Das Problem Der Tradition: Eine Phanomenologische Annaherung (German Edition) 3161625129, 9783161625121

Der Begriff der Tradition ist wissenschaftlich stiefmutterlich behandelt worden. Zwar gab es immer wieder prominente Bez

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German Pages 276 [277] Year 2023

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Titel
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
I. Exposition
1. Die vagen Tücken des Konzepts
1.1 Antigone und Beckmesser – oder vom Bestehen auf dem Etablierten und die Ambivalenzen
1.2 Philosophische Traditionsbesinnung als babylonische Sprachverwirrung
2. Status quo ante
3. Die Probleme der Tradition
3.1 Genitivus objectivus
3.2 Genitivus subjectivus
4. Methodische Entscheidungen
4.1 Selbstvorbehalte
4.2 Vorhaben
II. Phänomenologie der Tradition
1. Traditionsanalysen in der Phänomenologie
2. Aspekte des Phänomens
2.1 Inhalt und Medium
2.2 Umfang
2.3 Explizitheit
2.4 Wandelbarkeit, Machbarkeit und Gemachtheit
2.5 Wissensgehalt und Gedächtnisleistung
2.6 Öffnung des Horizontes und Bahnung des Lebens
2.7 Einbettung des Individuums
3. Kern und Peripherie
3.1 Der Kern des Phänomens
3.2 Abwandlungen in der Peripherie
III. Argumentationsfiguren
1. Anthropologie
2. Epistemologie
3. Ethik
4. Kulturphilosophie
5. Politische Philosophie
IV. Schlussbetrachtungen
Bibliographie
Namensregister
Sachregister
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Das Problem Der Tradition: Eine Phanomenologische Annaherung (German Edition)
 3161625129, 9783161625121

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Philosophische Untersuchungen herausgegeben von

Tobias Keiling und Annika Schlitte

58

Steffen Kluck

Das Problem der Tradition Eine phänomenologische Annäherung

Mohr Siebeck

Steffen Kluck, geboren 1980; Studium der Philosophie und Germanistik; 2010–2023 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Rostock; 2012 Promotion; 2023 Habilitation.

Publiziert mit Unterstützung der Stiftung Neue Phänomenologie.

ISBN  978-3-16-162512-1 / eISBN  978-3-16-162513-8 DOI 10.1628/978-3-16-162513-8 ISSN  1434-2650 / eISSN  2568-7360 (Philosophische Untersuchungen) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio­ nalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über https://dnb. de abrufbar. © 2023  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen gesetzt, auf alterungsbeständiges Werk­druckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Danksagung Das vorliegende Buch ist aus meiner im November 2021 an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock eingereichten Habilitationsschrift hervorgegangen. Als Abschluss eines langen Prozesses ist seine Entstehung mit einer Reihe von Diskussionen, Vorträgen, Begegnungen und Lektüren verbunden, an die es implizit erinnert. Allen zu danken, die es verdient hätten, ist unmöglich – aber in guter Tradition möchte ich doch einige, die besonders mit dem vorliegenden Werk verbunden sind, hervorheben. Zunächst danke ich vor allem Michael Großheim, der das Werk als Betreuer und Gutachter mit Anteilnahme, vor allem aber Freiraum und Offenheit begleitet hat. Ohne ihn gäbe es das Buch nicht und es mag uns beiden eine wertvolle Erinnerung an zahlreiche intensive und immer gehaltvolle Diskussionen sein. Ebenfalls als Betreuer und Gesprächspartner hat sich Matthias Wunsch am Entstehen der Gedanken beteiligt, wofür ich ihm dankbar bin. Besonders der Fokus auf die Biologie ist sein Verdienst. Schließlich war Clemens Albrecht so freundlich, sich den Mühen der Begutachtung zu stellen, wofür ebenfalls Dank zu zollen ist. Aus dem Kreis der Kollegen und Freunde, die mit Hinweisen, Nachfragen oder kritischen Invektiven mein Gedankenverfertigen hilfreich unterstützt haben, möchte ich vor allem Steffen Kammler hervorheben. Keine Zeile stünde wohl hier, hätten wir uns nicht in einem Wintersemester kurz nach der Jahrtausendwende zufällig getroffen. Ebenso hat Richard Pohle mich durch Hinweise weitergebracht. Überhaupt sind auch die Rostocker Kollegen – allen voran Henning Nörenberg, Martin Lemke, Christian Klager, Jonas Puchta, Heiner Hastedt und Hanno Depner  – zu nennen, mit denen zusammen zu philosophieren immer eine Freude und eine Bereicherung war. Darüber hinaus hatte ich mehrfach die Gelegenheit, im Phänomenologischen Colloquium meine Ideen in früheren Stadien zu präsentieren, wofür ich dem Kreis sehr danken möchte. Die dortige Gesprächs- und Denkkultur ist ein unbedingt zu bewahrender Schatz. Schließlich möchte ich den Herausgebern der Reihe  – Annika Schlitte und Tobias Keiling – sowie Tobias Stäbler vom Verlag für die Möglichkeit

VI

Danksagung

danken, das Buch in der vorliegenden Form erscheinen zu lassen. Insbesondere die Hinweise der Herausgeber haben dem Text sehr geholfen. Zudem will ich den großzügigen finanziellen Beitrag der Stiftung Neue Phänomenologie keineswegs unerwähnt lassen, der die Drucklegung erst ermöglicht hat. Am Ende freilich gilt der größte Dank meiner Familie  – Anja, Frida, ­Edgar, Carsten, Marlies, Sebastian, Marion, Werner und Gisela –, die durch unterschiedliche Beteiligungen (sei es das Schaffen eines erholsamen Freiraums durch Gleichgültigkeit, sei es das zur Arbeit nötigende inquisitorische Nachfragen) den unerlässlichen Hintergrund dafür abgegeben haben, dass dieses Werk nun in die Hände der Leserschaft übergeben werden kann. Steffen Kluck

Rostock im März 2023

Inhaltsverzeichnis Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

I. Exposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Die vagen Tücken des Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.1 Antigone und Beckmesser – oder vom Bestehen auf dem Etablierten und die Ambivalenzen . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Philosophische Traditionsbesinnung als babylonische ­Sprachverwirrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Status quo ante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3. Die Probleme der Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.1 Genitivus objectivus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.2 Genitivus subjectivus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 4. Methodische Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 4.1 Selbstvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 4.2 Vorhaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

II. Phänomenologie der Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Traditionsanalysen in der Phänomenologie . . . . . . . . . . 60 2. Aspekte des Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.1 Inhalt und Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2.2 Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2.3 Explizitheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2.4 Wandelbarkeit, Machbarkeit und Gemachtheit . . . . . . 100 2.5 Wissensgehalt und Gedächtnisleistung . . . . . . . . . . . 112 2.6 Öffnung des Horizontes und Bahnung des Lebens . . . . 116 2.7 Einbettung des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3. Kern und Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3.1 Der Kern des Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3.2 Abwandlungen in der Peripherie . . . . . . . . . . . . . . 150

VIII

Inhaltsverzeichnis

III. Argumentationsfiguren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 1. Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2. Epistemologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3. Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 4. Kulturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 5. Politische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

IV. Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

I. Exposition Über Tradition schreiben, das bedeutet, einerseits immer schon verstanden worden zu sein, da das Wort als ganz selbstverständlich daherkommt, an­ dererseits aber auch, bei genauem Hinschauen erkennen zu müssen, dass es keinen Konsens im Hinblick auf den Begriff gibt. Gerade darin liegt die große Gefahr der unreflektierten Zuwendung zur Tradition – was je schon als geklärt imponiert, wirkt dadurch in seiner Ungeklärtheit um so unbe­ merkter und mächtiger. Eine solche Feststellung mag zunächst wenig An­ lass zur Besorgnis geben, weil es vielleicht der Hauptbefund der philoso­ phischen Analysen aus über 2000 Jahren intellektueller Arbeit ist, dass noch über jeden Begriff nicht ausreichend nachgedacht wurde. Aber im Fall des Traditionsbegriffs kommt eine weitere Dimension hinzu, denn im Lau­ fe seiner Verwendung – vor allem seit dem späten 18.  Jahrhundert – hat er eine normative, insbesondere auch politische und weltanschauliche Kon­ notation erhalten, die sowohl in wissenschaftlicher wie lebenspraktischer Hinsicht bedeutsame Konsequenzen zeitigt. Je nach historischem Kontext kann die Feststellung, etwas sei Tradition bzw. traditionell, auf Rückstän­ digkeit oder gerade auf besondere Heiligkeit verweisen mit all den sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Folgen, die solche Einordnungen zuwei­ len haben.1 Man kann über Tradition nicht sprechen, ohne sich dieses Um­ standes klar zu sein.2 Wenn ein Wort solche „Macht“ zu haben vermag, ist es jedoch offensichtlich, dass auf seine begriffliche Klärung Wert zu legen ist. Genau eine solche ist aber weithin Desiderat. Das scheinbar Selbstver­ ständliche der Rede von Tradition hat in der Gegenwart fast völlig gesiegt und die mit dem Wort verbundenen Konnotationen und Folgen zu ver­ meintlich unkritischen Erscheinungen werden lassen.

1 

Für eine Geschichte des Traditionsdenkens vgl. Steffen Kluck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. Stuttgart 2023. 2  Vgl. dazu die zutreffenden Bemerkungen und Differenzierungen in T. A. Winter: Traditionstheorie. Eine philosophische Grundlegung. Tübingen 2017, S.  3 –16. Zu Tho­ mas Arne Winters Ansatz allgemein vgl. Steffen Kluck: „Rezension von T. A. Winter: Traditionstheorie“, in: Philosophischer Literaturanzeiger, Bd.  70 (2017), S.  248–253.

2

I. Exposition

Diese als vorangestellte Beobachtung angedeutete Dichotomie von om­ nipräsenter Verwendung und lebensweltlicher Mächtigkeit des Wortes ei­ nerseits, begrifflicher Unklarheit und vorgeblicher Selbstverständlichkeit andererseits bildet die Hintergrundfolie für das hier verfolgte Vorhaben, dem Phänomen Tradition näher zu kommen. Um jedoch die vorerst nur behauptete, nicht bewiesene Beobachtung zu stützen, wird ein zweifaches und sowohl auf literarischem wie philosophischem Feld operierendes Ein­ setzen zunächst das Problemfeld aufmachen, welches die häufige und un­ kritische Verwendung der Rede von Tradition mit sich bringt. Diese erkun­ dende Exposition zeigt, in welcher Weise das Phänomen Tradition ambiva­ lent thematisiert und gefasst wird. Erst von einem solchen Einblick in das Problematische lässt sich erkennen und verstehen, dass einerseits Tradition ein Gegenstand notwendiger und sinnvoller philosophischer Reflexion sein kann, und andererseits, wie diese am klügsten zu erfolgen hat.

1. Die vagen Tücken des Konzepts 1.1 Antigone und Beckmesser – oder vom Bestehen auf dem Etablierten und die Ambivalenzen Als der junge Ritter Walther von Stolzing vor die ehrenwerte Runde der Nürnberger Meistersinger tritt, um  – im Bestreben, seine Herzensdame Eva heiraten zu dürfen – als ein ebensolcher anerkannt zu werden, weicht sein Liedbeitrag von den üblichen, streng geregelten Vorgaben erheblich ab, er stellt in gewissem Sinne eine ästhetische Innovation dar. Der Merker ­Sixtus Beckmesser, gleichsam der Vorsitzende der Sängergilde, erfasst dies sofort und meint, gestützt auf den Glauben an einen allgemeinen Konsens unter seinen Gildenkollegen im Hinblick auf die Bewertung des von Stol­ zing Gehörten:   Kein Absatz wo, kein’ Koloratur, von Melodei auch nicht eine Spur! […] Wird erst auf die Fehlerprobe gedrungen? Oder gleich erklärt, daß er versungen?3

Beckmesser erweist sich als Verteidiger der etablierten Regeln der Gesangs­ kunst, die er gegen den neuen „Stil“ des Jünglings zu verteidigen sich an­ schickt. Allerdings rechtfertigt sein Gegenspieler Hans Sachs das Werk 3 R. Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg. Hrsg. v. E. Voss. Stuttgart 2002, V.  753 f., 760 f. Vgl. auch schon ebd., V.  726–751.

1. Die vagen Tücken des Konzepts

3

Stolzings. Für die Opposition Sachs – Beckmesser, die sich auf verschiede­ nen Ebenen durch die gesamte Handlung von Richard Wagners Werk zieht, spielt gerade der Rückgriff auf bestehende Regeln eine entscheidende Rolle. Sachs bekundet schon vor dem Auftritt Stolzings, dass er für einen flexib­ leren Umgang mit den bisherigen Vorgaben optiert:   Gesteht, ich kenn’ die Regeln gut; und daß die Zunft die Regeln bewahr’, bemüh’ ich mich selbst schon manches Jahr. Doch einmal im Jahr fänd’ ich’s weise, daß man die Regeln selbst probier’, ob in der Gewohnheit trägem Gleise, ihr’ Kraft und Leben sich nicht verlier’:   und ob ihr der Natur   noch seid auf rechter Spur,    das sagt euch nur wer nichts weiß von der Tabulatur.4

Entsprechend verteidigt Sachs Stolzing dann auch gegen die als ganz nahe­ liegend daherkommende Kritik Beckmessers:    Des Ritters Lied und Weise. sie fand ich neu, doch nicht verwirrt;   verließ er unsre Gleise, schritt er doch fest und unbeirrt.   Wollt ihr nach Regeln messen, was nicht nach euer Regeln Lauf,   der eigenen Spur vergessen, sucht davon erst die Regeln auf!5

Was Wagner durch Sachs und Beckmesser sagen lässt, ist eine geradezu ex­ emplarische Konstellation im Hinblick auf das Verhältnis zur Tradition – auch wenn diese freilich nicht explizit als solche sprachlich markiert wird. Auf der einen Seite steht Sachs, der „innovationsfreundlich“ und „offen“ ist, aber sich des Umstandes klar scheint, dass eine reine tabula rasa eben­ falls keine Option ist, denn dann würde es – von Wagner meisterhaft ange­ deutet im freudigen Aufspringen der Lehrbuben ob der sich ihnen bieten­ den Möglichkeit, ohne Ausbildung und Können gleich Meistersinger zu werden – keinerlei Maßstab der Meisterhaftigkeit mehr geben. 6 Beckmesser steht dagegen für ein rigides Beibehalten der etablierten Ordnungen, von 4 

R. Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg. V.  488–498. R. Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg. V.  764–771. 6  Das deutet auch Beckmesser gegen Sachs an, wenn er sagt: „Singet dem Volk auf Markt und Gassen; hier wird nach den Regeln nur eingelassen“ (R. Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg. V.  776 f.). 5 

4

I. Exposition

denen abzuweichen als nicht legitim gilt. Für diese Verhaltensoption ist sein Name daher – zumindest im 20.  Jahrhundert – auch idiomatisch geworden und in den Duden eingegangen. Die Charakterisierung, die Wagner von Sachs liefert, ist dabei – auffälli­ gerweise – in mehrfacher Hinsicht differenzierter als die von Beckmesser. Sachs plädiert nämlich sowohl für die alten Regeln, also für so etwas wie die umgangssprachliche Tradition, als auch für Innovation, er stellt eine Vermittlungsfigur dar.7 Andererseits ist er moralisch integer und von laute­ rer Intention. Beckmesser dagegen wird geschildert als Pedant, der zudem noch ein eher instrumentelles Verhältnis zu den Regeln hat, die er so ener­ gisch gegen Stolzing betont, denn eigentlich will er selbst bei Eva erfolg­ reich um die Hand anhalten, wofür ihm die Abweisung Stolzings wegen des Regelverstoßes nur ein Werkzeug ist. Dieses antipodische Gesamtbild, das, wie gesagt, gerade auch in seinen Überzeichnungen exemplarischen Wert hat, liefert eine fast schon anthropologische Blaupause. Beckmessers wie Sachs’ hat es in je zeittypischer Koloratur vermutlich immer gegeben, ebenso auch die hinter Stolzing und den erwähnten Lehrbuben stehenden radikalen „Bilderstürmer“, die Freunde der tabula rasa. Aber was genau – und diese Frage wird auf abstrakterem Niveau zu selten gestellt im Rahmen der Reflexion auf Tradition – ist eigentlich Beckmessers Fehler? Was ist das Falsche an ihm und seinem Agieren? Mit Wagner lassen sich zwei wesentliche Verfehlungen herauskristallisie­ ren und verallgemeinern, nämlich zum einen Sturheit oder Erstarrung, zum anderen Missbrauch der Macht. Beckmessers Fehlverhalten besteht darin, dass er nicht fähig ist, sich und die von ihm verwalteten Regeln an veränderte Umstände, aktuelle Entwicklungen, innovative Neuerungen anzupassen. In diesem Sinne ist er stur, pedantisch, eben „beckmesserisch“. Warum ist das ein Fehler? Dahinter steht die historisch gut verbürgte Er­ fahrung, dass Dinge sich ändern, dass Altes nicht fehlerfrei ist, dass Neues oft Verbesserung bringt. Ein zweites Fehlverhalten Beckmessers wiederum zeigt sich im Missbrauch der ihm qua Merker-Amt und der Autorität der Regeln zukommenden Macht, insofern er Stolzing zumindest auch, wenn nicht sogar hauptsächlich wegen anderer Interessen und Motive als der blo­ ßen Regeltreue kritisiert. Allgemeiner formuliert, steht dahinter die Ein­ sicht, dass Etabliertes, Traditionelles oft aus anderen Gründen beibehalten wird als wegen seiner intrinsischen Qualitäten. 7 

Deutlich wird dies besonders an den Lobpreisungen der früheren Meister und der erfolgreichen Tradierung ihrer Regeln (vgl. z. B. R. Wagner: Die Meistersinger von Nürn­berg. V.  1964–1970, 1983–1990, 2825–2828).

1. Die vagen Tücken des Konzepts

5

Damit, so könnte man meinen, ist die Option Beckmesser eigentlich wi­ derlegt. Und sofern er, in grober Annäherung, als Verteidiger einer im rigi­ den Sinne verstandenen Tradition gelten kann, fällt diese unter Verfehlt­ heits-Verdacht. Oft genug ist genau eine solche simple Argumentations­ figur im politischen und alltagssprachlichen Raum anzutreffen. Aber ist es so einfach? Provokant gefragt: Müsste dann nicht auch eine andere, zumeist eher positiv gesehene Figur der europäischen (Geistes-)Geschichte  – im Schlepptau des Beckmesser-Schicksals – anders betrachtet werden? Antigone wird häufig als positives Beispiel einer gegen unsittliche, patri­ archale Herrschaft aufbegehrenden Frau markiert, die als Märtyrerin der Sittlichkeit zu gelten hat. Sie hält gegen die neuen Verordnungen des Herr­ schers Kreon, ihres Onkels, die alten Sitten – νόμοι8 – hoch. Dieser hatte es ihr aus Staatsraison untersagt, ihren Bruder Polyneikes zu beerdigen. Ge­ gen diese Regelung bringt Antigone die Opposition zwischen menschlicher und göttlicher Ordnung in Anschlag, um sich gegen Kreons Vorgabe zu wenden und ihren Bruder widergesetzlich zu beerdigen:   Es war ja Zeus nicht, der es [das Beerdigungsverbot; S.K.] mir verkündet hat, noch hat die Gottheit, die den Toten Recht erteilt, je für die Menschen solche Satzungen bestimmt. Auch glaubte ich, soviel vermöchte kein Befehl von dir [Kreon ist angesprochen; S.K.], um ungeschriebne, ewige, göttliche Gesetze zu überrennen als ein Sterblicher. Denn nicht von heut und gestern, sondern immerdar bestehn sie: niemand weiß, woher sie kommen sind.9

Was tut Antigone hier? Sie spielt die menschengemachten – genauer sogar: von einem ganz spezifischen Menschen gemachten10 – Regeln gegen über­ zeitliche unbekannter Herkunft aus. Diese allein (oder zumindest: zuerst) sind jedenfalls im Konfliktfall zu beachten, nicht die anderen. Antigone Vgl. z. B. Sophokles: Antigone. V.  59, 452. Die Übersetzung von νόμοι mit „Sitten“ ist nicht ohne Begründungslast, wie zuzugeben ist, aber darf hier im Interesse der Sache dahingestellt bleiben. Vgl. aber die Bemerkungen bei F. Heinimann: Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5.  Jahrhunderts. Basel 1945, v. a. S.  61–73. Heinimann gibt als allgemeine Bedeutung „das bei einer Grup­ pe von Lebenswesen ‚Geltende‘“ (ebd., S.  65) an, was der Semantik von Sitte sehr nahe­ kommt. Als zitiertechnischer Hinweis: Es werden zu Klassikertexten wie eben Sophokles, aber auch z. B. Platon, Aristoteles, René Descartes oder Immanuel Kant, nur dann Aus­ gaben angegeben, wenn eine wörtliche Bezugnahme erfolgt, andernfalls nicht. 9 Sophokles: Antigone. V.  450–457 (zitiert nach Sophokles: Tragödien und ­F ragmente. Hrsg. v. W. Willige, K. Bayer. München 1966). 10  Vgl. die verschiedenen Bedenken des Chors in dieser Richtung gegen eine willkür­ liche Setzung des Gesetzes durch Kreon (z. B. Sophokles: Antigone. V.  278 f., 365–375). 8 

6

I. Exposition

opfert letztlich ihr Leben für die Einhaltung der göttlichen Sitten. Deshalb gilt sie mitunter als ein moralischer Fixstern der abendländischen ethischen Besinnung, denn es rebelliert eine Frau gegen eine unsittliche, oppressive und zudem männlich inkorporierte Staatsgewalt. Aber gestattet man sich den Blick zurück auf Beckmesser, stellt man irritiert fest, dass diese positive Lesart genau das hochhält, was diesem zum Nachteil gereichte. Antigone weigert sich, bestehende Regeln an neue, in ihrem Fall machtpolitische Re­ alitäten anzupassen, beharrt auf der bedingungslosen Einhaltung. Kreon hätte in gewissem Sinne recht, sie pedantisch zu nennen. Sie ge- und miss­ braucht die göttlichen, traditionellen, althergebrachten Regeln zwar nicht in einem instrumentellen Sinne wie Beckmesser, aber aus Sicht eines prag­ matischen Neuerers, als den man Kreon mit Abstrichen sehen könnte, stellt sie sehr wohl eine rückwärtsgewandte Fundamentalistin dar.11 Warum steht jedoch Antigone im Gesamturteil der Menschen in der Regel wesent­ lich besser da als Beckmesser? Liegt ihre Tugendhaftigkeit darin, dass sie die Tradition allein um eines besseren Zweckes willen betont  – in ihrem Fall dem humanen Anliegen, die eigenen Toten würdevoll bestatten zu dürfen? Dann aber läge das Problematische nicht in den Traditionen selbst, sondern ihrem Gebrauch. Solche Fragen verdienen hier keine Beantwortung, wichtig ist allein die auffällige Beobachtung, dass vergleichbare Rückgriffe auf Bestehendes  – auf Traditionen in einem weiten Sinn genommen  – sehr unterschiedliche historische wie normative Urteile zur Folge haben können. Beckmesser wird sprichwörtlich für den verbohrten, nutzenorientierten, pedantischen Rückwärtsgewandten gehalten, während Antigone als Quasi-Humanistin und Verbessererin durch Restitution gilt. Wenn es aber der jeweilige Um­ gang mit dem Althergebrachten ist, nicht dieses selbst, dann wäre zu fra­ gen, was es denn genau ist, mit dem da jeweils umgegangen wird. Nur von diesem her wäre ein Umgang zu kritisieren. Konkret: Wenn Tradition ein Sammelbecken sinnvoller früherer Entscheidungen ist, dann ist ein An­ knüpfen an sie sinnvoll, wenn nicht, dann gerade nicht. Aber diese Frage, die Frage also, was Tradition selbst ist, kommt oft genug gar nicht auf, son­ dern der Umgang allein rückt – und wie gezeigt, in sehr ambivalenter, in­

11  Eine

etwas anders gelagerte Lesart der Antigone lässt sich mit Hans Jonas ent­ wickeln. Nach dieser stellt sie die Verteidigung der Natur oder des Natürlichen gegen die Kultur und Technik der Menschensphäre dar. Auch in diesem Fall aber bliebe das Pedantische, das Grundsätzliche als Teil der Figur bestehen. Vgl. dazu als Ansatzpunkt für eine von Jonas ausgehende Auslegung H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt 1984, S.  17 ff.

1. Die vagen Tücken des Konzepts

7

konsistenter Weise – in den Fokus.12 Diesem Umstand will die vorliegende Untersuchung begegnen, indem sie jenseits des „Umgangs mit“ sich vor­ nimmt, das „Wesen von“ Tradition in den Blick zu nehmen. Freilich mag eine an literarischen Konfigurationen und deren Interpretationen orien­ tierte Eingangsdiagnose als Spiel abgetan, deren philosophische Dichte als zu gering betrachtet werden. Daher ist, wie angedeutet, ein zweiter exposi­ torischer Anlauf notwendig, der nachweist, dass auch die philosophischen Diskurse ähnlich ambivalente Ergebnisse zeitigen.

1.2 Philosophische Traditionsbesinnung als babylonische Sprachverwirrung Die platonische These, Kenner13 einer Sache seien sich notwendig einig, andernfalls sei keiner oder seien jedenfalls gar nicht alle echte Ken12  Neben Beckmesser und Antigone gibt es zwei weitere beachtenswerte Beispiele zum Umgang mit Tradition, beide auf dem Feld des Literarischen, die den hier exposi­ torisch zu machenden Aspekt verdeutlichen können. Sie seien zur weiterführenden Il­ lustration kurz erwähnt: Hans Magnus Enzensberger hat fiktiv den Humanisten Melanchthon und die heute lebende Friseuse Zizi gegeneinandergesetzt, um zu eruieren, wer eigentlich intellektuell „besser“ dasteht, „besser“ lebt. Sein Urteil lässt sich so zusammenfassen, dass Melanch­ thon aus dem Schoß der Geschichte und Tradition sicher leben und denken konnte, während Zizi sich angesichts der Beschleunigung der Moderne und dem Informations­ überfluss gerade aus Lebenserhaltungsgründen klugerweise als Ignorantin erweisen muss. Zizis Ignoranz vielem Traditionellen gegenüber ist Teil einer sinnvollen Lebens­ strategie angesichts der Moderne (vgl. H. M. Enzensberger: „Über die Ignoranz“, in: ders.: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt 1989, S.  9 –22; zu diesem Text vgl. auch die Bemerkungen in H. Hastedt: Der Wert des Einzelnen. Eine Verteidigung des Individualismus. Frankfurt 1998, S.  52 f.). Ein anderes Beispiel liefert der bekannte „Briefwechsel zwischen zwei Zimmer­ winkeln“ von Michail Gerschenson und Wjatscheslaw Iwanow. Im Rahmen eines Sa­ natoriumsaufenthaltes im Sommer 1920 diskutierten die beiden Zimmergenossen in Briefform über Fragen letztlich des Umgangs mit der Tradition (vgl. M. Gerschenson, W.  Iwanow: Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln. Übers. v. N. v. Bubnoff. Stuttgart 1948). Gerschenson steht dabei für einen rousseauistischen Typus des Den­ kens, der der Befreiung von der Last der Kultur das Wort redet (vgl. z. B. ebd., S.  7, 11 f., 14 ff., 22), Iwanow für einen theistischen Verteidiger der Orientierung am Erbe der „wahren“ Kultur (vgl. z. B. ebd., S.  9, 17 f.). Ihre Diskussionen liefern wieder ein ähn­ liches Bild im Hinblick auf Tradition, ja, man könnte fast sagen, in ihrem Briefwechsel bieten sie paradigmatisch die Extreme, die die Gegenwart ausgebildet hat. 13  Dem Leser dürfte auffallen, dass mit dem generischen Maskulinum operiert wird. Dafür spielen allein stilistische Gründe eine Rolle. Das Verwendung findende gene­ rische Maskulinum ist selbstverständlich streng zu unterscheiden vom biologischen, sozialen usw. Geschlecht.

8

I. Exposition

ner,14 stimmt heute vielleicht generell nicht mehr, jedenfalls aber beschreibt sie sicher nicht adäquat den Stand der philosophischen15 Besinnung bezüg­ lich Tradition. Überspitzt lässt sich festhalten, dass es im Hinblick auf Tra­ dition keine Position gegeben hat, von der nicht auch das genaue Gegenteil vertreten worden ist.16 Im Folgenden soll ohne Anspruch auf Vollständig­ keit ein kursorischer „Ritt“ durch das Diskussionsfeld gewagt werden, um noch einmal, diesmal anhand einschlägiger Fachliteratur, zu zeigen, wie verwirrend uneindeutig das Verständnis von Tradition ist. Schon die naheliegende Frage, welche Begriffe eigentlich (nicht) syno­ nym zu Tradition sind und welche zum semantischen Feld gehören, offen­ bart einige Differenzen. So haben Josef Pieper17 und Leopold Ziegler18 da­ für plädiert, Tradition mit „Überlieferung“ synonym zu verstehen, Sieg­ fried Wiedenhofer19 sowie Marcel de Corte20 wollen dagegen „Kultur“ als 14 

Vgl. z. B. Platon: Alkibiades I. 111b. Im Interesse einer offenen Heuristik wird dieser Begriff hier sehr weit verstanden, denn wesentliche Forschungsarbeiten zur Tradition entstammen Werken, die eher theologischen, ethnologischen oder ethologischen Ursprungs sind, was aber deren phi­ losophische Relevanz und Interpretierbarkeit oder jedenfalls Auswertbarkeit nicht ein­ schränkt. Überhaupt bietet der Begriff Tradition zudem die Eigenart, den üblichen Graben zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft zu überbrücken, denn er kommt in beiden – etwa Philosophie und Geschichtswissenschaft einerseits, Biologie andererseits – zur Anwendung. 16  Vgl. dazu erneut als Überblick S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  ­ Jahrhundert. 17  J. Pieper: Überlieferung. Begriff und Anspruch. München 1970, S.  19 (wobei Pieper die Synonymisierung von „Tradition“ und „Überlieferung“ – wie vor ihm schon Leo­ pold Ziegler – nicht einmal für der Begründung wert erachtet). Dieser Text ist eine Er­ weiterung von ders.: Über den Begriff der Tradition. Köln, Opladen 1958. 18  L. Ziegler: Überlieferung. Leipzig 1936, S.  555 (dort wird im Register Überliefe­ rung mit Tradition identifiziert). 19  S.   W iedenhofer: „The Logic of Tradition“, in: B. Schoppelreich, ders. (Hrsg.): Zur Logik religiöser Traditionen. Frankfurt 1998, S.  11–84, z. B. S.  36, 59. Wiedenhofer hat bis zu seinem Tod 2015 die umfangreichsten Arbeiten zu einem integrativen Verständ­ nis von Tradition im deutschsprachigen Raum geliefert. Sein Wirken ist aber letztlich wenig fruchtbar geblieben, was vielleicht gerade dem insgesamt stark „harmonisieren­ den“ Impuls geschuldet ist, der eine trennscharfe Begriffsbestimmung verhindert. Ex­ emplarisch dafür sind vor allem die – mitunter nicht sehr fairen und wissenschaftlich nur bedingt redlichen – Diskussionen, die im Anschluss an Wiedenhofers Beitrag in der Zeitschrift „Erwägen Wissen Ethik“ veröffentlich wurden (vgl. S.  Wiedenhofer: „Tra­ dition  – Geschichte  – Gedächtnis. Was bringt eine komplexe Traditionstheorie“, in: ­Erwägen Wissen Ethik, Bd.  15 (2004), S.  229–284 [Diskussionen S.  240–284; besonders einschlägig im Sinne des Gesagten S.  244–247, 257 f.]). 20  M. de Corte: Das Ende einer Kultur. Übers. v. W. Warnach. München 1957, z. B. S.  31 ff. 15 

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bedeutungsgleich ansehen, Jan und Aleida Assmann und andere wiederum „Gedächtnis“21. Es ist unbestreitbar, dass Tradition irgendetwas mit Kul­ tur, mit Gedächtnis und auch Überlieferung zu tun hat, aber ist sie mit ei­ nem davon identisch? Wählt man Kultur, dann dürfte der Begriff Tradition obsolet sein, er bezeichnet gar nichts Spezifisches mehr; wählt man Über­ lieferung, besteht die Gefahr, Tradition als schriftliche einseitig zu thema­ tisieren – gibt es etwa nicht auch eine Tradition des Grüßens, des Kleidens22 und so weiter? –; wählt man Gedächtnis, neigt man dazu, die speichernde Funktion zuungunsten der möglichen etwa eudaimonistischen oder ethi­ schen zu betonen. In nicht weniger disparater Weise werden begriffliche Abgrenzungen vorgenommen, eingefordert oder doch zumindest implizit angedeutet gegen die bloße Gepflogenheit oder Routine und Gewohnheit,23 prominent gegen das Ritual, 24 gegen Bräuche, 25 Konventionen 26 oder die Geschichte27. János Nyíri hat versucht, das Begriffsfeld zusammenzufassen, indem er als familienähnliche Wörter benennt: „art“, „authority“, „convention“, 21 

A. Assmann, J. Assmann: „Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächt­ nis“, in: K. Merten, S. J. Schmidt, S.  Weischenberg (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Menschen. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen 1994, S.  114–140, hier S.  117. Vgl. auch G. Theissen: „Tradition und Entscheidung. Der Beitrag des bib­ lischen Glaubens zum kulturellen Gedächtnis“, in: J. Assmann, T. Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt 1988, S.  170–196, hier S.  171. 22  Zu Kleidung bzw. Uniform und Tradition vgl. die Überlegungen aus dem Kontext der Ethologie bei O. Koenig: Kultur und Verhaltensforschung. Einführung in die Kul­ tur­ethologie. München 1970, S.  33–182. 23 Vgl. J. Ortega y Gasset: Der Mensch und die Leute. Nachlasswerk. Übers. v. U.  Weber. Stuttgart 1957, z. B. S.  265 und S.  Wiedenhofer: „The Logic of Tradition“. S.  36. Eine Identifizierung von Tradition mit Gewohnheit legt wieder gerade nahe M.  Landmann: Fundamental-Anthropologie. Bonn 1979, S.  101. 24  Die Beschäftigung mit Ritualen hat in der Philosophie in letzter Zeit eine gewisse Renaissance erlebt. Vgl. dazu M. S.-Y. Chwe: Rational Ritual. Culture, Coordination, and Common Knowledge. Princeton 2001; B.-C. Han: Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart. Berlin 2019; T. Macho: Das zeremonielle Tier. Rituale, Feste, Zeiten zwischen den Zeiten. Wien 2004. Aus anderer Perspektive vgl. auch J.  Karolewski, N. Miczek, C. Zotter: „Ritualdesign. Eine konzeptionelle Einführung“, in: dies. (Hrsg.): Ritualdesign. Zur kultur- und ritualwissenschaftlichen Analyse „­ neuer“ Rituale. Bielefeld 2012, S.  7–28 und als anthropologischen Klassiker R. A. Rappa­port: Ritual and Religion in the Making of Humanity. Cambridge 2006. 25  Vgl. z. B. J. Ortega y Gasset: Der Mensch und die Leute. S.  15. 26  Vgl. exemplarisch T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  214. 27  Vgl. G. Krüger: „Die Bedeutung der Tradition für die philosophische Forschung“, in: Studium Generale, Bd.  4 (1951), S.  321–328, hier S.  322 und R. Panikkar: „Die Zu­ kunft kommt nicht später“, in: L. Reinisch (Hrsg.): Vom Sinn der Tradition. München 1970, S.  53–64, hier S.  54.

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„custom“, „disposition“, „habit“, „fashion“, „institution“, „law“, „manner“, „maxim“, „mentality“, „mode“, „mores“, „norm“, „paradigm“, „practice“, „prejudice“, „ritual (rite)“, „routine“, „rule“, „scheme“, „skill“, „style“, „taste“, „technique“, „usage (use)“, „value“ und „way“.28 Diese Liste ist schon sehr umfangreich, aber beileibe nicht vollständig, denn die Dimen­ sion des Althergebrachten, Geschichtlichen, Historischen taucht beispiels­ weise in ihr noch gar nicht explizit auf. Was sich daran zeigt, ist eine be­ griffliche Vagheit dessen, was mit Tradition eigentlich genau gemeint sein soll – oder positiv formuliert: der Begriff bezeichnet ein komplexes Phäno­ men mit vielen Aspekten. Vor diesem Hintergrund ist eine Besinnung un­ abdingbar. Dies zumal noch besonders deshalb, weil neben die begriffliche Vagheit ein zweiter Befund tritt, nämlich die (schon angeführte) Feststellung, dass es eine breite und inflationäre Verwendung des Wortes gibt. Über Tradition wird alltagssprachlich wie wissenschaftsspezifisch fortwährend gespro­ chen, 29 der Terminus ist als terminus technicus nicht zu erkennen, gibt sich als selbstverständlich. Aleida Assmann markiert diese Auffälligkeit ganz im genannten Sinn: Das Wort gehört zu den unentbehrlichen Beständen der Alltags- und vor allem Sonn­ tagssprache, und keiner, der es in den Mund nimmt, riskiert, es definieren zu müssen. […] Dieser Traditionsbegriff meint eine Linie, die zur Beschreibung eines Sachverhalts aus der retrospektiven Beobachterperspektive konstruiert wird.30

Es scheint, als haben die begrifflichen Besinnungen, die es durchaus gege­ ben hat seit mindestens den theologischen Klärungen im ausgehenden Mit­ telalter,31 keinerlei Wirkungen erzielt. Der Rechtfertigungsdruck fehlt wei­ terhin, der Bedarf ist aber sachlich enorm. Gleichwohl ist die Klage über den unklaren Traditionsbegriff selbst schon „traditionell“, das heißt, sie wiederholt sich fortwährend.32 Aufgrund der geschilderten Vagheiten ist 28  Vgl. J. C. Nyíri: Tradition and Individuality. Essays. Dordrecht, Boston, London 1992, S.  55, 63. 29  Vgl. in diesem Sinne S.  W iedenhofer: „Tradition, Traditionalismus“, in: O. ­Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd.  6 . Stuttgart 1990, S.  607–650, hier S.  6 45. Dieser Artikel stellt die beste begriffsgeschichtliche Arbeit zum Traditionsbe­ griff dar. 30  A. Assmann: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer. Köln, Weimar, Wien 1999, S.  63. 31 Vgl. dazu die Hinweise in S.   K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. V. a. Kap.  2.3 und 2.4. 32  Als letzte Stimme dazu vgl. T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  5 f.

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dann auch die Tendenz aufgekommen, den Begriff ganz fallen zu lassen.33 Andere haben dessen fehlende semantische Markierungskraft bemängelt, weshalb der „Ausdruck ‚Tradition‘“ ein „problematischer Gegenstand“ sei, er „scheint oft semantisch ausgebrannt zu sein, tauglich nur noch als Leer­ formel der Wahlkampfsprache.“34 Diese Option, den Begriff wegen Vagheit oder semantischer Leere fallen zu lassen  – jedenfalls für den philosophi­ schen Sprachgebrauch  –, klingt naheliegend. Allerdings spricht dagegen eine wesentliche, schwerwiegende Tatsache, nämlich der Umstand, dass das Wort Tradition, herkommend vom lateinischen tradere, eine sprachge­ schichtliche Erfolgsgeschichte sondergleichen darstellt. Es fehlt nahezu in keiner europäischen Sprache, und zwar unabhängig davon, ob die jeweilige Sprache dem romanischen, germanischen oder finno-ugrischen Familien­ kreis angehört. Otakar Nahodil, der sich in der zweiten Hälfte des 20.  Jahr­ hunderts besonders um ein Verständnis von Tradition bemüht hat, betont diesen Befund.35 Er zählt 19 Sprachen auf,36 und diese Liste ist sicher nicht vollständig.37 Mitunter gibt es zwar spezifische, nicht auf die lateinische Wurzel zurückführbare Begriffe für etwas aus dem Phänomenkreis „Tra­ dition“, aber sehr häufig haben es die jeweiligen Sprecher offensichtlich als eine sinnvolle Handlung erachtet, das Wort zu übernehmen. Wenn nun die Philosophie ein Verständnis für lebensweltliche Zusammenhänge ent­ wickeln will, sollte eine solche Feststellung den Impuls stärken, die seman­ tische Attraktivität des Wortes zu untersuchen, statt es gleich wegen offen­ sichtlicher Vagheit aus dem wissenschaftlich relevanten Wortschatz zu streichen. Vielmehr muss untersucht werden, was Tradition eigentlich meint und woher seine semantische Vielgestaltigkeit kommt.38 Dass Men33  Vgl. zu dieser Beobachtung J. Zimmer: „Tradition“, in: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Bd.  4 . Hamburg 1990, S.  603–609, hier S.  606. 34  D. Teichert: Erfahrung, Erinnerung, Erkenntnis. Untersuchungen zum Wahrheits­ begriff der Hermeneutik Gadamers. Stuttgart 1991, S.  102. 35  Zu seiner Person und seinem Wirken vgl. K. Mácha: „Zum Geleit. Ein nichttradi­ tionaler Weg europäischer Traditionsforschung“, in: ders. (Hrsg.): Kultur und Tradi­ tion. Festschrift für Otakar Nahodil. München 1983, S.  3–7 und S. v. Werz-Kovacs: „Otakar Nahodil und seine wissenschaftliche Tätigkeit in der deutschen Wahlheimat“, in: K. Mácha (Hrsg.): Kultur und Tradition. Festschrift für Otakar Nahodil. München 1983, S.  9 –43. 36  O. Nahodil: Menschliche Kultur und Tradition. Kulturanthropologische Orientierungen. Aschaffenburg 1971, S.  26 ff. 37  Um nur eine Ergänzung zu nennen, hat auch das zumeist als isolierte Sprache verstandene Baskische das Wort „tradizioa“ in seinem Bestand. 38  Dabei ist freilich das Ideal einer stringenten Begriffsbestimmung weiterhin lei-

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schen diesen Begriff  – bei allen semantischen Verschiebungen durch die Zeiten – seit gut 2000 Jahren mindestens implizit als verwendungsfähig er­ achteten, sollte prima facie dazu anregen, ihn als nicht-leeren Begriff zu nehmen und seinen Beschreibungs- und Bezugsqualitäten nachzugehen. Die vorliegende Untersuchung verschreibt sich dieser Anregung. Bislang ist die eingangs an literarischen Beispielen angedeutete ambiva­ lente Lage der Tradition in zweierlei Hinsichten expliziert worden: einer­ seits wird der Umgang mit bestimmten Traditionen je nach Motivation an­ ders bewertet  – Antigone erfährt gemeinhin Lob, Beckmesser eher Ver­ achtung  –, andererseits wird der Begriffsumfang von Tradition entweder wegen vermeintlicher Selbstverständlichkeit gar nicht bedacht oder er er­ weist sich als vage bis inflationär überdehnt. Beide Diagnosen sind jedoch noch sehr allgemein. Im Folgenden soll an ausgewählten Eigenschaftszu­ weisungen an Traditionen gezeigt werden, wie weitreichend die Unsicher­ heit und damit letztlich die Unkenntnis im Hinblick auf den Begriff auch im Fachdiskurs sich verfestigt hat, vor dessen Hintergrund jede neue philo­ sophische Besinnung zwangsläufig operiert. Schon die Frage, ob Traditionen eigentlich ein specificum humanum sind oder nicht, erweist sich als unentschieden. Für die These, dass nur Men­ schen Traditionen haben, hat neben anderen 39 zum Beispiel Michael Land­ mann optiert: Das Bestimmtsein von Traditionen ist nun aber eine Eigentümlichkeit nur des Men­ schen. Wie schon die Stoiker wußten, werden die Tiere durch ihre Instinkte belehrt. Beim Menschen tritt an die Stelle der Instinkte nicht nur die erkennende und erfinden­ de Vernunft, sondern auch – und hierin ist die Stoa zu ergänzen – der Niederschlag der Vernunft in der Tradition. Wenn man ein junges Tier seinen Eltern wegnimmt und isoliert groß werden läßt, dann brechen trotzdem alle für seine Art typischen Verhal­ tensweisen von selbst in ihm durch […]. Das Tier hat eben keine geistigen Traditionen, die von Generation zu Generation weiter vererbt werden müßten, sondern Vererbung geschieht rein biologisch. […] Dem Menschen dagegen sagt keine angeborene innere tend. Aus der Vagheit gerade ein Vorteil zu machen und die sich aus der semantischen Unschärfe ergebende allseitige interdisziplinäre Anwendbarkeit zu loben, scheint kein guter wissenschaftlicher Impuls, denn dann werden gleichsam „alle Katzen grau“, wo­ mit gegen den derartigen Vorschlag Heike Kämpfs geredet sein soll (vgl. H. Kämpf: „Hermeneutik und Tradition“, in: Erwägen Wissen Ethik, Bd.  15 (2004), S.  257 f., hier S.  257 [Teil der Diskussionen des schon zitierten Beitrags von Wiedenhofer]). 39  Vgl. z. B. O. Nahodil: Menschliche Kultur und Tradition. S.  6 ; A. Rüstow: „Kul­ turtradition und Kulturkritik“, in: Studium Generale, Bd.  4 (1951), S.  307–311, hier S.  308; A. Toynbee: „Tradition und Instinkt“, in: L. Reinisch (Hrsg.): Vom Sinn der Tradition. München 1970, S.  35–52, hier S.  35 und T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  2 (wobei Winter die anthropologische These gar nicht für begründungsbedürftig zu hal­ ten scheint).

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Instinktstimme, was er jemals tun und lassen soll. Daher wäre er sogleich verloren und würde wieder untergehen, wenn er nicht immer schon von der Gruppe, in der er auf­ wächst, einen Schatz an Erfahrungen und an […] Praktiken mitbekäme […].40

Landmann nutzt hier das Theorem der Weltoffenheit, wie es in der philo­ sophischen Anthropologie im Ausgang von Jakob von Uexküll und weiter­ führend Max Scheler entwickelt worden ist, und versteht Traditionen als einen Kompensationsmechanismus im Angesicht der Instinktreduktion. Damit werden Traditionen zu grundlegenden, vielleicht sogar mehr oder weniger automatisierten Weltbezugsweisen, denen das Individuum – nach dem ontogenetischen Erwerb – nicht mehr leicht entkommen kann. Gegen diese Position ist aber grundlegend Einspruch erhoben worden sowohl von philosophischer als auch biologischer Seite. Scheler hatte lange vor Land­ mann auch das Tier als Traditionswesen angesehen,41 wobei die Betonung darauf lag, dass das Tier nicht auch Tradition habe, sondern es habe noch immer „bloß“ Tradition. Dieter Claessens bringt Schelers Position so auf den Punkt: Sicherungsweise und Auffälligkeit eines mit solcher Intelligenz versehenen Wesens [d. h. des Tieres; S.K.] zeigen sich im Stil seines Lebens, der mit dem Begriff der Tradi­ tion umschrieben werden kann. Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, daß er Tradi­tio­ nen abbaut, d. h. die von ihm selbst geschaffene Sicherheit zugunsten höherer Beweg­ lichkeit verringert. […] Der Mensch ist ein Wesen, das sich aus den Fesseln, aber auch aus der Sicherheit erst pflanzenhaften, dann instinktgeleiteten Lebens herausgearbeitet hat.42

Die neuesten (verhaltens-)biologischen Forschungen – etwa von Frans de Waal, Eva Jablonka und anderen43 – legen nahe, dass Tiere sehr wohl über Traditionen verfügen. Jedenfalls ist es offensichtlich im biologischen Fach­ diskurs ohne Weiteres möglich, von Traditionen bei Tieren zu sprechen – 40 

M. Landmann: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. Geschichts- und Sozialanthropologie. München, Basel 1961, S.  136 f. Folglich zählt Landmann Traditio­ nalität auch zu den 23 Anthropina, also den anthropologisch fundamentalen Katego­ rien (vgl. dazu ders.: Fundamental-Anthropologie. S.  139–147, zum Menschen als Tradi­ tionswesen auch ebd., S.  63, 66, 159 f.). 41  Vgl. M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Bonn 1995, S.  29. 42  D. Claessens: Instinkt. Psyche. Geltung. Bestimmungsfaktoren menschlichen Verhaltens. Eine soziologische Anthropologie. Köln, Opladen 1968, S.  22 f. 43 Vgl. z. B. D. M. Fragaszy, S.  Perry: „Towards a Biology of Tradition“, in: dies. (Hrsg.): The Biology of Tradition. Models and Evidence. Cambridge 2003, S.  1–32, hier z. B. S.  3, 5, 12; E. Jablonka, M. J. Lamb: Evolution in Four Dimensions. Genetic, Epigenetic, Behavioral, and Symbolic Variation in the History of Life. Cambridge 2006, hier z. B. S.  156–165 oder F. de Waal: Der Affe und der Sushimeister. Das kulturelle Leben der Tiere. Übers. v. U. Rennert. München 2005, z. B. S.  23, 34, 254.

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seien es Primaten44 , Vögel45 oder Ratten46 . Als berühmtestes Beispiel dafür sind die Makaken zu betrachten, die auf der japanischen Insel Koshima le­ ben und die innerhalb kürzester Zeit das von einem einzelnen Individuum, der Affendame Imo, erlernte Verhalten, ausgegrabene und daher mit Sand verunreinigte Süßkartoffeln vor dem Verzehr im Meer zu waschen, als Gruppe übernommen und an ihre Neugeborenen immer wieder weiterge­ geben haben.47 Eine solche Position bestreitet gegen Landmann die humane Exklusivität einerseits, gegen Scheler die Abwertung von Tradition ande­ rerseits und setzt Menschen und Tiere nicht prinzipiell auf unterschiedliche Traditionsvermögensstufen. Alle drei möglichen Optionen liefern durch­ aus Argumente für ihre Thesen. Scheler will darauf hinweisen, dass Tradi­ tionen feste Bahnungen sind, von denen sich der Mensch freimachen kann, das Tier aber nicht (oder jedenfalls nur sehr bedingt); Landmann akzeptiert mit Scheler den hohen Freiheitsgrad des Menschen in diesem Sinne, ver­ weist jedoch darauf, dass ein solches Wesen auf kulturell überlieferte und stabilisierende Mechanismen, eben Traditionen, angewiesen ist, um überle­ bensfähig zu sein; schließlich argumentiert die Biologie empirisch geerdet dafür, auch bei bestimmten Tierpopulationen die Entwicklung neuer Prak­ tiken und deren etablierende Perpetuierung attestieren zu müssen. Aus philosophischer Sicht liegt – vermutlich – keine der drei Positionen falsch, sie reden nur nicht über Tradition in einem univoken Sinne. Um dies an einem Gedanken zu verdeutlichen, wäre es etwa widerspruchsfrei möglich, 44 

Für entsprechende Literaturhinweise siehe in diesem Kap.  Fußnote 47. E. Avital, E. Jablonka: Animal Traditions. Behavioural Inheritance in Evo­ lution. Cambridge 2005, S.  84; L. M. Aplin, D. R. Farine, J. Morrand-Ferron, A. Cock­ burn, A. Thornton, B. C. Sheldon: „Experimentally Induced Innovations Lead to Per­ sistent Culture via Conformity in Wild Birds“, in: Nature, Bd.  518 (2015), S.  538–541, hier v. a. S.  538 und als bekanntes Beispiel die Beobachtungen aus England, wo Spatzen es in kürzester Zeit scharenweise erlernten (zunächst innovativ, dann „traditionell“), die Verschlüsse von Milchflaschen zu öffnen, welche Lieferanten auf Veranden abge­ stellt hatten (dazu E. Jablonka, M. J. Lamb: Evolution in Four Dimensions. S.  169 f.). 46  Vgl. E. Jablonka, M. J. Lamb: Evolution in Four Dimensions. S.  170 f. und E. Avital, E. Jablonka: Animal Traditions. S.  133–137, 339 f. 47  Dieses Beispiel hat für die Frage nach Kultur (und Tradition) bei Tieren inzwi­ schen paradigmatischen Status erhalten. Aus der Unzahl der Bezugnahmen seien er­ wähnt: F. de Waal: Der Affe und der Sushimeister. S.  189–194; E. Jablonka, M. J. Lamb: Evolution in Four Dimensions. S.  178; K. N. Laland, J. R. Kendal, R. L. Kendal: „Ani­ mal Culture: Problems and Solutions“, in: K. N. Laland, B. Galef (Hrsg.): The Question of Animal Culture. Cambridge, London 2009, S.  174–197, hier S.  182 und L. L. Cavalli-­ Sforza, M. W. Feldman: Cultural Transmission and Evolution. A Quantitative A ­ pproach. Princeton 1981, S.  3. Einen herausragenden Status hat dieser Fall deshalb, weil Entste­ hung und Verbreitung des Verhaltens direkt beobachtet werden konnten. 45  Vgl.

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Tieren und Menschen Traditionen zuzugestehen (pro Jablonka und ande­ ren), aber nur dem Menschen die Fähigkeit (pro Landmann), sich bewusst aus Traditionen herauszunehmen (und nicht bloß akzidentell durch Verges­ sen o. ä.) bzw. diese bewusst neu zu stiften (pro Scheler). Eine solche Diffe­ renzierung böte die Möglichkeit, allen drei genannten Ansichten ihr Recht zuzugestehen und dennoch ein trennschärferes Bild von dem, was denn Tradition nun eigentlich bedeuten soll, zu zeichnen. Freilich kommt es vorerst noch nicht auf die Schärfung des Blickes an, sondern weiterhin darauf, Problemsensibilität zu wecken angesichts eines opaken und nur scheinbar selbstverständlichen Wortes. Die Notwendig­ keit dazu verdeutlicht auch eine zweite Eigenschaft, welche nicht minder umstritten ist, nämlich die der Explizitheit. Manche Autoren halten Tradi­ tionen für das, was unmittelbar auffällt, beeindruckt, abstößt und so wei­ ter. Traditionen sind etwas, das hervorsticht. Dies ist in zweierlei Hinsicht zu verstehen. Zum einen sind sie auffällig, weil sie als besondere, heilige, wertvolle, außergewöhnliche Praktiken, Bestände und dergleichen sich vom Hintergrund des nur Gewöhnlichen, Alltäglichen, Üblichen abheben. In diesem Sinne umreißt zum Beispiel Pascal Boyer den Begriff Tradition: The ‚traditional‘ cultural phenomena […] can be briefly characterised by the following features: (i) they are instances of social interaction; (ii) they are repeated; (iii) they are psychologically salient. […] An utterance of a gesture will not be considered traditional if it does not focalise people’s attention more than ordinary discourse or actions.48

Das Nachvollziehbare an diesem Gedanken ist, dass Traditionen mitunter als eine Besonderheit durchaus ins Auge zu springen vermögen. Die Ech­ ternacher Springprozession, das katholische Taufritual oder eine universi­ täre Immatrikulationsfeier stechen hervor in ihrer Andersartigkeit, welche dann wahlweise gemocht oder verdammt werden kann. Andererseits sind Traditionen auch auffällig, weil die sie habenden und pflegenden Menschen oder Kulturen sich ihrer bewusst sind. Traditionen werden im Sinne geziel­ ter Identitäts- und Selbstfindung explizit als solche thematisiert. Erich ­Rothacker hat dies als „Traditionsbewusstsein“ von der „naiven“ Tradition unterschieden und so umrissen: „[J]ede Kultur hat nicht nur eine ­Tradition, sondern schafft sich auch, um sich vor ihrem bewußten Selbstverständnis 48  P. Boyer: Tradition as Truth and Communication. A Cognitive Description of Traditional Discourse. Cambridge 2006, S.  1 f. (Hervorh. im Orig. anders). Ähnlich, wenn auch etwas differenzierter sind die einführenden Bemerkungen bei G. Murray: The Classical Tradition in Poetry. Cambridge 1927, S.  1–5.

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als dieselbe zu fühlen, ein Traditionsbewußtsein.“49 Ein solches explizites Bewusstsein wird auch Tradition genannt, etwa dann, wenn in politischen Reden das Bekenntnis zur „abendländischen“ oder „griechischen ­Tradition“ erfolgt. Damit aber deutet sich schon an, dass eine so verstandene Tradition stärker konstruiert als gefunden wird50 – dazu jedoch gleich. Gegen dieses zweifache Explikationsdenken betonen wiederum andere Autoren, dass das Wesen der Tradition gerade darin liege, unauffällig, hin­ tergründig51 zu wirken. In diesem Sinne sind Menschen immer schon der Tradition als dem Alltäglichen verfallen und etwas wird als Tradition nur auffällig, wenn es Defizite und Probleme – beispielsweise des Verständnis­ ses – gibt. Ein paradigmatischer Vertreter dieser These ist Martin Heideg­ ger, dem später Hans-Georg Gadamer gefolgt ist. Im Rahmen seiner Kritik an ontologischen Weichenstellungen in der Philosophiegeschichte stellt Heidegger fest: […] [D]as Dasein hat nicht nur die Geneigtheit, an seine Welt, in der es ist, zu verfallen und reluzent aus ihr her sich auszulegen, Dasein verfällt in eins damit auch seiner mehr oder minder ausdrücklich ergriffenen Tradition. Diese nimmt ihm die eigene Führung, das Fragen und Wählen ab. […] Die hierbei zur Herrschaft kommende Tradition macht zunächst und zumeist das, was sie ‚übergibt‘, so wenig zugänglich, daß sie es vielmehr verdeckt. Sie überantwortet das Überkommene der Selbstverständlichkeit und verlegt den Zugang zu den ursprünglichen Quellen.52

Heidegger hat an dieser Stelle ein sehr spezifisches Erkenntnisinteresse, auf das es aber nicht ankommt. Wichtig ist allein, genau zu sehen, welche im­ plizite Annahme über Tradition ihn leitet, und die ist derart, dass Tradition zur verbergenden Nivellierung tendiert, das heißt gerade zur Beseitigung von Auffälligkeit. Der Mensch ist Tradition schlimmstenfalls als dem „Normalen“, „Alltäglichen“ verfallen. Vieles, was man als Teil einer Tradi­ 49 

E. Rothacker: „Was heißt ‚Tradition‘ des Altertums?“, in: UB Bonn, Nachlass Ro­ thacker VI, Mappe 02, 25 Blatt, hier Blatt 23 (unveröffentlicht). Dieser Vortrag ist un­ datiert, vermutlich aber nach 1945 (ebd., Blatt 17) entstanden. 50 Vgl. so auch den Zusammenhang zwischen explizitem Traditionsbewusstsein und als Kehrseite dessen utilitaristisch orientierte Mach- und Konstruierbarkeit bei J. R. Gusfield: „Tradition and Modernity. Misplaced Polarities in the Study of Social Change“, in: American Journal of Sociology, Bd.  72 (1967), S.  351–362, hier S.  358. 51  Man könnte vom Motiv der Hintergründigkeit auch Parallelen ziehen zu John Searles Erwägungen, wonach Menschen zur Ausbildung (kollektiv) intentionaler Zu­ stände auf etwas bereits Vorgegebenes – Traditionen hätten hier vielleicht ihren Platz – angewiesen sind (vgl. dazu J. Searle: Wie wir die soziale Welt machen. Die Strukturen menschlicher Zivilisation. Übers. v. J. Schulte. Berlin 2012, z. B. S.  57). Dies wird hier jedoch nicht weiterverfolgt. 52  M. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 2001, S.  21.

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tion verstehen kann, wird gerade nicht bewusst, nicht thematisch.53 Oder um den Zusammenhang von Selbstverständlichkeit und sekundärer Auf­ fälligkeit im Kontext von Defiziten mit Gadamers Worten noch einmal zu­ sammenzufassen: „Die Tradition, zu deren Wesen selbstverständliche Wei­ tergabe des Überlieferten gehört, muß fragwürdig geworden sein, damit sich ein ausdrückliches Bewußtsein der hermeneutischen Aufgabe, die Tra­ dition anzueignen, bildet.“54 Ohne das weiter vertiefen zu müssen, geht mit den angedeuteten Dicho­ tomien von explizit – implizit sowie auffällig – unauffällig eine weitere pa­ rallel, nämlich die von bedeutsam – beiläufig.55 Wenn Traditionen hinter­ gründig sind, ist ihnen eher beiläufiger Charakter eigen,56 es sei denn, es kommt zum Streit um sie. Wenn Traditionen hingegen mit Auffälligkeit notwendig verbunden sind, erhalten sie fast zwangsläufig auch hohen Be­ deutsamkeitswert. Es war schon darauf hingewiesen worden, dass ein am Modell des Expli­ ziten, des Auffälligen orientiertes Traditionsverständnis auch Implikatio­ nen für eine andere Eigenschaftsdimension hat, nämlich die Dichotomie von gemacht  – gefunden. Die Diskussionen um Traditionen vor allem in den Geschichts- und Kulturwissenschaften sind stark geprägt von der mit Eric Hobsbawms Theorie verbundenen Idee, dass Traditionen Konstruk­ tionen, genauer „inventions“ sind.57 Dieser Ansatz beruht auf der Beobach­ tung, dass besonders die vor allem im 19.  Jahrhundert entstehenden Natio­ nalstaaten Europas sich auf historische Praktiken, Symbole und so weiter 53  Vgl. dazu auch – ganz ohne Anleihen bei Heidegger – M. Freeman: „Tradition und Erinnerung des Selbst und der Kultur“, in: H. Welzer (Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001, S.  25–40, hier S.  32. Gegen die These der verbergenden Wirkungen kann gleichwohl gerade mit Gadamer und Roth­ acker auf die sichtbar machende Wirkung von Traditionen hingewiesen werden. So ver­ mag nur ein in der Tradition der abendländischen Musik Geschulter zu hören, dass es sich bei bestimmten Werken um Fugen handelt  – in diesem hermeneutischen Sinne könnte also Tradition gerade als entbergende zu verstehen sein. 54  H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1965, S.  X IX. 55 Auch die Oppositionspaare bewusst  – unbewusst und vordergründig  – hintergründig gehören in diesen Kontext. Da hier aber nur eine Auswahl umstrittener Eigen­ schaftszuerkennungen thematisch werden soll, mögen diese Hinweise genügen. 56  Im Sinne der Beiläufigkeit hielt etwa Carl August Emge die Tradition für empi­ risch schwer zu fassen (vgl. C. A. Emge: „Zur Philosophie der Tradition“, in: H. Wenke (Hrsg.): Geistige Gestalten und Probleme. Eduard Spranger zum 60.  Geburtstag. Leip­ zig 1942, S.  253–266, hier S.  254). 57  Maßgeblich dafür E. Hobsbawm: „Introduction: Inventing Tradition“, in: ders., T. Ranger (Hrsg.): The Invention of Tradition. Cambridge 2012, S.  1–14.

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beziehen, um sich Wert, Bedeutung, Geschichte zuzuerkennen. Eine Ana­ lyse zeigt – am bekanntesten ist sicher der Fall des Kilts, des sogenannten „Schottenrocks“, der als spezifisch schottische Tradition erst im 18.  Jahr­ hundert thematisch wird –,58 dass es oft zu Neustiftungen von Traditionen kommt, die sich den Anschein der Altertümlichkeit geben. Solche erfunde­ nen Traditionen definiert Hobsbawm so: The term ‚invented tradition‘ is used in a broad, but not imprecise sense. It includes both ‚traditions‘ actually invented, constructed and formally instituted and those emerging in a less easily traceable manner within a brief and datebale period – a matter of a few years perhaps – and establishing themselves with great rapidity. […] ‚Invented tradition‘ is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past. […] Inventing traditions, it is assumed here, is essentially a process of formaliza­ tion and ritualization, characterized by reference to the past, if only by imposing repe­ tition.59

Eine genaue Erörterung dessen, was Hobsbawm vor Augen hat, soll zu­ rückgestellt bleiben, 60 wichtig ist zu sehen, dass Traditionen als mensch­ liche Hervorbringungen mit bestimmten Funktionen  – Implementierung von Normen und Werten etwa – verstanden werden. Dieses nutzenfokus­ sierte, funktionalistische und konstruktivistische Verständnis kann insge­ samt als prägend für das Denken im 20.  Jahrhundert gelten, es ist aber nicht alternativlos. Schon Antigone hatte gegen Kreon ja die erkennbare mensch­ liche Herkunft der νόμοι als einer der Gründe ihres Zuwiderhandelns her­ vorgehoben, und ein ähnliches Motiv prägt ebenso den sogenannten Tradi­ tionalismus René Guénons, das Denken Zieglers, Piepers61 wie auch das­ 58  Vgl. dazu H. Trevor-Roper: „The Invention of Tradition: The Highland Tradition of Scotland“, in: E. Hobsbawm, T. Ranger (Hrsg.): The Invention of Tradition. Cam­ bridge 2012, S.  15–41, v. a. S.  20–24. 59  E. Hobsbawm: „Introduction: Inventing Tradition“. S.  1, 4. 60  Vgl. dazu S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. Kap.  3.19. 61  Dazu vgl. z. B. Guénons Hinweis, nichts, was zum rein menschlichen Bereich ge­ hört, als Tradition anzuerkennen (vgl. R. Guénon: Die Krise der modernen Welt. Übers. v. U. Kunzmann. Berlin 2020, S.  46). Ziegler spricht von der einen integralen oder ei­ gentlichen Überlieferung, die dem Menschen von Gott – also einem Nicht-Menschen – her zugekommen ist (vgl. L. Ziegler: Überlieferung. S.  270 f. und passim). Damit steht Ziegler in der Linie des katholischen Traditionsverständnisses, denn dort gilt als Tradi­ tion das, was in irgendeiner Weise göttlichen Ursprungs ist – sei es direkt von Gott ge­ stiftet oder über Zwischenstationen auf diesen rückführbar (vgl. dazu O. Müller: „Zum Begriff der Tradition in der Theologie der letzten hundert Jahre“, in: Münchner Theologische Zeitschrift, Bd.  4 (1953), S.  164–186, hier S.  164–167 und Y. M. J. Congar: Die Tradition und die Traditionen. Bd.  I. Übers. v. H. Simon-Roux. Mainz 1965, S.  11, 20,

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jenige Gerhard Krügers. Dieser behauptet nämlich, dass Tradition etwas Gefundenes – oder genauer: Zu-Findendes – ist, nichts, was dem Menschen als aktivem Schöpfer zur Verfügung stünde: Wir sind in einem solchen Maße Herren der Dinge, daß wir einen wesentlichen An­ spruch von ihnen selbst, nach dem wir uns mit unserer Stellungnahme richten müßten, faktisch gar nicht mehr kennen. […] [W]ir […] als moderne, souveräne, aus der Aufklä­ rung herkommende Menschen [sträuben] uns grundsätzlich dagegen […], eine uns in­ nerlich überragende, weltbeherrschende Macht, einen gebietenden Gott, anzuerkennen. […] Di[e] natürliche Offenbarung Gottes ist […] der schöpferische Grund des in seiner Tradition andauernden Mensch-seins. 62

Statt, wie bei Hobsbawm, die Menschengemachtheit der Tradition zu beto­ nen, wird – vor allem durch christliche Denker – die menschentranszen­ dierende Abkunft dieser akzentuiert. Auch atheistisch argumentierende Theoretiker haben dieses Motiv implizit aufgegriffen, zum Beispiel wenn darauf hingewiesen wird, dass etwas nur als Tradition wirken kann, inso­ fern eine  – örtlich, zeitlich, gegebenenfalls personell  – konkrete Stiftung verborgen liegt. 63 Derartige Verschleierungen sind zum Beispiel von Hobs­ bawm und anderen anerkannt worden und sie haben – so steht zumindest zu vermuten  – nur Sinn, weil Traditionen offensichtlich manchmal nicht einfach als bewusste Setzungen daherkommen dürfen, um genuin als Tra­ dition gelten zu können. Schon der Apostel Paulus hatte in diesem Sinne Wert darauf gelegt, nicht selbst Urheber seiner theologischen Anweisungen zu sein. Er formulierte eindrücklich an die mit ihm brieflich verbundenen Gemeinden: „Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich emp­ fangen habe.“64 „Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch über­ 25, 36 ff.). Zu Piepers Ansatz vgl. J. Pieper: „Tradition in der sich wandelnden Welt“, in: ders.: Tradition als Herausforderung. Aufsätze und Reden. München 1963, S.  11–35, v. a. S.  23 ff., 28 und ders.: Über den Begriff der Tradition. S.  15. 62  G. Krüger: Geschichte und Tradition. Stuttgart 1948, S.  24 f. Krüger nennt diese offenbarte Tradition „Urtradition“. 63  Vielleicht ist dies eine wesentliche Dimension, in der die Aussagen Theodor Ador­ nos über Tradition zu verstehen sind. Die Kritik durch die Vernunft habe dafür gesorgt, dass Traditionen ihren Ursprung nicht mehr als transhuman ausweisen können, wo­ durch sie dann unmöglich würden. Vgl. T. W. Adorno: „Über Tradition“, in: ders.: ­Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild. Frankfurt 1977, S.  310–320, v. a. S.  315. Als Hintergrund dazu auch M. Horkheimer, T. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt 1987, z. B. S.  25, 35, 116, 234 f. Einige Überlegungen zum Traditionsbegriff bietet auch Max Horkheimer (vgl. M. ­Horkheimer: „Tradition“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd.  6. Hrsg. v. A. Schmidt. Frankfurt 1991, S.  231 und sachlich interessant ders.: „Lob der Gewohnheit“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd.  14. Hrsg. v. G. Schmid Noerr. Frankfurt 1988, S.  6 4). 64 Paulus: 1 Kor 15,3 (zitiert nach: Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsüber­

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liefert habe […].“65 Je nach Blickwinkel werden Traditionen daher als das Gemachte oder nicht-gemachte Vorgefundene verstanden. Um es noch einmal zu betonen, es geht hier nicht darum, zu entscheiden, welche der jeweiligen theoretischen Optionen die zutreffendere ist, son­ dern allein darum, nachzuweisen, dass der Fachdiskurs im Hinblick auf Tradition disparate, teilweise widersprüchliche Aussagen kennt und ak­ zeptiert. Die Merkmalszuerkennung weist oft dichotome Struktur auf. Die ausgewählten Beispiele haben das verdeutlicht, aber um die ganz prinzi­ pielle Problemlage noch weiter zu explizieren, ist eine fortgesetzte Exegese sinnvoll und notwendig. Dies hat auch Wiedenhofer schon gesehen. Er sagt richtig, dass der Traditionsbegriff zu den „theoretisch ungeklärtesten Be­ griffen“ gehöre, und meint, dass sich die Spannungshaftigkeit, ja Widersprüchlichkeit des neuzeitlichen Denkens in ei­ nem Wettbewerb nicht mehr miteinander harmonisierbarer (dogmatischer, rationalisti­ scher, romantischer, positivistischer, hermeneutischer, konstruktivistischer) Traditions­ begriffe [wiederholt]. 66

Ob nicht eine phänomenologische Analyse des Phänomens „Tradition“ doch Hinweise auf Harmonisierbarkeit liefern kann, bedenkt Wiedenhofer nicht, jedoch mag das vorerst dahingestellt bleiben. Wichtig ist, dass nur das Aufmerksam-Machen auf die widersprüchlichen Verwendungen des Begriffs sensibilisieren kann für die Probleme, die mit Tradition verbunden sind. Die zu klärenden Aspekte liegen dabei nicht nur auf hohem Abstraktions­ niveau, wie vielleicht bei der Frage nach der Machbarkeit, sondern schon auf ganz basaler Ebene. Es ist mehrfach von Autoren bemerkt worden, 67 setzung. Freiburg, Basel, Wien 1999, S.  1287). Im griechischen Text steht dort für „über­ liefert“ eine Form von παραδιδόναι. Zum Zusammenhang von παραδιδόναι mit dem ­lateinischen tradere vgl. S.  Wiedenhofer: „Tradition, Traditionalismus“. V. a. S.  607–615 und A. Deneffe: Der Traditionsbegriff. Studie zur Theologie. Münster 1931, v. a. S.  1–18. 65 Paulus: 1 Kor 11,23 (zitiert nach Bibel. S.  1284). Zu Paulus’ Traditionsverständnis vgl. O. Cullmann: Die Tradition als exegetisches, historisches und theologisches Problem. Zürich 1954, S.  8 ff.; Y. M. J. Congar: Die Tradition und die Traditionen. S.  22–30 und A. Deneffe: Der Traditionsbegriff. S.  15. Kritisch zu sehen ist die Aussage Julius Ebbinghaus’, Paulus sei ein Feind der Tradition (vgl. J. Ebbinghaus: Traditionsfeindschaft und Traditionsgebundenheit. Frankfurt 1969, S.  7), denn Paulus ist gerade ein Verfechter der wahren Tradition (in seinem Sinne) und des Prinzips der Traditionalität an sich, an das er die Gemeinden explizit erinnern möchte. 66  S.   W iedenhofer: „Tradition – Geschichte – Gedächtnis“. S.  2 30. Wiedenhofer lie­ fert (vgl. ebd., S.  235) eine teilweise ähnliche Liste von „differentiellen Bestimmungen“, wie sie hier anhand der dichotomen Merkmalszuerkennungen behandelt wird. 67  Vgl. andeutend in diese Richtung P. Boyer: Tradition as Truth and Communica-

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dass oft nicht klar geschieden wird, ob Tradition der Prozess ist – also die Weitergabe durch iterierte Praktiken, Belehrungen und so weiter – oder der Gehalt – also der konkrete Inhalt. Man kann von der Opposition formal – substantiell sprechen. Als Form ist die Tradition der Vollzug des Weiter­ gebens, beschreibt mithin eine bestimmte Handlungsweise von Menschen (oder gegebenenfalls Tieren), als Substanz ist sie ein angebbarer Bestand von zum Beispiel Normen, Werten, Praktiken und dergleichen. Manche Autoren changieren zwischen beiden Bedeutungen, ohne dies zu kenn­ zeichnen. Um das an einem Fall zu verdeutlichen, sei erneut Landmann zitiert, der einerseits sagt: Die Tradition […] kann, so wie sie vom Menschen geschaffen wurde, von ihm auch wieder umgeschaffen werden. Ihr Zwang ist nicht absolut. Es liegt immer grundsätzlich in unserer Macht, gegen sie zu rebellieren und von ihr abzuweichen. 68

Im selben Text findet sich aber auch die Bestimmung der Tradition als „Form, in der einst schon Gefundenes bewahrt wird […].“69 Im ersten Ge­ dankengang geht es um eine konkrete, inhaltlich bestimmte Tradition, die zu verändern – dem Gehalt nach – möglich ist. Historisch hat sich, wie eth­ nologische und historische Forschungen eindrücklich gezeigt haben, keine Tradition unverändert durch die Zeiten erhalten. Der Streit auf dem Konzil von Trient etwa ist nichts anderes als ein Kampf um die Legitimierung oder Diskreditierung von historischen Traditionsvarianten. Das zweite obige Zitat allerdings versteht Tradition als Form des humanen Vergangenheits­ bezugs, die, insofern sie auch ein Anthropinon darstellt, gerade nicht ver­ änderbar ist. Immer muss der Mensch, mit Landmann gegen Landmann gesprochen, Tradition haben, das ist – als Form – nicht seinem Tun anheim­ gestellt. Diese begriffliche Unsauberkeit ist nicht nur beiläufig, sondern hat – über Landmann hinaus – wesentliche Konsequenzen, denn das Wort Tradition ist im Alltagsdiskurs normativ wie politisch einschlägig konno­ tiert. Oft treten vermeintlich konservative Politiker im Namen der Tradi­ tion auf, wobei es meist um eine ganz bestimmte, lokal wie zeitlich fixier­ bare geht, während scheinbar progressive Kräfte sich traditionskritisch geben, aber gerade für die Perpetuierung – sprich: Tradierung – ihres Wer­ tekanons plädieren. Die Differenz zwischen Form bzw. Prozess und Inhalt bzw. Substanz ist von nicht zu unterschätzender Tragweite. tion. S.  9; O. Nahodil: „Traditions as Definiens of Culture“, in: World Futures. The Journal of New Paradigm Research, Bd.  34 (1992), S.  187–200, hier S.  190 und S.  Wieden­ hofer: „The Logic of Tradition“. S.  25. 68  M. Landmann: Fundamental-Anthropologie. S.  72. 69  M. Landmann: Fundamental-Anthropologie. S.   146.

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Verbunden mit dieser Unterscheidung ist eine zweite, die allerdings auf mehr als einer Ebene anzusiedeln ist, nämlich die zwischen dem Singular und dem Plural.70 Als Form müsste das Wort Tradition im Singular – und nur im Singular – auftreten, als Inhalt ist es des Plurals fähig. Aber auch die inhaltliche Vielfalt ist bestritten worden, wenn man sich die schon ange­ führten Überlegungen Guénons und Zieglers vor Augen führt, die an eine gemeinsame Urtradition hinter allen konkreten Erscheinungen glauben: Welche Form der wahre traditionelle Geist auch annimmt, im Grunde ist er überall und immer derselbe. Die unterschiedlichen Formen, die an diese oder jene geistigen Bedin­ gungen, diese oder jene zeitlichen oder örtlichen Umstände besonders angepasst sind, erweisen sich nur als Äußerungen ein und derselben Wahrheit; doch man muss in der Lage sein, die Position der reinen Geistigkeit einzunehmen, um diese grundsätzliche Einheit hinter der scheinbaren Vielfalt zu entdecken.71

Je nach Verständnis wäre der Traditionsbegriff mehrzahlfähig oder nicht.72 Gleichermaßen ist damit ebenfalls sein Umfang mitthematisiert, der vom ganz Großen – hintergründige Gesamtweltdeutung – bis zum vielfältigen Kleinen – die Art des Zähneputzen oder des Grüßens – reichen kann.73 Die Gegenwart neigt angesichts einer generellen Tendenz zum Pluralismus auch in den (Kultur-)Wissenschaften dazu, den Begriff weit zu fassen, so dass sehr vieles als Tradition imponieren kann.74 Dadurch werden auch zwei weitere Merkmale mit angesprochen, nämlich erstens die Dimension der Ent- oder Belastung und zweitens die von heiß  – kalt. Werden unter Traditionen ganz alltägliche Praktiken wie die Art des Zähneputzens oder der Kleidung verstanden, dominiert die Betonung der entlastenden Funk­ 70 

Yves Marie Joseph Congar hat diese Unterscheidung sogar zum Titel seines Wer­ kes gemacht (vgl. Y. M. J. Congar: Die Tradition und die Traditionen). 71  R. Guénon: Die Krise der modernen Welt. S.  48. Vgl. dazu als gegenwärtigere Er­ scheinung die religiöse Strömung des Bahaitums, deren Vertreter an eine einzige, aber fortschreitende Offenbarung durch alle empirisch vorfindbaren Religionen hindurch glauben. 72 Für eine am Singular orientierte Position vgl. neben Guénon auch W. Kasper: „Tradition als Erkenntnisprinzip“, in: W. Löser, K. Lehmann, M. Lutz-Bachmann (Hrsg.): Dogmengeschichte und katholische Theologie. Würzburg 1985, S.  376–403, hier v. a. S.  391, 393; für den Plural vgl. A. I. Goldman: Knowledge in a Social World. Oxford 1999, S.  354. Pieper nimmt eine vermittelnde Position ein (vgl. J. Pieper: Überlieferung. S.  71). 73  In diesem Sinne operieren mit der Differenz „großer Umfang – kleiner Umfang“ z. B. F. W. Foerster: Autorität und Freiheit. Betrachtungen zum Kulturproblem der Kirche. Kempten, München 1911, S.  58; J. R. Gusfield: „Tradition and Modernity“. S.  353 und K. Stavenhagen: Heimat als Lebenssinn. Göttingen 1948, S.  118. 74 Winters Arbeit etwa neigt zu einer solchen Hypertrophie.

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tion im Sinne Arnold Gehlens.75 Dann wird Tradition zu einem Mechanis­ mus, der dem freien, weltoffenen Individuum Entscheidungen abnimmt, ihm Ressourcen für weitergehende Unternehmungen sichert, indem er das Unmittelbare, Alltägliche schon immer geregelt hat. Wird Tradition hinge­ gen als das Große, Wertvolle, gar Heilige verstanden, kann damit zwar eine ähnliche Bahnung gemeint sein, diese erfordert aber eine aktive Zuwen­ dung, die gerade in unbequemen Ritualen und Praktiken sich äußert. Tradi­ tion vermag dann, belastende Forderungen zu stellen, sie wird zum Nicht-­ Bequemen. Belastend kann sie zudem auch werden, wenn ihre Bahnungen nicht mehr zum Status quo passen, wenn sie gleichsam aus der Zeit gefallen sind. In jedem Fall ist es also nicht ausgemacht, ob Traditionen be- oder entlastend wirken.76 Aber der Umfang hat nicht nur Bezug zur psychoöko­ nomischen Daseinssphäre, sondern auch in affektiver Hinsicht zeitigt er Folgen. Man kann Traditionen in kalte und heiße unterscheiden, was sich meist dann zeigt, wenn sie zur Disposition stehen. An der Beibehaltung oder Abschaffung der Art des Zähneputzens hängen die meisten Menschen vermutlich weit weniger als an der Weise des Sprechens oder der politischen Gesellschaftsstruktur. Ist es aber für Traditionen essentiell, dass sie heiß sind, oder fallen auch kalte Formen des Bezugs darunter? Anthony Gid­ dens hat besonders auf den „affektiven Unterbau“ der Traditionen hinge­ wiesen,77 andere dagegen halten auch bloße Gewohnheiten und Routinen, die vielleicht gar unter allen möglichen Umständen den Menschen gleich­ gültig sind, sie gleichsam kalt lassen, für Traditionen. Ähnlich disparat zeigen sich die Ansichten dahingehend, ob Traditio­ nen – gedacht ist hier an konkrete Inhalte, nicht eine bloße Form – dynamischen oder statischen Charakters sind. Das heißt, es steht zur Disposition, ob es Veränderungen geben kann. Ein Vertreter der These, dass Traditio­ 75 

Vgl. dazu Gehlens Verständnis von Traditionen als „für unsere innere Gesundheit Unverzichtbares“ (A. Gehlen: „Das Bild des Menschen im Lichte der modernen An­ thropologie“, in: ders.: Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen. Reinbek 1961, S.  55–68, hier S.  6 4). 76  Es gibt auch die Dimension der Anstrengung, die Traditionen einfordern oder eben nicht. Vgl. die Rede von manchen Traditionen, die „faul“ machen, bei V. G. Childe: Man Makes Himself. Nottingham 2003, S.  30 (gleichwohl politisch zu lesen, da es gegen einen Konservatismus geht, den der Sozialist Vere Gordon Childe sich zu kritisieren anschickt). Auch Heidegger scheint im Rahmen der Verfallenheits-Diagnose Traditio­ nen eher als Weg in die „Denk-Faulheit“ zu verstehen (vgl. die schon angeführte Stelle bei M. Heidegger: Sein und Zeit. S.  21). 77 Vgl. A. Giddens: „Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft“, in: ders., U.  Beck, S.  Lash: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt 1996, S.  113– 194, hier S.  128 f.

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nen in hohem Maße variieren können, ist Theodor Adorno. Er hält zum Beispiel die Dramen Samuel Becketts für die (gegenwärtige) Form der Tra­ dition des antiken Dramas.78 Auch Giddens79 und Rainer Specht denken in diese Richtung. Letzterer etwa erklärt Traditionen für „sehr flexibel“80 . Nun ist es sicherlich, wie erwähnt, ein Leichtes, historische Veränderungen an Traditionen festzustellen, weshalb eine gewisse Dynamik kaum bestrit­ ten werden kann. Und doch gibt es mindestens im Umfeld des Katholizis­ mus das Bestehen auf der einen, unveränderten Tradition, die sich in vari­ ablen Formen zeige, an sich jedoch konstant und somit stabil bleibe. 81 Wie­ wohl eine gänzlich starre Tradition einen absoluten Ausnahmefall darstellen dürfte, ist dem Dynamismus nicht ohne weitere Überlegung der Platz zu räumen, denn – und das wäre mit Pieper gegen Adorno zu fragen – welche Identitätsbedingungen bestehen eigentlich noch, wenn es einen Traditions­ zusammenhang trotz grundlegender Änderungen geben soll? Wenn Be­ ckett als parodierender Dramatiker dennoch die Tradition aufrechterhält, besteht die Gefahr eines Signifikanz-Verlustes des Begriffs. Edward Shils, der das maßgebliche soziologische Werk des 20.  Jahrhunderts zum Tradi­ tionsthema geschrieben hat, meint: Traditions encase the beliefs of human beings and are subject, in the process of trans­ mission as well as when they are in possession, to reiteration or variation every time they are called into play. Persistent identity or variation joined with constancy are al­ ways present in one combination or another between the two extremes of perfect iden­ tity through time and random variation. 82

In diesem Sinne bleibt es aber Desiderat, ob und in welchem Maße Verän­ derbarkeit wesentlich für Traditionen ist. Jedenfalls darf keines der beiden Extreme, von denen Shils zu Recht spricht, unkritisch als Bezugspunkt ge­ nommen werden. 78  79 

Vgl. T. W. Adorno: „Über Tradition“. S.  318. Vgl. A. Giddens: Konsequenzen der Moderne. Übers. v. J. Schulte. Frankfurt 1984,

S.  53. 80  R. Specht: „Funktionen der Tradition“, in: K. Röttgers (Hrsg.): Politik und Kultur nach der Aufklärung. Festschrift Hermann Lübbe zum 65.  Geburtstag. Basel 1992, S.  88–95, hier S.  88. Dieser Aspekt wird von Specht in einer früheren Publikation aller­ dings weniger stark betont (vgl. ders.: „Über Funktionen der Tradition“, in: M ­ annheimer Berichte aus Forschung und Lehre an der Universität Mannheim, Bd.  4 (1972), S.  103– 107). 81  Als ein Beispiel vgl. J. Pieper: Überlieferung. S.  39 f. 82  E. Shils: Tradition. Chicago 1981, S.  9 6. Dieses maßgebliche Werk hat vielleicht erst mit der Arbeit von David Gross eine soziologisch ebenbürtige Analyse zur Seite gestellt bekommen (vgl. D. Gross: The Past in Ruins. Tradition and the Critique of Modernity. Amherst 1992).

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Wenn von der Stabilität der Traditionen die Rede ist, werden sie mitunter auch als starr bezeichnet, was wiederum zu einer weit verbreiteten Dicho­ tomie anderer Art überleitet, nämlich die von lebendig  – tot. Oft ist von lebendigen Traditionen die Rede, was zumeist anzeigen will, dass die Men­ schen, die diese umsetzen bzw. realisieren, keinerlei Entfremdungserfah­ rungen, vielleicht keine lebensweltliche oder reflexive Distanz zu ihnen haben. Lebendige Traditionen in diesem Sinne sind naiv gelebte, nicht im Modus der Defizienz oder Distanziertheit auffällige Lebensweltbestände. 83 Andererseits gilt eine Tradition als tot, wenn sie den Menschen in irgend­ einer Weise fremd geworden ist, sei es, dass sie sie nicht mehr „verstehen“, sei es, dass sie sie stört und so weiter. Bruno Snell ist ein Vertreter dieses Blicks auf Traditionen, wenn er schreibt: [Es] gibt […] Traditionen ohne Geist, Traditionen, aus denen der Geist geschwunden ist, leer gewordene Hüllen, gleichsam Schuppenpanzer toter Insekten, Muscheln, die kein lebendiges Wesen mehr bergen – die Tradition ist immer auch in Gefahr, geistlos, tot und starr zu werden. Solche veraltete Tradition ist aber nicht nur eine Last, die müh­ selig weiterzuschleppen ist, sondern wird, was noch schlimmer ist, von denen, die sich lebendig fühlen, als ihnen unangemessen, als Lüge empfunden. Lebendige Geistes­ geschichte beruht also darauf, daß alte Formen immer mit neuem Leben erfüllt werden und sich damit selber verwandeln. 84

Lebendigkeit liegt in einer gewissen Stimmigkeit oder gar Harmonie zwi­ schen Tradition und den jeweils gegenwärtigen Menschen. Für die philoso­ phische Besinnung stellt sich zwangsläufig die Frage, was die Bedingungen eines gelingenden Verhältnisses sind. Es deutet sich bereits die Schlussfol­ gerung an, dass Traditionen für ein – im antiken Sinne – eudaimonistisches Leben nicht irrelevant sind. 85 Aber vor allem stellt sich die Frage, ob es Ei­ genschaften der Tradition selbst sind, die sie für Lebendigkeit oder deren Gegenteil prädisponieren. Und noch weiter gedacht, ließe sich hinterfra­ gen, ob etwas, das man mit Snell und anderen als tote Tradition bezeichnen müsste, überhaupt noch eine Tradition, nicht vielmehr schon etwas anderes ist – Dogma, Ideologie, gar Zwangshandlung86? 83  In diesem Sinne vgl. E. Rothacker: „Was heißt ‚Tradition‘ des Altertums?“. Blatt 15, 23. 84  B. Snell: „Tradition und Geistesgeschichte (Vom Wandel der Symbole)“, in: Stu­ dium Generale, Bd.  4 (1951), S.  339–345, hier S.  339 f. Snells Überlegungen zeigen auch deutlich, wie bestimmte Merkmale, die in diesem Kapitel expositorisch zum Thema gemacht wurden, miteinander zusammenhängen, insofern eine Tradition  – nach ihm jedenfalls – dann belastend wird, wenn sie „tot“ ist. 85  Vgl. dazu Kap.  I II.3. 86  Auf die Parallelen zwischen Zwangshandlungen und traditionellen Handlungen ist in der Forschungsliteratur gelegentlich hingewiesen worden (vgl. z. B. T. Macho: Das

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Was Traditionen von Zwangshandlungen vielleicht zu unterscheiden ver­ mag, ist eine scheinbar fast selbstverständliche Beobachtung, die Ludwig Wittgenstein in die berühmte These gefasst hat, dass man nicht nur einmal einer Regel folgen könne. 87 Das heißt, wenn Traditionen im weitesten Sinne Regelsysteme sind, so setzen sie Wiederholung und Regelfolgen voraus – aber wer kontrolliert das?88 Auch darauf weist Wittgenstein hin, wenn er im Kontext seines Privatsprachenarguments auf die Rolle der anderen, der Öffentlichkeit abzielt, ohne die es keine Regelbefolgung geben kann. Tra­ dition liegt nur vor, folgt man diesen Überlegungen, wenn etwas wieder­ holt und gemeinsam getan wird. Es gibt keine individuellen Traditionen. 89 Das stellt sich bei Zwangshandlungen natürlich anders dar, hier ist ein Kol­ lektiv nicht notwendig. Aber auch die Kollektivitätsthese muss nicht unwi­ dersprochen bleiben, insbesondere Konstruktivsten können auf die durch einzelne Individuen herstellbare Tradition verweisen, die es – denkt man an die Macht von Königen und anderen Herrschern  – durchaus gegeben zu haben scheint.90 Zudem ließe sich auch noch zwischen den Extremen von Kollektiv und Individuum eine Position finden, denn ebenso wie der Fall einer rein individuellen Traditionsstiftung zweifellos selten ist, so ist nicht minder selten ein ganzes Kollektiv an ihrer Stiftung beteiligt, sondern viel­ mehr ausgewählte oder zufällig zusammengekommene Partialgruppen, zeremonielle Tier. S.  17; A. Giddens: „Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft“. S.  129–141 und auch S.  Freud: „Der Mann Mose und die monotheistischen Religionen. Drei Abhandlungen“, in: ders.: Studienausgabe. Bd.  IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Frankfurt 1974, S.  455–581, hier S.  548 [dort aber eher unthema­ tisch, peripher]). 87  Vgl. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (Werkausgabe. Bd.  1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen). Frankfurt 1984, S.  225–580, hier S.  344 (§  199). 88  Vgl. z. B. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. S.  345 (§  202). 89  So auch O. Nahodil: „Tradition as Definiens of Culture“. S.  191; A. Giddens: „Le­ ben in einer posttraditionalen Gesellschaft“. S.  125 und T. A. Winter: Traditionstheorie. S.   166. 90  Vielleicht als historisches eindrücklichstes Beispiel sei an die Schaffung eines mo­ notheistischen Sonnenkultes durch Echnaton im zweiten vorschriftlichen Jahrtausend erinnert. Wiewohl die Überlieferungslage keine ganz genaue Einordnung zulässt, käme das rekonstruierte und offensichtlich bewusst erfolgte Einsetzen eines neuen Kultes als Fall für ein Individualtradition – dann per Herrschaftsgewalt auf die Untertanen ausge­ dehnt  – in Frage. Gleichwohl mag der Fall gerade in seinem Scheitern inklusive der damnatio memoriae darauf verweisen, dass Individualtraditionen defizitär sind. Vgl. einige Hinweise zu Echnaton und seinem Wirken, das Jan Assmann als nur quasi-­ monotheistisch im Sinne der mosaischen Religionen versteht, bei J. Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt. München 2015, S.  62–66.

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manchmal auch dezidierte Traditionseliten.91 In jedem Fall ist die Frage nach der Beteiligungsdimension weniger trivial, als es zunächst scheint. Eine letzte Dichotomie mag den Gang durch ausgewählte Unklarheiten im Hinblick auf Tradition beschließen. Anfangs war darauf verwiesen worden, dass es strittig ist, ob allein Menschen Traditionen besitzen oder nicht auch Tiere – oder, mit Anklang an Scheler, nur Tiere und „defizitäre“ Menschen. Diese Frage lässt sich noch einmal anders stellen, indem man überlegt, ob Traditionen eine notwendige oder doch lässliche Begleiter­ scheinung sind. Spezifischer gesprochen: Kann der Mensch ohne Traditio­ nen existieren oder sind sie unausweichlich? Für unvermeidlich hat Johann Gottfried Herder sie aufgrund der Sozialität der Menschen gehalten: Bleibt der Mensch unter Menschen, so kann er […] [der] bildenden oder mißbildenden Kultur nicht entweichen; Tradition tritt zu ihm und formt seinen Kopf und bildet seine Glieder. Wie jene ist und wie diese sich bilden lassen, so wird der Mensch, so ist er ge­ staltet. […] Hätte auch nur ein einziger Mensch die Erde betreten, so wäre an ihm der Zweck des menschlichen Daseins erfüllt gewesen […]. Da aber alles, was auf der Erde leben kann, solange sie selbst in ihrem Beharrungszustande bleibt, fortdauret: so hatte auch das Menschengeschlecht, wie alle Geschlechte [sic!] der Lebenden, Kräfte der Fortpflan­ zung in sich, die dem Ganzen gemäß ihre Proportion und Ordnung finden konnten und gefunden haben. Mithin vererbte sich das Wesen der Menschheit, die Vernunft und ihr Organ, die Tradition, auf eine Reihe von Geschlechtern hin.92

Insofern der Mensch ein soziales und – qua Generationenzusammenhang – in der Zeit ausgedehntes Wesen ist, bildet er notwendig Traditionen aus. Man kann Herders These deskriptiv verstehen, insofern sie einen fakti­ schen Tatbestand zu beschreiben sucht. Andere haben die Unausweichlich­ keit der Traditionen aber auch normativ zu untermauern versucht  – und Herders Anliegen geht letztlich ebenfalls in dieser Richtung.93 Dabei wird meist anthropologisch argumentiert, indem im Mensch-Tier-Vergleich auf­ fällig werdende vermeintliche Defizite als kompensationsbedürftig94 sich 91  Dass Traditionen auf Eliten angewiesen sind, ist ein ebenfalls gängiger, aber um­ strittener Topos. Vgl. A. Giddens: „Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft“. S.  124–127, wo von „Hütern“ der Tradition die Rede ist, oder M. Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Übers. v. L. Geldsetzer. Frankfurt 1985, S.  151. 92  J. G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Darmstadt 1966, S.  227, 417. 93  Das deutet sich an, wenn Herder von der Tradition als „fortpflanzende[r] Mutter“ spricht (vgl. J. G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. S.  245). 94  Diese Art von anthropologisch bedingter Kompensation ist zu unterscheiden von der zwar auch in Teilen anthropologisch fundierten, aber stärker modernitätskritisch operierenden Kompensationstheorie der Ritter-Schule, namentlich vor allem Hermann Lübbe und Odo Marquard. Vgl. zu dieser als herausragende und maßgebliche Arbeit

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herausstellen, wofür Traditionen Korrekturmechanismen sind. In diesem Sinne haben Shils95 , Wiedenhofer 96 und Leszek Kolakowski gedacht. Letz­ terer schreibt: „Sowohl die Solidarität des Stammes als auch die der Gat­ tung erfordern Mittel, die weder der Instinkt noch das Wissen über die Welt uns liefern können. Das einzige Arsenal dieser Mittel ist die Tradition […].“97 In welcher genauen Funktion auch immer, sei es als Instinktersatz zur Weltorientierung, sei es als Gemeinschaftsstifter zur Wertbindung, Tradition wird verstanden als conditio sine qua non für menschliches Da­ sein. In eine ganz andere Richtung gehen Traditionskritiker, sofern sie nicht nur eine konkrete Tradition attackieren, sondern Traditionalität als Prinzip insgesamt. Die Aufklärung hat einen solchen Weg, jedenfalls in der Rezeptionsgeschichte, zurückgelegt, insofern sie von der Kritik an pries­ terlichen und aristokratischen Vorrechten, Praktiken und so weiter dazu übergegangen ist, Traditionen überhaupt als verfehlt zu markieren.98 Dann kann von diesen als unausweichlichem Humanum nicht mehr die Rede sein.99 Am radikalsten deutet diese Option später Max Stirner an,100 der die J.  Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik. Göttingen 2006 (zum Traditionsdenken z. B. ebd., S.  22, 223, 242 f.) und Kap.  3.10 in S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. 95  Vgl. E. Shils: Tradition. S.  304, 315. 96  Vgl. S.  W iedenhofer: „The Logic of Tradition“. S.  12. 97  L. Kolakowski: „Vom Sinn der Tradition“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Bd.  23 (1969), S.  1085–1092, hier S.  1086. 98  Ein frühes Zeugnis für eine nicht grundlegende, sondern eben nur an einzelnen Traditionen orientierte Aufklärungskritik ist der Encyclopédie-Eintrag L. de Jaucourt: „Tradition (Théologie)“, in: D. Diderot, J. le Rond D’Alembert (Hrsg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des art et des métieres, par une Société de Gens de lettre. Bd.  16. Neufchastel 1765, S.  507–510. Dort wird an der grundsätzlichen Berech­ tigung von Traditionen nirgendswo Zweifel geäußert, sondern nur die kirchliche Tradi­ tion dargelegt. Einen allgemeinen Artikel zu Tradition ohne spezifischen Bezug zur Theologie gibt es in dieser Ausgabe gar nicht. Wiedenhofer referiert einen späteren Ar­ tikel aus der Ausgabe 1778 (vgl. S.  Wiedenhofer: „Tradition, Traditionalismus“. S.  623), der aber in der Sache nichts Relevantes zu ergänzen scheint. 99 Dass damit womöglich Probleme entstehen, haben im deutschen Sprachraum ­Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing früh erkannt. Lessing schreibt in diesem Sinne in einem Brief an Mendelssohn: „Doch ich besorge es nicht erst seit ges­ tern, daß, indem ich gewisse Vorurteile weggeworfen, ich ein wenig zu viel mit wegge­ worfen habe, was ich werde wiederholen müssen.“ (G. E. Lessing: „Brief an Moses Men­ delssohn vom 9.1.1771“, in: ders.: Sämtliche Schriften. Bd.  17. Hrsg. v. K. Lachmann, F.  Muncker. Leipzig 1904, S.  364–367, hier S.  365). Wenn Vorurteile Aspekte von Tradi­ tion sind (wie es Gadamer später gedacht hat), dann will Lessing darauf hinweisen, dass der Mensch (oder jedenfalls er konkret als Person) ohne diese nicht auskommen kann. 100  Vgl. zu Stirner als Anti-Traditionsdenker L. Kolakowski: „Vom Sinn der Tradi­

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Figur des Einzelnen, zu lesen als eine menschenmögliche Extremform des Daseins, ganz auf dessen eigenste Entscheidung und Leistung zurückfüh­ ren will. Jede Form der Fremdsteuerung und -prägung, die mit Tradition einhergeht, sofern diese von anderen kommt, ist abzulehnen. Während die anthropologischen Kompensationstheoretiker darauf hinweisen, dass nur mittels Tradition der Mensch überhaupt sich zu formen und zu bilden, ge­ gebenenfalls sogar heraufzubilden vermag, lehnt Stirner dies im Interesse einer radikalen Selbstermächtigung des Subjekts ab: „Möglich, dass ich aus Mir sehr wenig machen kann; dies Wenige ist aber alles und ist besser, als was Ich aus Mir machen lasse durch die Gewalt anderer, durch die Dressur der Sitte, der Religion, der Gesetze, des Staates usw.“101 Hier zeigt sich also, dass keine Einigkeit hinsichtlich des Merkmals besteht, das heißt, es bleibt offen, inwiefern Traditionen faktisch oder gar normativ unhintergehbar sind bzw. inwiefern der Mensch sich davon freimachen muss. Ebenfalls überraschend vielfältig – und das heißt uneinheitlich – ist die Liste der Begriffe, die das Gegenteil von Tradition darstellen sollen. In die­ ser Hinsicht werden unter anderem diskutiert Innovation, Fortschritt, Re­ volution, aber auch Mode oder Individualität.102 Die Darlegung solcher grundsätzlichen Uneinigkeiten ließe sich im Hinblick auf Tradition (und deren Oppositionsbegriffe) noch erheblich erweitern, doch das würde in der Sache bloß bedingt voranbringen. Es sei daher nur angedeutet, welche wei­ teren Streitpunkte sich in der Literatur finden lassen. So erscheinen Tradi­ tionen mal als stereotyp103 , mal als paradigmatisch oder exemplarisch104 , das heißt, sie verkörpern einmal das Unreflektierte, einmal das Ideale, Anzu­ strebende. Weiterhin werden sie wahlweise als monologisierend verstanden, sie sagen dem Menschen, was er zu tun hat und dieser bleibt dabei passiv,105 tion“. S.  1087 und ders.: „Der Anspruch auf selbstverschuldete Unmündigkeit“, in: L.  Reinisch (Hrsg.): Vom Sinn der Tradition. München 1970, S.  1–15, v. a. S.  4 f. 101  M. Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Hrsg. v. B. Kast. Freiburg, München 2016, S.  188 f. Explizit kommt Stirner auf den Begriff Tradition freilich, wie zugestan­ den sein muss, nicht prominent zu sprechen, aber der Sache nach ist seine Position klar abzuleiten und gegen Tradition als Phänomen gerichtet. 102  Vgl. W. Barner: „Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturpro­ grammatischer Epochenwenden in Deutschland“, in: R. Herzog, R. Koselleck (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. München 1987, S.  3 –51, z. B. S.  14 (dort die Verweise auf die Oppositionsbegriffe Revolution, Wandel, Fortschritt und Evolution [ebd., S.  13]); E. Shils: Tradition. S.  16 und J. Pieper: Über den Begriff der Tradition. S.  19. 103  Vgl. O. Nahodil: „Traditions as Definiens of Culture“. S.  195. 104  Vgl. P. Boyer: Tradition as Truth and Communication. S.  42. 105  In diesem Sinne äußerst sich häufig, aber nicht konsistent Pieper (vgl. J. Pieper: Über den Begriff der Tradition. S.  13 f.).

