzt hat. Es geht - mit anderen Worten - um die Frage nach den Ironie-Signalen, mit denen die Linguistik sich v.a. seit den sechziger Jahren beschäftigt hat, obwohl die Frage natürlich viel älter ist.40 Zunächst ist kurz von einem wissenschaftlichen Holzweg zu sprechen: Eine Zeitlang hatte sich die linguistische Ironie-Forschung dem Ziel verschrieben, universelle Ironie-Signale zu finden. Dabei hat sie sich zu sehr darauf versteift, diese an der sprachlichen Oberfläche dingfest zu machen (vgl. oben, Einwand 3). Erst mit der Zeit hat sich die Erkenntnis durchzusetzen vermocht, daß im Grunde alles als Ironie-Signal fungieren kann - auch Außersprachliches. Somit kann fast jede Äußerung im entsprechenden Zusammenhang ironisch sein.41 Ironie-Signale gelten "immer nur relativ zu den fur eine bestimmte Sprechhandlung je geltenden Realisierungsbedingungen."42 Mit anderen Worten: Es gibt keine universellen Ironie-Signale. 43 Dennoch ist es der Linguistik gelungen, gewisse strukturelle Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Die kanadische Ironie-Spezialistin Hutcheon (1994, 156) nennt zusammenfassend "five generally agreed-upon categories of signals that function structurally (1) various changes of register (2) exaggeration/understatement (3) contradiction/incongruity 39
So z.B. Muecke 1969, 54; Groeben-Scheele 1984, 56. Die oben zitierte Definition des Rhetors Tryphon operiert mit einem Ironie-Signal (Betonung). 41 Besonders deutlich zeigt sich das an älteren linguistischen Arbeiten zur Ironie, die oft mit isolierten Beispielsätzen operieren. Einige davon sollen dann jeweils nichtironisch sein. Doch läßt sich meist ohne weiteres ein Zusammenhang denken, in dem sie doch ironisch sind. 42 Lapp (1997, 30), im Anschluß an Warning (1976, 420). 43 In diesem Zusammenhang ist der kuriose Vorschlag von Alcanter de Brahm (= Marcel Bernhardt) zu erwähnen, die lästige Unsicherheit ('ironisch gemeint oder nicht?') dadurch zu beenden, daß ironische Stellen mit einem spiegelverkehrten Fragezeichen markiert werden (Muecke 1969, 56). Der Vorschlag — sofern er tatsächlich ernst gemeint war - übersieht, daß man auch dieses Fragezeichen ironisch setzen könnte. - Das Fehlen eines eigenen Interpunktionszeichens hatte schon Erasmus bemerkt, und 1668 schlug ein John Wilkins ein umgekehrtes Ausrufezeichen vor. Der bislang letzte Vorschlag (1981) sieht eine nach links geneigte Kursive vor, die 'ironies' (vgl. 'italics') heißen soll (zu allen drei Knox 1989, 72). Der prinzipielle Einwand gegen solche Markiersysteme bleibt immer derselbe. 40
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(4) literalization/simplification (5) repetition/echoic mention." Auch hier gilt, daß mehrere der fünf Kategorien gleichzeitig auftreten und einander auf diese Weise verstärken können. Dieses gegenseitige Verstärken ist zumal in Gesprächen/Texten von Bedeutung, die sich über mehrere Sätze erstrecken, weil das erste vom Hörer/Leser sicher identifizierte Ironie-Signal dessen Aufmerksamkeit schärft und die weitere Erwartungshaltung beeinflußt. 