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oder als Dialogpartner, zu dem der Mensch sich als nahezu Gleichberech­ tigter verhalten kann.106 Je nach Verständnis ist der Mensch im Angesicht der Tradition also rezeptiv-passiv oder produktiv-aktiv. Nicht minder um­ stritten ist die Frage, ob man Traditionen als inklusiv oder exklusiv verste­ hen muss, ob sie absolut oder relativ107 gelten, ob sie nur diachron entstehen oder nicht auch synchrone108 Formen möglich sind, ob sie nur iterativ sind oder nicht auch generativ. Ebenso ist es unklar, ob Traditionen an spezifische Medien gebunden sind; diskutiert worden sind in diesem Zusammen­ hang Oralität, Schriftlichkeit, Bildlichkeit, aber auch Habitualität.109 ­Martin Luther etwa ist ein Verfechter der Bindung der Tradition an das ge­ schriebene Wort – sola scriptura110 –, während die Gegenwart dazu neigt, jedes Medium zuzulassen. Schließlich ist es auch auffällig, dass Tradition sowohl ein Objekt sein kann, auf das man blickt – zum Beispiel die Tradi­ tion des Boßelns –, aber auch quasi-transparentes Medium, indem sie etwas nur weiterreicht – dann wäre das Boßeln der Inhalt dessen, was durch Tra­ dition überliefert wird –, oder selbst Subjekt, Agens111 – dann würden Sätze 106  In diese Richtung denken Gadamer und im Rahmen seiner lesenswerten Studie Karsten Dittmann (vgl. K. Dittmann: Tradition und Verfahren. Philosophische Untersuchungen zum Zusammenhang von kultureller Überlieferung und kommunikativer Moralität. Norderstedt 2004). 107  Vgl. dazu knapp B. Schoppelreich, S.  W iedenhofer: „Vorwort“, in: dies. (Hrsg.): Zur Logik religiöser Traditionen. Frankfurt 1998, S.  1–7, hier v. a. S.  2. 108  Vgl. zu dieser Differenz E. Shils: Tradition. S.  156. Manchmal wird eine synchro­ ne Tradition als bloße „Mode“ verstanden, gerade weil ihr die zeitliche Erstreckung fehlt. Andererseits kann man im Anschluss an Beschleunigungsdiagnosen in der Mo­ derne (klassisch dafür H. Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt 2005) sagen, dass es zu einer beschleunigten, kurzzeitigeren Traditionsbildung kommt. Beide Optionen lassen sich in der Literatur finden. 109 Shils kennt z. B. nur schriftliche und mündliche Traditionen (vgl. E. Shils: Tradition. S.  108), Dittmann nennt Sach-, Oral- und Literaltraditionen (K. Dittmann: Tradition und Verfahren. S.  40, 124), mit Pierre Bourdieu kann auf den Habitus als eine wei­ tere Möglichkeit hingewiesen werden (vgl. P. Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Übers. v. G. Seib. Frankfurt 2015, etwa S.  31 f., 98–120), wobei dieser Habitus sich zur Präzisierung als leibliches Phänomen fassen ließe (vgl. in diesem Sinne z. B. R. Gugutzer: Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen. Bielefeld 2012, S.  53). 110  Vgl. zu diesem Kontext A. Deneffe: Der Traditionsbegriff. Z. B. S.  62–73. 111 Vgl. als zwei Beispiele für einen „agentischen“ Sprachgebrauch P.  L. Berger, T.  Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Übers. v. M. Plessner. Frankfurt 2010, S.  74 und R. J. Schreiter: „A Semiotic-linguistic Theory of Tradition, Identity and Communication amid Cultural Difference“, in: B. Schoppelreich, S.  Wiedenhofer (Hrsg.): Zur Logik religiöser Traditio­ nen. Frankfurt 1998, S.  87–118, hier S.  105 f.

1. Die vagen Tücken des Konzepts

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der Art „Die Tradition des Boßelns fordert vom Teilnehmer, den Ball so oder so zu werfen“ Sinn haben. Was ist durch das Dargelegte gewonnen? Es wurde deutlich, dass sich die eingangs aufgemachte These, der Traditionsbegriff werde uneinheitlich, oft geradezu widersprüchlich verwendet, an ausgewählten Hinsichten belegen ließ. Traditionen sind hinsichtlich ihres Wesens und ihrer Eigenschaften ungeklärt, hat es den Eindruck. Dies ist wohlgemerkt nicht bloß eine Frage wissenschaftlicher Stringenz. Gerade weil das Wort einschlägig (häufig ne­ gativ) konnotiert ist, bedingt es oft lebensweltliche Konsequenzen. Jens Hacke sagt richtig, das Wort stelle eine „Verdächtigungsvokabel“112 dar. Besonders paradox ist dabei der Umstand, dass nicht nur begrifflich quasi „babylonische“ Verhältnisse vorliegen, sondern auch in empirischer Hin­ sicht, das heißt im Hinblick auf die Frage, wie es eigentlich um den Bestand der Traditionen bestellt ist. Einerseits gibt es die weit verbreitete Klage, dass sie im Verschwinden begriffen seien. Exemplarisch in diesem Sinne spricht Hartmut Rosa von der „beschleunigten Entwertung von Traditio­ nen“113 in der Moderne. Diese Feststellung ist selbst nicht ganz neu, sie be­ gleitet die europäische Moderne vermutlich seit den Tagen der Aufklärung unentwegt. Gegen sie opponieren wiederum andere, die entweder betonen, dass die Traditionen immer noch da, aber verborgen oder im pluralistischen Kontext weniger wirksam sowie weniger auffällig sind,114 oder aber, dass 112 

J. Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. S.  243. Rosa: Beschleunigung. S.  439. Vgl. für eine ähnliche Verlust-Diagnose auch G.  K rüger: „Die Bedeutung der Tradition für die philosophische Forschung“. S.  324 f. (dort spezifisch für philosophische Traditionen gemeint). Recht bekannt ist sicher ­K rügers folgende, fast melancholische Äußerung: „Wir leben nur noch von unserer ­Inkonsequenz, davon, daß wir nicht alle Tradition zum Schweigen gebracht haben.“ (G.  Krüger: Geschichte und Tradition. S.  28). Diese Diagnose wurde übrigens von Pieper als Motto aufgegriffen (vgl. J. Pieper: Überlieferung). Auch Giddens kann als Traditionsverlusttheoretiker gelten (vgl. A. Giddens: „Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft“. Z. B. S.  169). Es gibt außerdem sogar die paradoxe Rede von der „Tradition des Traditionsbruchs“, die damit den fortwährenden Verlust an Traditionen selbst zu einem traditionalen Be­ standteil der Lebenswelt macht (vgl. C. Bickmann: „Einführung in die Themenstellung ‚Tradition und Traditionsbruch‘. Transformation der Philosophie zwischen Skepsis und Dogmatik“, in: dies., H.-J. Scheidgen, T. Voßhenrich, M. Wirtz (Hrsg.): Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik. Interkulturelle philosophische Perspektiven. Amsterdam, New York 2006, S.  1–15, hier S.  1). Vgl. ähnlich auch A. Ass­ mann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. Mün­ chen 2013, S.  141 f. 114  Vgl. in diesem Sinne D. Wendebourg, R. Brandt (Hrsg.): Traditionsaufbruch. Die Bedeutung der Pflege christlicher Institutionen für Gewißheit, Freiheit und Orientierung in der pluralistischen Gesellschaft. Hannover 2001, S.  V I f., 62 f., 86. 113 H.

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I. Exposition

sie ihre Formen gewechselt haben. Exemplarisch für letzte Position meint Karl Gabriel: Was gegenwärtig als Traditionsbruch erlebt wird, läßt sich besser als Auflösung einer bestimmten, historisch gewordenen Form der Verflechtung von Tradition und Moder­ nität begreifen. Entgegen der Erwartung vieler hat sich die sogenannte moderne Indus­ triegesellschaft nicht als Endpunkt einer Entwicklung von Tradition zur Modernität erwiesen, sondern als eine ineinander verflochtene Mischung traditionaler und moder­ ner Bewußtseins- und Strukturelemente. Wir haben es sowohl mit einem neuen Moder­ nisierungsschub zu tun, als auch mit der Entstehung neuer Formen der Verflechtung von Tradition und Modernität.115

Wie auch immer diese letztlich empirische Frage entschieden werden mag, sie hängt wesentlich davon ab, was man als Tradition gelten lässt. Wenn ein – im Sinne der geschilderten Dichotomien – Verständnis dominiert, das sie als kleine, nicht affektiv oder anderweitig bedeutsame Vorkommnisse versteht, gibt es sie vermutlich noch immer, aber wenn es um große, be­ deutsame und anspruchsvolle Phänomene ginge, sähe es eventuell anders aus. Dass also selbst die quaestio facti nicht minder uneindeutige Resultate hervorbringt als die begriffliche Analyse, zeigt noch abschließend einmal deutlich, wie tiefgreifend der „babylonische“ Zustand im Hinblick auf Tra­ dition ist.

2. Status quo ante Durch das in Kapitel  I.1 Gesagte sollte ein Eindruck davon entstanden sein, wie es um den Begriff Tradition und dessen Analyse steht. Das aufgeglie­ derte Feld erfordert, wie einsichtig ist, eine erneute Zuwendung. Gleich­ wohl sollen einige wesentliche Merkmale des aktuellen Forschungsstandes schon vorab allgemein herausgestellt werden, die sich bereits aus dem We­ nigen, das erhellt werden konnte, ableiten lassen. Dies scheint deshalb ge­ boten, weil damit die Hintergrundfolie sich abzeichnet, vor der die aktuel­ le Untersuchung zu lesen ist. Insbesondere legitimiert sich so das gewählte Vorgehen einer phänomenologischen Pointierung der Tradition. Erst eine

115 K.

Gabriel: „Tradition im Kontext enttraditionalisierter Gesellschaften“, in: D. Wiederkehr (Hrsg.): Wie geschieht Tradition? Überlieferung im Lebensprozess der Kirche. Freiburg, Basel, Wien 1991, S.  69–88, hier S.  71 f. (Hervorh. im Orig. anders). Gabriel gibt aber deutlich zu verstehen, dass er seine Diagnose nicht zu optimistisch verstanden wissen will, denn er sieht die reale Möglichkeit einer „antitraditionalen Kul­ tur“ im Okzident (ebd., S.  72 [Hervorh. im Orig. anders]).

2. Status quo ante

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solche nämlich ermöglicht eine Beurteilung des disparaten Diskurses,116 in­ dem sie einen lebensweltlich wie philosophisch geerdeten Orientierungs­ punkt als Wegmarke und Maßstab etabliert. Zunächst ist es nämlich offensichtlich, dass es keinen common sense im Diskurs gibt, auf den sich alle oder nahezu alle relevanten Autoren berufen können. Für viele Thesen zur Tradition sind auch prominent die Gegenthe­ sen auffindbar. Man kann von keinem etablierten Stand der Forschung im Sinne gesicherter Bestände sprechen, wiewohl es freilich in bestimmten Hinsichten dominante Mehrheitsmeinungen gibt. Parallel zum fehlenden gemeinsamen Fundament ist es zudem so, dass es auch keine Herausbil­ dung kanonischer Autoren im strengen Sinne gegeben hat. Zwar finden sich einige Verfasser häufig angeführt – an Max Weber117, Gadamer und Shils ist wohl vor allem zu denken  –, aber es lassen sich ebenso einschlägige Ar­ beiten ohne Bezug auf diese finden. Der fehlende Kanon zeigt sich exemp­ larisch an zwei aktuellen Studien, denn es fehlt bei Karsten Dittmann, der Jürgen Habermas in den Mittelpunkt rückt, jedweder Rekurs auf Odo Marquards oder Hermann Lübbes Überlegungen, was gerade vor dem Hintergrund von deren Auseinandersetzung mit Habermas frappiert,118 während Thomas Arne Winter die Überlegungen der philosophischen An­ thropologie kaum zur Kenntnis nimmt,119 obwohl dort Wesentliches über Tradition zu lernen wäre. Nun erscheint es als wohlfeil, angesichts der überbordenden Literatur­ mengen der Gegenwart, allein aus unterbliebenen Bezugnahmen Kritik abzuleiten. Gleichwohl ist der fehlende Kanon symptomatisch, zumal eine weitere Schwierigkeit des Forschungsstandes die Probleme noch vergrö­ ßert. Denn es spielt ja der Begriff Tradition in sehr vielen verschiedenen Disziplinen – neben seiner häufigen alltags- und sonntagssprachlichen Ver­ 116  Zu

diesem vgl. die Darlegungen in S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. 117  Webers Überlegungen zur traditionalen Herrschaftsform spielen eine wichtige Rolle im Diskurs (vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Hrsg. v. J. Winckelmann. Köln, Berlin 1964, v. a. S.  17, 157–184, 246 f.). 118 Dittmann greift zwar gelegentlich auf Lübbe zurück (vgl. z. B. K. Dittmann: ­Tradition und Verfahren. S.  141 f.), jedoch ohne daraus zentral Kapital zu schlagen. Die Relevanz der Ritter-Schule hat dagegen neben Hacke (vgl. J. Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit) auch Aleida Assmann deutlich herausgearbeitet (vgl. A. Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S.  210–228). 119  Die wenigen Stellen (T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  10, 13, 119), an denen (in der Hauptsache) Scheler zur Verhandlung steht, lassen das systematische Potential lie­ gen. Auf neuere anthropologische Forschungen aus der Evolutionsbiologie und Ethno­ logie rekurrieren weder Dittmann noch Winter.

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I. Exposition

wendung – eine bedeutsame Rolle. Zuerst zu nennen ist sicher die Theolo­ gie, die für Jahrhunderte der angestammte Ort des Begriffs war.120 Gleich­ wohl entstammt das lateinische tradere bzw. traditio eigentlich dem juristi­ schen Kontext, wo es lange Zeit auch noch als terminus technicus für eine bestimmte Form der Eigentumsübergabe firmierte.121 Wichtiger wurde der Begriff dann in der Philosophie, insbesondere im Rahmen der Aufklä­

120 Dies spiegelt sich unter anderem darin wider, dass Lexikon-Einträge in den philo­sophisch einschlägigen Werken meist knapper und seltener sind als in theologi­ schen. Für die Philosophie vgl. neben J. Zimmer: „Tradition“ und G. Walther: „Tradi­ tion. I. Geschichte und Kultur“, in: F. Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd.  13. Stuttgart, Weimar 2011, Sp.  680–687 und vor allem V. Steenblock: „Tradition“, in: J.  R itter, K. Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd.  10. Basel 1998, Sp.  1315–1329. Die Liste der theologisch relevanten Lexikonartikel ist sehr lang. Als Auswahl aus der Überfülle theologischer Beiträge vgl. J. Ratzinger: „Tradition III. Systematisch“, in: J. Höfer, K. Rahner (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd.  10. Freiburg 1966, Sp.  293–299; G. Ebeling: „Tradition VII. Dogmatisch“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd.  6 . Tü­ bingen 1962, Sp.  976–984 und M. Beintker: „Tradition VI. Dogmatisch“, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd.  33. Berlin, New York 2002, S.  718–724. Daneben gibt es zahlreiche spezifische Artikel etwa zur Tradition im Alten (vgl. z. B. M. Rösel: „Tradi­ tion I. Altes Testament“, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd.  33. Berlin, New York 2002, S.  689–693) und Neuen Testament (vgl. z. B. J. Schröter: „Tradition III. Neues Testament“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd.  6 . Tübingen 2005, Sp.  507 ff.) usw. Einen Sonderfall stellt der im theologischen Standardwerk „Die Religion in Ge­ schichte und Gegenwart“ erschienene Beitrag von Gadamer dar, denn er ist genuin phi­ losophisch, erscheint im theologischen Rahmen und ist die einzige dem Titel nach dezi­ diert phänomenologische Analyse von Tradition (vgl. H.-G. Gadamer: „Tradition I. Phänomenologisch“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd.  6 . Tübingen 1962, Sp.  966 f.). Als histori­ sche Randnotiz ist zu bemerken, dass dieser Artikel nur in der Auflage von 1962 (3.  Auf­ lage) veröffentlicht wurde, ab der 4.  Auflage von 2005 fehlt das Lemma „Tradition phä­ nomenologisch“ ganz, so wie es auch schon in der 1. und 2.  Auflage nicht vorhanden war. Dieses Verschwinden deckt sich mit der rezeptionsgeschichtlichen Wirkung, denn diese hat es nicht gegeben, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass Gadamers kurzer Beitrag systematisch kaum ertragreich anmutet. 121  Vgl. A. Deneffe: Der Traditionsbegriff. S.  6 ; S.  W iedenhofer: „Tradition, Traditio­ nalismus“. S.  609 f. und für die Semantik im Lateinischen die Auflistung in P. W. Glare (Hrsg.): Oxford Latin Dictionary. Oxford 2010, S.  1956, an welcher Stelle 10 Bedeutun­ gen unterschieden werden, wobei vor allem die erste und zweite dem juristischen Rah­ men zuzuordnen sind. Dass hier auf dieses Wörterbuch zurückgegriffen wird, hängt damit zusammen, dass der entsprechende Band des „Thesaurus Linguae Latinae“ noch nicht erschienen ist.

2. Status quo ante

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rung,122 sowie in den Geschichtswissenschaften.123 Historisch ist zu kons­ tatieren, dass zwar auch schon die Scholastik – neben der Theologie (sofern eine Abgrenzung möglich ist)  – sich dem Begriff genähert hat, aber erst durch die Ereignisse und Umwälzungen der Aufklärung kam es seit dem 18.  Jahrhundert zu einer expliziten Thematisierung des Begriffs. Auch die Soziologie hat sich ihm intensiv zugewendet seit ihrer Entstehung im frü­ hen 20.  Jahrhundert,124 hierin Anreize aus der zu ihr parallel sich ausbrei­ tenden Ethnologie125 aufgreifend. In der zweiten Hälfte desselben Jahrhun­ derts wanderte der Begriff dann schließlich in die Kulturwissenschaften126 und – zuletzt und vehement – auch gerade in naturwissenschaftliche Kon­ texte, insbesondere im Umfeld von verhaltens- und evolutionsbiologischen Forschungen.127 Das stellt eine phänomenologische Neubesinnung, wie sie 122  Hierfür mag Herders Denken ein Beispiel sein, aber auch andere Denker der – im weiten Sinne verstandenen – Romantik könnten angeführt werden, auch solche aus dem nicht-deutschen Sprachraum wie Edmund Burke (E. Burke: Betrachtungen über die Französische Revolution. Übers. v. F. Gentz. Zürich 1987, z. B. S.  62, 298). Schon vor der aufklärungskritischen Romantik gab es aber philosophische Reflexionen auf die Tradi­ tion (vgl. als ein Beispiel T. Reid: Untersuchungen über den menschlichen Geist nach den Grundsätzen des gemeinen Menschenverstandes. Leipzig 1782, z. B. S.  349, 367), selbst in der Scholastik lassen sie sich finden (vgl. dazu S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. Kap.  2.4). 123  Als späten Zeugen des geschichtswissenschaftlichen Rekurses vgl. R. Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt 2020. 124  Neben Weber wäre beispielsweise auch auf Ferdinand Tönnies (vgl. F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt 2005) und Georg Simmel (vgl. G. Simmel: „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais. Leipzig 1919, S.  223–253) zu verwei­ sen, bei welchen zwar der Terminus „Tradition“ jeweils nicht prominent vorkommt, die Sache aber schon. 125  Vgl. z. B. F. Boas: Kultur und Rasse. Berlin, Leipzig 1922, S.  210–228. 126  Vgl. einige Anwendungen bei A. Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar 2011, S.  5, 19, 35, 48 f. Astrid Erlls Text zeigt zugleich eine durchaus kritisch zu sehende und häufig zu beobachtende Eigenart der kulturwissen­ schaftlichen Thematisierung auf, denn dort wird der, wie dargelegt, unklare Begriff als irgendwie selbstverständlicher gar nicht weiter geschärft, sondern durch variablen Ge­ brauch noch weiter verwischt. 127  Vgl. neben den Arbeiten Jablonkas (E. Jablonka, M. J. Lamb: Evolution in Four Dimensions. und E. Avital, E. Jablonka: Animal Traditions) auch C. Boesch: Wild Cultures. A Comparison Between Chimpanzee and Human Culture. Cambridge 2012. Zu­ dem erwähnenswert sind die Arbeiten des philosophisch geschulten Evolutionsbiolo­ gen Michael Tomasello, der auch auf das Thema Tradition zu sprechen kommt (vgl. z. B. M. Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Übers. v. J. Schröder. Frankfurt 2002, S.  20 ff., 49 f.). Zu Tomasello und seinem Platz im Diskurs der philosophischen Anthropologie vgl. M. Wunsch: „Zur philosophischen Aktualität des ‚objektiven Geistes‘. Michael Landmann, Michael

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hier versucht wird, freilich vor Herausforderungen.128 Festzuhalten ist, dass der Begriff eminent interdisziplinär und interkulturell ist. Die Klage, dass mit Tradition ein Begriff vorliegt, der unklar ist, kann inzwischen fast als etablierter Topos des Diskurses selbst gelten.129 Es ist daher nicht überraschend, dass der philosophische Klärungsbedarf lange bekannt ist. Immer wieder ist der Begriff namens- und themengebend für einschlägige Tagungen gewesen. Um nur die wichtigsten dieser wissen­ schaftlichen Konferenzen zu nennen,130 seien erwähnt die Tagung „Geist und Tradition“ (1950)131 als erster Nachkriegsimpuls in dieser Richtung, später und sehr prominent der Kongreß für Philosophie der Deutschen Ge­ sellschaft für Philosophie, der 1984 unter dem Titel „Tradition und Innova­ tion“ stattfand,132 sowie weiterhin die sozialhistorisch orientierte Sektion „Dynamik und Tradition“ auf dem Historikertag 1990.133 Es folgten chro­ nologisch 1993 eine Tagung zur Tradition im Kontext der modernen Wand­ lungs- und Beschleunigungsprozesse, das heißt der unterstellten Detradi­ ­ omasello und John Searle“, in: ders., J. Bohr (Hrsg.): Kulturanthropologie als PhilosoT phie des Schöpferischen. Nordhausen 2015, S.  57–75. 128  Dazu vgl. Kap.  I.4. 129  Dies konstatieren etwa E. Shils: Tradition. S.  V II; O. Nahodil: Menschliche Kultur und Tradition. S.  6 f. und S.  Wiedenhofer: „Traditionsbegriffe“, in: ders., T. Larbig (Hrsg.): Kulturelle und religiöse Traditionen. Beiträge zu einer interdisziplinären Traditionstheorie und Traditionsanalyse. Münster 2005, S.  253–279, hier S.  253. John Thomp­ son beobachtet, dass mitunter die begriffliche Vagheit sogar gewollt ist, besonders im Umfeld der Detraditionalisierungs-Diagnose, um eigene, normativ einschlägige Argu­ mente anbringen zu können (vgl. J. B. Thompson: „Tradition and Self in a Mediated World“, in: P. Heelas, S.  Lash, P. Morris (Hrsg.): Detraditionalization. Critical Reflections on Authority and Identity. Cambridge, Oxford 1996, S.  89–108, hier S.  9 0 f.). 130  Dabei können freilich nur diejenigen Erwähnung finden, von denen es publizier­ te Ergebnisse oder zumindest Berichte gibt. Zudem gab es auch andere Weisen, sich gemeinsam über Tradition auszutauschen. Die im Sammelband von Leonhard Reinisch vorfindlichen Aufsätze (vgl. L. Reinisch (Hrsg.): Vom Sinn der Tradition. München 1970) sind zum Beispiel ursprünglich zehn Rundfunkbeiträge aus dem Jahr 1966 gewe­ sen und so in gewisser Weise auch einem Quasi-Tagungsformat entsprungen. Darüber hinaus liegt mit dem schon mehrfach zitierten Beitrag Wiedenhofers in der Zeitschrift „Erwägen Wissen Ethik“ (vgl. S.  Wiedenhofer: „Tradition – Geschichte – Gedächtnis“) sowie den anschließenden kritischen schriftlichen Diskussionsbeiträgen praktisch ein weiterer Fall einer Fachtagung zum Thema vor, auch wenn diese gleichsam „nur“ im schriftlichen Format stattgefunden hat. 131  Vgl. die Beiträge in Studium Generale, Bd.  4 (1951), S.  307–364. 132  Vgl. dazu die zugehörige Publikation W. Kluxen (Hrsg.): Tradition und Innovation. XIII. Deutscher Kongreß für Philosophie Bonn 24.-29. September 1984. Hamburg 1988. 133  Vgl. R. v. Dülmen: „Vorbemerkung“, in: ders. (Hrsg.): Dynamik der Tradition. Studien zur historischen Kulturforschung. Frankfurt 1992, S.  7–11, hier S.  8.

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tionalisierung,134 und 1994 eine, die das Werk Piepers und damit eben auch das Traditions-Konzept in den Mittelpunkt stellte.135 In jüngster Zeit wären noch zu nennen die Konferenz „Traditions/Transitions. Communi­ cating History and Presenting the Past“ (1999)136 und von 2004 eine The­ matisierung von Tradition und Traditionsbruch.137 Alle diese Veranstaltun­ gen zeigen, dass das Thema im Forschungsdiskurs immer wieder – mindes­ tens gelegentlich – präsent war. Die festgestellten Vagheiten, Unklarheiten und Amibvalenzen sind daher nicht bloße Folge einer vermeintlichen Un­ terlassung der besinnenden Reflexion, sondern vermutlich Ausdruck der phänomenalen Problemlage. Dieser muss sich folglich zugewendet werden, um den Status quo verbessern zu können. Zusammenfassend ist festzustellen, dass – in ganz allgemeiner Annähe­ rung – Tradition sachlich einer Klärung noch immer harrt, es keinen festen Kanon der einschlägigen Forschungsliteratur gibt, aber doch ein unter­ schwellig über die Jahrhunderte hinweg fortdauernder Diskurs erkennbar ist,138 auf den eine erneute phänomenologische Besinnung aufbauen kann. Bevor diese erfolgen soll, gilt es jedoch noch einmal, gewisse Kontexte des Fragens nach Tradition in den Fokus zu nehmen, um das je eigene Fragen in dieser Hinsicht zu sensibilisieren für die theoretischen wie praktischen Fallstricke.

3. Die Probleme der Tradition Wenn ein Werk einen Titel trägt, der das Schlagwort „Problem“ mit sich führt, dann ist damit zum Ausdruck gebracht, dass es etwas geben muss, 134  Vgl. P. Heelas, S.  Lash, P. Morris (Hrsg.): Detraditionalizaton. Critical ­Reflections on Authority and Identity. Cambridge, Oxford 1996. 135  Vgl. dazu H. Fechtrup, F. Schulze, T. Sternberg (Hrsg.): Aufklärung durch Tradition. Symposion der Josef Pieper Stiftung zum 90.  Geburtstag von Josef Pieper Mai 1994 in Münster. Münster 1995. 136  Vgl. dazu als Publikation H. Welzer (Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001. 137  Vgl. dazu C. Bickmann, H.-J. Scheidgen, T. Voßhenrich, M. Wirtz: Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik. Interkulturelle philosophische Perspektiven. Amsterdam, New York 2006. 138  Dieser spielt sich aber auf je unterschiedlichen Feldern ab, lange Zeit vor allem auf dem der Theologie, später Philosophie und Geschichtswissenschaft. Insofern aber die heuristische Prämisse plausibel scheint, dass dabei immer vom selben Phänomen (wenn auch in unterschiedlichen Hinsichten) die Rede war, stellt das kein Forschungshinder­ nis dar.

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I. Exposition

das in irgendeiner Beziehung defizitär ist. Im Hinblick auf Tradition ist bislang en passant zweierlei Problematisches zur Sprache gekommen, einer­ seits die begrifflichen Unklarheiten, andererseits die daraus sich ergeben­ den lebensweltlichen Verwerfungen zum Beispiel im Umfeld politischer oder ideologischer Kontexte. Im Folgenden soll das Problematische noch detaillierter expliziert werden, um das Vorgehen in dieser Hinsicht vor un­ terkomplexen, vereinfachenden Annahmen und Lösungen zu bewahren. Es ist dabei bereits deutlich geworden, dass der titelgebende Singular „Pro­ blem“ sachlich notwendig sich aufgliedert in einen vielgestaltigen Plural.

3.1 Genitivus objectivus Zum Problem der Tradition kommen, das heißt in der Moderne meist ganz selbstverständlich, Traditionen als problematische Objekte zu verstehen. Wer von Tradition in einem affirmativen Sinne spricht, hat oft unmittelba­ ren Begründungsdruck. Womöglich gilt dies auch schon, wenn in neutraler Weise auf sie referiert wird. In diesem Sinne hat das bereits angeführte Ver­ dikt Hackes, es handele sich um eine Verdächtigungsvokabel, Zustimmung verdient. Diese normativen Implikationen und Verwendungen des Begriffs erschweren den Zugang zu ihm. Oft wird vermutet, wer Tradition sagt, will gerade nicht argumentieren, vielmehr etwas verbergen. Gegen diese weit verbreitete Vorstellung ist es notwendig, auf die Möglichkeit einer ra­ tionalen Besinnung hinzuweisen. Dabei kann Rückendeckung die Beob­ achtung geben, dass der alltagssprachliche Rekurs auf den Begriff oft affir­ mativ erfolgt, sei es im Rahmen politischer Reden und des Wahlkampfes, noch auffälliger aber in der Werbung. Es scheint für die erfolgreiche Ver­ marktung von Produkten sinnvoll zu sein, diesen mindestens den An­ schein139 zu geben, sie stünden in einer langen Tradition. So ist bei Bieren von Brautraditionen die Rede, die sich zumeist am Reinheitsgebot von 1516 orientieren. Auch Automarken werben mit eigenen Traditionen, die aber freilich kaum 100 Jahre alt sein können. Wie auch immer das im Einzelfall zu bewerten sein mag, die lebensweltlich weniger eindeutig negative Ver­ ortung von Traditionen steht in gewissem Kontrast zur theoretischen Be­ wertung. Es gibt aber auch auf diesem Feld Gegenbeispiele, die einen aus­ gewogeneren Blick nahelegen. So hat die Soziologin Yvonne Niekrenz am Kölner Straßenkarneval und der Pfadfinderbewegung zu zeigen versucht, dass es sehr wohl positive Konnotationen und Eigenschaften gibt.140 139 

140 

Im Sinne Hobsbawms wären das erfundene Traditionen par excellence. Vgl. Y. Niekrenz: „Gemeinschaft und Tradition als Anachronismen? Pfade ­finden

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Doch nicht nur derartige lebensweltliche Verortungen sind relevant, son­ dern überhaupt der theoretisch gehaltvolle Bezug auf sie, für den Niekrenz, aber auch Shils, David Gross und viele andere, die zum Teil bereits zitiert wurden, Pate stehen können. Das größte Hindernis auf dem Weg zu einem philosophisch geerdeten Verständnis von Tradition ist der schon kurz ge­ streifte Irrationalismus-Verdacht. Man könnte geradezu von einem Fram­ ing sprechen, denn zumeist wird ganz selbstverständlich angenommen, Traditionen seien dogmatisch, antiaufklärerisch, unterdrückend, unflexi­ bel und so weiter. Wenn sich daher eine Untersuchung auf Traditionen be­ zieht, scheint implizit klar, dass sie aus dem Rahmen des „zulässigen“ ratio­ nalen Diskurses herausfällt. Eine Hinwendung zu dem Begriff, wie sie hier versucht wird, kann folglich gar keine sinnvollen Ergebnisse zeitigen außer der Bestätigung dessen, was ohnehin mittels Irrationalismus-These schon als erwiesen gilt. Daher müssen zwei Dinge thematisch werden, erstens die Frage, ob Traditionen selbst wirklich irrational sind,141 und zweitens der Impuls, dem Phänomen möglichst unbefangen zu begegnen. Die theoreti­ sche Rahmung als irrational, dogmatisch und dergleichen muss im Sinne einer „Epoché“ à la Edmund Husserl142 ausgeklammert und zurückgestellt bleiben. Schon der historische Blick ist aber durch die oft nicht eingehaltene Epoché meist verzerrt. Wenn etwa, um dies nur an einem konkreten Fall zu belegen, die Scholastik als traditionsverhaftet und irrational dargestellt wird, folgt ein solches Diktum zumeist einem in der Aufklärungszeit ent­ standenen Topos, wonach diese allein die Befreiung von Traditionen er­ möglicht habe. Eine genaue Lektüre zeigt aber, dass das nicht schlechthin stimmt.143 Thomas von Aquin behauptet beispielsweise keineswegs, etwas müsse deshalb und nur deshalb richtig sein, weil es der Tradition ent­ und sich verorten jenseits der Moderne“, in: E. Conze, M. D. Witte (Hrsg.): Pfadfinden. Wiesbaden 2014, S.  144–159, z. B. S.  144 f. und dies.: „Traditionen in posttradi­tionaler Vergemeinschaftung. Am Beispiel des rheinischen Straßenkarnevals“, in: R.  H itzler, A.  Honer, M. Pfadenhauer (Hrsg.): Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen. Wiesbaden 2008, S.  270–284. 141  Vgl. dazu die Hinweise in Kap.  I I.2.5 und III.2 dieser Studie und die Kap.  3.11, 3.14 und 3.16 bei S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. 142  Zu diesem Konzept vgl. z. B. E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Gesammelte Werke. Bd.  VI). Hrsg. v. W.  Biemel. Den Haag 1976, S.  138–142, 151–161. Zu Husserls Traditionsverständnis und dem  – letzten Endes  – naiven Epoché-Verständnis vgl. die Analyse in H. Schmitz: ­Husserl und Heidegger. Bonn 1996, S.  108–132 und in dieser Studie Kap.  II.1. 143  Dies sieht auch ganz richtig Specht, der auf die zivilisatorische Leistung der tra­ ditionsfreundlichen Scholastik hinweist (vgl. R. Specht: „Über Funktionen der Tradi­ tion“. S.  103 f.).

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stamme. Er denkt viel differenzierter. So schreibt er über die Gewohnheit (consuetudo): Da jeder das als gut zu wählen scheint, was er durch die Tat vollführt, so ist sicher, daß nicht bloß nur Worte, sondern Werke bzw. Handlungen, die sehr viel gesetzt werden (sie stellen eine Gewohnheit her), ein Gesetz verursachen, so daß es mit Recht von der Gewohnheit heißt, sie habe Gesetzeskraft.144

Thomas sagt nicht, wie der naive Blick mitunter meint, etwas müsse getan werden, weil es immer schon getan wurde, sondern er fügt einen wichtigen argumentativen Zwischenschritt ein. Das entsprechende Konditional lau­ tet: Wenn Menschen etwas tun, ist es (in der Regel) gut gewählt. Da aber bestimmte Tätigkeiten sehr oft wiederholt werden, sind diese vermutlich besonders gut gewählt, gleichsam durch die Iteration gerade in ihrer Sinn­ haftigkeit bestätigt oder doch zumindest gestärkt. Nur ein von der Prämis­ se, alles Alte, Traditionelle sei per se irrational, geleiteter Blick kann diese argumentative Nuance145 übersehen. Um solche Fehler zu vermeiden, muss der Irrationalismusverdacht zurückgestellt werden. Das heißt freilich nicht, dass mit dem Verdacht nicht auch Wahres getroffen wird. Ohne Zweifel hat es geschichtlich solches Festhalten an Traditionen gegeben, welches gegen eine neue Einsicht opponiert und sich als irrational und falsch erwies, aber es ist ein unzulässiger Induktionsschluss, daraus allumfassende Verallge­ meinerungen abzuleiten.146 Zudem wäre gegen den Irrationalismus-Verdacht147 eine weitere Vertei­ digung anzubringen, die von der Unterscheidung zwischen Rationalismus 144  T. v. Aquin: Summa Theologica. I.II.97.3 (zitiert nach ders.: Summe der Theologie. Bd.  2 . Hrsg. v. J. Bernhart. Bonn 1935, S.  494 f.). Zu dieser Stelle vgl. auch J. Pieper: Überlieferung. S.  65. 145  Diese selbst ist freilich wieder kritisierbar, aber darauf kommt es hier nicht an. 146  Ein Beispiel konkreter Art für falsche Induktionen wäre es etwa, Tradition und Rückschrittlichkeit zu identifizieren. Das zeigt schon das Agieren Luthers, der in ge­ wisser Weise eine Restitution der schriftlichen Tradition forderte und auf diese Weise – jedenfalls nach allgemeiner Lesart – Anteil an einem Innovationsschub hatte. Zur ty­ pisch modernen Verbindung von Tradition und Rückwärtsgewandtheit vgl. auch die Analyse bei A. Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? S.  141 f. 147  Dass der Kritik am Irrationalismus-Vorwurf hier Raum gegeben wird, versteht sich vielleicht von selbst, denn mit ihm wird implizit auch jede Beschäftigung mit Tra­ dition gleichsam diskreditiert. Gegen einen solchen Schluss muss sich eine Untersu­ chung wie die vorliegende daher im Grundsatz wehren. Für eine parallele Kritik am Irrationalismus-Vorurteil vgl. auch T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  9. Dort scheinen aber Ursache und Wirkung zwischen Aufklärung und Romantik seltsam verdreht, wenn behauptet wird: „Indem die gegenaufklärerischen Kräfte des Konservatismus und der Romantik Tradition als eine göttliche oder naturhafte Ordnung inszenieren, welche sich dieser Aufforderung [nach kritischer Prüfung; S.K.] kategorisch entzieht,

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der Sache und Rationalismus der Methode ausgeht.148 Es ist den Menschen nicht möglich, die Rationalität des Objektes sichern zu können, denen sie sich erkennend zuwenden. Was aber in ihrer Macht steht, ist die rationale Zuwendung selbst. Bedenkt man diesen Unterschied, der oft übersehen wird, dann ist klar, dass Traditionen selbst irrational sein könnten, aber die methodisch geleitete Beschäftigung mit ihnen gerade trotzdem rational. Letztere kann und muss im Rahmen von Wissenschaft explizit eingefor­ dert werden, Erstere nicht. Das starke Irrationalismus-Verdikt stammt zu großen Teilen historisch aus der Aufklärungszeit und deren Rezeption. Als locus classicus kann aber bereits John Lockes „An Essay Concerning Human Understanding“ gelten, in dem falsche Assoziationen als Wahnsinn verdammt werden, und zwar deshalb, weil „opposition to Reason deserves that Name, and is really Madness.“149 Woher stammt diese „wahnsinnige“ Assoziationstätigkeit, die Menschen unvernünftig und irregeleitet werden lässt? Locke meint: That which thus captivates their [d. h. der Menschen; S.K.] Reasons, and leads Men of Sincerity blindfold from common Sence, will, when examin’d, be fount to be what we are speaking of: some independent Ideas, of no alliance to one another, are by Education, Custom, and the constant din of their Party, so coupled in their Minds, that they always appear there together, and they can no more separate them in their Thoughts, than if they were but one Idea, and they operate as if they were so. This gives Sence to Jargon, Demonstration to Absurdities, and Consistency to Nonsense, and is the foun­ dation of the greatest, I had almost said, of all the Errors in the World […].150

Bildung und Gewohnheit sowie das übliche „Gerede“ werden verantwort­ lich gemacht für die zum Wahnsinn führende Unvernunft falscher Ideen­ assoziationen. Auf diese Weise wird Tradition, sofern sie qua Bildung und Gewohnheit als (mit-)gemeint unterstellt werden kann, synonym mit Ir­ rationalität  – und die aufkommende Aufklärung verstärkt diese Identifi­ prägen und verfestigen sie die Vorstellung, dass Tradition wesentlich irrational sei.“ Winter akzeptiert damit schon die Perspektive der Aufklärung, ohne deren Rationalis­ muskonzept selbst wieder auf den Prüfstand zu stellen, obwohl dieses es ist, das den Maßstab für die Irrationalität liefert. 148  Vgl. zu dieser Unterscheidung H. Schmitz: System der Philosophie. Bd.   V: Die Aufhebung der Gegenwart. Bonn 2005, S.  202 sowie die zusätzlich auf Herbert Schnä­ delbach und Ludwig Klages zurückgreifenden Überlegungen zu den Problemen des Irrationalismus-Vorwurfs bei M. Großheim: „Zur Aktualität der Lebensphilosophie“, in: ders. (Hrsg.): Perspektiven der Lebensphilosophie. Zum 125.  Geburtstag von Ludwig Klages. Bonn 1999, S.  9 –20, hier S.  11 ff. 149  J. Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Hrsg. v. P. H. Nidditch. Oxford 2011, Buch  II, Kap.  X XXIII, §  4 (S.  395). 150  J. Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Buch  I I, Kap.  X XXIII, §  18 (S.  400 f.) (Hervorh. im Orig. anders).

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zierung. Dagegen haben sich immer wieder Stimmen erhoben, die auf eine Differenzierung insbesondere des Rationalitätsbegriffs gedrungen haben. Zu solchen Denkern gehören Herder151, aber auch Karl Raimund Popper152 , Panajotis Kondylis153 oder in mehreren sich einer Kritik der Aufklärung widmenden Büchern Landmann.154 Dieser schreibt zum Beispiel: Die, die gegen die Alleinherrschaft des messenden und rechnenden, analysierenden, sich methodisch einschnürenden Verstandes noch Anschauung, Gefühl und Phantasie, die den Tiefsinn von Symbol und Mythos, die Sprache der Geschichte und der Kunst retten wollen, finden sich unversehens in einer Gesellschaft mit Obskuranten und poli­ tischen Reaktionären […].155

Er deutet damit an, dass durch das Rationalitätsmonopol einer bestimmten Aufklärungsströmung abweichende Stimmen immer schon im Verteidi­ gungsmodus operieren, und zwar nicht im Hinblick auf konkrete Thesen, sondern ganz grundsätzlich im Hinblick auf die bloße Möglichkeit ihres Vorkommens. Traditionsdenken läuft immer Gefahr, in die von Landmann geschilderte Obskurantismus-Falle zu tappen. Peter Sloterdijk hat, unab­ hängig von Landmanns Überlegungen, zu Recht zwei Formen der Ratio­ nalitätskritik unterschieden, die den Obskurantismusverdacht unterlaufen: Traditionelle Rationalitätskritik ist Anwendung der Rationalität auf sich selbst und Re­ flexion über Möglichkeiten und Grenzen von Entsprechungen und Angemessenheiten im Erkennen, Handeln und Urteilen. Radikalisierte Rationalitätskritik ist der Ein­ spruch gegen die Anmaßung des Messens, Einteilens und Rechnens und gegen die Maß­ losigkeit des Rationalismus beim Aufrichten von Maßstäben und Meßbereichen.156

Beide Formen scheinen legitim, beide sind relevant, beide lassen sich ausge­ hend vom Nachdenken über Tradition entwickeln. Und vor allem: Selbst 151 

Vgl. z. B. J. G. Herder: Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. F.  Bas­ senge. Berlin 1955, S.  27, wo angemerkt wird, dass es Schwierigkeiten zeitigt, wenn die Vernunft in eigener Sache Richter, Zeuge, Gesetz und Ankläger ist. 152 Vgl. K. R. Popper: „Versuch einer rationalen Theorie der Tradition“, in: ders.: Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis. Teilband I: Vermutungen. Tübingen 1994, S.  175–197. 153  Vgl. P. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S.  42. 154 Zu dessen Aufklärungskritik vgl. v. a. M. Landmann: Anklage gegen die Vernunft. Stuttgart 1976 und ders.: Entfremdende Vernunft. Stuttgart 1975. 155  M. Landmann: Das Ende des Individuums. Anthropologische Skizzen. Stuttgart 1971, S.  165. Eine ganz ähnliche Überlegung im Hinblick auf ein postkritisches Unter­ werfen unter Ungeprüftes, das der etablierten Rationalität als Obskurantismus erschei­ nen muss, findet sich bei M. Polanyi: Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy. Chicago 2015, S.  271. 156  P. Sloterdijk: Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik. Frankfurt 1989, S.  243.

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wer der zweiten, radikalisierten Form der Rationalitätskritik folgt, muss selbst nicht irrational sein, sondern kann sehr wohl – im Sinne eines metho­ dischen, nachvollziehbaren Vorgehens  – rational agieren. Jedenfalls darf dem undifferenzierten Irrationalismus-Verdikt nicht einfach nachgeben werden, und zwar schon im Interesse eines rationalen Weltbezugs selbst.157 Schließlich muss noch eine weitere, letzte Klippe genommen werden, an der sich womöglich Vorwürfe der Unvernünftigkeit entzünden könnten. Schon in den vorangehenden expositorischen Abschnitten war vielfach auf theologische Literatur verwiesen worden. In der Gegenwart gibt es die Tendenz, solche Argumente ganz aus der Philosophie herauszuhalten, weil sie – sofern sie theistisch operieren – irrational seien. Auch das ist unter­ komplex gedacht. Es ist ohne Zweifel richtig und notwendig, Philosophie auf mindestens intersubjektiv nachvollziehbare Argumente zu gründen, weshalb das Stützen auf einen Gott (oder auch auf mehrere) in dieser Hin­ sicht ausscheidet. Nichtsdestotrotz aber ist es hermeneutisch möglich, theologische Literatur ohne theistische Annahmen philosophisch zu inter­ pretieren und zu verwerten. Daran ist nichts irrational.158 Neben diesen rationalitätsspezifischen Problemen gibt es zudem noch ein weiteres, das bereits mehrfach angesprochen wurde, hier aber noch ein­ mal ausführlicher aufgegriffen werden muss. Wilfried Barner hat gezeigt, dass schon seit der Goethe-Zeit es zum Charakteristikum der deutschen Kultur gehört, auf (im weitesten Sinne verstandenem) politischem Feld ein gespaltenes Verhältnis zu Traditionen zu haben,159 wobei er vermutlich recht damit hat, für Deutschland in dieser Hinsicht besondere Probleme zu 157  Weiterhin lässt sich der Irrationalismus-Vorwurf noch besser in seinen Wirkun­ gen verstehen, wenn man bedenkt, dass der Vorwurf, aus der Vernunft auszubrechen, einer Entmenschlichung gleichkommt. Wer nicht mehr vernünftig denkt, ist kein Mensch mehr. Daher wiegt er so schwer. Vgl. dazu schon É. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Übers. v. L. Schmidts. Frankfurt 1984, S.  38. Zum anderen ist mit Charles Taylor darauf hinzuweisen, dass es in der Moderne die Tendenz theoretischer Systeme gibt, alle Begriffe und Phänomene aus sich selbst (und nur aus sich selbst) zu erklären. Wenn daher systeminkompatible Redeweisen aufkom­ men, wenn also zum Beispiel über (vermeintlich) irrationale Traditionen im Rahmen (vermeintlich) rationaler Theorie gesprochen werden soll, wird dies unmöglich. Vgl. dazu C. Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Übers. v. J. Schulte. Frankfurt 2009, S.  1210 f. Gegen eine solche Abschottung ist zu opponieren gerade mit dem oben gemachten Hin­ weis auf die Differenz von Rationalismus der Sache und Rationalismus der Methode. 158  Ein Auslassen der theologischen Literatur wäre wissenschaftlich unredlich und zudem eine unzulässige Selbstbeschneidung, denn es ist historisches wie geistesge­ schichtliches Faktum, dass über Jahrhunderte in der Theologie die intellektuelle Hei­ mat des Traditionsdenkens war. 159  W. Barner: „Über das Negieren von Tradition“. S.  11.

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attestieren. Aber diese abstraktere Beobachtung ist auch für andere Kultu­ ren relevant, dass der Begriff Tradition politisch konnotiert ist. Während Goethe und andere keine nahe Tradition mehr fanden, an die sie anschlie­ ßen wollten und daher gegebenenfalls sich projektiv an ältere, zum Beispiel die klassisch griechische Zeit,160 anschlossen, ist in der Gegenwart der An­ schluss an Tradition überhaupt mit einer politischen Dimension belastet. Zumeist wird Tradition oder Traditionalität mit dem konservativen oder rechten (partei-)politischen Spektrum identifiziert, ein affirmativer theore­ tischer wie praktischer Bezug auf Tradition also entsprechend verortet. Das ist höchst problematisch: Dieses Vorurteil muss entschieden zurückgewiesen werden, denn es war und ist beson­ ders schädlich für die Entwicklung einer Traditionstheorie. Nicht nur, dass politische Vereinnahmungen von Theorien zu einer Verzerrung des behandelten Gegenstandes führen. Die Aussicht, unfreiwillig mit einem politischen Lager assoziiert zu werden, kann auch davor abschrecken, sich überhaupt mit dem Thema zu beschäftigen.161

In der Gegenwart sind wissenschaftliche Diskussionen vielleicht so stark wie seit früheren, vermeintlich traditionellen Zeiten nicht mehr unter den Zwang außerwissenschaftlicher Impulse geraten. Die Idee zweck- und wertfreier Wissenschaftlichkeit steht heute mehr denn je unter Legitima­ tionsdruck. Sachfremde Ansprüche an Inhalte, Sprache und so weiter ge­ fährden gegebenenfalls den Zugang zu den Phänomenen, auf die zu schau­ en und zu reflektieren eigentliches Ziel der Wissenschaft sein sollte.162 Wenn daher die politischen Implikationen des Traditionsbegriffs akzep­ tiert werden, erübrigt sich, wie Winter richtig befürchtet, die wissenschaft­ liche Beschäftigung mit ihm. Das wäre aber unwissenschaftlich, sogar wis­ senschaftsgefährdend, denn alles Nicht-Bedachte kann um so stärker, weil 160  Vielleicht ist vor diesem Hintergrund auch die Beobachtung verstehbar, dass mit Goethe und seiner Zeit die Herausbildung eines expliziten Nachlassbewusstseins auf­ kommt. So gesehen stellt das schon zu Lebzeiten aufkommende Sorgen um den je eige­ nen Nachlass eine Kompensation nicht mehr bestehender Traditionen dar. Vgl. dazu K.  Sina, C. Spoerhase: „Nachlassbewusstsein. Zur literaturwissenschaftlichen Erfor­ schung seiner Entstehung und Entwicklung“, in: Zeitschrift für Germanistik, Bd.  ­X XIII (2003), S.  607–623, z. B. S.  613 f. Schiller hat ebenfalls im Rahmen seiner Universalge­ schichte auf die Kette der Tradition als wertvollen Menschenbesitz – vor allem in epis­ temischer Hinsicht – verwiesen. Vgl. dazu F. Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Jena 1984, v. a. S.  20 ff., 24 f., 27 f. 161  T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  14. Eine ähnliche Sensibilität für die p ­ olitischen Konnotationen des Begriffs zeigt E. Shils: Tradition. S.  3 f. 162  Vgl. als eine Stimme dazu C. Paret: „Schiffbruch ohne Zuschauer. Warum die Universität nicht mehr Ort gefährlichen Denkens ist“, in: Lettre International, Heft 130 (2020), S.  29 ff.

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unbemerkt, wirken und zukünftige Forschung auf Irrwege führen. Zudem ist es Aufgabe der (philosophischen) Besinnung, solche Konnotationen selbst zu thematisieren und zu prüfen. Dabei zeigt sich schnell, dass schon die unterstellte ausschließliche oder auch nur schwerpunktmäßige Zuord­ nung zum konservativen oder rechten Spektrum schlicht falsch ist.163 Auch im Bereich des linken politischen Raums finden sich affirmative Bezugnah­ men. So geht es beispielsweise Erich Honecker in den 1970er Jahren ohne Probleme von der Hand, zu behaupten, „unsere sozialistische Nationalkul­ tur [erweist sich] als die Bewahrerin aller fortschrittlichen Traditionen.“164 Kurt Hager, der prägend für die ostdeutsche Kulturpolitik war, kann sich ebenfalls positiv auf Tradition beziehen, er meint sogar, der Kommunismus hüte das humanistische und progressive Erbe ganz dezidiert.165 Solcherlei 163  Das sieht auch Winter (T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  14) ganz richtig. Über­ haupt ist seine Kritik an verschiedenen Vorurteilen der Tradition gegenüber reflektiert und begrüßenswert. Wenn man eine rechtskonservative Publikation sucht, sei erwähnt, dass im „Staats­ politischen Handbuch“ das Lemma „Tradition“ vorkommt, dort weitestgehend wert­ frei und sachlich unspektakulär geschildert wird als Humanum, welches darin bestehe, von Vorfahren Erhaltenes weiterzugeben (vgl. K. Weißmann: „Tradition“, in: ders., E.  Lehnert (Hrsg.): Staatspolitisches Handbuch. Bd.  1: Leitbegriffe. Schnellroda 2009, S.  144 f.). 164  E. Honecker: „Über die Entwicklung der Künste und der kulturellen Betätigung (Aus dem Referat auf dem VIII. Parteitag der SED)“, in: K.-K. Höfer, K. Kießling, G. Volk (Hrsg.): Erbe und Gegenwart. Leipzig 1975, S.  15 ff., hier S.  17. 165  Vgl. K. Hager: „Die Pflege der kulturellen Traditionen“, in: K.-K. Höfer, K. Kieß­ ling, G. Volk (Hrsg.): Erbe und Gegenwart. Leipzig 1975, S.  25 ff., hier S.  27, wobei er sich explizit auf Lenin beziehen zu können meint. Als zwar nicht wörtlich, aber das Sache nach auf Tradition abzielende Äußerung mag noch der namenlose Protagonist aus Peter Weiss’ Roman „Die Ästhetik des Widerstan­ des“ zur Sprache kommen, der trotz seiner unbestritten links orientierten Weltperspek­ tive ein Interesse (wenn auch nutzenorientiertes) an Traditionen hat: „Auch wir waren ja mißtrauisch gegenüber dem Bestimmten, dem Festgefügten, und sahn unter der Hül­ le von Gesetzmäßigkeiten die Manipulationen, an denen viele von uns zugrunde gin­ gen. Auch der Dadaismus wies etwas von unsern Neigungen auf, er hatte in die feinen Stuben gespien, er hatte die Gipsbüsten von ihren Sockeln gestürzt und die Girlanden der kleinbürgerlichen Selbstverherrlichung zerrissen, das war uns recht, der Verhöh­ nung des Würdigen, der Lächerlichmachung des Heiligen stimmten wir zu, doch für den Ruf nach totaler Zertrümmerung der Kunst hatten wir nichts übrig, solche Parolen konnten sich diejenigen leisten, die übersättigt waren von Bildung, wir wollten die Ins­ titutionen der Kultur erst einmal heil übernehmen, sehn, was dort vorhanden war und unsrer Lernbegier dienstbar gemacht werden konnte“. (P. Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Hrsg. v. J. Schutte. Berlin 2016, S.  71). Der Protagonist will keine traditions­ lose tabula rasa, sondern Nachvollzug und Bewertung  – gefolgt von Annahme oder Verwerfung – der Tradition. Keineswegs kann daher linke Kulturphilosophie mit Tra­ ditionsfeindlichkeit gleichgesetzt werden. Zu dieser Textstelle vgl. auch V. Ladenthin:

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I. Exposition

Stimmen lassen sich etliche finden, und verschärft wird diese Sachlage noch dadurch, dass freilich auch linke politische Strömungen auf die Dauer an der Etablierung von eigenen Traditionen Interesse haben. Dann aber kann der Begriff nicht ausschließlich mit dem konservativen oder rechten Spek­ trum verbunden werden, sondern muss gerade als metapolitischer neutral in den Blick genommen werden. Tradition ist prima facie ein anthropologi­ sches, kein politisches Phänomen. In jedem Fall gilt, dass der politische und weltanschauliche Umgang mit Traditionen der Frage danach, was diese ei­ gentlich sind, nachgeordnet und von minderem Interesse bleibt.

3.2 Genitivus subjectivus Weit weniger als das geschilderte Denken über Traditionen als problema­ tische Objekte hat man die umgekehrte Perspektive verfolgt und über die Probleme der Tradition nachgedacht, die diese mit den Menschen und der Kultur hat. Das ist zwar verständlich, insofern das eine Anthropomorphi­ sierung darstellt, aber im Interesse einer redlichen Erkundung des Feldes ist eine solche Blickveränderung sinnvoll und hilfreich, auch wenn sie letzt­ lich fiktiven Charakters ist. Auf diese Weise wird durch einen spekulativen Blickwechsel eine anderweitige Sensibilisierung für Einseitigkeiten und Leerstellen möglich. Zunächst ist auffällig, dass der Terminus selbst keine hohe Anerkennung besitzt, was sich an den fehlenden oder eher marginalen Einträgen in Lexi­ ka zeigt.166 Eine Exegese der Handbücher vor diesem Hintergrund belegt das klar.167 Noch deutlicher wird dies daran, dass der Begriff oft als techni­ scher gar nicht erkannt wird, so dass er in den Registern fehlt.168 Es handelt „Plädoyer für die Hochkultur“, in: U. Neuhaus, U. Schaffers (Hrsg.): Was wir lesen sollen. Kanon und literarische Wertung am Beginn des 21.  Jahrhunderts. Würzburg 2016, S.  61–77, hier S.  6 4, der darauf hinweist, dass es im linken Spektrum auch die Ten­ denz gibt, alles zur Tradition zu erklären, womit der Begriff womöglich auf andere Weise als durch explizite Negation abgeschafft würde. Das mag hier unbeachtet blei­ ben. 166  So fehlt das Lemma ganz etwa bei C. Gudehus, A. Eichenberg, H. Welzer (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar 2010. 167  Eine derartige Exegese findet sich bei J. Pieper: Überlieferung. S.  19 f.; ders.: Über den Begriff der Tradition. S.  11 ff. und O. Nahodil: Menschliche Kultur und Tradition. S.  22. Am verbreitetsten ist der Begriff noch immer in theologischen Lexika. Vgl. dazu die rezeptionshistorische These bei V. Steenblock: „Tradition“. Sp.  1317 f. 168  Um ein Beispiel dafür zu nennen, sei auf Kondylis verwiesen, in dessen bahnbre­ chender Studie zu Rationalitäts-Konzepten der Aufklärung das Wort Tradition allein auf den Seiten 9 bis 16 fast zehn Mal fällt, aber von ihm offensichtlich nicht als terminus technicus verstanden wird, denn weder wird es erläutert oder gar definiert, noch in das

3. Die Probleme der Tradition

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sich mithin um einen Begriff ohne philosophisches Renommee, ohne „Ge­ wicht“. Umgekehrt formuliert, Tradition sucht noch nach Anerkennung. Damit geht der Umstand einher, dass es an prominenten Fürsprechern fehlt. Zwar ist etwa Gadamer vehement für sie eingetreten, aber seine Stim­ me kann als die einzig breitenwirksamere gelten, alle anderen Fürsprecher sind eher in spezielleren Diskurszirkeln bekannt. Oder es gibt zwar promi­ nente Traditionsverteidiger, aber deren Thesen werden vor dem Hinter­ grund anderer, dominanterer Aspekte ihres Werkes missachtet. Dazu kann man wohl Adorno rechnen, aber ebenso Popper169 und  – vielleicht über­ raschenderweise – in Ansätzen Ernst Bloch170 . Die Kritik an Traditionen hingegen mag nur bedingt einzelne, heraushebbare Exponenten haben, sie ist aber gleichsam zu einem universellen Allgemeinplatz geworden, wie man leichthin eben kritisch sagt, etwas sei doch „nur traditionell“. Hier gibt es ohne Zweifel ein normatives wie rezeptives Ungleichgewicht. Und schließlich könnte die Tradition, als selbstreflektierendes Subjekt imaginiert, neben der fehlenden Anerkennung und den fehlenden Fürspre­ chern als drittes noch geltend machen, dass sie als das Nächste oft das Fernste ist. Das heißt, Tradition wird zumeist dann thematisiert, wenn sie schon fremd geworden ist, wenn sie defizitär oder hinderlich erscheint. Die vorausgehenden Leistungen und Wirkungen der Tradition, als sie noch „nahe“ war, noch „gelebt“ wurde, kommen als unauffällige, unbemerkte, selbstverständliche nicht oder nur unangemessen in den Blick. Ein solches Denken über und an Traditionen zeitigt ein negatives Bild, wenn sie nur als Hindernisse in den thematischen Fokus rücken. Man muss nicht gleich in das andere Extrem verfallen und allein die Traditionen für die Kultur ins­ gesamt verantwortlich machen, aber es ist sicher – gerade in der übertriebe­ nen Dichotomie  – etwas Wahres an folgendem Gedanken Kolakowskis, jedenfalls mehr, als die dominante, einseitig auf die beschränkende und op­ Register aufgenommen (vgl. P. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus). 169  Vgl. K. R. Popper: „Versuch einer rationalen Theorie der Tradition“. 170 Bloch schreibt: „Wachsam zu sein ist notwendig besonders bei einem Wort wie dem der Tradition, das von Überlieferung, Altangestammtem, Hergebrachtem, Herge­ kommenem erzählt und auch von Gutem, Altem, Schönem, was Patina angesetzt hat, was auch Nachreife haben kann, was uns strahlend aus der Vergangenheit entgegen­ kommt. Es ist übel, wenn dieses Wort in Bausch und Bogen mit Rückschritt, mit Reak­ tion in eins gebracht wird.“ (E. Bloch: „Gibt es Zukunft in der Vergangenheit?“, in: L.  Reinisch (Hrsg.): Vom Sinn der Tradition. München 1970, S.  17–33, hier S.  17). Über­ raschend ist Blochs These deshalb, weil er als Denker der Utopien gerade in die Zukunft zu blicken anregt. Dass er im Hinblick auf Traditionen eine zumindest vermittelnde Perspektive andeutet (vgl. ebd., S.  32), wird praktisch nicht rezipiert.

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I. Exposition

pressive Wirkung der Tradition blickende, kritische Perspektive wahrha­ ben will: […] [H]ätten nicht die neuen Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition revoltiert, würden wir noch heute in Höhlen leben; […] wenn die Revolte gegen die er­ erbte Tradition einmal universell würde, werden wir uns wieder in den Höhlen befin­ den.171

Im Sinne des fiktiven Szenarios wäre die Tradition berechtigt, eine umfas­ sende Leistungsbewertung zu verlangen, die nicht erst einsetzt, wenn sie schon als defizitär, als tot auffällig wird. Zumal man in Anschlag bringen könnte, dass eine Tradition, die in diesem Sinne bemerkbar wird, schon eigentlich keine mehr ist. Vielleicht liegt phänomenal gleichsam ein „Ab­ grund“ zwischen toten, störenden, defizitären Erscheinungsformen und den lebendigen, „naiv“ gelebten? Mit diesen drei weiteren Hinsichten soll dafür sensibilisiert werden, dass eine Annäherung an das Phänomen Tradition etliche Felsen à la Skylla und Charybdis zu umschiffen hat. Ob das vollumfänglich gelingen kann, mag dahingestellt bleiben, als Hilfe für die Besinnung ist es jedenfalls sinnvoll, der entsprechenden Gefahren eingedenk zu bleiben. Der Diskurs über Tra­ dition, zu dem die vorliegende Studie einen phänomenologischen Beitrag zu leisten unternimmt, gewinnt ganz unabhängig vom positiven Ertrag der späteren Kapitel dadurch, dass insgesamt die verhandelten Probleme – egal ob aus objektiver oder subjektiver Perspektive gewonnen  – mitbedacht werden und die Zuwendung gleichsam sine ira et studio erfolgt.

4. Methodische Entscheidungen 4.1 Selbstvorbehalte Bevor in medias res gegangen werden kann, muss eine Untersuchung im Interesse der wissenschaftlichen Redlichkeit selbstverständlich auf ihre ei­ gene Verortung und damit eigenen Grenzen blicken. So soll der Rahmen des wissenschaftlich seriös Erwartbaren abgegrenzt und die hermeneuti­ sche Interpretation der Ergebnisse für Rezipienten ermöglicht werden. Es sind vier derartige Selbstvorbehalte zu explizieren, und zwar im Hinblick auf Eklektizismus, Eurozentrismus, Sprachbarrieren und Essentialismus. 171 L. Kolakowski: „Der Anspruch auf selbstverschuldete Unmündigkeit“. S.   1. Kola­kowski ist sich selbst gegenüber jedoch noch nicht kritisch genug, denn der erste Halbsatz unterstellt, dass es innerhalb einer Tradition keinen Fortschritt geben kann – was aber spricht dafür?

4. Methodische Entscheidungen

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Zunächst muss sich die Untersuchung verteidigen gegen den Vorwurf, eklektizistisch vorzugehen, der naheliegt, weil auf ein breites Feld interdis­ ziplinärer Arbeiten zurückgegriffen wird, ohne jeweils in großem Umfang den dahinterstehenden Fachdiskurs aufzugreifen. Es könnte der Eindruck entstehen, es würden Versatzstücke aus unterschiedlichsten Fachbereichen beliebig aufeinander bezogen, ohne dass es andere als wortsprachliche Ge­ meinsamkeiten und somit bloß „assoziative“ Brücken gibt. Dagegen wäre zu betonen, dass mittels einer Orientierung am Phänomen Tradition ein gemeinsamer Bezugspunkt gegeben ist, der einen fachübergreifenden Dis­ kurs gestattet. Alle entsprechenden theoretischen Angebote werden zu­ nächst als Aussagen über die Tradition ernst genommen. Dabei spielt der fachspezifische Hintergrund nur eine relative Rolle, denn es geht haupt­ sächlich darum, jeweils zu verstehen, was als Tradition gemeint ist. Auf diese Weise kommt das entsprechende Verständnis zum Ausdruck, ohne das schon vorentschieden wäre, welche Disziplin oder welcher Ansatz recht hat. Ein Verständnis dessen, was mit Tradition je gemeint ist, setzt dabei zwar ein Einblick in den Kontext der Literatur voraus, keineswegs aber ein umfassendes Verständnis des Fachs. In dieser Hinsicht greift der Vorwurf also nicht, aber er kann auch an­ ders formuliert werden, und zwar so, dass unterstellt wird, es würden nur einzelne Aussagen eines Autors oder aus dem Feld eines theoretischen Pa­ radigmas herangezogen, ohne den Gesamtrahmen zu beachten. Dieser Ein­ wand liegt nahe, wenn man, wie hier, einen Querschnitt wagt. Es ist schlicht unmöglich, jeden Text, jede Position noch einmal in alle umgreifenden Rahmen einzuordnen.172 Was gefordert werden kann, ist eine hermeneu­ tisch hinreichend orientierte Exegese der herangezogenen Quellen. Das heißt, die relevanten Kontexte – sei es der Entstehung, sei es der Zeit, sei es der Kritik und so weiter – müssen bedacht werden. Gleichwohl erfordert dies nicht eine Gesamtverhandlung des Oeuvres jedes Autors. Dies zumal deshalb nicht, weil die Studie keineswegs ein historisches Interesse ver­ folgt, sondern vielmehr letztlich systematisch blickt.173 Insofern ist eine Beschränkung auf partielle Texte, gar auf nur Fragmentarisches gestattet, aber freilich  – wie jede gute wissenschaftliche Untersuchung  – weiteren Nachdenkens und gegebenenfalls einer Revision bedürftig. Eine andere Einschränkung betrifft den Kulturraum der herangezoge­ nen Quellen, die allesamt – wenn man die Herkunft gewisser theologischer 172 

Vgl. aber als Hintergrund die umfangreichere Quellenarbeit in S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. 173  Vgl. dazu Kap.  I.4.2.

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Überlegungen aus dem vorderorientalischen Raum einmal beiseitelässt  – der westlichen, das heißt europäisch-amerikanischen Welt entstammen. Leicht wird daraus in Diskussionen in der Gegenwart ein Vorwurf ge­ macht, das entbehrt aber jeglicher Grundlage. Vielmehr muss jede Unter­ suchung, die sich hermeneutisch richtig versteht, an einem Ort beginnen, der gleichwohl arbiträr ist, weil er allein vom Autor und dessen Biographie abhängt, übrigens auch seiner spracherschließenden und ebenso sprachver­ schließenden Bildungsbiographie. Insofern ist das Explizitmachen des Re­ kurrierens auf westliche Forschungsliteratur legitim. Zudem – und das ist vielleicht der wichtigste Punkt – ist es gar nicht ausgemacht, dass eine Un­ tersuchung, wenn sie aus einer Kultur hervorgeht, nicht ebenso für andere Kulturen zutreffende Aussagen ermöglichen kann. Es war schon gesagt worden, dass vieles dafür spricht, Tradition als anthropologisch zu lesendes Phänomen anzusehen. Wenn das stimmt, müsste sich das hier Erhellte auf andere Kulturen anwenden lassen. Erst die konkrete Übertragung kann zeigen, inwiefern das stimmt, welche Korrekturen gegebenenfalls nötig sind und so weiter. Per se folgt aus dem Ausgang von europäisch-westlichen Quellen keinerlei Beschränkung des Geltungsbereiches, jedenfalls nicht prima facie, sondern dafür müsste erst argumentative Stützung erfolgen. Und schließlich, dies sei nur erwähnt, setzt die Auseinandersetzung mit Zeugnissen anderer Kulturen, wenn sie sich selbst ernst nimmt, mehr als nur ein oberflächliches Sprachvermögen und mehr als nur indirekte Kennt­ nisse voraus, die nicht einfach beliebig zu erwerben sind. Es machen sich viele Studien den Zugang zu leicht. Redlicher ist es, die eigenen Grenzen wie den eigenen Ort klar zu markieren und die Übertragung und gegebe­ nenfalls Kritik durch andere Kulturen und an ihnen entsprechenden Ex­ perten zu überlassen. Damit einher geht ein weiterer Vorbehalt, nämlich die Frage der sprach­ lichen Barrieren. Es wurden bereits englische und französische Texte still­ schweigend herangezogen, ohne auf dieses Problem einzugehen. Wie ein­ gangs erwähnt, sind die etymologischen Ableitungen aus tradere und seinen Formen weit verbreitet, was eine gewisse intersprachliche An­ ­ schlussfähigkeit sichert. Gleichwohl darf man an dieser Stelle nicht naiv sein, die Sprachen entlehnen Wörter auf spezifische Weise mit je eigenen semantischen Konnotationen, oft werden zudem auch eigene Parallelwör­ ter für denselben Gehalt gebildet, wie etwa im Deutschen das Wort Über­ lieferung. Daher wurde, wo immer möglich, am Original das Vorkommen des Wortes geprüft und sensibel auf semantische Verschiebungen geachtet. Dazu aber kommt der Umstand, dass, wo Übersetzungen herangezogen werden, es oft vielleicht schon ein Indiz ist, wenn der jeweilige Übersetzer

4. Methodische Entscheidungen

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auf das Wort Tradition bzw. ein Derivat desselben setzt, um plausibel zu machen, dass das Phänomenfeld angesprochen ist (übrigens selbst dann, wenn im Original nicht explizit von Tradition die Rede ist, sondern von anderen Wörtern aus dem semantischen Feld). Es hatte sich ja bereits in der ersten Annäherung gezeigt, dass es gar keinen Konsens im Hinblick auf das Wort gibt, weshalb die durch Übersetzungen oder fremdsprachliche Übertragungen entstehenden Unklarheiten nur eine weitere Besinnungs­ chance bieten, keineswegs aber einer Klärung im Wege stehen. Immer ist zunächst auf die Sache zu blicken – geht es dort, egal ob in deutschen oder anderssprachigen Quellen, um das zur Verhandlung stehende Phänomen oder nicht; erst sekundär ist der genaue Sprach- und Wortgebrauch rele­ vant. Selbstverständlich muss sich eine Untersuchung wie die vorgesetzte bewusst sein, dass ihre Ergebnisse durch Einschluss anderer Kulturräume oder durch die Expertise von Muttersprachlern gegebenenfalls neu durch­ dacht werden müssen. Jede Forschungsarbeit ist in diesem Sinne Einladung zu einem fortgesetzten Gespräch. Schließlich ist ein letzter Selbstvorbehalt nötig, nämlich dahingehend, was eigentlich gesucht ist. Geleistet werden soll eine Realdefinition von Tradition, das heißt, es werden diejenigen Eigenschaften benannt, die ­derjenigen Entität notwendig – also wesentlich – zukommen, die eine Tra­ dition sein soll. Eine solche Perspektive ist angesichts der schon geschilder­ ten Pluralität der Verwendungen des Wortes nicht naheliegend und sie be­ dingt gegebenenfalls Exklusionen bzw. graduelle Differenzierungen.174 Es erscheint jedoch sinnvoll, so ambitioniert zu operieren, gerade weil nur durch eine konturierte Herausstellung einer Wesensbestimmung die Ab­ grenzungen zu anderen Begriffen möglich werden und die Kritik durch andere einen Ansatz findet. Selbstverständlich steht zu hoffen, dass die ent­ wickelte Realdefinition den Test der Zeit bestehen wird, falls aber nicht, so liegt ihr entscheidender Wert doch darin, durch prägnante Erarbeitung den Forschungsgang vorangebracht zu haben. Wenn im Folgenden vom „Wesen der Tradition“ in irgendeiner Form die Rede ist, gilt es zu bedenken, dass

174 Eine

Alternative wäre die Orientierung am Konzept der Familienähnlichkeit (vgl. dazu L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. §§  66–76 [S.  277–283]). Die­ ses gesteht zu, dass Begriffe im Alltag mit nicht klar umgrenzten und nicht klar um­ grenzbaren Umfängen benutzt werden und schlägt vor, dieses Faktum zu akzeptieren, das heißt für solche Begriffe auch philosophisch unscharfe Ränder zu akzeptieren. Die­ ses Vorgehen wäre für den Traditionsbegriff möglich, allerdings wird es hier nicht ver­ folgt, weil gerade eine pointierte Bestimmung erst ein Maßnehmen, ein Sich-Verhalten-­ zu gestattet – selbst dann, wenn man der Bestimmung nicht folgen will.

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I. Exposition

damit eben auf eine solche, immer weiter diskutable Realdefinition verwie­ sen wird.175

4.2 Vorhaben Die Exposition verfolgte bis hierher das Ziel, durch andeutende Hinweise auf die Vielgestaltigkeit des Sprechens von der und über die Tradition diese als lohnenswertes Objekt der gedanklichen Zuwendung herauszustellen. Es sollte die Selbstverständlichkeit erschüttert und die philosophische Be­ irrung  – das θαυμάζειν  – gefördert werden. Zudem wurden naheliegende und gewichtige Probleme der Besinnung auf Tradition und eben auch um­ gekehrt der Tradition mit der Besinnung thematisiert sowie einige Grenzen der Untersuchung verdeutlicht. Wie aber kann die genannte und erstrebte Realdefinition erreicht werden? Die Arbeit will derart vorgehen, dass vom Phänomen ausgehend wesent­ liche Argumentationsfiguren entwickelt werden. Eine ausführliche Sich­ tung der wesentlichen Forschungsliteratur steht hinter diesem Vorgehen, wird hier jedoch nicht explizit thematisch. Sie liegt andernorts vor.176 Kapi­ tel  II bildet den phänomenologischen Kern der Untersuchung, insofern die vielgestaltige Begriffsverwendung exemplarisch analysiert und auf einen Kernbestand an phänomenalen Merkmalen reduziert wird. Die phänome­ nologische Betrachtung will in diesem Sinne zwischen Kern und Peripherie differenzieren helfen, um zu zeigen, warum bestimmte Begriffsverwen­ dungen zwar etwas mit Tradition zu tun haben, aber diese gegebenenfalls im Kern gar nicht treffen. Ausgehend von der so gewonnenen Realdefinition der „Kern“-Tradition und der Erhellung möglicher peripherer Aspekte wird dann in Kapitel  III verdeutlicht, wie sich bestimmte Argumentationsfiguren mittels des neuen Verständnisses entwickeln lassen. Dabei geht es unter anderem um Fragen der Rationalität und epistemischen Validität von Tradition, um den Beitrag zum gelingenden Leben oder um die Impulse zur anthropologischen Be­ stimmung des Menschen als „homo traditionis“. Auf dieses Weise wird ein systematischer Mehrwert der Begriffsbesinnung sichergestellt, der frucht­ bar für philosophische Diskurse scheint. 175  Dieser

Hinweis scheint nötig, weil mitunter die Rede vom Wesen einer Sache („Essenz“) in der Gegenwart allein „platonisch“ verstanden wird, als ginge es dann notwendig um immerwährende Eigenschaftscluster oder ähnliches. Zudem sei es da­ hingestellt, ob mit diesem Platonismus-Vorwurf eigentlich wirklich Platons Gedanke getroffen ist. 176  Vgl. S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert.

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Damit ist zugleich klar, dass es bei der Erkundung des Traditionsphäno­ mens nicht um historische Spurensuche geht, wenn darunter geistes- oder begriffsgeschichtliche Arbeit verstanden wird. Im Vordergrund steht ein sachlich-systematisches Interesse. Auch werkgenetische Analysen einzel­ ner Autoren, die wichtige Beiträge zum Traditionsthema verfasst haben, spielen keine Rolle. Freilich wird es hermeneutische Kontextualisierungen geben, um Quellen sinnvoll auslegen zu können, jedoch steht kein spezifi­ scher Autor mit seinem Werdegang im Fokus. Vielmehr gilt die Aufmerk­ samkeit immer  – auch wo davon nur implizit die Rede sein sollte  – dem Phänomen Tradition. Pate für dieses Vorgehen, das heißt einer primären Orientierung an der Sprachverwendung, stand Otto Friedrich Bollnow, der fruchtbare Gedan­ ken zur Phänomenologie am Leitfaden der Sprache entwickelte. Dabei ist er der verfälschenden und irreführenden Wirkungen von Sprache einge­ denk, wischt deren nicht minder starke erhellende, aufklärende Leistung jedoch nicht beiseite. Seine methodologischen Überlegungen verdienen, in ihrer Breite durchdacht zu werden: Um der Gefahr einer konstruktiven Vereinfachung zu entgehen, ist es notwendig, zu­ nächst einmal die Mannigfaltigkeit der hierher [d. h. zum Thema; S.K.] gehörigen Er­ scheinungen in ihrem ganzen Reichtum auszubreiten und in diesem Rahmen sodann, vergleichend und unterscheidend, das einzelne, was uns beschäftigt, schärfer zu be­ stimmen. Selbst der Eindruck einer gewissen kaleidoskopischen Buntheit darf in man­ chen vorbereitenden Betrachtungen nicht gescheut werden, weil nur in der Bewegung mit der Vielfalt der Erscheinungen die Gefahr einer voreiligen einseitigen Festlegung vermieden werden kann. Das geeignete Hilfsmittel zur Unterscheidung nahe verwand­ ter und doch wieder verschiedener Erscheinungen ist immer wieder der Ausgang vom Sprachgebrauch.177

Möglichst offener und vielfältiger Horizont, Orientierung an der Sprache – diesen beiden Motiven soll auch in der vorliegenden Untersuchung vorderwie hintergründig gefolgt werden. Warum aber der Ausgang vom Sprach­ gebrauch? Bollnow verweist darauf, dass die „Dinge […] dem Menschen allererst im Auslegungshorizont der Sprache [begegnen]“, sie „bleiben in ihrem Verständnis von hier aus bestimmt.“178 Redet Bollnow damit nicht, trotz seinem phänomenologischen Impetus, einem Konstruktivismus das Wort? Darauf ist differenziert zu antworten. Worauf Bollnow hinweisen möchte, ist, dass keine Sache etwas Bestimmtes schon von sich aus ist. Er wendet sich damit implizit gegen einen naiven Phänomenbegriff, wonach alle Phänomene immer schon von sich aus etwas Spezifisches sind. Gegen 177  178 

O. F. Bollnow: Die Ehrfurcht. Frankfurt 1958, S.  12. O. F. Bollnow: Die Ehrfurcht. S.  13.

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dieses vor allem mit Husserl verbundene Denken weist Bollnow richtig ­darauf hin, dass „es gar keinen Gegenstand [gibt], der schon vor der sprach­ lichen Bezeichnung in sich fertig und bestimmt da wäre, sondern er ge­ winnt seine eigentliche Gestalt erst zusammen mit der sprachlichen Aus­ legung.“179 Erst mittels sprachlicher Explikation wird das Phänomen be­ stimmt und damit als es selbst prägnant sicht- und thematisierbar. Und genau in diesem Sinne ist auch das im Folgenden realisierte Vorgehen zu ver­ stehen. Nachvollzogen werden muss, was über Tradition ausgesagt wird, was akzentuiert, was ausgeschlossen und so weiter. Auf diese Weise gewinnt der Bereich dessen, was überhaupt als Tradition diskutabel ist, Kontur. Die Sprache hat freilich nicht immer recht, aber sie ist der Weg zur Wahrheit, Sprachlosigkeit ist per se – jedenfalls für Wissenschaft – defizi­ tär.180 Man mag es bedauern, dass somit eine phänomennahe Perspektive lei­ tend wird. Sicher lässt sich sagen, dass es die Makroideengeschichte der Tradition bislang noch nicht gibt und auch die vorliegende Untersuchung sie nicht liefert. Die dafür nötigen Ressourcen  – sowohl was Quellen, Sprachkenntnisse als auch Arbeitszeit angeht – dürften nur internationale Forschergruppen aufbringen. Gleichwohl ist es nicht übertrieben, wenn man das Ernstnehmen des Phänomens als eine bislang viel zu wenig beach­ tete Perspektive auf Tradition bezeichnet.181 Schaut man hinter die Be­ griffsverwendungen, um zu rekonstruieren, wovon dort die Rede, was der Sitz im Leben ist, gestattet das auch im Kleinen weitreichende Einsichten, die einer noch zu schreibenden Makrogeschichte hilfreich sein werden. Dass ein systematischer Gesamtfokus die Erkundungen leitet, hat über die Realdefinition und die Argumentationsfiguren hinaus noch ein mittel­ bares, implizites Ziel. Man kann die Untersuchung, jedenfalls versteht sie sich so selbst, als einen Beitrag zur praktischen Vernunft lesen. Im Grunde wäre es zutreffend, zu sagen, die Untersuchung will der praktischen Ver­ 179  O. F. Bollnow: Die Ehrfurcht. S.  14. Man kann Bollnow als Vertreter eines herme­ neutischen Phänomenbegriffs ansehen. Zu diesem Phänomenverständnis vgl. auch die Hinweise am Anfang von Kap.  II der vorliegenden Arbeit. 180  Sprachlosigkeit kann ein eindrucksvolles und lebensweltlich bedeutsames Vor­ kommnis sein  – etwa bei positiver Überwältigung durch den Anblick des Geliebten oder negativem Verstummen im Angesicht grausamer Geschehnisse –, aber für eine ra­ tionale Besinnung gibt es keinen Umweg über wortlose Intuition oder sprachferne We­ sensschau, sondern der Weg führt durch die Sprache und am Ende auch wieder zur – hoffentlich differenzierteren – Sprache zurück. Damit ist gleichwohl nicht behauptet, dass es nichts Sprachtranszendentes gebe, sich alles in Sprache auflöse, sondern nur, dass an Sprache als Medium nicht vorbeizukommen ist. 181  Zur bisherigen Phänomenologie der Tradition vgl. Kap.  I I.1.

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nunft und dem konkreten Leben von Menschen helfen, sich selbst zu er­ hellen und zu bilden. Wie wollen Menschen handeln im Angesicht von Tra­ ditionen? Damit wird die Arbeit am Traditionsverständnis mittelbar Teil einer Ausbildung der praktischen Vernunft, der φρόνησις im Sinne Aristo­ teles’.182 Es geht darum, zu verstehen, was Traditionen sind, um auf diese Weise erst einmal redlich zu bedenken, wie sich Menschen zu diesen ver­ halten können und gegebenenfalls sollen. Unter anderem ein derartiges Ethos des Traditionsumgangs, wie man, den weiten, antiken Begriff anset­ zend, formulieren kann, leitet diese Erkundungen implizit.

182  Dazu vgl. die immer noch maßgebliche Bestimmung bei Aristoteles: Nikomachische Ethik. 1140a–b.

II. Phänomenologie der Tradition Tradition muss, wie ein Blick in die Begriffs- und Theoriegeschichte klar zeigen kann,1 als eine problematische theoretische Entität gelten. Es wird auf sehr unterschiedliche, teils widersprüchliche Weise bestimmt, was Tra­ dition sein soll, was sie (nicht) leistet, was von ihr normativ zu halten ist und so weiter. Dieser schon in der Exposition angedeutete Umstand erfor­ dert eine intensive Zuwendung zum Phänomen. Warum? Weil die Phäno­ menologie, insofern sie ihren Wahlspruch eines Gangs zu den Sachen selbst ernst nimmt, die Möglichkeit bietet, die verschiedenen historisch über­ lieferten theoretischen „Angebote“ an einem – dem Bestreben nach, wenn auch nicht vollständig – vortheoretischen Maßstab prüfen zu können. Erst von einem solchen her wird Orientierung zu gewinnen sein in dem unüber­ sichtlichen und uneinheitlichen Feld. Was aber ist ein Phänomen und wie kann man dieses analytisch errei­ chen? Und was bedeutet „vortheoretisch“ eigentlich – soll damit eine Rein­ heit und Ursprünglichkeit suggeriert werden, die andere theoretische Al­ ternativen verfehlen? Es ist selbstverständlich ein Trugbild, zu glauben, Phänomenologie könne absolut theoriefreie Empirie liefern, ein Zerrbild, das vielleicht von Husserl selber durch eine gewisse Naivität und mindes­ tens unglückliche Formulierungen mit hervorgebracht wurde.2 Phänomenologie ist das kritische Unternehmen, das Gegebene  – sei es im Erleben oder in begrifflicher Form – so weit zu hinterfragen, dass sich ein Bestand etabliert, der aller Kritik standhält. Dieses Hinterfragen geschieht in Form von Variationen von Annahmen – Könnte es auch anders sein? Was wäre, wenn man es so oder so sieht? Gehört x wirklich zu y? –, mittels derer sich das herausstellen lässt, was – immer nur bis auf Weiteres – als wesentlich zu gelten hat, als das also, ohne was das jeweilige Phänomen nicht wäre, was es ist. Oder, um es mit den Worten Hermann Schmitz’ zu sagen: „Ein Phänomen ist für jemand zu einer Zeit ein Sachverhalt, dem der Betroffene dann 1 

Vgl. dazu. S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. Vgl. dazu die Analysen in S.  K luck: Pathologien der Wirklichkeit. Ein phänomenologischer Beitrag zur Wahrnehmungstheorie und zur Ontologie der Lebenswelt. Frei­ burg, München 2014, S.  106–121, dort auch weitere Literatur. 2 

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II. Phänomenologie der Tradition

den Glauben, daß es sich um eine Tatsache handelt, nicht im Ernst verwei­ gern kann.“3 Die Relativierung auf Zeit und Person ist dabei kein Zuge­ ständnis an Subjektivismus – verstanden als das Abweisen übermomenta­ ner und überpersonaler Gültigkeit –, sondern das Anerkennen der immer weiter und immer wieder nötigen Überprüfung der bisherigen Einsich­ ten.4 Wenn alles hinterfragt und durch Variation der Annahmen geprüft ist, kommt der Mensch an bestimmten Punkten nicht umhin, gewisse An­ nahmen als gültig zu akzeptieren. Diese charakterisieren das Phänomen.5 Das Eingehen auf die Perspektive der ersten Person, die bei der genann­ ten Definition offensichtlich ist, stellt eine Besonderheit dar. Nur wenige Autoren haben diese für Tradition überhaupt bedacht. 6 Um diese Leer­ stelle aufzuweisen, seien zwei dahingehende Auffälligkeiten markiert. In einer Analyse des Geschichtsbewusstseins schriftloser Kulturen wird  – und darin ist das Paradigmatische zu sehen – ein rein funktionalistischer Blick auf Tradition gelegt, die hier synonym zu Überlieferung verstanden wird. Es heißt dort, dass „alle geschichtlichen Überlieferungen den Zweck haben, die Kontinuität der jeweiligen Gruppe zu sichern, indem sie das Be­ wußtsein ihrer Einheit und Eigenart auf Ereignisse in der Vergangenheit stützen.“7 Was an diesem Fall geradezu exemplarisch sich zeigt, ist, dass Tradition aus einer externen, funktionalistischen Perspektive heraus ge­ dacht wird. Es ist dabei keineswegs falsch, den genannten Zweck – Kollek­ tividentität – zu unterstellen, denn tatsächlich leisten Traditionen dies mit­ unter. Aber nur, weil sie diesen Zweck erfüllen, ist nicht gesagt, dass sie ihn auch haben. Insbesondere aus der Sicht des Betroffenen ist es mehr als frag­ lich, ob der genannte Zweck überhaupt je thematisch werden muss. Geht eine Person einer traditionellen Praxis nach mit dem Gedanken, durch ihr 3  H. Schmitz: „Was ist ein Phänomen?“, in: ders.: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch. Hrsg. v. M. Großheim, S.  K luck. Freiburg, München 2021, S.  71–82, hier S.  80. 4  Zudem ist explizit nicht gemeint, sich nur auf das je eigene Erleben zu beschrän­ ken, sondern es sind unbedingt die Zeugnisse anderer Menschen, Kulturen, Zeiten usw. heranzuziehen. Wichtig ist nur, dass der eine Mensch, der konstatiert, dass etwas der Fall ist (nach redlicher Prüfung), nicht zu ersetzen ist. 5  Eine ausführliche Darlegung des gewählten phänomenologischen Vorgehens kann hier verzichtet werden, da die so gewonnenen Ergebnisse sich – ganz unabhängig von ihrem Zustandekommen  – in der Auseinandersetzung bewähren müssen. Generell kann aber festgehalten werden, dass sich methodisch am Konzept der Neuen Phänome­ nologie orientiert wird. 6  Vgl. das markante Fehlen dieser Perspektive in der repräsentativen Auflistung bei S.  Wiedenhofer: „Traditionsbegriffe“. S.  260–272. 7  R. Schott: „Das Geschichtsbewußtsein schriftloser Völker“, in: Archiv für Begriffs­ geschichte, Bd.  X II (1968), S.  166–205, hier S.  176.

II. Phänomenologie der Tradition

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Handeln die Kontinuität und Identität seiner Gruppe zu sichern? Wäre ein solches Verhältnis nicht schon geradezu defizitär, weil distanziert-entfrem­ det? Viel eher, so steht doch zu vermuten, geht jemand einer solchen Tätig­ keit nach, weil die Tradition ihn betrifft, sie ihn angeht als das, was „man“ eben macht, als das, was er immer schon so getan hat, als das, was ihm wichtig ist und so weiter. Noch konkreter illustriert: Ein Gläubiger einer Konfession geht deren Traditionen nicht nach, weil er die konfessionelle Identität wahren will (auch wenn das vielleicht ein Nebenprodukt sein mag), sondern weil er unmittelbar vom Gehalt der Tradition als dem Rele­ vanten ergriffen ist. Eine zweite Auffälligkeit in diesem Sinn stellt die von Wiedenhofer gelie­ ferte Liste von Grundtypen der Traditionsbegriffe dar. Er nennt sechs: ethisch-­dogmatischer Typ, rationaler, romantisch-ästhetischer, hermeneu­ tischer, deskriptiv-konstruktivistischer und theologischer. 8 Es fehlt der phänomenologische, der eben, anders als die anderen, die Perspektive der unmittelbar Betroffenen in den Mittelpunkt stellt. All die genannten sechs bleiben, von einigen Details abgesehen, dem dominanten Traditionsver­ ständnis verhaftet, welches aus der „retrospektiven Beobachterperspekti­ ve“ her denkt, während der „emphatische Traditionsbegriff“, der „sich aus­ schließlich auf Formen aktiver Herstellung von Kontinuität aus der Per­ spektive der Tradenten [bezieht]“, übergangen wird.9 Mit dem Fokus auf die Betroffenen-Perspektive ist jedoch keineswegs „bloß“ ein weiterer Standpunkt gewonnen. Vielmehr ist diese selbst der Sitz im Leben der Rede von Tradition. Will man verstehen, was Traditionen für Menschen sind, muss man ihr nachgehen. Das diskreditiert andere, ab­ straktere, distanziertere Konzepte nicht, sondern lässt sie gerade erst ver­ ständlich werden auch in der Differenz. Wenn sich erhellt, was der von Traditionen unmittelbar eingenommene Mensch erlebt und worauf er re­ kurriert, wenn er von diesen spricht, über sie nachdenkt, sich zu ihnen ver­ hält, dann kann so ein Maßstab geliefert werden, um die bisherigen wissen­ schaftlichen Begriffsbildungen zu sortieren und zu bewerten. Genau eine solche phänomenologische Analyse soll im Folgenden ver­ sucht werden mit dem Ziel, auf die „Was ist Tradition“-Frage eine Antwort 8 

Vgl. S.  Wiedenhofer: „Traditionsbegriffe“. S.  260–272. Zu den Zitaten und der Gegenüberstellung beider Perspektiven A. Assmann: Zeit und Tradition. S.  63. Der von Assmann favorisierte emphatische Begriff ist gleichwohl nicht mit dem phänomenologischen identisch, denn sie denkt bereits konkret an aktive Formen der Kontinuitätsherstellung, was schon eine ungeprüfte Vorannahme ist, denn das explizit Kontinuität hergestellt werden soll, dürfte bei vielen traditionellen Hand­ lungen gerade nicht (oder nur sekundär) thematisch werden. 9 

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II. Phänomenologie der Tradition

im Sinne einer Realdefinition zu erhalten. Oliver Scholz hat eine wichtige Differenzierung der Was ist-Frage geliefert. Er unterscheidet elf Möglich­ keiten, diese Frage zu verstehen. Ihm folgend, wird im Nachstehenden zu untersuchen sein, ob es ein spezifisches Phänomen „Tradition“ gibt, das sich von anderen unterscheidet, und ob es vielleicht auf eine spezifische Weise erfahren wird.10 Erstrebt ist letztlich eine derart phänomenologisch fundierte Realdefinition.

1. Traditionsanalysen in der Phänomenologie Es ist exegetisch festzustellen, dass kaum einschlägige phänomenologische Arbeiten zum Thema Tradition vorliegen. Im Grunde gibt es nur einige wenige Bemerkungen von Husserl zu diesem Thema, ausführlichere, aber sehr einseitig fokussierte Gedanken Heideggers und den bereits zitieren11 kleinen, sachlich wenig einschlägigen Lexikonartikel Gadamers.12 Alle drei sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden, um die bisherigen – und kaum breitenwirksamen – Ergebnisse im Blick haben zu können. Husserl hat keine systematische Traditionstheorie entwickelt, sondern ist auf das Phänomen eher am Rande gestoßen, wobei er zudem eine gewis­ se Veränderung oder jedenfalls Bedeutungsverschiebung durchmacht.13 Einerseits nämlich entdeckt er Traditionen als hinderlich für die von ihm 10 

Vgl. dazu O. R. Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildlicher Darstellung. Frankfurt 2004, hier S.  14 f. Es geht – nach Scholz’ Zählung – um die Fragehinsichten Q5 und Q10. Scholz’ Überlegungen sind am Bildbegriff orientiert, las­ sen sich aber auf Tradition übertragen. 11  Vgl. Kap.  I.2. 12  Vielleicht wäre noch ein kurzer Beitrag von Hans Rainer Sepp zu erwähnen, in dem dieser Tradition als „ein in sich zentriertes, auf sich bezogenes partikulares Sinn­ geflecht“ versteht und zeigen möchte, dass Traditionen sowohl offen als auch geschlos­ sen sind (H. R. Sepp: „Offener Traditionssinn – geschlossene Universalnorm? Fragen zu einer Phänomenologie der Grenze“, in: C. Bickmann, H.-J. Scheidgen, T. Voßhen­ rich, M. Wirtz (Hrsg.): Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik. Interkulturelle philosophische Perspektiven. Amsterdam, New York 2006, S.  221–234, hier S.  221 f., 228). Allerdings bietet die Schrift eher ein programmatisches Plädoyer für ein neues, modernekompatibleres Traditionsverständnis als eine echte Phänomenologie der Tradition. 13  Darauf weisen auch die Analysen hin bei D. Lohmar: „‚Ich … enthalte mich aller Tradition‘. Freiheit und Epoché in Husserls späten Schriften“, in: C. Bickmann, H.-J. Scheidgen, T. Voßhenrich, M. Wirtz (Hrsg.): Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik. Interkulturelle philosophische Perspektiven. Amsterdam, New York 2006, S.  193–207, hier v. a. S.  193 ff.

1. Traditionsanalysen in der Phänomenologie

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erstrebte grundständig freie, unverstellte Philosophie, das heißt Phänome­ nologie, andererseits aber hat er auch die positiv prägende Seite derselben betont.14 Zunächst ist auf die verstellende Eigenart der Tradition zu kom­ men. Husserl ist bestrebt, wieder zu den Sachen zu gelangen, indem er den über diesen gelagerten Kulturschutt abträgt. Um das zu tun, bedarf es einer Reinigung der immer schon durch die Vergangenheit, durch Sozialisation, durch Bildung und so weiter geprägten Vorannahmen. Dies geschieht mit­ tels der Epoché, also der Urteilsenthaltung.15 Nur indem so alles Traditio­ nale überwunden – das heißt: außer Wirkung gestellt – wird, kann es eine zu den Ursprüngen vordringende Philosophie geben: […] [D]ie Vordringlichkeit solcher traditionalen Motive übermächtigt die rein philo­ sophische Intention. Sie durchbricht unbewußt oder bewußt die Strenge der theoreti­ schen Einstellung, falls nicht eine Willensenergie für die Freiheitshaltung und die ernstliche Reinhaltung dieser letzteren Sorge trägt.16

Tradition steht im Widerspruch zur Philosophie, sie verhindert, dass die theoretische Einstellung voll zur Geltung kommt, da sie unausgewiesene Interessen ins Spiel bringt, die den Blick „trüben“.17 Husserl fordert vom phänomenologischen Philosophen programmatisch das Freimachen von al­ ler Tradition in einem radikalen Sinne: Wer in der Tradition lebt und von daher (etwa auf dem Weg des Unterrichts) eine Auf­ gabe angenommen hat und in ihrer Durchführung seinen Beruf sieht, philosophierend für die Philosophie (aus der Tradition) lebt, besinnt sich in einer anderen Art als in der in unserem Fall erforderlichen. Er wird nur verdeutlichen, was er hat, das, dessen er gewiß ist, und ihm in den ihm geschichtlich bekannten mannigfaltigen Philosophien ohnehin expliziert ist. […] Ein Philosoph [musste kommen], der […] motiviert ist, sich nicht nur über die historischen Traditionen kritisch zu erheben (somit hinsichtlich ihrer zunächst eine Epoché zu üben), sondern auch vorweg, auch hinsichtlich der eigenen, sein Berufsleben regierenden Aufgabe – da auch in ihr ein aus Tradition stammendes 14 

Wichtige Einsichten in diesen Zusammenhang und relevante Textstellen liefert der Beitrag von Thomas Arnold (vgl. T. Arnold: „Tradition – An Ambigous Conjunction of Time, Body and the Other“, in: InterCultural Philosophy, Jg.  2022, S.  93–101). 15 Husserl versteht unter der Epoché immer, egal ob sie transzendental, philoso­ phisch oder lebensweltlich orientiert ist, die Enthaltung von (Existenz-)Urteilen und das zunächst einfache Hinnehmen des „reinen“ Gegebenen. Vgl. dazu z. B. E. Husserl: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Philosophie (Husserliana. Bd.  I). Hrsg. v. S.  Strasser. Dordrecht, Boston, London 1991, z. B. S.  59 ff. 16 E. Husserl: „Teleologie in der Philosophiegeschichte“, in: ders.: Husserliana. Bd.  X XIX. Hrsg. v. R. N. Smid. Dordrecht, Boston, London 1993, S.  362–420, hier S.  393. 17  Dass damit ein Anti-Gadamer-Modell im Raum steht, hat Dieter Lohmar richtig betont, wenn er auch das Unhermeneutische Husserls positiv wertet, was sicher kriti­ sierbar ist (vgl. D. Lohmar: „‚Ich … enthalte mich aller Tradition‘“. S.  205 f.).

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Vorurteil liegt, die Vermöglichkeit und evtl. der schon geübten, selbst doch aus Tradi­ tion stammenden Methodik.18

Es hilft nur die Epoché als „Einstellung der Voraussetzungslosgkeit  – in dem Sinne, universale Tradition außer Kraft zu setzen, der Kraft zu berau­ ben […].“19 Zwar ist Husserl zugute zu halten, dass er gegen schulgebunde­ nes und insofern sachfremd interessegeleitetes Philosophieren opponiert, aber jenseits dieser wissenschaftssoziologischen Dimension zeigt sein Vor­ gehen doch sowohl eine Einseitigkeit als auch Naivität. Einseitig ist Hus­ serl deshalb, weil er nur eine verstellende Leistung sieht, worin ihm Hei­ degger interessanterweise – trotz grundlegender Differenzen – gefolgt ist.20 Gadamer hat später dagegen die Kulturermöglichungsfunktion, welche eine Wissens- und Philosophieermöglichungsfunktion beinhaltet, betont, und auch die wegweisenden Arbeiten Ludwik Flecks, Thomas Samuel Kuhns und Michael Polanyis zeigen, 21 dass das Modell einer tabula rasa nicht unbedingt die Grundlage für philosophischen Aufschwung abgeben muss.22 Wichtiger aber ist die Naivität Husserls, der glaubt, durch Urteils­ enthaltung frei von der Bindung an Traditionen zu werden.23 Gegen dieses Modell sind drei Einwände hervorzubringen, erstens die historische Kurz­ sichtigkeit, zweitens das Überschätzen individuellen Vermögens und drit­ tens das Explizitheitsvorurteil. Heidegger hat – vor allem in seinen frühen Freiburger Arbeiten und Vorlesungen – gegen Husserl darauf hingewiesen, dass Menschen oft gar nicht absehen können, in welchen historischen Prä­ gungen sie stecken.24 Mit jedem Begriff, den ein Philosoph nutzt, geht er 18 

E. Husserl „Teleologie in der Philosophiegeschichte“. S.  401. E. Husserl „Teleologie in der Philosophiegeschichte“. S.  401. 20  Vgl. dazu die folgenden Hinweise zum negativen Traditionsverständnis in „Sein und Zeit“. 21 Vgl. allgemein L. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Hrsg. v. L. Schä­ fer, T. Schnelle. Frankfurt 1980; T. S.  Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Übers. v. H. Vetter. Frankfurt 1976 und M. Polanyi: Implizites Wissen. Übers. v. H.  Brühmann. Frankfurt 2016. 22  Ganz davon abgesehen, dass man an der grundsätzlichen Möglichkeit zweifeln kann. 23 Vgl. zur transzendentalen Reduktion als Auflösung aller Traditionsbindungen auch D. Lohmar: „‚Ich … enthalte mich aller Tradition‘“. S.  193–197. 24  Vgl. dazu z. B. M. Heidegger: Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik (Gesamtausgabe. Bd.  62). Hrsg. v. G. Neumann. Frankfurt 2005, S.  14: „Die heute gerade durch die Phänomenologie stark betonte und in ihr besonders gepflegte ontologische Forschung ist so sehr mit ungeklärten, aus der Überlieferung unbesehen aufgegriffenen Einstellungsmotiven und Aspirationen durchsetzt, daß kaum etwas (wissenschaftlich) fragwürdiger sein kann als 19 

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gewisse historische Übernahmen ein, die nur selten bewusst sind. Wenn sie dies aber nicht sind, kann auch keine Urteilsenthaltung erfolgen, weil der Prämissencharakter gar nicht klar ist. Hans Blumenberg wiederum hat be­ tont, wie wenig die individualmenschliche Variationsfähigkeit genügt, das Menschenmögliche abzudecken. Jedes Individuum bleibt noch in seiner kritischen Selbstprüfung befangen. Erst die Ethnologie, so meint Blumen­ berg, habe diese Beschränkung auffällig werden lassen, die, muss man wohl sagen, eine Überschätzung der Fähigkeiten des je Einzelnen ist: Was Ethnologie wie Psychopathologie belegten, war die Unzulässigkeit der ‚freien Varia­tion‘ als des methodischen Hauptstücks der Phänomenologie: keine Imagination erreichte den Freiheitsgrad, den die raumzeitliche Mannigfaltigkeit menschlicher Effi­ zienz wie Defizienz entfaltet hatte. 25

Drittens schließlich scheint Husserl Traditionen als eng umgrenzte, zähl­ bare Entitäten zu verstehen, denn nur so kann man sich ihnen in Form der Epoché und Variation nähern. Er setzt sie als explizite Bestände der Welt, die als Einzelne zum Thema werden können. Wenn der Wille des wahrhaft Philosophierenden „die Tradition [entkräftet]“, so dass er „die Möglichkeit einer radikalen, freien Kritik und Entscheidung“26 hat, müssen dem sich so Entscheidenden die Möglichkeiten als separate und bewusste Optionen vorliegen. Woher aber nimmt Husserl die These, dass dies einerseits lebens­ weltontologisch der Fall, andererseits überhaupt möglich ist? Zum Beispiel müsste er sich als Phänomenologe doch fragen, ob eine bewusst ergriffene Tradition dem Phänomen nach überhaupt noch eine Tradition ist oder ob nicht eine grundlegende Veränderung durch die neue Beziehung eintritt. Und woher weiß ein Mensch, der sich im Sinne Husserls kritisch verhält, dass er Vollständigkeit der epochalen Urteilsenthaltung erreicht hat? Viele derartige Probleme resultieren aus dem zu einfachen Versuch, gleichsam per Handstreich die Traditionsbindungen loszuwerden. Dieter Lohmar trifft zwar einen wichtigen Punkt, wenn er auf Husserls Motiv der „radi­ kalen Selbstverantwortung“27 verweist, welches durch die Möglichkeit der Epoché gegeben sei, aber er unterschätzt, darin mit Husserl gleich, die ge­ rade mit der von Gadamer herausgestellten Verwobenheit in die Überlie­ ferung einhergehenden Schwierigkeiten, Traditionen reflexiv vor sich zu haben.28 die Einsetzung der Ontologie in die Rechtsame einer Grunddisziplin der Philosophie […].“ 25  H. Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt 1986, S.  24. 26  E. Husserl „Teleologie in der Philosophiegeschichte“. S.  4 02. 27  D. Lohmar: „‚Ich … enthalte mich aller Tradition‘“. S.  206. 28 Lohmar meint selbst, dass Traditionen auch in unbewussten Formen auftreten in

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Lässt man diese Probleme beiseite, so zeigt sich Husserl als jemand, der Traditionen als Prägungen versteht, die mit der phänomenologisch geerde­ ten Suche nach den Urstiftungen in Konflikt geraten. Folglich dürfte es zutreffend sein, sie als inhaltliche Wissensbestände zu lesen, wiewohl ein expliziter Traditionsbegriff sich nicht findet. Dieser Spur ist Husserl auch in anderen Fragmenten nachgegangen, die sich im umfangreichen Nachlass erhalten haben. Dort wird allerdings ein positiveres Bild erkennbar, wobei die Geometrie als Fallbeispiel dient. Zu dieser heißt es (und man darf sie pars pro toto für Traditionen insgesamt ansehen): „Unsere uns aus Tradi­ tion vorliegende Geometrie […] verstehen wir als einen Gesamterwerb geistiger Leistungen, der sich durch Fortarbeit in neuen Geistesakten durch neue Erwerbe erweitert.“29 Husserl denkt nach dem etablierten Modell kumulativen Wissenstransfers durch Tradition. Dieser Ansatz, der freilich außerhalb von Wissenschaft vielleicht schon weit weniger überzeugend als Definition gelten kann, charakterisiert Traditionen als implizit gewussten Welthorizont 30 und als, sofern sie genuine Traditionen sind, mit der ur­ sprünglichen Stiftung in Kontakt stehend.31 Echte Traditionen kommen aus der Urstiftung her, was sie, jedenfalls nach Husserl, von bloßen Asso­ ziationen unterscheidet.32 Als zulässige, nicht-assoziative Traditionen gel­ ten die, welche sich als mit der phänomenologisch herausgestellten ur­ sprünglichen Sinnstiftung vereinbar erweisen. Insofern wird das einseitige Bild etwas korrigiert. Husserl erkennt an, dass Menschen notwendig in Traditionen leben: „Der einen Menschheit entspricht wesensmäßig die eine Kulturwelt als Lebensumwelt in ihrer Seinsweise, die in jeder historischen Zeit und Menschheit die jeweilige und eben Tradition ist.“33 Diese Überle­ „gefühlsgegründeten, unwillkürlichen Bewertungen und entsprechenden Entschei­ dungen“ (D. Lohmar: „‚Ich … enthalte mich aller Tradition‘“. S.  199), was schwerlich mit der These des thematischen Gegenüberhabens in Einklang zu bringen ist. 29  E. Husserl: „Beilage III“, in: ders.: Husserliana. Bd.  V I. Hrsg. v. W. Biemel. Haag 1976, S.  365–386. Eine Analyse dieser Fragmente liefert der schon erwähnte Beitrag von T. Arnold: „Tradition – An Ambigous Conjunction of Time, Body and the Other“. 30  Vgl. zur These, dass Traditionen zumeist implizit sind, E. Husserl: „Beilage III“. S.  366, 369, die gleichwohl – wie schon erwähnt offensichtlich verlustfrei und phänome­ nadäquat – expliziert werden können sollen (vgl. ebd., S.  379). 31  Zu diesem Motiv vgl. E. Husserl: „Beilage III“. S.  366, 372, 377. 32  Vgl. dazu E. Husserl: „Beilage III“. S.  377: „Nun treten aber Sätze wie sonstige Kulturgebilde als solche, als Tradition auf; sie erheben sozusagen den Anspruch, Sedi­ mentierungen eines ursprünglich evident zu machenden Wahrheitssinnes zu sein, wäh­ rend sie doch, etwa als assoziativ entsprungene Verfälschungen, keineswegs einen sol­ chen haben müssen.“ 33  E. Husserl: „Beilage III“. S.  378.

1. Traditionsanalysen in der Phänomenologie

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gungen kulminieren in der Idee eines historischen Apriori, welches die je­ weilige Tradition darstellt: Nur die Enthüllung der in unserer und dann in jeder vergangenen oder künftigen his­ torischen Gegenwart als solcher liegenden wesensallgemeinen Struktur und, in Totali­ tät, nur in Enthüllung der konkreten historischen Zeit, in der wir leben, in der unsere Allmenschheit lebt, hinsichtlich ihrer totalen wesensallgemeinen Struktur, nur diese Enthüllung kann wirklich verstehende Historie, einsichtige, im eigentlichen Sinn wis­ senschaftliche ermöglichen. Das ist das konkrete historische Apriori, das alles Seiende im historischen Gewordensein und Werden oder in seinem wesensmäßigen Sein als Tra­ dition und Tradierendes umgreift.34

Traditionen realisieren das historische Apriori als dessen jeweilige zeitliche Konkretionen.35 Wenn das richtig ist, so kann ihnen nicht entkommen wer­ den auf formaler, wohl aber auf je konkreter, inhaltlicher Ebene. Die allge­ meine Struktur des Wesens Mensch bedingt, dass er in Traditionen lebt. Ein solcher Blick ist, wie schon angedeutet, ein positiverer als der zuvor erhellte. Freilich hat dies vermutlich damit zu tun, dass Husserl hier stärker den medialen Charakter der Tradition im Sinne hat. Er achtet nicht so sehr auf die inhaltlichen Verstellungen (die es weiterhin gibt), sondern auf die Tradition als Medium des menschlichen Daseins, also als etwas, in dem der Mensch je lebt. Dass diese kritisch geprüft und oft überwunden werden müssen, bleibt dabei für ihn vermutlich selbstverständlich. Gegen Husserls Ansatz einer mit einer einzigen Technik zu bewerkstel­ ligenden Rückkehr zu den ursprünglichen Stiftungen hat Heidegger vehe­ ment, von Husserl aber wenig bemerkt, opponiert.36 Das Gewinnen der Phänomene ist wesentlich komplizierter, als dies Husserls Theorie glaubte, so die These. Allerdings bleibt Heidegger ausweislich von „Sein und Zeit“ der husserlschen Verdeckungs-Perspektive auf Tradition gerade treu: Die […] zur Herrschaft kommende Tradition macht zunächst und zumeist das, was sie ‚übergibt‘, so wenig zugänglich, daß sie es vielmehr verdeckt. Sie überantwortet das Überkommene der Selbstverständlichkeit und verlegt den Zugang zu den ursprüng­ lichen ‚Quellen‘, daraus die überlieferten Kategorien und Begriffe z. T. in echter Weise 34 

E. Husserl: „Beilage III“. S.  380. Eine ähnliche Lesart bietet T. Arnold: „Tradition – An Ambigous Conjunction of Time, Body and the Other“. Dort wird allerdings behauptet, die Körperlichkeit spiele bei Husserls Traditionskonzept eine große Rolle. Dies scheint zwar phänomenologisch bedenkenswert, wird aber durch Husserls eigene Texte nicht sehr gestützt. Zudem un­ terstellt Arnold, es gebe „intrasubjektive“ Traditionen, insofern ein jüngeres Selbst ei­ nem älteren etwas vermache. Das ist ein ungewöhnlicher und durch Husserls Ansatz nicht gedeckter Sprachgebrauch. 36  Vgl. dazu einige Hinweise bei H. Schmitz: Husserl und Heidegger. Z. B. S.  179– 188, 402–408. 35 

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II. Phänomenologie der Tradition

geschöpft wurden. Die Tradition macht sogar eine solche Herkunft überhaupt verges­ sen. Sie bildet die Unbedürftigkeit aus, einen solchen Rückgang in seiner Notwendig­ keit auch nur zu verstehen.37

Tradition wird als Gegenbegriff zur Ursprünglichkeit gedacht, denn sie ist selbst etwas immer Späteres, das zudem „über“ den Ursprung eine ver­ deckende Schicht legt. Diese Verdeckung ist, jedenfalls nach Heideggers Ansicht, so stark, weil sie suggeriert, dass die Traditionen selbst als das Alte unmittelbar ursprünglich seien, was eine Suche nach dem wahren Ursprung unterdrückt.38 Der Mensch hält Traditionen für das Ursprüngliche, sie sind aber schon eine Verdeckung, das heißt eine Distanzierung von diesem, was jedoch unbemerkt bleibt. Indem sich das Dasein an die Traditionen hält, begeht es folglich einen Fehler, es verfällt.39 Es übersieht (bzw. kann es gar nicht mehr sehen), welche Möglichkeiten ihm „eigentlich“ zur Verfügung stehen, es bindet sich an die Welt, wie sie jeweils konkret, „faktisch“, vor­ liegt. Winter sieht in seiner sehr gelungenen Analyse des Traditionsden­ kens bei Heidegger40 richtig, dass Dasein, sofern es sich an die Bahnungen durch die Tradition hält, einer „Möglichkeitsblindheit“41 anheimfällt. Wie auch Husserl in der erläuterten ersten Deutung der Tradition meint Heideg­ ger somit, dass Tradition ein Phänomen ist, das die ursprüngliche Stiftung von Begriffen, Kategorien, Schemata und so weiter verdeckt und unzu­ gänglich macht. Es bedarf daher einer Rückkehr zu den – der Tendenz nach traditionsfreien – Sachen selbst.42 Wenn Heidegger über Tradition nachdenkt,43 so geschieht das zumeist im Kontext zweier (miteinander letztlich zusammenhängender) Komplexe, 37 

M. Heidegger: Sein und Zeit. S.  21. So auch die Analyse bei T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  53: „Bei der traditiona­ len Verschüttung stellt sich […] das Tradierte derart vor das Ursprüngliche, dass mit diesem zugleich die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart in die Verdeckung fällt.“ 39  Zum Konzept der Verfallenheit vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit. S.  175 ff. 40  Vgl. diese Analyse bei T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  2 3–87. 41  T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  71. 42  Michael Großheim fasst die Perspektive Heideggers treffend so, dass Tradition für diesen „entwurzelte Weitergabe ursprünglich geschöpfter Gedanken“ darstellt, worin dann eben „Abfall“ und „Entartung“ zu sehen wäre (M. Großheim: „Das Primat der Praxis und die Grenzen der Theorie. Oakeshott und Heidegger“, in: M. Henkel, O. W. Lembcke (Hrsg.): Praxis und Politik. Michael Oakeshott im Dialog. Tübingen 2013, S.  119–140, hier S.  120). 43  Wie auch schon im Hinblick auf andere Autoren ist es nicht das Anliegen der vor­ liegenden Erörterungen, eine werkgenetische Analyse zu liefern. Winter hat darauf hingewiesen, dass Heidegger Tradition erst geschichtlich, dann ungeschichtlich ­gedacht habe, um schließlich ganz ohne diesen Begriff zu operieren (vgl. dazu T. A. Winter: 38 

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dem der Geschichte und dem der philosophischen Geistesgeschichte.44 Der zweite genannte theoretische Rahmen besteht darin, dass die philoso­ phische Tradition das „Gerede“ mitbestimmt.45 Gerede ist eine Form des Verfallenseins, insofern das Dasein nicht mehr ursprünglich über die Phä­ nomene redet, sondern Worte in der Weise gebraucht, wie sie eben gemein­ hin gebraucht werden, ohne deren Referenz und Semantik noch zu durch­ denken: Die Sache ist so, weil man es sagt. […] Das Gerede ist die Möglichkeit, alles zu verstehen ohne vorgängige Zueignung der Sache. […] Im Dasein hat sich je schon diese Ausgelegt­ heit des Geredes festgesetzt. Vieles lernen wir zunächst in dieser Weise kennen, nicht weniges kommt über ein solches durchschnittliches Verhältnis nie hinaus.46

Indem man die Sprache spricht, wie man sie gelernt hat, hat man immer schon verstanden, wie sich die Dinge eben verhalten – mindestens auf eine implizite Weise. Dieses Verstehen ist jedoch keineswegs ursprünglich, son­ dern beruht auf einem (zumeist unbewusst gegebenen) Vertrauen darauf, dass die Sache sich so verhält, wie sie im Gerede genommen wird.47 Das Gerede gibt die so zu charakterisierende vorgängige Erschlossenheit der Welt, das heißt ihr je schon realisiertes Verstehen, weiter, weshalb Winter sie als prozessuale Tradition versteht.48 Geistesgeschichtliche Prägungen von Begriffen, Kategorien und so weiter tradieren sich über das Gerede. Heidegger hat zur Geschichte der Philosophie ein sehr gespaltenes Verhält­ nis, hält viele der erarbeiteten Theorien und Konzepte für irreführend und will auf die ersten Anfänge in der frühesten griechischen Zeit zurückge­ Traditionstheorie. S.  34, 86). Das mag sich so verhalten, soll jedoch an dieser Stelle da­ hingestellt bleiben, weil es allein um das Traditionsverständnis an sich geht, wie es bei Heidegger erkennbar wird. 44  So auch die Hinweise bei M. Großheim: „Das Primat der Praxis und die Grenzen der Theorie“. S.  120 und T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  24. 45  Vgl. dazu M. Heidegger: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) (­G esamtausgabe. Bd.  6 3). Hrsg. v. K. Bröcker-Oltmanns. Frankfurt 1992, S.  40. 46  M. Heidegger: Sein und Zeit. S.  168 f. 47  Man kann Gadamers Hermeneutik als eine Gegenthese zu diesem Gedanken ver­ stehen, da diese gerade behauptet, im Überlieferten – insbesondere der Sprache – stecke eine kumulierte Erkenntnis, kein Abfall von einem Ursprung (vgl. dazu z. B. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. S.  274 f.). Wichtig ist aber, zu betonen, dass Heideg­ gers destruktiver Umgang mit Tradition in Richtung auf den Ursprung nicht behauptet, es sei eine tabula rasa zu erreichen (vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit. S.  169), was ihn wieder in die Nähe der Position Gadamers rückt. Der Ursprung ist ein mehr gedachter als erreichbarer methodischer Fluchtpunkt und nur idealer Maßstab. Hier ist Husserl vermutlich der „naivere“ Denker, insofern er den Ursprung tatsächlich für erreich­ bar(er) gehalten zu haben scheint. 48  Vgl. dazu T. A. Winter: Traditionstheorie. S.   4 6.

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II. Phänomenologie der Tradition

hen,49 weshalb nahezu zwingend sich ergibt, dass die geistesgeschichtliche Tradition negativ bewertet wird. Folglich müssen die philosophischen Prä­ gungen destruiert werden, es „bedarf […] der Auflockerung der verhärte­ ten Tradition und der Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen.“50 Die zweite Rahmung seines Traditionsdenkens stellt die Geschichte, ge­ nauer die Geschichtlichkeit dar. Der Mensch lebt immer schon in einer vor­ gängigen „Vertrautheit mit Welt“51, die ihm – wie man sagen könnte – qua Sozialisation, das heißt dem Erwerb von Sprache, von Techniken, Haltun­ gen, aber auch Bewegungsformen und vielem mehr, durch die Früheren, letztlich durch die Vergangenheit zukommt. So gesehen meint Heidegger konsequent: „Seine [d. i. des Daseins; S.K.] eigene Vergangenheit – und das besagt immer die seiner ‚Generation‘ – folgt dem Dasein nicht nach, son­ dern geht ihm je schon vorweg.“52 Der Mensch ist das geschichtlich schon geprägte – und notwendig geprägte – Wesen. Freilich wird auch hier Tradi­ tion primär als vielleicht unumgehbare, aber negative Erscheinung verstan­ den. Geschichte wird von Heidegger so definiert: Geschichte ist das in der Zeit sich begebende spezifische Geschehen des existierenden Daseins, so zwar, daß das im Miteinandersein ‚vergangene‘ und zugleich ‚überlieferte‘ und fortwirkende Geschehen im betonten Sinne als Geschichte gilt.53

Indem Dasein lebt, realisiert es Geschichte, die aus der Vergangenheit prä­ gende und in die Zukunft weiterwirkende Kraft hat. Indem aber in der Geschichte – qua Gerede etwa – die Verstellung sich perpetuiert, wird Ge­ schichte nicht zu einem Erhellungsprozess, wie man vielleicht bei Gadamer es finden kann, sondern zu einer Verfestigung des „Abfalls“ vom Ursprung. Ist man so versucht, Heideggers Perspektive auf Tradition, wie sie in „Sein 49 

Vgl. z. B. M. Heidegger: Sein und Zeit. S.  19–27. Heidegger: Sein und Zeit. S.  22. Die Destruktion führt der Idee nach auf die ursprünglichen Erfahrungen (vgl. ebd., S.  22 und ders.: M. Heidegger: Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik. S.  7, wo von „originär gebenden Anschauungen“ im Sinne Husserls die Rede ist). Diesem Gedanken der Verdeckung durch Tradition entspricht spiegelbildlich die Konzeption der Wahrheit als Unverborgenheit (vgl. dazu T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  37, 42). Indem Wahrheit als ἀλήθεια gedacht wird, steht die Tradition praktisch für das Alpha privativum bzw. realisiert dieses. Wenn Wahrheit meint, „aus der Verbor­ genheit herausnehmend […] in […] Unverborgenheit (Entdecktheit) stehen lassen“ (M.  Heidegger: Sein und Zeit. S.  219), ist Tradition wahrheitshinderlich. 51  M. Heidegger: Sein und Zeit. S.  76. 52 M. Heidegger: Sein und Zeit. S.   20. Somit ist, wie Winter zutreffend schreibt, „Traditionalität […] ein Konstituens der Erschlossenheit […].“ (T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  47). 53  M. Heidegger: Sein und Zeit. S.  379. 50  M.

1. Traditionsanalysen in der Phänomenologie

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und Zeit“ kulminiert, zu pointieren, dann stellt Tradition die prägende Wirkung der Vergangenheit dar, die den Menschen in den kollektiven Deutungen festhält, die faktisch bestehen und die verhindern, dass er je selbst kritisch prüfend den Dingen auf den ursprünglichen Grund geht.54 Diese phänomenologische Traditionstheorie ist gleichwohl nicht unwi­ dersprochen geblieben, was zur Erhellung und Schärfung des heidegger­ schen Ansatz kurz besprochen werden soll. Drei Motive scheinen dabei von besonderer Relevanz, nämlich erstens die Feststellung, dass die hebende, ermöglichende Funktion von Tradition kaum eine Rolle spielt, zweitens die Beobachtung, dass Heidegger ein explizites Verhältnis fordert statt hegender Einbindung, und drittens die Auffälligkeit, dass in „Sein und Zeit“ selbst – in zumeist weniger starken, weil politisch instrumentalisierbaren Passagen – der Weg für ein positives Ergreifen von Traditionen bereitet ist, der aber von Heidegger nicht als Traditionalitätsphänomen gedeutet wird. Landmann behauptet im Sinne der ersten Kritik, dass Heidegger eine unzulässige Vereinseitigung begehe: Wie einseitig ist eine Philosophie wie die Heideggers, die das Verhältnis des Einzelnen und der Tradition nur so sieht, daß der Einzelne durch das banale Alltagsgerade des ‚Man‘ – ein neues Wort für das, was Nietzsche die ‚Herde‘ nannte – um seine Eigent­ 54 Es ist interessant, dass Gadamer, der ohne Zweifel auf Einsichten Heideggers f­ ußend gedacht hat, die Traditionstheorie in „Sein und Zeit“ positiver interpretiert hat. Gadamer betont die von Heidegger herausgestellte Vorstruktur des Verstehens (vgl. ­H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. S.  251 f.), übergeht aber die deutlich negative Konnotation des Überlieferten, wenn er schreibt: „Zugehörigkeit ist nicht deshalb eine Bedingung für den ursprünglichen Sinn historischen Interesses, weil Themenwahl und Fragestellung außerwissenschaftlichen, subjektiven Motivationen unterliegen […], son­ dern weil Zugehörigkeit zu Traditionen genau so ursprünglich und wesenhaft zu der geschichtlichen Endlichkeit des Daseins gehört wie sein Entworfensein auf zukünftige Möglichkeiten seiner selbst.“ (ebd., S.  248). Es stimmt zwar, dass Heidegger, wie erläu­ tert, das Gebundensein an Traditionen anerkennt qua Geworfenheit und Faktizität, aber diese Anerkennung ist bei ihm immer mit einem „leider“ verbunden zu denken, denn an der verstellenden Wirkung ändert sich nichts. Gadamers eigenes Modell einer Hermeneutik, die durch Horizontverschmelzung Erkenntnisläuterung erwartet, passt nicht vollständig zu demjenigen in „Sein und Zeit“, weil dort qua Destruktion zumin­ dest der Tendenz nach ein Abbau der Tradition auf Reinheit und Ursprünglichkeit hin angedacht ist, keine Aufklärung der Menschen durch Kontakt unterschiedlicher Tradi­ tionshorizonte. Es finden sich allerdings durchaus in frühen Vorlesungen Heideggers auch andere Anklänge, insbesondere im sogenannten „Natorp-Bericht“, in dem sich intensive Überlegungen zur rechten Bereitung der hermeneutischen Situation finden (vgl. dazu M. Heidegger: „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (An­ zeige der hermeneutischen Situation)“, in: ders.: Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik (Gesamtausgabe. Bd.  62). Hrsg. v. G. Neumann. Frankfurt 2005, S.  343–399, hier v. a. S.  345–375).

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lichkeit gebracht wird, zu der er nur findet, wenn er sich allein auf sich selbst, auf seine innersten nur in ihm liegenden Möglichkeiten zurückbesinnt. […] Was den Menschen erst zum vollen Menschen macht, das beruht […] auf der […] Gängelung und Formung durch die kulturellen Traditionen, die er an sich erfahren darf.55

Der letzte Satz liefert schon Landmanns Gegenmodell, welches im Kern in einer (gleichwohl nicht totalen) Bindung an akkumulierte Resultate be­ steht.56 Landmann wirft Heidegger vor, Traditionen nur als Uneigentlich­ keiten verstehen zu können, was, wie es an gleicher Stelle heißt, zwar durchaus vorkommen könne, aber eben keineswegs der notwendige oder gar der hauptsächliche Fall sein muss. Traditionen heben das Dasein erst zu etwas empor bzw. – neutraler ausgedrückt – machen dieses erst zu etwas. Man kann Landmanns Kritik auch überraschend so lesen, als verstehe er Heidegger als „Semi-Rousseauisten“, insofern dieser glaube, in der Exis­ tenz des Einzelnen liegen schon dessen Möglichkeiten irgendwie tradi­ tionsfrei bereit.57 Er wirft ihm also vor, den Einzelnen gleichsam unhisto­ risch zu denken: Heideggers Einzelner […] bleibt in den wechselndsten geschichtlichen Standorten der­ selbe. […] Um den Stoff zu finden, durch den allein er sich im Sein und Handeln voll verwirklichen kann, wendet der Einzelne sich wohl auf die Geschichte zurück, aber er ist nicht immer schon von innen her ihr Geschöpf.58

Wenn Existenz selbst, ihrer formalen Struktur nach, geschichtlich bedingt ist, also traditionell, dann ist noch diese von jener abhängig – und zwar im ermöglichenden, positiven Sinne. Indem Heidegger aber einer „Logik der Authentizität“ verhaftet bleibe, gelinge es ihm nicht, dem „geschichtlichen Bedeutungswandel auch eine positive Seite abzugewinnen.“59 Da der Ur­ sprung immer wieder neu erarbeitet, philosophisch errungen werden muss, ist Tradition als Verfall gedeutet, ihre ermöglichende Funktion immer schon mit einem gleichsam negativen Vorzeichen versehen. Schmitz hat in diesem Sinne darauf hingewiesen, dass Heideggers Begriff der Geworfen­ 55 

M. Landmann: Anklage gegen die Vernunft. S.  124 f. Vgl. z. B. M. Landmann: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. S.  156, wo von der Tradition als geistiger Mutter die Rede ist, die den Menschen erst vollendet, indem sie ihn in sich hineinholt. An anderer Stelle (ebd., S.  56) wird von einem „Erbgut“ gesprochen, das das individuelle Unfertigsein kompensiert. 57  Dieser Vorwurf trifft einen „Voll-Rousseauisten“, wenn man glaubte, Existenz könne frei, ohne Relevanz der faktischen Umstände, inhaltlich bestimmt werden. Dies ist aber nicht Heideggers Position, wie Landmann (siehe das folgende Zitat) auch richtig anerkennt. 58  M. Landmann: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. S.  86. 59  T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  56. Demnach ist Heideggers Theorie sogar als „antiphänomenologisch“ und „antihermeneutisch“ zu werten (vgl. ebd., S.  75). 56 

1. Traditionsanalysen in der Phänomenologie

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heit eine leichte, aber bedeutungsschwere Verschiebung durchmachte. Ge­ worfenheit war ursprünglich ein eher neutraler Terminus, der das „Dass etwas ist“ anzeigen sollte, während er dann im Verlaufe der Überlegungen in „Sein und Zeit“ die negative Konnotation des Verfallenseins erhält. 60 Geworfenheit ist nun nicht mehr ein deskriptives Erfassen des Daseins in seinem „Dass“, sondern ein Feststellen der immer schon ursprungsent­ fremdenden Bahnungen. Eine zweite, hier nur kurz zu streifende Kritik betrifft das von Heideg­ ger angestrebte Traditionsverhältnis. Er scheint mittels Destruktion darauf hinauszuwollen, dass Traditionen thematisch werden und so an verstellen­ der und verdeckender Kraft verlieren. Indem das Dasein Möglichkeiten bewusst ergreift, nicht bloß qua Gerede und Alltäglichkeit „man-haft“ lebt, ist Eigentlichkeit erreichbar. Wenn das stimmt – und dafür spricht die gleich vorzustellende dritte, interne Kritik  –, dann ist Landmann beizu­ pflichten, dass „Heideggers Begriff der Geschichtlichkeit dem […] rein theo­retischen der Geschichtsbewußtheit [nahesteht].“61 Explizites Verhal­ ten zu statt einbettendem Leben gemäß Traditionen, so ließe sich diese Kri­ tik fassen. Aber wenn Traditionen unbewusste, vielleicht – mit Heidegger gedacht 62 – stimmungsartige Phänomene sind, dann wäre es notwendig, zu prüfen, wie ein neues Verhältnis zu diesen denn gelingen kann. Dahin­ gehend bleibt Heidegger Antworten schuldig.

60 

Vgl. H. Schmitz: Phänomenologie der Zeit. Freiburg, München 2014, S.  227 f. Auf die Bedeutung des Geworfenheits-Konzeptes für die Tradition weist auch Gadamer hin (vgl. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. S.  248), allerdings liest er den Begriff nur wertneutral als Situierung, die auch für die zukünftigen (Entwurfs-)Möglichkeiten Re­ levanz habe. Dass Heidegger Geworfenheit zugleich auch als Verfallen versteht, über­ geht er anscheinend. Eine Textstelle aus dem vor „Sein und Zeit“ verfassten „Natorp-Bericht“ zeigt, dass Heidegger prinzipiell die auch ermöglichende Funktion von Traditionen im Blick ge­ habt zu haben scheint: „Die Ausbildung der hermeneutischen Situation ist das Ergreifen der faktischen ‚Bedingungen‘ und ‚Voraussetzungen‘ der philosophischen Forschung. Eigentliche Voraussetzung nicht dazu da, ‚bedauert‘ und ‚notgedrungen zugestanden‘ zu werden als Phänomene der Unvollkommenheit, sondern gelebt zu werden; d. h. aber nicht ‚unbewußt‘ auf sich beruhen lassen, ihnen aus dem Wege gehen, sondern als solche ergreifen, d. h. aber sich in das Historische stoßen.“ (M. Heidegger: „Phänomenologi­ sche Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation)“. S.  347). Diese Aussage verweist darauf, die Bahnungen durch Faktizität und Geworfenheit nicht nur negativ zu sehen, allerdings – und das deutet auf die spätere Position in „Sein und Zeit“ voraus – müssen sie explizit durch Entschluss ergriffen werden. 61  M. Landmann: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. S.  8 8. 62  Zum Stimmungsdenken vgl. z. B. M. Heidegger: Sein und Zeit. S.  136, 142.

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II. Phänomenologie der Tradition

Dass Heidegger tatsächlich der Tendenz nach an reflexives Ergreifen von Traditionen gedacht hat, deuten seine Überlegungen zu „Schicksal“ und „Geschick“ an, die zu den letzten Abschnitten in „Sein und Zeit“ gehören. Es geht dabei um die Frage, wie das Dasein als immer schon an die Welt verfallenes Dasein Eigentlichkeit erreichen kann. Dazu heißt es an einer einschlägigen Stelle: Das eigentliche existenzielle Verstehen entzieht sich der überkommenen Ausgelegtheit so wenig, daß es je aus ihr und gegen sie und doch wieder für sie die gewählte Möglich­ keit im Entschluß ergreift. Die Entschlossenheit, in der das Dasein auf sich selbst zu­ rückkommt, erschließt die jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existie­ rens aus dem Erbe, das sie als geworfene übernimmt. Das entschlossene Zurückkom­ men auf die Geworfenheit birgt ein Sichüberliefern überkommener Möglichkeiten in sich, obzwar nicht notwendig als überkommener. Wenn alles ‚Gute‘ Erbschaft ist und der Charakter der ‚Güte‘ in der Ermöglichung eigentlicher Existenz liegt, dann konsti­ tuiert sich in der Entschlossenheit je das Überliefern eines Erbes. 63

Für den Leser der ersten Hälfte von „Sein und Zeit“ muss diese Passage überraschend wirken, denn hier wird gleichsam wertneutral von Bindung an Überlieferung gesprochen. Diese sei nur bewusst und entschlossen zu ergreifen. Auf diese Weise ergibt sich dann auch ein – offensichtlich legi­ times – Erbe, eine eigentliche Tradition (von der freilich nicht explizit die Rede ist). Eine solche Bindung an ein Erbe qua Entschluss bringt das Da­ sein in sein „Schicksal“, worunter Heidegger „das in der eigentlichen Ent­ schlossenheit liegende ursprüngliche Geschehen des Daseins“ meint, in welchem dieses „sich frei für den Tod ihm selbst in einer ererbten, aber gleichwohl gewählten Möglichkeit überliefert.“64 Die gewählte Tradition wird zum Schicksal, was – anders als die etwa philosophiegeschichtlichen Bahnungen  – positiv konnotiert scheint. Das belegt schließlich auch der Begriff Geschick, mit dem Heidegger auf die soziale Dimension der Situie­ rung des Daseins hinweisen möchte und von dem es heißt: „Das schicksal­ hafte Geschick des Daseins in und mit seiner ‚Generation‘ macht das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus.“65 Gerade dieser Satz steht in einem 63 

M. Heidegger: Sein und Zeit. S.  383 f. M. Heidegger: Sein und Zeit. S.  384. 65  M. Heidegger: Sein und Zeit. S.   384 f. Diese Stellen werden mitunter als proto-­ faschistisch gelesen, weil Heidegger sozialphilosophisch vom Volks-Begriff her denkt, was freilich eine unhistorische Kritik wäre. Aber wichtig ist, dass man „Sein und Zeit“ in der Zwiespältigkeit seiner Argumentation vor Augen geführt bekommt, denn wäh­ rend es einerseits existenzphilosophisch (und das meint vom Individuum her) denkt, zeigen andere Stellen einen deutlich kollektivistischeren Zug, der allerdings insofern anschlussfähig an den anderen Teil bleibt, als es das Individuum ist, die Existenz, die qua Entschluss Teil des Schicksals und des Geschicks werden soll. 64 

1. Traditionsanalysen in der Phänomenologie

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Spannungsverhältnis zur These von den verdeckenden Wirkungen der Tra­ ditionen. Es ist klar, dass Heidegger die Bindung an das Geschick positiv konnotiert, denn sie ist qua Schicksal ein Entschluss des Daseins und eben deshalb eigentlich. Ergriffene Traditionen wären demnach zulässiges Erbe. Freilich schwingt in diesen Aussagen immer ein Moment des Dezisionisti­ schen mit, das im Kontext von Karl Jaspers’ Traditionsdenken und dem von Sören Kierkegaard herkommenden Sprungmotiv sich andeutet. 66 Ob ein solcher bewusster Entschluss, ein dezidiertes Ergreifen dem Phänomen Tradition, wie es von Heidegger selbst in den vorderen Passagen von „Sein und Zeit“ vorgestellt wurde, noch gerecht werden kann, bleibt offen. Jeden­ falls aber zeigt das Zitierte deutlich, dass eine positive Bindungsform an Erbe und Überlieferung möglich ist. Diese führt das Dasein sogar erst ins „Volle“ und „Eigentliche“. Zu einer weniger einseitigen Traditionstheorie hat Heidegger das mittels Schicksal und Geschick Angedeutete allerdings nicht ausgebaut. Vielleicht, so steht zu vermuten, war der Terminus Tradi­ tion für ihn wesentlich zur Kennzeichnung falscher (geistes-)historischer Prägungen, weshalb er die ergriffenen und positiven gerade nicht als solche ansprach. Aufbauend auf Heideggers hermeneutische Gedanken, die allerdings für den Traditionsbegriff eben nicht Anwendung fanden, wie gezeigt wurde, hat Gadamer seine Theorie entwickelt. 67 Hier soll nur ein Seitenblick auf seinen Lexikonartikel zur Tradition aus phänomenologischer Sicht erfol­ gen, denn dieser Beitrag war lange Zeit der einzige sich explizit als phäno­ menologische Traditionsanalyse gebende Text. Auffällig an diesem Werk, das zeitlich wie sachlich dem Umfeld von „Wahrheit und Methode“ zuzu­ rechnen ist, scheint, dass es praktisch gar nicht phänomenologisch operiert. Gadamer nimmt zwar Bezug auf Heidegger, insbesondere die Geworfen­ heit, die er als neutralen Begriff liest, geht dann aber direkt zur Tradition als hermeneutischem Grundbegriff über. 68 Das zeigt vielleicht noch ein­ mal, wieso aus dem Heidegger-Schüler Gadamer ein Proponent der Tradi­ tion werden konnte, denn er betonte das Hermeneutische und somit das Motiv der uneinholbaren Eingebundenheit, wohingegen der frühe Heideg­ ger immer noch, bei aller Differenz, in Husserls Spuren der Suche nach den urstiftenden Erfahrungen wandelte, auf welchem Weg Traditionen Verstel­ lungen, keine Hilfen bildeten.

66 

Vgl. dazu S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. Kap.  3.6. Vgl. dazu S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. Kap.  3.9. 68  Vgl. H.-G. Gadamer: „Tradition I. Phänomenologisch“. Sp.  9 66 f. 67 

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II. Phänomenologie der Tradition

Die drei vorgestellten Ansätze zeigen, dass insgesamt in der Phänomeno­ logie über Tradition eher funktional nachgedacht wurde  – Verdeckung, Verstellung, Ursprungsentfernung, Verstehensermöglichung, Situierung –, weniger aber jedoch, und das ist vielleicht überraschend, vor dem ähnlich gearteten jahrhundertelangen Diskurshintergrund aber verständlich, als Erfahrung, als Phänomen für jemanden. Was Traditionen sind, bleibt Desi­ derat. Die pointierteste Theorie hat sicher noch Gadamer, dieser schließt an dieser Stelle aber nur hermeneutisch, jedenfalls nicht primär phänomenolo­ gisch an Heidegger an. Es bleibt daher im Folgenden diese Arbeit, nämlich eine phänomenologische Klärung, erstmalig zu leisten.

2. Aspekte des Phänomens Es soll eine Phänomenologie der Tradition versucht werden, die die Per­ spektive des Betroffenen in den Mittelpunkt stellt, weil eine solche bislang im Grunde fehlt, wenn man von einigen wenigen Bemerkungen – etwa bei Boyer69 – in dieser Richtung absieht. Dazu werden anhand von sieben As­ pekten wesentliche Bestimmungen ermittelt, die zusammen den Kern der Tradition aus der genannten Blickrichtung ergeben. Dass von Aspekten die Rede ist, stellt allerdings nur eine analytische Trennung dar, in concreto sind diese keineswegs immer einzeln klar abhebbar. Im Interesse einer Er­ hellung des Phänomens muss jedoch analytisch geschieden werden, was sachlich verwoben ist. Die so gewonnene Definition bleibt selbstverständ­ lich auf Korrekturen notwendig angewiesen, eine Phänomenologie ist im Ergebnis immer nur ein „Bis auf Weiteres“, verbunden mit der Hoffnung allerdings, doch vor allem ergänzt, nicht wesentlich umgestürzt werden zu müssen (wiewohl auch das vorkommen kann). Die Grundidee, die einer solchen Annäherung leitend zugrunde liegt, ist, wie schon erläutert, dass ein so gewonnenes Traditionsverständnis helfen kann, allen anderen Be­ griffsverwendungen als Maßstab70 zu dienen, von dem her die Beziehun­ gen zueinander, Stärken und Schwächen und so weiter sich erhellen lassen.

69  P. Boyer: Tradition as Truth and Communication. Z. B. S.   1 f., 23, wo sich eine Perspektive auf Tradition findet, die als „psychologisch“ beschrieben wird und daher phänomenologische Anteile hat. Vgl. dazu auch S.  Kluck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. Kap.  3.20. 70  Maßstab ist es insofern, als es Tradition lebensweltlich und erfahrungsmäßig an­ schlussfähig macht. Nicht gesagt ist damit, dass die hier verfolgte Perspektive auch nor­ mativ herauszuheben ist, sondern eben zunächst allein heuristisch.

2. Aspekte des Phänomens

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2.1 Inhalt und Medium Die vielleicht grundlegendste Dichotomie besteht zwischen Tradition als Gehalt oder Inhalt und Tradition als Prozess oder Form. Im ersten Sinn ist sie zum Beispiel die Tradition des Katholizismus oder der Ferraristi, womit ein bestimmter Lehr- oder Glaubensgehalt, ein Dogma, ebenso verbunden sein kann wie spezifische Normen oder Verhaltenskodizes. Im zweiten Sinn ist sie eine Weise, wie etwas – Dogmen, Praktiken, Werte – diachron weitergegeben werden, wobei sie dann in die Nähe von Konzepten wie Be­ lehrung, Lehre, Vorbild oder auch Sozialisation rückt. Manch ein Theore­ tiker hat darauf hingewiesen, dass zwischen beiden vielleicht gar nicht streng unterschieden werden kann, da sich Inhalte nur in der Weitergabe überhaupt realisieren.71 Dem hier verfolgten phänomenologischen Blick nach ist jedoch festzuhalten, dass eine Tradition als bloße Form eine Abs­ traktion darstellt. Jemand, der einer Glaubensgemeinschaft (egal ob säkular oder nicht) angehört, der erlebt seine Tradition nicht in Form von Weiter­ gabeakten, sondern als einen spezifischen Gehalt, also zum Beispiel in Form von Festen aus Anlass bestimmter Geschehnisse. Ihm zu sagen, er führe in diesem Moment nur einen diachron relevanten Prozess aus, würde aus seiner Perspektive gerade das Wesentliche der Tradition, auf das es ihm ankommt, verfehlen.72 Der Tradent blickt vermutlich auch auf die diachro­ ne Erstreckung – andere haben etwas genau so schon vorher getan, andere sollen und werden es später auch tun –, aber nicht inhaltsleer, sondern im­ mer nur im Hinblick auf konkrete Bestände. Phänomenologisch gesehen hat die Rede von formalen Traditionen keinen Sinn, diese sind ein Abstrak­ tionsprodukt der Analyse. Wenn daher Wiedenhofer fordert, „a theory or philosophy of tradition has to study the formal aspects, that is, the proper­ ties a system of material signs must have in order to function as tradition“73 , 71  Als solche Stimmen vgl. W. Kasper: „Tradition als theologisches Erkenntnisprin­ zip“. S.  391 f. und W. Barner: „Über das Negieren von Tradition“. S.  13. 72  Um das hier verfolgte methodische Vorgehen an diesem Beispiel exemplarisch zu verdeutlichen, steckt hinter der These, dass der Betroffene inhaltlich, nicht formal von Traditionen angesprochen wird, eine vorgängige phänomenologische Variation, die versucht, zu prüfen, wann jemand etwas gerade nicht mehr als Tradition verstehen wür­ de. Während ein Wandel der Inhalte dem Phänomen nichts anzutun scheint (es also auf prinzipieller Ebene prima facie keinen Unterschied macht, ob bestimmte Praktiken, Schriften usw. Jesus, Zarathustra oder Huitzilopochtli dienen), verhält sich dies beim Wechsel von inhaltlicher zu formaler Perspektive anders. Wenn das stimmt, dann ist für den Betroffenen der formale Weitergabeprozess zwar vielleicht noch notwendiger Teil einer Tradition, aber niemals hinreichender. 73  S.   W iedenhofer: „The Logic of Tradition“. S.  15.

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II. Phänomenologie der Tradition

dann übersieht er, dass dazu ja schon vorgängig feststehen muss, was es bedeutet, als Tradition funktionieren zu können. Dieses Vorgängige, das erst eine formale Analyse gestattet – denn sonst wüsste man nicht, welche Struktur als Tradition zu untersuchen wäre –, ist nur mittels einer phäno­ menologischen Analyse auffindbar und ist selbst nicht formal. Auch Shils scheint wie Wiedenhofer zu denken, wenn er schreibt: „Traditionality is compatible with almost any substantive content. […] Tradition is whatever is persistent or recurrent through transmission, regardless of the substance and institutional setting.“74 Ein solcher Blick vermag zwischen der Weiter­ gabe eines Kinderreims, den „man“ sich eben immer erzählt hat, oder der Weitergabe einer Bedienungsanweisung für ein Gerät und derjenigen grundlegend weltorientierender und bedeutsamer Gehalte nicht zu unter­ scheiden, aber phänomenal liegt dazwischen ein massiver Hiatus.75 Wenn aber somit Traditionen phänomenal als Gehalt auftreten, dann ist sofort zu fragen, welcher Art dieser sein kann. Ist jedweder Inhalt möglich? Und wie – in welchem Medium – gibt er sich? In der Literatur werden ver­ schiedene Inhalte diskutiert, wobei klassischerweise Tradition oft eng an (Schrift-)Sprachwerke gebunden wird.76 Blickt man phänomenologisch darauf, überzeugt die Sprachfixierung allerdings nicht. Schon historisch würde das bedeuten, zahlreichen illiteraten Menschen und Kulturen Tradi­ tionen abzusprechen, was die in der Ethnologie77 übliche Begriffsverwen­ dung konterkariert und insgesamt unplausibel wirkt. Viele Traditionen

74 

E. Shils: Tradition. S.   16. nur formaler Blick setzt nicht nur, wie schon angedeutet, die vorgängige le­ bensweltliche Festlegung von etwas als Tradition voraus, sondern er kann auch nicht mehr zwischen Tradition und Institution unterscheiden. Daher ist es nur konsequent, dass die Behauptung einer Identität zwischen beiden auch diskutiert worden ist (vgl. so z. B. A. Assmann: Zeit und Tradition. S.  63 und auffällig bei Gehlen, der über Traditio­ nen [vgl. A. Gehlen: „Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie“. S.  132, 138] fast wörtlich genau so spricht, wie er andernorts über Institutionen [vgl. A.  Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Bonn 1958, S.  8 f., 22, 26 f., 49, 60 f.] redet). 76  Vgl. zur Sprachfixiertheit des Traditionsdenkens z. B. U. Oevermann: „Soziologi­ sche Überlegungen zum Prozess der Tradierung und zur Funktion von Traditionen“, in: T. Larbig, S.  Wiedenhofer (Hrsg.): Kulturelle und religiöse Traditionen. Beiträge zu einer interdisziplinären Traditionstheorie und Traditionsanalyse. Münster 2005, S.  11– 36, hier S.  20, wo sich die Behauptung findet, tradieren lasse sich nur, was grundsätzlich versprachlicht werden kann. 77  Vgl. dazu als eine Stimme P. Boyer: Tradition as Truth and Communication. S.  1, der Traditionen als soziale Interaktionen versteht, wobei diese Kommunikation münd­ lich gedacht ist. 75  Ein

2. Aspekte des Phänomens

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bestehen vielmehr in Praktiken,78 das heißt Weisen, etwas zu tun. Aller­ dings bleibt auch dahingehend noch eine Grenzziehung nötig, denn will man den in Deutschland und andernorts auf Straßen und Wegen üblichen Rechtsverkehr als eine solche Praxis verstehen?79 Ist er Tradition oder doch nicht bloß – phänomenal davon abgrenzbar – eine Gewohnheit, eine Üb­ lichkeit? Dieses Beispiel deutet darauf hin, dass der Inhalt alleine nicht zu­ reicht, Traditionen als Traditionen zu benennen. Und Praktiken können auch selbst bloßer Teil von Traditionen sein, wenn man sie als Brauch oder Ritual80 versteht, die eben nicht das Ganze bilden. Ein Katholik etwa hält die heilige Messe sicher für eine wesentliche Praxis innerhalb seiner Tra­ dition, aber sie ist nicht mit ihr identisch. Daran zeigt sich, dass andere Aspekte  – Einbettung, Umfang  – eben mit dem Inhaltlichen zusammen­ gehören, keineswegs autark jeder für sich zu stehen vermag. Und doch lässt die analytische Isolation etwas an Traditionen erkennen, nämlich dass sie weit weniger, als bisher oft gedacht, nach dem Vorbild dogmatischer Leh­ ren zu denken sind, sondern auch subtilere Inhalte haben können. Der paradigmatische Fall – wohl von den schrift-, genauer: buchfixierten monotheistischen Religionen her gedacht  – sieht als wesentlichen Inhalt eine bestimmte Lehre an. Insofern sind Traditionen Wissen, wenn mit die­ sem Begriff ein Bestand an als gültig angenommenen Aussagen über die Welt bezeichnet ist. Das ist phänomenologisch nachvollziehbar, aber trifft wiederum nicht alles das, was als traditional imponiert. Viele Praktiken operieren auf vor- oder nichtsprachliche Weise, liefern dabei aber sehr wohl Wissensäquivalente, indem sie die Welt strukturieren, sie im Hinblick auf Werte gliedern und so weiter. Ein in der Tradition des Orgelbaus Bewan­ derter weiß in gewissem Sinne, wie gutes oder schlechtes Holz aussieht, sich anfühlt, vielleicht riecht, ohne dieses Wissen notwendig in Aussage­ form bringen zu können. 81 Dennoch verfügt er über belastbare  – wenn 78 Dafür plädieren der Sache nach R. Sennett: Handwerk. Übers. v. M. Bischoff. Berlin 2008, z. B. S.  65, 167 und im Rahmen der Analyse der Stradivari-Werkstatt ebd., S.  104–109 sowie M. B. Crawford: Die Wiedergewinnung des Wirklichen. Eine Philo­ sophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung. Übers. v. S.  Gebauer. Berlin 2016, z. B. S.  350–356. 79 Michael Suk-Young Chwe interpretiert den Rechtsverkehr, der auf die Franzö­ sische Revolution und deren Interesse an demokratischen Strukturen zurückgeht, als rituelle soziale Praxis (vgl. M. S.-Y. Chwe: Rational Ritual. S.  23). 80  Byung-Chul Han z. B. versteht Rituale als symbolische Praktiken (vgl. B.-C.  Han: Vom Verschwinden der Rituale. S.  13). 81  Das berührt das von Richard Sennett als „Stradivari-Syndrom“ gekennzeichnete Phänomen, dass viele Praktiker davon überzeugt sind, dass „die eigene Fachkunde nicht vermittelbar“ ist (R. Sennett: Handwerk. S.  330).

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II. Phänomenologie der Tradition

auch implizite  – Vorannahmen über die Welt, die ihm qua Tradition zu­ kommen. Es wäre daher nötig, will man Wissen zum Inhalt der Tradition generell bestimmen, einen nicht an Sprache und Explikation gebundenen Begriff desselben anzusetzen. Eine Erweiterung in diesem Sinne im Hinblick auf mögliche Inhalte der Traditionen kann im Anschluss an Habitus-Theorien versucht werden. Dieser vor allem mit dem Namen Pierre Bourdieus verbundene Ansatz82 legt Wert darauf, dass auf nicht-explizite Weise Prägungen vorliegen, die weitergegeben werden. 83 „Als einverleibte, zur Natur gewordene und da­ mit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat.“84 Liest man Traditionen als habituelle Dispositionen, dann kann ihr Inhalt in solchen Prägungen beste­ hen, die auf vor- oder nichtsprachliche Weise aus der Vergangenheit erwor­ ben werden. Dass es eine solche Dimension gibt, hat auch die Erinnerungs­ forschung zuletzt betont, indem sie auf „habit memory“ verwies, womit „forms of mediation that rely less on explicit linguistic representation and more on embodied practices“85 gemeint sind. Allerdings gilt es auch hier, phänomenologisch zu prüfen, wie weit der an sich sinnvolle Erweiterungs­ gedanke getrieben werden kann, ohne unplausibel zu werden. Eine dispo­ sitionelle Eigenart als Tradition zu bezeichnen, liegt für einen Betroffenen nicht in jedem Fall sofort nahe, etwa wenn es um die Bildungsweise von Lauten geht, in anderen Hinsichten jedoch schon, wofür kulturspezifische Begrüßungsweisen stehen mögen. Diese sind Ausdruck geschichtlicher

82  Vgl. dazu P. Bourdieu: Sozialer Sinn. S.  31 f., wo Bourdieu meint, dass eine Praxis nur beherrschen könne, „wer von ihr vollständig beherrscht wird, wer sie so weit be­ sitzt, daß er von ihr völlig besessen, d. h. enteignet ist. Daß dies so ist, liegt daran, daß es nur ein praktisches Lernen der Wahrnehmung-, Beurteilungs- und Handlungssche­ mata gibt, die Vorbedingung jeder sinnvollen Praxis und jedes sinnvollen Denkens sind und die ständig durch nach denselben Schemata hervorgebrachte Handlungen und Dis­ kurse verstärkt werden und damit aus der Welt der Denkobjekte ausgeschlossen sind.“ Dieses Hintergründige, das kaum zu thematisieren ist, soll der Habitus sein, den Bour­ dieu kritisch aufschließen möchte. 83  Vgl. dazu die Gegenüberstellung von bewussten, unbeweglichen Familientradi­ tionen und dem Habitus bei P. Bourdieu: Sozialer Sinn. S.  101 f. Bourdieu geht es vor allem auch um eine Kritik sozialer Prägungen, die durch oppressive Gesellschaftsstruk­ turen bedingt sind. Diese gesellschaftskritische Dimension bleibt hier jedoch ausge­ spart, da sie jenseits des verfolgten Erkenntnisinteresses liegt. 84  P. Bourdieu: Sozialer Sinn. S.  105. 85  J. V. Wertsch: „Collective Memory“, in: ders., P. Boyer (Hrsg.): Memory in Mind and Culture. Cambridge 2009, S.  117–137, hier S.  120. Vgl. dazu auch P. Connerton: How Societies Remember. Cambridge 1999, S.  23, 94.

2. Aspekte des Phänomens

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Prägungen und sie werden als Traditionen durchaus erlebt, was man von lautsprachgeschichtlichen Tatbeständen eher weniger sagen kann. 86 Mit dem Habitus-Ansatz kommt, das haben beide Zitate schon anklin­ gen lassen, die Dimension der Verkörperung ins Spiel. Was Traditionen ih­ rem Gehalt nach sind, ist nicht nur nicht notwendig an Versprachlichung gebunden, sondern kann sogar unmittelbar ins Körperliche übergehen. Der „Vorzug der Einverleibung“ sei es, so Bourdieu, die „Fähigkeit des Leibes […] [auszunutzen], die performative Magie des Sozialen ernst zu nehmen […].“87 Zu denken wäre wohl an Verkörperungen vergangener Üblichkei­ ten, wofür vielleicht die Art und Weise der Bogenhaltung beim Violinen­ spiel ein gutes Beispiel abgeben mag. 88 Indem der Bogen in gewisser Weise gegriffen und geführt und dies durch Übung inkorporiert wird, wird eine sozial bedingte Praxis verinnerlicht. Vielleicht ließe sich sogar an Körper­ haltungen und Gestik denken, die ein geschulter Psychologe (oder auch nur kundiger Beobachter) oft hinreichend genau kulturspezifisch zuzuordnen vermag. Insofern kann es ein immaterielles, verkörpertes Kulturerbe ge­ ben. 89 Allerdings gilt auch hier wie im Hinblick auf Praxis, dass zwar die Erweiterung des an Sprache orientierten Diskurses sinnvoll und phänome­ nadäquat erscheint, jedoch nicht jede Verkörperung als Tradition impo­ niert. Wenn man etwa an den Wechsel der Skihaltung im Skisprungsport vom jahrzehntelang üblichen Parallel-Stil zum V-Stil ab Ende der 1980er Jahre denkt, so liegt womöglich eine Verkörperung vor, aber ist das Tradi­ tion? Gleiches gilt für die lange Zeit übliche Praxis, allen Schülern das Schreiben mit der rechten Hand beizubringen. Dies ist für diejenigen Schü­ ler, die von sich aus zur Rechtshändigkeit neigen, sicher keine Tradition, sondern „natürlich“, während es für die zur Linkshändigkeit neigenden 86  Wobei man zwischen phonetischen und semantischen Dimensionen wohl unter­ scheiden muss, denn letztere können vielleicht eher als Traditionen aufgefasst werden. 87  P. Bourdieu: Sozialer Sinn. S.  107. 88  Eine Analyse verschiedener solcher Haltungsweisen, die nach Schulen – und da­ mit wohl Traditionen – differenziert werden, bietet als empirisches Anschauungsmate­ rial W. Trendelenburg: Die natürlichen Grundlagen der Kunst des Streichinstrumentespiels. Kassel 1974, z. B. S.  35–45, 149–156. Der Titel zeigt aber schon an, dass das Tra­ ditionelle hier teilweise als durch Natur  – beispielsweise Physiologie  – bedingt verstanden wird. 89  Einen solchen praxeologischen Kulturerbeansatz liefert H. Schäfer: „Immateriel­ les Kulturerbe. Zur Körperlichkeit einer spezifischen Form des sozialen Gedächtnis­ ses“, in: M. Heinlein, O. Dimbath, L. Schindler, P. Wehling (Hrsg.): Der Körper als soziales Gedächtnis. Soziales Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen – Memory Studies. Wiesbaden 2016, S.  195–207, hier S.  198, wo der Körper unter anderem als Speicher und Agens historischer Übertragung benannt wird.

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II. Phänomenologie der Tradition

vielleicht als eine solche in Erscheinung tritt, vielleicht aber auch als Form der Gewalt oder des Trainings. In jedem Fall jedoch kann man festhalten, dass es rein phänomenologisch möglich scheint, Traditionen verkörpert zu denken. Freilich liegt hier eine Klärungsbedürftigkeit vor, denn wenn von Ver­ körperung die Rede ist, meint dies meist nicht nur und oft nicht einmal primär den Körper, wie er von außen sichtbar ist und beispielsweise von der Medizin thematisiert wird. Häufig wird eigentlich mit dem Wort auf die Dimension des Leiblichen abgezielt, worunter dasjenige zu verstehen ist, was ein Mensch von sich spürt, ohne die übliche Sinnesperspektive einzu­ nehmen.90 Wenn es stimmt, dass Traditionen sich vor- und subsprachlich niederschlagen, so eben auch im Leiblichen, das heißt in der Weise, in der sich Menschen selbst (und vermittelt darüber auch die Umwelt) erleben. Anhand einer Untersuchung der gotischen im Unterschied zur romani­ schen Architektur hat Schmitz zu zeigen versucht, dass diesen materiali­ sierten Differenzen andere Erfahrungsweisen zugrunde liegen.91 Hinter ihnen stehen andere kollektive leibliche Dispositionen, worunter die kol­ lektivspezifischen Weisen zu verstehen sind, auf Grund derer wahrgenom­ men, gefühlt und ausgedrückt wird.92 Jede Zeit und jede Kultur, so muss man annehmen – und phänomenologisch scheint dies zutreffend –, nimmt auf eine spezifische Weise wahr, wird auf eine spezifische Weise von Din­ gen betroffen. Das zeigt sich unter anderem daran, dass psychopathologi­ sche Zustände kulturrelativ sein können. Burnout ist eine Krankheit, die 90  Vgl. zu diesem Konzept H. Schmitz: Der Leib. Berlin, Boston 2011, S.  1–6. Dort (ebd., S.  147–173) auch weitere Hinweise auf abweichende Verständnisse (etwa bei Mau­ rice Merleau-Ponty oder Husserl) sowie als Überblick E. Alloa, T. Bedorf, C. Grüny, T. N. Klaas (Hrsg.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts. Tübingen 2019. 91  Vgl. dazu H. Schmitz: System der Philosophie. Bd.  II/2: Der Leib im Spiegel der Kunst. Bonn 2005, S.  175–203. Eine ähnliche Analyse der Kunst vom Leib her bietet auch ders.: Der Leib. S.  97–112. 92 Schmitz definiert die leiblichen Dispositionen als „die ganzheitlichen und relativ langfristigen Grundstimmungen des spürbaren leiblichen Befindens.“ Dabei können sie „ebenso wie Gefühle nicht nur die private Eigenart einzelner Individuen prägen, son­ dern auch die kollektiven Stile von Kulturen, Zeitaltern […].“ Sie sind etwas, in das „das Erleben und Verhalten von Subjekten im Geschichtsverlauf eintauchen kann, ohne ih­ nen wie Objekten der sogenannten Außenwelt gegenüberzutreten und im Wechselspiel des Handelns und Erleidens ihrer habhaft zu werden.“ (H. Schmitz: „Zusammenhang in der Geschichte“, in: K. Hübner, A. Menne (Hrsg.): Natur und Geschichte. X. deutscher Kongreß für Philosophie (Kiel 1972). Hamburg 1973, S.  143–153, hier S.  146 f.). Zur Bedeutung der kollektiven leiblichen Disposition für den Gang der Geschichte vgl. auch ders.: Der Leib. S.  113–120.

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nur in bestimmt gearteten Kulturen mit ganz spezifischen leiblichen Dis­ positionen auftritt. Gleichermaßen bemerken Kulturen und Zeiten auch anderes in der Welt, weil die leibliche Disposition als eine Art Resonanz­ boden hermeneutische Filterfunktion übernimmt. Solche Dispositionen werden  – jedenfalls teilweise  – kulturspezifisch ausgeprägt und sind  – wie Stilanalysen in der Kunst verdeutlichen  – diachron relativ stabil. Sie zeigen sich aber eben nicht notwendig erst am Körper, sondern viel häufi­ ger schon in Veräußerungsprodukten in der Kunst oder im Handwerk zum Beispiel, aber auch in Erlebnisweisen.93 Wenn die Analyse Schmitz’ stimmt, dann wären solche leiblichen Prägungen als Gehalte von Traditionen denk­ bar.94 Dass es auf die leibliche, nicht-kognitivistische Dimension bei Traditio­ nen vielleicht auch und womöglich sogar besonders ankommen kann, zei­ gen ebenfalls Überlegungen dahingehend, dass Traditionen Gefühlsrichtungen darstellen. Scheler hat in diesem Sinne davon gesprochen, dass das jeweils von Menschen Gefühlte abhängig sei von der Gefühlsrichtung des Kollektivs,95 Nicolai Hartmann wiederum schrieb von zum Beispiel in der Kunst sich zeigenden Traditionen des Empfindens.96 Es gibt „emotive Di­

93  Sie berühren damit die Sphäre dessen, was man im Anschluss an Nicolai Hart­ mann als „objektiven Geist“ bezeichnen kann, also die Sphäre des kollektiv (nicht un­ bedingt bewusst) Geteilten. 94  Thomas Fuchs hat zuletzt auch von einem Leibgedächtnis gesprochen, welches die prinzipielle Möglichkeit von leiblichen Traditionen vielleicht nochmals zu stützen ver­ mag. Vgl. dazu T. Fuchs: „Leibgedächtnis und Unbewusstes. Zur Phänomenologie der Selbstverborgenheit des Subjekts“, in: Psycho-Logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur, Bd.  3 (2008), S.  33–50. Dass er dabei auf die nahe verwandten Überlegungen von Schmitz nicht eingeht, überrascht, kann aber so immerhin als Bestä­ tigung aus anderer Richtung gesehen werden. 95 Vgl. M. Scheler: „Die Idole der Selbsterkenntnis“, in: ders.: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Bern, München 1972, S.  213–292, hier S.  265: „Wie leben ‚zunächst‘ in den Fühlungsrichtungen unserer Umwelt, unserer Eltern, Familie, Erzieher, ehe wir unsere vielleicht von deren Gefühlsrichtungen abweichenden Ge­ fühlsrichtungen gewahren. Von unseren eigenen Gefühlen gewahren wir zunächst nur diejenigen, die der Gefühlsrichtung unserer engeren und weiteren Gemeinschaft und ihrer Tradition entsprechen.“ 96  Vgl. dazu N. Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften. Berlin 1949, S.  420: „Das geschichtliche Kontinuum des lebenden Geistes bewegt sich unter den Ob­ jektivationen fort; das sich tradierende künstlerische Empfinden wandelt sich, die Art des Sehens entwickelt sich fort, und jede neu aufkommende Art bringt neue Werke hervor.“ Mit Schmitz gesprochen, will Hartmann auf die Wirkungen der kollektiven leiblichen Dispositionen hinweisen.

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alekte“97, die als Gehalte aus der Vergangenheit verstehbar sind. Noch das Gefühlsleben ließe sich demnach in diesem Sinne als traditionsbedingt denken.98 Auch hier ist allerdings erneut zu beachten, dass die aus der Ver­ gangenheit herkommende Prägung nicht unbedingt als Tradition erlebt werden muss. Oft wird das jeweilige Fühlen vermutlich als natürlich gel­ ten, gerade nicht als das Gemachte. Andererseits aber zeigt sich zum Bei­ spiel bei bestimmten Trauerformen99, dass diese sehr wohl als traditionell im Sinne des Üblichen und Erwarteten aufgefasst werden können, etwa dann, wenn jemand nun einmal eben nicht so fühlt, wie es gemäß der Tra­ dition erwartet wird. Gefühlsprägung alleine macht die Tradition nicht aus, gleichwohl kann sie aber offensichtlich in solchen nicht-kognitivisti­ schen Gehalten bestehen. Eine andere Inhaltsart, die durchaus öfter diskutiert wurde, ist die des Narrativs. Demnach liegt eine Tradition dann vor, wenn – wohl identitäts­ stiftende  – Narration vorliegt. Äußerungen Wilhelm Schapps lassen sich zum Beispiel so deuten. Er meint: „Alle Tradition beruht auf  – oder ist gleichbedeutend mit erzählten Geschichten.“100 Worauf will dieser Ansatz phänomenal hinweisen? Schapp und andere Philosophen haben vor Augen, wie man vermuten darf, dass Traditionen dem Betroffenen einen Platz in der Geschichte mitteilen, ihn in zeitlicher – wohlgemerkt nicht im Sinne physikalischer Zeit zu verstehen – Hinsicht orientieren. Geschichten stif­ ten Anfänge, liefern Kontinuitäten, erklären Entwicklungen und Wechsel­ fälle. Wenn man so blickt, dann ist allerdings klar, dass der Inhalt der Tra­ dition wieder stärker propositional zu denken wäre. Erklären kann diese Perspektive gut, warum etwa der Rechtsverkehr nur eine Gewohnheit ist, 97 C.

Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. Darmstadt 2009, S.  212. 98  Harald Welzer hat mindestens implizit darauf hingewiesen, dass es auch eine si­ tuative und atmosphärische Traditionsprägung gibt (vgl. H. Welzer: „Das soziale Ge­ dächtnis“, in: ders. (Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001, S.  9 –21, hier S.  17). Dazu vgl. auch die Analyse der von Marcel Proust geschilderten Erinnerung bei S.  K luck: „Atmospheres and Memory. A Pheno­ menological Approach“, in: T. Griffero, M. Tedeschini (Hrsg.): Atmosphere and Aesthe­ tics. A Plural Perspective. Cham 2019, S.  191–208. 99  Für die Liebe wäre eine ähnliche These aufstellbar. 100  W. Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten. Teilband I. Hrsg. v. K. Joisten, J. Schapp, N. Thiemer. Freiburg, München 2016, S.  113. Es wäre auch an das – in Unkenntnis Schapps – entwickelte postmoderne Narrativ-Konzept zu denken, welches im Wesentlichen ebenfalls über seine Identifikationsstiftungsleistung erfasst (vgl. J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Übers. v. O. Pfersmann. Wien 2015, S.  6 4–69) und dezidiert als traditionale Wissensform (vgl. ebd., S.  6 4) bestimmt wird (die dann allerdings in der und durch die Postmoderne zu überwunden ist).

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das allgemeine Wahlrecht aber eher nicht, denn ersteres liefert keine narra­ tive Orientierung (mehr)101, während letzteres dies zumindest für die Bür­ ger westlicher Staaten zumeist zu tun scheint. Ebenfalls häufig wird behauptet, Tradition überliefere Werte.102 Diese Formulierung ist insofern erklärungsbedürftig, als sie suggeriert, Werte seien eine Ware, die einfach transportiert werden könne. Ohne auf den pro­ blematischen ontologischen Status von Werten hier eingehen zu wollen, ließe sich vielleicht sagen, derartige Thesen zielen auf den Umstand, dass Traditionen normative Ordnungen und Hierarchien übergeben. Indem man eine Tradition übernimmt oder in sie hineinkommt, lernt man, was zu befürworten, zu erstreben, zu suchen, und auch, was abzulehnen, zu kriti­ sieren, zu meiden ist, sei es weltanschaulich oder praktisch. Versteht man die Wert-These so, dann muss sie nicht im Sinne einer Orientierung an sprachlicher Wertvermittlung gelesen werden. Auch eine Praxis struktu­ riert normativ, indem sie bestimmte Handlungsweisen oder Techniken goutiert, andere diskreditiert als falsch, unvorteilhaft, zu aufwendig, zu teuer und so weiter. Indem der Fokus auf Werte als Gehalt gelegt wird, scheiden wiederum viele Gewohnheiten und Usancen aus, denen ein sol­ cher nicht unmittelbar zuzukommen scheint. Der Rechtsverkehr könnte dafür wieder ein Beispiel abgeben, zugleich aber auch aufzeigen, dass der Übergang fließend ist. Gerade weil es eben in Deutschland seit Langem üblich ist, rechts zu fahren, wird diese Festlegung selbst wertvoll. Dann aber würde sie gemäß den vorangestellten Überlegungen zu einer ­Tradition, während andererseits solche Praktiken, die einstmals werthaft waren, es jetzt nicht mehr sind, Traditionsstatus verlören, wofür vielleicht das Zei­ tung-Lesen illustrierend sein mag. War dieses früher – vor allem im 19.  Jahr­ hundert – Ausdruck der Verfolgung eines Wertes, nämlich des Interesses an Bildung, Aufklärung und politischer Teilhabe, wurde es im Zeitalter digitaler Verfügbarkeit von Informationen zu einer Option ohne (Mehr-) Wert. Stimmt das, dann ist aus dem Zeitungs-Lesen als Traditionsgut eine bloße kulturelle Möglichkeit geworden wie der Rechtsverkehr. Anders als 101  Es wäre zu überlegen, ob das einmal anders war, wenn Chwes Herleitung des Rechtsverkehrs aus demokratiebezogenen Reflexionen stimmen sollte (vgl. dazu in die­ sem Kap.  Fußnote 79). 102  Als ein Beispiel vgl. O. Nahodil: Menschliche Kultur und Tradition. S.  109 f.: „In der Kultur überhaupt, in einer jeden konkreten Kultur, in jeder Subkultur, in der Kul­ tur jeder Gruppe und einer jeden Person wird eben das tradiert, was als Wert betrachtet wird. Traditionsobjekte bzw. Traditionsinhalte bilden in der Tat nur Werte, also spezi­ fisch menschliche Gegebenheiten der Kultur. […] In diesem Sinne erscheint die Tradi­ tion als Speicher und Weitergabe von Werten.“ (Hervorh. im Orig. anders).

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die vorher diskutierten Inhaltsarten Wissen, Habitus, Körperliches, Leib­ liches, Gefühle und Narratives scheint der Wert eine grundlegendere (oder, wenn man so will, allgemeinere) Dimension zu markieren, denn er kenn­ zeichnet alle Inhaltsarten attributiv als bedeutsam oder gleichgültig. Es lie­ ße sich ausgehend von dieser Überlegung fragen, ob aus der Sicht des Be­ troffenen etwas Tradition sein kann, was nicht wertbeladen ist. Die Beant­ wortung dieser Frage ist im philosophischen Diskurs sehr umstritten. Phänomenologisch ist sicher zunächst herauszustellen, dass eine gewisse Werthaftigkeit unabdingbar scheint. Eine Vergangenheits- oder Fremdprä­ gung ohne diese wird zwar womöglich bemerkt, aber nicht als Tradition, sondern eben als übliche Weise, etwas zu tun, zu denken, zu fühlen, auszu­ drücken und so weiter. Andererseits aber muss diese Werthaftigkeit nicht notwendig präsent sein, sondern wird eventuell erst unter bestimmten Um­ ständen prominent, während sie vorher unthematisch bleiben konnte. Inso­ fern fällt, phänomenal geblickt, die Werthaftigkeit dem Betroffenen nicht immer zuerst auf. Und doch, so ergibt eine redliche phänomenologische Prüfung, erfordert die Konstatierung von etwas als Tradition aus der Per­ spektive des Betroffenen, dass das so Bezeichnete normativ auffällig ist. Gleichgültig hinzunehmende Vergangenheitsbestände können, ganz unab­ hängig von ihrer Wirkung auf Kultur und Einzelne, keine Tradition sein.103 In Hinsicht auf den Inhalt der Tradition ist schließlich noch dessen intrinsische Eigenart zu klären, nämlich die Frage, ob es sich um einen ­homogenen, fest umrissenen Gehalt oder um vage, plural auslegbare Be­ stände handelt. Pieper und Guénon haben, bei allen Zugeständnissen an Auslegungs- und Interpretationsprozesse, das war herausgestellt worden, die Idee verfochten, dass es einen eng bestimmten Traditionsgehalt gibt.104 Auch einige ethnologische und soziologische Theorien haben der Tendenz nach implizit dafür optiert, Tradition gehaltmäßig eher als statisch zu fas­ sen. Phänomenal ist die Sachlage allerdings in diesem Fall eindeutig, denn jede Tradition hat Spielraum der Auslegung, es gibt keine einzige mit einem unveränderlichen und unantastbaren Bestand. Das ergibt sich nicht nur aus ontologischen Überlegungen, denn jede Sache ist  – jedenfalls für Men­ schen – nur etwas als etwas, was Auslegung notwendig involviert, sondern auch aufgrund des hermeneutischen Wesens des Menschen und der durch 103 

Sie sind dies nur für die Analysen, die rein auf funktionale Zusammenhänge aus einer abstrakten Beobachterperspektive blicken. Einer solchen Betrachtungsweise ent­ geht jedoch die spezifische Erlebnisqualität dessen, was Tradition für den sie Angehen­ den darstellt. 104  Vgl. z. B. R. Guénon: Die Krise der modernen Welt. S.  41 f., 48 und L. Ziegler: Überlieferung. S.  341, 376.

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geschichtliche Abstände und kulturelle Trennlinien bedingten Verstehens­ arbeit. Jemand, der sich als Teil einer bestimmten Tradition versteht, hat gewisse Komplexe, mitunter tatsächlich auch einzelne propositionale Ge­ halte als entscheidend vor Augen, niemals aber alle, dies zumal deshalb, weil, wie gezeigt, keineswegs zwingend ausgemacht ist, dass Traditionen inhaltlich überhaupt propositionaler Art sein müssen. Insofern ist jedes Traditionsverständnis, welches diese als monolithische Gebilde fasst, un­ zutreffend. Neben dem Inhalt wäre auch über das Medium nachzudenken. Es ist al­ lerdings eine falsche Vorstellung, wollte man behaupten, beide seien von­ einander unabhängig. Das belegt schon die einfache Überlegung, dass ein an Schriftlichkeit orientiertes Traditionsdenken notwendig an Bücher oder andere Textmaterialisierungen als Medium denken muss, während ein an Leiblichkeit orientiertes wiederum ganz andere Formen annehmen kann. Medium und Inhaltsart sind letztlich ununterscheidbar,105 weshalb dem Medium hier auch wenig Raum einzuräumen ist. Es sei aber darauf hin­ gewiesen, dass durchaus eine Wechselwirkung zwischen Tradition und Medium auftreten kann. So ist etwa die antike und auch mittelalterliche Mnemotechnik als Tradierungsform sicher nicht irrelevant gewesen für die Bestimmung dessen, was – als propositionales Wissen oder Wert – weiter­ gegeben wird. Hier lag ein viel höherer Selektionsdruck vor als zu Zeiten intensiver und massenhafter Verschriftlichung. Vielleicht lässt sich auch die bekannte Schriftkritik Platons im Dialog „Phaidros“106 verstehen als Sorge um die jeweilige Verlebendigung von Traditionen im Angesicht der Mög­ lichkeit ihrer toten, weil neutral-distanzierten Tradierbarkeit durch Nie­ derschrift. Es steht damit die Vermutung im Raum, dass auch das Medium, in welchem sich die Tradition gibt – Schrift, Text, Handlung, Bewegungs­ formen, Praxis –, mit bedingt, was als eine solche überhaupt gelten kann. Einmal hypothetisch angenommen, nur memorierte Bestände gelten als Tradition, dann wird deren Eigenart – propositionale Form etwa – maß­ geblich. Womöglich lässt sich die zunehmende Ausweitung des Traditions­ gehaltes in der Neuzeit daher als Reaktion auf die zunehmende Verbrei­ tung neuer Medien, neben dem Buch die Zeitung, das Radio, Fernsehen und zuletzt Internet, verstehen. Generell gilt es dennoch festzuhalten, dass eine Analyse des Mediums von Tradition – mündlich, schriftlich, bildlich, akustisch und so weiter – keine grundlegende Einsicht in das Wesen dersel­ 105  Genauer muss man sagen, dass beide die Rollen sogar tauschen können  – was Inhalt war, kann Medium werden und umgekehrt (zum Beispiel waren Hieroglyphen vermutlich einst Medium, während sie jetzt wohl eher einen Inhalt darstellen). 106  Vgl. dazu Platon: Phaidros. 274–277a.

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ben verspricht, wenn auch Rückwirkungen, wie gesagt, nicht auszuschlie­ ßen sind. Insgesamt zeigt der phänomenologische Blick auf Tradition, dass der In­ halt vielgestaltig sein kann, eine Fixierung auf propositionalen Gehalt pri­ ma facie nicht überzeugt. Zwar gibt es sicher eine Sonderstellung derjeni­ gen Traditionen, die mittels konkreter sprachlicher Gehalte operieren, aber diese ist nicht notwendig normativ zu werten, sondern kann in bloßer Voroder Aufdringlichkeit bestehen. Der hier verfolgten Suche nach den we­ sentlichen Merkmalen des Phänomens bietet der Inhalt kein trennscharfes Kriterium, er ist kein hinreichendes Bestimmungsmerkmal. Gleichwohl muss es einen spezifischen Inhalt geben, denn eine rein formale Perspektive ist phänomenal nicht gedeckt.107

2.2 Umfang Verwandt mit, aber von der Inhaltsfrage zu trennen ist die Besinnung da­ rauf, welchen Umfang Traditionen haben. Sind nur solche Vergangenheits­ bestände Traditionen, die große, umfassende Weltdeutungen und -orientie­ rungen anbieten, oder auch solche, die im Kleinen, Lokalen wirken? Manchmal wird für letzteres der Begriff Brauch oder Brauchtum in An­ schlag gebracht, um die Tradition im Sinne einer Weltanschauung davon zu unterscheiden. In anderer Hinsicht steht zur Debatte, ob es eigentlich indi­ viduelle oder nur kollektiv-soziale Traditionen geben kann. Wenn Robin­ son Crusoe auf seiner Insel – noch ohne Freitag – beschließt, jeden Morgen fünf runde Steine ins Wasser zu werfen, dies auch tatsächlich jahrelang tut, ihm an dieser Handlung viel gelegen ist, er sie auch gern anderen Menschen weitergeben würde, liegt dann eine Tradition vor?108 Oder bedarf es für eine solche immer einer Gruppe von Menschen? Wenn ja, gibt es ein Min­ dest-, vielleicht ein Maximalmaß? Schließlich ist auch der zeitliche Umfang umstritten. Reicht zum Vorliegen einer Tradition die einfache Weitergabe von Jüngeren zu Älteren oder muss eine längere Dauer bestehen? Mit Rosa wäre angesichts moderner Beschleunigungszustände sogar zu fragen, ob 107 Winter

schreibt zutreffend, es gebe immer nur Traditionen von etwas, keine Reinform (vgl. T. A. Winter: Traditionstheorie. S.  222). 108  Das Robinson-Beispiel ist allerdings, wie leicht zu sehen ist und von Rothacker (vgl. E. Rothacker: Zur Genealogie des menschlichen Bewusstseins. Hrsg. v. W. Perpeet. Bonn 1966, S.  175) auch schon festgestellt wurde, nicht ganz zutreffend, insofern dieser als Kulturmensch auf die Insel gelangt, folglich immer schon Traditionen mitbringt. Wenn er daher eine Tradition neu prägt, ist das in gewissem Sinne noch eine soziale, keine individuelle Tätigkeit. Robinson wird seine Kultur, seine Sozialität nicht los.

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nicht schon die Perspektive des Übergangs von Älteren oder Früheren zu Späteren und Jüngeren irreführend ist.109 Lässt sich nicht auch von Traditio­ nen reden, sofern nur zwischen Menschen – welchen Alters und Stellung auch immer – überhaupt etwas übergeben wird? Der mittels Fragenkatalog angedeutete Problemhorizont verdeutlicht, dass die Bestimmung des Um­ fangs von Traditionen keineswegs trivial oder nebensächlich ist, sondern gleichsam in den Kern der Sache führt. In drei Hinsichten  – Sozialität, Dauer und Reichweite – soll eine Annäherung versucht werden. Die Frage, ob es Traditionen geben kann, denen nur ein Mensch folgt, ist in der Literatur gelegentlich gestreift worden. Es wurde thematisiert, ob eine solche quasi individuelle Praxis nicht etwas Pathologisches sei: Rituale verweisen allemal auf Gemeinschaften, auf einen sozialen Zusammenhang. Auch darin unterscheiden sie sich von den Gewohnheiten: Die Rede von einem ‚priva­ ten Ritual‘ wirkt beinahe ebenso widersinnig wie die Rede von einer ‚privaten Sprache‘. ‚Private‘ Rituale sind – von außen gesehen – nicht leicht unterscheidbar von zwangsneu­ rotischen Erkrankungen.110

Warum aber erscheinen Handlungen, die jemand nur für sich, ohne Bezug auf die soziale Sphäre, die Mitmenschen, ausführt, als problematisch, wäh­ rend kollektiv geteilte Handlungen es nicht sind? Phänomenologisch steht zu vermuten, dass Traditionen gerade nicht eine spezifische und unmittel­ bare Personenzuordnung verkraften. Anders ausgedrückt, wenn klar ist, dass eine Handlung auf das Wollen einer ganz bestimmten Person zurück­ zuführen ist, diese Person zudem durch keinerlei normativ heraushebende Eigenschaften – Heiligkeit, Genialität, Weisheit und so weiter – charakteri­ siert scheint, dann ist sie nicht traditionell. Der Zwangscharakter, den Handlungen zuerkannt bekommen, die jemand im Sinne individueller Tra­ ditionen ausführt, wäre daher so zu verstehen, dass damit die fehlende Überzeugungskraft kompensiert werden muss. Vermeintliche Traditionen, die je von einem selbst stammen, fehlt etwas, wofür das zwanghafte Verfol­ 109 Vgl. dazu H. Rosa: Beschleunigung. S.   178, wo darauf hingewiesen wird, dass wenn das soziale und kulturelle Wandlungstempo höher ist als die Generationenfolge, dies grundlegend die generationellen Beziehungen ändert. Dieser richtige Gedanke würde für Tradition bedeuten, dass die Generation (also das Verhältnis Alte-Junge, (Groß-)Eltern-Kinder) an Relevanz verliert. Ausdruck davon ist das in der Gegenwart mitunter zu beobachtende Phänomen, dass Eltern (und auch andere Erwachsene) in die Jugendkultur ihrer Kinder eintreten (über Musikgeschmack, Kleidungswahl, Sprachge­ brauch etwa) und somit deren Tradition (so es denn eine ist, nicht bloße „Mode“) über­ nehmen. 110  T. Macho: Das zeremonielle Tier. S.  17. Was dort über Rituale gesagt wird, gilt – so ist plausibel anzunehmen – auch für Traditionen. Zu der Zwangshandlungs-Parallele vgl. auch die weiteren Hinweise in Kap.  I, Fußnote 86 der vorliegenden Arbeit.

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gen und Festhalten surrogative Wirkung entfaltet. Demnach kann es Traditionen, die nur auf eine Person zurückgehen, nicht geben. Anders verhält es sich freilich mit dem Umstand, dass nur noch ein Mensch einer Tradition folgt. Dieser Fall kann sehr wohl auftreten, wenn – als fiktives Beispiel – Robinson Crusoe auf seiner Insel an der englischen Teetradition festhielte, während diese in seiner Heimat aufgrund der Bevorzugung von Kaffee etwa längst aufgegeben worden ist. Dann liegt keine Individual-„Tradition“ vor, sondern nur eine Individualbefolgung, was ein weit weniger problema­ tischer Fall ist, analog zu dem letzten Sprecher einer aussterbenden Spra­ che, der gleichermaßen nicht in eine Privatsprache verfallen ist. Gegen diese These lassen sich, so scheint es, zwei konkrete Beispiele an­ bringen, das Wirken Jesus Christus’111 und die Entstehung der Pfadfin­ der-Bewegung. Jesus hat gewisse Handlungen erstmalig vollzogen und auf diese Weise vermeintlich eine Tradition als Einzelner begründet, während in gleicher Weise aus „Ritualen, die Robert Baden-Powell mit einer erzie­ herischen Intention etabliert hatte, […] Traditionen geworden [sind] […].“112 Belegen diese Fälle nicht, dass Traditionen doch auf Individuen zurückge­ führt werden können? Was scheinbar vorliegt, eine individuelle Stiftung,113 erweist sich bei genauerer Betrachtung als etwas anderes, denn einerseits werden die Personen zu etwas anderem als „bloßen“ Menschen uminter­ pretiert – schon die Rolle des Stifters tut dies –, andererseits etabliert sich etwas als Tradition erst durch einen sozialen Rahmen; ohne Apostel keine christliche Tradition, ohne die Pfadfinderbewegung keine Stiftung durch Baden-Powell. Es ist, jedenfalls aus der hier beachteten Perspektive, nicht möglich, Traditionen als auf einen einzelnen Menschen ohne besondere Auszeichnung zurückzuführen.114 Traditionen setzen eine Form der Sozialität, des gemeinschaftlich Geteilten voraus.115

111 

Ob dieser historisch war oder nicht, ist dabei unerheblich. Y. Niekrenz: „Gemeinschaft und Traditionen als Anachronismen?“. S.  154. 113  Es wären dafür sicher Fälle von modernen Religionsstiftern ebenfalls bedenkens­ wert, etwa L. Ron Hubbard (Scientology) oder Joseph Smith (Mormonen). 114  In der Auszeichnung von jemandem als in irgendeiner Hinsicht „besonders“ liegt auch schon eine soziale Dimension verborgen, denn wenn diese nicht von anderen aner­ kannt wird, gilt sie als pathologisch. 115  Wohlgemerkt gilt dies aus der erläuterten Perspektive des phänomenal Betroffe­ nen. Landmann hat am Beispiel der Kultur darauf hingewiesen, dass das passive Ge­ schaffen-Werden und das aktive Schaffend-Sein von Menschen sich je nach Perspekti­ ve – aus Sicht der Kultur, aus Sicht des Einzelnen – anders darstellt (vgl. M. Landmann: Fundamental-Anthropologie. S.  67). Dies gilt analog auch für die hier angestellten Be­ trachtungen. Aus einer Metaperspektive ist es schlicht zutreffend, dass Traditionen auf 112 

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Wie groß muss aber diese Sozialsphäre sein? Manche Denker  – Shils etwa116 – fordern eine zeitliche Erstreckung über mindestens drei Genera­ tionen fordern, während andere kürzere Perioden und sogar intragenera­ tionelle Traditionen zulassen wollen.117 Die im Nachgang zu Hegel von Hartmann stark gemachte Unterscheidung zwischen dem, was dauerhaft und darum echt, und dem, was nur flüchtig, vorübergehend und deshalb Mode ist, spielt ebenfalls auf die Relevanz des zeitlichen Umfangs an.118 Diese Perspektive auf die diachrone Ausdehnung ist deshalb von besonde­ rer Bedeutung, weil sich immer wieder die These finden lässt, Traditionen könnten auch unter den Bedingungen der beschleunigten und kritischen Moderne erneut geschaffen werden.119 Dann aber müssen sie, und darin ist dem Ansatz Hobsbawms zuzustimmen,120 entweder bewusst in eine (in diesem Fall erfundene) Vorgeschichte gestellt werden, um als Traditionen gelten zu können, oder sie werden in ihrer intentionalen Geschaffenheit gerade auffällig. Ein Indiz dafür, dass Neuheit – also: fehlender zeitlicher Umfang im hier thematisierten Sinne – phänomenal ein Defizit darstellt, liefert Pierre Noras Kritik an den Folgen seiner eigenen Theorie der Erinne­ rungsorte. Nachdem diese nämlich herausgehoben hatte, dass es s­ pezifische materielle oder ideelle Orte gibt, die als symbolische Gedächtnisstützen funktionieren, schrieb er einige Jahre später, dass es nun eine inflatio­näre, uferlose Vielfalt der Gedächtnisorte gebe, weil das Erinnern seinen Kanon verloren habe.121 Das historische Erbe werde mehr und mehr beliebig, weil das Vergangene nur noch insofern zähle, als man etwas in dieses hineinlege, die Handlungen Einzelner zurückführbar sind, jedoch aus der „Innenperspektive“ des in ihnen Stehenden nicht in gleicher Weise. 116  Vgl. E. Shils: Tradition. S.  15. 117  Vgl. so T. Arnold: „Tradition – An Ambigous Conjunction of Time, Body and the Other“. 118  Vgl. dazu z. B. die Hinweise in Kap.  I , Fußnote 108 und die These Hartmanns, gerade das Andauern zeichne das Wahrhafte im objektiven Geist aus: „Das Unechte vergeht, während das Echte bestehen bleibt.“ (N. Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. S.  370). 119  Vgl. z. B. – wenn auch abwägend – A. Giddens: „Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft“. S.  113 f. 120  Vgl. E. Hobsbawm: „Introduction: Inventing Tradition“. S.  1 f. Das Problemati­ sche am Ansatz Hobsbawms – und noch mehr der an ihn anschließenden Rezeption – liegt an der unklaren Differenzierung zwischen echten und erfundenen Traditionen. Vorschnell wird das Prädikat „invented“ auf alle Traditionen übertragen. Vgl. für eine genauere Kritik S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. Kap.  3.19. 121  Vgl. P. Nora: „Das Zeitalter des Gedenkens“, in: ders. (Hrsg.): Erinnerungsorte Frankreichs. Übers. v. M. Bayer. München 2005, S.  543–575, hier S.  548 f. Vgl. auch ebd., S.  569.

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nicht, weil es etwas aufzwinge.122 Was fehlt, so ließe sich im Anschluss an die hier angestellten Überlegungen sagen, ist eine stabile historische Tiefe, die gerade durch die Variabilität der Herstellung von Gedächtnisorten un­ terlaufen wird. Es ist daher phänomenologisch anscheinend so, dass Traditionen eine zeitliche Mindesttiefe haben müssen. Unzureichend ist es, sie einfach nur von anderswo übernommen zu haben, denn das unterscheidet sie nicht von beliebigen Praktiken, Wissensbeständen und so weiter. Wie weit diese Di­ achronizität reichen muss, ist dabei allerdings schwer festzulegen. Eine Ab­ grenzung ist übrigens an beiden Enden schwierig, denn eine ins Unzugäng­ liche, Vorhistorische zurückdatierte Tradition wäre nicht mehr von einem Mythos zu unterscheiden, während die gerade noch zulässige Neuheit wo­ möglich nicht vom sozialen und kulturellen Umfeld unabhängig ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika etwa neigen dazu, ihre geschichtliche wie kulturelle Neuheit durch Betonung gewisser historischer Bestände zu kompensieren,123 die im Vergleich zu denjenigen Europas, des Vorderen Orients oder Chinas jung wirken müssen. Was also in Amerika als Tradi­ tion gelten kann, muss es andernorts gerade nicht. Eine nur intragenera­ tionelle Tradition allerdings scheint ein Oxymoron zu sein. Sie wird nur denkbar, weil – darin ist Lübbe124 und Rosa125 in ihren Beschleunigungs­ diagnosen zu folgen – die Veränderungsgeschwindigkeit im sozialen Raum so hoch ist, dass die Sensibilität für Neuheit eng auf das je Neueste fokus­ siert scheint (und vielleicht unter diesen Umständen sogar darauf fokussiert sein muss), wodurch alles nicht unmittelbar Neue bereits Traditionsquali­ tät gewinnt. Dennoch erweist sich dies, phänomenal nachvollzogen, als de­

122 

Vgl. P. Nora: „Das Zeitalter des Gedenkens“. S.  553, 561. Alexis de Tocqueville meinte in der noch jungen Demokratie beobachten zu kön­ nen, dass diese – anders als die Aristokratie – jedweden Vergangenheitsbezug ablehnt (vgl. A. de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika. Übers. v. H. Zbinden. Mün­ chen 1976, z. B. S.  238, 259 f., 271, 557). Hier hat er sich aber insofern getäuscht, als of­ fensichtlich spätestens im 20.  Jahrhundert in den USA ein breites Bestreben entstanden ist, geschichtliche Kontinuität und Dauer sicherzustellen. Als Phänomene in diesem Sinn erweisen sich zum Beispiel die Eigenart, wichtige wiederkehrende Ereignisse  – etwa das Endspiel in einer Sportart oder die Evolutionsstufen von Maschinen – mit rö­ mischen Ziffern zu bezeichnen oder die – im Grunde aristokratische – Eigenart, den Nachkommen die Namen der Eltern, ergänzt um (wiederum) römische Ziffern, zu ge­ ben. So wird Diachronizität hergestellt. 124  Vgl. H. Lübbe: „Gegenwartsschrumpfung“, in: K. Backhaus, H. Bonus (Hrsg.): Die Beschleunigungsfalle oder der Triumph der Schildkröte. Stuttgart 1998, S.  263–293. 125  Vgl. H. Rosa: Beschleunigung. 123 

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fizitär, weil letztlich die fehlende Dauerhaftigkeit auf schon mittelfristige Sicht nicht verborgen bleiben kann.126 In dritter Hinsicht soll der Umfang der Traditionen dahingehend analy­ siert werden, inwieweit er global (vielleicht gar kosmologisch) oder lokal ist. Die Meinungen darüber gehen auseinander. Manche, wie Pieper, binden Tradition an letztlich religiöse Gesamtdeutungen des Kosmos,127 andere hingegen, zum Beispiel postmoderne Denker wie Wolfgang Welsch oder Jean-François Lyotard,128 kennen auch Kleinsttraditionen in Bereichen, die keinen besonders herausgehobenen Orientierungs- oder norma­tiven Geltungsanspruch zu erheben scheinen. Aber auch der, wenn man so will, ­mesokosmische Bereich erfährt oft eine besondere Beachtung, wenn etwa die Rolle der Familientraditionen in den Fokus gerückt wird.129 Phänome­ nologisch ist der Befund ähnlich uneindeutig, denn der Bereichsumfang mutet für die Traditionalität selbst wenig entscheidend an. Nicht die mik­ ro-, meso- oder makrokosmische Ausrichtung scheint relevant, sondern die Bezugsweise zum Gehalt, worauf noch zu kommen sein wird.130 Es spricht aus Sicht des Betroffenen per se nichts dagegen, einer Herstellungs­ weise von Bier ebenso Traditionsqualität zuzuerkennen wie der lateini­ schen Liturgie oder der italienischen Geigenbauweise. Selbst kleinste Handlungsweisen kommen als Tradition in Frage, etwa das von alters her in einer Familie weitergebene Rezept zur Herstellung eines bestimmten Kuchens. In dieser Hinsicht ist die Reichweite phänomenal unwesentlich für Tradition.