44 Der Illustration anhand von Textbeispielen ist eine weitere methodische Überlegung vorauszuschicken: Durch das Fehlen von universellen IronieSignalen ist man als Textinterpret letztlich auf die herkömmlichen Mittel des genauen (und das heißt langsamen) Lesens zurückgeworfen. Einen Lackmustest fur Rhetorische Ironie gibt es in der Tat nicht. Umgekehrt ist eine deutlichere Vorstellung davon, was Rhetorische Ironie ist und wie sie sich manifestieren kann, zweifellos von Vorteil. Sie ermöglicht es, deutlicher zum Ausdruck zu bringen, auf welchen Annahmen und Indizien die Interpretation als Rhetorische Ironie basiert. Der (gerade bei der Ironie) jederzeit drohende Vorwurf der subjektiven Interpretation wird dadurch zwar nicht eliminiert, aber die Ergebnisse werden intersubjektiv mitteil- und überprüfbar. Angesichts des nicht geringen Durcheinanders, das terminologisch und konzeptuell die Verwendung von 'Ironie' prägt, dürfte auch dieser kleine Fortschritt zu begrüßen sein. - Zur Illustration vier Textbeispiele (alle aus der Ilias): (I) Im ersten Buch entbrennt im griechischen Heer zwischen Achilleus und dem Oberbefehlshaber Agamemnon ein Streit darüber, was höher einzuschätzen sei, Rang (Agamemnon) oder militärische Leistung (Achill). Letztere wird Agamemnon von Achill wie folgt abgesprochen: 'In der Tat ist es ja viel besser/einträglicher, im weiten Heer der Achaier die Gaben dem wegzunehmen, wer immer dir widerspricht' (gemeint ist: besser/einträglicher als mit den anderen in den Kampf zu ziehen und auf diese Weise Güter anzuhäufen).45
44 Umgekehrt kann man empirisch zeigen, daß Leser oft erst durch das gehäufte Auftreten von Ironie-Signalen in ihrem 'Verdacht' bestätigt werden (vgl. Booth 1974, 1014). τ 45 ή πολύ λώϊόν έστι κατά στρατόν eupw 'Αχαιών | δώρ' άττοαιρεΐσθαι, ος Tis σέθεν άντίον εϊττη. (II. 1, 229-230)
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Die Rhetorische Ironie betrifft den propositionalen Gehalt (der Illokutionstyp ist nicht betroffen). Als Ironie-Signal fungiert Widersprüchlichkeit (Achill preist gegen seine tatsächliche Überzeugung eine passive Haltung), die durch Übertreibung ('viel besser'; 'in der Tat', im Originaltext die emphatische Partikel ή) verstärkt wird. (2) Wenig später kommt es zum Duell zwischen Menelaos und seinem Beleidiger Paris. Durch eine Entrückung verhindert Aphrodite zwar den Tod ihres Schützlings, aber gegen außen bleibt Paris der Verlierer. Im anschließenden Gespräch macht Helena kein Hehl aus ihrer Verachtung. Sie erinnert Paris daran, wie er sich früher damit gebrüstet habe, Menelaos überlegen zu sein. Dann gar die Aufforderung: 'Doch geh jetzt! Fordere den aresgeliebten Menelaos noch einmal heraus, gegen dich zu kämpfen!'46 Die Widersprüchlichkeit der Rhetorischen Ironie liegt hier im Wechsel des Illokutionstyps: Helena fordert Paris gerade nicht dazu auf, Menelaos erneut herauszufordern, sondern ist bestrebt, seine Unterlegenheit durch ihre Scheinaufforderung zusätzlich zu unterstreichen. Der auf den zitierten Passus folgende Ratschlag macht dies vollends deutlich: Paris solle von Menelaos lassen, wenn ihm das Leben lieb sei. (3) Im Kampf um ihre Schiffe werden die Griechen von den anstürmenden Troianern heftig bedrängt. Mit einem letzten Appell an die eigenen Truppen versucht Aias das Blatt noch zu wenden. Unter anderem spekuliert er über die möglichen Gründe für ihre (angeblich) ungenügende Kampfbereitschaft: 'Oder habt ihr etwa die Hoffnung, wenn der helmfunkelnde Hektor die Schiffe einnimmt, daß jeder einzelne von euch zu Fuß in sein Heimatland zurückkehren werde?'47 Erneut kommt die Widersprüchlichkeit im Wechsel des Illokutionstyps zum Ausdruck (ironische rhetorische Frage): Aias glaubt nicht wirklich, daß die Griechen die von ihm unterstellte Hoffnung hegen. Den Widerspruch
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άλλ' ιθι νϋν προκάλεσσαι άρηΐφιλον Μενέλαον | έξαϋτι