126 Boethius

hat gemeint, alles strebe von Natur aus nach Dauer, weshalb das Flüch­ tige defizitär ist: „Wie groß ist ferner die Sorgsamkeit der Natur, daß sich alles durch vervielfältigten Samen fortplanze. Wer wüßte nicht, daß dies alles wie eine Maschine ist, die nicht nur zur Erhaltung für einige Zeit, sondern auch zur Erhaltung der Gattung gewissermaßen auf die Dauer wirkt?“ (Boethius: Consolatio philosophiae III.10c [­ zitiert nach ders.: Trost der Philosophie. Hrsg. v. E. Gegensatz, O. Gigon. München, Zürich 1990]). Diese Perspektive wäre auch an Tradition anzulegen, die – vielleicht gerade da­ her – oft als vermeintlich „natürlich“ erlebt wird und eben nur dann als Tradition gelten kann, wenn Dauer eine ihrer (mindestens scheinbaren) Eigenschaften ist. 127  Vgl. z. B. J. Pieper: Überlieferung. S.  13, 35, 39 f., 50, 55 ff. 128  Vgl. zu in diesem Sinne „kleinen“ Bautraditionen W. Welsch: „Tradition und In­ novation in der Postmoderne“, in: W. Kluxen (Hrsg.): Tradition und Innovation. XIII. Deutscher Kongreß für Philosophie Bonn 24.-29. September 1984. Hamburg 1988, S.  4 40–447, hier S.  4 43 f. Lyotard spricht von den kleinen Erzählungen, nur noch loka­ lem Konsens usw. (vgl. J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen. S.  143–155). 129  So z. B. bei N. Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin, New York 1991, S.  5 4. 130  Vgl. dazu Kap.  I I.2.7.

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2.3 Explizitheit Während die beiden bisherigen Aspekte, Inhalt und Umfang, vielleicht noch eine gewisse Trivialität haben mochten, kommt mit der Frage nach der Explizitheit der Tradition ein umstrittener, wenn nicht der umstrittens­ te Aspekt in den Blick. Es steht damit zur Debatte, ob Traditionen eigent­ lich thematisch werden können oder gerade dadurch als Traditionen enden. Doch nicht nur steht derart zur Klärung an, ob Explikation gleichsam „tö­ tet“131, sondern auch, ob Traditionen durch Auffälligkeit gekennzeichnet sein müssen. Manch ein Theoretiker hat dafür argumentiert, Traditionen als das Unauffällige, Hintergründige zu lesen.132 An diesem doppelten Punkt der Explizitheit hängt sehr viel, insbesondere auch für den Umgang mit Traditionen, denn je nach der erbrachten Antwort ist ihnen anders – kritisch explizierend, schonend hegend oder auf vielen Zwischenstufen  – zu begegnen. Verkraften Traditionen Explikationen oder sind sie – phänomenal – der­ art, dass sie im Unthematischen, Vorprädikativen verbleiben müssen? Diese Frage, in je besonderer Weise formuliert, zieht sich durch fast den gesamten nachweisbaren Diskurs (vielleicht mit Ausnahme des juristischen Bereichs). Immer wieder ist anerkannt worden, selbst von Denkern, die keine un­ mittelbare Affinität zur sofortigen Traditionsbejahung haben (wie zum Beispiel Habermas), dass mit einer bestimmten Form der Thematisierung zugleich ein phänomenaler Verlust, der Tod der Tradition als spezifischer lebensweltlicher Entität, verbunden sein könnte.133 Eine vielleicht paradig­ matische, zuspitzende Formulierung des Zusammenhangs lautet: „Wenn 131  Vgl.

zu diesem Topos z. B. J. Pieper: „Tradition in der sich wandelnden Welt“. S.  25. 132  Vgl. dazu die Auslegung Heideggers in Kap.  I.1.2. 133  Aus der umfangreichen Liste solcher Einsichten, die gleichwohl nicht immer mit denselben Begrifflichkeiten operieren, sei exemplarisch verwiesen auf z. B. J. Haber­ mas: „Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität“, in: ders.: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1990. Leipzig 1990, S.  159–179, hier S.  170 f.; ders.: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt 1991, S.  122; J. Pieper: Überlieferung. S.  30 f.; M. Oakeshott: „Der Rationalismus in der Politik“, in: ders.: Rationalismus in der Politik. Übers. v. K. Streifthau. Neuwied, Berlin 1966, S.  9 –45, hier S.  29; ders.: „Der Turm zu Babel“, in: ders.: Rationalismus in der Politik. Übers. v. K. Streifthau. Neuwied, Berlin 1966, S.  69–89, hier S.  75; U. Oevermann: „So­ ziologische Überlegungen zum Prozess der Tradierung und zur Funktion von Traditi­ onen“. S.  12, 19; J. Searle: Wie wir die soziale Welt machen. S.  182; J.-J. Rousseau: „Über Kunst und Wissenschaft“, in: ders.: Schriften zur Kulturkritik. Hrsg. v. K. Weigand. Hamburg 1995, S.  1–59, hier S.  25; F. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen (Sämt­ liche Werke. Kritische Studienausgabe. Bd.  1). Hrsg. v. G. Colli, M. Montinari. Berlin,

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ich von der Tradition verlange, daß sie mir Gründe angibt, sich vor mir rechtfertigt, verurteile ich sie zum Tode.“134 Folgt man dieser Lesart, wird Tradition als etwas verstanden, dass mit dem Anspruch auftritt, in einer vorgegebenen Weise genommen zu werden, nämlich glaubend, passiv hin­ nehmend, akzeptierend. Wendet man sich ihr anders zu, vor allem kritisch, dann „verscheucht“ man sie, um ein sprachliches Bild zu geben. Wenn man beginnt, nach der Tradition zu fragen, wird sie buchstäblich in Frage ge­ stellt, denn man fragt nicht mehr nach der wahren Tradition, sondern nach deren Ge­ schichte, nach einem zwar gültigen Begriff, der aber die Tradition als solche nicht erset­ zen kann. […] Wir müssen uns […] bewußt sein, daß nach dem Sinn der Tradition nicht gefragt werden kann, weil das, wonach man fragt, nicht mehr Tradition, sondern geis­ tiges Erbe, historisches Brauchtum oder was sonst immer ist.135

Worauf im Zitierten hingewiesen wird, ist phänomenologisch verstehbar. Wenn es für Traditionen eigentümlich ist, dass sie eine bestimmte Rezep­ tionshaltung einfordern bzw. benötigen, sorgt eine veränderte Rezeptions­ haltung dafür, dass sie genuin als solche nicht mehr in den Blick kommen. Um dies an einem analogen, leichter zugänglichen Fall zu illustrieren, lässt sich sagen, dass wer eine popmusikadäquate Hörhaltung besitzt, das Musi­ kalische atonaler Musik nicht bemerken kann und diese dann womöglich für Nicht-Musik halten muss. Ihm entgeht daher eine lebensweltliche Di­ mension des Erlebten. Wird nach der Herkunft und der Legitimation von Traditionen gefragt, so lautet die implizite These hinter der Explikations­ kritik, verfehlt das Tradition als Phänomen bereits, denn sie verträgt nur eine minimale und immer schonende Zuwendung. Diese These ist für im Geiste der Aufklärung und kritischer Mündigkeit sozialisierte Menschen selbstverständlich zunächst eine Provokation. Sie suggeriert die Forderung nach Rückkehr in dumpfes Hinnehmen, in Passi­ vität, geistige Lethargie und  – mittelbar  – Fremdbestimmung, die auch noch emphatisch zu begrüßen wäre. Jedoch ist in dieser Hinsicht eine Dif­ ferenzierung notwendig, die dem Diskurs in den politischen und sozial­ philosophischen Hinsichten oft gefehlt hat. Es ist offensichtlich nicht be­ grüßenswert, wenn im Interesse der Phänomenschonung politische Unter­ drückung legitimiert würde. Und tatsächlich ist dies auch gar nicht die These, die zur Verhandlung steht, jedenfalls nicht, wenn man phänomeno­ logisch blickt. Vielmehr wollen die so Argumentierenden schlicht (und po­ litisch neutral) darauf verweisen, dass sich etwas am Phänomen tut, dieses New York 1999, S.  295 ff.; C. A. Emge: „Zur Philosophie der Tradition“. S.  264; A. Ass­ mann: Zeit und Tradition. S.  98 und M. Polanyi: Implizites Wissen. S.  25 f. 134  L. Kolakowski: „Vom Sinn der Tradition“. S.  1087. 135  R. Panikkar: „Die Zukunft kommt nicht später“. S.  53.

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sich verändert, wenn man es auf eine bestimmte Weise thematisiert. Tradi­ tion als Tradition begegnet nicht jeder methodischen Annäherung, sondern nur bestimmten Formen. Damit ist keine Aussage darüber getroffen, ob es überhaupt Traditionen geben muss. Wenn man dies verneint, bleibt die These bestehen, und dennoch wird analytisch auf das Phänomen geblickt. Philosophisch gesprochen steht hinter der Explikationskritik eine Kritik an einer einseitigen ontologischen Perspektive, der solche Phänomene wie Tradition deshalb entgehen, weil sie einen methodischen Zugang wählt, der nur für ganz bestimmte ontologische Bereiche adäquat scheint.136 Dieser Hintergrund soll hier aber keine Rolle spielen, denn phänomenal ist signi­ fikant, und darin liegt die Berechtigung der These, Explikation töte, dass im Erleben der Betroffenen mit einer – zumeist propositionalen – Thematisierung und Analyse das Phänomen Tradition sich verändert, zu etwas an­ derem – bloßer Geschichte, Konstruktion, Erfindung – wird.137 Andererseits, so muss man herausstellen, übersieht ein so gebahnter ex­ plikationskritischer Blick auch Möglichkeiten. Wenn im eben angeführten Beispiel des Popmusikhörers gezeigt worden ist, dass diesem etwas an ato­ naler Musik entgeht, so gilt umgekehrt doch auch, dass er andere Dimensi­ onen deutlicher bemerkt. Er kann vielleicht besonders sensibel für die Tanzbarkeit oder das Fehlen gewisser Harmonien sein. Dieser Spur fol­ gend, ist im Hinblick auf Explikation gerade eine aufschließende, berei­ chernde Leistung behauptet worden. Indem aus Traditionen etwas heraus­ geholt wird, erweitert sich der Horizont dessen, was man über sie und was man dank ihrer weiß. Am Fall des objektiven Geistes, der hier als Tradition genommen werden soll, verdeutlicht Landmann dies: Erst dadurch, daß der Mensch das, was in ihm war, aus sich heraussetzt und sich gegen­ übersieht, gelingt ihm seine Präzision und Gliederung. Der Ausdruck ist nicht nur Spiegelbild […], sondern profilierender und aufhellender Spiegel. […] Das kann jeder an 136  Vgl. dazu als Überblick H. Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994, S.  1–84, 205–231. 137  Diesen Unterschied nicht klar benannt zu haben, ist der Fehler Hobsbawms, in­ sofern er, wie angedeutet, nicht genau angibt, was genuine von erfundenen Traditionen unterscheidet. Das durch die Analyse herausgestellte „Verhalten“ der Tradition darf nicht als Defizit verstanden werden, sondern ist als Eigenart des Phänomens, gleichsam sein Charakter, anzusehen. Auch andere Phänomene zeigen eine solche Eigenschaft, etwa Gefühle oder Liebesbeziehungen, die sich durch explizierende Zuwendung ebenfalls verändern. Zur Gruppe dieser Phänomene scheint ebenso die Tradition zu gehören. Dabei ist, auch das sei hier verdeutlicht, Explikation neutral zu nehmen, denn die Veränderungsarbeit mit­ tels ihrer kann, wie das Beispiel der Liebesbeziehung klar belegt, eine sinnvolle Maß­ nahme sein, um Probleme anzugehen oder Entwicklungen vorzunehmen.

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sich konstatieren, der seine Ideen ausspricht oder zu Papier bringt: sie gewinnen da­ durch eine Deutlichkeit und Abrundung, eine zusammenhängende Reihenfolge, die sie vorher nicht besaßen.138

Landmann denkt, wie ersichtlich ist, an ein Subjekt, welches sein noch amorphes Inneres durch Veräußerung, durch Explikation, sich gegenüber­ stellt und so bemerk-, veränder- und handhabbar macht. Demnach ist die Zuwendung zur Tradition eine Bereicherung, weil auf diese Weise erst klar wird, worin sie eigentlich besteht, was an ihr wesentlich ist und so weiter. Viele bibelexegetische Arbeiten kann man vor diesem Hintergrund als Tra­ ditionsexplikationswerke verstehen, die am phänomenalen Charakter der­ selben gerade nichts verändert haben. Ganz im Gegenteil, folgt man Robert Bellarmin, so ist die – konfrontative – Explikation dezidiert als Traditions­ bewährung und -stärkung anzusehen, denn es verliert derjenige, welcher lange friedlich seine Güter besitzt, leicht die Beweismittel und Schriften, in welchen es steht, woher jene Güter an ihn gekommen und mit wel­ chem Rechte er jene Güter besitze. Aber wer immer Streit führt, bewahrt jene Urkun­ den aufs Sorgfältigste und lässt sie auf keine Weise verloren gehen.139

Ketzerei wird zur Chance für die Tradition, stark zu bleiben, weil sie sich ihrer Qualitäten – hier durch die Herkunftsurkunden markiert – bewusst bleibt. Anders als die zuvor zitierte These, wonach die Frage nach den Gründen das Ende der Tradition als Tradition darstelle, will Bellarmin sa­ gen, dass Explikation Tradition sichere. Zudem hat auch Gadamer betont, man missverstehe die Rolle der bewusstmachenden, nach Legitimations­ gründen fragenden Explikation, wenn man glaube, sie führe in Traditions­ ungebundenheit: Meine These ist […], daß die Hermeneutik uns lehrt, den Gegensatz zwischen fortleben­ der, ‚naturwüchsiger‘ Tradition und reflektierter Aneignung derselben als dogmatisch zu durchschauen. […] Der Verstehende ist […] aus dem wirkungsgeschichtlichen Zu­ sammenhang seiner hermeneutischen Situation nicht so herausreflektiert, daß sein Ver­ stehen nicht selbst in dieses Geschehen eingehe.140

138  M. Landmann: Fundamental-Anthropologie. S.  111. Ähnlich denkt auch E. Roth­ acker: Philosophische Anthropologie. Bonn 1964, S.  82 f. 139 R. Bellarmin: Disputationen über die Streitpunkte des christlichen Glaubens. Bd.  I: Über das geschriebene und ungeschriebene Wort Gottes. Übers. v. P. Gumposch. Malsfeld 2012, S.  208 (Buch  I V, Abschnitt XII). 140 H.-G. Gadamer: „Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu ‚Wahrheit und Methode‘“, in: ders.: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode (Gesammelte Werke. Bd.  II). Tübingen 1993, S.  232–250, hier S.  240. Diese Stelle ist gegen Habermas gerichtet zu verstehen, dem Gadamer implizit vorwirft, nicht zu bedenken, dass Menschen niemals – auch nicht durch Reflexion – aus dem wirkungs­

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Dieser Spur zufolge führt also – wie Bellarmin und Landmann andeuten – Explikation zur Vertiefung der Traditionsprägung, bereichert diese um Nuancen, und jene kann niemals dieser ganz entkommen, sondern – wie Gadamer meint – verstrickt nur auf andere Weise. Beide Perspektiven scheinen sich zunächst zu widersprechen, doch eine genauere Reflexion zeigt, dass das nicht stimmt. Zum einen wäre zu beden­ ken, was Explikation jeweils meint, zum anderen kommt es auf den Grad derselben an. Im Fall der zuerst verhandelten These, dass Explizitheit Tra­ ditionen verändere oder vernichte, ist gemeint, dass diese nicht mehr so er­scheinen (und auch nicht mehr so wirken) wie zuvor, wenn die entspre­ chende Besinnungstätigkeit vollzogen worden ist. Dieser Umstand ist kom­ patibel mit der These, dass man an Traditionen bereichernde Ent­deckungen durch Thematisierung machen kann, denn der Verlust tritt nicht schon, das ist phänomenal evident, mit der reinen Bewusstmachung ein. So kann es für jemanden, der bisher ohne klares Bewusstsein nach den Vorgaben einer Tradition lebte, unmittelbar erhellend und positiv konnotiert sein, dieser Einbettung nun mit Wissen darum nachzugehen. Er hat dann eine Art Selbsterkenntnis gewonnen, sein Leben ist durch Explikation  – ganz im Sinne Landmanns – erfüllter geworden. Gleichwohl scheint es eben einen gleichsam neuralgischen Punkt zu geben, an dem eine zu weit geführte Ex­ plikation das Phänomen grundlegend verändert. Auf diesen zielt die These von der tötenden Wirkung. Wenn das stimmt, kommt es auf das Maß der Explikation an – oder noch besser formuliert: es kommt darauf an, wie man Explikation betreibt. Geht es dabei um das Erhellen von Aspekten oder um eine grundlegende Destruktion bis zu den jedweder Kritik standhaltenden Bausteinen?141 Wo genau das rechte Maß liegt, ist nicht anzugeben, sondern sicher von der konkreten (hermeneutischen) Situation abhängig. In jedem Fall aber gilt, dass Traditionen mit begrenzter Explikation kompatibel sind, nicht jedoch mit unbegrenzter. Von dieser Einsicht ausgehend, wäre neu und nicht ideologiekritisch, sondern phänomenologisch auf Dinge wie Ta­ bus zu sehen. Was ein solches Tabu leistet, ist dann nicht nur die Sicherung von Herrschaftswissen, Machtvorteilen, sozialem Status einer Kaste und so geschichtlichen Zusammenhang hinaustreten können. Wenn das stimmte, dann müsste die ideale Diskurssituation als inhuman gelten, weil sie menschenunmöglich wäre. 141  Dies ließe sich mit der von Schmitz verwendeten begrifflichen Unterscheidung von Explikationismus (das sinnvolle Herausstellen von Einzelheiten aus einem Ganzen) und Konstellationismus (das der Tendenz nach vollständige Zersetzen eines Ganzen in Einzelheiten und deren Beziehungen) abbilden. Vgl. dazu H. Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. S.  215–222 und ders.: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung. Freiburg, München 2005, S.  27 ff.

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weiter, sondern die Bewahrung lebensweltlich fluider Phänomene vor der explikativen Veränderung oder Zerstörung.142 Und auch die Weigerung, Traditionen rational zu diskutieren und zu legitimieren, wie sie gesell­ schaftlich häufig sich findet, bekommt eine neue Verständlichkeit (wohlge­ merkt: nicht Berechtigung), weil den Betroffenen phänomenal womöglich klar vor Augen steht, dass ein Einstieg in einen solchen umfassenden Expli­ kationsdiskurs das, worum es ihnen geht, die Verteidigung ihrer Tradition, schon vor vornherein verunmöglicht. In anderer Hinsicht stellt sich das problematische oder mindestens un­ klare Verhältnis von Tradition und Bewusstmachung, dies war schon ein­ gangs gesagt worden, noch einmal, wenn manche Theoretiker die Tradition als das Auffällige, andere als das gerade Hintergründig-Unauffällige ver­ stehen. Giddens zum Beispiel sagt, Traditionen seien „emotional stark be­ setzt“ und zudem moralisch wie normativ herausgehoben, was nach Auf­ fälligkeit klingt, denn starke Emotionen und Wertungen werden gemein­ hin (wenn auch nicht immer) bemerkt. Aber Giddens meint weiter: „Tradition […] entfaltet ihre größte Wirkung, wenn sie nicht als solche ver­ standen wird.“143 Mit anderen Worten, Traditionen können affektiv, nor­ mativ und moralisch besonders sein, ohne notwendig dafür auffallen zu müssen als Traditionen. Klaus E. Müller macht die Wahrnehmbarkeit im Sinne von auffälliger Bemerkbarkeit wiederum zum Unterscheidungskrite­ rium zwischen Traditionen und bloßen Routinen.144 Eine andere Den­ krichtung bindet das Auffälligwerden zudem an Krisen und Verlustpha­ sen. Demnach wird Tradition dann bemerkbar, wenn es eine Störung gibt, was im Umkehrschluss bedeutet, dass sie sonst unbemerkt bleiben.145 Was ist aber phänomenologisch betrachtet der Fall? Klar ist zunächst, dass es bei der so zur Verhandlung kommenden Form von Explizitheit um etwas anderes als im zuvor genannten Fall geht. Es steht nicht eine Weise des Sich-Beziehens auf Tradition zur Verhandlung, sondern eine Weise des sich Sich-Gebens dieser selbst. Dies zugestanden, ist es jedoch phänomenal 142  Damit

ist nicht behauptet, dass Tabus schützenswert seien, denn der ideologie­ kritische Blick trifft zweifellos zu, aber es soll verdeutlicht werden, dass es mehr als nur solche Motivationen wie die genannten gegeben haben kann. Ein Tabu kann Lebens­ weltschutzfunktion besessen haben. 143  A. Giddens: „Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft“. S.  128. 144  K. E. Müller: „Die feste Burg. Eine ethnologische Traditionstheorie“, in: T. Lar­ big, S.  Wiedenhofer (Hrsg.): Kulturelle und religiöse Traditionen. Beiträge zu einer interdisziplinären Traditionstheorie und Traditionsanalyse. Münster 2005, S.  92–123, hier S.  116. 145  Vgl. z. B. U. Oevermann: „Soziologische Überlegungen zum Prozess der Tradie­ rung und zur Funktion von Traditionen“. S.  12 f.

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im hier verstandenen Sinne eine falsche Rede, von prinzipiell unbemerkbaren Traditionen zu sprechen. Was so nie auffällig werden kann, stellt für den Betroffenen keine Tradition dar, sondern etwas so grundsätzlich Selbstver­ ständliches, dass es eher als Natur oder Schicksal eingeordnet wird. Es ist selbstredend möglich, aus einer anderen Perspektive prägende Wirkungen festzustellen, die dem Betroffenen entgehen – viel historische oder psycho­ logische Aufklärungsarbeit besteht genau darin. Aber wenn man Tradition aus der Perspektive des Betroffenen denkt, wie es hier geschieht, verliert der Begriff schlicht Trennschärfe und wird phänomenal unplausibel. Wozu sich der Betroffene per se nicht verhalten kann, das kann ihm keine Tradi­ tion sein. Es könnte dann zum Beispiel auch eine Tradition des Allgemein-­ Menschlichen geben, die nur aus dem Blickwinkel von nicht-humanoiden Außerirdischen erkennbar wäre, niemals jedoch für einen Menschen. Solch eine Redeweise kann funktionalistisch sinnvoll sein, phänomenologisch adäquat scheint sie nicht. Schwieriger verhält es sich mit der Entscheidung, ob Traditionen auch dann Traditionen sind, wenn sie nur kontingenterweise nicht bemerkt wer­ den. Dieser Fall kommt sicher häufig vor, indem etwa Kulturen erst im Kontakt mit anderen ihre Prägungen überhaupt bemerken oder Kinder im Zuge des Erwachsenwerdens aus Familientraditionen erst herauszutreten vermögen.146 Bestanden diese Traditionen vor dem Auffälligwerden? Man wird dies bejahen müssen, es kann Traditionen geben, die den Betroffenen so selbstverständlich sind, dass sie nicht bemerkt werden. Gleichwohl, und das ist das Besondere, ist dies nicht, wie manche Theoretiker behaupten, der Fall ihrer eigentlichen Wirkung, sondern ihre phänomenal abgeschwächte Form. Wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt wurde, gewinnen Traditionen durch eine – schonende, partielle – Zuwendung an Tiefe, dies ist jedoch für die unbemerkten nicht der Fall, sie sind quasi-automatisch, dem Instinkt nahe. Ihre Wirkung mag stark sein, weil sie nicht thematisiert und kontrolliert werden, dem phänomenalen Erleben nach sind sie als un­ bemerkte eben nicht präsent. Dies verhält sich anders bei solchen Traditionen, die phänomenal auffäl­ lig sind, was insbesondere für identitätsstiftende gelten dürfte. Diese stehen als Orientierungsmarken gleichsam wie ein Fixpunkt gegenüber, gerade dann, wenn sie in irgendeiner Form ergriffen werden. Auf diese Weise als expli­zite Traditionen bemerkt, zeigt sich ihr phänomenaler Charakter am 146  Alexander Mitscherlich hat die Pubertät in diesem Sinne als traditionskritische Phase beschrieben (vgl. A. Mitscherlich: „Pubertät und Tradition“, in: L. v. Friedeburg (Hrsg.): Jugend in der modernen Gesellschaft. Köln, Berlin 1965, S.  288–307, v. a. S.  292, 304 f.).

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deutlichsten. Wenn sich jemand zum Beispiel als Katholik, als Geigenbauer, als Fan eines bestimmten Sportvereins versteht, dann bereichert dies seinen Möglichkeitsraum, die Welt erfährt eine normative (wie übrigens auch eu­ daimonistische) Strukturierung, die man sicher als Vertiefung der Bedeut­ samkeit im Sinne Rothackers147 verstehen kann. Es heben sich solche Tradi­ tionen vor dem Hintergrund des Üblichen, des „Normalen“, des Gleich­ gültigen ab, indem sie eine Sphäre des Außergewöhnlichen darstellen, die – in welcher Hinsicht auch immer (affektiv, normativ, sprachlich, bild­ lich und so weiter) – bemerkt wird. Freilich liegt darin ein gewisses Para­ dox, welches diese Form der Explizitheit mit der zuerst verhandelten ver­ bindet, dass nämlich gerade das Auffälligsein das Problem des Problema­ tischwerdens überhaupt erst in die Welt bringt. Indem sich die Traditionen so auffallend geben, werden sie nicht nur zum Gegenstand phänomenaler Eindringlichkeit und spezifischer, oft von Menschen gesuchter Wirkungen, sondern eben auch kritischer, hinterfragender, zerstörender Annäherun­ gen. Damit geht einher, dass es eine weitere Form der Auffälligkeit zu geben scheint, nämlich die Bemerkbarkeit durch Defizienz, wenn Traditionen als störend, unterdrückend, behindernd und dergleichen erlebt werden. Dann ist allerdings phänomenal zu prüfen, ob es sich eigentlich noch um dasselbe Phänomen handelt. In der Literatur wird diese Form häufig als tote Tradi­ tion verstanden,148 womit schon attributiv klar ist, dass sich phänomenal dies von der richtigen, lebendigen Tradition unterscheidet. Wesentliches Merkmal für das Tot-Sein dürfte eine Art der Unangemessenheit des Über­ lieferten an die es erlebenden Menschen in ihren Situationen sein. Worin die Unangemessenheit genau besteht, ist freilich nicht ohne Weiteres auszu­ machen, denn auch das wäre weiter zu qualifizieren. Sloterdijks Konzept der Vertikalspannung149 besagt auf Traditionen übertragen, dass diese als Forderungen zunächst immer unangemessen daherkommen, indem sie den Einzelnen zu einer Leistung auffordern, die er nicht leichthin zu erbringen vermag. Diese vertikale Unangemessenheit ist jedoch immerhin überbrück­ 147  Vgl. E. Rothacker: Philosophische Anthropologie. S.  82 f. und ders.: „Mensch und Wirklichkeit“, in: Der Bund, Bd.  2 (1948/49), S.  5 –22, hier S.  14. 148  Vgl. dazu der Sache nach z. B. B. Snell: „Tradition und Geistesgeschichte (Vom Wandel der Symbole)“. S.  339 f. und M. Gerschenson, W. Iwanow: Briefwechsel ­zwischen zwei Zimmerwinkeln. S.  12 und W. Iwanow: Das alte Wahre. Essays. Berlin, Frankfurt 1954, S.  161. Dahinter steckt ein lebensphilosophisches und vielleicht sogar hegelsches Motiv, welches hier aber unberührt bleiben kann. 149  Vgl. P. Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt 2009, S.  482.

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bar, während das, was tote Traditionen darstellen, in irgendeiner Hinsicht nur durch Traditionsbeseitigung überwindlich scheint. Jedenfalls lässt sich phänomenologisch die These vertreten, dass das im Modus der Defizienz Begegnende nicht mehr als Tradition erlebt wird. Wie man dieses Phäno­ men sprachlich fasst, bleibt offen, es ließe sich von Routine, Üblichkeit, aber auch Zwang sprechen. Es scheint jedoch geboten, diese Form von Ver­ gangenheitsbezug zu trennen von derjenigen, die hier als Tradition unter­ sucht wird.150 Generell gilt, dass hinsichtlich der Explizitheit Traditionen sowohl the­ matisch als auch unthematisch auftreten können. Sie lassen eine – positiv konnotierte – Explikation zu, werden aber in ihrer phänomenalen Eigenart verändert, wenn dieser Prozess ein Maß überschreitet, welches selbst situa­ tionsgebunden variieren kann. Traditionen treten dann besonders hervor, wenn sie als solche erlebt werden, aber es ist phänomenologisch nicht zu bestreiten, dass auch retrospektive Traditionsfeststellungen erfolgen kön­ nen, es also unbemerkte Traditionen gegeben hat. Der Begriff hat jedoch keinen Sinn mehr, jedenfalls keinen, der sich phänomenal erden ließe, wenn jede Form unbemerkter Beeinflussung als eine Tradition verstanden wird, weil so etwas in der Lebenswelt der Menschen keinen Anhalt findet. So wäre das Beispiel vorgeburtlich weitergebener Nahrungspräferenzen151 vor dem Hintergrund der hier verfolgten Phänomenologie keine Form von Tra­dition.152

2.4 Wandelbarkeit, Machbarkeit und Gemachtheit Ganz wie das Problem der Explizitheit wird auch dasjenige der Beeinfluss­ barkeit von Traditionen durch Menschen immer wieder thematisiert. ­Hobsbawms Theorie beispielsweise behauptet, dass Traditionen im Inte­ resse bestimmter Zwecke – vorwiegend nationalstaatlicher Identifikationsund Legitimierungsmotive  – erfunden werden können. Andererseits ist Wittgensteins Parallelisierung des Traditionssuchenden mit einem unglück­ lich Verliebten153 als Hinweis darauf zu lesen, dass man willentlich so we­ 150  Gleichwohl

stehen beide natürlich in einem sachlichen und wohl auch geneti­ schen Zusammenhang. 151  Vgl. zu diesem Fall E. Jablonka, M. J. Lamb: Evolution in Four Dimensions. S.  165. 152  Dies deshalb, weil es dem Tier prinzipiell unbemerkbar ist. Dem Menschen, der über eine solche von der Mutter herkommende Prägung qua Wissenschaft aufgeklärt werden kann, wird es aber auch nicht zu einer Tradition, weil ein anderer Aspekt fehlt, nämlich der des Nicht-Naturhaften, der Gemachtheit. 153 Vgl. dazu L. Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem

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nig wie in Liebe auch nicht in Tradition zu kommen vermag. Mit der Frage nach der Machbarkeit ist verbunden diejenige nach der Wandelbarkeit. Sie liegt gleichsam eine Stufe darüber, insofern das Machen auf das Schaffen, das Stiften zielt, während Wandel nur meint, eine schon bestehende Tradi­ tion anzupassen, zu verändern. In dieser Hinsicht sind die im Diskurs er­ läuterten Antworten weniger stark abweichend, es scheint Konsens zu sein, dass es einen ganz starren, unveränderten Gehalt nicht gibt, dies schon des­ halb, weil immer ausgelegt – das heißt hermeneutisch erschlossen – werden muss. Selbst Guénon, der einen ewigen und stabilen Traditionsgehalt postuliert, anerkennt diese Dimension, wenn er zugibt, dieser Gehalt trete in „unterschiedlich[e] Formen, die an diese oder jene geistigen Bedingun­ gen, diese oder jene zeitlichen oder örtlichen Umstände besonders anpasst [sind] […].“154 Doch auch wenn ein gewisser Einklang der Ansichten er­ kennbar ist, bietet die extreme Ansicht, Traditionen seien beliebig wandel­ bar, Diskussionsstoff. Welsch behauptet, in der Wandelbarkeit und je neuen Anpassung an das Gegenwärtige liege das Wesen traditionaler Dauer,155 während Arnold Toynbee meint: Die Größe der Tradition liegt in ihrer Wandelbarkeit. […] [Es] ist […] und war […] im­ mer in die Hand des Menschen gegeben, menschliche Traditionen abzuwandeln oder zu durchbrechen; was hier nicht in unserer Macht liegt, ist bestehende Traditionen vor Veränderung oder gegebenenfalls Auflösung zu bewahren.156

Schon die Überlegungen im Kontext des christlichen Traditionsverständ­ nisses zeigen, dass diese Bindung von Traditionen an menschengemachte Veränderungen nicht ohne Weiteres überzeugen müssen.157 Wenn etwa die Kette der Überlieferung bis zu den Aposteln zurückverfolgt wird, dann um die transhumane Eigenart zu bestätigen. Gleichwohl ist es im philoso­ phischen Diskurs selbstverständlich klar, dass Traditionen in einem trivia­ len Sinne etwas Gemachtes sind, ihre Gemachtheit ist offensichtlich. Gäbe es keine Menschen, dann auch keine Traditionen. Allerdings ist umstritten Nach­l aß. Hrsg. v. G. H. Wright, A. Pichler. Frankfurt 1994, S.  145: „Tradition ist nichts, was Jeder aufnehmen kann, ist nicht ein Faden, den Einer aufnehmen kann, wie es ihm gefällt; sowenig, wie es möglich ist, sich die eigenen Ahnen auszusuchen. Wer eine Tra­ dition nicht hat & sie haben möchte, der ist wie ein unglücklich Verliebter.“ 154  R. Guénon: Die Krise der modernen Welt. S.  48. 155  Vgl. dazu W. Welsch: „Tradition und Innovation in der Postmoderne“. S.  4 43 f. 156  A. Toynbee: „Tradition und Instinkt“. S.  49 f. Toynbee betont dabei nicht nur die Veränderbarkeit, sondern, stärker noch, die Wählbarkeit (vgl. ebd., S.  36 f.). 157  Vgl. exemplarisch R. Bellarmin: Disputationen über die Streitpunkte des christ­ lichen Glaubens. S.  191–194 (Buch  I V, Abschnitt IX). Zu mittelalterlichen Traditions­ reflexionen vgl. auch S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. Kap.  2.3 und 2.4.

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(oder häufiger noch: unklar), was das genau bedeutet. Friedrich August von Hayek hat – zwar nicht im Hinblick auf Traditionen, aber doch auf diese übertragbar – auf eine notwendige Differenzierung hingewiesen: In einem gewissen Sinne ist es natürlich richtig, daß der Mensch seine Zivilisation ge­ schaffen hat. Sie ist das Ergebnis seines Handelns oder vielmehr des Handelns einiger hundert Generationen. Das heißt aber nicht, daß die Zivilisation das Produkt eines menschlichen Planes ist, oder auch nur, daß der Mensch weiß, wovon ihr Funktionieren oder ihr Fortbestehen abhängt.158

In diesem Sinne ist die prinzipielle Menschen-Gemachtheit von Traditionen gar nicht zu bestreiten, aber oft ist mit dem Vorwurf (oder der Feststel­ lung), etwas sei nur konstruiert, verbunden gedacht, dies sei aus bestimm­ ten Interessen, mit bestimmten Motiven und Intentionen geschehen. Hobs­ bawms Rekonstruktionen gewisser Traditionsentstehungen arbeiten auf diese Weise, insofern sie das Zustandekommen von erfundenen Traditionen auf Interesselagen zurückführen. Diese Konstruiertheit ist dann – graduell abstufbar – intentional gedacht. Diese dreifache Thematisierung nach Wandelbarkeit, Herstellbarkeit und Gemachtheit ist zentral für den Diskurs. Im Hintergrund steht dabei die weit verbreitete Deutung der Neuzeit als derjenigen Zeit, welche die Machbarkeit zum Leitmotiv bestimmt. Diese Epoche habe, so als eine von vielen derartigen Stimmen159 Sloterdijk, die Herstellung einer Welt in Aussicht gestellt, in der es kommt, wie man denkt, weil man kann, was man will […]. Das Projekt der Moderne gründet in einer kinetischen Utopie: die gesamte Weltbewegung soll Ausführung unseres Entwurfs von ihr werden.160 158 

F. A. v. Hayek: Die Verfassung der Freiheit. Tübingen 1991, S.  31. Die Deutung der (westlichen) Moderne als Erhebung des Menschen zum umfas­ senden „Macher“ teilen z. B. F. A. v. Hayek: „Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit“, in: Schicksal? Grenzen der Machbarkeit. Ein Symposion. München 1977, S.  91–103, hier S.  91; R. Koselleck: „Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Hori­ zont neuzeitlich bewegter Geschichte“, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt 2020, S.  38–66, hier S.  61; ders.: „Über die Verfügbar­ keit der Geschichte“, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt 2020, S.  260–277, hier S.  264; O. Marquard: „Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren“, in: Schicksal? Grenzen der Machbarkeit. Ein Symposion. München 1977, S.  7–25, hier S.  7; H. Hastedt: Der Wert des Einzelnen. S.  83; H. Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1955, S.  31; C. Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Übers. v. J. Schulte. Frankfurt 2020, S.  230 und H. Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2017, S.  278. Die breite und für sich hoch relevante Diskussion des modernen Konstruktivismus (als was Machbarkeit zumeist gefasst wird), muss hier allerdings thematisch zurückgestellt bleiben, sie ist nur als Kontrastfolie wichtig. 160  P. Sloterdijk: Eurotaoismus. S.  2 2 f. 159 

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Moderne heißt, an umfassende Machbarkeit glauben. Vor der Kontrastfolie dieser Beobachtung hat die Frage nach der Konstruiertheit und Konstru­ ierbarkeit von Traditionen mehr als nur eine deskriptive Dimension, denn es steht damit zugleich die normativ bedeutsame Passigkeit dieser zur Ge­ genwart zur Disposition. Wenn die Moderne alles selber machen will, sich aber Tradition als – in gewissem Sinne – nicht machbar erweist, wird diese zu einem Rückständigen, Unzeitgemäßen. Das Unverfügbare, das ihr so anhaften würde, kann in der Gegenwart, wie man mit Rosa festhalten muss, schwer ertragen werden, jedoch zahlt man individuell wie kollektiv vielleicht einen hohen Preis für die totale Verfügbarmachung.161 Dieser Hintergrund einer auf autonome Herstellung bedachten Moderne prägt weite Teile der Diskussionen über Traditionen, zumal an dem hier verhan­ delten Aspekt. Daher ist eine redliche Besinnung darauf unerlässlich. Zunächst ist auf die grundsätzliche Machbarkeit zu blicken. Lassen sich Traditionen (bewusst) schaffen? Dass sie einmal irgendwann entstanden sein müssen, ist trivial. Es geht also um die gezielte Hervorbringung. Ein Beispiel in diesem Sinne ist vielleicht Ferdinand Tönnies’ Konzept des Kür­ willens im Unterschied zum Wesenwillen. Diese Begriffe werden einge­ führt, um den Willen des Menschen zu differenzieren. Es heißt dazu: „Da alle geistige Wirkung als menschliche durch die Teilnahme des Denkens bezeichnet wird, so unterscheide ich: den Willen, sofern in ihm das Den­ ken, und das Denken, sofern darin der Wille enthalten ist.“ Der Wesenwille „beruhet im Vergangenen und muß daraus erklärt werden, wie das Werdende aus ihm: Kürwille läßt sich nur verstehen durch das Zukünftige selber, worauf er bezogen ist.“162 Dieses Begriffspaar, welches bei Tönnies dazu dient, das Zustandekommen von Gemeinschaft und Gesellschaft zu erklären, lässt sich so deuten, dass der Kürwille ein intendiertes Hervor­ bringen von Prägungen auf die Zukunft hin darstellt. Eine solche Hervor­ bringung, die im Sinne Tönnies‘ als gesellschaftlich zu charakterisieren wäre, ist durch affektive Bindungslosigkeit gekennzeichnet. Wenn man diesen Blick übernehmen möchte, dann ist offensichtlich, dass Traditionen phänomenal einer vertraglichen Bindung gleichzusetzen wären – und da­ mit schon gar nicht mehr als Traditionen erlebt würden, es hätte einen phä­ nomenal auffälligen Wechsel gegeben. Von Tönnies ausgehend, scheint es um die intentionale Hervorbringung schwierig bestellt. Im Ergebnis ähn­ lich denken Popper und Hans Freyer. Letzterer weist darauf hin, dass bei bestimmten Institutionen und Lebensweltbeständen – er verweist als Bei­ 161  162 

Vgl. H. Rosa: Unverfügbarkeit. Wien, Salzburg 2019, S.  8 ff., 129. F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. S.  73.

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spiel auf die Liebe – gerade die „Intention […] das Intendierte vertreibt oder zerstört.“163 Wenn das Machenwollen thematisch wird, ist es, folgt man Freyer, phänomenal um den Traditionscharakter geschehen. Diese Beob­ achtung teilt Popper: Es kommt nur selten vor, daß Leute eine Tradition bewußt schaffen wollen; und in diesen wenigen Fällen werden sie wahrscheinlich keinen Erfolg damit haben. Andere Leute, die niemals davon geträumt hatten, eine Tradition zu begründen, bringen es zu­ stande ohne jede Absicht.164

Dieser Befund, der einem Machbarkeits-Optimismus im Hinblick auf Tra­ dition gleichsam den Wind aus den Segeln nimmt, verlangt nach einer phä­ nomenologischen Erklärung. Warum erlischt zumeist das Traditionsartige, wenn etwas bewusst als Tradition intendiert wird?165 Phänomenal verliert das so Auftretende eine Eigenschaft, die offensichtlich wichtig ist, nämlich die Selbstverständlichkeit. Alles, was gemacht ist, könnte auch anders sein. Dies gilt freilich für die gesamte Kultursphäre, besonders aber – und darin liegt die negative Relevanz des Intendierens – für das konkret Zurechenba­ re. Tritt ein Traditionsartiges in der Form auf, dass klar ist, es geht auf eine bestimmte Stiftung, einen bestimmten „normal-menschlichen“ Stifter zu­ rück, ist die Akzeptanz sogleich verstärkt in die Hand des Akzipienten gelegt,166 er tritt vielleicht hier überhaupt in der Akzipienten-Rolle erst auf. Eine bewusste Bildung, die immer eine Neubildung ist, selbst wenn sie kompensierende Anleihen beim Alten macht, zwingt zu einer Überwin­ 163 

H. Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. S.  204. K. R. Popper: „Versuch einer rationalen Theorie der Tradition“. S.  182. 165  Gleiches lässt sich mit Roy Abraham Rappaport übrigens auch im Hinblick auf Rituale sagen (vgl. R. A. Rappaport: Ritual and Religion in the Making of Humanity. S.  32), womit Theorien des „Ritualdesigns“ (vgl. J. Karolewski, N. Miczek, C. Zotter: „Ritualdesign“) kritisch zu hinterfragen wären, die davon ausgehen, dass es eine inten­ tionale Gestaltung geben kann. Auch die konkreten Ergebnisse dieser Forschungen bestätigen im Grunde das Dargelegte, wenn man etwa über das Agieren der Kaiser in Rom feststellen muss, diese hätten weniger Einfluss gehabt auf die Rituale, als zu er­ warten gewesen wäre, weil es komplizierte Aushandlungsprozesse gegeben habe (vgl. M. Mattheis, C. Witschel: „Die Transformation städtischer Rituale in der Spätantike. Ein Fall von Ritualdesign?“, in: J. Karolewski, N. Miczek, C. Zotter (Hrsg.): Ritual­ design. Zur kultur- und ritualwissenschaftlichen Analyse „neuer“ Rituale. Bielefeld 2012, S.  67–96, hier S.  76, 81). Auch Ritualen haftet eine Unverfügbarkeit an, die aber nicht erst sekundär auf komplexe Sozialstrukturen zurückzuführen ist, sondern ihrem Wesen selbst ganz eigentümlich sind. Anders gesprochen: Hätte der Kaiser unmittelbar wirksame Vorschriften erlassen können, die das Rituelle betreffen, wären diese im Hin­ blick auf die Ritualhaftigkeit schon genau deshalb defizitär gewesen. 166  Die Rolle des Akzipienten analysieren besonders T. A. Winter: Traditionstheorie. Z. B. S.  159–169 und K. Dittmann: Tradition und Verfahren. Z. B. S.  128. 164 

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dung, denn, so stellt Landmann für Kulturabbau und -aufbau fest, „zwi­ schen Altbau und Neubau liegt doch ein Hiatus.“167 Was das bewusst Ge­ machte ungewollt herausstellt, ist die Eigenart der Tradition, als nicht in­ tendiert Gemachtes der Sprungbedürftigkeit im Sinne Kierkegaards und Jaspers’ zu entbehren.168 Gemachtsein macht fragwürdig, verdächtig, min­ destens jedoch begründungsbedürftig im Hinblick auf Zustimmung. Da­ her ist phänomenologisch festzuhalten, dass eine deutlich erkenn- und zurechenbare Stiftung einer Tradition durch Menschen mit klaren Intentionen diese sofort problematisch werden lässt, im Grenzfall zerstört.169 Diese Ein­ sicht muss auch übertragen werden auf den Fall der Reimplikation von Tra­ ditionen, das heißt für den Versuch, Traditionen wieder zu aktualisieren. Habermas hält dies für unmöglich170 und wirft der Ritter-Schule vor, mit ihrem funktionalistischen Blick, der Traditionen als Moderne-Kompensa­ tionen ansieht, gerade zu verkennen, dass eine instrumentelle Reaktualisie­ rung notwendig scheitern muss. Wer auf den Nutzen der Tradition hin­ weist, wie dies Lübbe und Marquard tun,171 der verunmöglicht sie deshalb,

167  M.

Landmann: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. S.  75. Zum Hiatus à la Landmann und dem daraus sich ergebenden Problem für Retraditionalisie­ rung vgl. auch F. Schollmeyer: „Der Mensch zwischen kulturellem Eintrag und schöp­ ferischem Auftrag. Michael Landmanns Kulturanthropologie als Bildungstheorie“, in: J. Bohr, M. Wunsch (Hrsg.): Kulturanthropologie als Philosophie des Schöpferischen. Michael Landmann im Kontext. Nordhausen 2015, S.  125–149, hier S.  145. 168  Zum Motiv des Sprungs generell vgl. G. Scholtz: „Sprung. Zur Geschichte eines philosophischen Begriffs“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd.  11 (1967), S.  206–237 sowie den Hinweis in Fußnote 66 dieses Kapitels. 169  Daher ist auch das ökonomisch motivierte Bestreben, Traditionalität für Produk­ te, Techniken usw. herzustellen, sofern es als intentional erkennbar wird, kontrapro­ duktiv. Andererseits lassen sich gewisse Bestrebungen, den Ursprung von Traditionen zu verschleiern, nun nicht mehr nur ideologie- oder herrschaftskritisch lesen, sondern werden auch verstehbar als lebensweltökologische – im Sinne Habermas’: lebenswelt­ schonender (vgl. J. Habermas: „Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik“, in: ders.: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1990. Leipzig 1990, S.  75–104, hier S.  102) – Versu­ che, Phänomene zu bewahren. 170  Vgl. J. Habermas: „Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik“. S.  102, wobei er sich Horkheimer anschließt. 171  Vgl. z. B. H. Lübbe: „Traditionsverlust und Fortschrittskrise. Sozialer Wandel als Orientierungsproblem“, in: ders.: Fortschritt als Orientierungsproblem. Aufklärung in der Gegenwart. Freiburg 1975, S.  32–56; ders.: Zwischen Trend und Tradition. Überfordert uns die Gegenwart? Zürich 1981 und O. Marquard: „Skeptiker. Dankesrede“, in: ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart 2008, S.  6 –10 (dort Tra­ ditionen thematisch als „Usancen“).

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denn eine solche Reaktualisierung trägt notwendig den Stempel des Inten­ tionalen, des gewollt Gemachten.172 Phänomenal ist dieser Umstand leicht nachzuweisen. Wenn man etwa bedenkt, dass heutige Sekten- und Religionsstiftungen deshalb in die Kri­ tik geraten, weil sie auf das  – dann zumeist egoistisch oder ökonomisch motiviert interpretierte  – Interesse konkreter Einzelner (oder Gruppen) zurückgeführt werden können, kontrastiert das mit dem Zustand traditio­ naler Religionsformen. Diese profitieren davon, eben nicht in gleicher Wei­ se zurechenbar zu sein, weil historischer Abstand, Wissensverluste, Kul­ turgutvernichtung und vieles mehr dies verunmöglichen oder jedenfalls erschweren. Was so für diese nicht leicht und auf evidente Weise zu unter­ stellen ist, sind konkrete Stiftungsintentionen wie im Fall neuester Reli­ gionsgemeinschaften, die schon deshalb, selbst wenn sie surrogativ nach der Patina des Alten suchen, keine Traditionalität erhalten. Ein anderer, aber letztlich gleich gelagerter Fall ist der Unterschied zwischen wissen­ schaftlichen Traditionen im Sinne Flecks und Kuhns und zumeist als ver­ dächtig betrachteten Schulen um einen ganz bestimmten Wissenschaftler. Erstere haben durch eine komplexe Struktur (sozial, institutionell, publi­ zistisch und so weiter) eine mindestens gebrochene intentionale Ordnung, während das bei Letzteren nicht der Fall ist, weshalb diese erst durch Um­ wandlung zur Tradition werden können oder eben nie. Immer scheint, phä­ nomenologisch betrachtet, die intentionale Zurechenbarkeit relevant. Ein Sonderfall der Machbarkeit im hier verhandelten Sinn ist Wählbarkeit. Wer bewusst zwischen Traditionen zu wählen vermag, schafft diese selbstverständlich nicht neu, aber er schafft die Bindung an sie. Dass die Gegenwart durch Optionsvielfalt gekennzeichnet sei, einen umfassenden Pluralismus, der als Gegenstück das Wählen-Können, vielleicht auch Wäh­ len-Müssen zur Folge habe, ist ein nicht seltener Topos. Für Tradition hat dies Dittmann prominent herausgestellt: Je weiter der Erfahrungsraum eines Individuums oder einer Gruppe von Menschen wird, desto größer wird die Zahl potentieller Tradenten, desto stärker kommt dem Ak­ zipienten die Aufgabe zu zu wählen, welche Traditionen oder welche Elemente eines Traditionskomplexes er akzipiert und welche nicht.173 172  Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass Lübbe um dieses Problem sehr wohl weiß, denn er kritisiert einen „forcierte[n] Rückgriff auf Traditionen“, der um Stabilisierung willen Realitätsverluste in Kauf nehmen muss, und will dagegen vielmehr eine Siche­ rung der durch den Fortschritt „bedrohten Bedingungen“ seiner selbst (H. Lübbe: „Tra­ ditionsverlust und Fortschrittskrise“. S.  37 f., 55). Lübbes Perspektive ist daher nicht naiv-funktionalistisch, wiewohl Habermas eine Tendenz an derselben durchaus trifft. 173  K. Dittmann: Tradition und Verfahren. S.  128. Auch Toynbee hat eine Wählbar­

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Dadurch, so heißt es weiter, verlagere sich die „Gewichtung im Traditions­ prozess […] hin zur Orientierung am Akzipienten, der unter möglichen Tradenten wählt.“174 Das Machen besteht in der Auswahl, durch welche mindestens implizit zugleich über das (Fort-)Bestehen von Traditionen entschieden wird. Doch handelt es sich bei dem, was gewählt ergriffen wird, noch um Traditionen oder nicht schon um etwas anderes, einen Ent­ wurf einer Identität, eine Konstruktion? Phänomenal scheint dies der Fall zu sein, denn was man wählen kann, ist schon distanziert und optional, kann auch immer anders sein. Dies trifft für Traditionen nicht oder nur sehr bedingt zu, diese kennen zwar zum Beispiel Streitfragen über Ausle­ gungen, Weisen der Praxis und so weiter, aber keine grundlegende Wahl. Wer sich etwa einem Fußballverein anschließt, weil er sich bewusst dazu entschlossen hat, nach reiflicher Überlegung vielleicht, der kann eine Tra­ dition wollen, haben tut er sie anscheinend nicht (sofort).175 Zudem tritt bei der Wahl wieder, wie schon beim bewussten Machen, das Hiat-Problem auf, welches nur mittels eines Sprungs behoben werden kann. Jaspers hat das deutlich gesehen. Er favorisiert ein Modell bewusster Traditionsaneignung, worin Wahl mitgedacht ist.176 Aber diese Wahl bleibt für den Wählenden phänomenal defizitär, sie überzeugt erlebnismäßig nie ganz. Es muss erst ein Sprung in das Gewählte erfolgen, der diesem den vollen Gehalt – den man also im Rückschluss dem Erstrebten und von frü­ her oder anderswoher Bekannten unterstellen darf – geben soll.177 Kann das keit der Tradition theoretisch vertreten (vgl. A. Toynbee: „Tradition und Instinkt“. S.  37). 174  K. Dittmann: Tradition und Verfahren. S.  128. 175  Das besondere Engagement von Konvertiten, welches psychologisch und sozio­ logisch gelegentlich thematisiert worden ist, stellt vor diesem Hintergrund vielleicht ein implizites Eingeständnis des defizitären Moments der Wählbarkeit von Bindung dar. Rosa hat zutreffend darauf hingewiesen, dass eudaimonistisch positive Resonanzer­ fahrungen davon abhängen, dass etwas nicht bewusst gewählt oder geschaffen ist (vgl. dazu H. Rosa: Resonanz. Z. B. S.  278). Wenn der hier vorgestellte Vereins-Anhänger eine solche Resonanz sucht, hindert ihn sein willentlicher Entschluss gerade, weshalb Menschen oft nach anscheinend unwillkürlichen, heteronomen Entscheidungskriterien oder -instanzen suchen, sei es, dass sie die Wahl als schicksalhaft erklären wegen des Geburtsortes, eines bestimmten zufälligen Ereignisses usw., sei es, weil sie eine histori­ sche Determination „erfinden“ (der Großvater habe den Verein schon gemocht, als Kind habe man die Trikots am besten gefunden usw.). 176  Vgl. dazu K. Jaspers: Philosophie I. Philosophische Weltorientierung. Berlin, Hei­ delberg, New York 1973, S.  16, 285; ders.: Philosophie II. Existenzerhellung. Berlin, Heidelberg, New York 1973, S.  395 und ders.: Philosophie III. Metaphysik. Berlin, Hei­ delberg, New York 1973, S.  207. 177  Vgl. K. Jaspers: Philosophie II. S.  180 f. Dort wird erläutert, dass die Wahl eine

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aber gelingen? Bleibt nicht bei der gewählten Aneignung immer ein phäno­ menal vielleicht unauffälliger, hintergründiger Unterschied bestehen, weil das „Es könnte auch anders sein“ oder das „Ich wollte es so“ für Traditions­ bestände nicht kennzeichnend ist? Gross hat dahingehend tatsächlich ein Defizit ausgemacht, aber auch  – und Jaspers stimmte dieser Perspektive ­sicher zu – Vorteile benannt.178 Wahl gestattet intensiveres Einlassen auf, vielleicht sogar Dankbarkeit für das Gewählte. Phänomenologisch bleibt es allerdings unbestreitbar, dass eine gewählte Tradition, je näher und offensichtlicher die Wahl ist, als desto defizitärer erlebt wird. Hier wiederholt sich das am bewussten Machen Vorgeführte demnach ein zweites Mal. Hinsichtlich der Wandelbarkeit stellt sich die Sachlage etwas anders dar. Wie eingangs des Kapitels erläutert, ist die Behauptung eines unwandel­ baren Bestandes faktisch nie erhoben worden. Die schon für das Judentum belegte Einsicht in die Interpretationsnotwendigkeit und Auslegungs­ bedürftigkeit179 macht eine solche These obsolet. Eine andere Frage ist es jedoch, wieviel Wandel, welche Art von Wandel und einen wie auffälligen Wandel Traditionen vertragen, um als Phänomen bestehen bleiben zu kön­ nen und nicht als Konstruktion, Ideologie, Vorschrift oder dergleichen gel­ ten zu müssen. Das zulässige Maß des Wandels ist sicher nicht fest zu be­ stimmen, da es von mindestens zwei Faktoren abhängt, der individuellen Lebenslänge und Erfahrungsmenge sowie dem sozialen Wandlungstempo, welches Rosa zuletzt intensiv untersuchte.180 Menschen mit kürzeren Le­ bensspannen als die heutigen bemerken Wandel weniger, weil der von ih­ nen erlebte Zeitraum zu klein ist. Dies könnte zunächst nahelegen, dass in zeitlicher Hinsicht Veränderungen möglich sind, die schon ab wenig mehr als der Länge einer Generation ansetzen. Andererseits scheint es plausibel, zu unterstellen, dass diese Menschen zur Kompensation individueller Le­ benskürze um so stärker an der strikten Beibehaltung der Tradition inter­ essiert sind, folglich gerade überaus konservativ, wandlungsphob agieren. Inhaltlich steht zu vermuten, dass Wandel nur in den Bereichen akzeptiert werden kann, die am wenigsten mit Bedeutsamkeit beladen sind. Für Men­ „existentielle“ sei, ein „Entschluss“ in starkem Sinne, nicht eine bloße distanzierte Kal­ kulation. 178  Vgl. D. Gross: The Past in Ruins. S.  129 f. 179  Vgl. dazu G. Stemberger: Einleitung in Talmud und Midrasch. München 2011, S.  26, 50. 180  Es ist zudem auch noch eine psychologische Dimension zu beachten, denn das zulässige Maß scheint auch relativ auf das Lebensalter zu sein (vgl. E. Shils: Tradition. S.  40 und H. Rosa: Beschleunigung. S.  178–198). Das ist jedoch für die hier im Fokus stehende Frage nebensächlich.

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schen, denen längere Lebensspannen zukommen, sieht die Lage etwas an­ ders aus, denn durch die zeitliche Erstreckung ihres Erfahrungsschatzes haben sie mehr Interpretations- und Auslegungsdifferenzen wahrgenom­ men, insofern stehen sie dem Wandel vielleicht offener gegenüber, erleben ihn als selbstverständlicher.181 Gleiches gilt vermutlich auch für Personen, die ihren Lebensraum häufiger verlassen, weil der Kulturkontakt die Plura­ lität der Traditionen vor Augen führt und für Wandel desensibilisiert, ob­ wohl sicher auch als Gegenreaktion ein intensiveres Festhalten des Beste­ henden nicht auszuschließen ist. Wie dem aber auch sei, inhaltlicher Wandel der Tradition ist grundsätzlich in Maßen möglich und hermeneutisch sogar notwendig. Dass er nur begrenzt auftreten kann, ist zugleich die phä­ nomenologische Erklärung für die Eigenart von Traditionen, gleichsam als diachron stabil, starr zu erscheinen.182 Damit zusammen steht zu überlegen, wie auffällig der Wandel werden darf. Hier bietet die Geschichte viele Beispiele, dass explizite Verhandlun­ gen – etwa auf Konzilen183 – von zulässigen oder unzulässigen Wandlungs­ vorgängen das Fortbestehen einer Tradition nicht verhindert zu haben scheinen. Keineswegs also muss ein Auffälligwerden einer Veränderung zugleich das Ende einer Tradition bedeuten. Jedoch ist aus dem zum Komplex der Explizitheit Gesagten offensichtlich, dass dies nur in begrenztem Rah­ 181 

Sebastian Knell hat in einer Untersuchung die Auswirkungen der durch techni­ schen und wissenschaftlichen Fortschritt ermöglichten Verlängerung humaner Lebens­ spannen (bis hin zur Unsterblichkeit) analysiert. Vgl. dazu S.  K nell: Die Eroberung der Zeit. Grundzüge einer Philosophie verlängerter Lebensspannen. Berlin 2015). Im An­ schluss an seine Überlegungen drängt sich die Frage auf, wie es um Traditionen für solche fiktiven Menschen stünde, die über ein quasi biblisches Lebensalter (und noch darüber hinaus) verfügen würden. Für ein gelingendes Leben bedürften auch diese Menschen, so Knell (vgl. ebd., S.  200–217), einer narrativen Einheit ihres Lebens, für die, so könnte man überlegen, stabile Traditionen den Rahmen abgeben (vgl. etwa ebd., S.  200 f.). Dann aber wäre zu vermuten, dass diese Rahmen sich ebenfalls nicht grundle­ gend verändern dürften. Andererseits steht zu fragen, ob das menschliche Erinnerungs­ vermögen überhaupt gut genug ist, um Wandel über solch lange Zeiten noch festzustel­ len. Schon die heutigen Lebensspannen stellen dahingehend Herausforderungen an die Menschen, Knells Utopie dürfte vielleicht eine Wandlungs- und auch Stabilitätsfeststel­ lungsüberforderung repräsentieren. 182  Traditionen sind es der Sache nach gar nicht, aber da die Veränderungsgeschwin­ digkeit häufig geringer ist als der generationelle Wechsel, fallen Wandlungen nicht sehr auf. 183  Das Konzil von Trient ist dafür der herausragendste historische Fall, insofern dort unter dem Eindruck der Reformation und deren Kritik an „nur“ traditionellen, also etablierten, aber nicht in der Bibel selbst angegebenen Praktiken zur Verhandlung stand, welchen theologischen Stellenwert derartige Traditionen haben. Zum Konzil vgl. die für das Traditionsdenken wichtigen Hinweise in A. Deneffe: Der Traditionsbegriff.

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men gilt. Eine vollständige Veränderung einer Tradition ist ein Oxymoron. Adorno hat aber Beckett als in der Tradition des antiken Dramas stehend angesehen.184 Wenn das stimmt, dann nur deshalb, weil die Veränderung des Gehaltes dieser Tradition sich über einen langen Zeitraum erstreckte und somit je Zeiteinheit nur in geringerem Maße auffiel. Bei gleichzeitigem Auftreten Becketts und Sophokles’ etwa hätte die Behauptung, beider Wer­ ke gehörten einer konkreten gemeinsamen Tradition an, sicher deutlich we­ niger Plausibilität als heute, wo sie allerdings ebenfalls nicht voll überzeu­ gen kann, denn der bestehende Gehalt, der Identität durch die Zeit sicher­ stellt, erschließt sich nicht deutlich. Auffälligkeit und Maß des Wandels hängen vom zeitlichen und entwicklungsdynamischen Kontext ab. Anders verhält es sich mit den Arten des Wandels. Ein grober Blick kann zwei Formen unterscheiden, eine intentional-projektive und eine hermeneutisch-schöpfende. Der erste Wandel nähert sich Traditionen so, dass er sie im Interesse von bestimmten Vorhaben – sei es einer Identitätsstiftung, sei es einer Legitimation, sei es einer Zukunftsgestaltung – bewusst verän­ dert, umdeutet.185 Dann wird in die Tradition qua Veränderung eine ge­ wollte Perspektive gelegt. Es kommt zu einer Instrumentalisierung. Der zweite Wandel verändert Traditionen dadurch, dass er aus ihnen schöpft, das heißt, bisher nicht Beachtetes oder Marginalisiertes betont.186 Der Un­ terschied liegt darin, dass intentionaler Wandel etwas mit Traditionen im Interesse heteronomer Motive macht, während schöpfender Wandel aus Traditionen partiell selbst bedingt ist. Im Hinblick auf die phänomenologi­ sche Perspektive zeigt sich, dass intentionaler Wandel weit weniger geduldet wird als schöpfender. Gerade auch deshalb besteht sicher das Bestreben, neue Praktiken, Dogmen und so weiter als in den Traditionen selbst be­ gründet zu erweisen. Religiöse Auslegungsarbeit kann aus dieser Warte als der Versuch erscheinen, intentionalen Wandel in schöpfenden umzudeuten. Schließlich ist noch auf die schon angesprochene Notwendigkeit des Wandels hinzuweisen. Diese ergibt sich nicht nur aus der hermeneutischen Situation menschlicher Existenz, wie sie Heidegger und Gadamer erhellt haben,187 sondern noch aus mindestens einem anderen Aspekt. Hermeneu­ tisch bedingt ist der Wandel durch die zeitliche Differenz von Stiftung und 184 

Vgl. dazu in dieser Arbeit Kap.  I, Fußnote 78. Extremform davon wäre ein revolutionärer Wandel zu verstehen, der eine Abschaffung (und mittelbar Neustiftung) von Traditionen anstrebt. Allerdings scheint das Wort „Wandel“ dafür wenig zutreffend. 186 Adorno scheint so etwas vor Augen gehabt zu haben (vgl. T. W. Adorno: „Über Tradition“. S.  315, 137). 187 Vgl. dazu die Überlegungen zur Notwendigkeit der jeweils neu zu leistenden 185  Als

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Aktualisierung, der Sinninterpretationsbedürftigkeit unter veränderten Umständen. Dass sich Umstände ändern, ist unvermeidlich, wofür schon ökologische und physikalische Prozesse sorgen, kulturelle Faktoren frei­ lich in noch höherem, schnellerem Maße. Ein anderer Aspekt aber, auf den bislang noch nicht hingewiesen worden ist, ist der Generationenkonflikt.188 Wenn Traditionen diachrone Verhältnisse sind, dann spielt die Differenz zwischen Älteren und Jüngeren eine wichtige Rolle. Zwischen diesen ent­ wickelt sich oft aufgrund kultureller, lebensweltlicher, ökologischer, öko­ nomischer oder lebensbiographischer Unterschiede ein Spannungsverhält­ nis, welches auf die Tradition Rückwirkungen hat. Es ist sicher nicht falsch, wenn man behauptete, manch Wandel resultiere schlicht allein daraus, dass etwas als von den Älteren herkommend bemerkt wird. Dann sind es nicht intrinsische Probleme, Auslegungsfragen oder Umweltveränderungen, die zum Wandel notwendig führen, sondern normative Differenzen aufgrund generationeller Verschiedenheit. Dass der Generationenkonflikt für das stabile Bestehen von Traditionen ein Problem darstellt, übersehen zu ein­ fache soziologische oder ethnologische Perspektiven auf frühere Kulturen und Völker. Diese können gar nicht einfach traditional – im Sinne fortdau­ ernder, leicht zu sichernder Ordnung – gewesen sein, weil selbst bei stabi­ len Umweltbedingungen generationelle Konflikte im genannten Sinne auf­ treten. Die lebensalterspezifischen Übergangsriten sind so gesehen viel­ leicht auch Traditionsschutzinstanzen, denn sie moderieren zwischen Generationen. Das ist sicher spekulativ, phänomenologisch evident scheint jedoch, dass qua generationeller Verhältnisse Wandel unabdingbar ist. Als letzter Aspekt ist die Gemachtheit in den Fokus zu nehmen. Diese korreliert mit dem zur Machbarkeit Gesagten, ergänzt dieses jedoch, wie eingangs erläutert, um einen differenzierten Blick darauf, was es heißen soll, etwas sei gemacht. Menschengemachtheit per se ist für Traditionen evidenter Weise problemlos, denn sie sind es alle, bewusste Setzung, intentio­ nale Hervorbringung jedoch aus den genannten Gründen nicht. Aber un­ intendiertes Geschehen ist nun ebenfalls kein guter Kandidat für Traditio­ nalität. Nicht-Gemachtheit ist in einem gewissen Sinne ein Hindernis. Es sei an das Beispiel der Nahrungspräferenz erinnert, die qua Plazenta vorge­ Auslegung als Movens des Wandels M. Heidegger: Sein und Zeit. S.  148 ff. sowie H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. S.  291 f. 188  Der Generationenbegriff selbst ist dabei bedenkenswert, er scheint – jenseits der trivialen biologischen Dimension – nicht immer gut geklärt. Vgl. als immer noch grund­ legende Literatur K. Mannheim: „Das Problem der Generation“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd.  60 (2017), S.  81–119 und die Überlegungen in Kap.  III.3 der vorliegenden Arbeit.

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II. Phänomenologie der Tradition

burtlich weitergegeben wird. Diese ist für Menschen, selbst wenn sie dar­ um wissen, dennoch phänomenal keine Tradition (selbst wenn die Biologen so sprechen). Warum nicht? Weil sie als natürliches Phänomen gerade der Gemachtheit und Intendiertheit entbehren. Was gleichsam paradox anmu­ tet, verweist nur darauf, dass Traditionen als Kulturleistungen erkannt werden müssen, um als Traditionen gelten zu können. Kultur meint in diesem Kontext schlicht das Nicht-Natürliche. Nur insofern etwas nicht durch die Natur hervorgebracht, sondern menschengemacht ist, und das will das Wort Gemachtheit anzeigen, ist es Tradition. Das konfligiert nicht mit dem zur Intentionalität und zur Machbarkeit Gesagten, denn die Zuschreibung des Gemachtseins bleibt ja vage. Sie ist jedoch essentiell, weil andernfalls – phänomenal unplausibel – auch genetische oder frühkindliche Prägungen als Tradition zu zählen hätten. Das entspricht nicht der Lebenswirklichkeit der Betroffenen. Gemachtheit ist eine conditio sine qua non,189 allerdings immer eingedenk des zur Machbarkeit einschränkend Herausgestellten.

2.5 Wissensgehalt und Gedächtnisleistung Ein Topos, der in vielen verbreiteten Theorien eine Rolle spielt, ist die Be­ hauptung, Tradition kumuliere oder speichere zumindest Wissen. Dahin­ ter steht im Grunde ein kulturevolutionistisches Modell, wonach Traditio­ nen durch die Zeit hindurch sich in Auseinandersetzung mit der Wirklich­ keit, sowohl der natürlichen als auch der kulturellen, zu bewähren haben, dabei einem Variations- und Selektionsprozess ausgesetzt sind. Ein Vertre­ ter dieser Ansicht ist Michael Tomasello, der behauptet, dass der human­ spezifische 189 Hierin liegt die Berechtigung derjenigen Traditionstheorien, die sie nach dem Modell des Tradierens verstehen. Sie nehmen den Prozess des Hervorbringens in den Fokus, zeigen, auf welche Weise sie – anders als genetische Vorgänge etwa – zustande kommen. Prominente Vertreter dafür sind Dittmann und Winter. Was diese Ansätze allerdings nicht leisten können, ist, das im phänomenalen Erleben vordringliche Subs­ tantielle der Tradition zu beschreiben. Für den in einer Tradition Stehenden sind die vielfach beschriebenen Akte des Annehmens und Weitergebens als solche oft nicht the­ matisch, weil der Fokus auf dem liegt, was man die einbettende Situation (vgl. dazu allgemein die Situationsontologie in H. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. Bonn 1999, S.  21–31) nennen könnte. Wenn zum Beispiel Winter den komplexen Traditionsakt in seiner dreifachen Valenz analysiert (vgl. T. A. Winter: Traditionstheorie. Z. B. S.  157– 189), bleibt er einer Außenperspektive verhaftet, die Aspekte der Gemachtheit im hier verhandelten Sinne erklären kann, nicht aber das Phänomen selbst (obwohl er gelegent­ lich auf phänomenologisch relevante Aspekte stößt, etwa bei der Unterscheidung von Tradition und Konvention [vgl. ebd., S.  214, wo die erlebbare „Schwere“ des Zuwider­ handelns thematisiert wird]).

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Satz kognitiver Fertigkeiten und Produkte, den man beim modernen Menschen findet, das Ergebnis einer einzigartigen Weise kultureller Weitergabe ist. […] Der Vorgang ku­ mulativer kultureller Evolution erfordert nicht nur Erfindungsgabe, sondern auch und ebenso zuverlässige soziale Weitergabe, die ähnlich wie ein Wagenheber das Zurückfal­ len verhindern kann, so daß das gerade erst erfundene Artefakt oder die soziale Praktik die neue und verbesserte Form einigermaßen zuverlässig beibehält, bevor eine weitere Modifikation oder Verbesserung hinzukommt.190

Der Grundgedanke, sofern man Tradition als eine solche soziale Weiter­ gabeform denken mag, ist, dass auf diese Weise aggregierte Erfahrungen, Experimente (im nicht-terminologischen Sinn) und Innovationen gesam­ melt werden.191 Am vehementesten ist dieser Zusammenhang zuletzt von der Meme-Theorie behauptet worden, die von einer Evolution im Bereich des kulturell Vererbten und Erinnerten spricht, einem Kampf um selektive Vorteile.192 Daniel Clement Dennett nennt drei wesentlich Faktoren für die sinnvolle und philosophisch wie biologisch tragfähige Rede von Evolution, nämlich Vererbung, Variation und Eignung.193 Folgt man dieser Spur, so müsste Tradition einerseits (auf nicht-genetische oder  – mit Verweis auf Jablonkas und Marion Julia Lambs Forschungen – auf epigenetische Weise) weitergegeben werden, andererseits sich diachron wandeln können und drittens sich in der Wirklichkeit empirisch beweisen. So würde sie Erfah­ rung und mittelbar Wissen sammeln und zur Verfügung stellen. Wechselt man in die Perspektive des in einer Tradition Stehenden, fragt es sich jedoch, ob sich das so Unterstellte findet. Ist das Motiv der Wissens­ kumulation phänomenal auffällig? Hier zeigt eine Prüfung, dass dem nicht so ist. Tradition als Widerfahrnis oder Lebensweltbestand zeigt nicht zunächst einen herausragenden epistemischen Gehalt, sondern dieser ist eher Folge einer reflexiven Besinnung auf sie und ihr Herkommen. Aber in ge­ wisser Hinsicht taucht er doch auf, nämlich im Modus der Anspruchshal­ tung der Tradition, die von ihren Mitgliedern gelegentlich fordert, ihr zu folgen und zu vertrauen, weil sie etwas könne, was diese nicht vermögen. 190  M. Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. S.  14 f. Vgl. Ähnliches auch im Hinblick auf Schimpansen behauptend C. Boesch: Wild Cultures. S.  68, 81. 191  Dieses weit verbreitete Motiv findet sich z. B. auch bei A. MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Übers. v. W. Riehl. Frankfurt 1995, S.  198; K. Lorenz: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. München, Zürich 1993, S.  68; F. A. v. Hayek: Die Verfassung der Freiheit. S.  35 f.; U. Oevermann: „Sozio­ logische Überlegungen zum Prozess der Tradierung und zur Funktion von Traditio­ nen“. S.  11 und M. Landmann: Fundamental-Anthropologie. S.  66, 111, 189. 192  Vgl. dazu z. B. D. C. Dennett: Philosophie des menschlichen Bewusstseins. Übers. v. F. M. Wuketits. Hamburg 1994, hier S.  264, 267, 271, 273. 193  Vgl. D. C. Dennett: Philosophie des menschlichen Bewusstseins. S.  264.

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Blumenberg hat das  – gleichwohl kritisch  – gesehen, wenn er (dabei ver­ schriftliche Tradition vor Augen habend) schreibt: Die geschriebene und schließlich gedruckte Tradition ist immer wieder zur Schwä­ chung von Authentizität der Erfahrung geworden. Es gibt so etwas wie die Arroganz der Bücher durch ihre bloße Quantität, die schon nach einer gewissen Zeit schreibender Kultur den überwältigenden Eindruck erzeugt, hier müsse alles stehen und es sei sinn­ los, in der Spanne des ohnehin allzu kurzen Lebens noch einmal hinzusehen und wahr­ zunehmen, was einmal zur Kenntnis genommen und gebracht worden war.194

Die Arroganz der Tradition liegt darin, dass sie dem Einzelnen sagt, er wisse und könne immer weniger als sie selbst. Dieser Anspruch, phäno­ menal wohl zumeist in Form von Imperativen des Unterlassens oder des Befolgens auftretend, verweist mindestens mittelbar auf den Kumulations­ gedanken. Allerdings scheint dieser phänomenal zweitrangig. Auch zu fragen wäre, inwiefern Traditionen als Gehalt Wissen haben. Dem Betroffenen dürfte im Erleben dieser Umstand nicht präsent sein, dort treten Traditionen vielmehr als Bahnungen, als Einbettungen, als af­ fektive Bedeutsamkeiten auf. Der Wissenscharakter im erläuterten Sinne des empirisch Erprobten ist eine sekundäre Tatsache, keine unmittelbare. Für den Traditionsanhänger liefert Tradition Wissen womöglich, aber auf nicht-thematische Weise. Er ist, jedenfalls vor einer Distanzierung, ganz in ihr.195 Einzig die Differenz zu anderen Traditionen – früheren oder gleich­ zeitigen – liefert vielleicht einen Anlass, an die überlegene kumulative und empirische Kraft der eigenen Tradition zu glauben, aber auch das ist eher ein Sekundärphänomen. Anders sieht es jedoch dahingehend aus, wenn man meint, Traditionen speicherten Erinnerungen als eine Form des Gedächtnisses. Diese vor al­ lem von Aleida Assmann196 stark gemachte These besagt, dass Tradition für ein kulturelles Gedächtnis paradigmatisch stehen könne. Tradition und Erinnerung haben gemein, daß sie einen Bezug zur Vergangenheit unter­ halten, indem sie etwas Vergangenem eine Präsenz in der Gegenwart schaffen. Im Un­ terschied zur Erinnerung, die sich auf positive und negative Erfahrungen, auf Relevan­ tes und Triviales, auf subjektive und kollektive Daten beziehen kann, ist der Vergangen­ heitsbezug der Tradition grundsätzlich werthaft und verbindlich.197 194 

H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt 1983, S.  17. Darin liegt eine Parallele zum Denkstil (bzw. Paradigma), wie es in der Wissens­ soziologie verhandelt wird. 196  Jan Assmann hat dagegen Tradition in seinem Denken gerade vom (kollektiven) Gedächtnis abtrennen wollen, überhaupt einen eher negativen Blick auf diese als Ver­ formungen gehabt (vgl. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2005, z. B. S.  24–34). 197  A. Assmann: Zeit und Tradition. S.  8 8. 195 

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Assmann möchte sagen, dass Traditionen bestimmte – aus ihrer Perspekti­ ve mit spezifischen, zumeist politischen und identitätsspezifischen Interes­ sen verbundene – Vorkommnisse, Ereignisse, Daten und so weiter auswäh­ len und memorierend sichern. Dies geschieht auf eine besondere Weise, denn das Memorierte ist erstens kollektiv verortet, zweitens affektiv be­ deutsam und drittens mit starkem normativen Geltungsanspruch versehen. Was Assmann so herausstellt, ist phänomenologisch gut gesehen, denn ohne Zweifel ist es ein wesentlicher Punkt von Traditionen, etwas als vergangen sich Gebendes in irgendeiner Form zu wiederholen, zu reaktualisieren. Wenn Gedächtnis meint, etwas längst Vergangenes komme in der Ge­ genwart wieder vor, dann ist Tradition ein solches. Allerdings ist Tradition ein selektives und variierendes Gedächtnis, was ihren partiell konstrukti­ vistischen Einschlag verdeutlicht und worin die Theorien Hobsbawms und Noras zum Beispiel ihre Berechtigung finden.198 Für den in einer Tradition Stehenden erinnert ihn diese oft, aber nicht immer explizit an etwas Frühe­ res – Daten, Personen, Praktiken. Dieses Frühere, was es auch sei, hat dabei einen besonderen Stellenwert, vielleicht häufig Vorbildcharakter, ist jeden­ falls aber wohl notwendig beachtenswert. Die Rede von der Tradition als Gedächtnis trifft somit phänomenal zu, ist weniger sekundär als die gleichartige über das Wissen. Freilich bleibt dann zu klären, was Gedächtnis heißen soll, denn das Be­ sondere scheint ja zu sein, dass ein Gehalt implizit, mit langen Pausen der Bezugnahme auf ihn, fortbestehen kann. Wenn zum Beispiel eine spezifi­ sche Weise des Bearbeitens des für Streichinstrumente häufig verwendeten bosnischen Bergahorns immer weiter tradiert wird, liefert das fortwährend die Möglichkeit, sich auf das mit dieser Technik Verbundene  – sei es die 198 Überzeichnet wird die konstruktivistische Perspektive allerdings bei A. Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. S.  7, wo es heißt: „Erinnerungen sind keine objektiven Abbilder vergangener Wahrnehmungen, geschweige denn einer ver­ gangenen Realität. Es sind subjektive, hochgradig selektive und von der Abrufsituation anhängige Rekonstruktionen“. Erll unterscheidet nicht zwischen hermeneutischer Notwendigkeit (Anpassung an aktuelle Lage z. B.) und Konstruktion, was allerdings eine wichtige Differenz ist. Dass Erinnerungen selektiv und rekonstruktiv sind, steht außer Frage – auf individueller wie kollektiver Ebene –, aber sie sind keineswegs subjek­ tive (oder kollektiv-subjektive) Erfindungen, sondern Explikationsprodukte einer Aus­ einandersetzung mit der Vergangenheit, die selbst, was Erll übersieht, kein „objektives Urbild“ ist, sondern eben wesentlich durch Vagheiten, Ambivalenzen, Interpretations­ bedürftigkeiten gekennzeichnet war. Ebenfalls problematisch ist der Umgang mit dem Konstruktivismus-Konzept bei Hobsbawm und Nora (vgl. dazu die Behandlung Noras zuvor in Kap.  II.2.2 sowie die Hinweise bei S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. V. a. Kap.  3.19).

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kumulierte Erfahrung, sei es eine explizite theoretische Begründung, sei es der Erfinder  – zu beziehen. Nicht bei jedem derartigen handwerklichen Vollzug wird das Memorierte thematisch, so wie auch nicht mit jedem Weihnachtsfest zwingend an die konkreten Umstände Christi Geburt ge­ dacht werden muss. Was aber ist dann Gedächtnis, wenn man Tradition als eine Form desselben verstehen will? Man darf es wohl als dispositionellen Speicher verstehen, der etwas gleichsam vorrätig hält für einen explizieren­ den Zugriff. Schmitz hat dazu eine Idee entworfen, die davon ausgeht, dass Gedächtnis eine „erworbene […] [und] beharrliche Disposition zu einem […] wiederholbaren Verhalten im Dienste einer Aufgabe“199 ist. Wenn et­ was scheinbar vergessen wird – und vielleicht ist das Nicht-Thematisieren während gewisser Phasen auch eine Form des Vergessens –, dann wird es nicht verloren, sondern wechselt seinen phänomenologischen Status. Statt dass der Gehalt präsent ist, versinkt er im Meer des Unexplizierten, so wie ein einzelner Ton, der dem aufmerksamen Hören im Gesamtklang eines Musikstückes auffallen kann, bei Nichtbeachten zwar verschwindet, inso­ fern vergessen ist, aber der Zuwendung prinzipiell auffindbar bleibt.200 Ähnlich stellen Traditionen Gehalte bereit, die so gedächtnisartig der Reaktualisierung harren. Dabei kommt es selbstverständlich fortwährend zu Verlusten, wenn zum Beispiel eine Praxis oder eine Feierlichkeit auch auf Befragung (das heißt Explikation) hin nicht mehr angegeben können, was sie leisten, was sie legitimiert, was sie hervorbrachte, wofür sie da sind und so weiter. Diese defizitären Zustände ändern jedoch nichts daran, dass ­phänomenal Traditionen für den in ihnen Stehenden Gedächtnisqualität haben, insofern sie längst Vergangenes reaktualisierbar halten, und es ist sicher eine staunenswerte Leistung der Menschheit, dass sie aus Jahrtau­ sende zurückliegenden Zeiten bis auf die Gegenwart hin manches hat in diesem Sinne tradieren können, etwa in der Sinnflut-Geschichte der Bibel, wie auch immer deren realhistorischer Kontext genau zu datieren und zu lokalisieren sein mag.

2.6 Öffnung des Horizontes und Bahnung des Lebens Blickt man phänomenologisch auf Traditionen, fallen mehr noch als die vorhergehend behandelten Aspekte zwei besonders auf, nämlich die Bah­ 199  H. Schmitz: „Gedächtnis und Erinnerung in neophänomenologischer Sicht“, in: Integrative Therapie, Bd.  2/1998, S.  190–213, hier S.  190. 200  Vgl. dazu H. Schmitz: „Gedächtnis und Erinnerung in neophänomenologischer Sicht“. S.  201. Dahinter steht eine bestimmte ontologisch relevante Mannigfaltigkeits­ lehre, die hier jedoch nicht verhandelt werden kann.

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nungs- bzw. Öffnungsleistung und die Einbettungswirkung. Beiden soll sich im Rahmen des hier vorgelegten Versuchs gewidmet werden. Dass da­ bei Bahnung und Öffnung zusammen verhandelt werden, mag zunächst überraschen. Gemeinhin wurde die Bahnung, das heißt die Festlegung des – ursprünglich vermeintlich freien – Individuums auf bestimmte Wis­ sens-, Erkenntnis-, Sprech-, Denk-, Fühlens-, Handlungs-, Wertungs- und Wahrnehmungsweisen, 201 kritisch gesehen von denjenigen Ansätzen (vor allem im Nachgang der Aufklärung), die darin Beschränkungen sahen, also gerade keine Öffnung, sondern Schließung. Andererseits jedoch haben manche Theoretiker  – allen voran Rothacker, 202 Gadamer, 203 auch schon Herder204 – auf die weltöffnende Wirkung der Traditionsbahnungen hinge­ wiesen. Dieser Zusammenhang scheint der phänomenadäquate zu sein. Wenn nämlich Kritiker die Bahnungen der Tradition als Verengung be­ schreiben, so ist unbedingt phänomenologisch zu erörtern, ob dies über­ haupt noch Tradition ist. Hinter dieser Frage steht dabei keine bloße Be­ griffspolitik, sondern eine Unterscheidung auf Phänomenebene. Die nach­ vollziehbare Behauptung, etwas verenge den Möglichkeitsraum unzulässig, wirke oppressiv oder oktroyierend, trifft lebensweltlich nachvollziehbare Bestände – in der Gegenwart kann in dieser Hinsicht an das Zölibat, die Eheschließung für ausschließlich Heterosexuelle oder geschlechtsexklusive Gesangsvereine und deren Umstrittenheit gedacht werden. Allerdings ist es anscheinend so, dass das, was auf diese Weise wirkt, bereits explizit wird, distanziert und entfremdet erscheint. Phänomenologisch liegt sodann ein gewandeltes, neuartiges, anderes Phänomen vor, das man begrifflich unter­ scheiden sollte, indem man es – je nach Kontext – Dogma, Ideologie, (star­ re) Routine, historischen Ballast und so weiter nennt. Das suspendiert nicht die Möglichkeit, dafür einzutreten, dies Tradition zu nennen, 205 nur muss die erläuterte Differenz weiter mitbedacht werden, was in der Regel jedoch meist nicht geschieht. 201 

Diese Liste sähe je nach Bezugsautor anders aus, sie steht hier nur exemplarisch. Vgl. E. Rothacker: Philosophische Anthropologie. Z. B. S.  87, 185. Rothacker dif­ ferenziert Weltoffenheit, insofern sie nur abstrakt besteht, in concreto immer schon durch beispielsweise Traditionen eingehegt ist. 203  Vgl. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. S.  419 f. 204 Vgl. J. G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Z. B. S.  143, 226–229. 205  Damit soll auch gesagt sein, dass Phänomenologie nicht als „Begriffspolizei“ auf­ treten darf, aber sie muss darauf hinweisen können (mittels eigener begrifflicher Tren­ nungen), dass womöglich Unterschiedliches gemeint ist. Daher wird hier eine phäno­ male Differenz sprachlich abgebildet. 202 

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II. Phänomenologie der Tradition

Im Folgenden wird daher die phänomenologisch gestützte These vertre­ ten, dass Traditionen dem unmittelbaren Erleben nach eine Entfaltung und Vertiefung des Lebensraumes darstellen, ihre Bahnungen demnach öffnend wirken. Dafür liefert die leicht nachvollziehbare Erfahrung Anhalt, dass jemand, der in einer Tradition steht, durch diese in der Welt viele Dinge hat und bemerkt, die Traditionsfremden entgehen. Etliches davon sind sicher kulturelle Tatsachen derart, dass es sich um bestimmte Gedenk- oder Fei­ ertage handelt, aber auch um besondere Orte (zum Beispiel Geburtsorte von Heiligen), andererseits schließt das natürliche Tatsachen durchaus mit ein, wie etwa ein in der Geigenbau-Tradition Kundiger Bäumen deren Eig­ nung zur Verwendung ansehen oder ein Anhänger des Kubismus bestimm­ te Flächenverhältnisse an Naturformationen bemerken kann. Rothacker hat diesen Zusammenhang anhand der Scheinwerfer-Metapher beschrieben: Praktisch […] lebt der Mensch in einer Welt von Phänomenen, die er sich durch Schein­ werfer seiner Lebensinteressen aus der rätselhaften Wirklichkeit herausgeschnitten hat, d. h. er lebt in einer spezifisch menschlichen Umwelt, weil hier, so wie das Tier auf einen Bauplan und auf Triebe bezogen ist, auch beim Menschen Beziehungen da sind, Inter­ essen. 206

Ein solcher Scheinwerfer mit Interessenvorgriff sind Traditionen. Sie verstellen nicht eine an sich vorhandene Wirklichkeit, sondern holen aus dieser erst Relevantes, Bedeutsames hervor. Auf diese Weise bereichern sie die Le­ benswelten derjenigen, die in ihnen stehen.207 Diese Bereicherung hat dabei noch den zusätzlichen Effekt, dass sie insbesondere auch auf affektiver Ebene wirkt, so dass nicht nur Weltbestände hervorgeholt werden, sondern auch normative und emotional einschlägige Orientierungen auftreten.208 Dadurch hat sie Anteil am gelingenden Leben, sofern dieses auf Resonanz­ beziehungen aufbaut. Rosa hat zutreffend angemerkt, „dass es im Leben auf die Qualität der Weltbeziehung ankommt, das heißt auf die Art und Weise, in der wir als Subjekte Welt erfahren und in der wir zur Welt Stel­ lungen nehmen; auf die Qualität der Weltaneignung.“209 Wie sich Menschen 206 

E. Rothacker: Philosophische Anthropologie. S.  84. dazu E. Rothacker: Philosophische Anthropologie. S.  77, 83, wo Rothacker gegen Gehlens Reizüberflutungsthese behauptet, dass ein offenes Wesen gar nicht zu viel wahrnehmen würden, sondern gar nichts, weil ihm die strukturierenden Elemente (Kategorien etwa) fehlen. 208  Darin könnte ein signifikanter Unterschied zu einem traditionsfernen Wissen­ schaftsblick liegen, der auch interessebezogen Weltbestände hervorholt, ohne damit allerdings – jedenfalls der Idee nach – normative oder affektive Gliederungen zu impli­ zieren. 209  H. Rosa: Resonanz. S.  19. 207  Vgl.

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in der Welt und zur Welt verhalten und stellen können, bestimmt in erheb­ lichem Maße mit darüber, ob sie ein erfülltes, gelingendes Leben zu haben vermögen. Vier Weisen des Misslingens solcher Resonanzbeziehungen deutet Rosa an: Subjektverhärtung, Weltverlust, Weltstummheit und Welt­ chaos.210 Eine Subjektverhärtung liegt vor, wenn das Individuum sich selbst starr gegenüber der Welt verhält, diese nicht mehr zu einem Eigenrecht, welches für gelingende Kommunikation essentiell scheint, kommen lässt. Manch Dogmatiker oder Pedant mag – dem Typus nach – in diese Katego­ rie fallen. Keineswegs jedoch kann man phänomenal behaupten, Tradition per se falle darunter, denn diese setzt, wie erläutert, immer einen herme­ neutischen Adaptionsprozess voraus, der wechselseitig zu denken ist. Welt­ verlust liegt vor, wenn das Subjekt die Welt ganz und umfänglich über sich dominieren lässt, denn dann fällt ebenfalls die für resonante Verhältnisse wichtige Zweiheit der Pole aus. Eine gelingende Traditionsbeziehung setzt daher nicht ein aufgelöstes Subjekt voraus, was de facto ohnehin  – von frühkindlichen Prägungsphasen abgesehen – nicht der Fall sein kann, wie schon am Generationenkonflikt angedeutet. Für das Traditionsdenken wichtiger ist der Hinweis auf Weltstummheit, die darin besteht, dass die „Welt sich verdinglicht und verhärtet“211, wobei Rosa hier in den Spuren der Kritischen Theorie ein Motiv etablierter Kapitalismus- und Modernekritik aufgreift.212 Man kann aber das Verstummen auch so verstehen, dass damit auf den Umstand hingewiesen werden soll, dass die Welt nichts mehr zu sagen habe, weil es ihr an Tiefe und Bedeutung fehle. Dies tritt ein, wenn der Mensch alles seiner eigenen Verfügbarkeit unterwirft, alles selbst her­ vorbringt.213 Traditionen als das Nicht-Gemachte (im erläuterten Sinn) stiften hingegen gerade als Unverfügbares eine resonante Welt, indem sie 210 

Vgl. H. Rosa: Resonanz. S.  191 f. H. Rosa: Resonanz. S.  191. 212  Als Randbemerkung zu Rosas phänomenologisch sehr aufschlussreicher Perspek­ tive sei darauf hingewiesen, dass es für eine Kritische Theorie der westlichen (ökonomi­ schen wie kulturellen) Moderne dann aber mindestens interessant, wenn nicht bezeich­ nend ist, dass diese auf eine phänomenologische Ethik des gelingenden Lebens hinaus­ läuft. Eine solche Entwicklung lässt sich so lesen, dass die bestehende Gesellschaft nicht mehr primär aufgrund sozialer, wirtschaftlicher usw. Ungerechtigkeiten in den Blick kommt, auch wenn Rosa hinter Resonanzbeziehungen solche gesellschaftlichen Ursa­ chen am Werk sieht (vgl. H. Rosa: Resonanz. S.  70), sondern aufgrund der Defizite für die erfahrene Lebensqualität. Ob das eine Depotenzierung oder Steigerung des kriti­ schen Impulses darstellt, wäre zu prüfen. Vielleicht lässt sich überspitzt sagen, Rosas Perspektive ist im Grunde eine an der fortgesetzten Moderne depressiv gewordene Form der Kritik. 213  Vgl. entsprechende Hinweise bei H. Rosa: Unverfügbarkeit. Z. B. S.  43–58. 211 

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diese differenziert, affektiv bedeutsam strukturieren. Rosa selbst weist da­ rauf hin, dass „Dinge […] ihre Resonanzqualität […] aus ihrem Eingebet­ tetsein in das Lebens- und Weltganze, wie es dem erfahrenden und han­ delnden Subjekt gegenübertritt, [gewinnen].“214 Dazu zählt auch und vor allem die Geschichte, deren „Stimme oder Ruf es zu vernehmen und zu verstehen gilt […].“215 Solcherlei Entitäten wie Geschichte und Traditionen bieten eine nicht-stumme Welt, gestatten Erfahrungsfülle, steigern Lebensqualität. Damit hängt zusammen, dass sie Weltchaos verhindern, insofern eine ganz unstrukturierte Welt Resonanz ebenso sicher verhindert wie eine stumme, weil das Subjekt gar nicht weiß, wohin wenden. Vielleicht tendie­ ren deshalb Revolutionen dazu, wie festgestellt worden ist, selbst schnell wieder Traditionen auszubilden, nachdem sie die alte Weltordnung zerstört haben.216 In jedem Fall öffnen und bereichern Traditionen phänomenal die Lebenswelt und das Leben der in ihr Stehenden.217 Die eröffnende und weitende Leistung der Tradition betrifft, wie impli­ zit schon klargeworden sein dürfte, vor allem auch die zeitliche Dimension der Lebenswelt. Indem Traditionen immer einen Bezug zwischen Älterem und Gegenwärtigem und Neuestem herstellen, 218 vergrößern sie den Hori­ zont. Statt in der immer nur aktuellen oder jedenfalls sehr zeitnahen Um­ welt zu leben, steht dem traditionsgebundenen Menschen ein erweiterter Zeithorizont zur Verfügung. Eine solche „Zeithorizonterweiterung“, die durch die Einbettung des Menschen in lange, mindestens transindividuelle 214 

H. Rosa: Resonanz. S.  392. H. Rosa: Resonanz. S.  502. 216  Vgl. so O. Nahodil: Menschliche Kultur und Tradition. S.  149 f. Die Wirkungen solchen Chaos’ lassen sich als Unsicherheitssteigerungen lesen (wie dies auch Lübbe getan hat [vgl. H. Lübbe: Endstation Terror. Rückblick auf lange Märsche. Stuttgart 1978, S.  134]). Wenn Achim Peters mit seiner Analyse recht hat, dass Unsicherheit dazu führt, dass Menschen adipös werden (vgl. A. Peters: Unsicherheit. Das Gefühl unserer Zeit und was uns gegen Stress und gezielte Verunsicherung hilft. München 2018, z. B. S.  207–238), dann wäre es zumindest eine mögliche Perspektive auf das 20.  Jahrhundert, den häufig unterstellten Traditionsabbau und die zunehmende Verbreitung von Fettlei­ bigkeit zu korrelieren. 217  Sie könnten also insofern ein Korrektiv zur von Rosa unterstellten Resonanz­ feindlichkeit der Gegenwart sein, wenn sie sich denn restituieren ließen, was freilich, wie erläutert, aufgrund ihrer Unverfügbarkeit, Nicht-Machbarkeit unmöglich scheint. Rosa selbst hat (vgl. H. Rosa: Resonanz. S.  605) einen augenscheinlich negativ konno­ tierten Traditionsbegriff, diskutiert diese Möglichkeit daher nicht explizit. Dennoch steht zu behaupten, dass der hier entwickelte phänomenologische Traditionsbegriff sich sehr gut in Rosas Gegenwartsdeutung einfügen ließe. 218  Die zeitliche Reichweite kennt dabei gewisse Grenzen in beide Richtungen. Vgl. dazu schon Kap.  II.2.2 dieser Arbeit. 215 

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Geschehenszusammenhänge qua Tradition erfolgen kann, hat, folgt man Michael Großheim, zwei wichtige Entgrenzungen zur Konsequenz, sie wirkt „gegen das Gebundensein der Wirklichkeitserfahrung an die Gegen­ wart und gegen die Endlichkeit der Existenz“219. So gesehen erweitern Tra­ ditionen, indem sie Menschen in andere Kontexte als die nur jeweils aktu­ ellsten affektiv, normativ, epistemisch hineinstellen, es erfolgt ein Überschreiten der Gegenwart auf andere Möglichkeiten (wie sie zum Beispiel früher bestanden) und auf neue (wie sie nach dem individuellen Tod in Form traditionaler Kontinuierung bestehen mögen) hin. Solch eine Berei­ cherung durch Zeithorizonterweiterung gestattet einen kritischen Blick auf die nicht seltene These von den glücklichen „Naturvölkern“, die ganz im Hier und Jetzt leben  – ein noch in der Gegenwart auffindbarer rous­ seauistischer Topos. Über die Pirahã, ein Volk am Amazonas mit vermeint­ lich nahezu erstreckungslosem Zeithorizont, heißt es in diesem Sinne: Die Pirahã stellen schlicht und einfach das Unmittelbare in den Mittelpunkt ihrer Auf­ merksamkeit, und damit beseitigen sie mit einem Schlage gewaltige Ursachen von Be­ sorgnis, Angst und Verzweiflung, die so viele Menschen in den westlichen Gesellschaf­ ten heimsuchen. 220

Es mag sich mit den Vorteilen der Konzentration auf das Unmittelbare ver­ halten, wie behauptet, sicher ist jedoch, dass einer Kultur mit einem solchen Zeithorizont zugleich vieles fehlt. Das Unmittelbare, betrachtet durch eine Tradition, gewinnt an Tiefe, an Geschichtlichkeit, an lebensweltlicher Reich­haltigkeit. Ein verkürzter Zeithorizont bedeutet auch Lebensqualitätsverlust, wiewohl dieses Modell, weil es eben Sorgen zur Folge haben kann – Sorgen um das Fortbestehen der Traditionen, der Werte, des Wis­ sens, der Lebensweise, der Natur und so weiter –, die belasten.221 Solcherlei oft auch ungewolltes affektiv-praktisches Hineingezogenwerden ist die 219 

M. Großheim: Zeithorizont. Zwischen Gegenwartsversessenheit und langfristiger Orientierung. Freiburg, München 2012, S.  29. 220 D. Everett: Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas. Übers. v. S.  Vogel. München 2010, S.  399. Dass es sich bei den Pirahã um ein traditionsloses Volk handelt, ist aber mit Gründen zu bestreiten. In mindestens dreier­ lei Hinsicht gibt es nämlich lebensweltliche Bestandteile, die auf einen diachron er­ streckten Horizont hinweisen und somit an so etwas wie Tradition erinnern: die Spra­ che, gewisse konkrete Praktiken (Jagd, Fischen, Hausbau (Daniel Everett schildert z. B. im Detail die üblichen architektonischen Typen [vgl. ebd., S.  114–117]) und gerade auch hinsichtlich des verkürzten Zeithorizonts, der selbst auch nur besteht, weil er kulturell gestützt weitergegeben wird. 221 Dass der postmoderne „Spieler“-Typus als ungebundene Existenz daher ganz notwendigerweise auch jede Zeitorientierung über das unmittelbar Gegenwärtige hin­ aus abschafft, ist nur konsequent, wenn auch, wie hier dargelegt wird, potentiell lebens-

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phänomenologisch aufschlussreiche Kehrseite der weltöffnenden Leistung. Gäbe es die Öffnung nicht, bräuchte man sich auch keine Sorgen zu machen. Der herausgestellte Aspekt der Öffnung ist zudem deshalb besonders be­ tonenswert, weil die gelegentlich vorgebrachte These, ein Einstimmen in Traditionen sei ein Bejahen des Aktuellen, 222 übersieht, dass diese qua Ho­ rizonteröffnung gerade auch zum Abfall vom Bestehenden führen können. Traditionen können Widerstandsreserven bieten für alternative Lebens­ wege und alternatives Menschenmögliches. Das gilt auf kollektiver wie in­ dividueller Ebene, denn nicht nur können sich Kulturen auf Alternativen besinnen – vielleicht sind Renaissancen so zu lesen 223 –, sondern auch Indi­ viduen. Und womöglich sind Traditionen unerlässliche Abstoßungspunkte auch für das Herausbilden des je Eigenen.224 Rosa hat darauf hingewiesen, dass es zu keiner gelingenden Resonanz kommen kann, wenn das Subjekt selbst vollständig die Welt akzeptiert. Ein sinnvolles Traditionsverhältnis setzt eben, so kann man im Sinne des hier verfolgten Ansatzes sagen, eine adäquate hermeneutische Beziehung voraus, die beinhaltet, dass das Sub­ jekt in seinem Eigenrecht ebenfalls Stellung bezieht. Dann wird Tradition als Kontrastfolie zur Herausbildung des Selbst, das keine creatio ex nihilo sein kann, 225 eine conditio sine qua non gelingender Selbstwerdung. Das Vorstehende diente dem phänomenologisch geerdeten Versuch, Ei­ genarten der phänomenal auftretenden Tradition herauszustellen, insbe­ sondere den Umstand, dass diese, anders als oft behauptet, gerade nicht verengend wirkt, sondern möglichkeitseröffnenden und weltvertiefend. Zugleich aber bahnt sie. Was heißt hier Bahnung? Traditionen geben dem weltverarmend. Vgl. dazu Z. Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zur postmodernen Lebensform. Übers. v. M. Suhr. Hamburg 1997, S.  49. 222  Dahinter steht zumeist die Behauptung, Traditionen seien unhintergehbare, opa­ ke, dominante Ideologie. Dabei werden Traditionen also als Entitäten mit maximal gro­ ßem Umfang gedacht. 223  Diese Lesart von Renaissancen findet sich z. B. bei B. Snell: „Tradition und Geis­ tesgeschichte (Vom Wandel der Symbole)“. S.  345 und P. Sloterdijk: Eurotaoismus. S.  86. Kritisch gegen die Renaissance, insofern diese vielmehr Tradition beendet habe und auf Neues hin orientiert gewesen sei, R. Guénon: Die Krise der modernen Welt. S.  28 und J.  Pieper: Überlieferung. S.  13. 224  Vgl. dazu A. Mitscherlich: „Pubertät und Tradition“, der die biographisch wich­ tige Rolle bestehender, zur Orientierung noch in der Differenz relevanter Traditionen entwicklungspsychologisch betont. 225 Taylor hat auf das moderne „desengagierte Selbst“ hingewiesen, dem es gelingen soll, sich aus allem zurückzuziehen und ganz aus sich selbst alles (sich und die Welt) vernünftig zu bestimmen (vgl. C. Taylor: Quellen des Selbst. S.  47, 202, 292, 296, 309, 316, 343 ff., 569). Dagegen setzt das traditionsengagierte Subjekt in der Selbstwerdung sozusagen auf engagierte Selbstfindung durch verortendes Verhalten.

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Menschen Orientierung, und zwar, wie schon mehrfach verdeutlicht, auf unterschiedlichsten Wegen und in unterschiedlichsten Bereichen. Auf diese Weise wird durch sie mindestens nahegelegt, wenn nicht sogar mitunter determiniert, was ein Mensch wie zu tun, zu denken, zu fühlen habe. Dies ist phänomenal nicht zuerst defizitär erlebt, sondern als einbettende Siche­ rung. Ein in einer Tradition Stehender sieht gleichsam Wege und Möglich­ keiten, weil sich ihm die Welt strukturiert. Die Bahnungen als Einengun­ gen zu verstehen, setzt immer schon eine alternative Weltperspektive vor­ aus, was wiederum bedeutet, dass eines der beiden Traditionskonzepte im hier gemeinten Sinne schon keines mehr ist (vielleicht sogar beide nicht mehr, denn es war bereits angesprochen worden, dass eine freie Auswahl unter Traditionen aus phänomenologischer Sicht ein seltsamer Gedanke ist). Die Relevanz der Bahnungen haben aus einem funktionalistischen Sinn die Ritter-Schüler herausgestellt, als sie die kompensatorische Wir­ kung der Tradition im Angesicht der unter den Bedingungen der Moderne und ihrer Beschleunigung zunehmenden Entsicherungen von Orientierun­ gen lobten.226 Aus der phänomenalen Sicht heraus liefern Traditionen daher feste Bezugspunkte für Verhaltensweisen, Bewertungen, aber auch für ko­ gnitive Hypothesen und so weiter, die dem Subjekt nicht vieles vorenthal­ ten, sondern es überhaupt situieren und ihm so vieles erst ermöglichen. Das bahnungslose tabula rasa-Subjekt, die entsituierte Vernunft, 227 ist aus phä­ nomenologischer wie hermeneutischer Sicht eine falsche Vorstellung, wes­ halb auch die Tradition nicht per se, sondern nur je konkret und einzeln in Frage zu stellen ist. Bahnungen sind in erster Linie welt- und möglichkeitserschließend, und erst, wenn die Tradition als Tradition durch Entfrem­ dung und Distanzierung bereits phänomenal ihren Charakter verändert, wird aus Bahnung Verhinderung oder Verunmöglichung.

2.7 Einbettung des Individuums Das wichtigste Merkmal der Tradition, wenn man der Perspektive der ers­ ten Person folgt, ist ihre einbettende Wirkung. Die Person, die in einer Tra­ dition steht, wird von dieser in phänomenal auffälliger Weise situiert. Aus diesem Umstand lassen sich zahlreiche zentrale Beobachtungen erklären. So spricht Nora zum Beispiel von der „Wärme der Tradition“228 , was zu­ 226  Vgl. dazu als eine von vielen Belegstellen H. Lübbe: „Gegenwartsschrumpfung“. S.  288–292. 227  Gegen diese argumentiert auch C. Taylor: Quellen des Selbst. S.  572. 228  P. Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Übers. v. W. Kaiser. Berlin 1990, S.  11.

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nächst wie eine bloße Metapher klingt, aber bei genauerer Betrachtung auf die einhegende, erlebbare Leistung der Traditionen verweist. Indem sie den Menschen Bahnungen geben, sie situieren und so orientieren, wird das nicht festgestellte Tier im Sinne Friedrich Nietzsches229 – immer veränder­ bar, aber relativ stabil – bestimmt. Durch die Festsetzung wird jedoch nicht nur, und vielleicht nicht einmal in der Hauptsache, kognitiv eine Verortung möglich, sondern noch basaler affektiv. Tradition ist in diesem Sinne Heimat, ein Begriff, dessen nostalgischer, womöglich konservativer Anklang problematisch scheint, der aber hier wertneutral Anwendung finden soll, um die Einbettungsqualität zu erläutern.230 Dass man Tradition als Heimat verstehen kann, ist in der Literatur öfter explizit betont oder wenigstens implizit der Sache nach bemerkt worden. So schreibt Hannah Arendt: Erziehen tun wir im Grunde immer für eine aus den Fugen geratene oder geratende Welt, denn dies ist die menschliche Grundsituation, in welcher die Welt von sterblichen Händen geschaffen ist, um Sterblichen für eine begrenzte Zeit als Heimat zu dienen. Weil die Welt von Sterblichen gemacht ist, nutzt sie sich ab; und weil sie ihre Bewohner dauernd wechselt, ist sie in Gefahr, selbst so sterblich zu werden wie ihre Bewohner. Um die Welt gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muß sie dauernd neu eingerenkt werden. 231

Mittels Tradition wird die Heimat gleichsam gegen den Wandel ihrer Ein­ wohner am Leben erhalten, wofür Erziehung die Weise der Übermittlung darstellt. Diese heimatliche Verortung, von Arendt vor dem Hintergrund der heideggerschen Anthropologie gedacht, leistet im vorgestellten Sinne Bahnung und Orientierung. Wenn Heimat richtig beschrieben ist als „die Sehnsucht des Menschen, als geschichtliches Wesen, das er immer bleibt, einen Platz innerhalb des geschichtlichen Geschehens und der geistigen Überlieferung zu finden“232 , dann dient Tradition in diesem Sinne, sie weist 229  Vgl. F. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral (Sämtliche Werke. Kritische Studien­ ausgabe. Bd.  5). Hrsg. v. G. Colli, M. Montinari. Berlin, New York 1999, S.  367. 230  Richtig weist Michael Beintker (vgl. M. Beintker; „Tradition VI. Dogmatisch“. S.  720) darauf hin, dass die Tradition in ihren Wirkungen ambivalent erscheint. Einer­ seits berge sie als Heimat, andererseits enge sie – oft autoritativ – ein. Im Rahmen der hier verfolgten Phänomenologie der Tradition wird aber zunächst der nicht defizitäre Modus als genuine Tradition betrachtet, wie schon erklärt. Daher steht zu vermuten, dass der problematisch gewordene, bedrückende Eindruck der Heimat schon einen ver­ änderten Zustand betrifft, in welchem sich am Phänomen etwas gewandelt hat. 231  H. Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hrsg. v. U. Ludz. München 1994, S.  273. 232 G. Pfafferott: „Geschichtlichkeit und Selbstbestimmung. Zur Herkunft und Leistung des historischen Bewußtseins“, in: W. Kluxen (Hrsg.): Tradition und Innova-

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dem Menschen in einer Umwelt, die kognitive, affektive, praktische und normative Dimensionen hat, einen Platz an und bettet ihn in allen vier Hinsichten ein. Dass Tradition so gesehen werden muss, wurde auch im Kontext einer Kritik an der vermeintlich traditionsvergessenen Moderne betont, indem dort der neue Menschentypus als der genuin heimatlose ver­ standen scheint, wovon die postmodernen „Touristen“, „Flaneure“ und „Nomaden“ nur die letzten, heutigen Formen sind.233 Wilhelm Röpke etwa charakterisiert den neuen Menschen als „geistig heimatlos und moralisch schiffbrüchig geworden […]“, seine „Fähigkeit […] zur Pflege der überlie­ ferten Kulturwerte“ sei aufgelöst.234 Dagegen will Röpke die „Impondera­ bilien“ vermehren, worunter unter anderem „die Kontinuität, die Tradi­ tion, das Geschichts- und Heimatgefühl, d. h. all das, was die Gemeinschaft in den Herzen der Menschen verankert“235 , zu verstehen sind. Und auch die noch immer sehr lesenswerte, vielleicht maßgebliche Studie von Kurt ­Stavenhagen bindet Traditionsverlust an Entbettung aus Gemeinschaft, wogegen die Heimat als eine Form dieser von ihm hochgehalten wird.236 Einbettende Heimat als Tradition versteht er dabei so: „Ein Traditionskreis ist dann konstituiert, wenn geistige Inhalte, gefühlsmäßige oder begrifflich ausdrückliche Meinungen ethischer, ästhetischer oder technischer Art in einer Gruppe von Personen gültig sind […].“237 Dies deckt sich mit dem, was zuvor hier vorgestellt wurde. Folgt man dem Gedanken, so wird echte und „kollektive“ Einsamkeit nur dort möglich, wo Traditionen, wie es Hel­ muth Plessner für Deutschland herauszustellen meinte, nicht mehr stark und fraglos genug sind, 238 wo die Einbettung gestört scheint. Der Bezug zur Tradition darf jedoch, selbst im Zustand nicht bestehen­ der Entfremdung von ihr, nicht übermäßig harmonistisch verstanden wer­ tion. XIII. Deutscher Kongreß für Philosophie Bonn 24.-29. September 1984. Hamburg 1988, S.  27–35, hier S.  34. 233  Zu diesen postmodernen Persönlichkeits-Typen vgl. Z. Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen. Z. B. S.  140–160 und H. Hastedt: Moderne Nomaden. Erkundungen. Wien 2009, z. B. S.  55–59. 234  W. Röpke: Jenseits von Angebot und Nachfrage. Stuttgart 1958, S.  26. 235  W. Röpke: Jenseits von Angebot und Nachfrage. S.  197. 236  Dies zeigt Parallelen zur zuletzt publizistisch erfolgreichen Begriffsopposition von „Anywheres“ und „Somewheres“, wobei die Anywheres keine einbettenden Tradi­ tionen haben, die Somewheres dagegen ganz konkrete solche (vgl. dazu D. Goodhart: The Road to Somewhere. The Populist Revolt and the Future of Politics. London 2017, z. B. S.  4 f.). 237  K. Stavenhagen: Heimat als Lebenssinn. S.  117. Vgl. zu dem Komplex von Heimat und Tradition auch ebd., S.  8 f., 65, 115–118. 238  Vgl. H. Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit des bürgerlichen Geistes. Frankfurt 1974, S.  102 f.

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den. Dagegen spricht die Erfahrung, dass Traditionen immer auf die je ei­ gene Lebenswirklichkeit bezogen werden müssen, und der Umstand, dass diese Ansprüche stellen. Sie fordern vom Subjekt etwas – die Befolgung von Regeln, die Ausführung von Praktiken und so weiter  –, das häufig nicht den unmittelbaren Interessen und Bedürfnissen desselben entspricht, son­ dern als das Umwegige, Fernliegende, Unbequeme eine Vertikalspannung im Sinne Sloterdijks erzeugt. Traditionen zeitigen einen Verpflichtungs­ charakter, nötigen in gewissem Sinne exigent.239 Die Einbettung meint da­ her nicht, dass Traditionen als das ganz Selbstverständliche, Eigene gar nicht mehr explizit auffallen. Manchmal ist dies, etwa auch bei Stavenha­ gen, so gedacht worden, indem Tradition als Gemeinschaftsphänomen qua­ si-natürliche Merkmale erhielt, wodurch sie unauffällig wurde. Phänomen­ al ist dies aber fraglich, denn wiewohl nicht jedes traditionale Moment die Auffälligkeit der katholischen Messe oder der Echternacher Springprozes­ sion haben muss, scheint es plausibel, anzunehmen, dass eine völlige Un­ auffälligkeit, affektive wie normative Beiläufigkeit ihr im Erleben nicht gerecht wird. Tradition ist, was – ohne entfremdend zu wirken – noch in der Einbettung unbequeme Ansprüche stellen kann. Es ist phänomenologisch so, dass die Anspruchsmöglichkeit auf die Einbettung notwendig verweist. Das entsituierte Subjekt vermag die Ansprüche gar nicht mehr als solche zu bemerken, sie werden ihm schon zu etwas anderem – Angebote, Optionen, Zwänge, vielleicht auch Spinnereien oder schlechte Ideologie. Einbettung bedeutet nicht Harmonie, sondern eine in sich selbst durchaus spannungs­ reiche Beziehung zwischen Tradition und Subjekt, die aber gewisse Distan­ zierungsgrenzen nicht überschreiten kann, ohne zerstört zu werden. Aus diesem Grund ist es phänomenologisch adäquat, dasjenige Phänomen, wel­ ches häufig „Tradition“ genannt wird, aber den schon defizienten Zustand darstellt, indem aus Einbettung Oktroyierung geworden ist, sachlich zu unterscheiden und – der Klarheit halber – nicht so zu benennen. Einbettung durch Tradition bedeutet demnach, in eine praktische, normative, affektive und kognitive „Landschaft“ eingebunden zu sein, die demjenigen, der so situiert wird, nicht gleichgültig ist, ihm etwas sagt und von ihm etwas verlangt, ohne dass dies in grundlegender und dauerhafter Form als problematisch erscheint. Das schließt explizit phasenweise und partielle Entfremdungszustände nicht aus, wie der Hinweis auf die Un­ möglichkeit vollkommener Harmonie verdeutlichte. Wie aber lässt sich die 239 

Vgl. als eine solche Stimme für christliche Traditionen E. Herms: „Tradition VI. Dogmatisch“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd.  8 . Tübingen 2005, Sp.  511–517, hier Sp.  513.

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Einbettung philosophisch verstehen? Ein sinnvolles theoretisches Angebot dafür ist der Situationsbegriff.240 Diesem zufolge ist eine Situation ein in sich gegliedertes, aber nicht eineindeutig bestimmtes Phänomen, in das Menschen auf verschiedenste Weise und in verschiedenster Hinsicht gera­ ten können. Der Begriff dient dabei dem Zweck, die Philosophie von ihrer Konzentration auf künstliche Laborbedingungen der Er­ kenntnis und ihrer Orientierung am Modell der kontrollierbaren Kontaktaufnahme einzelner isolierter Körper abzubringen und zu den Unübersichtlichkeiten des ge­ wöhnlichen Lebens zurückzuführen. 241

Eine sinnvolle phänomenologische Theorie der Situation in diesem Sinne hat Schmitz entwickelt. Er definiert eine Situation anhand von drei Merk­ malen, der Ganzheit („Zusammenhalt in sich und Abgeschlossenheit nach außen“), der Bedeutsamkeit („wodurch das Ganze gleichsam etwas zu sa­ gen hat“) und der Binnendiffusion („nicht alles, was […] darin vorkommt, [ist] einzeln […]“).242 Eine Situation hängt in bemerkbarem, aber sicher nicht immer letztbestimmtem Sinn in sich zusammen und unterscheidet sich von anderen. Eine Freundschaft zum Beispiel ist eine solche Situation, die irgendwie eine integrale Einheit bildet, ohne dass die Beteiligten sagen könnten, worin sie genau besteht und wann sie (nicht zeitlich, sondern sachlich) endet. Zudem unterscheidet sie sich von anderen Freundschaften (und noch vielen andersartigen Situationen). Dabei ist sie bedeutsam in der Hinsicht, dass sie Orientierungen vorgibt, Dinge in der Welt heraushebt, andere vergleichgültigt, auf defizitäre Zustände („Ich habe mich lange nicht mehr gemeldet.“) oder auf zu Tuendes hinweist („Ich sollte einmal wieder anrufen!“). Tradition kann in dieser Weise als Situation verstanden werden, was freilich noch genauer zu spezifizieren wären. Schmitz liefert eine komplexe Situationsontologie, die solche Vorkomm­ nisse in vier Hinsichten unterscheiden hilft. Er kennt gemeinsame oder persönliche, aktuelle oder zuständliche, impressive oder segmentierte so­ wie includierende oder implantierende Situationen.243 Traditionen können keine persönlichen Situationen sein, wie schon zuvor – im Unterschied zu

240 

Zu diesem vgl. generell M. Großheim: „Erkennen oder Entscheiden. Der Begriff der ‚Situation‘ zwischen theoretischer und praktischer Philosophie“, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, Bd.  1 (2002), S.  279–300. 241  M. Großheim: „Erkennen oder Entscheiden“. S.  282. 242  H. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. S.  21. 243 Zu diesen Differenzierungen vgl. H. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. S.  22–27. Das Verhältnis der vier vorgestellten Dichotomien zueinander bleibt unthema­ tisiert, weil es sachlich irrelevant ist für das aktuelle Erkenntnisinteresse.

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II. Phänomenologie der Tradition

neurotischen Zwangshandlungen 244 – erklärt, sie sind notwendig kollektiv, selbst wenn sie tatsächlich gerade nur eine Person realisieren sollte. Die Un­ terscheidung zwischen aktuellen und zuständlichen Situationen berührt die Frage, ob eine Situation sich immerzu ändert oder ob es „längerer Fris­ ten bedarf, um den Stand der Situation zu zwei Zeiten zu vergleichen und eventuelle Abwandlungen festzustellen.“245 In dieser Hinsicht bilden Tra­ ditionen offensichtlich Zustände, keine Aktualitäten, denn ihre Verände­ rung kann nicht in jedem beliebigen Zeitintervall festgestellt werden, son­ dern bedarf gewisser diachron ausgedehnter Intervalle. Das unterscheidet sie zum Beispiel von einer konkreten Situation wie der einer Theatervor­ stellung, bei welcher es schon Sinn hat, vielleicht in Sekunden- oder Minu­ tenabstand nach Veränderungen zu fragen, was für Traditionen nicht gilt. Freilich ist der Spielraum des Intervalls, des Zustandes also, groß. Bei man­ chen dürften wenige Monate oder vielleicht Jahre genügen – Fantraditionen von Sportvereinen womöglich  –, bei anderen nur übergenerationelle Zeitrahmen – Religionen stehen dafür exemplarisch vor Augen. Die Unter­ scheidung zwischen impressiven und segmentierten Situationen wiederum verweist darauf, dass manche von ihnen unmittelbar, gleichsam mit einem Schlag vor Augen stehen können, andere nur im diachronen Verlauf sich offenbaren. Für Traditionen gilt phänomenologisch, dass sie beides sein können, aber schwerpunktmäßig zu den segmentierten gehören. Je nach Umfang ist es mehr oder weniger denkbar, dass sich eine Tradition mit ei­ nem Male – wohl nur vorübergehend – zeigt, wie vielleicht ein Gläubiger während einer Messe einen solchen fast epiphanischen Moment zu haben vermag.246 In der Regel aber sind sie segmentierte Situationen, da sie nie vollständig zum Vorschein kommen können, sondern nur partiell. Im Hin­ blick auf die letzte Dichotomie, derjenigen von implantierend und includie­ rend, ist die Sachlage phänomenologisch eindeutig. Implantierende Situati­ onen sind solche, die das Subjekt in sich auf die Weise aufnehmen, dass ein Hinaustreten nicht ohne Aufwand, häufig nicht ohne Trennungsschmerz möglich ist, während includierende den Einzelnen bloß auf affektiv wie normativ neutrale Weise in sich integrieren.247 Folgt man der bisherigen Analyse, ist klar, dass entfremdete Traditionen sich dadurch auszeichnen, 244 

Vgl. dazu in dieser Arbeit Kap.  I, Fußnote 86. H. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. S.  26. 246 Dann bilden Traditionen sogenannte „Plakat-Situationen“ aus (vgl. dazu H.  Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. S.  25). 247 Schmitz’ Theorie bildet, so gesehen, den allgemeinen Rahmen aus für Tönnies’ parallele Unterscheidung auf soziologischem Gebiet zwischen Gemeinschaft und Ge­ sellschaft, denn Gemeinschaft wird in gleicher Weise als bindend-integrativ, Gesell­ 245 

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dass sie häufig includierenden Charakter haben, was auch für die Vorstel­ lungen gilt, die Traditionsbindung als Wahl verstehen. Das Sprung-Motiv, also der willentliche und der Tendenz nach übermächtige Entschluss zu etwas, kompensiert diesen Umstand und versucht, so gesehen, ein Inclusi­ onsmoment herzustellen.248 Phänomenal zeichnen sich Traditionen eindeu­ tig durch ihre Implementierungsleistung aus, sie betten das Individuum stabil ein, so dass dieses nicht ohne Weiteres aus ihnen heraustreten kann, worauf gleich noch als Testkriterium zurückzukommen sein wird. Aus der phänomenologischen Ontologie ergibt sich insgesamt als Bestimmung, dass Traditionen gemeinsame, segmentierte, zuständliche Situationen sind, die gelegentlich, aber eher selten als impressive Situationen auftreten. Indem Menschen so in Situationen geraten, 249 werden sie orientiert. Es wird auf diese Weise vermittelt, was in der Welt der Fall ist, was gut, was schlecht, was zu tun, was zu lassen ist, aber auch, was wahrgenommen wer­ den kann oder was als erstrebenswert gilt. Insbesondere haben die Situati­ onen Rückwirkungen auf den Affekthaushalt der Person. Schon Sigmund Freud hatte auf die bindend-zwingende Kraft der Tradition hingewiesen, 250 andere Theoretiker sprechen von einer affektiven Verinnerlichung.251 Traditionen binden affektiv ein, was sich daran zuvorderst zeigt, dass eine Trennung von ihnen schmerzhaft im Sinne eines Auftretens negativ kon­ notierter Gefühle ist. Wer aus ihnen herausgeholt wird, erlebt dies als qua­ si traumatisches Ereignis. Insbesondere wäre an Zustände von ungewollter Migration  – sei es durch Kriege, Naturkatastrophen und so weiter  – zu denken, die zugleich auch häufig ein Heraustreten aus manchen lokal ge­ bundenen Traditionen darstellt. Umgekehrt ist so ein phänomenales Test­ kriterium ableitbar, wonach das, woraus jemand ohne derartige Schmerzen treten kann, nicht mehr im hier verfolgten Sinne eine Tradition wäre. Da­ mit scheidet vermutlich der schon behandelte Fall des Rechtsfahrgebotes schaft als neutral-aggregierend verstanden (vgl. F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Z. B. S.  3 ff.). 248 Jaspers hat das phänomenologisch erfasst. Er schreibt: „In […] [einer] Grenzsitua­ tion ist die Unruhe, daß noch bevorsteht, was ich selbst entscheide; in ihr ist die Frei­ heit, Gegebenes zu übernehmen dadurch, daß ich es zu eigenem mache, als ob es gewollt sei.“ (K. Jaspers: Philosophie II. S.  209). In dem „als ob es gewollt sei“ liegt die Differenz zwischen Inclusion und Implantierung verborgen. 249  Es sei darauf verwiesen, dass Rothackers Konzept der Lage in vielerlei Hinsicht eine Parallele bildet. Vgl. dazu E. Rothacker: Geschichtsphilosophie. München, Berlin 1934, v. a. S.  4 4–55. 250  Vgl. S.  Freud: „Der Mann Mose und die monotheistischen Religionen“. S.  5 48. 251  Vgl. U. Oevermann: „Soziologische Überlegungen zum Prozess der Tradierung und zur Funktion von Traditionen“. S.  13.

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(in der Regel jedenfalls) aus, denn obwohl aus Gewohnheit gewisse affek­ tive Vertrautheitsbeziehungen bestehen, scheinen die bei Abschaffung auf­ tretenden Gefühle nur bedingt als schmerzhaft im phänomenalen Sinne charakterisierbar.252 Auch eher keine Tradition stellen dann sehr allgemei­ ne, mit großem Umfang daherkommende Zusammenhänge dar wie „die westliche Welt“ oder ähnliches, denn diese scheinen so abstrakt, dass ein starker affektiver Bezug eher die Ausnahme als die Regel sein dürfte. Es handelt sich vermutlich um includierende Situationen mit stärker hervor­ stechendem Konstruktionscharakter. Andererseits können sehr kleine, ­lokal gebundene Lebensweltbestände Traditionscharakter haben, Einbin­ dung in Vereine etwa. Wichtig ist, dass nicht jede Form der so verdeutlich­ ten Implantierung in Situationen Traditionen darstellen, sondern die zuvor genannten Aspekte sind als weitere Bestimmungen hinzuzudenken, denn selbstverständlich kann man auch in die Situation einer Geburtstagsfeier so eingebunden sein, dass man dort nicht fort will, aber dieser fehlt dann zum Beispiel die diachrone Erstreckung. Zugleich erklärt dieses Kriterium, was den hier phänomenologisch ent­ wickelten Begriff von solchen unterscheidet, die Wählbarkeit, Reflexion und Distanz im Verhältnis zu Traditionen unterstellen.253 Wer sich so aus diesen herauszustellen vermag, ist, zumindest der Tendenz nach, gar nicht mehr in der Lage, die zum Kriterium erhobenen Gefühle zu haben. In Grenzen ist selbstverständlich Reflexion auf und Distanzierung von ihnen möglich, aber ab einem gewissen, nicht genau angebbaren Maß liegt jedoch phänomenologisch etwas Neues vor. Wählbarkeit hingegen scheint mit der Einbettung im erläuterten Sinne schwer vereinbar, denn das würde heißen, keine der Optionen ist so bedeutsam, dass deren Nicht-Wahl Schmerzen bereitet. Höchstens in Extremsituationen, bei denen zwischen zwei Tradi­ tionen – der der eigenen Familie oder der der eigenen Religion 254 – zu ent­ scheiden ist, ließe sich Wählbarkeit mit Traditionalität vielleicht vereinba­ 252  Im Einzelfall mag es aber durchaus vorkommen, dass mehr als nur eine Gewohn­ heit vorliegt, dass das Rechtsfahrgebot für jemanden eine Tradition darstellt. Gleich­ wohl greift dann zusätzlich der Hinweis auf die Kollektivität einer Tradition, weshalb ggf. derjenige auch als pathologischer Zwangshandelnder betrachtet werden kann, ins­ besondere dann, wenn der Rest der entsprechenden Gesellschaft sich ohne Weiteres vom Gebot verabschiedet. 253  Vgl. als Vertreter solcher Positionen K. Jaspers: Philosophie II. S.  180 f. (Wahl) oder P. Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen. Frankfurt 1980, S.  40 (Distanz, Be­ obachterperspektive). 254  Dies scheint für die christliche Religion eine wichtige Opposition in ihrer Entste­ hungszeit gewesen zu sein, denn in der Bibel gibt es viele entsprechende Passagen, in denen sich zu Gott und gegen die Familie bekannt werden muss. Vgl. zu diesem Motiv

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ren. Generell bedeutet Einbettung eine Minimierung der Distanz. Auch verständlich werden so die lebensgeschichtlich unterschiedlichen Verhält­ nisse zu Traditionen, denn während die Pubertät für Menschen wohl allge­ mein eine Phase der Distanzierung darstellt (und Traditionen dann ent­ sprechend biographisch in Gefahr geraten), stellt das Alter eine Phase dar, in der Distanzierung  – aus welchen Gründen auch immer  – seltener und schwieriger wird, zudem biographisch die Einbettung vielleicht gerade ge­ sucht oder doch festgehalten wird. Der letzte Fall illustriert zudem gleich­ falls en passant, warum Traditionen nicht gemacht werden können, denn die Einbettung ist als eine Unverfügbarkeit im Sinne Rosas zu charakteri­ sieren. Schon im Fall einer aktuellen Situation wie einem Musikkonzert ist das Zustandekommen der einbettenden, resonanten Beziehung nicht von der Intention darauf abhängig.255 Es kann – häufig phänomenal gerade des­ halb, weil man es will – trotz bester Vorbereitung scheitern. Gleiches gilt für die Einbettung in Traditionen, sie ist nicht beliebig willentlich herstell­ bar, wie die Problematik des Sprungs nach Kierkegaard und Jaspers oder die Figur des unglücklich Verliebten nach Wittgenstein andeuten. Gerade deshalb ist aus dezidiert phänomenologischer, nicht-funktionalistischer Sicht das Votum Lübbes und Marquards verständlich, dass diejenigen Tra­ ditionsbestände, die es noch gibt, zu bewahren sind. Wenn sie nicht her­ gestellt werden können, ist es unsicher, vielleicht fraglich, ob deren Ver­ schwinden je auszugleichen ist.256 Neben der einbettenden affektiven Wirkung zeigen Traditionen auch eine solche in identifikatorischer Hinsicht. Krüger meint: „Der Mensch fin­ det in der Tradition immer schon vor, was er zu sein hat: sonst verlöre er sich selbst und seine Identität; sonst könnte er ‚sich‘ auch nicht einmal ver­ ändern. Im Wörtchen ‚sich‘ steckt das Wesen und die Tradition.“257 Indem ein Mensch in eine Situation eingebettet ist, gibt diese ihm Normen, Werte und so weiter vor, die annehmend er sich selbst vereindeutigt. Das heißt selbstverständlich nicht (und wäre zudem kontrafaktisch), dass diese Iden­ P. Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne. Berlin 2014, S.  278–311. 255  Vgl. dazu H. Rosa: Unverfügbarkeit. S.  43 f. 256  Eine andere Frage ist, ob das Verschwinden ausgeglichen werden muss. Postmo­ derne Typen wie „Touristen“ usw. scheinen anzudeuten, dass ein Leben ohne Tradition im hier verhandelten Sinne für den erwachsenen Menschen  – nicht das Kind, wahr­ scheinlich auch weniger für den Älteren – zumindest nicht unmöglich scheint. Aller­ dings sind dahingehend zwei Fragen zu klären: Kann der „Tourist“ dies zeitlebens durchhalten und hat er nicht gewisse Verluste? Für letzteres plädieren die Kritiker der bindungslosen, resonanzlosen Moderne wie Taylor oder Rosa. 257  G. Krüger: Geschichte und Tradition. S.  2 3.

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tität unumstößlich ist, sondern nur, dass sie zunächst gegeben ist und se­ kundär zum Gegenstand der Arbeit an ihr werden kann. Die identifika­ torische Wirkung funktioniert stärker auf kognitiver Ebene, indem auf Zuordnungen, Kategorisierungen, vielleicht auch Vorurteile im Sinne Gadamers Bezug genommen und sich zu ihnen verhalten wird. Vielleicht verhält es sich sogar so, dass die Identifikationsarbeit auf der affektiven Einbettung als einem Explikationsprozess aufruht. In jedem Fall scheint Identifizierung stärker als affektive Einbindung so etwas wie eine reflexive Distanzierung vorauszusetzen oder doch zu vertragen, wiewohl auch hier ein Maß nicht überschritten werden darf. Auf die identifikatorische Leis­ tung der Traditionen hat vor allem Alasdair MacIntyre vehement hinge­ wiesen, 258 und Charles Taylors Schilderung der Entstehung des distanzier­ ten, desengagierten modernen Subjekts hat in vergleichbarer Weise die da­ für notwendige Überwindung traditionaler Einbettungen herausgestellt.259 Die phänomenalen Anhalte für den Zusammenhang von Tradition und identifizierender Einbettung sind Legion. Um nur einen solchen zu liefern,

258 

Vgl. z. B. A. MacIntyre: Der Verlust der Tugend. S.  295: „Die Geschichte meines Lebens ist stets eingebettet in die Geschichte jener Gemeinschaften, von denen ich mei­ ne Identität herleite. […] Ich sehe mich als Teil einer Geschichte, und das heißt ganz allgemein, als einer der Träger einer Tradition, ob mir das gefällt oder nicht, ob ich es erkenne oder nicht.“ 259  Vgl. C. Taylor: Das Unbehagen an der Moderne. Übers. v. J. Schulte. Frankfurt 2020, S.  4 4, wo behauptet wird, die „Bildung und Aufrechterhaltung unserer Identität bleibt […] unser ganzes Leben hindurch etwas Dialogisches.“ Deshalb sind Theorien eines frei sich stiftenden Subjekts irreführend, denn „solche Formen, die sich für die Selbstverwirklichung entscheiden, ohne (a) die durch Bindungen an andere gestellten Forderungen oder (b) irgendwelche sonstigen Forderungen in Betracht zu ziehen, die aus höheren oder anderen Dingen als menschlichen Wünschen und Bestrebungen her­ vorgehen, [bewirken] ihr eigenes Scheitern […].“ (Ebd., S.  45). Wie Taylor zu zeigen versucht, kann „[ich] die eigene Identität […] nur vor dem Hintergrund von Dingen definieren, auf die es ankommt. Wollte ich jedoch die Geschichte, die Natur, die Gesell­ schaft, die Forderungen der Solidarität und überhaupt alles ausklammern, was ich nicht in meinem eigenen Inneren vorfinde, so würde ich alles ausschließen, worauf es mög­ licherweise ankommen könnte. […] Die Authentizität ist keine Widersacherin der For­ derungen aus dem Bereich jenseits des eigenen Selbst, sondern sie setzt solche Forde­ rungen voraus.“ (Ebd., S.  51). Es sollte klargeworden sein, dass Traditionen diese Rolle des nicht intentional Hervorgebrachten, des Forderungen stellenden Bindenden spielen können, von denen her erst eine Selbstwerdung des Subjektes denkbar ist. Zu diesem Motiv des – wie es andernorts bei Taylor heißt – abgepufferten Selbst, das keine Einbet­ tung mehr eingeht, nicht mehr eingehen will im Interesse einer falsch verstandenen Selbstwerdung, vgl. auch ders.: Ein säkulares Zeitalter. Z. B. S.  269, 446, 509–514, 568, 598 f., 899–903 und ders.: Quellen des Selbst. Z. B. S.  55–62, 94 ff.

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sei auf ein Gespräch Joachim Fests260 mit einem Vertreter der sizilianischen „ehrenwerten Gesellschaft“, der Mafia, hingewiesen. Dieser Mafioso be­ schreibt die Mafia als ein stabiles, „tief in Charakter und gesellschaftlicher Struktur dieser Insel verwurzeltes“ Phänomen, welches zwar durch die Moderne im Untergang begriffen sei, 261 gleichwohl hätten sich die ver­ meintlich gegen die Mafia agierenden Industrialisierungsprozesse auf Si­ zilien dennoch vor dem Hintergrund der einbettenden Tradition als Fehl­ schlag erwiesen. Der Mafioso meint: In der alten, hierarchisch starren Welt, die wir gern zurückhätten, hatte jeder seinen festen Platz. Das ging nicht ohne Schrecklichkeiten – es wäre unsinnig, das zu beschö­ nigen. Aber sie bot auch Sicherheit, Zutrauen ins Geltende, in dem jeder sich auskannte. Manchmal, wenn ich diese neue Welt betrachte, frage ich mich, ob unsere Vorfahren unter der unentrinnbaren Armut je so gelitten haben wie die Menschen heute unter dem Neid […]. 262

Unabhängig von den konkreten inhaltlichen Bestimmungen der beiden ge­ genübergestellten gesellschaftlichen Zustände kommt es hier nur darauf an, was damit im Hinblick auf Tradition gesagt sein will. Offensichtlich scheint der Mafioso – und Fest folgt ihm darin – auf die einbettende Situation hin­ zuweisen, die wesentlich über Identität (und sekundär auch über Eudaimo­ nie) mitentscheidet. Die neue Welt wird als Verlust erlebt, weil, so steht zu vermuten, die identitätssichernde Einbettung schwieriger geworden ist. Wenn ein Traditionsmitglied seine Identität von dieser her – und partiell auch zumeist in Auseinandersetzung mit dieser – erreicht, so spielt in die­ sem Prozess ein Aspekt eine wichtige Rolle, der schon mehrfach angespro­ chen wurde. Indem Menschen eingebettet werden, erfahren sie Ansprüche, Forderungen, Vorschriften an sich und für sich. Sloterdijk hat dies, wie er­ wähnt, als Vertikalspannung gedeutet. Diese Spannung fordert auf zu et­ was, stützt aber auch gegen etwas. Zunächst zum letzteren, für das Fest 260  Das gleich zitierte Buch bietet generell – teils auch explizit als solche benannt – eine Fülle von Beispielen für Traditionen und ist ein segensreicher phänomenologischer Fundus. 261  Vgl. J. Fest: Im Gegenlicht. Eine italienische Reise. Hamburg 2004, S.  62. 262  J. Fest: Im Gegenlicht. S.  62 f. Fest kommentiert die Aussage des Mafioso derart, dass er meint, man „könne die Menschen nicht mit halben Angeboten abspeisen, zumal wenn sie aus ihrer vertrauten Ordnung herausgebrochen würden […].“ (Ebd., S.  62). Fest hatte selbst schon in einer anderen Reflexion (nämlich über die stetige historische Wiederkehr Roms trotz häufiger Zerstörung [anders als zum Beispiel Karthago, wel­ ches nie wiederkehrte]) auf die stabilisierende Einbettung implizit verwiesen: „Viel­ leicht ist so viel Vergangenheit, wie Rom sie hatte, nicht nur eine Last, sondern auch ein Halt.“ (Ebd., S.  31 f.). Zu einer Deutung der Mafia als einer einbettenden Situation vgl. auch H.  Schmitz: System der Philosophie. Bd.  V. S.  129–132.

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II. Phänomenologie der Tradition

erneut ein einschlägiges Beispiel vorstellt. Der Marchese Lucifero d’Aprig­ liano, ältester italientischer Aristokratie angehörig und sich dessen be­ wusst, schildert eine philosophisch erhellende Begegnung: Im Parlament, erzählte er, habe ihn ein sozialistischer Abgeordneter einmal ‚Genosse‘ genannt. Er [d. i. der Marchese; S.K.] habe ihn unterbrochen und gefragt, ob ihm über­ haupt bewußt sei, was es bedeute, ein Lucifero zu sein. Auf die verlegene Antwort, daß wir schließlich alle Menschen seien, habe er erwidert: Er, der Marchese Lucifero d’Ap­ rigliano, wisse, wer seine Vorfahren seien, eine lange Ahnenreihe zurück bis vor die Zeitenwende. Der ehrenwerte Abgeordnete dagegen können allenfalls zwei oder drei Generationen überblicken. Er habe nichts hinter sich. Wer einer alten Familie entstam­ me, denke in Geschlechtern, tausend Tote redeten immer mit, ein gewaltiger Chor von Stimmen, der nichts gemein habe mit dem Geschnatter an einer Familientafel. Mit den Massimos, die von Quintus Fabius Maximus abstammten, streite er darüber, welche Familie die ältere sei. 263

Der Marchese sieht sich in einer langen Tradition stehend, weiß darum und zieht daraus Halt gegen den  – in diesem Fall modernen  – Anspruch von anderer Seite.264 Die Einbettung hält, um das Bild Sloterdijks um eine Di­ mension zu erweitern, die eigene Spannung gegen fremde aufrecht, sie stützt. Wer, wie der Marchese sagt, auf Jahrtausende zurückblickt  – was freilich ein extremer Fall ist –, der muss angesichts aktueller Vorgänge nicht gleich grundlegend sich wandeln, darf es auch nicht, weil er hinter sich die Gesichter der Ahnen gleichsam spürt, für die er verantwortlich zeichnet. Einbettung wird somit zur normativ stützenden Sicherung. Wichtiger aber ist, dass mit Traditionen eine Vertikalspannung auftreten kann, die fordert, die verlangt.265 Oft werden sie gerade dadurch auffällig, denn es kann vorkommen, dass „wir selbst [nicht mehr] […] den Ansprü­ chen des Tradierten [entsprechen]: wir möchten es billiger, bequemer ha­ 263  J. Fest: Im Gegenlicht. S.  357. Dem parallel zu lesen sind die Behauptungen Toc­ quevilles zur diachronen Perspektive der Aristokratie im Unterschied zur tendenziell eher synchronen der Demokratie (vgl. A. de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika. S.  557). Interessant auch die Bekundungen eines sich selbst als Traditionalisten bezeichnenden Mannes, der ebenfalls auf den familiären stützenden Hintergrund hin­ weist (vgl. B. d’Astorg: „Bekenntnisse eines französischen Traditionalisten“, in: L. Rei­ nisch (Hrsg.): Vom Sinn der Tradition. München 1970, S.  143–161). 264  In diesem Sinne deutet auch der eben angesprochene französische Traditionalist Bertrand d’Astorg den Traditionalisten gerade als rettende, positive Figur, als „Rebell, der weiß, um welche Tradition es geht“, womit er „vielleicht die Definition des Huma­ nisten von morgen“ sei (vgl. B. d’Astorg: „Bekenntnisse eines französischen Traditiona­ listen“. S.  160 f.). 265  Schon für das hebräische Wortäquivalent zu Tradition ist der verpflichtend-for­ dernde Charakter belegt (vgl. T. Kwasman: „Tradition III. Judentum“, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd.  33. Berlin, New York 2002, S.  701–705, hier S.  701 f.).

2. Aspekte des Phänomens

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ben, wo man mehr von uns fordert, uns größer, hingegebener, verzichten­ der, einsatzbereiter möchte.“266 In der Differenz zwischen dem, was eine Tradition fordert, und dem, was vielleicht naheliegender, einfacher, schnel­ ler, bequemer ist, wird die Vertikalspannung phänomenal auffällig – eben in der gewünschten Abweichung. Die Postmoderne, folgt man Zygmunt Bauman, besteht im Wesentlichen in dem Abbau genau dieser Dimension, weil dahinter falsche Motive und unzulässige Wertungen gesehen wer­ den.267 Hintergrund der Defizienz und der postmodernen Vertikalnegation ist implizit die Behauptung, dass mit normativen Differenzen nicht legiti­ mierte Unterschiede gesetzt seien. Insbesondere verträgt sich der Gedanke vertikaler Differenzierung nicht mit der Vorstellung subjektiver Autono­ mie und der grundlegender (demokratischer) Gleichheit, ersteres deshalb nicht, weil in der Vertikale die Norm exigent, das heißt heteronom, nötigt, zweites nicht, weil nicht jeder Mensch auf gleich gute Weise der Spannung genügen kann (sei es wegen Unterschieden des Talents, der Motivation, der sozialen Stellung und so weiter). Auf den aristokratischen Charakter der Vertikaldimension hat José Ortega y Gasset hingewiesen, von ihm dabei explizit gutgeheißen: Den auserlesenen oder hervorragenden Menschen […] kennzeichnet die innere Not­ wendigkeit, von sich fort zu einer höheren, objektiven Norm aufzublicken, in deren Dienst er sich freiwillig stellt. […] Adel erkennt man am Anspruch an sich selbst, an den Verpflichtungen, nicht an den Rechten. 268

Wenn Traditionen eine Aufforderung darstellen, einer anstrengenden, je­ denfalls nicht bequemen Vorgabe zu folgen, dann ist der ihnen Gehorchen­ de als Aristokrat in diesem Sinne zu verstehen. Der Traditionsangehörige 266 

H. U. v. Balthasar: „Im Strom fließt die Quelle“, in: L. Reinisch (Hrsg.): Vom Sinn der Tradition. München 1970, S.  89–105, hier S.  103. Vgl. ganz ähnlich G. Murray: The Classical Tradition in Poetry. S.  4. 267  Vgl. Z. Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen. S.  50: „Postmoderne bedeutet Demontage, Aufsplitterung und Deregulierung der Agenturen, die in der Moderne mit der Aufgabe betraut waren, die Menschen einzeln und gemeinsam zu ihrem Idealzu­ stand zu bewegen […]. Postmoderne Utopien wollen es, daß wir an dieser Demontage unser Vergnügen finden, daß wir die Kapitulation der (fordernden, anstrengenden, quä­ lenden) Ideale als den finalen Akt der Emanzipation feiern.“ Die Postmoderne wird so zum „bequemen“ Leben und Denken, weil die – als Tradition verstehbare – Vertikal­ spannung negiert wird. 268  J. Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen. Übers. v. H. Weyl. Stuttgart, Berlin 1937, S.  66 f. Ein ähnlicher Gedanke auch bei G. Murray: The Classical Tradition in ­Poetry. S.  6 , wo gesagt wird, dass der Standard einer Tradition für diejenigen schwer zu halten ist, die keinen Sinn für ihn haben, womit Gilbert Murray zwar konkret auf Stiltraditionen in der Poetik verweist, man aber verallgemeinert ein geistesaristokrati­ sches Motiv ableiten kann.

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II. Phänomenologie der Tradition

unterscheidet sich von anderen Menschen dadurch, dass er einer bestimm­ ten Forderung zu genügen versucht. Dabei ist diese Norm dezidiert als nicht von ihm selbst herkommend zu verstehen, wie schon bei der Diskus­ sion zur Machbarkeit deutlich geworden ist.269 Diese Auslegung des Motivs der Vertikalspannung hat sicher berechtigte Kritik erfahren, insofern sie nahelegt, jedwede bestehende normative Differenz als legitim und begrü­ ßenswert, das Zurückbleiben hinter Ansprüchen als selbstverschuldet zu verstehen. Der Diskurs zu diesem Punkt ist folglich politisch und ideolo­ gisch aufgeladen. Aber dennoch bleibt es phänomenologisch evident, dass Traditionen Ansprüche stellen. Nur um diese Dimension soll es hier gehen, die streng zu trennen ist von deren kritischer, politischer, ethischer und so weiter Interpretation. Dass das möglich ist, wird klar, wenn man sich über­ legt, dass derartige Vertikalspannungen keineswegs immer als maximalum­ fänglich zu denken sind. Nicht immer, eigentlich fast nie, steht dabei das ganze gelingende (individuelle) Leben zur Disposition, sondern je nach Reichweite der konkreten Tradition geht es um das Erfüllen lokalerer Vor­ gaben. Darauf haben die Analysen handwerklicher Überlieferungen durch Matthew B. Crawford  – und ähnlich Richard Sennett 270  – hingewiesen. Anerkennung, so heißt es, können wir nur von denen bekommen, die derselben Praxis wie wir nachgehen, von Menschen, deren Blick für unsere Tätigkeit geschärft und durch einen Prozess der Ini­ tiation für die Wahrnehmung der relevanten Faktoren geschult wurde. […] Gekonnte Praktiken […] sind […] wichtig für unsere Bemühungen um Anerkennung als Individu­ en. Diese Bemühungen werden ziellos und gehen in die Irre, wenn wir einer öffentli­ chen Doktrin des Individualismus unterworfen sind, die systematisch die gemeinsamen Bezugsrahmen für die Sinngebung zerstört. Nur innerhalb solcher Bezugsrahmen kön­ nen wir uns als nicht nur andersartig, sondern als vortrefflich abheben. Ohne diese 269  Um für diese Dimension ein gleichwohl sehr extremes Beispiel zu geben, sei ver­ wiesen auf F. W. Foerster: Autorität und Freiheit. S.  57 f.: „Wer ernsthaft bei der religiö­ sen Wahrheit in die Lehre gehen will, der muß sich vor allem klarmachen, daß die höchste Wahrheit niemals ein Echo unserer eigenen unreifen Gedanken ist. […] Wir müssen zuerst die ungeheure Distanz zwischen dem weltdurchdringenden Überblick Christi und unserm Horizonte erkennen und in unserer ganzen geistigen Haltung zum Ausdruck bringen […]. Ich muß aufhören, an mich selbst zu glauben, muß mich mit der demütigen Gewißheit erfüllen, daß ich von einer überlegenen Einsicht zu lernen habe […].“ Die vertikale Differenz zwischen Traditionsstifter und -gehalt einerseits, Traditi­ onsgläubigem andererseits wird hier gerade über das Heteronomie-Motiv verdeutlicht. 270  Vgl. dazu R. Sennett: Handwerk. S.  78, wo sachlogische, ideologiefreie Hierar­ chien in Geigenbau-Werkstätten thematisiert werden. Wer eine Praxis besser ausführen kann als andere Menschen, was sich im Erfüllen des praxisinhärenten Werkes objektiv zeigt, hat Vorrang. Dafür wären neben dem Handwerk ganz sicher die Bereiche des Sportes und des Musizierens weitere Beispiele.

2. Aspekte des Phänomens

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vertikale Dimension landen wir in der Gleichförmigkeit eines massenhaften Solipsis­ mus statt in echter Individualität. 271

Worauf hingewiesen wird in dem Zitat, ist der Umstand, dass nur ein über­ individueller und normativ gehaltvoller Rahmen es gestattet, qua auffälli­ ger, außeralltäglicher Tätigkeiten und Vermögen als ein spezifisches, nicht nur andersartiges, sondern besonderes Individuum bemerkt und geschätzt zu werden. Fällt der Rahmen und dessen normative Dimension weg – wie nach Bauman in der Postmoderne –, so scheitern Anerkennungsprozesse. Als ein solcher Rahmen im Sinne einer Vertikalspannung erzeugenden normativen Vorgabe sind Traditionen verstehbar. Wer dem Geigenbau sich widmet, findet in Form von Vorbildern – etwa millionenschweren Instru­ menten berühmter Geigenbaumeister – Normen gesetzt, zu denen er sich noch in der Abweichung verhalten muss, indem er zum Beispiel nachweist, warum sein andersartiger Ansatz die Vorbilder überbieten soll. Er kann aber auch versuchen, den Vorbildern Genüge zu tun, sie tunlichst genau zu kopieren, was ebenfalls Anerkennung hervorzurufen ermöglicht. Freilich ist es ebenfalls denkbar, die Norm als Hindernis oder Bedrängung zu er­ fahren, was jedoch die hier verhandelte Vertikalspannung nur um so ein­ drucksvoller belegt. Was das Handwerksbeispiel zeigt, ist in jedem Fall, dass die Dimension der normativen Differenz keineswegs per se nur (oder vor allem) ideologiekritisch betrachtet werden muss. Es ist schlicht der Fall, dass Menschen phänomenal einen solchen Anspruch an sich bemerken können, wenn sie in Traditionen eingebettet sind. Ob dieser Anspruch dem Machtinteresse anderer Institutionen, Gruppen oder Menschen dient, ist davon ganz unabhängig, wiewohl natürlich kritisch hinterfragbar. Vertikalspannung besteht darin, so lässt sich mit Sloterdijk sagen, dass Menschen das Unwahrscheinliche erstreben, dass sie „mit dem Wahnsinn des Verlangens nach dem Unmöglichen“272 versehen werden. Diese Formu­ lierung ist sicher überzogen, trifft aber in der Sache insofern, als Traditio­ nen dazu auffordern, etwas zu tun, das nicht ohnehin geschehen würde. Der so sich herauskristallisierende Anspruch ist zweifellos nicht immer, aber wohl doch häufig explizit  – gerade in Traditionserwerbsphasen wie der Jugend – und er kennzeichnet das Phänomen wesentlich. Wem die For­ derungen einer Tradition grundsätzlich illegitim oder gleichgültig vorkom­ men, der ist schon aus der Situation weitestgehend entbettet. Dabei zeigt sich an der Vertikalspannung nochmals deutlich, dass harmonistische Vorstellungen verfehlt sind. Gerade der Forderungs- und Verpflichtungs­ 271 

272 

M. B. Crawford: Die Wiedergewinnung des Wirklichen. S.  237 f. P. Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. S.  482.

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II. Phänomenologie der Tradition

charakter, der sich auch und besonders affektiv bemerkbar machen kann, belegt, dass Traditionen kein „Arkadien“ sind, sondern das Subjekt bei al­ ler Einbettung bedrängen. Wichtig scheint phänomenologisch, dass dieses Spannungsgefüge aber ab einem gewissen Punkt zerbrechen kann, wenn nämlich der Anspruch als ganz extern, fremd aufgefasst wird. Dann hat eine Entbettung stattgefunden, das Phänomen sich gewandelt, und es liegt im echten, starken Wortsinne Heteronomie vor. Die vertikale Dimension der Tradition, so muss man sagen, stellt zwar potentiell eine quälende, überfordernde Gefahr dar, zugleich liegt in ihr aber auch ein wesentlicher Attraktivitätsfaktor. Hartmann zum Beispiel wies darauf hin, wie sehr der objektive Geist die jeweils zeitgebundene menschenmögliche Vollendung bedinge: Das Individuum wird zum Menschen im Sinne desjenigen Menschentums, dessen Trä­ ger und Repräsentant es ist, nur durch sein Heranwachsen an die jeweilige Höhenlage des objektiven Geistes, in den es hineingeboren ist. Dieser Weg ist kein Umweg. 273

Tradition hebt, indem sie dem Individuum zwar Ansprüche gegenüber (zu­ meist implizit und subtil) formuliert, aus welchen dieses dann jedoch Profit schlägt, sei es in Orientierungs- und Sicherungshinsicht, sei es in prakti­ scher oder epistemischer Perspektive. Rothacker hat gemeint, gerade von der schwierigen, anstrengenden Kultivierung, der Formierung, gehe eine Faszination für den Menschen aus.274 Vertikalspannung ist nicht primär ein Hindernis, sondern ein Positivum, weil dadurch Möglichkeiten sich eröff­ nen, vermeintliche oder wirkliche Defizite bekämpft werden, aber vor al­ lem, weil in der Spannung selbst ein phänomenal attraktiver Bestand zu sehen ist.275 Es ist zu vermuten, dass Menschen quietive Sozialbeziehungen nicht dauerhaft ertragen, dass vielmehr in einem Verhältnis zu divergenten, ihnen gegenüber höheren Normen ein Bestandteil gelingenden Lebens lie­ gen kann. Wenn das stimmt, dann stellen sich Traditionen deshalb als at­ traktiv vor für den Betroffenen, weil sie ihm Unwahrscheinliches, Fernlie­ gendes abverlangen. Er muss dabei die jeweils geforderte Handlung und so weiter nicht in jedem einzelnen Fall mit Freude ausführen, aber auf einer Metaebene der Personalität scheint so etwas wie eine Zustimmung zur all­ 273 

N. Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. S.  224. Der Sache nach vergleich­ bar ist auch die Behauptung, über jede Kultur als einer Fläche lasse sich eine (normative) Vertikale etablieren qua Erinnerung (was hier als Tradition zu lesen wäre). Vgl. dazu M.  Gerschenson, W. Iwanow: Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln. S.  24 f. 274  Vgl. E. Rothacker: „Was heißt ‚Tradition‘ des Altertums?“. Blatt 9. 275  Aus einer quasi-soziologischen, nicht individuellen Perspektive ist die Rolle der Spannung (d. h. des Konflikts im weiten Sinne) für die Attraktivität von Institutionen im Anschluss an Norbert Elias betont bei D. Claessens: Instinkt. Psyche. Geltung. S.  187.

2. Aspekte des Phänomens

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gemeinen, abstrakten Berechtigung des normativen Anspruches unabding­ bar, andernfalls wird die Vorschrift zur bloßen Gängelung und Quälerei ohne tieferen, orientierenden Sinn, stellt also keine Tradition mehr dar. Um diesen Aspekt an einem wichtigen Beispiel noch einmal abschlie­ ßend zu verdeutlichen, sei auf das Problem des Kanons hingewiesen, das heißt des als normativ verbindlich und vorbildlich anerkannten Inventars an Schriftwerken für einen bestimmten Bereich – eines Faches, einer Spar­ te, aber auch einer ganzen Kultur. Man kann die Diskussionen um die Not­ wendigkeit, Berechtigung oder Illegitimität eines Kanons analog zu der Frage nach der Zulässigkeit einer normativen Tradition verstehen.276 Chris­ ta Bürger hat hervorgehoben, dass der Kanon einerseits als das Nicht-All­ tägliche anzusehen ist, insofern als er auffällt und Ungewohntes einfor­ dert – neue Leseformen, neue Rezeptionshaltungen und so weiter –, aber gerade dadurch den Möglichkeitsraum anreichert.277 Die normativen For­ derungen erziehen den Novizen dazu, das Repertoire des bisher Vermoch­ ten zu erweitern, wobei der Lernprozess unbequem und anstrengend, im Ergebnis aber bereichernd ist  – beim Kanon wie der Tradition. Die An­ strengung ist dabei falsch verstanden, wenn sie ausschließlich als Negatives in den Blick kommt, wie im Rahmen der Kanon-Diskussion durch einen Lehrer angemerkt wurde, der darauf verwies, dass die Anstrengung die Vorbedingung für den Stolz im Nachgang darstellt.278 Dies spiegelt wo­ möglich den Stolz des aristokratischen Marchese wider, der in ähnlicher Weise affektive Stützung und Stabilisierung aus der Arbeit seiner Familie über die Jahrhunderte bezieht, wobei ihm als Eigenleistung die Anerken­ nung und Aneignung eben dieser Tradition zuzurechnen wäre. In jedem Fall ist Anstrengung, wie sie durch die Vertikalspannung entsteht, auch als positive Kraft anzuerkennen, neben dem Stolz sicher etwa in motivationa­ ler Hinsicht. Zudem liefert der Kanon überhaupt erst einen Maßstab oder doch Orientierungsrahmen, von dem her Entitäten als spezifische Entitä­ ten bemerkbar werden. So heißt es in dieser Hinsicht über den Literatur­ kanon: „Um zu bestimmen, was Literatur ist, brauchen wir überlieferte Literatur, die als Literatur gilt.“279 Dieser Gedanke verweist darauf, dass 276  Ein

Kanon ist selber keine Tradition, aber Kristallisationspunkt einer solchen, insofern er bestimmte Orientierungen (vor allem normativer, aber auch epistemischer Art) expliziert und bereithält. 277  Vgl. dazu C. Bürger: Tradition und Subjektivität. Frankfurt 1980, z. B. S.  95, 125 f. 278  Vgl. M. Sieburg: „‚Wozu Klassiker in der Schule?‘ Zwei Statements im Rahmen der Podiumsdiskussion zur Vortragsreihe. Die Sicht eines Lehrers“, in: M. Freise, C.  Stockinger (Hrsg.): Wertung und Kanon. Heidelberg 2010, S.  139–143, hier S.  141. 279  V. Ladenthin: „Plädoyer für die Hochkultur“. S.  76.

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II. Phänomenologie der Tradition

erst Traditionen bestimmen – im Sinne etwa Rothackers oder Gadamers –, was eigentlich der Fall ist, selbst wenn die jeweilige Gegenwart oder jeweils neue Generation sich davon abzustoßen sucht. Indem eine Norm gesetzt wird, eine Forderung ergeht, strukturiert sich die Lebenswelt, wobei noch die Kritik sich an dieser Struktur orientiert. Ein Ausfall des Kanons – oder analog der Tradition – sorgt dafür, dass eine Differenzierung verschwindet und wahlweise Nichts oder Unbestimmtes oder bloß Individuelles übrig­ bleibt. Ohne Kanon, ohne inhaltliche Lehrpläne, ohne eine Vorstellung von Hochkultur […] verabschieden wir uns von der Literatur überhaupt. Wir verabschieden uns von einem kollektiven, verbindlichen Bilderschatz – der Vorbedingung von Kommunikation. 280

Die Vertikalspannung, die mit einer Tradition oder einem Kanon in die Welt kommt, zeigt an, dass es dort etwas gibt, das (zumindest bisher) für beachtens- und erstrebenswert gehalten wurde. Damit ergeht eine implizi­ te, mitunter institutionalisierte explizite Aufforderung an den Menschen, sich daran noch in der Abweisung zu orientieren. Das alternative Modell einer handstreichartig hergestellten tabula rasa, die die Vertikalspannung durch Umgehung oder Ignoranz gleichsam kaltstellt, ohne sich mit ihr be­ schäftigt zu haben, 281 wäre demnach als Entdifferenzierung zu lesen. Viel­ leicht vor diesem Hintergrund ist das bekannte Diktum platzierbar, dass die „mit dem Vergessen erstohlene Freiheit […] leer“ sei, denn der „Weg zu der ersehnten und liebenswerten Einfachheit führt durch die Kompliziert­ heit. Nicht durch den Austritt aus dem gegebenen Milieu oder Lande wird sie erlangt, sondern durch den Aufstieg.“282 280 V.

Ladenthin: „Plädoyer für die Hochkultur“. S.  77. Volker Ladenthin denkt, wenn Tradition statt Kanon zu setzen ist, zu sehr an umfangsgroße Fälle. Die hier ver­ folgte phänomenologische Perspektive würde auch im Kleinen, in den „Lokalkulturen“ eine solche vertikale und verbindende Wirkung behaupten wollen. Zu dem Gedanken der normativen Bindung an sowie der sachlichen Erhöhung und Abwehr eines simplifizierenden Subjektivismus durch kanonische Literatur vgl. auch C. Bürger: Tradition und Subjektivität. V. a. S.  119–136. Dort wird gegen einen lernziel­ orientierten und rezeptionsästhetischen Zugang zur Literatur in der Schule argumen­ tiert, da dieser alles Begegnende, alles Überlieferte subjektivistisch auflöse, wogegen die Tradition gerade ihre Bedeutung darin habe, Dinge nicht als bloßes Mittel für das Sub­ jekt herauszustellen (vgl. ebd., S.  121), wobei das Nicht-Instrumentelle ein Aspekt des hier mit Vertikalspannung Ausgezeichneten zu meinen scheint. Einige ähnliche Bemer­ kungen zum Kanon liefert auch A. MacIntyre: Three Rival Versions of Moral Inquiry. Encyclopaedia, Genealogy, and Tradition. Notre Dame 2012, S.  228. 281  Dafür ist das in der Exposition genannte Frohlocken der Lehrbuben während des Disputs von Sachs und Beckmesser das literarische Symptom. 282  M. Gerschenson, W. Iwanow: Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln. S.  53.

2. Aspekte des Phänomens

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Phänomenologisch gilt generell, dass der Anspruch, den Traditionen stellen, bemerkbar wird für die, die mit ihr noch in irgendeiner Einbet­ tungsbeziehung stehen. Bereits völlig Entfremdete erleben diesen An­ spruch als etwas Verändertes, insofern sie ihn  – wenn sie ihn überhaupt bemerken, den angesprochenen Sinn dafür haben 283 – als nicht legitimierte Gewaltausübung erleben. Um noch einmal das Beispiel der Geigenbau-­ Werkstatt heranzuziehen, in welcher der Könner sachbegründete Autorität besitzt, so kann ein unqualifizierter Nachfolger zwar die institutionelle Autorität qua Amt übernehmen, wird aber von den in der Tradition des Geigenbaus Eingebetteten vermutlich mit jeder weiteren handwerklichen Minder- oder Fehlleistung als bloßer Tyrann erlebt, weil er – in diesem Fall sogar als Meister – aus der Tradition entbettet scheint, während die anderen Werkstattmitglieder noch in ihr stehen. Die These, dass Tradition mit Vertikalspannung auftritt, ist allerdings, dies sei hier zum Abschluss des dazugehörigen Komplexes erwähnt, nicht unwidersprochen geblieben. Landmann hat im Hinblick auf die Griechen behauptet, erst diese haben „den Menschen aus der Horizontale der sich fortspinnenden Tradition aufrichten [können] und ihm den Blick auf zu verwirklichende Wertideen freigegeben […].“284 Traditionen kontinuieren nur das Hergekommene, leisten keine Steigerung, welche erst durch die achsenzeitlichen Veränderungen in Griechenland möglich wurde. Hier wäre phänomenologisch zu fragen, aus wessen Sicht Landmann dies fest­ stellt.285 Für das Individuum nämlich stimmt die These nicht. Auch ein im Athen der klassischen Zeit Geborener wird sich an die lokalen, religiösen, kriegerischen, ständischen Traditionen vertikal annähern müssen. Land­ manns Perspektive ist eher diachron zu verstehen, insofern er Fortschritt als vertikale Dimension in der Zeit gegen die gleichbleibende Leistung der Tradition setzt. Das ist allerdings sicher diskutabel, dafür wäre eine Präzi­ „Milieu“ und „Land“ können pars pro toto für Tradition interpretiert werden, so dass gesagt sein will, nur in der vertikalen Durchdringung dieser liege der Weg in eine Form der geordneten, reichhaltigen Einfachheit (statt trivialer Simplizität). 283  Wenn Paul Feyerabend meint, ein „Teilnehmer mit einer pragmatischen Philoso­ phie“ – in seinem Sinne – „betrachtet Traditionen wie ein Reisender die Länder betrach­ tet, in denen er vorübergehend weilt“ (P. Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen. S.  4 4), so wäre phänomenologisch dazu anzumerken, dass einem solchen Teilnehmer phänomenal bereits das entgeht, was für den Eingebetteten wesentlich zur Tradition gehört. 284  M. Landmann: Das Ende des Individuums. S.  76. 285  Ganz davon abgesehen, dass er sich keine Gedanken über mögliche kumulative Leistungen in der Vorzeit macht, sein Bild historisch wie sachlich unterkomplex zu sein scheint.

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II. Phänomenologie der Tradition

sierung des Standpunktes, von dem aus diese normative These entwickelt wird, notwendig. Phänomenologisch jedenfalls muss, entsprechend der hier verfolgten Position, Landmanns These nicht gefolgt werden. Es hat sich gezeigt, dass man Traditionen daran erkennt, dass sie mindes­ tens gelegentlich 286 auffällig sind, weil sie von den Menschen etwas verlan­ gen. Sie instanziieren eine Vertikalspannung, die alle diejenigen, die noch Anteil an der Situation haben, anspricht, und sei es auch noch im Modus der Kritik. Wichtig ist dabei, dass eine solche normative Achse nicht mei­ nen muss  – und es zumeist auch nicht tut  –, es gehe dabei um gleichsam „alles“. Sloterdijks Theorie scheint manchmal in dieser Hinsicht lesbar, phänomenologisch jedenfalls kann Vertikalspannung schon im Kleinen und Kleinsten auftreten, im Rahmen einer Praxis zum Beispiel. Ein Kind, welches einen von ihm verehrten Fußballstar beim Schießen zusieht, kann dessen Weise des Ausführens der Bewegung als Anspruch erleben, weil dieser Star in der Situation Fußball, dieser spezifischen Tradition, als Norm gilt. Verfehlt das Kind die Norm – was erfahrungsgemäß wohl für nahezu 100  % aller Kinder zutreffen dürfte –, so stürzt nicht die Welt zusammen, sondern in einem Teilbereich liegt ein oft durch die Gesellschaft, Erziehung und so weiter moderiertes Scheitern vor. Traditionen helfen und fördern den Aufstieg, bedingen auch Scheitern, müssen aber nicht als Verdam­ mungsinstanzen gelten, wiewohl allerdings manch strikte Traditionen auf das Verfehlen einer vertikalen Spannungsachse mit drakonischen Strafen – bis hin zum Ausschluss oder Tod – reagieren können. Freilich – und dies sei als letztes zum Aspekt der Vertikalspannung ver­ handelt – ist mit dem phänomenalen Aufweis dieser normativ einschlägigen Achse nicht behauptet, jede solche sei gerechtfertigt. Wenn Panajotis Kon­ dylis darauf hinweist, dass Tradition jenes Auslegungsprodukt dar[stelle], das nach der jeweils herrschenden Aus­ legung bestimmter Subjekte, die die traditionellen Inhalte und gleichzeitig die gegen­ wärtige Einstellung anderer Subjekte zu diesen auslegen, als Auslegungsvoraussetzung zu gelten hat 287,

286 

Die Vertikalspannung wird, wie zu vermuten ist, vornehmlich in Phasen der An­ eignung und in Phasen der Defizienz (z. B. bei so etwas simplen wie subjektiver Unlust, aber auch grundlegenderer beginnender Entfremdung) thematisch. Zwischendurch kann sie unauffällig werden, bleibt jedoch latent, was sich zum Beispiel dann zeigt, wenn man aus Faulheit, Gleichgültigkeit, Unachtsamkeit usw. gegen eine vertikale For­ derung verstoßen hat. 287 P. Kondylis: Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie. Bd.  I: Soziale Beziehung. Verstehen. Rationalität. Hrsg. v. F. Horst. Berlin 1999, S.  388 f.

3. Kern und Peripherie

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rückt er den Umstand in den Vordergrund, dass Tradition in concreto nicht vom sozialen wie gesellschaftlichen Kontext zu trennen ist. Gleichwohl aber ändert das nichts in phänomenologischer Hinsicht. Die Norm, der die Tradition zu folgen empfiehlt (mitunter: gebietet), mag konstruiert sein, Machtinteressen dienen und so weiter, im Erleben steht doch Vertikalspan­ nung da, zu der sich dann erst kritisch zu verhalten wäre. Damit einher geht auch der Umstand, dass zwar – aus Sicht des Subjekts – die vertikale Achse heteronom ist, aber infolge der Einbettung mehr und mehr diesen Charak­ ter verliert bis hin – jedenfalls im Grenzfall – zur identifizierenden Über­ nahme, wodurch sie autonom würde.288 Dass heute eine Übernahme sol­ cher heteronomer Ansprüche zumeist in Theorie, aber auch in der Praxis, wie die Negation des Kanons zeigt, zurückgewiesen wird, ist dabei als em­ pirisch plausible Hypothese nur festzustellen.289 Diese ändert am phäno­ menalen Bestand nichts.

3. Kern und Peripherie Mit dem in Kapitel  II.2 Dargelegten sind die phänomenologisch zentralen Aspekte von Tradition herausgestellt, wie sie den Menschen aus ihrer Per­ spektive betreffend auffällig werden. Die so ableitbare Bestimmung schei­ 288  Das zeitigt allerdings auch Probleme, denn wenn die Vertikalspannung vollstän­ dig als autonom erlebt wird, geht der Anspruch exigenter Nötigung verloren. Dieser Umstand erklärt aber vielleicht, warum es mitunter beobachtbar wird, dass prominente Traditionsführer  – also sozial innerhalb einer Situation hochgestellte Personen  – mit den Traditionen konstruktiv verfahren, denn sie bemerken den eigentlich heteronomen Charakter nicht mehr (so jedenfalls eine phänomenologische Hypothese). 289  Arthur Erwin Imhof bietet für den Befund eine realhistorische Erklärung an: „Persönlichkeit, Individualität, die Verwirklichung des Selbst scheint heute wichtiger zu sein als Gemeinschaft, schon gar als Unterordnung unter gemeinschaftliche Ziele. Der Zwang dazu ist nicht länger gegeben; Unterordnung ist nicht mehr überlebens­ notwendig. Unsere Lebensspanne ist uns auf Jahrzehnte hinaus auch so garantiert. Im Mittelalter war das keineswegs der Fall, auch in der frühen Neuzeit noch nicht. […] Die Individualität kuschte [damals; S.K.], mußte kuschen, wenn sie überleben wollte.“ (A. E. Imhof: Die Lebenszeit. Vom aufgeschobenen Tod und von der Kunst des Lebens. München 1988, S.  161 f.). Wiewohl Imhof recht haben mag, greift seine Überlegung zu kurz, wenn das hier Gesagte stimmt, denn die Unterordnung unter traditionale Verti­ kalspannungen diente nicht nur (aber wohl auch) dem Überleben, sondern ebenso dem guten Leben, denn es wurden empirisch bestätigte Normen, Praktiken usw. auf diese Weise dem Einzelnen zur Verfügung gestellt, sein Lebensmöglichkeitsraum erweitert, ihm Orientierung und Stabilität versichert. Trifft das zu, dann wäre zu prüfen – und Rosas angeführte Sorge über resonanzlose Seinsformen in der Gegenwart legt das nahe –, ob Anerkennung vertikaler Dimensionen nicht heute so nötig sind wie früher.

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II. Phänomenologie der Tradition

det, das war bereits en passant verdeutlicht worden, gewisse andersartige Phänomene aus. Das mag zu der – falschen – Vorstellung führen, Phänome­ nologie entscheide, was der Fall sei. Wiewohl sie tatsächlich eine kritische Prüfungsinstanz darstellt, will sie nicht normativ festlegen, wie über was gesprochen werden muss. Was die Analyse liefert, ist gleichsam ein Pflock, der in den vagen und ambivalenten Boden der Bezugnahmen auf Traditio­ nen gerammt werden kann, um von ihm als Orientierungspunkt aus das Feld zu sortieren. Andere Pflöcke wären möglich, aber – und das ist ent­ scheidend – nur der phänomenologisch hier erarbeitete ist unmittelbar dem Subjekt und seinem Erleben zur Prüfung zugänglich. Er stellt eine hohe, der individuellen Mündigkeit hilfreiche (vielleicht sogar für diese unab­ dingbare) Anschlussfähigkeit her. Daher ist er anderen heuristisch vorzu­ ziehen, was gleichwohl nicht bedeutet, dass das vermessene Feld den ur­ sprünglichen Orientierungspunkt auch normativ auszuzeichnen gestattet. Wie Wittgensteins Leiter kann sich die phänomenologische Analyse am Ende als zwar hilfreich, aber gegenüber anderen Interessen oder Perspek­ tiven als nachranging erweisen – dann wäre sie hinter sich zu lassen. Als Annäherung an das Feld ist sie jedoch prima facie grundlegend beachtens­ wert. Im Folgenden soll in einem abschließenden Schritt eine Unterscheidung getroffen werden zwischen dem phänomenalen Kern von Traditionen und peripheren Abwandlungen. Diese Unterscheidung verdient eine Begrün­ dung, denn sie klingt nach einer klassischen Substanz-Akzidenz-Differen­ zierung, was jedoch ein Irrtum wäre. Erstens geht es hier nicht um eine „harte“ Ontologie, sondern um eine Phänomendifferenzierung (die sekun­ där allerdings sehr wohl Konsequenzen im Hinblick auf Ontologie zeitigen kann). Zweitens ist zudem die Rede von Kern und Peripherie nicht norma­ tiv zu verstehen. Die Idee ist vielmehr, dass man ausgehend vom phänome­ nologisch gewonnenen Bestand an Aspekten einen Bereich bestimmen kann, der für Menschen zunächst und zumeist das auszeichnet, was man Tradition nennt. Dieser Kern kann aber je nach Kontext anders akzentuiert werden, es können bestimmte Teile wichtiger genommen, andere ignoriert werden, was einen Wandel mindestens in begrifflicher Hinsicht nach sich zieht. Auch eine solche peripherere Akzentuierung kann normativ als gleichwertig zum Kern gelten, sie ist dann aber eben nicht mehr phänome­ nologisch adäquat, sondern dient zum Beispiel soziologischen Interessen, politischen Vorhaben, ideologischen Programmen und so weiter. Eine Un­ terscheidung von Kern und Peripherie findet sich im Hinblick auf Tradi­ tionen schon bei Pieper. Dieser denkt sie jedoch nicht, wie hier, metho­ disch-heuristisch, sondern dem Gehalt nach. Er schreibt:

3. Kern und Peripherie

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Immer […] ist es so, daß der Kern des Zu-Bewahrenden vielfach verwachsen und ver­ flochten ist mit den konkreten Gestalten geschichtlichen Lebens; und ein Wechsel im Äußeren mag sehr wohl auch die reine Bewahrung des Kernes bedrohen […]. Ein Em­ piriker der Volkstumsforschung hat mir erzählt, in einer aus der Heimat vertriebenen Volksgruppe lockere sich möglicherweise die religiöse Bindung im gleichen Maße, in welchem man davon abkomme, den Kuchen auf bestimmte Weise zu backen […]. 290

Damit aber wird die Unterscheidung ontologisch substantialisiert, weil nun ein fester Gehaltskern bewahrt werden muss gegen historisch zufällige Zugriffe. Eine solche Analyse würde sich nur für je konkrete Traditionen durchführen lassen, etwa indem man fragt, was an Gehalt sich in der Dra­ mentradition seit attischen Zeiten bis heute erhalten habe. Das ist nicht der hier verfolgte Ansatz, sondern bei diesem steht die Kern-Peripherie-Dif­ ferenzierung im Dienste einer phänomenologisch geerdeten Heuristik, die helfen soll, wesentliche Verschiebungen im Begriffsgebrauch verstehbar zu machen. Kern ist das im Erleben Vordringliche, Peripherie sind davon aus­ gehende (oder daran noch in der Differenz oder gar Defizienz zurückbind­ bare) Akzentuierungen, Verdrängungen, Wandlungen, womit keine nor­ mative, sondern eine rein heuristische Struktur in das Feld gebracht wird.

3.1 Der Kern des Phänomens Die wesentlichen Phänomenaspekte sind in Kapitel  II.2 bereits vorgestellt worden, sollen hier im Sinne der erstrebten Realdefinition aber noch ein­ mal pointiert zusammengefügt werden, um durch eine Konfrontierung mit möglichen Gegen- oder Alternativbegriffen an Schärfe und Profil zu ge­ winnen. Wenn das Erarbeitete stimmt, dann lassen sich Traditionen als Phänomene im erläuterten Sinn wie folgt charakterisieren: Traditionen sind nicht-formale, zumeist auffällige, immer prinzipiell bemerkbare soziale Entitäten, in denen etwas sich als vergangen Gebendes diachron in irgendeiner Form reaktualisiert oder für eine Reaktualisierung zugänglich gehalten wird, wobei eine zeitliche Mindesttiefe unabdingbar ist. Sie umspannen unterschiedlichste kognitive, nicht-kognitive, affektive, leibliche und weitere derartige Gehalte mannigfachster Reichweite und kommen weder monolithisch noch gleichgültig daher. So verstandene Traditionen sind menschen­ gemachte Kulturleistungen, die in Maßen einem primär n ­ icht-intentionalen, schöpferischen Wandel zugänglich sind, aber weder bewussten Stiftungs­ charakter haben noch beliebig wählbar, sondern eher unverfügbar scheinen. Sie entfalten und vertiefen den Lebensraum der Menschen, steigern Lebens­ 290  J. Pieper: Überlieferung. S.  68. Ähnlich auch ders.: Über den Begriff der ­Tradition. S.  27 f.

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II. Phänomenologie der Tradition

qualität und stellen ein Reservoir an Möglichkeiten bereit. Dabei können sie in Grenzen einer Bewusstmachung zugänglich werden, müssen es im Interesse hermeneutischer Adaption sogar, diese aber wirkt mit zunehmendem Grade verändernd und zerstörend. Traditionen betten Menschen in mehrfacher Hinsicht in Situationen  – gemeinsamen, segmentierten, zuständlichen  – ein, was attraktiv, aber auch fordernd und verpflichtend wirkt. Diese umfangreiche Bestimmung liefert die phänomenologisch we­ sentlichen Aspekte für das Phänomen, wie es Menschen aus der Perspektive des Betroffenen erscheint. Viele der genannten Punkte sind bestritten worden. Und doch steht mit dem so möglichen Orientierungspunkt eine Markierung bereit, von der aus das unübersichtliche Feld, wie erläutert, gangbar wird. Dies soll exempla­ risch an einer Probe an Gegen- bzw. Alternativbegriffen vorgeführt wer­ den. Eine Liste solcher Begriffe kann vermutlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, weil das Begriffsfeld entsprechend weit ist, jedoch stellt die Unabgeschlossenheit kein prinzipielles Hindernis dar. Als der­ artige Begriffe kommen zuvorderst in Frage intendierter Plan, Vernunft, Natur, Notwendigkeit, Zukunft, Gegenwart, Instinkt, Unmittelbarkeit, Zwangshandeln, Utopie, Innovation, Moderne, Wandel und ­Konstruktion.291 Diese vierzehn Optionen sollen im Folgenden kurz mit der gegebenen Be­ stimmung kontrastiert werden, um diese noch einmal schärfen und poin­ tieren zu können. Das Phänomen unterscheidet sich vom intendierten Plan dadurch, dass es unverfügbar ist. Es imponiert als das Gewachsene, welches nicht be­ wusst von Menschen hervorgebracht wurde und auch von diesen nicht grundsätzlich durchschaut zu werden vermag. Damit geht einher, dass Tra­ dition keine Konstruktion im Sinne einer zurechenbaren Hervorbringung ist. Zwar wird sie von Menschen gemacht, aber weder nach Plan noch mit direkter Intention  – jedenfalls darf diese nicht als solche erkennbar sein. Wird sie es, liegt schon keine Tradition, sondern eine kontingente Kon­ struktion vor. Allerdings kann der Mensch an Traditionen arbeiten, sie wandeln, sogar mit erkennbarem Vorsatz, solange diese Arbeit ein gewisses Maß nicht übersteigt. Insofern ist der Wandlungsbegriff nur dann eine ech­ te Opposition, wenn das Attribut „beliebig“ hinzutritt. Tradition ist wand­ 291 

Eine Liste möglicher Gegen- oder Alternativbegriffe liefert W. Barner: „Über das Negieren von Tradition“. S.  13 f. (vgl. auch schon Fußnote 102 in Kap.  I). Es werden ge­ nannt: Wandel, Evolution, Innovation, Fortschritt, Revolution, Gewohnheit, Konven­ tion, Individualität. Dass nicht alle diese Begriffe hier thematisiert werden, ist pragma­ tischen Überlegungen geschuldet. Eine vollständige Probe an allen möglichen Opposi­ tionsbegriffen ist ohnehin ja nicht angestrebt.

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lungsfähig – und qua Auslegung sogar notwendig wandlungsbetroffen –, jedoch im je zu spezifizierenden Rahmen einer Stimmigkeit und Zulässig­ keit, der besonders gegenüber eindeutig als konstruktivistisch und geplant daherkommenden Zugriffen sehr eng gezogen scheint. Indem aber ein prinzipieller Einfluss des Menschen verträglich ist mit dem Phänomen, ist auch klar, dass es in Opposition zur Natur steht, wenn darunter das Nicht-Menschengemachte verstanden wird. Zwar kann Tradition als das Selbstverständliche, Immer-schon-Bestehende naturhaften Anschein ge­ winnen, aber insofern die Unabdingbarkeit menschlicher Tätigkeit für das Herkommen und Fortbestehen deutlich sind, ist sie nicht Natur. In gleicher Weise – bei aller funktionalen Äquivalenz – ist sie nicht Instinkt, denn die­ ser ist unveränderlich und vorgeburtlich festgelegt, während das für Tradi­ tionen, bei aller auch diesen zukommenden Starrheit und vorbewussten Prägung, nicht gilt.292 Dies trifft zumal auch deshalb zu, weil Instinkt nicht notwendig auffallen muss, auch gar keine Vertikalspannung initiiert. Für den Notwendigkeits-Begriff wiederum kann man sagen, dass dieser als Opposition dient, weil Traditionen einem gewissen Verständnis nach als etwas anzusehen sind, das auch immer anders sein könnte. So betrachtet sind sie ihrem Inhalt nach nicht notwendig. Auf einer anderen Ebene ist die Opposition jedoch weniger scharf, denn vielleicht sind sie ja anthropologi­ sch notwendig. Die geschilderten orientierenden, möglichkeitseröffnenden Wirkungen lassen sich nicht von der Hand weisen, weshalb Landmann Traditionen als Anthropinon klassifizierte.293 Dann wäre die Opposition zur Notwendigkeit hinfällig, jedoch ist der Begriff zumeist so verwendet worden, dass er auf die inhaltliche Kontingenz abzielte. Wenn es aber stimmt, dass Tradition auf grundlegender Ebene notwendig ist, würde auch der Gegenbegriff Moderne obsolet. Dieser wird häufig in Anschlag gebracht, um zu verdeutlichen, dass die heutige Zeit – mit der Aufklärung beginnend  – sich als antitraditionell versteht, Tradition etwas ist, das zu überwinden sei (sofern nicht ohnehin schon geschehen). Dem hier erarbei­ teten Phänomenverständnis zufolge ist diese Opposition zwar nicht irre­ führend, aber doch übertrieben. Die Moderne hat sicherlich qua Explika­ tions- und Autonomiestreben eine Traditionen nicht günstige Wirkung, 292 

Vgl. dazu auch A. Toynbee: „Tradition und Instinkt“. V. a. S.  35 ff. vgl. Fußnote 39 in Kap.  I und aus den zahlreichen weiteren Belegen v. a. M.  Landmann: Fundamental-Anthropologie. S.   146; ders.: Entfremdende Vernunft. S.  20f, 31 und ders.: „Materialien zur Selbstdarstellung“, in: K.-J. Grundner, P. Kraus­ ser, H. Weiss (Hrsg.): Der Mensch als geschichtliches Wesen. Anthropologie und Historie. Festschrift für Michael Landmann zum 60.  Geburtstag. Stuttgart 1974, S.  266–278, hier S.  277. 293  Dazu

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II. Phänomenologie der Tradition

die grundsätzliche Möglichkeit und Existenz von Tradition als Phänomen stellt sie jedoch nicht in Frage, jedenfalls bislang. Es käme allerdings darauf an, die Nicht-Machbarkeit, die Unverfügbarkeit stärker in Rechnung zu stellen, um dem Machbarkeitsgestus, der oft zugleich eine Traditionsver­ lustblindheit hervorbringt, reflexives Gegengewicht zu geben. Ein weiterer häufig zu findender Oppositionsbegriff ist derjenige der Vernunft. Hierbei wird vor allem an die explikative Vernunft gedacht, die in propositionaler Legitimation – in Form der expliziten Angabe von Gründen – besteht. Tra­ dition entspricht dem nicht, denn diese ist mit einer nur sehr begrenzten Form bewusster Explikation verträglich. Andererseits aber ist sie selbst durchaus vernünftig, nämlich mindestens in instrumenteller, vielleicht auch empirischer Hinsicht. Instrumentell erfüllt sie gegebenenfalls gut be­ stimmte Zwecke – Orientierung, Einbettung und so weiter –, die allerdings vom Betroffenen nur sehr selten so explizit thematisiert werden, denn ein ganz und gar instrumentelles Verhältnis muss als entbettetes gelten. Die Feststellung instrumenteller Vernünftigkeit erfolgt zumeist aus abstrakter Perspektive. Empirisch vernünftig sind Traditionen, insofern sie sich im Laufe ihrer jeweiligen diachronen Erstreckung immerhin als widerständig, in gewissem Sinne sogar erfolgreich erwiesen haben. Aber auch dieser As­ pekt setzt schon eine andere als eine rein phänomenale Betrachtung voraus, denn nur selten dürfte ein Traditionsmitglied dies so bewusst bedenken. Insofern bleibt eine grundlegende Opposition zur explikativen, analyti­ schen Vernunft bestehen, die jedoch von ihren normativen Dimensionen zu befreien wäre. Wie Tradition selbst eine sinnvolle Antwort auf die mensch­ liche Lage sein kann, aber auch Probleme zeitigt, gilt dies gleichermaßen für eine jede Form der Vernunft. Damit einhergehend ist auch der Gegen­ begriff Innovation eher Ausdruck mangelnder Differenzierung, denn inso­ fern jede Tradition mindestens durch Auslegung und den unhintergehba­ ren Generationenhiat sich wandelt, vielleicht sogar noch intentionalen Kleineingriffen offensteht, verändert sie sich adaptiv. Es steht zu vermuten, dass solche Anpassungen Innovationspotential haben. Wenn man Traditio­ nen als Gegenpol zu Innovationen ansieht, betont man deren grundlegende historische Stabilität, die als Unflexibilität erscheinen mag. Doch gerade in der jeweiligen Gegenwartsunangepasstheit der Tradition kann man ein Re­ servoir für Alternativen, für Abweichungen, für Innovationen sehen. Als Gegenbegriff taugt Innovation also nur, wenn unterstellt wird, Traditionen seien starre und die jeweilige Gegenwart durch und durch prägende Entitä­ ten, sie sollen demnach also maximalen Umfang haben. Dies erweist sich phänomenologisch jedoch als fragwürdig, wie gezeigt wurde, weshalb In­ novativität nur in gewisser Hinsicht oppositionell zu deuten ist. Das gilt

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auch für das Konzept der Utopie, welches als Gegenmodell markieren will, dass Tradition alles immer gleich lassen wolle, wohingegen die Utopie das anders Mögliche im Blick habe. Eine solche Perspektive überbetont die Starrheit, übersieht die adaptive und eröffnende Eigenart von Traditionen. In zeitlicher Hinsicht wird Tradition mit den Konzepten von Zukunft und Gegenwart kontrastiert, da man davon ausgeht, dass sie einen streng auf die Vergangenheit fixierten Blick habe. Das ist insofern zutreffend, als Tradi­ tion nur das sein kann, an dem etwas Vergangenes Anteil hat. Aber keines­ wegs ist sie deshalb ausschließlich dahin orientiert. Als Situation im erläu­ terten Sinne prägt sie die Zukunft mit, indem sie Bahnungen für sinnvolle, erstrebenswerte, ebenso auch zu vermeidende, falsche Projekte liefert, nor­ mative Hierarchien stiftet, die in die Zukunft ausstrahlen.294 Wenn behaup­ tet wird, Zukunft sei Gegenbegriff zu Tradition, wird letztere einseitig im Sinne eines Traditionalismus missverstanden, der alles Alte (und nur dieses und zumeist in starren Formen) um des Altseins willen bewahren will. 295 Anders ist die Opposition zur Gegenwart zu lesen. Diese will darauf hin­ weisen, dass Tradition einen ausgedehnten Zeithorizont zur Verfügung stellt, also, wie gezeigt, den Lebensmöglichkeitsraum ausgedehnt. Dagegen ist eine traditionslose Gegenwart kaum mehr als ein bloßes Hier-und-Jetzt, ein Zeitpunkt.296 Der Gegenwart fehlt so Tiefe und Breite, die die Tradition bereitzustellen vermag. Allerdings ist sie oft auch als verstellende Kraft ge­ sehen worden, die das Hier-und-Jetzt, das Unmittelbare, unzugänglich macht, weil sie die Dinge immer schon bahnend geprägt, sortiert, gewertet hat. Daran ist zutreffend, dass Traditionen als einbettende Phänomene in dieser Weise wirken. Insofern ist Unmittelbarkeit tatsächlich ein sinnvoller Gegenbegriff, allerdings missverstehen die Proponenten dieser, dass eine unstrukturierte Welt dem Menschen nicht als Schatz, sondern als chaoti­ sche Gefahr begegnet. Die Vermittlungsarbeit der Tradition ist kumulierte Kulturleistung. Mit anderen Worten: Die häufig mit Unmittelbarkeit auf­ 294  Deshalb ist der mit „Zukunft“ verwandte Begriff „das Neue“ ähnlich zu beden­ ken, denn Neuheit liegt mindestens in der Adaption von Tradition schon notwendig beschlossen. Zudem ist noch das Neue aus dem Alten gebahnt (beeinflusst) hervorge­ gangen. 295  Zu diesem Begriff vgl. S.   Wiedenhofer: „Tradition, Traditionalismus“. S.  6 43 ff. Ob es einen solchen Traditionalismus in Reinform je gegeben hat, ist zu prüfen, falls aber doch, so dürfte er eine seltene Ausnahme sein. Selbst Guénon, der als Traditiona­ list zu gelten hat, hält Traditionalismus nicht für den wahren traditionellen Geist (vgl. R. Guénon: Die Krise der modernen Welt. S.  39). 296  So ist der Sache nach das Verständnis bei G. Hillard: „Die ‚gute, alte‘ Zeit“, in: ders.: Wert der Dauer. Essays. Reden. Gedenkworte. Hamburg 1961, S.  124–136, hier S.  131.

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II. Phänomenologie der Tradition

tretende positive Konnotation ist in der Sache nicht begründet.297 Eine letz­ te Opposition, die zum individuellen Zwangshandeln, war schon im Laufe der Arbeit berührt worden. Warum ist das Zwangshandeln ein Gegenbe­ griff? Einerseits ist dies wohl deshalb der Fall, weil es nur individuell zu­ stande kommt, während Traditionen soziale, überindividuelle Vorkomm­ nisse sind. Aber selbst wenn Zwangsverhalten gruppenweit geteilt würde (es also „normal“, nicht pathologisch schiene), unterscheidet es sich durch seine grundlegende Starrheit, Unflexibilität, fehlende Anpassungsfähigkeit von Traditionen. Diese sind auf hermeneutische Zugänge angewiesen, was für Zwangshandlungen nicht gilt, genau darin liegt deren „Idiotie“, denn sie haben keinen auslegungsspezifischen Situationsbezug, sondern gleichen assoziativ ausgelösten Automatismen. Wird eine Tradition in diesem Sinne zwanghaft, ist sie einer wesentlichen Hinsicht ihrer phänomenalen Eigen­ schaften beraubt, wird zu einem bloß mechanischen Gebot oder einer me­ chanischen Routine mit zwanghaftem Verpflichtungscharakter.

3.2 Abwandlungen in der Peripherie Die vorstehend gemachten Abgrenzungen dienten dem Zweck, den phäno­ menologisch gewonnenen Kern zu schärfen. Dieser soll, dem methodischen Vorgehen nach, als Pflock dienen, von dem aus das Begriffsfeld aufschließ­ bar wird. Eine umfassende Darlegung, wie sich alle möglichen Traditions­ verständnisse zum phänomenal aufweisbaren Kern verhalten, bleibt noch Aufgabe zukünftiger Arbeiten, die sich mit dem Erbrachten kritisch ausei­ nandersetzen mögen. Was hier jedoch zu leisten ist, ist eine exemplarische Verdeutlichung, was mit dem unterstellten Akzentuierungsverhältnis zwi­ schen Kern und Peripherie gemeint sein soll. In dreifacher Hinsicht wird das im Folgenden gemacht, nämlich im Hinblick auf das Konzept der Tra­ dition als Wissen, dem biologisch-ethologischen Traditionsverständnis und der Idee von Post-Traditionen. 297  Das heißt freilich nicht, dass gelegentliche Freimachungen von Traditionen nicht doch wieder zu einer unmittelbareren Wirklichkeit führen können. Oft ist das ein sinn­ volles Unterfangen, um Dinge neu sehen zu lernen, Erkenntnisse zu gewinnen usw. Aber zumeist ist dies ein Ausnahmefall. In der Regel erweist sich traditionale Vermit­ teltheit des Weltkontaktes als sinnvoll (und im Anschluss an Gadamer ohnehin als un­ hintergehbar). Zum Problem des Spannungsverhältnisses von Unmittelbarkeit („Le­ ben“) und Tradition (als „Form“) vgl. auch vor dem Hintergrund der Lebensphiloso­ phie der Zeit W. Windelband: „Über Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben“, in: ders.: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte. Bd.  2 . Tü­ bingen 1924, S.  244–269, hier v. a. S.  246 f., 254 f., 260 ff.

3. Kern und Peripherie

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Wenn von Traditionen als Wissen die Rede ist, 298 wird auf einen Aspekt des Phänomens (im hier gemeinten Sinne) abgezielt, dass sie nämlich ihrem Gehalt nach zutreffende oder doch mindestens sehr plausible Annahmen über die Welt transportieren. Solche fallen aber, wenn die phänomenologi­ sche Analyse stimmt, den Betroffenen nicht explizit auf. Wissenshaftigkeit ist ein peripheres Merkmal des Kerns. Wie gelangt man zu ihm? Offen­ sichtlich wird abstrahiert, indem man sich die Wirkungen von Traditionen auf Individuen ansieht. Wenn ein Geigenbauer bestimmte Hölzer, be­ stimmte Lacke und so weiter verwendet, kann er vielleicht nicht immer angeben, warum in letzter Konsequenz er diese und keine anderen wählt. Es leiten ihn, so steht zu vermuten, implizite Annahmen über die Welt, die er nicht bewusst selbst erworben, sondern aus seiner Tradition übernom­ men hat. Wissen sind diese Annahmen dann insofern funktionell, aber zu­ dem auch der Sache nach, wenn eine reflexive Explikation deren sachliche Richtigkeit meint nachweisen zu können. Indem so auf Traditionen gese­ hen wird, kommt ein Aspekt an ihnen – die orientierende Funktion – ak­ zentuiert in den Blick, verstärkt noch durch die Einnahme eines traditions­ externen, abstrakten Beobachterstandpunktes. Und doch lässt sich eben zeigen, wie beide Mitspieler  – phänomenales Erleben, reflexives Betrach­ ten – zusammengehören. Was für den Betroffenen Vorgabe von Praktiken, Werten und dergleichen ist, erscheint aus abstrakter Perspektive als Wissen in Form impliziter Annahmen über die Welt. Für eine nicht-phänomenolo­ gische Betrachtung von Tradition kann ganz anderes als relevant erschei­ nen, weshalb solche Deutungen vor allem in soziologischen oder ethnolo­ gischen Arbeiten eine Rolle spielen, die notgedrungen abstrakte, externe Standpunkte einnehmen und Traditionen als Wissen, als Institutionen und so weiter ansehen. Ähnliches lässt sich für den biologisch-ethologischen Traditionsbegriff zeigen. Diesem zufolge ist als Tradition im Wesentlichen jede nicht-geneti­ sche Weitergabe von Informationen zu verstehen. Peter Medawar meint etwa: „Die exosomatische ‚Evolution‘ […] wird nicht durch Vererbung, sondern durch Tradition vermittelt, womit ich die Übertragung von Infor­ mation von einer Generation zur anderen durch nichtgenetische Kanäle meine.“299 Wenn ein Exemplar A einem Exemplar B Verhalten c nachge­ burtlich vorführt, B dieses übernimmt und seinerseits einem Nachkom­ 298  Vgl. dazu S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. Kap.  3.16, wo ein solches Denken für Michael Oakeshott, Hayek und MacIntyre belegt wird. 299  P. B. Medawar: „Tradition. Das Zeugnis der Biologie“, in: ders.: Die Einmaligkeit des Individuums. Übers. v. K. Simon. Frankfurt 1969, S.  140–148, hier S.  148.

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II. Phänomenologie der Tradition

men weitergibt,300 liegt Tradition vor. Dies überzeugt phänomenologisch nicht,301 denn charakteristisch für Tradition ist eine bedeutsame, häufig auffällige Eigenart, die bei bestimmten biologischen Weitergaben nicht vorliegt. Wie ist die periphere Eigenschaft intergenerationeller Weitergabe aus dem Kern zu erklären? Phänomenal muss sich Tradition diachron er­ strecken, muss Kontakt mit etwas sich als vergangen Gebendem herstellen. Das heißt, sie übergibt Früheres an Späteres. Diese Dimension wird von der Biologie akzentuiert, dabei aber noch eingedenk der Tatsache, dass für Menschen Traditionen dezidiert Kulturleistungen sein müssen, nicht na­ türliche Vorkommnisse. Wenn also etwas nicht qua Natur – hier zumeist qua genetischer Vererbung gedacht – erklärt werden kann, muss Tradition als kulturelle Form diachroner, intergenerationeller Weitergabe funktionell einspringen. Auch für den Menschen treffen diese beiden Eigenschaften, die von Biologen herausgestellt werden, selbstverständlich zu – Traditionen sind nicht-natürliche, kulturelle Überlieferungen durch die Zeit. Aber in­ dem allein dieser Aspekt betont wird, werden die anderen, nicht weniger entscheidenden phänomenalen Merkmale verdrängt. Etwas sich als gleich­ gültig Gebendes kann phänomenologisch nicht als Tradition gelten. Nun mag es zukünftigen Studien vorbehalten sein, inwiefern Tiere unter der Wegnahme gewisser traditioneller Bestände leiden, wahrscheinlich ist das aber nur, wenn überhaupt, bei ganz wenigen Arten der Fall. Beim Men­ schen hingegen ist diese Dimension sehr ausgeprägt und zentral. Daher ist, ausgehend vom analysierten Phänomen, der biologische Begriff eben als peripher zu kennzeichnen, weil er eine vorliegende, aber phänomenal se­ kundäre Eigenschaft in den Vordergrund stellt. Das ist selbstverständlich für gewisse Erkenntnisinteressen legitim, nur zeigt sich, dass bei gleichblei­ bendem Wortgebrauch eine akzentuierte Semantik dahintersteht, derer eingedenk zu bleiben wichtig ist. Als letztes Fallbeispiel peripherer Abwandlungen sollen schließlich noch die Post-Traditionen in den Blick kommen. Dabei handelt es sich nach Aus­ kunft von Niekrenz um solche Lebensweltelemente, die „dekontextuali­ siert benutzt“ werden, „kaum Interesse an Überlieferung und Stabilisie­ rung“ zeigen, keine „Orientierungsfunktion“ besitzen und die „adaptiert“ werden können.302 Adaption meint hier, diese Post-Traditionen lassen sich für verschiedenste Interessen einspannen und in verschiedenste Kontexte übertragen, was zumindest nicht grundsätzlich unvereinbar ist mit dem 300  Diese zweite Weitergabe kann dann übrigens selbst durchaus wieder (epi-)gene­ tisch erfolgen. 301  Vgl. dazu auch das Ende von Kap.  I I.2.4. 302  Y. Niekrenz: „Gemeinschaft und Traditionen als Anachronismen?“. S.  157.

3. Kern und Peripherie

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phänomenologischen Konzept, wenn auch die Intendiertheit der so ver­ standenen Adaption Grenzen setzt. Alle anderen Eigenschaften aber schei­ nen geradezu Gegenteile von dem zu sein, was in Kapitel  II.2 erarbeitet wurde. Wieso also überhaupt noch die Rede von Post-Traditionen, wenn die wesentlichen Merkmale von solchen gerade nicht mehr vorkommen? Es steht zu vermuten, dass mit dem genannten Konzept eine Akzentuierung allein soziologisch-funktionaler Aspekte in den Mittelpunkt gerückt wird. Post-Traditionen leisten das, was zuvor echte Traditionen übernahmen, aber sie tun dies nun auf eine andere Weise. Indem sie funktional an die Stelle der früheren, älteren Form treten, werden sie als Tradition bezeich­ net, jedoch sind sie – und das zeigen Niekrenz’ Bestimmungen phänome­ nologisch zutreffend  – im Erleben der Betroffenen anders geartet. Eine Post-Tradition legt, folgt man der Analyse, keinen Wert darauf, weiterzu­ bestehen, sie formuliert in dieser Hinsicht keine Verpflichtung gegenüber dem Subjekt. Vielleicht fehlt generell eine ausgeprägte vertikalspannende Dimension. Nur aus einer sehr abstrakten Perspektive kann über die so bezeichnete Post-Tradition noch als Tradition gesprochen werden, indem etwa der soziale Charakter, der Anschein des Althergebrachten und so wei­ ter immerhin noch Anschlussfähigkeit herstellen. Phänomenologisch frei­ lich ist die so gewählte Begrifflichkeit als abgeleitet zu bezeichnen, weil die wesentlichen Aspekte nicht erfüllt werden. Was damit an drei Fällen vorgeführt wurde, lässt sich, so die methodi­ sche Hypothese, für alle divergenten Traditionsverständnisse leisten.303 Der phänomenale Kern bietet Chancen, die jeweiligen Akzentuierungen zu verstehen, ihre Betonungen positiv zu bewerten, aber auch Verdeckun­ gen ans Licht zu ziehen. Umgedreht gilt das selbstverständlich ebenso für den phänomenologischen Blick, für den es vielleicht in diesem Sinne als verdeckende Eigenart gelten muss, dass er institutionelle Bedingungen  – zum Beispiel systemische Machtinteressen – nicht bemerkt, vielleicht auch ebenso, dass er den Wissenscharakter nur als sekundär herausstellen kann. Diese gegenseitigen Perspektivierungen versprechen als Desiderat frucht­ bare Einsichten in das eingangs umrissene Begriffsfeld.

303 Als Überblick zu den Verständnissen vgl. S.   Kluck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert.

III. Argumentationsfiguren Im dritten Teil der vorliegenden Untersuchung wird ausgehend von dem im Kapitel  II phänomenologisch Herausgestellten versucht, etablierte Argu­ mentationsfiguren im Hinblick auf Traditionen neu zu durchdenken und zu bewerten. Es soll auf diese Weise systematischer Ertrag eingeholt wer­ den. Mit den argumentativen Motiven, die im Folgenden in den Mittel­ punkt rücken, ist gemeint, dass bestehende Diskurse oder theoretische Zu­ sammenhänge mittels des geschärften Verständnisses von Tradition sich selbst auch modifizieren. Diese Modifikationen stellen den Mehrwert dar, den der phänomenologisch geerdete Begriff bietet. Dass von Figuren die Rede ist, soll darauf verweisen, dass das neue Verständnis nicht notwendig dazu führen muss, bestimmte Argumente abzulegen, sondern nur, dass sich gegebenenfalls deren Architektur ändert. Für die Behandlung der Figuren kommt sinnvollerweise die Orientie­ rung an philosophischen Disziplinen  – Anthropologie, Epistemologie, Ethik, Kulturphilosophie und politische Philosophie – zur Anwendung, wo­ bei diese einteilenden Begriffe cum grano salis zu nehmen sind. Der syste­ matische argumentative Zusammenhang steht im Vordergrund, die diszip­ linär vollends adäquate Zuordnung nicht. Dass andere Kontexte, vor allem der theologische, der soziologische und der geschichtswissenschaftliche, keine Rolle spielen, ist dem philosophischen Schwerpunkt der Gedanken geschuldet. Es scheint jedoch plausibel, dass eine Evaluation des Tradi­ tionsverständnisses auch in diesen Rahmen mittels der geleisteten phäno­ menologischen wie philosophischen Erhellung produktiv wirken kann.

1. Anthropologie Für eine aus dem Blickwinkel der philosophischen Anthropologie erfol­ gende Betrachtung einschlägiger argumentativer Zusammenhänge sind vor allem zwei Fragen von besonderer Bedeutung, nämlich diejenige nach der Bestimmung des Menschen1 und die nach dem Verhältnis des Menschen zu 1  Die

zuletzt beobachtbare Tendenz, starke Wesensfragen anthropologisch zu dis­

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III. Argumentationsfiguren

Überindividuellem. Beide sind insofern auf Tradition zu beziehen, als im ersten Fall der Mensch wahlweise als traditionsaffines oder traditionskriti­ sches Wesen zu verstehen sein könnte, im zweiten Fall stellt Tradition einen möglichen Bestandteil der kollektiv-objektiven Sphäre dar. Man kann in Anpassung einer von Gehlen herkommenden Perspektive fragen, was für ein Wesen es ist, das Tradition braucht?2 Das bedeutet, man fragt von der phänomenal sich zeigenden Wirklichkeit zurück nach der zu dieser passenden Lebensform, indem man die relevanten Phänomene als spezifische Mittel eben dieses Wesens versteht. Noch anders ausge­ drückt: Wenn Traditionen der Weg sind, auf dem sich eine Lebensform ­realisiert, erhält, vervollkommnet und so weiter, was zeichnet diese Le­ bensform dann aus? Eine solche Perspektive macht schon deutlich, dass nicht jedes Lebewesen auf Traditionen im herausgestellten Sinn angewiesen ist, nämlich solche nicht, die vollständig autark sind. Damit will gesagt sein, dass dergleichen Lebenswesen, die die ihnen möglichen Leistungen in einem hohen Maße – nicht nur auf basaler Stufe3 – bewerkstelligen können kreditieren, hat zur Rede vom „Tod des Menschen“ in diesem Kontext geführt (vgl. dazu die Erläuterungen bei D. Kamper, C. Wulf: „Einleitung: Zum Spannungsfeld von Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit“, in: dies. (Hrsg.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit. Frankfurt 1994, S.  7–12). Dahinter steht die Beobachtung, dass noch die anthropologische Besinnung selbst kulturbedingt scheint. Heute könne von der Anthropologie „nicht mehr eine Be­ stimmung dessen erwartet werden, was der Mensch in seinem Wesen ist. Vielmehr be­ steht ihre Aufgabe in der Analyse dessen, was sich der Erfahrung des Menschen gibt. Diese Bestimmung führt zu einer Historisierung und kulturellen Differenzierung der Anthropologie, die nicht hintergehbar ist.“ (Ebd., S.  11). Diese Relativierung und Kon­ textualisierung von Wesensaussagen fußt auf der Feststellung, dass die Wesensfrage nach dem Menschen eine relativ junge europäische Errungenschaft sei (vgl. ebd., S.  10), weshalb eine solche Perspektive nicht einfach universell übertragen werden dürfe. Während das historisch wohl stimmen mag, ist die Begründung letztlich doch unzurei­ chend, denn es wäre zu zeigen, dass die „europäische“ Perspektive der Sache nach tat­ sächlich nur eine Möglichkeit, nicht eine bessere, „richtigere“ darstellt. Genetische und geltungsspezifische Perspektiven sollten getrennt verhandelt werden. Wenn im Folgen­ den nach dem Wesen des traditionshabenden Seins gefragt wird, so kann diese Frage jedoch sowohl im Sinne der universellen als auch der relativen Anthropologie verstan­ den werden. Sie ist an beide Perspektiven anschlussfähig, obgleich freilich zu vermuten ist, dass das, was v. a. in Kap.  II.2 als Tradition im phänomenologischen Verständnis herausgestellt wurde, sich in allen Kulturen finden lässt, eine universelle Perspektive daher näher liegt. 2  Vgl. zu dieser Frageweise A. Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Bonn 1958, S.  17 f. 3  Diese Einschränkung ist deshalb wichtig, weil vielleicht für viele Tierarten gilt, dass sie allein mit ihrer genetischen Ausstattung wohl individuell überlebensfähig wä­ ren. Für den Menschen jenseits des Kindesalters steht das auch zu vermuten.

1. Anthropologie

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ohne die Hilfe anderer Exemplare ihrer Art, auf Traditionen nicht angewie­ sen sind. Derartige Lebewesen können theoretisch sowohl unterhalb als auch oberhalb des Menschen verortet sein, etwa eine Amöbe einerseits, ein Gott andererseits.4 Beide sind sich gleichsam selbst genug im Hinblick auf das, was sie vermögen. Allerdings ist dadurch klar, dass die Leistung streng vom individuellen Standpunkt aus definiert werden muss, denn für gat­ tungsspezifische Hervorbringungen, Tätigkeiten, Vermögen und so weiter ist auch eine Amöbe vielleicht auf Hilfe angewiesen.5 Die Autarkie be­ trifft übrigens nicht nur aktuelle Dimensionen, sondern wäre diachron zu beachten. Während eine Amöbe allein über die genetische Schiene Diach­ ronizität besitzt – die freilich keine intentionale Form hat – und somit in zeitlicher Hinsicht autark ist, so vermag ein Gott – verstanden als vollkom­ menes Wesen, das unter anderem nicht vergessen kann –, indem er immer alles weiß, auch diachron autark zu agieren. Die Amöbe lebt im Hier und Jetzt, Gott lebt in der Ewigkeit, beide sind nicht auf zeitliche Kontinuitäten heterogener Art angewiesen. 6 Umgekehrt und positiv formuliert: ­Tradition ist ein Mittel für Wesen, die sich selbst nicht genügen können. Dieses Unver­ mögen betrifft dabei vor allem die Vervollkommnungsdimension, also den Möglichkeitsraum zur Höher-, Fort- oder Weiterentwicklung. Hier liefern Traditionen, wie gezeigt, in mindestens zweierlei Hinsichten Impulse, ers­ tens indem sie Bahnungen übermitteln, die sich bewährt haben oder die doch nicht empirisch gescheitert sind, und indem sie zweitens den Indivi­ duen qua Vertikalspannung die Chance auf eine entsprechende Verände­ rung zumindest andeuten. Diesen Gedanken hat Plessner wohl ähnlich vor Augen gehabt, als er darauf hinwies, dass die Offenheit des Menschen und der Welt die Ausbildung historischer Kontinuitäten und die Bindung an sie geradezu erfordere.7 Nahe läge es, in Erweiterung des Ansatzes der Rit­ 4 

Damit will nicht die Existenz eines oder des Gottes behauptet sein, sondern es geht nur um die Erkundung des Denkmöglichen, um die Stellung des Menschen besser zu verstehen. 5  Gerade für Lebensformen, die sich anders als Amöben auf nicht asexuelle Weise fortpflanzen, ist selbstverständlich auf Artebene die Leistung der Erhaltung nicht indi­ vidualautark zu bewerkstelligen. Dass hier nur die individuelle Ebene thematisch ge­ macht wird, erklärt sich aus der phänomenologischen Perspektive. 6  Anders wäre dies so auszudrücken, dass, als womöglich triviale, aber doch relevan­ te Voraussetzung, nur zeitlich erstreckte Wesen – also solche, die irgendeinen früheren Zustand vom jetzigen und vom kommenden späteren unterscheiden können – Traditio­ nen auszubilden in der Lage sind. Nur ihnen kann sich etwas als „vergangen“, „alt“ usw. geben. 7 So der Gedanke, am Beispiel einer Gemeinschaft durchdacht, bei H. Plessner: Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Welt­

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III. Argumentationsfiguren

ter-Schule, von Traditionen daher als Kompensationen für biologisch defi­ zitäre Wesen zu sprechen. Das griffe jedoch zu kurz, vielmehr scheint es plausibel, umgekehrt Tradition als eine herausragend erfolgreiche kulturevolutionäre Strategie zu verstehen. 8 Die bahnende Wirkung der Tradition sichert dem Individuum, oft vermutlich unthematisch und unreflektiert, die Bereitstellung von Optionen, die sein Leben  – und mittelbar das der Gruppe – positiv gestalten helfen. Traditionen sind, so gesehen, sinnvolle und auf Dauer gestellte Antworten auf eine grundlegende anthropologi­ sche Lage einerseits, konkrete historische Settings andererseits.9 Indem das Individuum eingebettet wird, bereichert es seinen Lebensmöglichkeits­ raum, seine Lebenschance im Vergleich zur entbetteten Lebensform. Dass es dies tun kann, ist kein Mangel, sondern ein evolutionärer Sprung, was Tomasello mittels des Motivs des Wagenhebers zu verbild­lichen sucht, der, solange er funktioniert, ein Zurücksinken auf ein tieferes Niveau verhin­ dert.10 Ausgegangen waren diese Überlegungen davon, aus dem Vorliegen der Tradition mit den spezifischen phänomenalen Aspekten, auf die Eigenarten des Wesens zurückzuschließen, das sie hat. Dabei zeigte sich, dass Autarkie kein solches Merkmal sein kann. Aber schon Plessners Hinweis auf die Of­ fenheit legte eine zweite Spur. Ein auf Traditionen rekurrierendes Lebe­ wesen ist notwendig als gestaltbar zu denken. Es muss durch Nicht-Festge­ stelltheit ausgezeichnet sein, wovon freilich die Kehrseite Unsicherheit und Instabilität sind. Zuletzt hat Ralf Konersmann ausgehend von der zeitdiag­ nostisch herausgestellten „Kardinaltugend der Flexibilität“11 als wesent­ liches Merkmal der Moderne die Unruhe analysiert, die den Menschen ständig zu Veränderungen, zum Schaffen treibe und ihm so kulturellen Fortschritt und Aufstieg ermögliche.12 Allerdings ist eine solche ständige Veränderung, wie Konersmann bei aller Rehabilitierung der Unruhe als ansicht (Gesammelte Schriften. Bd.  V ). Frankfurt 1981, S.  230 ff. Vgl. auch die ­ä hnlichen anthropologischen Überlegungen in ders.: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin, New York 1975, S.  250, 310 f. 8  Vgl. dazu z. B. F. A. v. Hayek: Die Verfassung der Freiheit. S.  34 oder L. L. Cavalli-­ Sforza, M. Feldman: Cultural Transmission and Evolution. S.  66. Auch Tomasellos Überlegungen (vgl. M. Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens) weisen in diese Richtung. Vgl. dazu auch S.  Kluck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. Kap.  3.21. 9  Diese Überlegung lässt sich zurückführen auf E. Rothacker: Geschichtsphilosophie. Z. B. S.  48, 53 ff. 10  M. Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. S.  14 f., ­50–55. 11  Vgl. R. Konersmann: Die Unruhe der Welt. Frankfurt 2015, S.  10. 12  Vgl. R. Konersmann: Die Unruhe der Welt. Z. B. S.  19, 132 f., 155, 160, 317.

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Movens zugibt, auch ein Problem. Es kommt für den Menschen darauf an – und wenn die Zeitdiagnose stimmt, heute mehr denn je –, nicht zu verler­ nen, auf mehr als nur augenblicksgebundene Weise individuelle und über­ individuelle Verbindlichkeiten und Relevanzen stiften zu können.13 Jen­ seits der Frage nach dem empirischen Zutreffen verdeutlicht dieser Ansatz, dass der Mensch als flexibles zugleich das sich stabilisieren müssende We­ sen ist, und als ein solches ist er auf Traditionen angewiesen. Wenn das stimmt, muss freilich die starke Ablehnung von Heteronomie zugunsten absolut gedachter Autonomie sinnlos erscheinen, denn erst die qua frem­ den Einflusses zustande gekommene Stabilisierung gestattet Gestaltung. Schließlich ist abzuleiten, dass traditionsaffine Wesen nicht nur notwen­ dig (auch) heteronom und gestaltbar-flexibel sind, sondern sie sind ebenso zeitlich begrenzt und diese Begrenztheit kann ihnen thematisch werden.14 Damit soll auf das hingewiesen sein, was Blumenberg an der Differenz von Weltzeit und Lebenszeit verfolgte. Menschen ist es prinzipiell möglich, zu bemerken, dass die eigene Lebensdauer im Vergleich zur kosmologischen Quasi-Ewigkeit verschwindend gering ist. Diese Diskrepanz erfordert bio­ graphische Arbeit, vielleicht sogar philosophische Besinnung, vor allem aber zeigt sich, dass sie auch kulturell angegangen wird. „Institutionen be­ ruhen […] darauf, daß die Lebenszeit nicht das Maß aller Dinge ist, vielmehr Verfügungen über deren Grenzen hinaus getroffen, Traditionen über sie hinweg gesetzt und angenommen werden müssen.“15 Lebensformen, die zwischen dem je eigenen und einem – wie weit auch immer gespannten16 – umfassenderen Zeithorizont zu unterscheiden vermögen, können sich dazu verhalten, indem sie Traditionen entwickeln. Diese stellen den menschen­ 13 

Vgl. dazu R. Konersmann: Die Unruhe der Welt. Z. B. S.  4 4, 109 f., 311, 329. Es ist dabei überraschend, dass Konersmann Traditionen als Wege für transaktuelle Stabili­ sierungen gar nicht in den Blick nimmt. Vermutlich liegt das daran, dass er diese entwe­ der als ewige, langfristige Bindungen liest (und damit für in der Moderne nicht mehr vorkommend hält) oder weil er ein Modell expliziten Ergreifens von Bindungen, Iden­ titäten usw. favorisiert, was mit Traditionen nur bedingt vereinbar scheint. 14  Wenn das stimmt, scheiden Traditionen aus diesem Grund womöglich auch für höchste nicht-menschliche Tierarten aus. Das ist jedoch eine empirische Frage, die phi­ losophisch nur herauszustellen, nicht zu klären ist. 15  H. Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. S.  83. Blumenberg kommt anscheinend hier auf die Diskrepanz andersherum, indem er angesichts moderner Individualitäts­ präferenz auf die notwendige weltzeitliche Dimension im Zitat hinweist. Für den Men­ schen bleibt es biographisch aber in der Regel wohl so, dass die Entdeckung der Diskre­ panz über die „Minderwertigkeit“ der Lebenszeit erfolgt. 16  Schon die eigene Familie ist ein erweiterter Horizont, ebenso die Kultur, das Men­ schenzeitalter bis hinauf zur gesamtkosmologischen Perspektive oder gar religiösen Schöpfungsmythen.

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möglichen Weg zur Unsterblichkeit dar.17 Anders ausgedrückt: Die Einbet­ tung in Situationen erweitert den Zeithorizont und moderiert die Grenze zwischen Lebens- und Weltzeit, ja, man kann sogar sagen, dass sie den bio­ graphisch so schwierigen Hiat geradezu schließen kann, wenn, jedenfalls im Grenzfall, alle Traditionsteilnehmer als in einer Tradition bis in alle Ewigkeit aufgehoben gedacht werden. Auf diese Weise erklärt sich auch die Unterscheidung zwischen Tradition und Mode, denn letztere kann den Hiat gar nicht korrektiv angehen, weil sie selbst schon das Merkmal des Kurzfristigen zeigt. Deshalb ist es für Traditionen phänomenal kennzeich­ nend, dass sie eine augenblickstranszendierende historische Tiefe haben müssen. Warum jedoch ist es notwendig, dass Lebewesen um ihre zeitliche Be­ grenztheit wissen können müssen, um Traditionen auszubilden? Es hatte sich herausgestellt, dass es auch bei Tieren Formen nicht-genetischer Infor­ mationsweitergabe gibt, die evolutionär vorteilhaft sich auswirken, die aber phänomenologisch nicht als Traditionen zu kennzeichnen wären.18 Dieses Verdikt erfährt vor dem verhandelten Hintergrund eine erneute Stützung. Indem Menschen die Differenz zwischen Lebens- und Weltzeit erfahren, kommt das zwischen diesen Vermittelnde erst überhaupt in den Blick. Für Tiere, so steht zu vermuten, kommt weder der Hiat vor, noch ist ihnen des­ halb die Einbettung bedeutsam oder affektiv über das Unbehagen an der Unbequemlichkeit des Wegfalls des Gewohnten hinaus wichtig. Menschen hingegen erleben die Einbettung auch vielleicht deshalb als positiv und nicht als heteronom oder entfremdend, weil sie qua dieser Teil einer tran­ sindividuellen Entität werden. Dazu aber muss die Differenz zwischen den beiden Zeithorizonten prinzipiell erlebbar sein. Drei Merkmale für das Wesen, welches der Traditionen bedarf, sind so­ mit herausgestellt – Heteronomität, Flexibilität und zeitliche Begrenztheit. Womöglich wären diese noch durch weitere zu ergänzen, zum Beispiel Ver­ gesslichkeit – denn wenn nichts vergessen würde, müsste eventuell weniger tradiert werden –, aber die hauptsächlichen Aspekte sind es wohl. Nun ist immer wieder behauptet worden, in der Moderne, vielleicht aber auch nur in der jüngsten Zeit, verschwänden die Traditionen.19 Stimmte das, müsste 17  Dazu vgl. H. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 1981, S.  24: „Durch unsterbliche Taten, die, soweit das Menschengeschlecht reicht, unvergängliche Spuren in der Welt zurücklassen, können die Sterblichen eine Unsterblichkeit eben menschlicher Art erlangen […].“ Hier spielt Arendt offensichtlich auf antike Motive an. 18  Vgl. zu dieser These der Sache nach z. B. E. Jablonka, M. J. Lamb: Evolution in Four Dimensions. S.  156, 178, 189, 313. 19  Vgl. als Musterfall H. Rosa: Beschleunigung. S.  439 sowie die weitere Literatur in

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sich das Wesen des Menschen verändert haben. Wenn es möglich sein soll, ohne Traditionen zu leben, welcher der drei Aspekte greift nicht mehr? Of­ fensichtlich ist, dass – trotz aller Arbeit an der Überwindung20 – die Dif­ ferenz zwischen Welt- und Lebenszeit bestehen bleibt. Auch Flexibilität scheint weiterhin nicht nur gegeben, sondern angesichts postmoderner Le­ bensentwürfe sogar geboten. Daher ist es anscheinend die Heteronomie, die dem Selbstverständnis der Menschen nach aufgegeben wird zugunsten einer radikalen Autonomie. Der Mensch macht sich selber, weshalb – aus dieser Perspektive – ein Anknüpfen an Überkommenes unnötig erscheint und aufgegeben werden kann. Ein solches anthropologisches Verständnis kann sachlich nachvollziehbar vom (dann auch nicht beklagenswerten) Verschwinden der Traditionen sprechen. Jedoch ist das herausgestellte Merkmal der Heteronomität keineswegs so konstruktiv angehbar, wie das die Rede vom neuen Menschen nahelegt. Schon qua seiner Natalität ist der Mensch auf andere und anderes angewiesen. Er ist konstitutiv mindestens anfänglich nicht autark. Doch diese Heteronomie besteht auch im weiteren Lebensverlauf, sie wechselt nur ihren Charakter. Ohne Übernahme von Kategorien, hermeneutischen Vorgriffen, Deutungen und so weiter ge­ winnt, wie sich schon bei Rothacker gezeigt hat, die Welt gar keine Rele­ vanz und Struktur. Der Einzelne kann sich zu diesen ganzen genannten heteronomen Elementen zwar kritisch verhalten und von ihnen partiell auch befreien, nie aber ganz, wobei man ergänzen müsste, dass die nicht vollendete Befreiung kein Defizit, sondern einen Gewinn darstellt. Ein ganz grundsätzlich und absolut als autark konzipierter und verstandener Mensch ist kein Mensch.21 Sollte das Geschriebene zutreffen, dann ist die Kap.  I, Fußnote 113. Für Rituale vgl. die parallele These bei B.-C. Han: Vom Verschwinden der Rituale. 20  Es sei an die Darlegungen Knells erinnert (vgl. S.  K nell: Die Eroberung der Zeit. Z. B. S.  35). Einschlägig dafür sind ebenfalls die Theorien – wobei diese als Programm­ schriften besser betitelt wären  – der russischen Biokosmisten, die zu Beginn des 20.  Jahrhunderts forderten, es müsse die Möglichkeit individueller Unsterblichkeit als politisches Projekt angegangen und realisiert werden. Vgl. dazu z. B. A. Svjatogor: „Die biokosmische Poetik“, in: B. Groys, M. Hagemeister (Hrsg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20.  Jahrhunderts. Frankfurt 2005, S.  393–398, z. B. S.  393. Dabei sollte nicht nur jeder Lebende Unsterblichkeit erlangen, sondern auch die Toten wieder auferweckt werden (vgl. ebd., S.  397). Dieses obskure Projekt will den geschilderten zeitlichen Hiat schließen. Wenn das auch sicher utopisch anmuten mag, dem Impetus radikaler Machbarkeit nach ist das Projekt weitaus weniger abwegig oder abseitig, als es scheint. 21  Das heißt, im Sinne der zitierten Passage zum „Tod des Menschen“ in der Anthro­ pologie, dass ein solcher Mensch keine Erfahrungstatsache ist. Gleichzeitig steht – das bleibt freilich eine induktive Hypothese – zu vermuten, dass es ihn auch aus den ge­

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Rede vom Verschwinden-Können der Traditionen folglich anthropologisch nicht gedeckt. Nun ist die vorstehend thematisierte Idee, den Menschen als autonomes Wesen – genauer: als zur Autonomie aufgerufenes Wesen – anzusehen, im Nachgang der Aufklärung keineswegs eine Randerscheinung geblieben, sondern in der westlichen Welt zum allgemein anerkannten Imperativ ge­ worden. Sollte der Mensch jedoch wesentlich auch und zunächst hetero­ nom verstanden werden müssen, wären entsprechende negative Folgen zwangsläufig zu erwarten. Gibt es diese? Tatsächlich lässt sich die Kritik an entfremdenden Entwicklungen in der Gegenwart, die zu resonanzlosen Lebensräumen und -verhältnissen führen, als Konsequenz der Traditions­ entbettung verstehen, dies war schon gezeigt worden.22 Ganz generell steht damit eine doppelte Entwicklung im Fokus, nämlich zwei für die Mo­ derne typische Weisen, wie der Mensch sich zu den Situationen, in die er gerät, verhält (wovon Traditionen nur ein Beispiel darstellen). Einerseits nämlich scheint es so zu sein, dass das Eingehen in diese nicht mehr naiv oder unbefangen geschehen kann, sondern nur noch reflexiv distanziert. Wer der Tradition eines bestimmten Fußballvereins sich auf diese Weise zugehörig zu fühlen meint, weiß immer schon, dass es auch ganz anders sein könnte, weshalb er den Vorgaben der Traditionen nur immer gleich­ sam im Unernst folgt, sie bei sich bietender Gelegenheit ohne Weiteres ab­ legen würde. Jede Tradition hat immer schon partiell Neutralitätscharak­ ter, geht den hier vorgestellten Menschen kaum ungebrochen subjektiv – im Sinne unmittelbaren Betroffenseins – an. Andererseits kommt hinzu, dass parallel zur Durchsetzung einer kritisch-analytischen Vernunft überhaupt die Fähigkeit, sich auf Situationen einzulassen, diese zu bemerken, sich zu­ rückentwickelt. Jede Situation wird aus anderen, vermeintlich vorsituativen Elementen zusammengesetzt gedacht, so dass sie an sich selbst keinen Ei­ genwert – auch keinen ontologischen Eigenstatus – mehr besitzt. Für einen so denkenden Menschen ist das Eingebettetsein überhaupt ganz unverständ­ lich und, sofern er es an anderen Personen bemerkt, ganz irrational. Diese beiden Entwicklungen sind unter den Titeln ironistische und autistische Verfehlung von Schmitz phänomenologisch behandelt worden.23 Ohne die weitreichenden philosophischen Hintergründe dieser beiden Verfehlungen nannten Motiven heraus nicht geben kann. Sicher aber ist denkbar, dass das Maß der Heteronomie ab-, vielleicht in anderen Zeiten auch wieder zunimmt. 22  Vgl. im Anschluss an Rosas Überlegungen z. B. in Kap.   II.2.6 der vorliegenden Arbeit. 23  Vgl. dazu H. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. V. a. S.  55–82.

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im Einzelnen hier thematisieren zu können, sollen sie in ihrer Bedeutung für das Phänomen „Tradition“ in den Blick genommen werden. Als autistische Verfehlung versteht Schmitz „die Zersetzung implantie­ render Situationen […] in Konstellationen einzelner, isolierter persönlicher Situationen.“24 Das bedeutet, die Situation erfährt durch eine bestimmte Behandlung ihrer oder Einstellung ihr gegenüber eine Zerlegung in die ver­ meintlich eigentlichen Bestandteile, den Konstellationen, worunter nähe­ rungsweise Einzelnes und dessen netzwerkartige Verbindungen zu ande­ rem Einzelnen zu verstehen ist. Am Fall der Tradition verdeutlicht, würde ein autistischer Blick diese auf Handlungen Einzelner zurückführen, auf interpersonelle Relationen und am Ende ganz in die Verfügung und Ver­ fügbarkeit jedes Individuums stellen. Es selbst ist es, das die Tradition im Hinblick auf die zum Beispiel affektive Konnotation oder die welteröffnen­ de Bedeutsamkeitsbahnung hervorbringt. Folglich ist dies alles auf es allein zurückzubeziehen. Mit dem Wort Autismus will Schmitz daher auf eine solche Entbettung aus der Sphäre des sozial Geteilten hinweisen. Der Ironismus wiederum geht aus der – für sich genommen wertneutra­ len – Entdeckung hervor, daß unter den objektiven oder neutralen Tatsachen, die jeder aus­ sagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann, für niemand ein An­ haltspunkt zu finden ist, daß der Mensch, der er tatsächlich ist, er selbst ist. […] Die Folge davon ist die Entzweiung zwischen dem merkwürdig ortlos und rästelhaft, dafür aber […] beliebig zu- und abwendungsfähig gewordenen subjektiven Eigensein und al­ lem, was noch als tatsächlich festgestellt werden kann, aber bloß noch objektiv da ist […]. 25

Schmitz weist darauf hin, dass der Mensch über die positiv konnotierte26 Fähigkeit verfügt, sich von Begegnendem – den Tatsachen in der Welt – zu distanzieren. Dadurch wird das zunächst Angehende, Betreffende, das eine subjektive Tatsache im Sinne Schmitz’ darstellt, in einen neutralen, ver­ gleichgültigten objektiven Weltbestandteil umgewandelt. Diese Fähigkeit ist für den Menschen ganz offensichtlich von großem Vorteil und sie wird auch im Rahmen von Erziehungsvorgängen immer wieder eingefordert und implementiert. Aber, und darin liegt die Verfehlung, wenn diese Dis­ tanzierung zu weit geht, verliert der Mensch im Meer der objektiven, gleichgültigen Tatsachen seinen festen Standpunkt. Er schwebt dann über 24 

H. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. S.  55. H. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. S.  69. 26  Vgl. dazu H. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. S.  6 4, wo von ihr als einer „wichtige[n] und originelle[n] Errungenschaft des menschlichen Selbstverständnisses“ die Rede ist. 25 

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allem gleichsam in der neutralen Beobachterposition, alles Begegnende wird ihm zur bloßen Option – wie dem Ironiker, der heute dies, morgen das zu sein vermag.27 Solch ein nur noch ironistisches Verhältnis zu dem, was für den Menschen in der Lebenswelt vorkommt, verhindert ein Einge­ hen in einbettende Phänomene wie die Tradition. Deren Bahnungen, deren Vertikalspannung, deren affektive Wirkungen werden – wenn überhaupt – eher konstatiert als angenommen. Dann aber ist die Tradition, so erlebt, phänomenologisch schon verfehlt. Dem Ironiker entgehen die wesentlichen Dimensionen, was zwei wesentliche Konsequenzen hat, erstens kann er kaum noch Gemeinschaften, also sozial relevante Situationseinbettungen, realisieren, 28 zweitens kann er jedes (wenn auch nur partiell) ernsthafte Eingehen immer nur sprunghaft realisieren. Er muss sich zwingen (gegen sein besseres Wissen und gegen sein fehlendes Fühlen), etwas im Ernst (so­ fern ihm dies irgend möglich ist) als Tradition im Sinne des erläuterten Phä­ nomens mit all seinen Eigenschaften zu akzeptieren. Freilich bleibt genau dieser Sprung als Ironismuskompensationsstrategie am Ende defizitär.29 Diese beiden Motive des modernen Menschenbildes bedeuten für Tradi­ tionen, wie dargelegt, eine Herausforderung. Wenn Schmitz von Ironismus und Autismus als Verfehlungen spricht, steckt dahinter – rein sprachlich – eine normative Implikation. Welchen Sinn hat diese Verfehlungsrede? Was ist der Bezugsmaßstab? Ohne weiter auf Schmitz’ Theorien einzugehen, soll ein eigener Versuch der normativen Orientierung unternommen wer­ den. Menschen, die wie die postmodernen „Touristen“, „Spieler“ und „Anywheres“ die Einbettung bewusst verweigern, so könnte man sagen, erfahren in gewisser Hinsicht eine Beschneidung ihres Möglichkeitsraumes. Ihnen entfaltet sich die Lebenswelt in begrenzterer Weise, weil sie in diach­ roner Zeithorizontperspektive auf Ausdifferenzierungen verzichten, vor allem aber, weil es ihnen an Bedeutsamkeitseinbettung fehlt. Zwar kann auch ein „Tourist“ wissen, dass eine bestimmte Tradition seit soundso vie­ len Jahrhunderten besteht, aber dieses objektive Faktum erlangt für ihn nicht die affektive Relevanz, die es für den Eingebetteten hat. Dabei han­ delt es sich nicht bloß um eine gefühlsmäßige Differenz, die man leicht ab­ 27  Vgl.

zur Figur des rezessiven Ironikers, der sich aus allem zurückzuziehen ver­ mag, M. Großheim: Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement. Tübingen 2002, z. B. S.  34–38 und passim. 28  Das stellt im Anschluss an Schmitz auch fest P. Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. S.  98. 29  Dies gilt auch für das schon angesprochene Konvertiten-Phänomen der übermäßi­ gen Bindung an Tradition (vgl. Kap.  II, Fußnote 175), die in Starrheit und Dogmatismus endet. Eine solche Kompensation verfehlt Tradition in gewissem Sinne ebenfalls.

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tun könnte, sondern sie hat zwei Folgen, nämlich im Hinblick auf das ge­ lingende Leben und die Weltaufschließung. Zum letzteren braucht nicht viel wiederholt zu werden, denn dass die affektive Einbettung welteröff­ nende Funktionen hat, ist für Tradition deutlich gezeigt.30 Wichtiger ist die Perspektive des gelingenden Lebens, insofern – im Anschluss an Rosa, aber auch an zuletzt vermehrt aufzufindende Motive einer an Heteronomie sich orientierenden Ethik 31  – zu vermuten steht, dass die Lebensqualität im Zuge vertiefender Einbettung durch Ausbildung positiver Welt- und Selbstverhältnisse – Bestätigung, Anerkennung, Selbstwirksamkeitserfah­ rung, Stabilisierung in diachroner Perspektive, Sinn- oder Relevanzstif­ tung – eher steigt. Freilich ist anzuerkennen, dass mit der Entbettung aus Traditionen in anderer Hinsicht auch eine Erweiterung des Möglichkeitsraumes einhergeht. Durch Distanzierung gewinnt der Mensch Übersicht und Einsicht in Alternativen. Diese Dimension trifft aber prima facie nur auf je konkrete Traditionen zu. Stimmt sie ebenso für eine generelle, umfas­ sende, anthropologische Traditionsentbettung? Das wäre nur der Fall, wenn der Mensch durch Distanzierung aus allen Traditionen gleichsam ei­ nen besseren neuen Standpunkt entwickelte. Nun hatte sich schon gezeigt, dass die Einbettung Vorbedingung für die durch (teil-)entbettende Arbeit der Selbstwerdung herausgebildete Selbst-, aber auch Kulturpositionierung darstellt. Ohne Traditionen gibt es keine Verortung in diesem Sinne. Zu­ dem kommt noch hinzu, dass radikaler Entbettung die unmittelbare, nicht-distanzierte Bahnung in den genannten Hinsichten entgeht. Insofern trifft die verallgemeinerte Universalthese nicht zu. Ausgehend von den kurzen Überlegungen kann auf die Frage, ob es Menschen ohne Traditionen geben kann – den Fall der ontogenetisch unab­ dingbaren Einbettung bewusst ausklammernd  –, eine erneute Antwort versucht werden. Diese Frage ist die Inversion derjenigen, ob Traditionen je ganz verschwinden können, denn wenn Menschen ohne sie auskommen, ist 30 

Vgl. dazu Kap.  II.2.6 und II.2.7 des vorliegenden Werkes. z. B. M. Seel: „Sich bestimmen lassen. Ein revidierter Begriff der Selbstbe­ stimmung“, in: ders.: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie. Frankfurt 2002, S.  279–298, hier S.  289: „Zur selbstbestimmten Lebens­ führung gehört das Geschick (und manchmal das Glück), sich in Situationen zu finden, von denen man bestimmt sein möchte. Sich bestimmen zu lassen ist ein konstitutives Telos von Selbstbestimmung.“ Zudem vgl. einige allgemeine Hinweise zu Ethiken, die statt des autonomen Hervorbringens auch bewusstes Unterlassen, Fremdbestimmung usw. für relevant erachten, bei H. Ottmann: „‚Let it be.‘“, in: ders., S.  Saracino, P. Sey­ ferth (Hrsg.): Gelassenheit  – Und andere Versuche zur negativen Ethik. Berlin 2014, S.  7–13. Generell zum Zusammenhang von Traditionsbindung und gelingendem Leben vgl. Kap.  III.3. 31  Vgl.

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diese zweite zu bejahen. Es hat sich gezeigt, dass es gewisse Entwicklungen im menschlichen Selbstverständnis gibt, die traditionsphobe Tendenzen zeitigen. Ironismus und Autismus sind Traditionen nicht förderlich. Was wäre, wenn ein neuer Menschentypus dieser Art dominant würde? Vom bisherigen, historisch erfahrbaren Menschen ist wohl offensichtlich, dass er als Eingebetteter verstanden werden muss. Viele historische Tatsachen  – von positiven wie der Ausbildung von Tugenden oder dem Erreichen gro­ ßer Ziele wie der Monderoberung, bis zu negativen wie durch Nationalge­ fühl bedingten Kriegen  – lassen sich nur so oder gerade so verständlich machen. Wäre aber ein anthropologisches Bild denkbar, in dem der Mensch ohne jedwede Traditionseinbettung vorkommt? Obwohl es der Anthropo­ logie, wie Habermas schon feststellte, nicht anheim steht, die zukünftigen, offenen Möglichkeiten des Menschen zu begrenzen durch Festlegung sei­ nes Wesens in (vermeintlich ewigen) Definitionen,32 so kann gesagt wer­ den, dass es so einen Menschentypus bislang höchstens in Form von Aus­ nahmebiographien  – zum Beispiel den Dandys des 19. und 20.  Jahrhun­ derts33 – gegeben hat, und dass der Einbettungsverzicht eine Verkürzung des Menschenmöglichen in den genannten Hinsichten darstellt. Gleich­ wohl ist kein prinzipieller Hinderungsgrund ersichtlich, dass dieser Typus nicht paradigmatisch zu werden vermag.34 Es wäre dann nur, soviel kann behauptet werden, der traditionsfreie Mensch ein Mensch, der sich vom bislang historisch fassbaren grundlegend unterscheidet durch seine Vereinseitigung, insofern er ein bestimmtes – entbettendes – Vermögen verabsolutiert. Bisher aber ist dieser Typus höchstens partiell zur Geltung gekommen, es gibt noch immer Traditionen unterschiedlichster Reichweite, wenn auch diejenigen größter Reichweite – die von der Postmoderne kritisierten „gro­ ßen Erzählungen“35  – wohl verschwunden sein mögen. Wenn aber den­ noch die Klage vom Verschwinden der Traditionen etwas sagen will – jen­ seits des Endes der Metanarrationen –, was ist dies dann? Am ehesten lässt 32  Vgl. dazu die mustergültige Formulierung des Anthropologie-Verbots der Kriti­ schen Theorie bei J. Habermas: „Anthropologie“, in: A. Diemer, I. Frenzel (Hrsg.): Philosophie (Fischer-Lexikon). Frankfurt 1958, S.  18–35, hier . S.  34. 33  Vgl. zum Typus des Dandys M. Großheim: Politischer Existentialismus. Z. B. S.  6 , 35 ff. Ob nicht noch der Dandy dem Dandytum als Tradition verhaftet bleiben muss, soll hier nicht verhandelt werden. 34  Dass dies aber nicht ohne Widerstand passiert, zeigen vielleicht die politischen Spaltungsprozesse in der westlichen Welt der Gegenwart, die – im Anschluss an David Goodhart – als Kampf zwischen zwei Traditionsumgangsweisen gelesen werden könn­ ten. 35  Dazu vgl. J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen. Z. B. S.  24 ff., 64–70, 99, 106, 143.

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sich vermuten, dass mit den beiden genannten Veränderungen im moder­ nen Welt-Mensch-Verhältnis die Sensibilität für und das Umgangsvermögen mit Traditionen degeneriert. Ein primär analytischer, sozialatomis­ tischer Weltzugang vor allem in den technischen und ontologischen Theo­ rien sorgt dafür, dass Situationen als Bestände des Gegebenen und Bezugsobjekte des Denkens verschwinden. Damit werden sie schlicht im­ mer weniger bedacht, Menschen werden für sie, ohne selbst traditionsphob zu sein, unsensibel. Und zugleich entwickeln sie gegenüber noch als Tradi­ tionen bestehenden Lebensweltentitäten Zugriffsweisen, die diesen Scha­ den zufügen und nicht angemessen sind. Darauf lässt sich die Rede vom gegenwärtigen „Ende der Tradition“ sinnvoll beziehen. Wenn die vorstehenden Überlegungen stimmen, dann ist der Mensch bislang notwendig als Traditionswesen zu denken gewesen, und nichts spricht dafür, dass er aktuell (oder in naher Zukunft) anders zu charakteri­ sieren wäre – noch, dass es überhaupt erstrebenswert sei, anders zu werden. Dass das Bemühen um radikale Traditionsfreiheit dennoch immer wieder aufkommt, ist zwei wesentlichen Fehldeutungen geschuldet, einer existen­ tialistischen und einer rousseauistischen. Beide sollen im Folgenden, um den ersten der beiden eingangs genannten anthropologischen Problemkrei­ se abzuschließen, verhandelt werden. Die rousseauistische Fehldeutung36 besteht darin, den Menschen als allein aus sich selbst bestimmt und be­ stimmbar zu denken. Jede Vorstellung derart, dass jemand schon aus sich selbst heraus vollständig oder gut sei, übersieht, dass es zur Bestimmung heteronomer Elemente bedarf, seien sie sprachlicher, kategorialer, normati­ ver oder sonst welcher Art. Ein wesentliches Element solcher notwendigen Heteronomität ist Tradition. Bürger hat diesen Aspekt gegen Habermas’ Idee einer traditionsfreien Diskurssituation explizit formuliert: Eine Diskussion […] um die normativen Inhalte identitätsverbürgender Deutungssys­ teme ist möglich nur auf der Grundlage einer rationalen Auseinandersetzung mit der kulturellen Tradition. Rationale Diskussion setzt mit sich identische Subjekte voraus, diese können sich nur entwickeln, indem sie sich abarbeiten an einem Widerstand, hier: bestimmten Aneignungsmodellen und Traditionen; diese können selbstverständlich verändert oder sogar abgelehnt werden, immer aber bedarf es eines Bestandes fester Deutungsmuster, von denen das Individuum, das zu seinem Selbstbewußtsein kommen will, sich abheben kann.37

36  Nicht unternommen wird hier eine exegetische Rückführung des Topos auf Rous­ seau. Taylor hat z. B. Rousseau gegen die These, er sei der Urheber der Behauptung, der Mensch sei allein aus sich heraus gut und vollständig, verteidigt (vgl. dazu C. Taylor: Quellen des Selbst. S.  630). 37  C. Bürger: Tradition und Subjektivität. S.  81.

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Wenn Traditionen heraufziehen, wie Hartmann meinte,38 und von dort dem Subjekt die Abstoßung, die Abhebung im Sinne Bürgers, gestatten, dann ist das rousseauistische Motiv inhuman. Es nimmt dem Menschen die Chance, das zu werden, was er unter den gegebenen Umständen – bei aller Beschränkung, die das aus metahistorischer Perspektive bedeutet  – sein könnte. Die Idee einer völlig autonomen, von jedweder Heteronomie freien Selbst- und Weltbestimmung kommt, mit Sloterdijk gesprochen, einer Ver­ nachlässigung gleich.39 Statt im Interesse von Identität, Individualität und Autonomie das Subjekt an Traditionen heranzuführen, von denen es sich abstoßen kann, wird es sich – der Idee nach jedenfalls – ganz selbst überlas­ sen.40 Hier liegt ein grundsätzliches Missverständnis über die Stellung des Menschen in der Welt vor.41 Ähnliches lässt sich auch für den Existentialismus zeigen,42 der den Men­ schen als zur absoluten Freiheit und Selbststiftung aufgerufen versteht. Jean-Paul Sartre schreibt in diesem Sinne: 38  Vgl. N. Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. S.  2 24. Vgl. auch ebd., S.  2 52: „[…] alle Erziehung ist Erziehung zum objektiven Geist.“ Objektiver Geist – worunter Tradition fiele – ist so gesehen das Höhenniveau, in das Menschen hineingezogen wer­ den durch es selbst. 39  Vgl. P. Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. S.  82: „Die freigesetzten Subjekte [d. i. der Gegenwart; S.K.] müssen zu der Verlegenheit Stellung nehmen, daß die Vergangenheit im Hinblick auf sie praktisch nichts, jedenfalls nicht genug gemacht hat: Das traditionsohnmächtige Bisherige schuf aus ihnen etwas Halbherziges und Halbfertiges, etwas Unvollendetes und Unschlüssiges […].“ 40  Kritisch dazu v. a. auch H. Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. S.  164 f., 261–276. Als eine extreme Stimme, die die Rolle der Traditionen gegen das sich selbst setzende Subjekt in anderer Hinsicht überbetont, kann zur Illustration angeführt werden F. W. Foerster: Autorität und Freiheit. S.  32: „Tritt nun […] das kleine Individuum an die Stel­ le der großen gesetzgebenden Kraft, die aus erhabenen Traditionen redet, so verstummt […] sofort jenes gewaltige ‚Du sollst – du sollst nicht!‘ – eben weil dem Individuum die Welt außerhalb seines Ichs gar nicht in solcher Realität vor Augen steht, um mit derar­ tiger Energie des Anspruchs in seine eigene Welt eindringen zu können.“ Friedrich Wil­ helm Foerster stellt die normative Orientierungs- und Bahnungsfunktion so weit heraus, dass die Möglichkeiten des Individuums dagegen nicht nur als überbewertet, sondern qualitativ so defizitär erscheinen, dass ein Rekurs auf sie gleichsam pathologisch wirkt. 41  Traditionen als Abstoßungspunkt zur Herausbildung des Eigenen, des Selbst ha­ ben gegen das hier als Rousseauismus verstandene Motiv je auf ihre Weise betont C.  Bürger: Tradition und Subjektivität. S.  62 ff.; M. B. Crawford: Die Wiedergewinnung des Wirklichen. S.  299; F. Fukuyama: Identity. The Demand of Dignity and the Politics of Resentment. London 2018, S.  55 ff.; H. Rosa: Resonanz. S.  43, 62 ff. und P. Sloterdijk: Eurotaoismus. S.  264. 42  Eine entsprechende Wertung des Existentialismus als anthropologischer Fehldeu­ tung findet sich der Sache nach auch bei H. Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zu-

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Der Mensch ist lediglich so, wie er sich konzipiert – ja, nicht allein so, sondern wie er sich will und wie er sich nach der Existenz konzipiert, wie er sich will nach diesem Sichschwingen auf die Existenz hin; der Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht.43

Es geht um die Verantwortlichkeit des Menschen für das, was er ist.44 Frei­ lich schillert Sartres Aussage zwischen individueller und artspezifischer Ebene, denn auf letzterer gewinnt die These der Machbarkeit mehr Plausi­ bilität als auf der ersteren. Da aber explizit von Existenz die Rede ist, die spezifisch auf die Erste-Person-Perspektive bezogen gedacht werden muss, liegt die unwahrscheinlichere Lesart aber keineswegs fern. Sartre legt Wert darauf, dass jede mögliche Bindung eine Sache der Wahl ist. „Man kann alles wählen, solange es auf der Ebene freier Bindung geschieht.“45 Damit fallen unkritisch hingenommene heteronome Einbettungen fort, was da­ hingehend mit dem Phänomen „Tradition“ im hier vorgestellten Sinne kol­ lidiert, als es sich nur sehr bedingt mit Gemachtheit und expliziter Wahl verbinden ließ. Sartre ist insofern konsequent, als er die Ablehnung der Heteronomie zum wesentlichen ethischen Aspekt seiner hier anthropolo­ gisch interpretierten Philosophie macht. Der Existentialismus sei „Huma­ nismus, weil wir [d. i. die Existentialisten; S.K.] den Menschen daran erin­ nern, daß es außer ihm keinen anderen Gesetzgeber gibt und daß er in sei­ ner Verlassenheit über sich selber entscheidet […].“46 Wieder schillert die These zwischen individueller und artspezifischer Auslegung. Aber wenn man Traditionen als soziale, das heißt kollektive Entitäten versteht, wäre selbst im vielleicht weniger strittigen Fall des Kollektivs die Rede von einer Autonomie nicht im Vollsinn anwendbar, denn noch dieses ist nicht unge­ prägt verlassen und es kann gar nicht die Verantwortung für alles überneh­ men, was es besitzt, weil ihm dieses gar nicht vollauf explizit und einzeln als Gegenüber gegeben ist. Die Angewiesenheit auf Heteronomie findet bei kunft. S.  9 –12 und M. Landmann: Anklage gegen die Vernunft. S.  180 ff. Konzilianter wertet H. Hastedt: Der Wert des Einzelnen. S.  182–185. 43 J.-P. Sartre: „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“, in: ders.: Drei Essays. Frankfurt, Berlin 1968, S.  7–51, hier S.  11. 44 Diese Verantwortlichkeit wird von Sartre vollumfänglich gedacht. Weder ent­ schuldigen irgendwelche Umstände (vgl. J.-P. Sartre: „Ist der Existentialismus ein Hu­ manismus?“. S.  22), noch bleibt der Umkreis auf die eigenste Sphäre beschränkt, viel­ mehr geht man qua gewählter Bindung  – zum Beispiel an eine Tradition, einen Ent­ wurf, eine Identität – eine Verantwortung für die „ganze Menschheit“ (ebd., S.  13) mit ein. Eine solche nur noch als ethische Hybris zu bezeichnende Position ist angesichts moderner, pluraler Massenstaaten empirisch wenig stichhaltig. 45  J.-P. Sartre: „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“. S.  34. 46  J.-P. Sartre: „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“. S.  35.

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III. Argumentationsfiguren

Sartre nicht den ihr angemessenen Platz,47 eben deshalb auch nicht Tradi­ tion.48 Zuletzt wurde eine solche Anthropologie, das heißt ein theoretisches Bild vom Menschen, verschiedentlich attackiert, namentlich durch Gernot Böhme, Martin Eldracher und Taylor. Allen drei gemeinsam ist, dass sie eine Subjekttheorie vertreten, die im Grundsatz davon ausgeht, dass Auto­ nomie ein Spät-, gleichsam Letztprodukt einer zutiefst heteronomen Ent­ wicklung ist – und Heteronomie dabei keine hinzunehmende Notwendig­ keit, sondern ein positives Faktum darstellt. Böhme entwirft eine „oblique Anthropologie“, die behauptet, dass „zum rechten Menschseinkönnen nicht nur handeln können, sondern die Einübung in Weisen des Sich-­lassens [gehört].“49 Es geht ihm um eine „Abkehr vom Ideal des autonomen Men­ schen“, denn „[o]bliques Denken ist ein Denken, daß sich des Anderen, vom dem es sich absetzt, von denen [sic!] es aber zugleich abhängig bleibt, bewußt ist.“50 Böhmes auch von fernöstlichen Lebenskunsttechniken ins­ pirierter Ansatz will gegen den autonomen Vernunftmenschen der Aufklä­ rung, dessen aus „strukturelle[m] Narzißmus“ erwachsende „Unfähigkeit, […] sich etwas widerfahren zu lassen, […] mit einer grotesken Überschät­ zung des Ich [korreliert]“51, eine Vorstellung vom Menschen herausstellen, nach der Menschsein eine Aufgabe ist. Volles Menschsein wird in Ausein­ andersetzung mit anderen und anderem erst erworben. Dabei spricht zwar auch Böhme von einem Sich-Geben des Wesens durch den Menschen, aber dies ist keine entwurfsartige Stiftung, sondern eine Explikation im Heraus­ wachsen.52 47  Er deutet immerhin an, dass jede „Wahl […] eine Wahl inmitten einer Situation [bleibt]“ (J.-P. Sartre: „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“. S.  30), aber das bleibt ein kleines Zugeständnis im Vergleich zur Verantwortungshybris. 48  Eine in den Grundzügen vergleichbare Position, wenn auch ohne die Ausweitung der Verantwortung, hat Jaspers (vgl. z. B. K. Jaspers: Philosophie I. S.  16, 280 f., 285, 308) vertreten. Dieser ist allerdings, um eine grobe Einschätzung zu geben, noch mehr phä­ nomenologisch orientiert, weniger programmatisch als Sartre, dessen Existentialismus auch ein politisches Projekt darstellte, weshalb Jaspers immerhin einen expliziteren Platz für die Tradition einräumen konnte, die allerdings qua Wahl und Sprung mit dem herausgestellten Phänomenkern nur bedingt vereinbar ist. 49  G. Böhme: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen. Frankfurt 1985, S.  14. 50  G. Böhme: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. S.  281. 51  G. Böhme: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. S.  12. 52  Vgl. zu diesem Zusammenhang insgesamt G. Böhme: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. S.  287, 291, 295, 303, 305. Eine überraschende Parallele zu Böhmes Den­ ken bietet Judith Butler, die den Menschen als immer schon in vor ihm angefangen ha­ bende Geschichten verstrickt sieht (vgl. J. Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Übers. v.

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Eldracher hat im Anschluss an Heidegger, Taylor und, interessanterwei­ se, Emmanuel Levinas, Jacques Derrida, Michel Foucault und Paul Ricœur zu zeigen versucht, dass ein sich ganz selbst bestimmendes Subjekt eine Fiktion ist. Für die wesentliche Einsicht der genannten Autoren hält er, dass „Fähigkeiten, Vermögen und Verstehen positive Bezugsmomente von Sub­ jektivität benennen, die sich im Ausgang und Umschlag von negativen Ent­ zugsmomenten konstituieren.“53 Erst dadurch, dass dem Subjekt etwas ent­ geht, ihm nicht autonom zur Verfügung steht, kommt es überhaupt dazu, Subjekt zu werden. „Subjekte schöpfen ‚ihre‘ Freiheit nicht aus sich selbst, sondern lassen sie ‚kommen‘, indem sie sich dem Fremden aussetzen.“54 Es gibt eine grundsätzliche und konstitutive Ausgesetztheit des Menschen, aus der er sich  – im Rahmen seines Subjektwerdens  – positiv herausarbeiten kann, ohne freilich tabula rasa-Zustände erreichen zu können. Daher ist Autonomie nur eine Seite der menschlichen Daseinsweise, die – so wäre mit Eldracher zu sagen – zu Unrecht in der anthropologischen Selbstauslegung dominiert.55 Nicht ohne andere und anderes wird der Mensch Subjekt. Schließlich hat auch Taylor auf eine solche konstitutive Heteronomie hingewiesen in seiner bahnbrechenden Studie zur Genese der modernen Identitäts-Konzeption. Gegen die Vorstellung des desengagierten Selbst, R. Ansén, M. Adrian. Frankfurt 2018, S.  56 ff.). Sie anerkennt zudem den anthropologi­ schen Umstand eines vorgängigen Ausgesetztseins (vgl. ebd., S.  105 f.) und verteidigt die Notwendigkeit einer primären Offenheit für heteronome Eindrücke gegen den Totali­ tarismus eines Selbstmachenwollens (vgl. ebd., S.  137). Auch das andernorts vorgestellte Konzept der anthropologisch unhintergehbaren humanen Kohabitation (vgl. dies.: „Gefährdetes Leben, Verletzbarkeit und die Ethik der Kohabitation“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd.  60 (2012), S.  691–704), also des Umstandes, dass Menschen immer mit – nicht gewählten – anderen (und, wie man ergänzen sollte: anderem) zusam­ menleben, fügt sich in dieses Bild ein. Jedoch zeitigt Butlers Ansatz phänomenologische Ungenauigkeiten. Zum einen behauptet sie, die Anfänge der je eigenen Geschichte kön­ ne das Subjekt nur fiktionalisieren und fabulisieren, da es sie nicht kenne. Das mag zwar stimmen, übersieht jedoch die epistemisch belastbare „Brücke“ über andere und ande­ res zu den Ursprüngen der eigenen (Vor-)Geschichte hin. Was man nicht selbst weiß, können andere Menschen sehr wohl in legitimer Zeugenschaft berichten. Zum anderen erläutert sie das Ausgesetztsein am Beispiel des Kindes und seines Zurweltkommens, was aber wenig überzeugt, denn das Kind erlebt sich gerade nicht als primär ausgesetzt, wenn es eingebettet ist, sondern eben geborgen. Existentielles Ausgesetztsein ist viel­ mehr phänomenal an das Vorliegen entbergender Zeichen und Zustände gebunden. Hier bedürfte es einer genaueren Analyse der Lebenswelt, um die Thesen anthropolo­ gisch adäquat herzuleiten. 53 M. Eldracher: Heteronome Subjektivität. Dekonstruktive und hermeneutische Anschlüsse an die Subjektkritik Heideggers. Bielefeld 2018, S.  345. 54  M. Eldracher: Heteronome Subjektivität. S.  347. 55  Vgl. dazu z. B. M. Eldracher: Heteronome Subjektivität. S.  371, 373, 377.

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III. Argumentationsfiguren

welches sich aus allem zurückziehen kann,56 behauptet er, dass „das Bild eines von allen Rahmenbindungen freien Akteurs eher die Darstellung ei­ ner Person [ist], die eine entsetzliche Existenzkrise durchmacht.“57 Der un­ gebundene, desengagierte, distanzierte Vernunftmensch ist ein pathologi­ scher Fall, denn es fehlt ihm eine normative Orientierung, die der Rahmen zur Verfügung stellt. „Selbste“ sind für Taylor daher nur innerhalb solcher Rahmungen zu denken.58 Während Desengagement dazu auffordert, „daß wir aufhören, einfach im Körper bzw. in unseren Traditionen oder Ge­ wohnheiten dahinzuleben“59, sie vielmehr kritisch prüfen und Distanz ge­ winnen sollen, weist Taylor darauf hin, dass es damit in letzter Konsequenz für den Menschen „an Resonanz, an Tiefe oder an Fülle fehlt.“60 Allein die Bindung an einen Rahmen, der notwendig eine „Menge qualitativer Unter­ scheidungen“61 beinhaltet, stiftet die Möglichkeit gehaltvoller und gelin­ gender Selbst­werdung. Nur indem Orientierung und Wertsetzungen schon vorliegen, hat das Projekt einer Identitätsentwicklung überhaupt Sinn. Eine vollständige Autonomie62 ist das Ende jeder Selbstwerdung, weil das Selbst gar nicht mehr wüsste, woran seine Setzungen und Entscheidungen zu ei­ chen wären. 63 Als einen solchen Rahmen ließen sich, und Taylor deutet es selbst an, 64 Traditionen verstehen. Diese kommen allerdings dem moder­ nen, „abgepufferten“ Selbst gar nicht mehr nahe, weil es sich selbst als „Ge­ bieter der Bedeutungen“65 versteht. Es macht alles auf autonome Weise 56  Vgl. so z. B. C. Taylor: Quellen des Selbst. S.  47, wo über das desengagierte Selbst gesagt wird, es vermag „nicht nur die es umgebende Welt, sondern auch seine eigenen Gemütsbewegungen und Neigungen, Ängste und Zwangsvorstellungen zu objektivie­ ren und dadurch eine Art von Distanz und kühler Gefaßtheit zu erreichen […], die es ihm gestattet, ‚vernünftig‘ zu handeln.“ Zu dieser Figur vgl. auch ebd., S.  47, 202, 260– 288, 292, 296, 309, 316, 325 f., 343 ff. und 569 sowie die Hinweise zu Taylor in Kap.  II.2.7 dieser Arbeit. 57  C. Taylor: Quellen des Selbst. S.  62. 58  Vgl. dazu C. Taylor: Quellen des Selbst. S.  5 4 ff., 99. 59  C. Taylor: Quellen des Selbst. S.  316. 60  C. Taylor: Quellen des Selbst. S.  8 64. 61  Vgl. C. Taylor: Quellen des Selbst. S.  4 4. 62  Autonomie ist nach Taylor das moderne Hypergut, welches zu kritisieren ist (vgl. C. Taylor: Quellen des Selbst. S.  141, 156, 170). 63  Diesen Gedanken entwickelt ganz ähnlich auch A. MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Z. B. S.  166 f., wo die Situierung von Menschen durch die Rahmung mittels Geschichten erläutert wird. MacIntyre deutet auch die moralischen Sprachspiele der Menschen als solche Rahmen (vgl. ebd., S.  21–24, an welcher Stelle der Verfall des gegen­ wärtigen Diskurses als Verlust des Rahmens für ethische Debatten erläutert wird). 64  Vgl. C. Taylor: Quellen des Selbst. S.  5 4, 80, 886. 65  C. Taylor: Ein säkulares Zeitalter. S.  73.

1. Anthropologie

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selbst. Dagegen bringt Taylor das „poröse“ Selbst in Anschlag, 66 welches sich durch Betroffenwerden-Können und eine soziale, mitweltliche Dimen­ sion auszeichnet. Nur diesem, so steht zu vermuten, begegnen Traditionen noch. Alle drei erläuterten Theorien weisen darauf hin, dass eine übertriebene und einseitige Autonomie-Orientierung vom Menschen ein falsches Bild zeichnet. Dieser ist nicht nur de facto, sondern konstitutionell auch auf ­Heteronomie hin angelegt. Was kann die hier vorgestellte Traditionsanaly­ se dieser Perspektive stützend beisteuern? Indem Traditionen bahnen und den Horizont öffnen, liefern sie für das Individuum die grundlegende Wel­ torientierung. Diese kann (und muss) freilich später kritisch angeeignet werden, aber das Maß dessen, inwieweit dies erfolgen kann, erweist sich als begrenzt. Insofern steht Heteronomie – verstanden als nicht durch willent­ liche Zustimmungs- oder Setzungsakte des Subjektes hervorgebrachte Prä­ gung und Bahnung  – dem Menschen nicht nur vorübergehend, sondern grundlegend an. Dabei zeigt sich diese Angewiesenheit als vorteilhaft, in­ sofern die epistemische, kognitive, erinnerungsmäßige Beschränktheit des Einzelnen partiell abgefangen werden kann durch kollektive Phänomene wie eben Traditionen. Indem dem Subjekt ein viel reicherer Erfahrungs­ schatz zur Verfügung steht, kann sich seine Subjektwerdung an wesentlich gehaltvollerem Material vollziehen. Zudem weist die Begrenztheit der in­ tentionalen Machbarkeit von Traditionen darauf hin, dass Autonomie von den Menschen nicht in jeder Hinsicht als erstrebenswert erlebt wird. So gesehen, scheinen die drei vorgestellten Theorien empirisch adäquater zu sein als existentialistische oder rousseauistische Konzepte. Die Tradition als vermeintlich heteronomes Element beleuchtet aber auch, speziell im Fall umfassender Einbettung, dass die Dichotomie autonom – heteronom wo­ möglich unterkomplex ist, denn die Zuordnung von etwas zu diesen beiden Möglichkeiten ist keineswegs so klar möglich, wie oft suggeriert wird. Der ganz in der Tradition Eingebettete kann diese für mindestens teilweise au­ tonom halten, ohne behaupten zu müssen, sie stamme wirklich von ihm, ohne ihr also die Heteronomität zu bestreiten. Wenn das stimmt, ist jede Menschwerdung in einem Spannungsfeld von sowohl autonomen als auch heteronomen Elementen zu sehen, von denen Traditionen einen wichtigen Teil darstellen. Für die Anthropologie heißt das, nur ein solches Bild vom Menschen erweist sich als sachadäquat, das die bahnende, öffnende, ermöglichende Funktion von Traditionen angemessen in Rechnung stellen kann. 66  Zur Opposition der beiden Menschenbilder vgl. C. Taylor: Ein säkulares Zeitalter. S.  53, 68, 72 f., 79 f.

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III. Argumentationsfiguren

Ein zweiter Fragekomplex der Anthropologie gewinnt durch die ange­ stellten Überlegungen zum Phänomen der Tradition ebenfalls eine Erhel­ lung. Matthias Wunsch hat in einer aktuellen Neuverortung der philoso­ phischen Anthropologie im gegenwärtigen Wissenschaftsdiskurs vier Fra­ gen herausgestellt, die er forschungsspezifisch für die zentralen Aufgaben hält. Die vierte, im vorliegenden Kontext relevante Problemstellung lautet, die Beziehung zwischen dem Personbegriff und dem Bereich eines überpersönlichen Geistigen wie der Kultur und der Geschichte zu bestimmen. Es geht dabei um die Fra­ge nach dem Verhältnis zwischen der menschlichen Lebensform und dem objektiven Geist.67

Ohne hier einer Bestimmung des Personenbegriffs nachgehen zu können, haben die bisherigen Analysen des Traditionsphänomens gezeigt, dass die Herausbildung menschlicher Individualität mit der Relation zwischen Sub­ jekt und Gegebenem zu tun hat. Wenn Traditionen Bahnungen und Welter­ öffnungen sind, dann ist Personsein daran gebunden, diesen mehr als nur ein wenig zu folgen, nämlich mindestens so weit, als sie normative Impera­ tive liefern. Erst in zweiter Linie besteht Personsein in der distanzie­ rend-wertenden Blicknahme auf die einbettenden Situationen. Als Hypo­ these wäre zu formulieren, dass eine Person  – wenn man diesen Begriff auch mit ethischen Normen verbinden möchte – sich durch ein bestimmtes Verhältnis zu Traditionen auszeichnet, welches weder in naiver Hinnahme, noch in ironischer Distanz besteht, sondern in einer sachadäquaten Sensi­ bilität, die  – sicher kontextabhängig und situativ variabel  – sowohl eine hinnehmende Komponente, aber auch eine maßvolle Kritik beinhaltet. Per­ sonsein ohne traditionale Tiefe ist keine Errungenschaft, Personsein allein in einer traditionalen Rolle aber ebenso wenig. Doch nicht nur dahingehend verspricht das Vorgestellte einen Impuls, sondern auch im Hinblick darauf, wie genau das Verhältnis, von dem Wunsch spricht, zu denken ist. Traditionen, dies war erläutert worden, bet­ ten den Menschen ein in unter anderem affektiver, normativer, praktischer, epistemischer Hinsicht. Indem sie dies leisten durch die Bereitstellung von Vorbildern, aber auch Handlungsanweisungen, Verboten, Strafen und der­ gleichen Dinge, gewinnt das Individuum Anteil an dem, was man mit ­Hegel, Wilhelm Dilthey, Freyer und Hartmann als die Sphäre des objekti­ ven Geistes zu bezeichnen sich angewöhnt hat. 68 Dieser stellt einen Bereich 67  M. Wunsch: Fragen nach dem Menschen. Philosophische Anthropologie, Daseins­ ontologie und Kulturphilosophie. Frankfurt 2014, S.  268. 68  Auch relevant für diese Denkrichtung ist die Völkerpsychologie. So etwa versteht schon Moritz Lazarus Traditionen als einen Aspekt des Gesamtgeistes, der zwischen

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dar, der nicht auf einzelne Individuen zurückzuführen ist, sondern über diese gleichsam Macht ausübt, sie beeinflusst, ihnen aber auch Ressourcen bereitstellt, sie orientiert. Man kann Traditionen als einen paradigmati­ schen Fall69 objektiven Geistes verstehen, an ihnen ließen sich Detailanaly­ sen darüber anstellen, wie genau die Person in Kontakt mit dem objektiv Geistigen kommt. Wenn jedoch das Gesagte stimmt, liegt die wesentliche Leistung des objektiv Geistigen nicht primär in der propositionalen Ver­ mittlung von Wissen, sondern in basaleren Orientierungen (bis hinein ins Körperliche und Leibliche), die implizit Wissen enthalten können, welches sekundär sprachlich expliziert zu werden vermag. Lange davor jedoch sind Menschen qua objektiven Geistes schon affektiv, normativ, praktisch und so weiter in sinnvolle Strukturen eingebettet, wobei diese durch die in ih­ nen bestehenden Beziehungen  – etwa mittels Verboten oder Handlungs­ vorschriften – epistemisch kluge Vorgaben machen, dank derer der Einzel­ ne vernünftig und sachangemessen zu leben vermag, ohne diese explizit reflektiert und sich angeeignet zu haben. Das heißt selbstverständlich nicht, dass Traditionen immer recht hätten, es heißt nur, dass sie verstehen helfen können, wie Menschen in Kollektiv-Geistiges eingebunden werden, was die Folgen dieser Einbindung sind – im Positiven wie Negativen – und was sich daraus für ein gelingendes Leben (Ethik) und eine angemessene Theo­ rie des Menschen (Anthropologie) ergibt. Mit den beiden genannten Dimensionen sind wichtige Perspektiverweite­ rungen in der Anthropologie berührt. Ausgehend von der erarbeiteten Phä­ nomenbestimmung lässt sich zeigen, warum einseitig auf Autonomie ab­ zielende Menschenbilder defizitär sind, warum und wie Heteronomie kon­ stitutiv ist und wieso und auf welche Weise Menschen Anteil am objektiv Geistigen haben. Weitere Aspekte sind ohne Frage absehbar, jedoch im Rahmen des vorliegenden systematischen Ausblicks, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, weniger relevant. Eine anthropologische Zuwen­ dung zur Tradition verspricht jedoch hilfreiche Erkenntnisse, gerade auch vor dem Hintergrund der behaupteten Differenz zu Traditionen bei Tieren. Solchen Desideraten kann die erarbeitete Phänomencharakteristik als Richtschnur – noch in der Abweisung – Struktur und Orientierung geben. Einzelgeist (Individuum) oder gar Generation und der dauerhaften Natur erkenntnis­ mäßig vermittelt, weil nur so Menschen zu vertiefter Einsicht in diese kommt. Vgl. dazu M. Lazarus: Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft. Hrsg. v. K. C. Köhnke. Hamburg 2003, S.  148. 69  Allerdings dürfte vor allem die einbettende Leistung der Traditionen nicht für jedes Vorkommen eines objektiv Geistigen einschlägig sein. Das Paradigmatische be­ schränkt sich daher auf ein gewisses, wohl aber umfangreiches Gebiet.

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III. Argumentationsfiguren

2. Epistemologie Traditionen sind seit der Aufklärung in epistemologischer Hinsicht unter starken Druck geraten. Wenn Francis Bacon, René Descartes und andere einen Legitimitätsausweis fordern, der im Einklang mit einer bestimmten Form der Vernünftigkeit steht,70 so hat sich historisch gezeigt, dass Tradi­ tionen damit nicht gut zusammenpassen. Sie sind dem Interesse einer auf propositionale Begründungsformen und analytische Zergliederung hin orientierten Vernunft nicht gemäß. Und doch, so hat sich implizit schon angedeutet, kann diese dominante Perspektive zumindest partiell eine Dif­ ferenzierung und somit Korrektur erfahren. In drei Hinsichten soll das im Folgenden beleuchtet werden, und zwar durch Bedenken des Problems des Explikationismus, durch Thematisierung des epistemischen Gehaltes und durch Erörterung des Modells situierter Vernunft. Explikationismus stellt die Annahme dar, dass jede (propositionale) Be­ wusstmachung und Thematisierung einen Erkenntnisfortschritt darstellt und gutzuheißen ist.71 Wenn jedoch Traditionen einer solchen analytischen Zuwendung wegen ihres nicht schon einzeln vorliegenden Gehalts und ih­ rer nicht notwendig propositionalen Eigenart hinderlich sind, entsteht ein Spannungsverhältnis. Dieses verschärft sich noch dadurch, dass die Moder­ ne Explikationismus im genannten Sinne als hohes Gut versteht. Taylor und Hubert Dreyfus haben im Anschluss an Wittgenstein und die Phäno­ menologie gegen den explikativen fundierungstheoretischen „Ehrgeiz“ ar­ gumentiert und die impliziten Weltverständnisrahmen hervorgehoben.72 Ein solcher Rahmen bleibt Vorbedingung für die Möglichkeit der Explika­ tion, denn ansonsten hätte man weder Kategorien noch Kriterien, die das Analysieren leiten könnten. Es kommt die Gefahr auf, dass die zergliedern­ de Vernunft aus den Augen verliert, woraus sie eigentlich expliziert, näm­ lich – wie im Fall der Tradition – die Situationen. Dies hatte bereits Herder 70  Vgl. dazu z. B. F. Bacon: Neues Organon. Teilband I. Hrsg. v. W. Krohn. Ham­ burg 1999, S.  17 (Werkausgabe Spedding et al. Bd.  I, S.  126) oder ebd., Aph. A44 (S.  105; Werkausgabe Spedding et al. Bd.  I, S.  164 f.) sowie R. Descartes: Meditationes de prima philosophia. IV.8, IV.12, IV.17 (zitiert nach ders.: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hrsg. v. L. Gäbe. Hamburg 1992, S.  103, 109, 113). Zu dieser Denktra­ dition vgl. allgemein auch S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. Kap.  2.5. 71  Anders formuliert, Explikationismus identifiziert fälschlich Bewusstheit mit Ra­ tionalität. Gegen diesen falschen Zusammenhang vgl. auch A. Schmitt: Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht. Heidelberg 2016, S.  58. Vgl. auch H. Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. S.  215–222. 72 Vgl. H. Dreyfus, C. Taylor: Die Wiedergewinnung des Realismus. Übers. v. J.  Schulte. Berlin 2016, S.  43 ff.

2. Epistemologie

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gegen Immanuel Kant in Anschlag gebracht, als er eine zu feine Vernunft­ zergliederung als Weg in den Irrtum kanzelte: Indem man weiter und weiter Merkmale teilte und ihnen die Allgemeinheit lieh, ohne welche der menschliche Verstand nicht prädizieren kann, so entstanden Schatten nach Schatten, man schritt rückwärts, indem man vorwärts zu kommen glaubte.73

Das berechtigte, ja notwendige vereinzelnde, analysierende Verdeutlichen, an dem der Mensch in einem nicht unerheblichen Maße nie vorbeikann, ohne dass es Fortschritt in der Besinnung und Reflexion nicht gibt, mutiert so zum Hyperexplikationismus74. Dieser bindet die Explikate nicht mehr an die Situationen zurück, spielt, wie Herder meint, mit bloßen „Schatten“. Die zersetzende Kraft der Vernunft, die oft herausgestellt wurde,75 wird dann in zweifacher Hinsicht zum Problem, einerseits durch Zerstörung von Lebensweltbeständen wie eben Traditionen, andererseits durch Zeiti­ gung von Irrtümern durch Hypostasierung falscher Entitäten. Wenn die so knapp wiederholte Einsicht in das Spannungsverhältnis von Tradition und Vernunft stimmt, steht zu fragen, was sich systematisch da­ raus in epistemologischer Hinsicht ableiten lässt. Zunächst und vielleicht am grundlegendsten scheint die Einsicht, dass ein anderer Vernunftge­ brauch möglich ist. Dieser ist nicht defizitär, sondern manchen Phänome­ nen gerade adäquat und auf diese Weise epistemisch gehalt- und wertvoll. 73 

J. G. Herder: Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. S.  214. Wort ist der Sache nach, so wie hier Explikationismus verstanden wird, freilich ein Pleonasmus, soll aber aus rhetorischen Gründen dennoch Anwendung fin­ den. 75  Selbst Denker wie Bauman und Habermas, die sonst eher ein kritisches Verhältnis zur Traditionshinnahme haben, erkennen die Relevanz einer Reevaluation des mit Ex­ plikationismus Gemeinten an. So schreibt Bauman etwa: „‚Der allgemeine Fortschritt der Menschheit‘  – sowohl im Sinne einer wirksamen Kontrolle über das Elementare, Kontingente, potentiell Katastrophale, als auch im Sinne der wachsenden gesellschaft­ lichen und individuellen Autonomie, ist schlichtweg nicht angekommen, während die Anstrengung, ihn herbeizuführen, einige recht giftige Früchte getragen hat. Die Frage, die jeden nachdenklichen Geist umtreiben muß, lautet, ob diese Anstrengung eigentlich etwas anderes als giftige Früchte tragen kann.“ (Z. Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen. S.  52). Freilich ist dann sein Bild von der Unausgesprochenheit – als Gegenmotiv zur Explikation – unterkomplex und einseitig, indem er diese nur als „reine Negativität, die reine Abwesenheit von Leitung“ (ebd., S.  99) denken kann und sie als ein sich selbst Überlassensein des Individuums versteht (vgl. ebd., S.  99 f.), was für Traditionen gerade nicht stimmt. Habermas wiederum deutet Explikationsgrenzen für den Sprachhinter­ grund (vgl. J. Habermas: „Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik“, in: Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt 1970, S.  120–159, hier S.  122) und kollektive Iden­ titäten (vgl. ders.: „Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität“. S.  170 f.) zu­ mindest an. 74  Dieses

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III. Argumentationsfiguren

Er lässt Dinge sehen, die dem dominanten Vernunftzugriff konstitutionell entgehen müssen.76 Schon die Skrupel Moses Mendelssohns und Gotthold Ephraim Lessings wegen möglicher Grenzen des Zwangs zur Wahrhaftig­ keit und Kritik,77 aber vielleicht auch die von Kant gemachte Unterschei­ dung zwischen öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft,78 der die Differenz zwischen dem Aufklärer als Mensch und dem Aufklärer als Bürger bei Mendelssohn parallel geht, deuten an, dass gegen die Aufklä­ rungsvernunft Schutzräume nötig – und möglich – sind. Eine Alternative, wie sie sich an den Überlegungen zur Tradition gezeigt hat, ließe sich als „hermeneutische Vernunft“ verstehen.79 Diese zeichnet sich im Vergleich zur analytisch-zergliedernden dadurch aus, dass sie verstärkt sich anregen lässt vom Begegnenden, diesem vor allem die Maßstäbe und Kriterien, aber auch Grenzen der Explikation mindestens partiell entnimmt, keineswegs diese selbst autark vorab festlegt. Für ein solches alternatives Vernunft­ modell haben verschiedenste Autoren plädiert – Kondylis, Gadamer, Rosa, Arbogast Schmitt, 80 um nur einige zu nennen –, wobei es im Kern darauf hinausläuft, Rezeptivität und kritische Stellungnahme als einen einzigen Zusammenhang einem Vernunftverständnis gegenüberzustellen, welches einseitig Explizitheit und Selbstgemachtheit betont. Landmann nennt die Alternative „vernehmende Vernunft“, die gegen den Umstand, dass „Re­ zeptivität in der neuzeitlichen Philosophie keinen guten Namen [hatte]“, das Schauen, das Hinnehmen hervorhebt. Dabei sei aber, wie leicht falsch und vorschnell behauptet wird, „erkennendes Aufnehmen […] nicht jasa­ gendes Hinnehmen.“81 Es gibt Spielraum der menschlich-personalen Stel­ lungnahme. Die Hinnahme aber dürfe nicht übersehen werden. 76 

Eine der Sache nach ähnliche, aus antiken Überlegungen hergeleitete Vernunftkri­ tik bietet A. Schmitt: Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? V. a. S.  14 f., 50, 58. 77  Vgl. dazu M. Mendelssohn: „Votum zu Möhsens Aufsatz über Aufklärung“, in: ders.: Kleinere Schriften I (Gesammelte Schriften. Bd.  6 .1). Hrsg. v. A. Altmann. Stutt­ gart, Bad Canstatt 1981, S.  109–111 sowie der in Fußnote 99 von Kap.  I zitierte Brief­ wechsel. 78  Vgl. I. Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: ders.: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften. Hrsg. v. H. D. Brandt. Hamburg 1999, S.  20–27, hier S.  21 ff. 79  Der hier entwickelte Begriff geht der Sache nach zurück auf das Konzept intuiti­ ver Intelligenz, wie es Schmitz vorgelegt hat. Vgl. dazu z. B. H. Schmitz: „Zur Rehabi­ litierung des Verstehens als wissenschaftlicher Aufgabe“, in: ders.: Neue Phänomeno­ logie. Bonn 1980, S.  47–58, hier v. a. S.  51–54. 80  Vgl. dazu P. Kondylis: Das Politische und der Mensch. S.   616; H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. S.  X XV, 3, 13 f. und passim; H. Rosa: Unverfügbarkeit. S.  54; A.  Schmitt: Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? S.  58. 81  Zu den Zitaten M. Landmann: Entfremdende Vernunft. S.  164 f.

2. Epistemologie

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Allein der Mensch bewährt sein Menschsein und seine Vernunftnatur auch als Verste­ hender, indem er sich dem ihm Vorgegebenen öffnet und die in ihm oft verborgenen Gesetze und Sinnbezüge erhellt. Durch Versenkung in Natur, Geschichte, Kunst, Phi­ losophie, auf einen hohen Anspruch antwortend, kann er wachsen und sich selbst fin­ den. 82

Es ist der Kern dieses anderen Vernunftverständnisses, auf die Relevanz des Vorgegebenen hinzuweisen. Indem Menschen in Traditionen und deren Vertikalspannungen geraten, werden sie auch epistemisch gefördert (selbst­ verständlich ebenso gefordert). Sie schaffen nicht frei, sondern entwickeln ihre Vernunft in der Auseinandersetzung mit dem Vorgegebenen, welches sich selbst im Laufe der Jahrhunderte als Ergebnis fortgesetzter Arbeit von Menschen herausgebildet hat. Vor diesem Hintergrund versteht sich die Bezeichnung der Vernunft als hermeneutisch, denn sie legt in gewisser Weise das Begegnende aus, hört diesem zu, will nicht stiften oder schaffen, sondern gleichsam heraussetzen. Jedoch bleibt ein so verstandenes hören­ des Vernehmen der Vernunft auf das Begegnende als Richtschnur angewie­ sen, weshalb ein Hyperexplikationismus unwahrscheinlich wird. Eine her­ meneutische Vernunft bleibt der Grenze ihres Zugriffs eingedenk. 83 Sicher nicht zufällig wird dieses Modell mittels zweier spezifischer Be­ griffe charakterisiert, Takt und Geschmack. 84 Beide sind immer relationale Phänomene, die – geschult durch Erziehung und Erfahrung – an etwas Be­ gegnendem ihre eigentümliche Erkenntnisleistung realisieren. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie das rezeptiv Hingenommene gleichsam schonend 82 

M. Landmann: Entfremdende Vernunft. S.  165. drückt diese Tatsache der Explikationsgrenze am Beispiel der Gefühle so aus: „Die Behandlung solcher den Menschen in seinem innersten Kern berührenden Ge­ fühle stößt an eine empfindlich spürbare Grenze. […] Aber alles Gesagte führt nur an die schmerzhaft empfundene Grenze dessen, was nicht mehr gesagt werden konnte. Es darf darum nicht als ein heimzutragender Ertrag, sondern nur als ein Hinweis auf das ge­ nommen werden, was es zwar meinte, aber nicht mehr erreichen konnte.“ (O. F. Bollnow: Die Ehrfurcht. S.  10 f.). Bollnow denkt die Grenze zwar auch von der Eigenart des Ge­ genstandes her, aber zudem ebenso von den Begrenztheiten der Methoden und Mittel. 84 So spricht Gadamer vom „Taktgefühl“, das der „Ausübung der geisteswissen­ schaftlichen Induktion“ zugrunde liege und unter anderem mit „Reichtum des Gedächt­ nisses und Geltenlassen von Autoritäten“ zusammenwirkt (vgl. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. S.  3), während Schmitt vom „Geschmack“ redet, der die zweite Stufe (von dreien) der methodischen Aufklärung des Denkens darstellt und eine Art schonen­ de Explikation ist (vgl. A. Schmitt: Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? S.  68 ff.). Dass der Geschmack ein besonderes Erkenntnisvermögen sein kann, ist be­ griffshistorisch lange betont worden. Erst spät wird Geschmack zu einer bloß subjek­ tiven Meinung (vgl. dazu einige Hinweise bei K. Stierle: „Geschmack I“, in: J. Ritter, K. Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd.  3 . Basel 1974, Sp.  4 44– 449). 83 Bollnow

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und dialogisch erkunden. Auf diese Weise erbringen sie gehaltvolle Ein­ sichten, die ein unvermittelter, forscher Zugang vermutlich nicht gewonnen hätte. Dies hat nicht zuletzt das hier verhandelte Phänomen der Tradition erkennen lassen, denn jeder Vorgriff, der auf propositionale (Letzt-)Be­ gründung aus ist, kann sich auf die intrinsischen epistemischen Eigenarten der Tradition  – unter anderem Implizitheit, Ambivalenz, Auslegungsbe­ dürftigkeit – gar nicht recht einlassen. Diese Bedeutungsnuancierung illustriert für die Vernunft ein auffälliger semantischer Wandel, nämlich die Bewertung von Neugier. Während noch bei Dante Neugier ein Grund für die Verbannung in die Hölle sein konn­ te, 85 wird sie in der Moderne zu einer Art Kardinaltugend. Was steckt hin­ ter dieser Veränderung? Dazu ist zunächst ein Blick auf das christliche Ver­ ständnis nötig, welches lange Zeit maßgeblich war. Von diesem aus kann dann der Wandel in der Moderne und die – als letzte Station – aktuelle Kri­ tik vor dem Hintergrund der alternativen Vernunftkonzeption in den Fo­ kus rücken. Der Kirchenvater Augustinus berichtet davon, wie er während seiner Zeit in Karthago einen Manichäer namens Faustus hörte, von dem die Rede ging, er wisse alles. Augustinus, als eine Art Konvertit  – oder doch seinem Gefühl nach zu spät Berufener  – immer in der Sorge, nicht christlich genug zu sein, hält die Wissensanmaßung, die Faustus vorauseilt, für unchristlich. Es heißt: „Du [d. i. Gott; S.K.] lässest dich nicht finden von den Hochmütigen, auch wenn sie in ihrer eitlen Wißbegier die Sterne zäh­ len und den Sand am Meere, auch wenn sie die Himmelsräume ausmessen und die Gestirnbahnen berechnen.“86 Gegen das Wissensangebot der Ma­ nichäer, mit dem die christliche Kirche nicht konkurrieren kann, betont Augustinus das Verborgene. Wissbegier – die Übersetzung für curiosa an dieser Stelle – ist eine Untugend, weil sie Falsches erstrebt, von fehlendem Vertrauen zeugt. Eitelkeit sei es, stolz auf weltliches Wissen zu sein, wohin­ gegen gegenüber Gott Frömmigkeit  – pietas  – angemessen wäre. 87 Sein Denken packt Augustinus in das Bild vom glücklichen Nichtwissenden: Besser daran ist ja, wer weiß, daß ihm ein Baum gehört, und der dir [d. i. Gott; S.K.] für den Nutzen, den er ihm bringt, Dank sagt, auch wenn er nicht weiß, wie viel Ellen hoch 85 

Vgl. so Dante Alighieri: Divina Commedia. I.XXVII.119 f., wo es um ungebrems­ te Wissbegier geht (zitiert nach ders.: Die Göttliche Komödie. Übers. v. W. G. Hertz. München 2002, S.  118). 86 Augustinus: Confessiones V.3 (zitiert nach ders.: Bekenntnisse. Übers. v. W. Thim­ me. Düsseldorf, Zürich 2004, S.  169). Zu Augustinus’ curiositas-Kritik vgl. auch H.-I. Marrou: Augustinus und das Ende der antiken Bildung. Übers. v. L. Wirth-Poelchau. Paderborn, München, Wien, Zürich 1982, S.  296 f. 87  Vgl. dazu Augustinus: Confessiones V.8.

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er ist und wie breit er sich dehnt, als ein anderer, der den Baum mißt und alle seine Zweige zählt, aber ihn weder besitzt noch dich, seinen Schöpfer, kennt und liebt. 88

Dem Neugierigen, den seine curiositas immer weiter zur explikativen Er­ kenntnis der Dinge führt, entgeht, so kann man Augustinus säkular inter­ pretieren, ein Lebensweltbestand. Es fehlt ihm aber auch im Hinblick auf Eudaimonie eine wesentliche Dimension, die zuvor an Traditionen als die affektive vertiefende Einbettung beschrieben worden ist. Der Neugierige ist blind geworden für den Anspruch, den der Gott an ihn stellt und der hingenommen werden muss. Tertullian hatte diesen Gedanken schon eini­ ge wenige Jahrhunderte vor Augustinus formuliert: Für uns ist Wißbegierde keine Notwendigkeit seit Jesus Christus, Forschung kein Be­ dürfnis seit dem Evangelium. Indem wir glauben, verlangen wir, nichts darüber hinaus zu glauben. Dies nämlich glauben wir zunächst: daß es nichts gibt, was wir darüber hinaus glauben müßten. 89

Gegen ein aktives Erkennenwollen wird eine passive, pietätvolle Hingabe gefordert. Bedenkt man die lateinische Etymologie von curiositas, dann kann man das Interesse der christlichen Neugier-Kritik besser verstehen – bei allen offensichtlichen Problemen, die dieser Ansatz für wissenschaftli­ che, aufgeklärte, philosophische Vorhaben freilich darstellt. Im Wort ist nämlich noch der sprachliche wie semantische Anklang an cura – die Sor­ ge  – enthalten,90 welcher Aspekt aber für den Neugierigen  – hier ist die deutsche Etymologie phänomenal überaus adäquat – verschwunden ist. Bei Seneca sei, so heißt es, „cura, die besorgte Aufmerksamkeit“, noch ein As­ pekt von Neugierde gewesen.91 Dieser Aspekt, dass mit jedem Wissenwol­ len eine Sorge um den Gegenstand mitzuschwingen hat, ist es, den Au­ gustinus wohl einklagen möchte. Die Welt wird – in ontologischer wie eu­ daimonistischer Hinsicht – ärmer, wenn curiositas ohne cura auftritt. Man kann daher, neben allen anderen, sicher auch zutreffenden Motiven, die christliche Kritik an der Neugierde als ein Bemühen um die Lebenswelt verstehbar machen.92 Neugierde zerstört, wenn sie ohne Sorge für das Ob­ jekt erfolgt, wenn sie dieses nicht als mitbestimmendes Element vernimmt. 88 Augustinus:

Confessiones V.7 (zitiert nach ders.: Bekenntnisse. S.  173). De praescriptione haereticorum 7,12–13 (zitiert nach ders.: Vom prinzipiellen Einspruch gegen die Häretiker. Übers. v. D. Schleyer. Turnhout 2002, S.  245). 90  Vgl. dazu G. Bös: Curiositas. Die Rezeption eines antiken Begriffs durch christ­ liche Autoren bis Thomas von Aquin. Paderborn, München, Wien, Zürich 1995, S.  12. 91  R. Braque: Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken. Übers. v. G. Ghirardelli. München 2006, S.  160. Vgl. auch die Hinweise ebd., S.  227. 92 Blumenbergs Analysen des Sturzes des die Sterne betrachtenden Philosophen Thales in den Brunnen vor den Augen einer thrakischen Magd deuten eine solche Per­ 89 Tertullian:

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III. Argumentationsfiguren

In der Neuzeit wird die Neugierde jedoch gerade zu einer der wesent­ lichen Tugenden. Nicht, dass man auf Wissen verzichtet, sich in eine passive Frömmigkeit oder Gläubigkeit (selbst nicht in säkularen Varianten, indem man an Traditionen glaubt) flüchtet, ist angebracht, sondern mündiger Ver­ standesgebrauch. Bacon zum Beispiel meint: Freilich hat nach meiner Meinung nichts der Philosophie mehr geschadet, als daß die Menschen die Dinge, die bekannt sind und häufig begegnen, nicht betrachtet und be­ achtet, sondern sie nur obenhin angenommen haben, ohne nach ihren Ursachen zu su­ chen.93

Dies liest sich geradezu als die Umkehrung des augustinischen Baumbesit­ zer-Bildes. Während dort die Frage nach dem Weltbestand und den Grün­ den desselben explizit suspendiert werden sollte zugunsten eines Glaubens, fordert Bacon die Hinwendung. Seine Perspektive darf als paradigmatisch für die Zeit seit der Aufklärung gelten. Neugierde wird zum Selbstzweck, Sorge gerät ins normative wie sachliche Hintertreffen. Die von Augustinus, Seneca und anderen eingeforderte Sensibilität für Schonungsbedürftiges fällt weg, wodurch erst, so steht zu vermuten, die Entzauberung der Welt möglich wurde – in ihren positiven wie negativen Konsequenzen. Freilich hat die Neugierde auch in der Gegenwart ihre Kritiker gefun­ den, allen voran – sicher in Kenntnis der augustinischen Schriften – Hei­ degger.94 Neugierde ist für diesen ein Phänomen, welches dadurch gekenn­ zeichnet scheint, dass es besorgt […] zu sehen, nicht um das Gesehene zu verstehen, daß heißt in ein Sein zu ihm zu kommen, sondern nur um zu sehen. […] Daher ist die Neugier durch ein spezifisches Unverweilen beim Nächsten charakterisiert. […] Die Neugier ist überall und ­n irgends.95

Was Heidegger herauszustellen bestrebt ist, kann als Oberflächlichkeit der Neugierde gelesen werden. Diese will als Neugierde immer wieder anderes spektive ebenfalls an. Für die christliche „Umbesetzung“ der antiken Anekdote be­ hauptet Blumenberg als Kern, es bekomme „der Himmelsbetrachter die Züge einer li­ bidinösen Gier und Unmäßigkeit des bloßen Wissenwollens; er stürzt, weil er sich unrecht­mäßig Zugang zur Sphäre seines Verlangens, unter Mißachtung göttlicher Vor­ behaltsrechte und erst recht eigener Heilsvordringlichkeiten, zu verschaffen scheint.“ (H. Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt 1987, S.  43). Zur durch Neugierde nach christlicher Lesart eingeschränkten Glückselig­ keit vgl. auch ebd., S.  56–61. 93 F. Bacon: Neues Organon. Aph. 119 (S.  249; Werkausgabe Spedding et al. Bd.  I , S.  214). 94  Auch Gadamer wäre zu nennen (vgl. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Z. B. S.  120), jedoch geht sein Denken an diesem Punkt über Heidegger nicht hinaus, so dass es beiseite bleiben kann. 95  M. Heidegger: Sein und Zeit. S.  172 f.

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zum Objekt, vermag kein vertiefendes Sicheinlassen auf das – vielleicht im­ mer schon  – Gegebene zu bewerkstelligen. Damit verschiebt sich, bei Gleichbleiben der Konsequenzen, die Deutung der Neugierde leicht. Wäh­ rend die christliche Kritik fehlende Rezeptivität und fehlendes glaubendes Vertrauen anmerkte, wohinter eine Kritik an menschlichen Autonomiebe­ strebungen stecken mag, weist Heidegger darauf hin, dass Neugierde gera­ de das, was sie zu leisten vorgibt – wahrhafte Erkenntnis – verfehlt, weil ihr dazu die Fähigkeit des Sicheinlassenkönnens ermangelt. Dieser kurze Abriss der Neugierde-Kritik war angegangen worden, um den Sinn einer alternativen Vernunftkonzeption zu illustrieren. Besieht man sich das soeben Geschilderte, dann zeigt sich, dass von Augustinus, Tertullian96 und Heidegger betont wird, dass es einer Neugierde im erläu­ terten Sinn an der Fähigkeit des gründlichen Vernehmens fehlt. Eine solche Vernunft ist unhermeneutisch, weil sie das Objekt – sei es aus eigenen Vor­ griffen heraus, sei es aus Sprunghaftigkeit und so weiter – gar nicht recht zu Wort kommen lässt. Es käme für einen angemessenen Vernunftgebrauch bei Objekten wie Traditionen, die einem explikativen Zugriff nicht vollauf gemäß sind, jedoch auf einen taktvollen Umgang an, der dabei keineswegs epistemisch zweitrangig sein muss, sondern gerade durch seine spezifische Eigenart Einsichten ermöglicht. Dies wird noch vor einem weiteren Hintergrund bedeutungsvoll, denn wie sich an Traditionen und der Unmöglichkeit – oder doch großen Schwie­ rigkeit –, sie bewusst herzustellen, gezeigt hat, ist deren Verlust nicht leicht zu kompensieren. Explikation ist nicht einfach durch Implikation wieder rückgängig zu machen. Eine zergliederte Situation kann nicht durch einen synthetisierenden Prozess wieder „geklebt“ werden, was exemplarisch an Traditionen oder Freundschaften als Musterfällen einbettender Situationen phänomenologisch evident anmutet. Es besteht ein Missverhältnis zwi­ schen kritischem und schöpferischem Vermögen des Menschen, welches eine Vernunftkritik um so sinnvoller und angebrachter erscheinen lässt. Traditionen als das nicht gezielt Machbare bedürfen auch in Erkenntnis­ kontexten der Sensibilität für ihre ontologische Eigenart, um die lebens­ weltlichen Konsequenzen adäquat bedenken zu können. Als zweites epistemologisches Motiv ist auf den epistemischen Gehalt zu sprechen zu kommen. Im Rahmen der Phänomenanalyse war dieser zwar immer wieder berührt worden, aber es hatte sich herausgestellt, dass er aus der Betroffenenperspektive nicht primär erlebt, sondern sekundär erschlos­ 96  Für zahlreiche weitere gleichartige Stimmen vgl. die kenntnisreiche und maßgeb­ liche Studie G. Bös: Curiositas.

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sen scheint. Für die Unterstellung der Wissensartigkeit der Tradition aller­ dings ist das zweitrangig. Diese fokussiert auf die bahnende und auf diese Weise sinnvoll orientierende Leistung. Traditionen, so wurde festgestellt, entstehen aufgrund äußeren Drucks, äußerer Notwendigkeiten, äußerer Lagen, für die sie Antworten liefern.97 Aus dem Umstand, dass bei verän­ derten Lagen und Umständen die Traditionen gegebenenfalls verschwin­ den, sich in jedem Fall aber anpassen müssen, lässt sich ableiten, dass sie epistemisch sinnvolle98 Reaktionen auf diese waren. In diesem Sinne haben Fleck, Kuhn, Polanyi, aber auch Hayek für den epistemischen Gehalt der Traditionen argumentiert.99 Insbesondere wurde darauf hingewiesen, dass sie womöglich in impliziter Form mehr Wissensbestände beinhalten, als eine explizite Form je würde und als eine Explikation je aus ihnen heraus­ zustellen vermöchte. Zudem tragen Traditionen auch, folgt man wissensso­ ziologischen Überlegungen, die Wissenschaft als Explikationsform noch.100 Das Studium einer Wissenschaft gleicht so einer Einweihung in eine tradi­ tionale Praxis. Der epistemische Gehalt von Traditionen besteht darin, dass qua Wert-, Handlungs- oder Begriffsordnungen Strukturen des Selbst und der Welt etabliert werden, die sich als sinnvolle Anpassungen an Umstände deuten lassen. Diese Anpassungsleistung hat dabei nicht nur eine konkrete Dimension – als Anpassung an die und die zum Beispiel ökologischen, so­ zialen, historischen Umstände –, sondern grundlegender noch eine anthro­ pologische. Traditionen können verstanden werden als epistemologische Anpassungen an die Lebensbedingungen der Menschheit, insbesondere an ihre Offenheit, Riskiertheit und Zerrissenheit zwischen Lebens- und Welt­ zeit. Traditionen sind, so gesehen, herausragende kulturelle Evolutionspro­ 97 

So zum Beispiel der Sache nach A. E. Imhof: Die Lebenszeit. S.  264 oder E. Roth­ acker: Geschichtsphilosophie. S.  4 4 ff. 98  Sinnhaftigkeit bedeutet gleichwohl nicht, dass sie die beste aller möglichen Ant­ worten darstellen, sondern nur, dass sie empirisch hinreichend erfolgreich waren. 99  Vgl. dazu S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. V. a. Kap.  3.14 und 3.16 (dort auch Diskussion der Primärtexte). Dagegen hat Lyotard behauptet, jede Form narrativen Wissens – welches man für Traditionen wohl in Anschlag bringen müsste – sei notwendig unwissenschaftlich und zudem in seinem Verschwinden nicht zwingend zu bedauern. Vgl. dazu J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen. S.  76 ff. 100 Blumenberg hat diesen Umstand am Beispiel der Astronomie zu verdeutlichen versucht, wobei er allerdings stärker auf die Vermittlung von Daten den Blick legte (vgl. H. Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. V. a. S.  100–119). Wiedenhofer spricht sogar davon, dass Traditionen die transzendentale Bedingung von Erkenntnis sind (vgl. S.  Wiedenhofer: „Tradition – Geschichte – Gedächtnis“. S.  236), weil sie als begriffliche und orientierende Prägungen immer schon hinter dem Rücken aktiv sind und man sie nicht einfach gegenständlich machen könne, was auch  – so wäre zu übertragen  – für Traditionen in der Wissenschaft gilt.

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dukte, die erst, wie man mit Tomasello behaupten kann, den Menschen als Menschen in seiner heutigen Form ermöglicht haben.101 Sie sind selbst er­ kenntnisermöglichende Entitäten, bergen evolutionäre Bewährtheit in sich. Und – worauf Nietzsche gestoßen zu sein scheint102 – durch ihren Anpas­ sungscharakter stellen sie die im Vergleich zu neuen Versuchen und erwart­ barem Scheitern ökonomisch kostengünstigere Verhaltensoption für Men­ schen und Kulturen dar.103 Ihr Gehalt sichert in der Regel, sofern halbwegs stabile Umwelt- und Sozialbedingungen vorliegen, sinnvolles Agieren und Verstehen.104 Insofern kann epistemologisch von einer grundsätzlichen Ir­ rationalität oder Wissenslosigkeit der Traditionen nicht die Rede sein. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund der erfahrungskumulativen ­Eigenart. Traditionen sind, wie Walter Benjamin es meinte, verdichtete ­Erfahrungen.105 Sie stellen gespeichertes Erfahrungskapital dar,106 sind Er­ gebnisse eines historischen Falsifikationsprozesses.107 Wilhelm Windel­ band hatte dies so ausgedrückt: 101  Vgl.

dazu z. B. M. Tomasello: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Übers. v. J. Schröder. Berlin 2014, S.  188, 199 und ders.: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. S.  14 f. 102 Das zeigt eine These aus einem Notizheft Nietzsches, die betont, dass nichts kostspieliger sei als neue Anfänge, weshalb die Traditionen in gewissem Sinne (geistes-) ökonomischer sind (vgl. F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Herbst 1887 bis März 1888 (Kritische Gesamtausgabe. Bd.  8 .2). Hrsg. v. G. Colli, M. Montinari. Berlin 1970, S.  127). 103  Zu einer umfassenden ökonomischen Analyse des kulturellen Erbes (worunter man Traditionen wohl einordnen kann) vgl. I. Rizzo, D. Throsby: „Cultural Heritage. Economic Analysis and Public Policy“, in: V. A. Ginsburgh, D. Throsby (Hrsg.): Handbook of the Economics of Art and Culture. Bd.  I. Amsterdam, Boston 2006, S.  983–1016. 104  Sie sind, wie Burke schrieb, besser als ein erfahrungsloser, zufälliger Entwurf, d. h. Plan (vgl. E. Burke: Betrachtungen über die Französische Revolution. S.  314). 105  Vgl. dazu W. Benjamin: „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hoch­ kapitalismus“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd.   1.2. Hrsg. v. R. Tiedemann, H.  S chweppenhäuser. Frankfurt 1978, S.  507–690, hier S.  608. 106 Shils meint, dass auch die aktual in einer Tradition Lebenden in diese investieren, weil sie sich davon Vorteile erhoffen, sie also in den Kapitalstock weiter einzahlen. Vgl. dazu E. Shils: Tradition. S.  66 f. 107  Popper selbst hat Traditionen freilich nicht so interpretiert, sondern stärker ihre strukturierende und orientierende Wirkung in den Mittelpunkt gestellt, von der sich Mensch und Wissenschaft ausgehend und absetzend erst etablieren. Vgl. dazu K.  Pop­ per: „Versuch einer rationalen Theorie der Tradition“. Den Gedanken der empirischen Bestätigtheit gut erfasst hat É. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. S.  18: „Ein wesentliches Postulat der Soziologie ist […], daß eine menschliche Einrichtung nicht auf Irrtum und auf Lüge beruhen kann: denn sonst könnte sie nicht dauern. Wenn sie nicht in der Natur der Dinge begründet

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In der Mitteilung ihrer [d. i. der Traditionen ihrer; S.K.] Errungenschaften von Genera­ tion auf Generation, in dem mitschaffenden Nacherleben des jüngeren Geschlechts steckt ein Prozeß der Auswahl des Wirksamen und des Werthaften, der Bewährung und Befestigung der inneren Lebensgüter.108

Was Traditionen – in epistemologisch relevanter Hinsicht – akkumulieren, sind fortgesetzt die Ergebnisse empirischer Prüfungen, insofern jede All­ tagssituation an Traditionen Fragen stellt, Herausforderungen bildet, ­K ritik hervorbringt (oder prinzipiell könnte). Wenn Traditionen weiterbe­ stehen, müssen sie, steht hypothetisch zu vermuten, diesen krisenartigen Begebenheiten erfolgreich entkommen sein, sich also – wie auch immer – bewährt haben. Dass dabei nicht in jedem Fall eine sachliche Bewährung, sondern vielleicht auch eine rein ideologische, machtpolitische oder zufäl­ lig geglückte dahinterstehen mag, ist unbenommen, am Faktum selbst än­ dert dies nichts Prinzipielles. Traditionen bewähren sich als Angebote für menschenspezifische Konfigurationen, für Lagen im Sinne Rothackers.109 Wenn sie diese fortwährenden Experimente diachron erfolgreich bestehen, dann besitzen sie ein empirisch gesättigtes Wissen, welches freilich in der Regel nicht propositional ist. Für eine solche traditionsspezifische, impli­ zite und sehr häufig praxisnahe Wissensform haben vor allem Crawford, Michael Oakeshott, Hayek und Polanyi argumentiert.110 Im Kern betonen sie dabei alle, dass in Traditionen epistemisch relevante Einsichten implizit enthalten sind, die sich aber erst im Kontext konkreter Situationen und Lagen zeigen werden und nicht  – etwa wie in einem Katalog  – vorab als Einzelne bereitliegen.111 Genau das macht Traditionen für epistemologi­ wäre, hätte sie in den Dingen Widerstände gefunden, die sie nicht hätte besiegen kön­ nen.“ 108  W. Windelband: „Über Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben“. S.  2 56. 109  Vgl. dazu E. Rothacker: Geschichtsphilosophie. S.  4 4 ff. 110  Vgl. dazu z. B. M. B. Crawford: Die Wiedergewinnung des Wirklichen. S.  2 37 f., 364; M. Oakeshott: „Der Rationalismus in der Politik“. S.  16–20; F. A. v. Hayek: Die Verfassung der Freiheit. S.  78 und M. Polanyi: Implizites Wissen. Z. B. S.  14. 111 Shils hat dies am Beispiel der Tradition Universität und ihrer in der jüngeren Ge­ genwart problematisch werdenden Lage so auf den Punkt gebracht: „The universities are institutions for which respect of their members and the wider public for their central traditions is especially crucial because there is no exact way of assessing their achie­ vements.“ (E. Shils: Tradition. S.  183). Die Leistungen der Tradition sind nicht genau angebbar, jedenfalls nicht „exakt“ – also nicht für eine an einem explikativen Ideal ori­ entierte Vernunft. Für eine andere, vernehmende Vernunft gleichwohl schon, wie zu vermuten steht (und von Shils implizit auch angenommen werden muss, denn er scheint ja Einsicht in die Leistungen zu besitzen). Zur Universität als Tradition vgl. der Sache nach auch A. Morkel: Die Universität muss sich wehren. Ein Plädoyer für ihre Erneuerung. Darmstadt 2000, S.  19, wo eine Differenz zwischen der Weitergabe der bloßen

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sche Kritik, die am Fall der explikativen Vernunft orientiert ist, schwer zu fassen. Hier wäre an einer philosophischen Besinnung auf das Phänomen Tradition zu lernen, dass es andere Formen epistemischer Gehalte gibt, die es in ihrer Relevanz zu beachten gilt. Der epistemische Gehalt von Traditionen kommt in den Diskussionen oft dadurch zum Ausdruck, dass sie als alt und erfahren gekennzeichnet werden. Insofern sie Wissen akkumuliert haben oder aber dem wahren Ur­ sprung nahestehen, gelten Traditionen als epistemisch höherwertig. Für eine solche Stimme sei auf Pieper verwiesen, der behauptet, „Rang und Au­ torität der Alten sei darin begründet, daß sie aus göttlicher Quelle eine Kunde empfangen haben und das auf solche Weise Empfangene weiterge­ ben. Hierdurch sind sie ‚die Alten‘!“112 Die Jungen, das sind die Traditions­ losen, während die Alten die Ursprünglichen und Einsichthabenden dar­ stellen. Diese Semantik verweist sicher en passant auf die empirische Be­ währtheit. Aber genau diese Lebensalter-Metaphorik  – die Früheren, Älteren als die Besseren – kehrt sich in der Moderne um. In aller Deutlich­ keit formuliert dies Bacon: […] [J]enes [d. i. das Altertum; S.K.] ist zwar mit Rücksicht auf unsere Zeit älter und entfernter, in bezug auf die Welt selbst aber neuer und jünger. Wie wir eine größere Kenntnis der menschlichen Verhältnisse und ein reiferes Urteil mit Recht von einem Greis als von einem Jüngling erwarten, wegen der Erfahrung und der Vielfalt und Men­ ge der Dinge, die er sah und hörte und bedachte, so kann man auch von unserer Zeit, wenn sie nur ihre Kräfte erkennen, anwenden und anstrengen wollte, weit mehr als von den alten Zeiten erwarten.113

Was Bacon hier macht, ist eine epistemische Umdeutung. Die Alten sind gerade die Unerfahrenen, diejenigen, die als jung – ergo: arm – an Erfah­ rung zu gelten haben. Jede Gegenwart ist daher der Vergangenheit gegen­ über im Vorteil, weil sie, einer empirisch kumulierenden Fortschrittslogik zur Folge, immer schon deshalb besser dasteht, weil Zeit vergangen ist, Er­ fahrungen gemacht wurden. Damit ist klar, dass sich Bacon nicht prinzi­ piell gegen die Kumulationslogik wendet, aber es ihm dieser Standpunkt gestattet, das Frühere für das bessere Gegenwärtige aufzugeben. Nestor, Mittel und Methoden der Wissenschaft und der des Geistes derselben unterschieden wird. Letzter ist in seinen Leistungen und epistemischen Sinnhaftigkeit ebenfalls schwerer zu fassen als isolierte Methodiken, die freilich, ohne ihn zur Anwendung ge­ bracht, häufig „Schatten“ im Sinne Herders produzieren. 112  J. Pieper: Über den Begriff der Tradition. S.  2 2. 113  F. Bacon: Neues Organon. Aph. 84 (S.  179, 181; Werkausgabe Spedding et al. Bd.  I , S.  190). Zu dieser Umwertung vgl. auch O. Marquard: „Zeitalter der Weltfremdheit? Beitrag zur Analyse der Gegenwart“, in: ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart 2008, S.  76–97, hier S.  78 und H. Rosa: Beschleunigung. S.  188 f.

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die Figur des erfahrenen alten Weisen aus früheren Zeiten, wird durch ­Bacon gleichsam dauerhaft zu einer jugendlichen, defizitären Figur umge­ deutet. So geraten Traditionen, obwohl Bacon, wie gezeigt, den Kumula­ tionsgedanken nicht bestreitet, sondern nur bis in das jeweilige Jetzt hinein radikalisiert weiterdenkt, unter Druck, jedenfalls dann, wenn sie sich als unveränderlich und uralt geben. Für andere Traditionen – und gemäß den Analysen in Kapitel  II dürften das die meisten sein – greift die Kritik aller­ dings nicht. Adaptive, hermeneutische Traditionen sind kumulative Vor­ gänge und widerstehen einer Deutung als überwindenswertes Altes, Grei­ ses. So gesehen, ist ihnen von Bacon daher der epistemische Wert zuer­ kannt. Im Hinblick auf den Wert von Traditionen für das menschliche Erken­ nen ist zudem zu beachten, dass sie ein Mittleres darstellen. Eine rigorose Erkenntnisperspektive wie diejenige Kants ist dafür reichlich unsensibel. An einer berühmten Stelle schreibt er: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“114 Der Kosmos als die ver­ nünftige und erkennbare Ordnung im Außen, die Vernunft in einem selbst – denn das moralische Gesetz ist vernünftig, sonst wäre es kein Ge­ setz –, das sind die beiden Extrempole Kants. Was er übersieht, ist die Sphä­ re des „Metaxu“115 , die Zwischensphäre, welche für den Menschen vielleicht gerade wichtig scheint, von Kant aber delegitimiert wird. Sein Erkenntnis­ rigorismus bedenkt nicht, dass Bewunderung und Ehrfurcht auch an Tra­ ditionen angelegt werden können, die sehr wohl vernünftig und episte­ misch wie moralisch wertvoll zu sein vermögen (und es womöglich häufi­ ger sind als nicht sind). Der epistemische Gehalt, den man Traditionen zuerkennen kann, so lässt sich anhand von Kants Rigorismus ableiten, hängt letztlich davon ab, welche Norm und welchen Begriff – von Wissen, von Erkenntnis – man an sie heranträgt. Es sollte deutlich geworden sein, dass jedenfalls für einen an der Sphäre des Menschlich-Alltäglichen orien­ tierten Blick eine Beurteilung wohlwollender ausfallen kann, als Kants Sentenz nahelegt. In den vorstehenden Überlegungen war Tradition häufig gegen eine Kri­ tik zu verteidigen, die Maßstäbe an jene anlegt, die ihr fremd sind. Woher aber stammen diese Maßstäbe selbst? Dem Anspruch nach tritt die aufge­ 114  I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft. AA S.  161 (zitiert nach ders.: Kritik der praktischen Vernunft. Hrsg. v. H. D. Brandt, H. F. Klemme. Hamburg 2003, S.  215). 115  Dieser Begriff und Gedanke geht auf Simone Weill zurück. Vgl. dazu M. de Cor­ te: Das Ende einer Kultur. S.  260.

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klärte Vernunft aus dem Nirgendwo auf, sie ist prinzipiell nicht situiert. Wjatscheslaw Iwanow hat als Schlagworte dafür den Gegensatz von Thes­ aurus und tabula rasa geprägt.116 Die neuzeitliche Vernunft orientiert sich am Motiv des Freiwerdens durch Kritik,117 während eine andere Konzep­ tion dafür plädiert, Vernunft situiert in einem Erfahrungsschatzhaus zu denken. Dabei steht eine solche situierte Vernunft keineswegs im Wider­ spruch zum Universalismus der Aufklärung, der sicher motivgebend für die umfassende Entbettung – was Entsituierung letztlich ist – war. Dies ist deshalb nicht der Fall, weil erstens Situiertheit conditio sine qua non des Menschen ist. Eine Konzeption von Vernunft, die Entsituiertheit zum Aus­ gangspunkt macht, ist inhuman und sachlich unzutreffend.118 Zudem kann aber zweitens eine universelle, entsituierte Perspektive gleichwohl legiti­ mes Ideal sein, eine Vertikalspannung in die Besinnungen des Menschen bringen, unzulässige Partialperspektiven übersteigen helfen. Anhand der hier vorgenommenen Analyse ist offensichtlich, dass Traditionen eine sol­ che Form epistemisch relevanter Situierung darstellen. Sie verorten den Menschen normativ, sprachlich, wissensmäßig und so weiter, von ihnen aus agiert er vernünftig. Die Forderung nach absoluter Entbettung ist eine, die selbst nur aufgrund von Situiertheit möglich ist und sich somit sprichwört­ lich den Ast absägt, auf dem sie sitzt.119 Herder hatte den Gedanken der menschlichen Situtiertheit in Begriffen der Familiensphäre so ausgedrückt: Wir sind da als Teile der Welt; niemand von uns ist ein isoliertes Weltall. Menschen sind wir, im Leibe einer Mutter empfangen, und als wir in die größere Welt traten, fanden 116 

Vgl. W. Iwanow: Das alte Wahre. S.  147, 165. zum Beispiel akzeptiert jedwede Hypothese nur zur argumentativen Vertei­ digung, niemals zur Begründung. Vgl. dazu I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 777, B 805. 118  Als eine illustrierende Parallele aus einem anderen philosophischen Teilbereich ist an die Position David Benatars zu erinnern, der für seinen ethischen Antinatalismus eine so „hohe“, völlig menschenferne Bezugsposition heranzieht, dass von dort aus jed­ wedes Leben als nicht wünschenswert, weil leidgeplagt erscheinen muss. Aus dieser „astronautischen“ Perspektive betrachtet, sind Menschen bemitleidenswerte Wesen (vgl. dazu D. Benatar: Better Never to Have Been. The Harm of Coming into Existence. Oxford 2013, S.  82, 119 f.). Seine Perspektive ist schlicht und ergreifend inhuman, weil menscheninadäquat. Wenn er das Nicht-Fliegen-Können als Schaden bzw. Leid für den Menschen betrachtet, von wo aus spricht er dann? Eine Situierung seines Maßstabes hätte eine solche Hybris vermeiden können. Im Grunde verweigert nämlich Benatars Ethik, kann man sagen, die Aufgabe, als Mensch ethisch zu leben. 119  Zuletzt hat Butler – zwar nicht primär epistemologisch, aber doch der Sache nach unmittelbar anschlussfähig  – für die Anerkennung der Tatsache argumentiert, dass Subjekte immer heteronom situiert sind und sein müssen. Vgl. J. Butler: Kritik der ethischen Gewalt. S.  30, 34 ff., 59, 113. 117 Kant

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III. Argumentationsfiguren

wir uns sogleich mit tausend Banden unsrer Sinne, unsrer Bedürfnisse und Triebe an ein Universum geknüpft, von welchem sich keine spekulierende Vernunft trennen mag. Ohne dies Allgemeine, dem wir angehören, ist nichts in uns anwendbar oder erklärlich; wir selbst sind nur als Glieder einer großen Kette da, ohne welche so wenig unser Ver­ stand als unsere Vernunft stattfände. Wir existieren nur als ein Besondres im Allgemeinen.120

Herder plädiert nicht für einen Vernunftrelativismus, sondern dafür, sich klarzumachen, dass es für den Menschen de facto keine Entsituierung gibt. Das bedeutet nicht, dass man gegebene Situierungen – gegebene Traditio­ nen zum Beispiel – nicht übersteigen kann und darf, es verweist nur darauf, dass tabula rasa ein idealer Grenzwert, keineswegs einfachhin anzusetzen­ der Ausgangspunkt ist. Das Missverständnis, die entsituierte Vernunft sei der einzig relevante Bezugspunkt, wird auch in der Biologie durchaus be­ stritten. Christophe Boesch legt zum Beispiel Augenmerk darauf, dass Ver­ nunftgebrauch eine Sache sozialer Einbettung ist. Er bestreitet die Trag­ weite von Experimenten mit in Gefangenschaft gehaltenen Menschenaffen, deren Leistungen, gerade weil ihnen die Einbettung in die typische soziale Gemeinschaft fehlt, nicht repräsentativ sind, was er zudem dadurch belegt, dass in unmenschlichen Umständen aufgewachsene Kinder aus rumäni­ schen Waisenhäusern ähnlich defizitär agieren.121 Diese Hinweise, die sich auch an anderen Phänomenen als den Traditionen zeigen dürften, legen nahe, epistemologisch den hohen Stellenwert der entsituierten Vernunft zu hinterfragen.122 Stattdessen sollte als epistemisches Modell der, wie Drey­ fus und Taylor ihn nennen, engagierte Denker in den Blick kommen, also das „Bild eines verkörperten, in eine Gesellschaft eingebetteten Akteurs, der sich mit der Welt auseinandersetzt.“ Dieser Akteur wird „als engagier­ tes – eingebundenes – Wesen begriffen […], als jemand, der in eine Kultur, eine Lebensform, eine ‚Welt‘ des Zu-tun-Habens eingebettet“ ist.123 Er 120 

J. G. Herder: Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. S.  211 f. Diese These ist ein offensichtlicher Gegenentwurf zu Kants Konzeption der völlig hypothesenfreien Vernunft. 121  Vgl. dazu C. Boesch: Wild Cultures. S.  152. 122  Nicht eingegangen wird an dieser Stelle aus pragmatischen Gründen auf Theori­ en der sogenannten embodied cognition, also den Hinweis auf die körperliche und leib­ liche Verortung auch epistemischer Vorgänge. Für diese kommt Tradition aber durch­ aus als relevantes Konzept in Frage, insofern diese, wie gezeigt, auf leiblicher, körper­ lich und affektiver Ebene Effekte zeitigt. 123 Zu den Zitaten H. Dreyfus, C. Taylor: Die Wiedergewinnung des Realismus. S.  171. Vgl. ebenso ebd., S.  132 und C. Taylor: Quellen des Selbst. S.  295 ff. Letztlich geht es ähnlich auch Sennett und Crawford in ihren Arbeiten darum, der entsituierten Ver­ nunft den qua Praxis situierten Denker gegenüberzustellen. Der von Großheim ange­ führte Typus des „hypoleptischen Denkers“ (vgl. M. Großheim: „Das Primat der Praxis

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agiert aus der orientierenden, epistemisch heraufholenden Einbettung in Traditionen heraus. Dabei bleibt er an diese nicht total gebunden, wie ihm andererseits  – zu seinem Vorteil  – auch eine radikale Traditionsfreiheit nicht möglich ist, wohl aber eine Distanzierung, die für einzelne, konkrete Traditionen auch bis zur totalen Entfremdung führen kann. In jedem Fall muss daher, dies belegen die vorstehenden Überlegungen, Tradition kei­ neswegs in Konflikt geraten mit einem Anspruch an Vernünftigkeit. Ein differenzierter Blick zeigt, dass sie selbst vernünftig sind, für manche Ver­ nunftformen die transzendentale Bedingung darstellen und zudem insge­ samt eher einsichtsermöglichend denn -verhindernd zu sein scheinen.

3. Ethik In der Exposition war darauf hingewiesen worden, dass die vorliegende Untersuchung auch als ein Beitrag zur praktischen Vernunft verstanden werden kann, sie einen solchen mindestens implizit liefert. Hintergrund dieser Behauptung bildet die Einsicht, dass die Reflexion auf Traditionen auch das Verhalten der Menschen zu diesen in den Blick nehmen muss. Als sinnvolle, hilfreiche, wertvolle Bestandteile humaner Lebenswelten ist zu prüfen, ob ihnen nicht in ethischer Hinsicht eine besondere Rolle  – im Kontext der Eudaimonie – oder sogar ein besonderer Status – im Sinne ei­ ner Lebensweltökologie124 – zukommt. Diesen beiden Motiven soll im Fol­ genden in unterschiedlichen Hinsichten nachgegangen werden. Zunächst ist der Zusammenhang zwischen Tradition und gelingendem Leben zu be­ leuchten, aus dem sich dann die Frage nach der Verantwortung für Tradi­ tion ergibt. Aus dieser leitet sich folgerichtig die Thematisierung des Um­ gangs mit Traditionen und dessen ethische Bewertung ab. Schließlich kommt in den Blick der Zusammenhang von Traditionen und ethischem Verhalten in zeitlicher Perspektive, und zwar als Zeithorizontpflege und als Generationengerechtigkeit. Die Studien vor allem MacIntyres, aber auch Taylors und Rosas haben gezeigt, dass die Privatisierung der Lebensweisen – das heißt das Unterlas­ sen der kollektiven Aushandlung dessen, was als gelungenes Leben gelten kann oder soll  – keineswegs zu einer Steigerung der Lebensglücksbilanz und die Grenzen der Theorie“. V. a. S.  129) entspricht dem, was alle vier hier angespro­ chenen Autoren vor Augen haben. Dieser Denkertyp knüpft immer an Bestehendes an, integriert dieses, will keine tabula rasa. 124  Zu diesem Konzept vgl. S.  K luck: Pathologien der Wirklichkeit. S.  352–360.

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geführt hat.125 Rosa zum Beispiel analysiert im Hinblick auf die Gegen­ wart: Moderne westliche Gesellschaften sind gekennzeichnet durch einen unhintergehbaren ethischen Pluralismus und Individualismus. Anders als etwa in der Antike, im scholas­ tisch geprägten Mittelalter oder auch in den meisten uns bekannten vormodernen Kul­ turen haben sie in ihrer konstitutiven theoretischen und praktischen Selbstdeutung die Vorstellung des Menschen als eines auf ein bestimmtes Lebensziel, ein Telos, hin ange­ legtes Lebewesen radikal aufgegeben.126

Als Folge davon gebe es eine „Privatisierung des Guten“127. Betrachtet man jedoch die Gegenwart, ist von der vermeintlichen Pluralität aus abstrakte­ rer Perspektive weniger zu erkennen, als nach der – sachlich zutreffenden – These Rosas zu erwarten wäre. Vielmehr herrscht oder dominiert in gro­ ßem Umfang eine nutzenorientierte eudaimonistische Monokultur. Ge­ legentlich findet sich sogar die völlige Aufgabe aller τέλη, was nach antiker Lesart eines der größten ethischen Übel war.128 Das moderne Individuum 125  Vgl.

so z. B. bei MacIntyre die Analyse dessen, was er den „Emotivismus“ der Moderne nennt. Darunter versteht er die Ansicht, dass alle wertend-moralischen Urtei­ le nur Ausdruck persönlicher Präferenzen seien (vgl. dazu A. MacIntyre: Der Verlust der Tugend. S.  26). Ein solches durch Emotivismus geprägtes Selbst aber kann sich zwar zu allem Beliebigen bekennen und sich daran binden (ebd., S.  52 f.), aber diese Bindun­ gen sind nur „Ausdruck von Vorlieben und einer Wahl […], die selbst nicht durch ein Kriterium oder Grundsatz oder einen Wert bestimmt werden […].“ (Ebd., S.  53). Auf diese Weise verliert das „eigentlich moderne Selbst, das emotivistische Selbst, mit der Souveränität in seinem eigenen Reich seine traditionellen Grenzen […], die durch die soziale Identität und die Sichtweise des einem bestimmten Ziel zugeordneten mensch­ lichen Lebens gezogen worden waren.“ (Ebd., S.  55). Aus der Rückbindung jeder Wert­ entscheidung an selbst nicht begründbare subjektive Präferenzen wird jedwedes Telos zu einer Fiktion. Dazu vgl. auch C. Taylor: Das Unbehagen an der Moderne. S.  46 f., wo vom Wertsubjektivismus gezeigt wird, dass dieser behauptet, die Menschen wären „im­ stande zu bestimmen, was bedeutungsvoll ist, sei es durch eine Entscheidung oder wo­ möglich unbewußt und unbeabsichtigt durch schlichte Gefühlsvorlieben. Das ist barer Unsinn. Ich kann nicht einfach beschließen, daß die bedeutungsvolle Handlung darin besteht, in warmem Schlamm mit den Zehen zu wackeln. Ohne eine spezielle Erklä­ rung ist das keine verständliche Behauptung […]. Daß man ein bestimmtes Gefühl hat, kann nie einen hinreichenden Grund abgegeben für unsere Achtung vor dem betreffen­ den Standpunkt, denn das Gefühl kann nicht bestimmen, was bedeutungsvoll ist. […] Wichtigkeit erlangen die Dinge vor einem Hintergrund, der sie verständlich macht.“ Solche Hintergründe sind Traditionen. 126  H. Rosa: Resonanz. S.  38. 127  H. Rosa: Resonanz. S.  38 (Hervorh. im Orig. anders). 128  Vgl. dazu Aristoteles: EE 1214b (zitiert nach ders.: Eudemische Ethik. Übers. v. F.  Dirlmeier. Berlin 1984, S.  6): „[…] [E]in Leben ohne Hinordnung auf ein bestimmtes Ziel [verrät] großen Unverstand […].“

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ist im Hinblick auf die autonome Gestaltung seiner Glückseligkeit129 weni­ ger erfolgreich, als das die entbindenden Bestrebungen erhofft hatten. Was lässt sich dafür an Ursachen anführen? Im Wesentlichen steht zweierlei zu vermuten, erstens eine Art Überforderung, zweitens eine Art epistemischer Selbstbeschneidung. Eine Überforderung liegt insofern vor, als „jeder Per­ son zugemutet wird, selbst darüber zu entscheiden, wie sie ihre eigene Le­ benswelt durch freie Übernahme, durch Veränderung oder Verwerfung traditioneller Lebensformen gestalten will“, es aber „keineswegs selbstver­ ständlich [ist], daß die Fähigkeit zur Selbstbestimmung im selben Maße wächst.“130 Die Forderung, ethisch entbettet autonom zu werden, kann aus eudaimonistischer Hinsicht negative Folgen haben.131 Es ist keineswegs ausgemacht, dass jeder oder, was vielleicht ja hinreichend wäre, überhaupt die meisten Menschen dazu in der Lage sind. Für viele oder wenigstens manche wäre gegebenenfalls eine Einbettung vorteilhafter. Mendelssohns Eingeständnis, ein Aufklärer dürfe nicht in jedem Falle alle Wahrheiten kundtun,132 erfährt so eine eudaimonistisch sinnvolle Deutung. Zudem ist nicht nur die menschliche Möglichkeit zur radikalen Selbstbestimmung in Frage zu stellen, sondern es ist anzumerken, dass durch den Autonomie-­ Fokus sogleich jede Form der beibehaltenen Einbettung als pathologisch abgewertet wird. Wer in der Gegenwart noch in Traditionen lebt, gilt als rückständig und defizitär, verfehlt das Lebensziel. Der schon stereotyp ge­ wordene Mann, der Mitglied im Dackelzuchtverein oder Briefmarksamm­ ler ist, steht dafür exemplarisch.133 Wenn Autonomie Überforderung – je­ denfalls vom Maßstab der Eudaimonie aus betrachtet  – darstellen kann, 129  Die Begriffe „Glück“, „Glückseligkeit“ und „Eudaimonie“ bleiben hier bewusst unbestimmt, da es nicht um deren inhaltliche Auffüllung geht, sondern um eine abs­ traktere Bestandsaufnahme, wie überhaupt so etwas wie „Eudaimonie“ verstanden und angestrebt werden kann, ganz unabhängig davon, worin diese genau besteht. 130  D. Wendebourg, R. Brandt (Hrsg.): Traditionsaufbruch. S.  69. 131  Jüngst hat mittels sozialpsychologischer Analysen Jonathan Haidt zu zeigen ver­ sucht, dass in ethischer Hinsicht nicht jeder Weg für alle Menschen in gleicher Weise geeignet scheint (vgl. J. Haidt: The Righteous Mind. Why Good People are Divided by Politics and Religion. London 2013, z. B. S.  32–60). Seine Arbeit ist empirisch interes­ sant, philosophisch aber insofern problematisch, als er ethische Differenz qua charak­ terologischer psychologischer Deutung gleichsam naturalistisch zu erklären scheint. Wenn das stimmt, dann ist die von ihm beschriebene Spaltung höchstens noch zu mo­ derieren, aber nicht aufzuheben. 132  Vgl. in diesem Kap.  Fußnote 77. 133  Dabei ist auffällig, dass die Traditionen, welche so kritisiert werden, selbst eher randständig sind. Dass zugleich die Kritisierenden womöglich im Sinne der hier heraus­ gestellten Traditionen situativ eingebettet sind, wird selten reflektiert. Auch vermeint­ lich reflektierte, autonome Lebensstandpunkte – Veganismus, Hipstertum, ökologische

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wird den so schon herausgeforderten Personen gleichsam die Rückzugs­ möglichkeit durch pathologisierende Abwertung mit entzogen, sie geraten von zwei Seiten unter Druck. Neben der Überforderung kommt mittels der radikalen Autonomie-For­ derung weiterhin eine Selbstbeschneidung zum Tragen. Es hatte sich ge­ zeigt, dass man die bahnend-orientierende und einbettende Wirkung der Traditionen als epistemisch sinnvoll lesen kann, insofern darin empirisch zumindest nicht verworfene, vielleicht sogar bestätigte oder erfolgreiche Strategien von Menschen liegen. Wird nun der Einzelne aufgefordert, seine normative Ordnung selbst – als creatio ex nihilo – zu stiften, erscheint ein solches Vorgehen als fragwürdiger Verzicht auf einen riesigen Erfahrungs­ speicher, vielleicht den größten, den die Menschheit hat, nämlich die Erfah­ rungen aus der Geschichte. Wenn Traditionen immerhin Abschnitte aus den gesammelten Erfahrungen und Experimenten der Menschheitsge­ schichte implizit in sich tragen, dann bedeutet ein bewusster und gewollter Verzicht das Abschneiden des Individuums von diesen. Umgekehrt formu­ liert bedeutet es, die Fähigkeiten des Einzelnen maximal zu denken. Doch was gibt zu diesem Optimismus Anlass? Schon in epistemischer Hinsicht ist die Gegenthese viel plausibler, dass der Einzelne gegenüber dem Kollek­ tiv weniger Wissen und Erfahrung in sich vereinen kann. Das gilt, wie zu vermuten steht, nicht weniger im Hinblick auf ethische Sinn-, Wert- und Orientierungsstiftung. Im Kontext von Praktiken wie dem Geigenbau oder dem Instrumentenspiel, aber auch in der Mathematik wird dem Einzelnen, anders als im Hinblick auf den ethischen Subjektivismus, gerade nicht ein Schaffen nach eigenem Gutdünken gestattet, weil dort völlig klar scheint, was in der Ethik in Vergessenheit geraten ist, dass nämlich Autonomie und Autarkie (biographische wie kulturelle) Spätprodukte sind, die auf Vorleis­ tungen beruhen, die wiederholt und bewahrt werden müssen. Ein Geigen­ baulehrling, dem von seinem Meister keinerlei Unterweisung auf irgendei­ ne Art zuteilwird, käme von selbst nur unter hohen Zeit- und Materialkos­ ten zu (in den allermeisten Fällen) minderwertigen Ergebnissen, er hätte daher guten Grund, sich über Vernachlässigung zu beschweren.134 Die mögliche Antwort seines Meisters, er bilde nach dem Leitmotiv der Auto­ Lebensentwürfe, ebenso auch Extremsportlertum oder Intellektualismus  – scheinen doch (mehr oder weniger) zur Traditionsbildung zu neigen. 134 Sennett hat auf die Funktion des Handwerksmeisters als Ersatzvater (und deren Verschwinden) im Mittelalter hingewiesen. Dabei hatte der Meister, anders als der „echte“ Vater, explizit einem Eid zu folgen, der besagte, dass er schwört, „das Können des ihm Anvertrauten zu mehren.“ (R. Sennett: Handwerk. S.  9 0). So gesehen ist die Einbindung in die Tradition unabdingbar, ein Sichselbstüberlassen Eidbruch.

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nomie aus, würde sicher keine gute Verteidigungsstrategie in einem so frü­ hen Lehrzustand sein. Für ethisches Entwerfen und Stellungnehmen gilt das jedoch ausweislich des Genannten nicht. Hier wird Entbettung als Po­ sitivum gewürdigt, aber die vorgelegte Analyse zeigt, dass damit gleich­ wohl eine Selbstbeschneidung einhergeht. Traditionen, so sie denn ethisch relevant wirken,135 bieten erprobte und „getestete“ Lebensentwürfe, nor­ mative Ordnungen, Handlungsvorschriften und dergleichen, die zumin­ dest kurz- und mittelfristig bessere Ergebnisse erwarten lassen, als ein ra­ dikal autonomer Entwurf. Traditionen als ethische Erfahrungsspeicher werden jedoch durch eine explizit erwartete und eingeforderte Entbettung übergangen. Warum ist nun Tradition für Eudaimonie potentiell hilfreich? Sie kom­ pensiert, wie eben erläutert, potentielle Überforderung und individuelle epistemische wie erfahrungsmäßige Beschränkungen. Aber noch ein ande­ rer Aspekt an ihr ist herauszustellen, nämlich ihre Lebensweltbereicherungsleistung. Einbettung in sie bedeutet, Beziehungen zu Objekten, Wer­ ten, Handlungen und so weiter zu besitzen. Das Mitglied einer Tradition erfährt durch diese sich selbst als in einen – wie umfangreichen auch im­ mer – Kontext gestellt, zu dem es sich verhält. Dadurch gewinnen der eige­ ne Möglichkeitsraum wie die Lebenswelt an Struktur und Bedeutsam­ keit.136 Indem so eine nach Werthaftigkeit, Relevanz, Nutzen und derglei­ chen differenzierte Optionsvielfalt vorliegt, gerät der Mensch zumindest prinzipiell in den Zustand, den Rosa als Resonanz nachzuzeichnen ver­ sucht hat. Resonanz bedeutet dabei „nicht Konsonanz oder Harmonie“, sondern sie ist „nur möglich […] im Bezug auf einen Weltausschnitt, der mit eigener Stimme spricht“ und geht „notwendig mit Momenten der Unverfügbarkeit und des Widerspruchs [einher]“. Sie ist „das (momenthafte) Aufscheinen, das Aufleuchten einer Verbindung zu einer Quelle starker Wertungen in einer schweigend und oft auch repulsiven Welt.“137 Traditio­ nen, wie sie in Kapitel  II herausgestellt wurden, können genau eine solche unverfügbare, widersprechende, keineswegs harmonistisch zu verstehende 135  Nicht jede Tradition muss dies unbedingt tun, denn, wie in Kap.  I I.2.1 und II.2.2 gezeigt, können diese auch von lokalerem und ethisch gleichgültigem Inhalt wie Um­ fang sein. 136  Eine interessante Parallele hat dieser Gedanke im Werk Martha Nussbaums, die selbst darauf hinweist, dass das gute Leben Eingebundensein und Bindung beinhaltet (vgl. M. Nussbaum: Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Übers. v. I. Utz. Frankfurt 2020, z. B. S.  466, 53 f., 57 f., 115, 190 ff., 201). Nussbaum denkt dabei freilich primär gesellschaftspolitisch, während hier eher kulturalistisch operiert wird, jedoch sind die Argumente ähnlich zu lesen. 137  Zu den Zitaten H. Rosa: Resonanz. S.  316 f.

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Quelle starker Wertungen sein, die dem in sie hineinkommenden Subjekt resonante Erfahrungen ermöglichen. Indem sie die Welt strukturieren und das Individuum in diese einbetten, verhelfen sie zu resonanten Welt- und Selbstbeziehungen. Dies lässt sich exemplarisch in einer Hinsicht gut zei­ gen, denn resonante Weltbeziehungen im Sinne Rosas setzen werthafte Gliederungen voraus. Wenn jede Handlungsoption gleich gut ist, steht zu vermuten, dass das Subjekt beim Erfüllen einer der Optionen keinen be­ sonderen eudaimonistischen Ertrag erreicht. Zudem ist überhaupt schon die Rede von Optionen ganz grundsätzlich und ontologisch an das Beste­ hen eines Standpunktes gebunden, weil nur von da aus sich Optionen zei­ gen können. Aber selbst wenn man die ontologische Dimension beiseite lässt, gilt für die Ethik, dass Traditionen Handlungen differenzieren und insbesondere bestimmte Handlungen so herausstellen, dass deren Befol­ gung und Vollendung resonante Selbstwirksamkeitserfahrungen zeitigen. Wenn jede gebaute Violine gleichermaßen als gut gilt, erfüllt das erbrachte Werk den Geigenbauer mit keiner Freude, keinem Stolz, während hingegen eine normativ gegliederte Praxis ihn mit dergleichen versorgen kann, wenn es ihm in ausreichendem Maße gelingt, ein Ideal, ein Vorbild zu erreichen. Dann erfährt er sich als resonant in die eigene Tradition integriert.138 In diesem Fall, so die Hypothese, ist sein Leben im Hinblick auf die Eudai­ monie als gelungener anzusehen als im ersten fiktiven Setting. Die durch Traditionen gestiftete Reichhaltigkeit der Lebenswelt – etwa in affektiver, normativer, ästhetischer, epistemischer Hinsicht – gestattet erst überhaupt eine Differenzierung der Resonanzachsen139, weshalb ein Wegfall von Tra­ ditionen durch Entbettung Resonanzmöglichkeiten verringert, letztlich so Glückseligkeitschancen mindert. Aus dem zuletzt genannten Gedanken, dass Traditionsentbettung nega­ tiven Einfluss auf Eudaimonie haben kann, lässt sich ein kurzer Blick auf typische zeitdiagnostische Klagen richten. Wenn Rosa, wie vor ihm Lübbe, von der Beschleunigung als dem wesentlichen Merkmal der Gegenwart spricht, so ließe sich das als Situationsentbettung deuten. Beschleunigung ist die Kehrseite einer fehlenden tiefen, resonanten Verankerung. Über­ 138 

Das kann übrigens auch in dem Fall des Scheiterns noch so sein, denn wenn die gebaute Violine dem Maß nicht genügt, muss das nicht zum „Niedergang“ führen, son­ dern kann – ganz im Sinne des als Vertikalspannung Erläuterten – Ansporn sein, zudem mit Anerkennung der Leistung der Früheren und Stolz auf die eigene Zunft (selbst bei eigenem Ungenügen) sich verbinden. 139  Zum Konzept der Resonanzachsen und ihrer Beziehbarkeit – der Sache nach – auf Traditionen vgl. H. Rosa: Resonanz. S.  26, 122, 295 ff., 357, 404, 408, 506, 758. Rosa bringt diese Achsen mit Ritualen in Verbindung.

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haupt ist die Feststellung einer Beschleunigung als Belastung, nicht als bloß neutraler oder sogar gewollter Veränderung, phänomenologisch daran ge­ bunden, dass der eigene Standpunkt selbst instabil und dynamisiert wird. Nur, so kann gesagt werden, eine Entbettung aus stabilisierenden situati­ ven Kontexten lässt Beschleunigung als problematisches Ereignis möglich werden. Rosa hat selbst die „Infragestellung von Traditionen und überlie­ ferten Geltungsprinzipien“140 als Quelle von Kontingenzsteigerung und gesellschaftlicher Verflüssigung benannt. Aus dieser Perspektive erscheint das In-Traditionen-Stehen als ein Widerstandsreservoir gegen das moderne Phänomen der Beschleunigung,141 weil sie einen relativ stabilen Bewer­ tungspunkt bereitstellen, von dem aus Beschleunigung als bloße Verände­ rung weniger aufdringlich werden muss.142 Wenn allerdings ein so enger Zusammenhang zwischen dem Eingebet­ tetsein in Traditionen und der menschlichen Eudaimonie besteht, dann liegt eine gleichsam therapeutische Wirkung in der Arbeit an ihnen. Man kann sagen, dass durch von Traditionen herkommende Praktiken so etwas wie Resonanzermöglichung geleistet wird, das Engagement für Traditio­ nen gleichsam zur Aufrechterhaltung der Resonanzachsen zu verschie­ densten Orten und Zeiten dient. Dass in der Gegenwart eine Vertiefung der Lebenswelt resonanz- und eudaimonieermöglichend wirkt, ist von einigen Denkern wohl gesehen worden. Gehlen zum Beispiel verweist darauf, dass ein Zusammenhang zwischen Lebensintensität und der erlebten, atmosphä­ risch präsenten Vergangenheit besteht,143 mit Byung-Chul Han ist festzu­ halten, dass „tiefe Aufmerksamkeit als Kulturtechnik […] sich gerade aus rituellen und religiösen Praktiken heraus [bildet]“144 , und Kondylis be­ hauptet im Rahmen seiner Kritik einer einseitigen Aufklärungsrationalität: 140 

H. Rosa: Beschleunigung. S.  155 f. hat das freilich nicht systematisch ausgebaut, vielleicht teilt er diese These explizit nicht, weil er, wie Christian Schwaabe zutreffend meint, gleich der Kritischen Theorie insgesamt dazu tendiert, „lebensweltliche Resistenzpotentiale systematisch zu unterschätzen.“ (C. Schwaabe: „Gefangen im Gehäuse der Rastlosigkeit? Negative Ethik und gesellschaftliche Modernität“, in: H. Ottmann, S.  Saracino, P. Seyferth (Hrsg.): Gelassenheit – Und andere Versuche zur negativen Ethik. Berlin 2014, S.  15–29, hier S.  26 f.). 142  Im Anschluss an Rosa wäre auch zu überlegen, ob sich nicht die Phänomene der Repulsion und des Verstummens der Welt in Teilen aus Traditionsentbettungen herlei­ ten lassen. Dies wird hier jedoch unterlassen, da es dem Gesamtzusammenhang nur Details, keine grundlegend neuen Einsichten beizusteuern verspricht. 143  Vgl. A. Gehlen: Wirklicher und unwirklicher Geist. Eine philosophische Untersuchung in der Methode absoluter Phänomenologie. Leipzig 1931, S.  200. 144  B.-C. Han: Vom Verschwinden der Rituale. S.  16. 141  Rosa

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Es kann indes kein Zweifel bestehen, daß viele Personen, und zwar nicht die borniertes­ ten, ohne Zögern eben das als Fülle ihres Wesens bzw. als existentielle Intensität emp­ funden haben, was aus der weltanschaulichen Sicht des neuzeitlichen Rationalismus als Heteronomie oder Entmenschlichung dargestellt werden mußte.145

Diesen drei sehr unterschiedlichen Denkern ist die Einsicht gemeinsam, dass eine Fülle des Lebens – dessen eudaimonistische Qualität – davon ab­ hängt, wie sehr eine Einbettung in eine strukturierte und differenzierte Möglichkeiten eröffnende Wirklichkeit gelingt.146 Indem die Gegenwart durch die erläuterten Bahnungen der Traditionen an Differenzierung – ho­ rizontal wie vertikal – gewinnt, gewinnt das Leben der Menschen darin an Reichtum. Der von Arendt beklagte Verlust der Tiefendimension147 wäre zu lesen als ein Verlust der Lebensfülle durch diachrone Entdifferenzie­ rung, durch zunehmende Gebundenheit an eine vor allem in normativer Hinsicht nicht mehr stabil gegliederte Gegenwart. Traditionen stiften, wie man mit Arendt am Verschwinden derselben bemerken kann, Reichtum, der für das gelingende Leben ein wesentlicher Baustein zu sein scheint. Selbstverständlich ist damit nicht behauptet, dass jede konkrete Tradi­ tion auf diese Weise positiven Beitrag zum Lebensglück leistet. Dies dürfte nur für diejenigen der Fall sein, die im Sinne des phänomenalen Kerns nicht entfremdet einbetten. Oft jedoch stehen Menschen in  – zumeist produk­ tiven, gelegentlich oppressiven  – Spannungsverhältnissen zu Traditionen. In dem Fall hat sich, wie in Kapitel  II erläutert, gleichwohl sowohl an der Beziehung als auch zunehmend am phänomenalen Bestand etwas verän­ dert. Dann – wenn man denn von Tradition sprechen mag – kann diese frei­ lich lebensglückmindernd wirken. Die vorstehenden Analysen wollten da­ her nur für einen bestimmten Zustand Aussagen treffen, die aber gerade 145 

P. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. S.  46. derartige Stimmen sind z. B. Schmitz (vgl. H. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. S.  380) und Taylor mit seinem Motiv der Fülle (vgl. dazu C. Taylor: Quellen des Selbst. S.  864, vgl. sachlich ähnlich auch ders.: Das Unbehagen an der Moderne. S.  51, 77 f. und ders.: Ein säkulares Zeitalter. S.  26). Auch Shils hat in seiner maß­ geblichen Arbeit auf die eudaimonistische Relevanz der Tradition in diesem Sinne ge­ deutet. Vgl. dazu E. Shils: Tradition. S.  330: „I wish to stress that traditions should be considered as constituents of the worthwhile life. A mistake of great historical signifi­ cance has been made in modern times in the construction of a doctrine which treated traditions as the detritus of the forward movement of society. It was a distortion of the truth to assert this and to think that mankind could live without tradition and simply in the light of immediately perceived interest or immediately experienced impulse or immediately excogitated reason and the latest stage of scientific knowledge or some combination of them.“ 147  Vgl. H. Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. S.  161. 146  Weitere

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deshalb so relevant sind, weil gemeinhin die gegenteilige These von der Lebensglückfeindlichkeit der Tradition verfochten wird. Mit dem Gesagten sollte deutlich geworden sein, dass aus ethischer Sicht nicht frei über Traditionen hinweggegangen werden kann, ohne Konse­ quenzen zu tragen. Umgekehrt formuliert, lässt sich eine Verantwortung diesen gegenüber ableiten. Diese ergibt sich im Wesentlichen aus zwei Gründen, erstens der eben geschilderten positiven Wirkung (nicht nur der ethischen, auch der epistemischen und so weiter) wegen, zweitens deshalb, weil Traditionen nicht leicht, vielleicht gar nicht wiederherzustellen sind. Der Umgang mit ihnen ist der Umgang mit einer knappen, womöglich un­ wiederbringlichen Ressource. Insofern muss eine Ethik der Tradition die Verantwortung der Menschen im Angesicht ihrer in den Blick nehmen. Ein Anknüpfungspunkt für derartige Überlegungen ist Hans Jonas’ Verant­ wortungsethik. Diese wurde entwickelt unter dem Eindruck der zuneh­ menden technischen Möglichkeiten des Menschen, die sein eigenes Fortbe­ stehen grundsätzlich in Frage stellen.148 Strukturell will Jonas Verantwor­ tung deshalb ins Spiel bringen, weil sie den Menschen davor bewahrt, seine technischen Möglichkeiten unbegrenzt einzusetzen, deren Folgen und Wirkungen seine begrenzte Voraussicht nicht sicher einzuschätzen vermag. Es ist, kann man sagen, ein Motiv praktischer ethischer Klugheit, welches in Anschlag gebracht werden soll. Eine Entsprechung scheint auch im Hin­ blick auf Traditionen denkbar, nur dass es nicht technische Möglichkeiten sind, die als Problem in den Blick kommen müssen, sondern das humane Vermögen analytischer Vernunftkritik. Es besteht nämlich eine, wie man im Anschluss an Alexander Rüstow sagen kann, Möglichkeitsdysbalance, die ethisch bedacht und abgebildet werden muss: Ist […] das, was die einzelne Generation bestenfalls dem Traditionserbe hinzufügen kann, nach oben sehr begrenzt und bescheiden, so besteht nach unten eine solche Gren­ ze nicht. Was eine einzige Generation von der ererbten Kultur vergeuden, zerstören, ruinieren, preisgeben kann, das ist grundsätzlich unbegrenzt.149

Traditionen müssen als knappe Lebensweltressourcen gelten, weil sie nicht intentional herstellbar (jedenfalls nicht in größerem Umfang), aber leicht zerstörbar sind. Daraus ergibt sich ein Verantwortungsanspruch, der nicht besagt, alles müsse erhalten werden – das ist antiquarischer Traditionalis­ mus –, der aber fordert, dass ein gebührendes Maß an Sensibilität ent­wickelt wird, welches das immer leichte und schnelle Zerstören mindestens zur

148  149 

Vgl. dazu H. Jonas: Das Prinzip der Verantwortung. S.  7 ff. A. Rüstow: „Kulturtradition und Kulturkritik“. S.  309.

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vorgängigen Reflexion auf die eigene Berechtigung zwingt.150 Dafür bietet Jonas’ Theorie philosophisches Rüstzeug. Verantwortung151 beinhaltet nach ihm zwei essentielle Dimensionen, das „Seinsollen des Objekts“ und das „Tunsollen des zur Sachwaltung berufenen Subjekts“152 . Das bedeutet, einerseits soll die Fortexistenz des ethisch relevanten Objektes – bei Jonas Menschen, hier Traditionen – als Norm gesetzt sein, andererseits muss der Mensch selbst dafür etwas tun. Das zu Tuende wird von Jonas in Form ei­ nes Imperativs formuliert, der lautet, „nichts zu tun, was das weitere Auf­ treten von seinesgleichen verhindert […].“153 Seinesgleichen ist bei Jonas der Mensch, aber der Imperativ ließe sich verantwortungsethisch so umformu­ lieren, dass er den Menschen auffordert, nichts zu tun, was zukünftig Traditionen verunmöglicht. Dieser Imperativ hat jedoch nur Sinn, wenn die prinzipielle Traditionsunmöglichkeit für den Menschen überhaupt denk­ bar ist, woran freilich Zweifel bestehen bleiben. Insofern ist eine Formulie­ rung folgender Art praktisch klug, die von Agierenden verlangt, nur so zu handeln, dass das Fortbestehen von Traditionen nicht leichthin und ohne triftige Gründe in Frage gestellt wird.154 Auf diese Weise würde der Mensch 150 Es

sei, so Jonas, „Demut [verlangt] […] wegen der exzessiven Größe unserer Macht“ (H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. S.  55). 151 Jonas bindet Verantwortung an kausale Macht (vgl. H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. S.  172 ff.), die für den Fall der Tradition insofern gegeben ist, als zwar nicht jeder, aber die Menschen in größeren Gruppen und sicher insgesamt als Menschheit kausal für das Verschwinden von Traditionen in diesem Sinne ursächlich sind. Auch gibt es nach Jonas echte Verantwortung nur für Lebendiges (vgl. ebd., S.  185), was je­ doch im Folgenden ignoriert werden muss. 152  H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. S.  175. 153  H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. S.  214. Sucht man nach einer literarischen Parallele dieses Imperativs, stößt man auf Thomas Manns Roman „Buddenbrooks“, in dem die gleichnamige Kaufmannsfamilie gut nach der Devise lebte, nur solche Geschäf­ te zu machen, die einen guten Schlaf aller Angehörigen nicht gefährden (vgl. T. Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Frankfurt 2006, S.  56). Es geht darum, den Fort­ bestand der Familie und ihrer Güter nicht zu riskieren. Freilich hält sich die jüngere Generation daran nicht, schläft im Angesicht riskanter Geschäfte folglich schlecht (vgl. ebd., S.  419, 470–476) und verwickelt das Familienunternehmen in den Niedergang. Manns Roman kann, gerade im Vergleich zum philosophisch zumeist als relevanter veranschlagten „Zauberberg“, für die Besinnung auf Traditionen als noch zu wenig aus­ geschöpfte Fundgrube gelten. 154  Es gibt dabei nicht um das Erhalten einer konkreten Tradition, sondern von Tra­ ditionen in einem formalen Sinne (vgl. dazu H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. S.  239). Man kann sicher sagen, dass eine solche Klugheitsregel eine zwar schwächere, aber der Sache nach vergleichbare Parallele zur Beweislastumkehr im Sinne der Ritter-Schu­ le ist (vgl. z. B. H. Lübbe: Endstation Terror. S.  156). Diese wollte ebenfalls zur Bewah­

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seiner Verantwortung gegenüber der knappen Lebensweltressource Tradi­ tion gerecht.155 In jedem Fall setzt aber ein solcher Imperativ voraus, dass Traditionen als ethische Güter bemerkt werden. Jonas hat für seinen auf den Menschen hin orientierten Ansatz eine paradigmatische Szene zur Fundierung genutzt, um das Fortbestehen-Müssen zu begründen und dem Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses zu begegnen – den Anblick ei­ nes Neugeborenen.156 Aus diesem Erleben, so muss man Jonas lesen, ergibt sich unmittelbar der Anspruch, es erhalten zu müssen, nur unsensible Menschen, die womöglich damit aus dem ethischen Kosmos ausscheiden, verfehlen ihn. Wie ist diese Szene in ihrer ethischen Begründungsfunktion auf Traditionen übertragbar? Sicher gibt es keine genaue Entsprechung, aber wenn, wie es durch die vorliegende und andere philosophische Besin­ nungen auf das Traditionsphänomen getan ist, die Eigenarten der entspre­ chenden Lebensweltbestände bedacht werden, kann ein sensiblerer Takt wohl möglich sein. Indem Sensibilität geschärft wird, kommt die Dimen­ sion möglicher Verantwortung erst überhaupt in den Blick.157 Mit den bisherigen ethischen Überlegungen ist zweierlei deutlich gewor­ den, erstens, dass Traditionen eudaimonistisch relevante Entitäten darstel­ len, zweitens, dass ihnen gegenüber aus mindestens praktischen Klugheits­ rung des (noch) Bestehenden jedweden verändernden oder zerstörenden Eingriff um eine Art Legitimationsgrund seiner Berechtigung bitten. 155 Jonas hat konkreter das Modell der politischen Verantwortung entwickelt, wel­ ches für den Umgang mit Traditionen wohl einschlägig ist (wobei auch einige Aspekte der elterlichen Verantwortung, die hier nicht verhandelt werden, relevant scheinen). Diese besteht darin, dass man nicht dem verpflichtet sei, was man gemacht habe, son­ dern was einen gemacht hat (vgl. H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. S.  195), und sie müsse „‚geschichtlich‘ verfahren, ihren Gegenstand in seiner Geschichtlichkeit umgrei­ fen“ (vgl. ebd., S.  196), so Kontinuität sichern. Eine solche politische Verantwortung nimmt das Vergangene als für die Zukunft und deren Ermöglichung Relevantes verant­ wortlich in Verwahrung. 156  Vgl. dazu H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. S.  2 34 ff. 157  Erst eine solche bringt hervor, was Jonas in seinen markanten Schlussbemerkun­ gen, die auch auf Tradition zutreffen können, so formuliert: „Ein degradiertes Erbe wird die Erben mit degradieren. Die Hütung des Erbes in seinem ‚ebenbildlichen‘ An­ sinnen, also negativ auch Behütung vor Degradation, ist Sache jeden Augenblicks; keine Pause darin zu verstatten ist die beste Garantie der Dauer: sie ist, wenn nicht die Zu­ sicherung, gewiß die Vorbedingung auch künftiger Integrität des ‚Ebenbildes‘. Seine Integrität aber ist nichts anderes als Offensein für den immer ungeheuerlichen und zu Demut stimmenden Anspruch an seinen immer unzulänglichen Träger.“ (H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. S.  393). Jonas wählt sehr starke Worte und machte eine große Differenz zwischen Erbe und Träger auf (vermutlich weil er nach dem Vorbild religiö­ ser Traditionen denkt), die vielleicht übertrieben ist, aber das Grundmotiv kann als zutreffend erachtet werden.

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erwägungen und gesteigerter Sensibilität heraus eine gewisse Verantwor­ tung besteht, die sich in dem nicht leichtfertigen Verwerfen derselben zeigt. Doch welche konkreten Konsequenzen hat das? Wie ist ein ethisch vertret­ barer Umgang mit Traditionen zu denken? Im Detail lässt sich das nur für je konkrete Situationen angeben, denn es ist auch im Sinne der Eudaimonie denkbar, dass Distanzierung oder Zerstörung notwendig werden. Im Fol­ genden sollen daher eher allgemeine, aber eine Tendenz andeutende Refle­ xionen zum Traditionsumgang vorgestellt werden. Es ist auffällig gewor­ den, dass viele Denker den Traditionen gegenüber eine adäquate Haltung einforderten und skizzierten, die in einem „hörenden Vernehmen“158 oder ähnlichem Bestehen. In diesem Sinne tauchen zwei Motive159 immer wieder auf – Demut160 und Pietät161. Beide verweisen auf den Umstand, dass ein ethisch verantwortungsvoller Umgang mit Traditionen nur gelingen kann, wenn diese als eine besondere, prima facie schützenswerte oder jedenfalls fragile Gabe hingenommen werden. Pietätvoller und demütiger Umgang räumen dem, womit sie es jeweils zu tun haben, einen hohen Stellenwert ein. Pietät tut dies, weil sie die Heiligkeit oder jedenfalls normativ-qualita­ tive Andersartigkeit des Objekts bemerkt, Demut, indem sie eine sachlogi­ sche Differenz zwischen sich und dem Objekt anerkennt.162 Als Resultat 158 Pieper spricht davon, die rechte Einstellung zur Tradition sei das Hören, gerade nicht, wie zu ergänzen ist, das Sehen (vgl. J. Pieper: Überlieferung. S.  57). Phänomeno­ logisch gelesen bedeutet dies, die rezeptive Seite gegen den aktiven Zugriff des Sehens – durch Blicken, durch Augenschluss usw. – stark zu machen. 159 Es gibt noch weitere damit verwandte Motive, etwa das der Treue (vgl. z. B. K.  Jaspers: Philosophie II. S.  135), der Ehrfurcht (vgl. z. B. O. F. Bollnow: Die Ehrfurcht. S.  52 ff.; C. A. Emge: „Zur Philosophie der Tradition“. S.  265 und A. Giddens: „Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft“. S.  159) oder der Achtung (vgl. z. B. H. Plessner: Macht und menschliche Natur. S.  212), die jedoch alle gleichermaßen das Hinnehmen und Sichselbstzurücknehmen in den Mittelpunkt stellen. 160  Zur Demut als Traditionsumgangsweise vgl. F. W. Foerster: Autorität und Freiheit. S.  52; R. Bultmann: „Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendlän­ dische Kultur“, in: ders.: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1952, S.  274–293, hier S.  290 f. und J. Pieper: Überlieferung. S.  94. 161  Zur Pietät als Traditionsumgangsweise vgl. F. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. S.  265; M. Landmann: Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. S.  115; O. Nahodil: Menschliche Kultur und Tradition. S.  51 f. und G. Marcel: Das große Erbe. Tradition, Dankbarkeit, Pietät. Übers. v. R. Spaemann. Münster 1952, z. B. S.  33 und passim. 162  Jonas Puchtas vorbildliche phänomenologische Analyse der Demut hat diesen Aspekt einer sachadäquaten Hierarchie, die durch die Demut herausgestellt und aner­ kannt wird, gut erläutert. Vgl. dazu J. Puchta: „Du bist mir noch nicht demüthig genug“. Phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut. Freiburg, München 2021, z. B. S.  151–182.

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daraus tritt der Mensch als aktiver zumindest zunächst zurück, lässt sich vielmehr angehen, berühren, nimmt Anteil.163 Demut und Pietät sind zwar für den heutigen Sprachgebrauch altertümliche, unzeitgemäße Tugenden, aber sie können immerhin helfen zu verdeutlichen, wie ein traditionsad­ äquater Umgang aussehen mag. Nun hatte Kant in seiner berühmten Auf­ klärungsschrift behauptet, Aufklärung erfordere wesentlich Mut.164 Damit geht einher die implizite Behauptung, Traditionsangehörige seien feige oder jedenfalls mutlos. Wie verhält sich dazu die hier vorgestellte These, ethisch adäquate Traditionstugend sei die Demut? Leider spezifiziert Kant nicht, warum Mut notwendig ist und worin dieser genau besteht, jedoch will er wohl auf den Umstand hinweisen, dass Aufklärung Unsicherheiten hervorbringt durch Abstreifen bestehender, vermeintlich falscher Ansich­ ten, Wertordnungen und so weiter, weshalb der sich davor Ängstigende Mut aufbringen muss, den Weg der Kritik zu gehen.165 Ist also der Demüti­ ge einfach nur der stereotype Konservative, der im Interesse von Sicherheit und Stabilität das Neue, das Unbekannte scheut?166 Mitnichten ist das der Fall, denn das von Kant als Mut Herausgestellte erweist sich eben auch als das Pendant zum menschlichen Aktivismus, zum menschlichen Bestreben, alles selbst hervorzubringen. Der Demutsame dagegen bleibt der bereits herausgestellten heteronomen Dimension seines Daseins eingedenk, so dass er dem Begegnenden  – in einem ersten Schritt wohlgemerkt  – nicht 163  In diesem Sinne hat Hartmann zu Recht das Ethos der Teilhabe als relevant her­ ausgestellt (vgl. dazu N. Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. S.  172 f., 177, 231 f., 460). Und in dem genannten Aspekt der Selbstrücknahme liegt die Parallele zu Ethiken des Heteronomen, des Sichbestimmenlassens – wie von Eldracher, Martin Seel, Hen­ ning Ottmann, Taylor und anderen angedacht  – offen zu Tage. Demut öffnet einen Raum, in dem sich Subjekt und Tradition begegnen können – vielleicht nicht auf Augen­ höhe, aber immerhin. Insofern ist auch die hier entwickelte ethische Perspektive eine Ethik des „Zwischen“, des „Mediums“. Solche Ethiken wenden sich gegen eine ethische Form des Vico-Axioms, nachdem nur das moralisch wertvoll ist, was Menschen selbst (bewusst) hervorgebracht haben. Zu dieser Figur vgl. schon M. Scheler: „Das Ressenti­ ment im Aufbau der Moralen“, in: ders.: Abhandlungen und Aufsätze. Bd.  1. Leipzig 1915, S.  39–274, hier S.  209 f., 216. 164  I. Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“. S.  20. Zuletzt haben, wohl angesichts der modernen Traditionsfeindlichkeit, manche behauptet, heute sei es die Traditionsbindung, die gerade Mut erfordere (vgl. z. B. J. Pieper: Überlieferung. S.  73). 165 Taylor deutet den Mut als Kehrseite des Tod Gottes, insofern dem Menschen nun die früher Gott zugekommene Verantwortung zufällt (vgl. C. Taylor: Ein säkulares Zeitalter. S.  960 f.). 166  Eine Karikatur – wohlwollend ausgedückt: eine starke Überzeichnung – dieses Typus liefert E. Canetti: „Der Demutsame“, in: ders.: Der Ohrenzeuge. Berlin 1976, S.  80 f.

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zugreifend-mutig, sondern eben hinhörend-demütig gegenübertritt. Die so in den Blick kommende Rezeptivität oder Empfänglichkeit167 darf freilich nicht mit gleichsam tierischer Passivität verwechselt werden, sondern De­ mut ist nötig, weil sie korrektiv wirkt. Nur wer sich von Traditionen noch angehen lassen kann, wird ihnen in einem Umfeld, in dem konstruktive Zugriffe dominant sind, noch ethisch gerecht. Ortega y Gasset hat darauf hingewiesen, dass Demut gerade in Zeiten, in denen alles machbar scheint und – zumindest technisch – funktioniert, selten wird.168 Daher scheint es plausibel, sie im Rahmen einer ethischen Reflexion auf Traditionsumgangs­ weisen als Korrektiv in den Vordergrund zu rücken, weil sie den einseitigen und dominanten Zugang konfrontiert.169 Nicht behauptet ist mit dem Dargelegten, dass sich ein Traditionsum­ gang in der demütigen, pietätvollen Hingabe erschöpfe. Nietzsche hatte ein antiquarisches Verhältnis zur Geschichte so gedeutet und kritisiert, denn es führe durch Bewahrung um jeden Preis zum Absterben, zur Mumifizie­ rung.170 Und wenig plausibel wäre die These, es müsse jeder Tradition pas­ siv gefolgt werden – schon deshalb nicht, weil es historisch blind schiene, aber auch, weil sie notwendig Auslegung und Verstehen erfordert, die im­ mer modifizieren. Wie also ist die Spannung zwischen Aktivität und Passi­ vität, Mut und Demut zu moderieren? Vor dem Hintergrund der erläuter­ ten ethischen Probleme des Umgangs mit Traditionen ist eine Orientierung am Leitbild Homöostase sinnvoll. Es ist für den Umgang mit fragilen Le­ bensweltbeständen öfter, wenn auch nicht dem Namen, so doch der Sache nach, diskutiert worden. Röpke zum Beispiel schreibt: 167 

Vgl. M. Eldracher: Heteronome Subjektivität. S.  132 f. J. Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen. S.  60 ff. Ihm geht es allerdings um Demut gegenüber den herausragenden Persönlichkeiten (im Unterschied zur Masse), nicht um Traditionen, aber der Gedanke ist übertragbar. 169  Darin liegt freilich insofern eine Provokation, als Demut – verbunden mit Hete­ ronomität und Passivität – etwas darstellt, dass dem Wesenskern der Moderne zuwider­ läuft. Rudolf Bultmann hat richtig herausgestellt, dass Demut und Offenheit genau das sind, was dem modernen „homo creator“ fehle (vgl. R. Bultmann: „Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendländische Kultur“. S.  291). Aber was Demut – ein Begriff, der selbst immer unterschiedlich verstanden und bewertet wird – zeigen kann, ist, dass der Mensch eben auch über ein besonderes Passivitätsvermögen verfügt. Fried­ rich Gogarten hat in diesem Sinne Hörigkeit als Grundtugend des Menschen heraus­ gestellt (vgl. F. Gogarten: Politische Ethik. Versuch einer Grundlegung. Jena 1932, v. a. S.  8 ff., 33). Eine Reakzentuierung dieser menschenmöglichen Tugend scheint jeden­ falls – in Maßen – vertretbar und zudem sowohl sinnvoll als auch im Hinblick auf Tra­ ditionen sachangemessen. 170  Vgl. F. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. S.  267 ff. 168 

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Konservatives Bewahren und Erhalten ist eine unerläßliche Bedingung gesunder Ge­ sellschaft, aber wer sich allein an Tradition, Geschichte und Gewohnheit klammert, macht sich eines Übermaßes schuldig, das zur unerträglichen Erstarrung führt. Libera­ le Vorliebe für Bewegung und Fortschreiten ist ein ebenso unentbehrliches Gegen­ wicht, aber wenn sie sich selber keine Grenze an der Achtung vor dem Dauernden und zu Bewahrenden setzt, ist ihr Ende Auflösung und Zerstörung.171

In dieselbe Kerbe, dass ein gesundes Verhältnis zwischen Bewahren und Verändern essentiell ist, schlägt Polanyi, insofern er, vom Individuum her denkend, darauf hinweist, dass dessen mentale Gesundheit beeinträchtigt wird, wenn aus der Einsicht in die Menschengemachtheit der grundlegen­ den Überzeugungen deren umfassende Hinfälligkeit sich zu ergeben scheint. Die analysierende Vernunft zersetzt, anders formuliert, den emp­ fangenen Traditionshintergrund. Dagegen fordert er eine Wiederherstel­ lung der „mental balance“.172 All diesen Ansätzen173 homöostatischer Art ist gemeinsam, dass sie beide Seiten – schöpferische wie empfangende – in ihrer Relevanz und Notwendigkeit anerkennen. Wenn daher angesichts der Eigenarten des Phänomens Tradition, seiner wichtigen Leistungen und Vorteile im Kontext einer Umgangsethik für Demut als Leitbild plädiert wurde, dann vor dem Hintergrund, dass das homöostatische Gleichge­ wicht seit der Kritik der Aufklärer ohnehin zugunsten des Neuschaffens und der zersetzenden Analyse verschoben scheint. Eine gelingende Ho­ möostase vorab festzulegen, ist gleichwohl nicht möglich, jedoch wird das Modell insofern für eine praktische Klugheit hilfreich sein, als es die Sensi­ bilität für Traditionen fördert. Der Homöstase- wie der Demutsgedanke bestärkt das, was Shils für Traditionen verlangt: „patient watchfulness and tact of utmost delicacy“174. Durch das Gesagte ist die Ethik eines Umgangs mit Traditionen unter den Bedingungen der Moderne aus allgemeiner Perspektive angedeutet. Es bleibt im Einzelfall Sache einer praktischen Vernunft, diese Einsichten zu konkretisieren. Im Folgenden soll jedoch in zwei Hinsichten noch an ­wichtigen Komplexen ein Detailblick gewagt werden. Einerseits müssen 171 

W. Röpke: Jenseits von Angebot und Nachfrage. S.  130. M. Polanyi: Personal Knowledge. S.  204. 173  Zu weiteren Homöostase-Modellen in diesem Sinn vgl. E. Burke: Betrachtungen über die Französische Revolution. S.  421; E. Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Übers. v. R. Kaiser. Hamburg 2007, S.  342; P.  Sloterdijk: Eurotaoismus. S.  22; F. A. von Hayek: Die Anmaßung von Wissen. Neue Freiburger Studien. Hrsg. v. W. Kerber. Tübingen 1996, S.  93 und C. Taylor: Ein säkulares Zeitalter. S.  536. Nach Hacke (vgl. J. Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. S.  78) sind ebenso die Kompensationstheorien als Homöostase-Theorien deutbar. 174  E. Shils: Tradition. S.  330. 172 

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Traditionen als Instanzen des Zeithorizonts Thema werden, weil auch dies ethische Implikationen hat. Gleiches gilt für die Einbeziehung der hier ent­ wickelten Gedanken in die etablierte ethische Diskussion um Generatio­ nengerechtigkeit, die in der Gegenwart besonders im Umfeld ökologischer Überlegungen angesichts der Klimaveränderungen an Relevanz gewann. Dass Traditionspflege Teil einer Zeithorizontpflege175 ist, scheint unmit­ telbar evident. Indem sich Menschen mit der Vergangenheit und deren Ver­ hältnis zur Gegenwart praktisch, aber auch theoretisch beschäftigen, er­ weitern sie ihren Zeithorizont – also die Zeitspanne, an der sie Anteil neh­ men  – erheblich.176 Aber damit besteht eine Gefahr, denn wenn so die Perspektive sich weitet, droht eine Vergleichgültigung. Gemäß dem Blick­ winkel sub specie aeternitatis ist jede Gegenwart bedeutungslos, denn es war vielleicht alles schon einmal da und jedes Heute ist an sich ohne beson­ deren Wert. Großheim hat dieses Problem gesehen, wenn er auf die mit Zeithorizonterweiterung verbundene „Distanz zum Begegnenden“ hin­ weist, auf den sich für das Subjekt entfaltenden „Urteilsraum“.177 Wenn Traditionen Zeithorizonterweiterungen sind, führen sie nicht gerade – ent­ gegen der unterstellten eudaimonistischen Wirkung  – zum Verlust einer bedeutungsvollen, resonanzreichen Gegenwart? Wie verhält sich ein diach­ ron qua Tradition entfalteter Blick zur traditionsgestützten reichhaltigen Entfaltung der Gegenwart? Lübbe hat gemeint, wer in Traditionen stehe, dem werde die Gegenwart unendlich ausgedehnt, weshalb die moderne Be­ schleunigung eine Gegenwartsschrumpfung herbeiführe, da der Zeitraum, der als stabil, als Kontinuität erscheint, sich immer weiter verkleinert.178 Das ist allerdings phänomenologisch eine Überzeichnung, denn wiewohl die Einbettung zu einer Ausdehnung des Bereichs führen kann, den ein Menschen für den Seinigen hält, so wird keineswegs die gesamte Vergan­ genheit zur Gegenwart. Das hängt schon damit zusammen, dass die Ge­ genwart zeitphänomenologisch ein besonderer Ort ist, der mit der Vergan­ genheit kaum zu verwechseln ist, denn in ihr bricht die Vergangenheit eben 175  Zur

Idee der Pflege des diachronen Beachtungs- und Betrachtungsraumes vgl. M.  Großheim: Zeithorizont. S.  26, 29. 176 Imhof liefert dafür Beispiele, die ihn selbst als Forscher erstaunen, etwa die über 600jährige Tradition politischer Art in bestimmten Schweizer Gemeinden (vgl. A. E. Imhof: Die Lebenszeit. S.  137). Jemand, der ein solches Amt bekleidet, weitet damit, wenn er nicht entfremdet hineinkommt, seinen Horizont auf eine Weise, wie es Men­ schen in der Regel nicht möglich ist. Auf Jahrhunderte der Kontinuität und Stabilität zurückblicken zu können, darf nach menschlichen Maßstäben als äußerste Unwahr­ scheinlichkeit gelten. 177  M. Großheim: Zeithorizont. S.  125. 178  Vgl. H. Lübbe: „Gegenwartsschrumpfung“. S.  263 f.

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gerade ab.179 Aber Lübbe hat sicher recht damit, wenn er für Traditionsge­ bundenheit als Folge eine in gewisser Hinsicht erweiterte Gegenwart un­ terstellt, was suggeriert, dass das Hier und Jetzt gerade doch, anders als unterstellt, bedeutsamkeitsärmer wird. Lösen lässt sich dieser scheinbare Widerspruch, indem man sich verdeutlicht, was Gegenwart jeweils meint. Lübbe und mit ihm alle Theoretiker der Ewigkeitsperspektive zielen da­ rauf, zu betonen, dass mit der Tradition eine Ausweitung des Bereichs er­ folgt, der für relevant erachtet wird. In der beschleunigten Moderne, gerade weil dort Wissen, Praktiken, Techniken durch den Fortschritt zusehends schneller veralten, schrumpft dieser Bereich, denn er hat keine Relevanz mehr. Wenn dagegen von der Tradition als gegenwartsaufschließendem und -bereicherndem Phänomen die Rede war, stellte Gegenwart dasjenige dar, was Menschen – je aktuell sich besinnend – feststellen können. Dazu ist Tradition hilfreich, weil sie qua Kategorien, Begriffen, Konzepten, Wissen, aber auch affektiven Bedeutsamkeiten, erfolgreichen Praktiken und so wei­ ter die Möglichkeiten, etwas zu thematisieren, vergrößert. In diesem Sinne stiftet sie Fülle. Jedoch ist die Gefahr, qua Tradition über diese besinnungs­ zugängliche unmittelbare Gegenwart hinweg zu leben in einer zunehmend entfalteten, mehr und mehr eher ideellen als erlebten Gegenwart, keines­ wegs von der Hand zu weisen. Was man mitunter Konservatismus oder Traditionalismus nennt, scheint als solch ein Vorgang deutbar. Damit er­ wächst für den Traditionsumgang die eudaimonistisch relevante Einsicht, dass die Schonung derselben nicht dazu führen darf, dasjenige, was Nietz­ sche das Leben nannte,180 zugunsten einer streng musealen, auf zeitliche Ewigkeit und stete Dauer gerichteten Perspektive zu vernachlässigen. Dies hätte auf individueller wie kultureller Ebene ethische Folgen, die der hier verfolgten Orientierung an irgendeiner Form gelingenden Lebens diamet­ ral entgegengesetzt scheinen. Als letzter Gegenstand einer ethischen Reflexion im Kontext einer Phi­ losophie der Tradition ist auf die Generationengerechtigkeit zu kommen. Man sollte erwarten, dass über das Thema bereits ausführlich nachgedacht wurde, aber das genaue Gegenteil ist der Fall. Man gewinnt den Eindruck, Generationengerechtigkeit meint eigentlich nur das Verhältnis der Leben­ den oder Älteren zu den Kommenden oder Jüngeren. Dass der Mensch auch ein Verhältnis zu den Früheren und Toten haben kann, wird gleich­ sam ausgeblendet.181 Doch bevor diese vernachlässigte Dimension in den 179  Zu diesem Punkt, der hier nicht weiter verfolgt werden kann, vgl. H. Schmitz: Phänomenologie der Zeit. S.  97–121. 180  Vgl. dazu F. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Z. B. S.  268. 181  Dies zeigt exemplarisch die ansonsten maßgebliche Studie von Jörg Tremmel, bei

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Blick kommen soll, ist auch über das übliche Generationenverhältnis zwi­ schen Jüngeren und Älteren noch etwas anzumerken. Dass mit diesem für die Tradition ein wichtiger Umstand benannt ist, war schon deutlich ge­ worden. Die generationelle Grenze ist für die Fortdauer – oder das Schei­ tern – von Traditionen eine bedeutende Markierung. Aber was sind eigent­ lich Generationen? Im ethischen Kontext ist klar, dass nicht der biologische Begriff im Vordergrund stehen kann, nach welchem eine Generation etwa einen Zeitraum von rund 20 Jahren, in Kulturen mit geringerer Reproduk­ tionsrate wohl auch 30 Jahren umfassen kann. Zwar treten zwischen Eltern und Kindern immer Traditionskonflikte auf, jedoch sind die auffälligeren die, bei denen kollektiv geteilte Traditionen größeren Umfangs und höhe­ rer normativer Stellung in Frage geraten. Dieser Generationenbegriff hat zwei Dimensionen, den der geteilten prägenden Erfahrungen und – wohl daraus abgeleitet – den einer gemeinsamen Identität. Karl Mannheim hat in seiner maßgeblichen Untersuchung zahlreiche Aspekte des Generationen­ begriffs herausgearbeitet,182 so dass für eine Betrachtung desselben im Rahmen des Traditionsdiskurses klar ist, dass es nicht um den quantitati­ ven, sondern den irgendwie qualitativen Begriff gehen muss.183 Vielleicht am deutlichsten hat Aleida Assmann dieses auf den Punkt zu bringen ver­ sucht mit der Anekdote der Füllung eines Brunnens mit Wasserbackstei­ nen. Was absurd klingt – Wasser bildet keine Backsteine –, will darauf ver­ weisen, dass Generationen im Fluidum des fortwährend vergehenden und entstehenden Lebens nur in einer bestimmten Perspektive Festigkeit ge­ winnen: Generationen entstehen […] nicht allein durch Geburtsdaten, sondern auch durch gleichartige Erfahrungen und Herausforderungen, durch Kommunikation und Dis­ kurse, durch kollektive Muster der Erfahrungsverarbeitung und retrospektive Identi­ tätskonstruktionen. Der Lehm des Backsteins […] sind die Jahrgangskohorten, die Form des Backsteins dagegen ist etwas Imaginäres, das sich die Generation in einem Wechselverhältnis von gelebter Erfahrung und nachträglicher Deutung erwirbt. […] der es keinerlei Überlegungen zu einem ethisch bedachten Vergangenheitsverhältnis gibt. Vgl. dazu J. Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit. Münster 2012, z. B. S.  30, wo die Kernfragen der Generationenethik benannt werden, die allesamt eine in die Zukunft ausgerichtete Perspektive haben. 182  Vgl. dazu K. Mannheim: „Das Problem der Generation“. Weitere Hinweise zum Generationenbegriff liefern M. Großheim: Zeithorizont. S.  79 ff.; A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007, S.  31 ff. und S.  Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München 2006, S.  109 f. 183  Vgl. K. Mannheim: „Das Problem der Generation“. S.  81. Großheim spricht vom „emphatischen“ Generationsbegriff (vgl. M. Großheim: Zeithorizont. S.  79).

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Die Abgrenzung von Generationen entsteht durch einschneidende Geschichtserlebnis­ se und gesellschaftliche Innovationen, die als historische Zäsuren erfahren werden.184

Zwischen solchen qualitativ sich unterscheidenden Generationen kommen Traditionen – nicht alle, sondern meist spezifische und in der Regel solche mit größerer Reichweite und größerem Umfang – in die Kritik. Aber wel­ che Relevanz hat das Generationenphänomen für eine Ethik der Tradition? Zum einen zeigt sich, dass man den qualitativ-emphatischen Charakter derselben mitbedenken muss, wenn es um Gerechtigkeit zwischen solchen Entitäten geht. Rosa hebt dies deutlich hervor: Wer sich in seiner Existenz als abgetrennt von den vorangehenden und den zukünftigen Generationen erfährt, hat wenig Grund, sich von […] abstrakten Gerechtigkeitsprinzi­ pien beeinflussen zu lassen. Wer aber den Strom der Geschichte durch sich hindurch­ ziehen fühlt, wer sich mit den Vor- und Nachfahren so verbunden fühlt, dass sie ihn etwas angehen, der bedarf solcher Prinzipien zur Begründung nachhaltigen Handelns gar nicht […].185

Generationenbeziehungen stiften dann Gerechtigkeitsrelationen, wenn sie als resonante im Sinne Rosas, als einbettende im hier verhandelten Sinne wirken. Dann nämlich sind die früheren und die folgenden Generationen nichts Fremdes, sondern partiell zum Eigenen gehörig. Eine Generatione­ nethik, die sich nur an abstrakten Abfolgen von Kohorten orientiert, kann diesen Gedanken nicht abbilden. Der qua Einbettung entstehende affektive Bezug liefert Motive für ethisches Handeln. Gleichwohl liegt darin ein Problem, denn was ist mit Menschen, die für diese Resonanzachse unsensi­ bel sind? Nach Rosa wäre zu vermuten, dass man solche Personen nur noch durch klassische äußere Sanktionen – Zwang durch Androhung (oder Aus­ führung) von Strafen und so weiter – intergenerationell zu ethischem Ver­ halten bewegen wird können. Das heißt jedoch umgekehrt, dass die Einbettung in Traditionen für eine gelingende Generationenethik selbst wertvoll und nützlich ist, denn sie sichert diese ab. Es ist wohl mehr als nur Koinzidenz, dass ökologische Probleme in einer Kultur auftreten, die pri­ mär vom isolierten, entbetteten Individuum her denkt. Nietzsche hat das am Beispiel des Atheismus illustrierend verdeutlicht, insofern das Heraus­

184  A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis. S.  33 f. Assmanns Konzeption kommt wohl der Tendenz nach etwas zu konstruktivistisch daher, denn die Rolle geteilter spe­ zifischer Erfahrungen der Kohorten – der Tod der Eltern, das Aufziehen von Kindern, das Altern – dürfte für die Ausbildung von Generationen über dem „Stoff“ der Kohor­ ten sicher jenseits der auch vorhandenen Deutungs- und Konstruktionsmomente eine wichtige Rolle spielen. 185  H. Rosa: Resonanz. S.  713.

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III. Argumentationsfiguren

lösen aus Situationen für eine intergenerationelle Perspektive zerstörende Folgen hat. Es sei die Aussicht […] nicht abzuweisen, dass der vollkommene und endgültige Sieg des Atheis­ mus die Menschheit von [dem] […] ganzen Gefühl, Schulden gegen ihren Anfang, ihre causa prima zu haben, lösen dürfte. Atheismus und eine Art zweiter Unschuld gehören zu einander.186

Die causa prima kann man säkularisiert als die Menge der vorhergegange­ nen Traditionen und Generationen verstehen, von denen sich der durch Atheismus entbettete Mensch frei, gleichsam unschuldig glaubt. Dadurch meint er, keine Schulden ihnen gegenüber zu haben. Freilich wird dann jede Etablierung oder Verteidigung ethisch relevanter intergenerationeller Be­ ziehungen schwierig, denn sie können sich nur auf abstrakte Prinzipien be­ rufen. Traditionen erweisen sich als vielleicht nicht notwendige, aber doch hinreichende Bedingung für eine Generationenethik, da sie als implantie­ rende Situationen die von Rosa angesprochenen und mit dem emphatischen Generationenbegriff verbundenen affektiv-resonanten Bezüge herzustellen vermögen. Ein letztes Problem freilich stellt die zunehmende soziale und technische Beschleunigung in der Gegenwart dar. Diese führt nämlich dazu, dass die Veralterungsgeschwindigkeit mancher Wissens- und Weltbestände höher ist als der generationelle Wechsel, so dass schon intragenerationell Traditio­ nen überholt werden. Daraus lässt sich eine interessante Schlussfolgerung ableiten, dass nämlich für Traditionen geringerer Reichweite die Bedeu­ tung der Generationsgrenze schwindet. Sie geraten bereits individualbio­ graphisch unter Druck. Das zeigt sich auch daran, dass die Bildung von identitätsstiftenden Bezeichnungen für Generationen seit Mitte oder Ende des 20.  Jahrhunderts an Häufigkeit und Schnelligkeit zugenommen hat – in einer Phase, in der für die westliche Welt die biologische Generation auf­ grund weniger und später Geburten gerade ihr zeitliches Maximum er­ reicht. Aus diesem Umstand folgt für das Nachdenken über Tradition, dass diese in bestimmten Bereichen selbst den Charakter des zuvor als Mode Benannten annimmt, weil es nicht einmal mehr intragenerationell zu dau­ erhafter Stabilität kommt. Für eine Ethik der Tradition erhöht das freilich das Engagement für den Schutz des noch tragfähigen Bestehenden. Wichtiger noch als das eben Behandelte ist das traditionsethische Den­ ken für die Erweiterung der Generationengerechtigkeitsperspektive. John Rawls zum Beispiel kommt zwar auf die Rolle der Generationen im Rah­ men seiner Theorie zu sprechen, aber er ist dabei einseitig zukunftsorien­ 186 

F. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. S.  330.

3. Ethik

211

tiert. Er behauptet, dass „Angehörige verschiedener Generationen ebenso wie Zeitgenossen Pflichten und Verpflichtungen gegeneinander haben“187, aber alle seine aufgezählten Verpflichtungen – Aufrechterhaltung der Insti­ tutionen, Sparen, Ermöglichung besseren Lebens, Akkumulation188 – sind offensichtlich auf die jeweilige Zukunft ausgerichtet. Welche Verpflichtung retrospektiv bestehen soll, bleibt völlig unklar. Ähnlich einseitig ist auch die auf Verletzbarkeit ausgerichtete Theorie Judith Butlers, die keine di­ achrone Perspektive besitzt.189 Eine Ausnahme bildet der Ansatz von Lutz Wingert. Er bemerkt richtig, dass der Frage, wozu Menschen „gegenüber früheren Generationen verpflichtet sind“190 , kaum Beachtung geschenkt wird. Leider aber engt er, darin anderen Ansätzen vergleichbar, die von den Unterlegenen und Verdrängten der Geschichte her sich dem Problem nä­ hern, die Perspektive auf Opfer ein. Nur diesen gegenüber – früheren Op­ fergenerationen  – wird eine Verpflichtung begründet.191 Er schreibt: „Durch die Erfüllung bestimmter moralischer Verpflichtungen brechen wir […] [die] Fixierung der Opfer auf und tragen zur Restituierung ihres Status als Angehörige der moralischen Gemeinschaft bei.“192 Ohne die gan­ zen Problem, die mit retrospektiven Opfer-Kategorisierungen zusammen­ hängen, hier philosophisch angehen zu wollen, ist für eine Generatione­ nethik offensichtlich, dass keineswegs nachzuvollziehen ist, warum nur die Opfer in Betracht kommen sollen. Was ist mit denjenigen, die sich – nach Ansicht der jeweiligen Gegenwart – gar keiner Vergehen schuldig gemacht haben, aber dennoch dem Vergessen anheimgefallen sind  – wie es ange­ sichts von geschätzten 100 Milliarden menschlichen Individuen, die es bis­ lang auf Erden gegeben hat, wohl für die meisten zutrifft? Mit welchem Recht haben sie keinen (gegebenenfalls im Vergleich zu den Opfern gemin­ derten) Anspruch auf ethische Beachtung? Wingert erweitert immerhin die 187  J.

Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übers. v. H. Vetter. Frankfurt 1979, S.  327. 188  Vgl. dazu J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. S.  324–327. 189  Vgl. J. Butler: „Gefährdetes Leben, Verletzbarkeit und die Ethik der Kohabita­ tion“. S.  693, wo zwar bestehende Grenzen als für die Ethik irrelevant gedacht werden, dass damit aber auch zeitliche Grenzen gemeint sein könnten, kommt Butler nicht ein­ mal als Option in den Sinn. 190  L. Wingert: „Haben wir moralische Verpflichtungen gegenüber früheren Genera­ tionen? Moralischer Universalismus und erinnernde Solidarität“, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Heft 9/1991, S.  78–94, hier S.  78. 191 Vgl. L. Wingert: „Haben wir moralische Verpflichtungen gegenüber früheren Generationen?“. Z. B. S.  82 f. 192  L. Wingert: „Haben wir moralische Verpflichtungen gegenüber früheren Genera­ tionen?“. S.  83.

212

III. Argumentationsfiguren

Perspektive, aber gerade nicht so, wie es vom Konzept der Tradition her eigentlich naheläge, nämlich durch Fokus auf die erbrachte Leistung, son­ dern durch von der Gegenwart her gedachte unterlassene (und jetzt nach­ zuholende) Anerkennung. Das legt damit die philosophische Notwendig­ keit dar, noch einmal grundlegend darauf zu reflektieren, was eigentlich Gründe für eine rückwärtige ethische Verpflichtung sein können. Wingert bringt das Nachholen von ethisch Gebotenem, aber dereinst Unterlasse­ nem ins Spiel. Diese Perspektive ist heute sicher dominant – etwa in post­ kolonialistischen Diskursen –, doch sie ist einseitig. Es lassen sich mindestens drei weiterführende Argumente für solche Verpflichtungen angeben, das des gemeinsamen Ziels, das des Danks für Ermöglichung und das der erweiterten Unrechtskompensation. Edmund Burke hatte darauf hingewiesen, dass es menschliche Unternehmungen – zum Beispiel den bürgerlichen Staat – gibt, die nicht innerhalb einer Gene­ ration zu bewerkstelligen sind, sondern notwendig größere diachrone Er­ streckung besitzen.193 Es ließe sich heutzutage vielleicht auch an utopische­ re Projekte wie die Besiedlung ferner Planeten denken, bei der die Reise zu diesen Zielen in anderen Sonnensystemen mehrere Menschengenerationen dauern wird. Wenn es aber solche gemeinsamen Projekte gibt, dann sind alle Teilnehmer als Mitwirkende zu bedenken, wie es auch bei solchen Pro­ jekten geschieht, die ganz und gar synchron ablaufen. So gesehen hätte eine Gemeinschaft allen ihren Mitwirkenden gegenüber  – den Lebenden wie den Toten – ethische Verpflichtungen. Das zweite Argument schließt daran in gewisser Weise an, denn es weist darauf hin, dass die Späteren immer von der Arbeit der Früheren profitiert haben.194 Auf einer Urkunde aus dem 193 

Vgl. dazu E. Burke: Betrachtungen über die Französische Revolution. S.  195: „Da die Zwecke einer solchen Verbindung nicht in einer Generation zu erreichen sind, so wird daraus eine Gemeinschaft zwischen denen, welche leben, denen, welche gelebt haben, und denen, welche noch leben sollen.“ 194  Dass wird heute im Rahmen der Kritik an früheren Zeiten ob deren ökologischer Fehler übersehen. Wenn etwa Greta Thunberg in ihrer berühmten Rede vor der UN-­ Vollversammlung den dort anwesenden Vertretern früherer Generationen vorwirft, sie hätten ihr und ihrer Generation mittels Umweltvergehen Möglichkeiten geraubt, dann übergeht sie – zwar verständlicherweise, aber doch sachlich falsch – den Umstand, dass die begangenen Umweltverschmutzungen nicht Selbstzweck waren, sondern gesell­ schaftlichen, ökonomischen usw. Projekten mindestens mittelbar dienten. Diese Leis­ tungen hätte Thunberg gegen die Kosten aufrechnen müssen, denn ohne etwa die In­ dustrialisierung und die mit dieser (wenn auch verspätet) Einzug gehalten habende Verbesserung der Gesundheits- und Sozialsysteme würden es etwa viele Menschen gar nicht zu einem langen und (wie auch immer) glücklichen Leben gebracht haben. Eine der Leistungen, die auf dem Rücken der Umweltverschmutzung eben auch erreicht wurden, ist ein Absenken der Kindersterblichkeit. Eine ethisch adäquate Beurteilung

3. Ethik

213

Jahre 1784, die im Turmknauf einer Kirche deponiert worden war, fand sich eine Aussage, die genau diesen Aspekt betonte. Die Verfasser adres­ sierten die ihnen völlig unbekannten späteren Entdecker direkt und forder­ ten: „Blickt nicht stolz auf uns herab, wenn ihr höher steht und weiter seht als wir; erkennt vielmehr […], wie sehr wir mit Mut und Kraft euren Stand­ ort emporgehoben und stützen.“195 Nicht Anklage oder Lustigmachen, sondern Dankbarkeit wird verlangt, weil die Autoren sich als die Vorberei­ ter der Späteren sahen. Sie haben diesen ihr besseres, höheres Sein erst er­ möglicht. Die Späteren profitierten.196 Dieser Gedanke beinhaltet implizit auch ein do ut des-Kalkül, denn jeder Gegenwärtige ist selbst einmal ir­ gendwann der Frühere. Wenn er nicht die Arbeit der Vorhergehenden aner­ kennt – ethisch, affektiv oder sonst wie –, so steht ihm das auch, kann man zumindest analogisieren, später nicht von anderen zu. Schließlich ist drit­ tens die Kompensation von Ungerechtigkeiten ein starkes Argument, auf das sich auch Wingert beruft. Er tut dies, wie gezeigt, einseitig. Das Argu­ ment scheint aber nur gültig, wenn es umfassend verstanden wird. Gilbert Keith Chesterton hat in einer kurzen Bemerkung eine solche umfassende Lesart angedeutet: Tradition läßt sich als erweitertes Stimmrecht fassen. Tradition bedeutet, daß man der am meisten im Schatten stehenden Klasse, unseren Vorfahren, Stimmrecht verleiht. Tradition ist Demokratie für die Toten. Sie ist die Weigerung, der kleinen, anmaßenden Oligarchie derer, die zufällig gerade auf der Erde wandeln, das Feld zu überlassen.197

Hinter dieser These steckt bei Chesterton ein aristokratischer Gestus, der mit der Gegenwart Probleme hat, aber dennoch ist der Gedanke in abstra­ hierter Form philosophisch tragfähig, denn er verweist darauf, dass bei Ab­ wägungen – ethischen zumal – die Vergangenheit praktisch gar nicht oder zu wenig repräsentiert scheint. Rawls’ Schleier des Nichtwissens macht derart in retrospektiver Richtung keinerlei Anleihen, bleibt gegenwartsund zukunftsorientiert. Dabei ist vielleicht keine Relation ethisch so unge­ recht wie die der Späteren zu den Früheren. „Human development is a form of chronological unfairness since late-comers are able to profit by the la­

früherer Zeiten muss, will sie redlich sein, eine solche Abwägung zwischen Ertrag und Kosten leisten, kann nicht einseitig die Erblasten beklagen, den Erbnutzen verschwei­ gen. 195  Zitiert nach W. Röpke: Jenseits von Angebot und Nachfrage. S.  9. 196  Zum Motiv des intergenerationellen Profitierens vgl. auch M. Großheim: Zeit­ horizont. S.  93. 197  G. K. Chesterton: Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen. Übers. v. M. Noll, U. Enderwitz. Frankfurt 2000, S.  99.

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III. Argumentationsfiguren

bours of their precedessors without paying the same price.“198 Wenn das stimmt, so wäre nicht nur offensichtlichen Opfern der Geschichte Gerech­ tigkeit intergenerationell widerfahren zu lassen, sondern allen Früheren, sofern sie die Bedingung der Möglichkeit der Späteren darstellen, ohne selbst von ihren eigenen Leistungen profitiert zu haben. Die drei angedeuteten Argumente sollen zeigen, dass ein ethisch relevan­ tes Verhältnis zur Vergangenheit nicht von vornherein mit dem Hinweis abgelehnt werden kann, die früheren Menschen seien längst tot. Freilich wäre im Einzelnen die Begründung zu schärfen und die Reichweite zu prü­ fen. Aber sicher ist, dass eine Generationenethik, die einseitig prospektiv blickt, unterkomplex ist. Was jedoch bedeutet das für Traditionen? Im Mindesten lässt sich aus den Überlegungen zur intergenerationellen ethi­ schen Verpflichtung ableiten, dass Traditionen, so sie die Arbeit früherer Generationen darstellen, Anspruch haben, beachtet zu werden. Das Able­ gen einer Tradition bedeutet immer auch, einer bestimmten Menschen­ gruppe – die zumeist aus längst Verstorbenen bestehen dürfte – ein für die­ se bedeutsames Anliegen zu negieren. Darauf weist exemplarisch eine Pra­ xis aus dem Kontext des Judentums implizit hin, denn wenn ein ­Rabbi keine fortdauernde Schülerschaft mehr besaß, verlor er den Status Rabbi, woraus sich für seine Schüler und deren Schüler eine ethische Verpflich­ tung ergab.199 Genau eine solche, wenn auch in schwächerer Form, lässt sich analog für Traditionen unterstellen. Diese sind kein leichtfertiges Spielzeug, keine beliebige Option, sondern besitzen, wenn das Dargelegte stimmt, ein – noch in der kritischen Ablehnung anzuerkennendes – ethi­ sches Gewicht.200

198 

Dieses Zitat wird Alexander Herzen zugeschrieben und ist überliefert bei F. Ven­ turi: Roots of Revolution. A History of the Populist and Socialist Movements in Nineteenth Century Russia. Übers. v. F. Haskell. New York 1960, S.  X X. Dort (ebd., S.  X X f.) findet sich auch ein ähnlich einschlägiges Zitat von Nikolai Gawrilowitsch Tscherny­ schewski, von dem gesagt worden sein soll: „History is fond of her grandchildren for it offers them the narrow of the bones, which the previous generation had hurt its hands in breaking.“ 199 Vgl. dazu G. Stemberger: Einleitung in Talmud und Midrasch. S.   14. Auch im Buddhismus scheint es ähnliche Motive zu geben. 200  Zukünftige Überlegungen könnten hier noch weiter in die Tiefe gehen und die in Kap.  III.1 im Anschluss an Gehlen formulierte Frage, was für ein Wesen hat bzw. braucht Tradition, umformulieren und ethisch orientiert fragen, welche Traditionen zulässig sind für ein gutes Leben. Dann würde man womöglich zu einem Katalog rele­ vanter ethischer Eigenschaften der Traditionen selber kommen können.

4. Kulturphilosophie

215

4. Kulturphilosophie Traditionen sind kulturelle Phänomene. Es ist eine ihrer zentralen Eigen­ schaften, nicht als natürlich zu erscheinen. Daher haben sie in kulturphilo­ sophischen Erwägungen lange schon eine herausgehobene Bedeutung ge­ habt.201 Durch die vorstehenden Analysen des Traditionsphänomens sind für diese Diskurse weitere Impulse zu erwarten, von denen hier vier ver­ handelt werden sollen, nämlich die Frage nach der Leistung der Traditionen für Kultur, das Problem ihrer Konstruiertheit, ihre kulturelle Deutung und die Möglichkeit kultureller Zurückhaltung. Welche Leistungen erbringen Traditionen aus der Perspektive von Kul­ tur (worunter schlicht die Sphäre der menschlich-kollektiven Umwelt ver­ standen sein soll)? Drei wichtige derartige Vorteile lassen sich besonders herausheben und sind zuvor auch schon zur Sprache gekommen, nämlich Herstellung von Reichhaltigkeit, Sicherheit und Dauer. Reichhaltigkeit er­ möglichen sie, weil sie den Zugriff der Menschen auf das ihnen Begegnende strukturieren und differenzieren helfen. Wenn Traditionen als hermeneuti­ sche Vorgriffe gedeutet werden dürfen, so erweitern sie gegenüber – fiktiv unterstellten – traditionslosen Zuständen die Möglichkeiten des Begegnen­ lassens, vertiefen diese durch gesteigerte Differenzierung. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass jedes Ende einer Tradition auch immer das Ver­ schwinden vieler Explikate, vieler Lebensweltbestände darstellt.202 Kultu­ ren verdanken Traditionen eine Steigerung der Möglichkeitsfülle. Gleich­ wohl ist nicht zu bestreiten, dass zunehmend entfremdete Traditionen als hinderliche Beschränkungen erlebt werden können, weil sie das kulturelle wie individuelle Streben nach alternativen Explikationen und Vorgriffen stören. Aber das ist ein – immer wieder vorkommender – Sekundärzustand im Vergleich zu der hier in den Blick genommenen Dimension der Reich­ haltigkeitsstiftung. So gesehen sind Revolutionen, verstanden als radikaler Abwurf von Traditionsvorgriffen, eben nicht nur freiheitsermöglichend, sondern auch reichhaltigkeitsverarmend, denn sie legen bewusst ältere Ex­ 201  Interessant ist, dass der wohl einflussreichste deutschsprachige Kulturphilosoph, Ernst Cassirer, sich praktisch kaum explizit zu Traditionen geäußert hat, obwohl das gerade für ein Denken, das an kulturellen symbolischen Formen orientiert ist, zu ver­ muten gewesen wäre. Eine mögliche Erklärung dieses Umstandes könnte darin liegen, dass Cassirer erst am Ende seiner letzten Publikation auf die Rolle der Geschichte als Metareflexionspunkt über den symbolischen Formen zu sprechen gekommen ist (vgl. zu Cassirers später Perspektive auf Geschichte G. Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers. Weilerswist 2003, S.  353 f.). 202  Vgl. zu diesem Gedanken E. Rothacker: Philosophische Anthropologie. S.  83.

216

III. Argumentationsfiguren

plikationsmöglichkeiten beiseite. Freilich bleiben auch sie auf mindestens partielle Kulturübernahmen angewiesen, um nicht in subjektivem Hedo­ nismus trivialer Art zu enden, und sie haben, was bereits thematisiert wur­ de, 203 selbst die Tendenz, alsbald zur Traditionsbildung zu neigen, wie die Französische Revolution mit ihren zahlreichen Feiern, neuem Kalender und dergleichen illustriert. Insofern Traditionen für Kulturen ein Gedächt­ nis ihrer Möglichkeiten darstellen, 204 sind sie Stützen der Pluralität. Nur ein sich streng an umfangsgroßen und dominanten Traditionen – vor allem den monotheistischen Religionen oder nationalstaatlichen Identitäten  – orientierender Zugriff kann behaupten, Kulturen verarmen durch sie. Eher ist die umgekehrte These empirisch plausibel, dass Monokulturen die Folge von gehäufter Traditionsentbettung sind. Sicherheit wiederum stellen Traditionen für Kulturen insofern her, als sie als kulturelle Knautschzone sowohl zwischen Individuen, Gruppen als auch Kulturen einen Zwischenbereich herstellen, in welchem Ausgleich, Auslegung, Verstehen stattfinden kann.205 Arendt hat diesen Gedanken be­ sonders am Beispiel von Erziehungsvorgängen beleuchtet, 206 Traditionen als Schutzraum für Welt und Mensch gedeutet, die sich in ihnen treffen und in ein harmonisches Verhältnis zu gelangen vermögen. So gesehen gestatten Traditionen sicherheitsrelevante Distanzierungen von Absolutismen. Doch noch in einer anderen Hinsicht vermeiden sie Konflikte und Krisen, näm­ lich indem sie individuelle wie kulturelle Riskiertheit mindern. Wenn der Mensch treffend anthropologisch als weltoffen, flexibel, gestaltbar charak­ terisiert ist, dann kann eine solche Formung durch sich selbst immer auch – in Ermangelung etablierter oder gar natürlicher Vorgaben – scheitern. Dies gilt für Kulturen als kollektive Formungen nicht minder. Da Traditionen als immerhin bislang sich als beständig erwiesen habende Bahnungen je­ doch den induktiven Schluss nahelegen, auch mittelfristig sichernd zu wir­ ken, verringern sie das Risiko des radikalen Misslingens individueller wie kultureller Lebensformen. Freilich gilt auch, dass sie auf diese Weise mit­ 203 

Vgl. dazu Fußnote 216 in Kap.  II. Vgl. A. Assmann, J. Assmann: „Das Gestern im Heute“. S.  117, wo von Traditio­ nen als Fundus die Rede ist. 205 Plessners Hinweis auf die Grenzen echter Gemeinschaft und die Sinnhaftigkeit von Rollen, Ritualen und dergleichen betont die Relevanz der „kulturellen Knautsch­ zone“. Vgl. dazu H. Plessner: Die Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (Gesammelte Schriften. Bd.  V ). Frankfurt 1981, z. B. S.  107 ff., an welcher Stelle der „Takt“ als eine solche Schonung zwischenmenschlicher Art zur Sicherung des Möglichkeitsreichtums gedeutet wird. 206  Vgl. zu Arendts Traditionskonzept H. Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Z. B. S.  267, 273 und S.  K luck: Das Traditionsdenken im 20.  Jahrhundert. Kap.  3.7. 204 

4. Kulturphilosophie

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unter – wenn sie dominant und starr werden – Innovationen und Anpas­ sungen erschweren, was jedoch der genuinen Leistung, auf die es aktuell ankommt, keinen Abbruch tut. Schließlich stellen Traditionen Dauer her, indem sie Individuen qua Ein­ bettung – und somit auch mittelbar die Kulturen, in denen die Individuen leben  – mit Vergangenem affektiv, epistemisch, identitätslogisch und so weiter verbinden. Kulturen können andere Formen der Dauer entwickeln, etwa durch die Geschichte oder durch Wissenschaft, aber Traditionen mit ihren vor allem affektiven, jedoch auch praktischen, leiblichen oder norma­ tiven Konsequenzen und Prägungen stellen eine herausragende Möglich­ keit dazu dar. Indem so Dauer – ein ausgeweiteter Zeithorizont – entwi­ ckelt wird mit all den schon verhandelten Folgen, gehen Kulturen mittels Tradition das vielleicht grundlegendste menschliche Problem an, die End­ lichkeit. Nicht nur Individuen, auch Kulturen sind endlich. Durch Traditi­ onen wird ein Weg aufgezeigt, wie es zu einer menschenmöglichen Form von (annäherungsweiser) Unsterblichkeit kommen kann. Heutzutage scheint diese Methode des Umgangs mit humaner Endlichkeit zugunsten technischer Eingriffe und Projekte mehr und mehr an Bedeutung zu verlie­ ren.207 Jedoch sind Traditionen kulturelle Weisen der „Eroberung der Zeit“, die erstaunlich erfolgreich waren. Mittels ihrer konnte – allerdings immer nur für wenige herausgehobene Kulturen oder Personen  – ein Fortleben über Jahrtausende bewerkstelligt werden, ein Tatbestand, der angesichts des immer viel wahrscheinlicheren Vergessens Achtung und Aufmerksam­ keit verdient. Freilich wird Traditionen oft nicht auf diese Weise begegnet, sondern die ihnen wesentliche Herkunft aus menschlichen Tätigkeiten – das heißt zwar aus nicht zielbewussten, aber doch nicht-natürlichen Vorgängen – hat zu einer Abwertung geführt. Mit der Einsicht in die Konstruiertheit von etwas ist häufig ein Macht- und Ansehensverlust, ja, vielleicht sogar ein Gefühl der Trauer verbunden.208 Angesichts des zu Traditionen Dargelegten ließe 207 

Dafür ist die Studie von Knell (vgl. dazu Fußnote 181 in Kap.  II) Beleg, insofern die Eroberung der Zeit dort allein durch medizinisch-technische Fortschritte möglich scheint. 208  Vgl. dazu z. B. H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. S.  4, wo bemerkt wird, dass Geschichte und Natur an Macht verloren haben, seit diese als men­ schengemacht erkannt worden seien. An anderer Stelle betont Plessner zudem, dass noch das vom Menschen selbst Gemachte eine Kraft durch Selbständigkeit gewinnen muss, was aber nur gelingen kann, „wenn die Ergebnisse seines Tuns sich von dieser ihrer Herkunft kraft eigenen inneren Gewichts loslösen, auf Grund dessen der Mensch anerkennen muß, daß nicht er ihr Urheber gewesen ist, sondern sie nur bei Gelegenheit seines Tuns verwirklicht worden sind.“ (Ebd., S.  311). Das künstlich Geschaffene kann

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III. Argumentationsfiguren

sich behaupten, dass nicht minder ein Gefühl des Stolzes angebracht sein dürfte (ohne selbstverständlich Gefühle vorschreiben zu können). Die enormen historischen Kontinuitäten, die lebensweltliche Reichhaltigkeit, die eudaimonistisch sinnvollen Bahnungen – all dies mag Menschenwerk sein, jedoch ist es erstaunlich und der Anerkennung wert, dass so etwas gelingen konnte. Für eine Kulturphilosophie wäre daher zu klären, warum das erkennbare Gemachtsein von etwas – eben beispielsweise Traditionen – diese phänomenalen und sozialen Konsequenzen hat.209 Es steht zu vermu­ ten, dass das Wissen um die Fehlerhaftigkeit und Beschränktheit mensch­ licher Produkte einerseits, das Wissen um die Kontingenz und Beliebigkeit derselben andererseits ursächlich sind. Jedoch kann mittels der an Tradi­ tionen gewonnenen Erkenntnisse eine Differenzierung nützlich sein. Wenn aus dem Wissen um die Eigenkonstitution von Entitäten postmoderne Be­ liebigkeit abgeleitet wird, fehlt es an einer solchen.210 Nur weil Dinge von Menschen hervorgebracht wurden, heißt das nicht, dass sie auch hätten ganz anders sein können. Vielmehr kann man aus dem Umstand, dass es Menschen eben gerade auf diese Weise und nicht anders getan haben, die Klugheitsregel ableiten, sich selbst (jedenfalls vorerst) daran zu orientieren. Derart würden sich Konstruiertheit und traditionskonformes, vielleicht gar traditionsaffines Verhalten sehr wohl zusammendenken lassen. Generell aber muss eine kulturphilosophische Besinnung der Frage nachgehen, was Konstruiertheit eigentlich meint.211 Dafür kann das über Traditionen Herausgestellte hilfreich sein.212 Wenn man sagt, Traditionen seien „bloß“ konstruiert, aus wessen Perspektive erfolgt diese Feststellung? Sie trifft nicht, was schon gesagt worden ist, aus der Sicht des Individuums zu, welches ihnen begegnet. Sie trifft auch nicht zu auf diejenigen, die zu­ erst die entsprechenden Praktiken, Normen, Werte und so weiter erkann­ ten oder realisierten, denn keine Tradition ist monokausal auf das Agieren eines Menschen (oder einer kleinen Gruppe) zurückführbar. Und selbst wenn es gelänge, solche Konstruktionsakte durch historische Forschungen nachzuweisen, so bedingt die diachrone Übermittlung, dass das Konstruk­ nur dann nützlich sein für den Menschen, wenn es Distanz zu seinen zufälligen Entste­ hungsumständen gewinnt. 209  Vielleicht ist das Gemachtsein auch nur in einer Zeit wie der Gegenwart Anlass des Bedauerns, weil die Reichweite dessen, was von Menschen alles hervorgebracht worden ist, maximal scheint. In Zeiten gefühlter Heteronomie, so kann man plausibel vermuten, wurden Menschenwerke positiver betrachtet. 210  Vgl. dazu Hinweise bei Z. Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen. S.  16 f., 38 und passim. 211  Ebenfalls wäre zu fragen, was daraus normativ abzuleiten wäre. 212  V. a. vgl. das in Kapitel  I I.2.4 Behandelte.

4. Kulturphilosophie

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tive phänomenal verlorengeht, weshalb wissenschaftliche Rekonstruktio­ nen der Stiftungsakte ja überhaupt erst notwendig werden. Aus einer abs­ trakteren Perspektive kann die Feststellung gleichwohl zutreffend schei­ nen, allerdings wird man dann nicht umhinkommen, nahezu alle Lebensweltbestände als Konstruktionen zu erfassen, denn jeder dieser  – abgesehen von der damit als Gegenwelt aufgefassten Natur – liegt nur vor, weil es Menschen gibt. Es wäre demnach im Hinblick auf Konstruktion mindestens zu unterscheiden zwischen der Bedeutung, Konstruktion mei­ ne die notwendige Gebundenheit an menschliche Aktivitäten, und derjeni­ gen, wonach Konstruktion die bewusste und intendierte Hervorbringung von etwas sei. Traditionen sind in der Hauptsache ersteres, nur in Ausnah­ mefällen – und meist unter Kaschierung dieses Faktums – das zweite. Wenn Konstruiertheit als Defizit betont wird, dann meist in dem Sinne, dass da­ hinter bestimmte Interessen stecken, die gegebenenfalls machtpolitisch oder ideologisch zu deuten sind, weshalb das Erzeugte kritisch zu nehmen ist. Es hatte sich aber gezeigt, dass für Traditionen die erkennbare Ge­ machtheit in diesem Sinne hinderlich wirkt. Insofern folgt aus dem bloßen Hinweis, etwas sei menschengemacht, kulturphilosophisch für sich rein gar nichts. Zudem bleibt auch zu klären, was genau konstruiert wird. Sicher richtig ist, dass einzelne Traditionen – zum Beispiel das von Niekrenz er­ läuterte Pfadfindertum – gemacht sind, erkennbare Stifter, Stiftungsdaten, Entstehungsumstände und so weiter haben. Aber gilt das Konstruktions-­ Verdikt auch für das grundlegende Faktum, dass es überhaupt Traditionen gibt? Ist die anthropologische Traditionalität selbst ein Kulturprodukt? Dafür spricht nichts. Es ist die vorkulturelle Konstitution des Menschen, die Traditionen erforderlich oder jedenfalls sinnvoll macht. Qua Natalität, wie man mit Arendt sagen könnte, ist der Mensch gezwungen, Kontinuitä­ ten sich individuell wie kollektiv zu erarbeiten.213 Zwar ist jede konkrete Tradition beliebig, insofern sie prinzipiell anders sein könnte – was übri­ gens nicht heißt, dass sie nicht doch für die jeweilige Lage die optimale Lösung darstellte –, aber Traditionalität an sich ist ausweislich der anthro­ pologischen Perspektive Natur. Der Mensch hat dieses natürliche Vermö­ gen nur in einer Weise entwickelt und ausgebaut, die ihm kulturelle Evolu­ tion gestattete. Und noch für die konkreten Einzeltraditionen gilt, dass ihnen aus der Perspektive der Betroffenen sehr wohl objektiver Charakter zukommt 214 – zunächst und zumeist jedenfalls. Ein letzter Hinweis, dass 213 

Vgl. dazu H. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. S.  15 f. Vgl. dazu P. L. Berger, T. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirk­ lichkeit. S.  6 4 f. 214 

220

III. Argumentationsfiguren

durch den Fokus auf die Konstruiertheit weniger gewonnen als verstellt wird, wenn man sich Kultur und Tradition nähert, ergibt sich zudem aus der Schwierigkeit, vielleicht Unmöglichkeit, Traditionen wiederherstellen zu können. Offensichtlich belegt dies, dass das Machen, um erfolgreich zu sein, an andere Bedingungen geknüpft sein muss. Plessner zum Beispiel meint zutreffend, wer heute Geschichte wieder zur Berufung nutzen wolle, müsse eine Art Glaubensrestitution vornehmen.215 Eine Sozialkonstruk­ tion, so kann man den Gedanken umformulieren, bedarf einer bestimmten Haltung der Menschen, die nicht selbst wieder gemacht werden kann oder jedenfalls außerhalb der intendierten Konstruktion steht. Die vorstehen­ den Reflexionen zeigen – und am Phänomen Tradition zumal in aller Deut­ lichkeit  –, dass das häufig anzutreffende Verdikt des „bloß“ Gemachten keineswegs diskreditierend wirken muss im Hinblick auf kulturelle und traditionale Lebensweltbestände. Eine kluge Differenzierung entdeckt, dass damit entweder Triviales oder aber Problematisches bezeichnet ist, zudem jedoch auch vieles in dem „Dazwischen“ unentdeckt bleibt. Gleichwohl ist es evident, dass der Umgang mit und die Beziehung zu Traditionen kulturell als wandlungsfähig angesehen werden muss. Tradi­ tionen unterliegen kulturspezifischen Deutungen im Hinblick auf ihren Wert, ihre Verlässlichkeit, ihre Zulässigkeit, ihre Gewünschtheit. Anhand des Umgangs mit ihnen ließen sich Kulturen erkennen und einteilen. Für die westliche Moderne seit der Aufklärung gilt, dass Traditionen einen ka­ tegorialen Deutungswechsel erfahren. Niklas Luhmann hat zwei solcher Deutungsmuster mittels der Begriffe Risiko und Gefahr herausgestellt.216 Risiko ist, was in irgendeiner Weise als auf Entscheidungen oder Handlun­ gen des Subjekts zurückführbar gedacht wird, Gefahr hingegen, was sub­ jektfernen Umständen  – der Welt, der Natur und so weiter  – geschuldet scheint.217 Nutzt man dieses Begriffspaar als heuristischen Vorgriff, kann man sagen, dass die Moderne dazu übergegangen ist, Traditionen mehr und 215 

Vgl. H. Plessner: Die verspätete Nation. S.  100 f. dazu N. Luhmann: Soziologie des Risikos. Z. B. S.  25–31 sowie als gewisse Parallelen dazu O. Marquard: „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart 2008, S.  117–139, hier S.  128 f., wo zwischen Beliebigkeitszufall und echtem Widerfahr­ nis unterscheiden wird, sowie Heideggers Begriffe der „Geworfenheit“ und „Faktizi­ tät“ (vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit. S.  55 f., 197 f.). Als kurzer Überblick zur der Be­ griffsopposition vgl. A. Hahn: „Risiko und Gefahr“, in: G. v. Graevenitz, O. Marquard (Hrsg.): Kontingenz. München 1998, S.  49–54. 217  Vgl. dazu N. Luhmann: Soziologie des Risikos. S.  2 5 ff. Es kommt dabei übrigens nicht darauf an, dass die Zurechnungen stimmen, sondern nur, dass Gesellschaften sie als glaubwürdig ansehen. 216  Vgl.

4. Kulturphilosophie

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mehr als Risiko, nicht als Gefahr zu verstehen. Das bedeutet, Traditionen sind nicht etwas, in das man eben – quasi schicksalhaft – gerät, für das man keine Verantwortung hat, für das man nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann, sondern sie werden verstanden als Sache, die den Menschen prinzipiell anheimgestellt ist. Daraus resultiert Verantwortlichkeit und ein Imperativ des Machenmüssens, des Stellungnehmens.218 Luhmann selbst bringt Familientraditionen als Beispiel dafür, wie mehr und mehr „Zustän­ de – sei es, daß man sie vorfindet, sei es, daß man sie erreichen will – […] als Folgen von Entscheidungen angesehen, also auf Entscheidungen zugerech­ net [werden].“219 Vieles, was früher im Laufe des Lebens sich mehr oder weniger von selbst ergab, wird jetzt als Entscheidung verlangt – und dies vor einem größeren Hintergrund von Aus­ wahlmöglichkeiten und deshalb mit höheren Informationswerten. 220

Dabei ist ein wesentlicher Effekt neben der zunehmenden Bedrängung des sich fortwährend in risikoreichen Entscheidungssituationen befindenden Subjekts jene sich qua Entscheidungen verstärkende „Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft“221. Wenn immer bewusste Dezisionen des Subjekts erforderlich sind, werden Angebote aus der Vergangenheit zuneh­ mend weniger relevant, Kontinuitäten unwahrscheinlicher. Die Tatsache, dass Traditionen als ein solches Risiko deutbar werden, zeigt, wie sehr sie in der Gegenwart nach dem Muster einer bloßen Option denkbar sind, was freilich im Widerspruch zum phänomenalen Kern steht. Es gilt daher an dieser Beobachtung festzuhalten, dass der Umgang mit Traditionen vor allem eine Frage der kulturspezifischen Annäherung an sie ist. Indem Tradi­ tionen als wählbar gedacht sind, fällt dem Subjekt dieser gesellschaftlichen Deutung entsprechend die  – gegebenenfalls (zu) schwere  – Aufgabe zu, wählen zu müssen. Dies ändert den Umgang mit und den Blick auf Tradi­ tionen erheblich, verstellt zum Beispiel der Besinnung den Weg zu einem 218  Eine Parallele hat diese soziologische, aber auch kulturphilosophische Beobach­ tung in der Anthropologie Gehlens: „Seit Gott der ‚Geschichte‘ Platz machte, und die­ se dem post-histoire mit seiner Bevölkerungsexplosion, muß der Mensch sich selbst alles zurechnen, was in den großen Ereigniswolken aus Politik, Wirtschaft und Aggres­ sion passierte, bei denen jeder beteiligt war und niemand mehr etwas deutlich erkennen konnte. Die Moralforderung wird umgekehrt um so unerbittlicher, die Alten konnten sich noch mit dem Walten der Tyche, der Zufallsgöttin entschuldigen, die Christen der überzeugten Zeit mit dem ‚unerforschlichen Ratschluß Gottes‘, wir haben keine Entlas­ tungen.“ (A. Gehlen: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. Frankfurt, Bonn 1969, S.  142). 219  N. Luhmann: Soziologie des Risikos. S.  5 4. 220  N. Luhmann: Soziologie des Risikos. S.  52. 221  N. Luhmann: Soziologie des Risikos. S.  55.

222

III. Argumentationsfiguren

zentralen Aspekt des phänomenalen Kerns, dass sie nämlich wesentlich un­ verfügbar scheinen. Für eine kulturphilosophische Behandlung von Tradi­ tionen wäre daher immer der sie deutende Kontext mit zu beachten. Was heute als Risiko zugerechnet wird (und damit gegenüber dem Subjekt an­ klagend hervorgeholt werden kann), galt früher als schlichte Gefahr des Lebens, derentwegen weder Gefühle der Schuld noch der Reue angebracht schienen. Wie auch immer sich die Verständnisse der Tradition in der Mo­ derne darstellen und verändert haben mögen, dahinter steht auch ein verän­ derter gesellschaftlicher Umgang mit ihnen. Der herausgestellte phäno­ menale Kern bietet die Möglichkeit, solche hintergründigen Spuren er­ kennbar werden zu lassen und zu reflektieren, inwieweit sie eigentlich adäquat sind. Schon die Einordnung unter die Kategorie Risiko ist nicht unbedingt problemlos, denn die Entscheidung des Subjekts etwa für seine Sprache – wenn diese denn eine Tradition ist – ist immer schon gefallen, was bedeutet, sie hat nie stattgefunden. So gesehen also erscheinen keineswegs alle Traditionen als Risiken, viele bleiben Gefahr – mindestens bis zu einem gewissen biographischen Alter, in dem man aus seiner Familie, vielleicht auch aus seiner Muttersprache auszusteigen vermag. Andere Traditionen bleiben vielleicht immer Gefahr, während wiederum andere immer Risiko sind, wie heute die Wahl des Fußballvereins oder der Nationalität nahe­ legen. Die Unterscheidung zwischen Traditionen als Risiko und als Gefahr ver­ weist auf den kulturellen Deutungsrahmen. Es ließe sich, wie auch schon die Überlegungen zu einer traditionsadäquaten Ethik verdeutlichten, eine andere Weise des kulturellen Sicheinlassens denken. Jedoch steht damit eine kulturphilosophische Frage im Raum, die noch selten gestellt, aber von großer Bedeutsamkeit ist – auch angesichts ökologischer und techni­ scher Entwicklungen der Gegenwart. Es war behauptet worden, Traditio­ nen verlangten einen taktvollen, demütigen Umgang, eine schonende Ex­ plikation, ein hörendes Vernehmen durch die Vernunft. Aber kann es der­ artige kulturelle Zurückhaltung überhaupt geben? Oder anders gefragt: Tun nicht Menschen und Kulturen eigentlich immer alles, was ihnen je­ weils möglich ist, auch wirklich? Für technische Aspekte – etwa die Atom­ bombe früher, digitale Mittel heute – hat sich empirisch gezeigt, dass noch jeder mögliche Einsatz trotz mannigfacher ethischer, ökologischer, recht­ licher und so weiter Vorbehalte zu einem wirklichen Einsatz wurde.222 222 Lübbe meint in diesem Sinne, bisher habe die Menschheit nie auf lebensdienliche Techniken bloß deswegen verzichtet, weil sie auch des Missbrauchs fähig seien (vgl. H.  Lübbe: „Orientierungskrisen provozieren Philosophie“, in: Der Spiegel, Heft  35/­ 1978, S.  154–157, hier S.  156).

4. Kulturphilosophie

223

Wenn in der vorliegenden Arbeit auf alternative Traditionsumgangsweisen das Augenmerk gerichtet wurde, setzt dies voraus, dass diese auch prak­ tisch werden können. Nun haben bereits andere Autoren auf die Scho­ nungsbedürftigkeit von Traditionen hingewiesen  – Burke zum Beispiel, aber auch Marquard 223 –, ohne dass es dem Anschein nach zu Veränderun­ gen gekommen ist. Genau aus diesem Umstand lässt sich die eben aufge­ stellte Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit kultureller Unterlassungen formulieren. Es ist im Rahmen des Diskurses zu Traditionen und der ihr kritisch gegenüber eingestellten Moderne schon gelegentlich der Sache nach auf diesen Topos die Rede gekommen. Er stellt sich deshalb als Prob­ lem heraus, weil die analytische Vernunft Lebensweltbestände zerstört, so dass es geboten scheint, gleichsam eine vorübergehende und begrenzte Un­ terlassung einzufordern. Blaise Pascal hat vielleicht die Unmöglichkeit ei­ nes solchen Verhaltens in einem Aphorismus als Quelle humaner Probleme gedeutet, als er behauptete, das „ganze Unglück der Menschen [kommt] aus einer einzigen Ursache […]: nicht ruhig in einem Zimmer bleiben zu kön­ nen.“224 Kulturhistorisch ist nur ein Fall einer solchen Unterlassung von mehr als bloß lokaler Bedeutung bekannt, die japanische Edo-Zeit bis hin zur Meji-Restauration. Japan hatte nach anfänglichem Kontakt mit europä­ ischen Siedlern und Händlern willentlich den Kontakt zu diesen abgebro­ chen, die mit diesen verbundenen Möglichkeiten im Großen und Ganzen wieder verworfen – insbesondere den Verzicht auf die Herstellung und den Gebrauch von Feuerwaffen, der in Japan längst etabliert war225 – und sich 223 Vgl. implizit E. Burke: Betrachtungen über die Französische Revolution. Z. B. S.  295 oder O. Marquard: „Apologie des Zufälligen“. Z. B. S.  31. 224  B. Pascal: Gedanken. Übers. v. W. Rüttenauer. Wiesbaden 1947, S.  73 (Aph. 178). Eigentlich spricht sich Pascal an dieser Stelle kritisch über Zerstreuung und Unruhe aus, aber sofern hinter der Unruhe zugleich die Unfähigkeit steht, diese zu unterlassen, mag das Zitat heranziehbar sein. Zu diesem Aphorismus vgl. erläuternd auch R. Kons­ ersmann: Die Unruhe der Welt. S.  19 ff. und C. Schwaabe: „Gefangen im Gehäuse der Rastlosigkeit?“. S.  20. 225 Vgl. dazu N. Perrin: Keine Feuerwaffen mehr. Japans Rückkehr zum Schwert (1543–1879). Übers. v. U. Rennert. Frankfurt 1982, S.  14. Perrin führt Japan entspre­ chend als das einzige Beispiel dafür an, dass es einer Kultur gelungen sei, das Rad der (Technik-)Geschichte zurückzudrehen (vgl. ebd., S.  7, 88). Zum Hintergrund der be­ wussten Abschottung und den Gründen für ihren langen Erfolg vgl. auch W. G. Beas­ ley: The Meji Restoration. Stanford 1972, z. B. S.  13, 74 ff. Nicht nur die Abschottung zur Edo-Zeit, sondern auch die durch die amerikanische Expansion im Pazifik erzwungene Meji-Restauration und damit verbundene Öffnung Japans stellt eine historische Auffälligkeit dar. Denn die als traditional charakterisierte japanische Gesellschaft vermochte es in einem bis heute wohl einmaligen Tempo, die jahrhundertlange Abschottung zu kompensieren und sich als ebenbürtiger Partner

224

III. Argumentationsfiguren

auf das bisher Traditionelle, vor allem das Shogunat-System wieder bezo­ gen. In der westlichen Welt sucht ein solches kulturelles Vorgehen seines­ gleichen.226 Aber immerhin ist damit die prinzipielle Möglichkeit kulturel­ ler Unterlassungen belegt.227 Wie konnte das in der Kultur Japans gelingen? Ohne hier fundierte Aussagen vor dem Hintergrund der komplexen Sozi­ alstruktur Japans im 16.  Jahrhundert und danach treffen zu können, steht als plausible Hypothese im Raum, dass kulturelle Unterlassungen gelingen, wenn sie durch eine starke Einbettung vieler (im unwahrscheinlichen Grenzfall: aller) Kulturmitglieder in den entsprechenden normativen Rah­ men gestützt werden. Anders ausgedrückt: Wenn die Unterlassung sich als Teil einer einbettenden Tradition etabliert hat, dann kann sie gelingen. Was bedeutet dies für den verhandelten Zusammenhang? Das Beispiel der EdoZeit kann verdeutlichen, dass Kulturen ihren Umgang mit Möglichkeiten zumindest prinzipiell regulieren können. Wenn Traditionen im Sinne der ethischen und kulturphilosophischen Erwägungen, die angestellt worden sind, auf eine gewisse Zurückhaltung im Hinblick auf einen ganz bestimm­ ten Vernunftgebrauch angewiesen sind, kann darin ein sinnvolles Selbst­ besinnungsprojekt für eine Kultur wie der heutigen westlichen liegen.

5. Politische Philosophie Als ein letztes Bezugsfeld soll der Bereich der politischen Philosophie, also das Gebiet, welches gesellschaftliches Zusammenleben grundlegend reflek­ tiert, in den Blick kommen. Das ist schon deshalb geboten, weil, wie ein­ gangs erläutert, eines der Probleme der Tradition darin liegt, dass sie als eine gerade politisch verdächtige Vokabel gilt. Die vorstehenden Analysen haben nachgewiesen, dass das Phänomen selbst jenseits politischer Inter­ pretation zugänglich und der Besinnung würdig ist. Abgesehen von diesem Umstand aber wird hier noch in drei Hinsichten eine Relevanz des Nach­ denkens über Traditionen für Aspekte politischer Philosophie thematisiert. (oder Gegner) im Weltgeschehen zu etablieren. Vgl. dazu einige Hinweise bei S.  Ichii: „Kein Fortschritt ohne Tradition“, in: L. Reinisch (Hrsg.): Vom Sinn der Tradition. München 1970, S.  107–131, hier S.  126 und R. Lauer: Temporal Man. The Meaning and Uses of Social Time. New York 1981, S.  126 sowie grundlegend W. G. Beasley: The Meji Restoration. 226  Das zeigt sich exemplarisch daran, dass angesichts der Möglichkeiten moderner Atomtechnik Jonas nicht deren Weglassen oder Gebrauchsverweigerung fordert, son­ dern eben verantwortungsvollen Umgang. 227  So auch die Lesart bei N. Perrin: Keine Feuerwaffen mehr. S.  85–88.

5. Politische Philosophie

225

Einerseits wird verhandelt, inwieweit Traditionen politisch schützenswert scheinen, zudem weiterhin verdeutlicht, warum politische und gesell­ schaftliche Projekte so oft vom neuen Menschen sprechen – der zumeist der nicht-traditionale Mensch ist – und schließlich eine Verortung der Tradi­ tionskritik der Gegenwart angestrebt. Alle drei Aspekte sollen darauf hin­ weisen, dass eine politische Philosophie sich auch Gedanken über Traditio­ nen und ihr Verhältnis zu diesen machen sollte. In der Erklärung der Menschenrechte im Rahmen der Französischen Re­ volution hieß es in Paragraph 28: „Eine (gegenwärtige) Generation hat nicht das Recht, zukünftige Generationen ihren Gesetzen zu unterwerfen.“228 Was im Gestus der Sicherung der Freiheit der Zukünftigen gemeint war und heute etwa auch im Rahmen der Überlegungen von Rawls zur Genera­ tionengerechtigkeit in abgeschwächter Form wiederkehrt, 229 überrascht aus traditionsphilosophischer Sicht. Die politische Dimension dieses Paragra­ phen ist sicher einsichtig, aber ist sie auch klug? Ließe sich nicht gerade die umgekehrte politische Forderung stellen, dass die Erfahrenen die Neueren, Späteren vor Fehlern schützen müssen – notfalls per Gesetz? Ganz sicher gilt dies für die Eltern-Kind-Beziehung, denn ein Kind, welchem die Eltern keinerlei Erziehungs- und Verhaltensvorschriften machen, muss letztlich als vernachlässigt gelten, denn ihm wird – wie im zuvor verhandelten Fall des sich selbst überlassenen Geigenbaulehrlings230 – Wesentliches verwehrt, nämlich die Partizipation an Erfahrungen und Wissen früherer Generatio­ nen. Nun sind zukünftige Generationen keine Kinder, ihnen ist ein hohes Maß an politischer Autonomie unbedingt zuzuerkennen. Und doch stellt sich die Frage, ob es nicht ebenso geboten sein kann, die entscheidenden Lehren, die politische Gemeinschaften für sich herausgestellt und erkannt haben, mit Zwangs- und Verpflichtungscharakter zu perpetuieren. Für den Fall Deutschlands kann der Imperativ, dass sich der Holocaust nicht wie­ derholen möge, ein Beispiel dafür sein, und es schiene absurd, im Interesse zukünftiger Freiheiten diesen Imperativ zur bloß fakultativen Beachtung zu stellen. Gleiches gilt vielleicht zuletzt verstärkt auch für die Forderung, die Natur so zu behandeln, dass in der Zukunft noch menschenadäquates Leben auf der Erde möglich sein wird. Sind in diesem Fall Einschränkun­ 228 

Zitiert nach P. Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. S.  39. verlangt, dass den Zukünftigen die „vollständige Verwirklichung gerech­ ter Institutionen und der gleichen Freiheit“ (J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. S.  326) nicht verwehrt werden dürfe, darüber hinaus aber besteht keine Verpflichtung. Explizit ist es nicht vorgeschrieben, den materiellen Lebensstandard zu erhalten (vgl. ebd.). 230  Vgl. dazu in diesem Kap.  Fußnote 134. 229 Rawls

226

III. Argumentationsfiguren

gen nicht nur zulässig, sondern sogar geboten, gerade weil die in den Hand­ lungsimperativen ausgedrückten Einsichten durch sehr hohe Kosten histo­ risch gewonnen worden sind? Wenn diese Frage zu bejahen ist, dann ist es politisch geboten, sich um das Fortbestehen von Traditionen zu bemühen, denn diese sind eine – gleichwohl nicht an Gesetzen orientierte – Form zur Übermittlung derartiger Handlungsimperative und derartiger Einsichten. Doch nicht nur Erfahrungen und Einsichten werden qua Traditionen vermittelt, sondern eben auch, wie schon mehrfach erläutert, welteröffnen­ de Vorgriffe, Kategorien, Begriffe und so weiter. Eine Gesellschaft, die sich um den Erhalt dieser Dimension nicht kümmert, wird mittelfristig verar­ men, so ihr nicht die immer gefährdete und unsichere Neuschaffung von Derartigem gelingt. Traditionen sind Weisen der Pluralismussicherung und insofern, wenn sich Gesellschaften für Pluralität und das Fortbestehen von Alternativen interessieren, ein schützenswertes Gut. Dies gilt insbesondere für demokratische politische Systeme, in denen die Vielfalt  – heute viel­ leicht mehr denn je – durch übermäßige Vereinheitlichungstendenzen be­ droht ist. Traditionseinbettung kann gegen diese zu einem Halt werden, 231 insbesondere dann, wenn es politischer Common ist, dass Traditionsviel­ falt zu achten ist.232 Das intensive Bestreben der UNESCO, eine Vielfalt des kulturellen Erbes zu sichern, 233 verdeutlicht ebenfalls, dass es politisch

231 

Dies hat, freilich gerade mit antidemokratischer Spitze, ausgedrückt F. W. Foers­ ter: Autorität und Freiheit. S.  48: „Es fehlt dem auf sich selbst gestellten Menschen die unzweideutige Direktive aus dem Schatze unvergänglicher Wahrheiten; er tritt daher mit keinen festen Entschlüssen an das Leben heran, sondern diskutiert mit allen seinen Begierden und unterhandelt mit allen Ansprüchen des Milieus. So entsteht eine neue Herrschaft der Außenwelt über das Individuum mitten in der Ära der ‚individuellen Freiheit‘.“ Foerster denkt vom Paradigma religiöser Tradition her, wenn man dies aber in Rechnung stellt, trifft er einen wichtigen Punkt. Ein in eine Tradition eingebettetes Individuum wird für Außensteuerung im Sinne David Riesmans (vgl. D. Reisman, R.  Denney, N. Glazer: Die einsame Masse. Eine Untersuchung des Wandels des amerikanischen Charakters. Übers. v. R. Rausch. Hamburg 1958, S.  38) weniger empfänglich, weshalb totalitäre Zugriffe weniger wahrscheinlich scheinen. 232  Selbstverständlich gibt es dazu auch Problematisches zu bekennen. Eine zu star­ ke Einbettung in Traditionen, gerade wenn es derer viele gibt, ist für eine demokrati­ sche Kompromissbildung hinderlich. Es kommt auf das Maß an. Jedoch soll in den hier angestellten Überlegungen das Positive an Traditionen für den politischen Raum im Vordergrund stehen, um der Einseitigkeit der traditionskritischen Perspektive zu be­ gegnen. 233  Relevant dafür ist das 1972 entstandene „Übereinkommen zum Schutz des Na­ tur- und Kulturerbes der Welt“.

5. Politische Philosophie

227

klug und geboten sein kann, solche Lebensweltbestände zu schützen, die, wie beispielsweise Traditionen, Reichtum und Pluralität sichern.234 Und noch in einer dritten Hinsicht erweisen sich Traditionen als poli­ tisch schützenswert, weshalb sie in der politischen Philosophie mehr Be­ achtung verdienten. Arendt hat als politische Denkerin par excellence da­ rauf hingewiesen, dass die Sphäre der Öffentlichkeit notwendig die unmit­ telbare Gegenwart übersteigen muss. Politische Öffentlichkeit ist diachron: Eine Welt, die Platz für Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Generation errichtet oder nur für die Lebenden geplant sein; sie muß die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen. Ohne dies Übersteigen in eine mögliche irdische Unsterblich­ keit kann es im Ernst weder Politik noch eine gemeinsame Welt noch eine Öffentlich­ keit geben. Denn […] das weltlich Gemeinsame liegt außerhalb unserer selbst, wir tre­ ten in es ein, wenn wir geboren werden, und wir verlassen es, wenn wir sterben. Es übersteigt unsere Lebensspanne in die Vergangenheit wie in die Zukunft; es war da, bevor wir waren, und es wird unseren kurzen Aufenthalt in ihm überdauern. Die Welt haben wir nicht nur gemeinsam mit denen, die mit uns leben, sondern auch mit denen, die vor uns waren und denen, die nach uns kommen werden. Aber nur in dem Maße, in dem sie in der Öffentlichkeit erscheint, kann eine solche Welt das Kommen und Gehen der Generationen in ihr überdauern. 235

Es geht Arendt in ihren komplexen Überlegungen darum, das Politische als ein diachrones Projekt zu betonen, es ist die Polis eine in der Zeit erstreck­ te Gemeinschaft. Andernfalls ist sie gar nicht politisch. Eine nur im Augen­ blick bestehende Verbindung von Menschen kann wohl Interessen ausbil­ den oder Ziele verfolgen – zum Beispiel gemeinsam ein Haus bauen oder ein Lagerfeuer machen –, doch politische Gemeinschaften sind diachron. Und dies muss sich auch in der Öffentlichkeit als dem Marktplatz des Aus­ tausches abbilden. Wenn das zutreffen sollte, so kommt Traditionen als den Entitäten, die Menschen diachron einbinden, eine wichtige politische Funktion zu. Sie etablieren nämlich die Gemeinsamkeit nach hinten wie – potentiell – nach vorne, die für politische Gemeinschaft im Sinne Arendts kennzeichnend ist. Nicht umsonst, so kann daher vermutet werden, insze­ nieren sich politische Verbände als historische Phänomene, indem sie Jah­ 234  Dass Traditionen eben nicht, wie oft unterstellt, zu Dominanz – und vielleicht Totalität – tendieren, zeigt auch F. M. Wimmer: „Exklusiv – egalitär – komplementär. Drei Verhältnisse zwischen Traditionen“, in: C. Bickmann, H.-J. Scheidgen, T. Voßhen­ rich, M. Wirtz (Hrsg.): Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik. Interkulturelle philosophische Perspektiven. Amsterdam, New York 2006, S.  99–111, v. a. S.  109. Dort wird verdeutlicht, dass ein komplementäres Verhältnis zwischen Tra­ ditionen möglich ist, die sich in ihrer Vielheit keineswegs konfligierend gegenüberste­ hen müssen. 235  H. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. S.  5 4.

228

III. Argumentationsfiguren

restage feiern, Denkmäler errichten und so weiter, denn ein Kollektiv ohne historische Tiefe verliert seinen politischen Charakter.236 Insofern bestehen mindestens drei plausible Gründe dafür, Traditionen erstens als Gegen­ stand politischer Sorge zu betrachten und sie zweitens als legitime theore­ tische Entitäten für eine politische Philosophie anzuerkennen. Wenn im Rahmen von politischen Projekten die Etablierung neuer Ord­ nungen erstrebt oder zumindest durchdacht wird, ist eine der naheliegen­ den Forderungen die Beseitigung alter, hinderlicher Traditionen. Jede Re­ volution fußt darauf. Damit geht zumeist ein zweites Motiv einher, welches eine kurze Beachtung verdient, nämlich das des „neuen Menschen“. Rechte wie linke politische Utopien haben um die Etablierung neuer Menschen­ typen gerungen.237 Dahinter steht die Logik, dass wenn der Mensch kons­ truierend verantwortlich ist, er gleichsam den „alten“ Menschen, der noch durch Falsches und Fremdes determiniert scheint, beseitigen muss. Mar­ quard hat auf diesen Zusammenhang hingewiesen: Die Menschen entgehen der Anklage wegen der vorhandenen Übel, indem sie zur Avantgarde werden, denn diese – stets schneller als die Anklage – entkommt dem Tri­ bunal, indem sie es wird: nämlich durch Flucht in das Anklagen […]. 238

Verantwortlichkeit  – und sei sie nur geglaubt  – bedeutet, den Menschen verändern. Solche Projekte sind jedoch immer politische Traditionsabbruchs­ unternehmen. Im Rahmen der Besinnung auf die Sphäre der Gesellschaft ist daher die Rede von neuen Menschen immer mit der Aufforderung ver­ bunden, die damit notwendig verbunden scheinenden Traditionsverluste offen zu thematisieren. Wenn das Herausgestellte stimmt, ist der neue Mensch immer ein Typus, dem die Welt zunächst verarmt, weniger reich­ haltig, eudaimonistisch defizitärer erscheinen muss.239 Dagegen wäre zu 236  Dies scheint ein Motiv zu sein, welches zumindest implizit Tocquevilles kriti­ schen Blick auf Amerika geprägt hat, obwohl er den grundlegend politischen Charakter des dort Beobachteten nie in Zweifel zog. 237  Um nur einige entsprechende Beispiele aus der langen Liste dafür einschlägiger (und problematischer) Texte zu geben sei verwiesen auf S.  Rogge-Börner: Der neue Mensch aus deutschem Artgesetz. Berlin 1935; H. Iswolski: Der neue Mensch im Russland von Heute. Luzern 1936; H. Hagemeyer: Der neue Mensch. Neue Aufgaben des Schrifttums und Mittlertums. Leipzig 1934 und die Beiträge in B. Groys, M. Hagemeis­ ter (Hrsg.): Die neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20.  Jahrhunderts. Frankfurt 2005. 238  O. Marquard: „Universalgeschichte und Multiversalgeschichte“, in: ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart 2008, S.  54–75, hier S.  63. 239  Das ist freilich auch ein Problem, dem sich John Stuart Mills Utilitarismus zu stellen hat. Dieser fordert eine Umerziehung der Menschen (vgl. J. S.  M ill: Utilitarismus. Übers. v. M. Kühn. Hamburg 2006, S.  17, 27, 42, 47, 50, 61), damit diese ihre Gemein­

5. Politische Philosophie

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überlegen – jenseits aller sich ohnehin an bestehenden Gesetzen nicht ori­ entierenden Revolutionen –, ob nicht gerade deshalb ein Recht auf Tradi­ tion politisch eingefordert werden können muss.240 Dies ist insofern unge­ wöhnlich, als in der Gegenwart es zumeist als Sünde oder sträfliche Unter­ lassung gilt, wenn aus der bestehenden Ordnung nicht ausgebrochen, nicht von ihr abgewichen wird. In früheren Zeiten galt gerade umgekehrt der Ortslose als verdächtige Figur, der Nicht-Eingebundene. Freilich bedarf die politische Ordnung gegen Projekte der grundlegenden Veränderung, der Hervorbringung des neuen Menschen, einen Sinn für das Zugrundelie­ gende, die Allmende. Diese gerät, wenn mehr und mehr Menschen entbet­ tete, ortslose Existenzen führen, in Gefahr.241 Genau das gilt auch für Tra­ ditionen, die eine, wie gezeigt, wichtige Funktionen erfüllen, wichtige Leistungen erbringen, aber auf die Arbeit von Menschen und die politische Fürsorge angewiesen sind, weshalb noch im Angesicht omnipräsenter Re­ formbewegungen ihnen theoretisch wie praktisch mehr Augenmerk zu schenken sein dürfte als bisher. Mit dem letzten Gedanken ist schließlich noch ein Aspekt in den Blick gerückt, nämlich die Frage, wie es möglich wurde, dass eine doch offen­ sichtlich sehr relevante Entität in der Gegenwart besonders im politischen Raum so unter Druck geraten konnte. Eine der wesentlich dafür in An­ schlag zu bringenden Entwicklungen dürfte die ideologiekritische im Nachgang der Kritischen Theorie und Foucaults sein. Beide eint die Ein­ schaftsgefühle in seinem Sinne ausbilden und vor allem lernen, sich selbst wie einen Dritten im Rahmen ethischer Überlegungen zu betrachten (vgl. dazu ebd., S.  26). Insbe­ sondere beinhaltet dies, auch die Bevorzugung des Eigenen – Kinder, Familie, Kultur – zu unterlassen (vgl. ebd., S.  26–30). Im Duktus der hier vorgestellten Überlegungen stellt das eine radikale Entbettung dar. Auch Mill geht es letztlich um einen neuen Men­ schen. Allerdings ist es gerade deshalb fraglich, ob das so seiner Ansicht nach zu errei­ chende größte Glück eudaimonistisch nicht für den Einzelnen einen Verlust darstellt, den er nur eben nicht bemerkt, weil er als „alter“ Mensch der neuen Methode nicht mehr teilhaftig wird, als „neuer“ das Alte nicht kennt. 240  Selbstverständlich ist damit erstens nicht gesagt, dass jede Tradition einforderbar ist. Die hier angestellten Untersuchungen sehen ganz vom konkreten Inhalt ab, der sehr wohl bestehenden Gesetzen, Ordnungen, Werthierarchien zuwider gehen kann und daher nicht tolerabel ist. So kann sich ein Sadist nicht deshalb auf die ungestörte Aus­ übung seiner Tätigkeit berufen, weil seit dem Marquis de Sade eine Tradition dieser Art bestehe. Und zweitens ist die Forderung auch keineswegs neu, wie nicht nur die UNESCO-­ Weltkulturerbe-Initiative belegt, sondern ebenso politische Programme zum Schutz von Regionalsprachen und -kulturen. Dennoch verdient das Argument Er­ örterung. 241  Dazu vgl. in Auseinandersetzung mit postmodernen Menschentypen H. Hastedt: Moderne Nomaden. S.  24 f.

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III. Argumentationsfiguren

sicht, dass von früher herkommende Bestände illegitime Herrschaft aus­ üben können. Foucault hatte Kritik als das Bestreben, nicht in einer be­ stimmten Weise regiert zu werden, verstanden, wobei dieses Regieren sich durch Gehorsamspflicht, Heilslenkung und dergleichen auszeichne.242 Ein bestimmter Blick auf Traditionen dürfte sie als genau solche Regierungs­ weise ansehen und folglich kritisch ablehnen. Auch Butler verfolgt ein ähn­ liches Ziel, wenn sie im Anschluss an Adorno und Hegel das anachronisti­ sche Ethos als problematisch ansieht, wenn es sich „weigert […], Vergan­ genheit zu werden“, wobei dann „Gewalt […] der Weg [ist], auf dem es sich der Gegenwart aufzwingt.“243 Das Vergangene wird zur ablehnungswürdi­ gen, gewaltvollen Herrschaftsform über das Heute. Jedoch steckt dahinter eine einseitige Perspektive, denn die in der vorliegenden Arbeit aufgewiese­ nen positiven Aspekte werden gleichsam unter den Tisch gekehrt. Mit Da­ vid Goodhart lässt sich nachvollziehen, dass für solche Kritiken die vor­ gängige sachlich wie motivational Entbettung grundlegend ist.244 Wenn das stimmt, dann ist freilich von den zuvor genannten Theorien Sensibilität für Traditionen nicht zu erwarten. Daher scheint eine politische Philosophie gut beraten, will sie Einseitigkeiten vermeiden, einen spezifischen Sinn für die Traditionsallemende auszubauen, um von dort her die Berechtigung der ideologiekritischen Perspektive erst eigentlich und umfassend zu bewerten.

242 

Vgl. dazu M. Foucault: Was ist Kritik? Übers. v. W. Seitter. Berlin 1992, S.  10 ff. Butler: Kritik der ethischen Gewalt. S.  11. Es wäre hier zurückzufragen, wer oder was die Anachronizität feststellt. 244  Vgl. dazu D. Goodhart: To Road to Somewhere. Z. B. S.  5, 7, 13. Parallelen dazu bietet auch J. Haidt: The Righteous Mind. Z. B. S.  111–115. 243  J.

IV. Schlussbetrachtungen Der Vatermord steht am Beginn der Moderne  – so haben es Freud1, ­Sloterdijk 2 und Aleida Assmann 3 auf je eigene Weise herausgestellt. Ein sol­ cher Vater, der zumindest auf der Bühne und in der Vorstellung hat sterben müssen, ist Tradition. Jedoch ist diese nicht tot, sie ist nur in vor allem theoretischer, gelegentlich auch praktischer Hinsicht einem Vergessen und Verdrängen anheimgefallen. Insofern aber Erfahrung abhängig von ihrer konzeptuellen Explikation ist, besteht die Chance, sie wieder auf die Bühne zu bringen, von der sie in das Vergessen gestoßen wurde. Wenn die Rede kommt auf den modernen Vatermord an den Traditionen, so wäre zu fra­ gen, ob mit diesem nicht an bestimmten, dominanten soziokulturellen For­ mationen – allen voran dem Christentum – ein Exempel statuiert wurde, welches eine falsche Selbstinterpretation des Menschen als traditionsfreiem Wesen zur Folge hatte.4 Verschwinden also wirklich die Traditionen oder hat der moderne Mensch nur verlernt, auf sie zu achten? Die vorgelegte Phänomenanalyse hat gezeigt, dass letzteres zutrifft. Zwar mögen einige Traditionen – solche von maximalem Umfang und großer Reichweite – ver­ schwunden oder degradiert worden sein, doch am Bestehen von Traditio­ nen ist in grundsätzlicher Hinsicht nicht zu zweifeln. Aber zugleich man­ gelt es einem vornehmend analytischen Zugang zu ihnen an einer – auch ethisch gebotenen – Sensibilität. Gerade die von Rosa und Lübbe als Be­ schleunigung gefasste Eigenart der Moderne dürfte daran eine Mitschuld tragen. Der Zeithorizont der Menschen ist so kurz geworden, dass vieles, 1 

Vgl. S.  Freud: „Der Mann Mose und die monotheistischen Religionen“. S.  578–581. Vgl. P. Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. S.  24, an welcher Stelle die Moderne als der Lauf in das voraussetzungslose – man könnte sagen: vaterlose – Dasein gedeutet wird. 3  Vgl. dazu A. Assmann: Zeit und Tradition. S.  67 und dies.: Ist die Zeit aus den Fugen? S.   144. 4 Noch Arendt, die ansonsten für Traditionen sensibel scheint, unterliegt diesem Trugschluss, wenn sie meint, es könne nicht mehr an Traditionen angeschlossen wer­ den, es müsse vielmehr in der offenen Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft ge­ lebt werden (vgl. H. Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. S.  18). 2 

232

IV. Schlussbetrachtungen

was als diachroner Traditionszusammenhang auffallen könnte, übersehen wird. „Dem Historiker“ dagegen, wie Arthur Erwin Imhof schreibt, sind Dutzende Beispiele solcher ‚Elemente von langer Dauer‘ bekannt. Sie umspannen mit Leichtigkeit mehrere Jahrhunderte. Wir sind in unserer schnell-lebigen Welt bloß nicht mehr gewöhnt, darauf zu achten. Uns erscheinen selbst sensationelle Nachrichten vom Tage morgen schon als veraltet. Auch wir haben tiefere Wurzeln, als wir gemeinhin annehmen.5

Eine Verkürzung des Zeithorizontes, die im Zitat vielleicht etwas stereo­ typ, aber doch im Grundsatz nicht irreführend beschrieben ist, lässt Tradi­ tionen größerer Reichweite unentdeckbar werden. Dazu trägt auch der Umstand bei, dass Traditionen die Tendenz haben, Selbstverständlichkeits­ charakter zu erhalten, wodurch sie zunehmend weniger auffallen. 6 Doch es gibt solche „Zeitschichten“, die gleichsam unter- oder hintergründig beste­ hen, nur von Zeit zu Zeit auffällig werden.7 Wenn die Gegenwart besonders schnelllebig, besonders dynamisch ist, dann nimmt sie Wandel und Konti­ nuität anders wahr. Die Begriffe Kontinuität und Wandel [reflektieren] eher kulturelle Konventionen der Betrachtung […] als soziale Zustände, wobei uns langsame Entwicklungsrhythmen als Verkörpe­ rung traditionaler Struktur erscheinen, schnelle Veränderungstempi hingegen als inno­ vatives Moment. […] Die Erkenntnis, daß es kein absolutes Maß für Kontinuität und Wandel gibt, sondern nur ein relatives Empfinden, in dem bereits Interpretationen ent­ halten sind und wesentlich auch gesellschaftliche Zeitstimmungen mitschwingen, macht die Begriffe keineswegs unbrauchbar, sondern verleiht ihnen im Gegenteil eher eine besondere Bedeutung. 8

Zwar darf der Konstruktionsanteil am Dynamikerleben nicht übertrieben werden, doch ist der Hinweis auf die kulturspezifische Deutungshaftigkeit dynamischer Feststellungen sicher richtig. Er lässt für Traditionen erken­ nen, dass diese vielleicht gerade deshalb in der Gegenwart mindestens the­ oretisch ein Randdasein fristen, weil der dominante kulturelle Vorgriff sie kaum noch zu bemerken versteht.9 Ergänzt wird diese Tendenz noch durch 5 

A. E. Imhof: Die Lebenszeit. S.  224. Vgl. dazu z. B. M. Landmann: Der Mensch als Schöpfer und als Geschöpf der Kultur. S.  158. Landmann betont dort, dass so die Traditionen ihren Gesetztheitscharakter verlieren, was freilich, wenn die vorliegende Analyse stimmt, überhaupt eine Grund­ voraussetzung ist. Vermutlich will Landmann daher sagen, dass sie Quasi-Natürlich­ keit bekommen, wodurch sie eben selbst in den Verfall geraten, denn genuine Traditio­ nen dürfen nicht als natürlich erscheinen, wie dargelegt. 7  Vgl. dazu die Überlegungen bei R. Koselleck: „Zeitschichten“, in: ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt 2003, S.  19–26. 8  W. Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie. München 2012, S.  165. 9  Man mag sich fragen, ob es Ausdruck fehlenden historischen Bewusstseins, d. h. 6 

IV. Schlussbetrachtungen

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den Umstand, dass Traditionen häufig erst in ihren defizitären Zuständen überhaupt zum Anlass für Besinnung werden, wenn sie als bereits entfrem­ det erscheinen. Die vorgelegte phänomenologische Analyse kann jedoch helfen, diese Einseitigkeit zu kompensieren, insofern sie einen Weg auf­ weist, Traditionen gleichsam in actu, im Zustand ihres Gelebtwerdens the­ matisch werden zu lassen. Eingangs war von den Problemen der Tradition die Rede, welche vor al­ lem darin bestanden, dass Tradition nicht adäquater Betrachtungsgegen­ stand geworden ist – zum Beispiel wegen wertender Konnotationen oder politischer Inanspruchnahme –, dass sie als irrational verdächtigt wurde, dass sie kaum Fürsprecher hatte, begrifflich unklar und ohne akademisches Gewicht blieb. Die vorliegende Arbeit versuchte, all diese Felsen klug zu umschiffen und neue Wege des Umgangs mit und des Besinnens auf Tradi­ tionen darzulegen. In den abschließenden Betrachtungen soll anhand ein­ zelner Beobachtungen noch einmal das Interesse am Phänomen geweckt werden, um so zu zeigen, dass der Philosophie damit ein relevantes Deside­ rat geliefert ist. Es ist schon eine geradezu paradoxe Auffälligkeit, dass viele Menschen die Mitarbeit an Traditionen deshalb nicht erbringen wollen, weil dies Zeit kostet. Traditionen sind – sicher in je unterschiedlichem Maße – anspruchs­ voll, sie fordern etwas, mindestens Zeit der Zuwendung und Aufmerksam­ keit. Diese sind heutzutage als Ressource so knapp, dass Engagement für Traditionen legitimationsdefizitär erscheint. Aber, und darin liegt eben das Paradoxon, das Erleben, keine Zeit mehr zu haben, ist selbst Folge des Aus­ stiegs, der Entbettung aus Traditionen. Ursache und Wirkung scheinen in der Perspektive vertauscht. Im Anschluss an das Erarbeitete wäre zu ver­ muten, dass die Einbettung vom Zeitmangelerleben zumindest vorüber­ gehend befreien kann  – und zwar gerade durch ihre Forderung, sich ihr zuzuwenden. Das tiefenengagierte Subjekt erweist sich dann als das zeitlich vollere, denn es steht in ganz anderen Zusammenhängen.10 fehlenden Zeithorizontes ist oder mangelndes Zutrauen in die Zukunft und deren Mög­ lichkeiten (was eine Überschätzung oder doch Hochschätzung der Gegenwart bedeu­ tet), wenn sich im heutigen Alltags-, aber auch Feuilleton-Sprachgebrauch häufig die Wendung „größte aller Zeiten“ findet, statt, wie es korrekt heißen müsste, „größte bis­ her“. Auch die inflationäre Verwendung von Wörtern wie „Jahrhundertalent“, „Jahr­ hundertentdeckung“ usw., zwischen deren Anwendung auf verschiedene Objekte oder Menschen oft kaum Wochen vergehen, befeuert diese Frage. Insgesamt, so steht zu ver­ muten, verweist das auf einen unterentwickelten Zeithorizont. 10  Das kann freilich auch Konsequenzen zeitigen, die biographisch herausfordern. Emil Mihai Cioran hat gemeint, der Tod sei „die Belohnung all derer, die es zu nichts gebracht habe, zu nichts bringen wollten… Er gibt ihnen recht, ist ihr Triumph. Für die

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IV. Schlussbetrachtungen

Als das nicht festgestellte Tier bedarf der Mensch zudem der Vergangenheit als Spiegel seiner Möglichkeiten, der guten wie der schlechten. Dafür bieten Traditionen ein reichhaltiges Reservoir, gerade auch in entfremdeter Perspektive. Es ist sicher zutreffend, Traditionen als sowohl prometheisch wie epimetheisch zu kennzeichnen. Sie stiften einerseits orientierende Bah­ nungen, die dem Menschen hilfreiche Mittel und – von anderen Menschen und Zeiten herkommende – Vorausplanungen sind. Andererseits aber kön­ nen sie, wie Epimetheus, fehlleitend sein, unangepasste und unangemesse­ ne Antworten auf neue, veränderte Lagen darstellen. Dieser Aspekt, der in der vorliegenden Studie aufgrund der gewählten Perspektive weniger zur Sprache kam, ist nicht zu leugnen. Doch er legitimiert nicht die theoreti­ sche Ignoranz dem Phänomen gegenüber, sondern fordert dazu auf, dass Epimetheische der Tradition verstehbar zu machen. Eine Möglichkeit dazu stellt die gelieferte Theorie der Entbettung dar, die die Spannung zwischen Subjekt und Situation verstehbar macht und das Unangepasste von Tradi­ tionen daran bindet, dass sie den veränderten umweltlichen und persön­ lichen Situationen, in die sie immer selbst noch eingebettet sind, nicht ge­ recht werden können. Es zeichnet sich daher ein komplexes Interaktions­ muster ab, das die Relation zwischen dem auf Spiegelung angewiesenen Subjekt und der Tradition als ein solches Begegnendes charakterisieren kann. Damit aber wird die gelegentlich kolportierte These vom Menschen als grundsätzlich konservativem Wesen11 einer Differenzierung bedürftig. Auf der Mikroebene einzelner Menschen mag sie stimmen (mit größerer Plausibilität für höhere Lebensalter), schon weniger jedoch auf mesoskopi­ scher Ebene, kaum oder gar nicht hingegen auf makroskopischer, denn ein Blick in die Menschheitsgeschichte weist grundlegende Veränderungen und Wandlungen evident nach. Und doch ziehen sich auf allen Ebenen Tra­ ditionen diachron durch, die daher keineswegs einseitig einem Beharren zuzuordnen sind. Sie stehen jenseits einer solchen Perspektive. anderen hingegen, für jene, die sich abgemüht haben, um Erfolg zu erringen, und denen es gelungen ist – welche Ohrfeige!“ (E. Cioran: Vom Nachteil, geboren zu sein. Übers. v. F. Bondy. Frankfurt 2017, S.  155). Wenn das stimmt, dann ist der ­Traditionsengagierte mit seinem Tod unversöhnter als das desengagierte Subjekt. Allerdings bedenkt ­Cioran  – der selbst als Musterfall des entsituierten Menschen gelten kann (vgl. dazu M. Großheim: Politischer Existentialismus. S.  1 f.)  – nicht, dass dem Engagierten ein ganz anderer Zeithorizont zur Verfügung steht, der die „Ohrfeige“ deshalb abschwächt, vielleicht wirkungslos macht, weil die Arbeit diachron gesehen doch nicht vergebens scheint. 11  Ein Hinweis zu einem in der Konservatismusforschung unterstellten anthropolo­ gischen konservativem Wesenskern liefert J. Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. S.  19.

IV. Schlussbetrachtungen

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Selbstverständlich verweist die Wandelbarkeit von Traditionen darauf, dass sie keine Absolutismen darstellen, sondern relativ zum Gebrauchs­ kontext zu verstehen sind. Das ist Teil des angesprochenen Interaktions­ musters. Wenn jedoch, wie im Laufe der vorstehenden Überlegungen mehrfach angedeutet, aus dem Menschengemachtsein Beliebigkeit gefol­ gert wird, ist das voreilig und unreflektiert. Es gibt nämlich mindestens zwei mögliche Reaktionsweisen. Die erste und zumeist befolgte Reaktion auf die Einsicht in die Gemachtheit läuft postmodern darauf hinaus, Tradi­ tionen als gleichgültige Weltbestände zu nehmen, die womöglich nützlich wirken können, aber letztlich unverbindlich bleiben sollen. Eine vorüber­ gehende Beschäftigung im Interesse nur kurz- oder höchstens mittelfristi­ ger Interessen ist legitim, mehr aber nicht. Am Grundsatz des Spieleri­ schen, des Vorübergehenden, des Besuchsartigen soll sich nichts ändern. Ein solcher Umgang ist, das scheint evident, Menschen möglich, aber er zeitigt Konsequenzen, die man vom Standpunkt der Eudaimonie aus wohl trefflich als Verlust fassen kann. Jedoch muss diese Reaktion nicht als alter­ nativlos angesehen werden und ihr Gegenteil ist auch nicht stumpfer Tradi­ tionalismus im Sinne eines blinden, selbst unangepassten Bewahrenwol­ lens. Denn wenn Traditionen von Menschen hervorgebracht sind, sind sie somit das Unwahrscheinliche, Zufällige, womöglich Einmalige, sie sind Produkte längst vergangener Konfigurationen, Arbeitsleistung längst ver­ storbener Menschen. Statt also mit Gleichgültigkeit zu reagieren, könnte eine auf der Achse der Diachronizität operierende Sensibilität aus diesem Grund gerade ein Verantwortungs- oder Achtungsgefühl nahelegen. Nicht als Option, sondern als Erbe, als Gabe erschienen sie dann.12 Als solche müssen sie keineswegs notwendig erhalten werden, es ist der Autonomie jeder Zeit – darin haben Rawls und auch §  28 der Erklärung der Menschen­ rechte der Französischen Republik recht – geboten, Gaben und Erbe abzu­ 12 Nietzsche zum Beispiel verweist darauf, was eine Mindestachtung wohl implizie­ ren kann, dass man nämlich je selbst Ergebnis der Arbeit Früherer ist, insofern also Nutznießer: „Im Allgemeinen ist jedes Ding so viel werth, als man dafür bezahlt hat. Dies gilt freilich nicht, wenn man das Individuum isolirt nimmt; die großen Fähigkei­ ten des Einzelnen stehn außer allem Verhältniß zu dem, was er selbst dafür gethan, ge­ opfert, gelitten hat. Aber sieht man seine Geschlechts-Vorgeschichte an, so entdeckt man da die Geschichte einer ungeheuren Aufsparung und Capital-Sammlung von Kraft, durch alle Art Verzichtleisten, Ringen, Arbeiten, Sich-Durchsetzen. Weil der große Mensch so viel gekostet hat und nicht, weil er wie ein Wunder als Gabe des Himmels und ‚Zufalls‘ dasteht, wurde er groß. […] Für das, was Einer ist, haben seine Vorfahren die Kosten bezahlt.“ (F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 bis An­fang Januar 1889 (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Bd.  12). Hrsg. v. G. Colli, M. Montinari. Berlin, New York 1999, S.  358).

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IV. Schlussbetrachtungen

lehnen. Das vor allem von der Lebensphilosophie betonte Motiv von der Last der Kultur13 hat einen berechtigten Kern, weshalb Ablehnung und Vergessen14 legitime kulturelle Verhaltensstrategien darstellen. Aber die Ablehnung darf nicht leicht erfolgen, sondern setzt ein Überwinden der Achtungs- und Verantwortungsschranke als Bedingung voraus, auf welche Weise das Vorschnelle, das Achtlose, das Unreflektiere, das Unsensible ver­ mieden werden. Nun ist die Möglichkeit, Traditionen abzuweisen, die in der Moderne oft weniger als bloße Option, sondern als biographischer wie sozialer Impera­ tiv daherkommt, in gewisser Weise eine Neuheit. Zwar hat es, entgegen dem soziologischen Modell starrer traditionaler Kulturen,15 immer Tradi­ tionskritik gegeben, schon deshalb, weil sich der Generationshiat nie ganz kitten ließ, erst in der Moderne durch die Beschleunigung an Relevanz ver­ lor, aber dennoch ist das Verschwinden des Nestors auffällig. Der Nestor der „Ilias“ ist der allseits respektierte Ältere, der außerhalb der umstritte­ nen aktuellen politischen oder sozialen Hierarchie steht, weil er einen un­ bestreitbaren und nicht umkämpften Status als Älterer, Wissender, Erfah­ rener besitzt. Er ist personalisierte Tradition, wie man in gewissem Sinne sagen kann, wobei damit insbesondere die empirische Bestätigtheit und Erfahrungsakkumulation in den Blick kommt. Solche Nestor-Figuren, die es für einzelne Bereiche wohl noch geben mag, sind zur Ausnahme gewor­ den,16 in der Regel wird Alter und Erfahrenheit heute als Veralterung ge­ deutet. Was sind die Bedingungen für diesen Wandel und was bedeutet das im Hinblick auf Traditionen? Es lassen sich drei wesentliche Motive aus­ machen: gesellschaftliche Parzellierung, demographischer Wandel und Be­ 13  Vgl.

dazu alles klassische Bezugstexte F. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. S.  249, 253 und G. Simmel: „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“. S.  223–253. Generell zu diesem Komplex vgl. auch M. Großheim: „‚Schöpferische Zerstörung‘. Über ein Philosophem deutscher Intellektueller im Kulturkrieg“, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, Bd.  9 (2015), S.  57–55. 14  Zum Vergessen als Kulturtechnik vgl. v. a. A. Assmann: Formen des Vergessens. Göttingen 2016, z. B. S.  21–26 und einige vergessenskritische Hinweise bei E. Flaig: „Soziale Bedingungen des kulturellen Vergessens“, in: W. Kemp, G. Mattenklott, M. Wanger, M. Warnke (Hrsg.): Vorträge aus dem Warburg-Haus. Bd.  3 . Berlin 1999, S.  31–100. 15 Vgl. etwa Webers Charakterisierungen der traditionalen Herrschaftsform (vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. S.  17, 157–184, 246 f.). 16  Den Wandel in der Bewertung von Alter und Erfahrung haben viele Autoren be­ merkt und herausgehoben. Vgl. dazu z. B. H. Rosa: Beschleunigung. S.  188 f.; A. Ass­ mann: Ist die Zeit aus den Fugen? S.  146; E. Shils: Tradition. S.  36, 40 oder H. Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. S.  190 (dort in der Differenz zur römischen Hochschätzung des Alters thematisch).

IV. Schlussbetrachtungen

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schleunigung. Ein Nestor, der für alle relevanten gesellschaftlichen Belange in Anschlag zu bringen ist, kann es angesichts der fragmentierten und aus­ differenzierten Moderne nicht geben. Dieser Umstand ist so evident wie trivial, kann daher ausgespart bleiben. Wichtiger sind die verbliebenen zwei. Es ist offensichtlich, dass Nestor in der „Ilias“, einem Epos, in dem viele Menschen im Zeitalter maximaler Lebenskraft dahingehen, eine Aus­ nahme darstellt. Ein alter Krieger ist, jedenfalls gemeinhin und de facto historisch, fast ein Oxymoron. Der demographische Wandel in den west­ lichen Kulturen hat den Alten von einer Ausnahmeerscheinung zu einer zu häufigen Figur werden lassen. Anders formuliert: Das Nestor-Sein setzt Alleinstellungsqualität voraus, die es im Angesicht der Gegenwart nicht mehr gibt. Schließlich kommt aber noch hinzu, dass nicht nur die Häufung des Angebots an Nestoren diesen ihren Status raubt, sondern auch der Um­ stand, dass Erfahrung angesichts der Dynamisierung so schnell veraltet, dass sie keinen Wert mehr zu haben scheint. Erfahrung und Erwartung, wie es Reinhart Koselleck ausgedrückt hat, treten auseinander: „Es wird geradezu eine Regel, daß alle bisherige Erfahrung kein Einwand gegen die Andersartigkeit der Zukunft sein darf. Die Zukunft wird anders sein als die Vergangenheit, und zwar besser.“17 Der Nestor verschwindet, weil er angesichts hoher Veralterungsraten des Wissens scheinbar keine episte­ misch, ethisch oder sonst wie relevanten Einsichten mehr vermitteln kann. Wenn man Traditionen nach diesem Muster deutet, was sagt das über sie aus? Richtig ist an der Analogie, dass auch Traditionen häufig nur partiellen Anspruch erheben können, aber dies ist kein Kritikpunkt, sondern zeich­ net sie aus. Traditionen sind missverstanden, wenn man sie ausschließlich nach dem Modell maximalen Umfangs und maximaler Reichweite denkt. Ein Überangebot an ihnen ist gleichwohl nicht festzustellen, aber eine Zu­ nahme der Wahloptionen, das heißt, es ist dem Einzelnen jeweils tatsäch­ lich mehr möglich als in früheren Zeiten.18 Die Veralterung ihres Gehaltes wiederum scheint zunächst zutreffend zu sein, aber eine gründlichere Re­ 17  Vgl.

R. Koselleck: „‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei histori­ sche Kategorien“, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt 2020, S.  349–375, hier S.  364. Vgl. auch generell dazu ebd., S.  352–364. 18  Allerdings ändert dies den phänomenalen Bestand der Tradition, weil diese nur sehr bedingt mit Wahlfreiheit sich als vereinbar gezeigt hatten. Es sei nur zur Illustra­ tion auf den Begriff der Hyperkultur hingewiesen, der hinter diesem Motiv steht, inso­ fern dieser Kultur als ein für das Individuum bereitstehendes Angebot deutet, auf das dieses nach eigenem Belieben zugreifen kann (vgl. dazu zuletzt A. Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin 2019, S.  30, 36, 38). Für eine Hyperkultur wird der entwickelte Traditionsbegriff schwer integrierbar, denn er setzt Einbettung voraus, die nicht nach dem Markt-Optionen-Modell operiert.

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IV. Schlussbetrachtungen

flexion sieht hier Differenzierungsbedarf. Keineswegs alle Traditionen ver­ alten auf dieselbe Weise, schon die Beispiele des Geigen- oder Orgelbaus19 belegen dies, insofern sie kaum nennenswerte Veränderungen erfahren ha­ ben. Und noch grundsätzlicher wäre zu überlegen, ob nicht im Hinblick auf Probleme, Fragen, Sachlagen von allgemein menschlicher Natur tradi­ tionale Antworten ebenfalls eine viel geringe Alterungsgeschwindigkeit zeigen. Es dürfte mehr als nur historisches Interesse sein, dass noch immer Menschen zur ethischen Selbstbesinnung auf Texte der klassischen Anti­ ke  – immerhin fast 2500 Jahre alt  – zurückgreifen. Liegen in Form be­ stimmter Traditionen somit Gehalte vor, die sich als beschleunigungsresis­ tent erwiesen haben, weil sie ein Gebiet betreffen, welches von der genann­ ten Dynamisierung nur peripher betroffen ist?20 Sollte die Antwort auf diese Frage bejahend ausfallen können, so ist der Nestor nicht in jeder Hin­ sicht verschwunden, er kommt nur nicht mehr zu Wort, selbst da nicht, wo er noch Gehaltvolles beizutragen hätte. Dieses Verstummen der Traditionen hat sowohl eine Parallele als auch eine Ursache im Rückzug der Großeltern aus der Erziehungsarbeit. Es be­ steht eine Korrelation, die nahe an eine Partialkausation rührt, zwischen diesem Verschwinden und dem Verschwinden der Traditionen aus dem kulturellen Blickfeld. Maurice Halbwachs hat darauf hingewiesen, dass die Alten für die Bewahrung der Erinnerung von herausragender sozialer Be­ deutung sind. Man wird die Gründe [für das Erinnerungsinteresse des Greisen; S.K.] besser verste­ hen, […] wenn man ihn in der Gesellschaft sieht, für die er kein aktives Mitglied mehr ist, in der ihm aber doch noch eine Rolle zuerteilt wird. In den primitiven Gesellschaf­ ten sind die alten Leute die Hüter der Tradition, nicht nur, weil sie sie früher als die anderen empfangen haben, sondern zweifellos auch darum, weil sie allein über die nöti­ ge Muße verfügen […]. Auch in unseren Gesellschaften achtet man einen Greis danach, daß er bei seinem langen Leben Erfahrungen besitzt und voller Erinnerungen ist. Wie sollten sich daher die alten Menschen nicht lebhaft für diese Vergangenheit interessie­ ren, diesen gemeinsamen Schatz, zu dessen Verwalter sie bestellt sind, und wie sollten sie sich nicht die Mühe geben, dieses Amt mit vollem Bewußtsein auszuüben, das ihnen das einzige Ansehen verschafft, auf das sie noch Anspruch erheben können?21 19  Vgl. dazu z. B. die orgelbauspezifischen Hinweise bei M. B. Crawford: Die Wiedergewinnung des Wirklichen. S.  305 ff., 350–356. 20  Damit wird keineswegs ausgeschlossen, dass auch dieser Bereich einmal dynami­ siert wird. Es ist zumindest nicht absurd, die These aufzustellen, dass die in naher Zu­ kunft wahrscheinlichen technisch-medizinischen Modifikationen am Menschen diesen so verändern, dass das Allgemein-Menschliche sich ändert. Dann wären die Antworten des Platon, des Aristoteles, der Stoa usw. sicher als dynamisch überwunden zu kenn­ zeichnen. 21  M. Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. S.  151. Der Text

IV. Schlussbetrachtungen

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Halbwachs verfolgt den interessanten Gedanken, dass die Älteren diejeni­ gen sind, die qua Zeit – durch Entbindung aus der Arbeitswelt zum Bei­ spiel – noch die Gelegenheit haben, die Arbeit an der Erinnerung, an den Traditionen, am Tradieren zu leisten. Sie tun dies um so mehr, als sie gesell­ schaftlich gerade in diese Rolle gedrängt werden, es fällt ihnen diese Aufga­ be im Sinne einer arbeitsteiligen Struktur zu. Verstärkt werden dürfte die­ ser Effekt auch noch, weil die Alten biographisch ohnehin eher dazu ten­ dieren, in Erinnerungen zu schwelgen, als Pläne für die Zukunft zu machen. Da in vielen früheren und auch manch heutigen ländlich geprägten Kultu­ ren die Alten auch diejenigen waren bzw. teilweise noch sind, die die Erzie­ hungsarbeit schultern, stellten bzw. stellen sie die Weitergabe des Erinner­ ten, der Traditionen an die Jüngsten sicher.22 Aber in der Moderne fällt das Engagement der Älteren aus mehreren Gründen, die hier nicht weiter un­ tersucht werden können, 23 aus. Schon David Riesman hat auf das Ver­ schwinden der Großeltern aus den Familien hingewiesen, weshalb ihnen eine zunehmend „unbedeutende Rolle bei der Prägung“24 zukomme. Ihr Ausfall bedingt dann freilich fehlende Sensibilität für Traditionen, denn sie sind die gesellschaftlich vorgesehenen Rollenträger dieser Funktion. Damit zeigt sich erneut und aus anderer Perspektive, dass nicht so sehr ein Ver­ schwinden der Traditionen selbst zu konstatieren ist, sondern eine kultu­ erschien erstmals 1925 und es scheint doch fraglich, ob die gesellschaftliche Achtung und Rollenzuweisung an die Älteren noch richtig beschrieben ist für die heutigen Zu­ stände. 22  Vgl. dazu P. Connerton: How Societies Remember. S.  39. 23  Als Hypothesen zu den möglichen Gründen seien erwähnt, dass einerseits das Verschwinden sicher mit erhöhter Mobilität zu tun hat, denn viele Großeltern leben an anderen Orten als die arbeits- oder bildungsmigrantisch beweglichen jüngeren und jüngsten Generationen. Zudem wird Erziehung heute mehr als früher als Projekt ge­ dacht, was exklusivere und gezieltere Zugriffe der Eltern zur Folge hat, die oft einen partiellen Ausschluss der Älteren bedingen. Schließlich aber ist auch zu konstatieren, dass sich Großeltern heute häufig auf andere Rollenverständnisse hin entwerfen oder verstehen, die Erziehungsaktivitäten zugunsten stärker selbstzentrierter Unterneh­ mungen – Reisen, lebenslanges Lernen (Spätstudium) und dergleichen – zurückstellen. Zu diesem letzten Punkt, der sicher nicht zu unterschätzen ist, vgl. U. Oevermann: „Soziologische Überlegungen zum Prozess der Tradierung und zur Funktion von Tra­ ditionen“. S.  32 f.: „Nicht nur werden die älteren Menschen durch die jüngeren immer früher einsetzend infantilisierend entwertet. Es sind vor allem die Älteren selbst, die sich entwerten und verzweifelt versuchen, durch alle möglichen Maßnahmen auf der Lebensstilebene sich dem Modell der Jüngeren anzugleichen und ihr Alter zu verber­ gen: Die midlife-crisis der Älteren setzt spätestens mit 45 Jahren ein, in der Regel frü­ her. Sie stehen damit als die naturwüchsigen Agenten des Traditionsprozesses immer weniger zur Verfügung.“ 24  D. Riesman, R. Denney, N. Glazer: Die einsame Masse. S.  71.

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IV. Schlussbetrachtungen

relle Ignoranz ihnen gegenüber, die komplexe, systemische Ursachen hat, die aber wiederum nicht irreversibel scheinen. Dass eine solche Besinnung auf das kulturelle  – auch das theoretische und philosophische – Verhältnis zu Traditionen sinnvoll, sogar notwendig ist, ergibt sich auch aus dem im Kontext der angestellten ethischen Reflexi­ onen Erwachsenen. Ricœur hat darauf hingewiesen, dass jeder Vergangen­ heitsbezug Dimensionen der Verpflichtung und der Schuld besitzt: Die Pflicht zur Erinnerung ist die Pflicht, einen anderen als man selbst durch Erinne­ rung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. […] Die Idee der Schuld ist von der des Erbes untrennbar. Wir sind jenen gegenüber schuldig, die uns mit einem Teil dessen, was wir sind, vorangegangen sind. Die Pflicht zur Erinnerung beschränkt sich nicht darauf, die materielle […] Spur vergangener Begebenheiten zu bewahren, sondern beinhaltet das Gefühl, diesen anderen gegenüber verpflichtet zu sein, von denen wir im weiteren sagen werden, daß sie zwar nicht mehr sind, aber gewesen sind. 25

Zwar denkt er dabei an konkrete Personen und teilweise materiell konkre­ tisierbare Erinnerungen, aber der grundsätzliche Gedanke, dass aus histo­ rischen Vorleistungen eine zumindest zur Kenntnis (und zum Gefühlt­ werden) zu nehmende Verpflichtung erwächst, lässt sich auf Traditionen übertragen. Diese stehen gleichsam eine Stufe über dem konkreten Zusam­ menhang, an den Ricœur denkt. Wenn der Zeithorizont einer Kultur form­ bar ist – woran weder philosophisch noch empirisch Zweifel bestehen kön­ nen 26 –, dann folgen daraus Verpflichtung und Verantwortung. Wie diese konkret gelebt und umgesetzt werden, lässt sich weder vorhersagen noch anbefehlen. Jedoch sollte nach dem Vorstehenden klar sein, dass Kulturen die Wahl haben. Traditionsumgang ist Sache der reflexiven, theoretischen, aber auch praktischen Zuwendung und Aufmerksamkeit, für die die vor­ liegende Arbeit Rüstzeug in Form von Begriffsklärung und Argumenten liefert. Wenn Ricœur recht hat mit der These, dass „Genealogie […] die Institution ist, die dafür sorgt, daß das Leben menschlich ist“27, dass, so gesehen, Traditionen ein normatives Humanum darstellen, dann ist ein Wegbrechenlassen intergenerationeller Beziehungen, ein Verschwinden­ lassen der Traditionen eine moralische Verfehlung. Sloterdijks schreckliche 25  P.

Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. Übers. v. H.-D. Gondek, H. Jatho, M. Sedlaczek. München 2004, S.  142 f. Ricœur rückt dabei die Opfer primär in den Fo­ kus (ebd., S.  143), dazu ist aber bereits an anderer Stelle hier (vgl. Kap.  III.3 dieser Ar­ beit) kritisch etwas gesagt worden. Auch ist sein Imperativ, man habe etwas zu fühlen, aus phänomenologischer Sicht schlicht unangebracht, denn Gefühle können nicht an­ befohlen, nur erwünscht oder erhofft oder dergleichen sein. 26  Vgl. dazu auch M. Großheim: Zeithorizont. Z. B. S.  9, 71. 27  P. Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. S.  584.

IV. Schlussbetrachtungen

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Kinder sind die Modernen, welche den Traditions- und den Generations­ bruch zum Ziel erklären.28 Auf diese Weise werden sie dem Anspruch, der sich nach Ricœur ergibt, nicht gerecht. Aber sind denn die Bedingungen für Traditionen in der Gegenwart noch gegeben? Diese Frage ist schon falsch gestellt, denn, wie deutlich geworden sein sollte, Traditionen sind keineswegs verschwunden, sondern sie sind nur falsch thematisiert. Wer die Frage also auf die genannte Weise stellt, hat sich den Standpunkt der Traditionskritiker implizit schon zum eigenen werden lassen. Nicht bei den Traditionen selbst liegt das Problem, auch wenn ganz zweifellos auch diese zu einem Hindernis, zum einen Abzuwer­ fenden im Einzelfall immer wieder werden, sondern an der kulturellen An­ näherung an diese. Es gebe eine „Schwindsucht der Kulturüberliefe­ rung“29, meint Röpke, und in einem Lexikonartikel wird angesichts der nicht naturhaften Sicherung der Überlieferungsfähigkeit betont, dass die „Überlieferung der Überlieferungsfähigkeit […] zu einer lebensnotwendi­ gen Aufgabe“30 von Gemeinschaften werde. Ist es also zutreffend, dass die Gegenwart dieser Vorgabe nicht mehr nachkommt? Die große Zahl histo­ rischer Archive, die ausgebreitete Vergangenheitszuwendung und derglei­ chen scheinen etwas anderes anzudeuten. Jedoch ist ein Archiv keine Tra­ dition, denn es bettet ja gerade nicht ein, will – der Idee nach – neutrales Speicherorgan sein. Und zudem ist das im Archiv Abgelegte zugleich häu­ fig auch das Vergessene. Archive können politische wie kulturelle Quietive für aufkommendes Unbehagen angesichts sich aufdrängender Vergangen­ heitsverpflichtungen im Sinne Ricœurs sein. So gesehen ist die Tradition in der Gegenwart nicht gut gelitten, insofern sie entweder als Option verstan­ den, als Rückschritt angesehen oder als potentielles Archivmaterial herab­ gewürdigt wird. Eine prinzipielle Unmöglichkeit ihrer scheint aber nicht erkennbar, sie ist, wenn manche angestellte Überlegung zutrifft, auch nur um den Preis der Menschenfeindlichkeit zu haben. Freilich ist der angedeu­ tete Wandel in der kulturellen Bezugnahme auf sie keine Kleinigkeit. Rosa hat ganz zutreffend festgehalten, dass neue, andere kulturelle Zeitstruktu­ ren – man könnte sagen: neue Zeithorizonte – möglich sind als diejenigen, die jetzt bestehen, aber diese neuen fordern vielleicht die „Preisgabe der tiefsten, ethischen und politischen Überzeugungen der Moderne, die Preis­ 28 

Vgl. P. Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. S.  26. W. Röpke: Jenseits von Angebot und Nachfrage. S.  87. 30  R. Schaeffler: „Tradition I. Allgemein“, in: H. Waldenfels (Hrsg.): Lexikon der Religionen. Phänomene, Geschichte, Ideen. Freiburg, Basel, Wien 1992, S.  665 f., hier S.  666. 29 

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IV. Schlussbetrachtungen

gabe des (dann gescheiterten) ‚Projekts der Moderne‘.“31 Rosa setzt den Preis für Veränderungen sehr hoch an. Das wird durch die vorliegende Un­ tersuchung nicht gestützt. Richtig ist, dass bestimmte Bezugspunkte des Projektes der Moderne – exemplarisch sei auf das Hypergut der Autonomie verwiesen – durch eine Refokussierung des kulturellen Möglichkeitsraums im Angesicht der Traditionen eine Relativierung erfahren würden. In Ma­ ßen jedoch scheint dies möglich und auch sinnvoll. Eine selbst vernünftige Kritik der Vernunft führt nicht in Unvernunft, ebensowenig wie eine Kri­ tik der Moderne in die Vormoderne führen muss. Sicher aber ist Rosa inso­ weit zuzustimmen, als die als möglich angedeutete und in mehrfacher Hin­ sicht auch sachlich gutgeheißene Rekalibrierung kultureller Umgangsweisen ein Projekt ist, welches selbst epochalen Charakter hätte. Im Kleinen aber ist eine Arbeit daran möglich und wird von Menschen auch immer, ohne dass sie es als solche erkennen, geleistet, weil sie ein Interesse daran haben, das zu erhalten, was hier phänomenologisch als Tradition herausge­ stellt wurde. Antigone oder Beckmesser  – diese Alternative greift, wenn man dem Gang der Untersuchung gefolgt ist, zu kurz. Weder – noch, so muss das Verdikt lauten, denn während Antigone göttliche Regeln gegen mensch­ liche Setzungen ausspielt und somit die hermeneutische Adaption von Tra­ ditionen unterlässt,32 missbraucht Beckmesser die Zunfttradition im Inte­ resse individueller amouröser Motive. Immerhin ist beiden überhaupt das Vorkommen dergleichen Entitäten klar, jedoch scheint sich eine kulturell sinnvolle und tragfähige Sensibilität auf einem Niveau zwischen beiden einspielen zu müssen. Von Antigone wäre zu lernen, dass Traditionen Wi­ derstand bieten können gegen – zumal unter beschleunigten Gesellschafts­ bedingungen – vorübergehende und nur augenblicks- oder personengebun­ dene Interessen, von Beckmesser die Einsicht, dass Regelpedanterie weder Selbstzweck sein noch Machtinteressen dienen darf. Ein gelingendes Ver­ hältnis auf individueller und kultureller Ebene zu Traditionen erfordert praktische Klugheit, für deren Ausbildung diese Arbeit Bausteine und Hinweise bereitstellt.

31 

H. Rosa: Beschleunigung. S.  16. übrigens nicht heißt, dass bei der Anpassung dieser an die konkreten Um­ stände nicht doch ihre statt Kreons Perspektive sich als die richtige herausgestellt haben würde. 32  Was

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Namensregister Adorno, Theodor Wiesengrund  19, 24, 47, 110, 230 Alloa, Emmanuel  80 Antigone 5, 6, 7, 12, 18, 242 Antweiler, Christoph  82 Aplin, Lucy M.  14 Aquin, Thomas von  39, 40 Arendt, Hannah  124, 160, 168, 198, 216, 219, 227, 231, 236 Aristoteles 55, 192, 238 Arnold, Thomas  61, 64, 65, 89 Assmann, Aleida  9, 10, 31, 33, 40, 59, 76, 93, 114, 115, 208, 209, 216, 231, 236 Assmann, Jan  9, 26, 114, 216 Augustinus 180, 181, 182, 183 Avital, Eytan  14, 35 Bacon, Francis  176, 182, 187, 188 Baden-Powell, Robert  88 Balthasar, Hans Urs von  135 Barner, Wilfried  29, 43, 75, 146 Bauman, Zygmunt  122, 125, 135, 137, 177, 218 Beasley, William Gerald  223, 224 Beckett, Samuel  24, 110 Beckmesser 2, 3, 4, 5, 6, 7, 12, 140, 242 Bedorf, Thomas  80 Beintker, Michael  34, 124 Bellarmin, Robert  95, 96, 101 Benatar, David  189 Benjamin, Walter  185 Berger, Peter Ludwig  30, 219 Bickmann, Claudia  31, 37 Bloch, Ernst  47 Blumenberg, Hans  63, 114, 159, 181, 182, 184 Boas, Franz  35 Boesch, Christophe  35, 113, 190

Boethius 91 Böhme, Gernot  170 Bollnow, Otto Friedrich  53, 54, 179, 202 Bös, Günther  181, 183 Bourdieu, Pierre  30, 78, 79 Boyer, Pascal  15, 20, 29, 74, 76 Brandt, Reinhard  31, 193 Braque, Rémi  181 Bultmann, Rudolf  202, 204 Bürger, Christa  139, 140, 167, 168 Burke, Edmund  35, 185, 205, 212, 223 Butler, Judith  170, 171, 189, 211, 230 Canetti, Elias  203 Cassirer, Ernst  205, 215 Cavalli-Sforza, Luigi Luca  14, 158 Chesterton, Gilbert Keith  213 Childe, Vere Gordon  23 Chwe, Michael Suk-Young  77, 83 Chwe, Michael S.-Y.  9 Cioran, Emil Mihai  233 Claessens, Dieter  13, 138 Cockburn, Andrew  14 Congar, Yves Marie Joseph  18, 20, 22 Connerton, Paul  78, 239 Corte, Marcel de  8, 188 Crawford, Matthew B.  77, 136, 137, 168, 186, 190, 238 Crusoe, Robinson  86, 88 Cullmann, Oscar  20 Dante Alighieri  180 d’Aprigliano, Lucifero  134 d’Astorg, Bertrand  134 Deneffe, August  20, 30, 34, 109 Dennett, Daniel Clement  113 Derrida, Jacques  171

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Namensregister

Descartes, René  176 Dilthey, Wilhelm  174 Dittmann, Karsten  30, 33, 104, 106, 107 Dreyfus, Hubert  176, 190 Dülmen, Richard von  36 Durkheim, Émile  43, 185 Ebbinghaus, Julius  20 Ebeling, Gerhard  34 Echnaton 26 Eldracher, Martin  170, 171, 203, 204 Elias, Norbert  138 Emge, Carl August  17, 93, 202 Enzensberger, Hans Magnus  7 Erll, Astrid  35, 115 Everett, Daniel  121 Farine, Damien R.  14 Feldman, Marcus William  14, 158 Fest, Joachim  133, 134 Feyerabend, Paul  130, 141 Flaig, Egon  236 Fleck, Ludwik  62, 106, 184 Foerster, Friedrich Wilhelm  22, 136, 168, 202, 226 Foucault, Michel  171, 229, 230 Fragaszy, Dorothy Munkenbeck  13 Freeman, Mark  17 Freud, Sigmund  26, 129, 231 Freyer, Hans  102, 103, 104, 174 Fuchs, Thomas  81 Fukuyama, Francis  168 Gabriel, Karl  32 Gadamer, Hans-Georg  16, 17, 28, 30, 33, 34, 47, 60, 62, 63, 67, 68, 69, 71, 73, 74, 95, 110, 111, 117, 140, 150, 178, 179, 182 Gehlen, Arnold  23, 76, 156, 197, 214, 221 Gerschenson, Michail  7, 99, 138, 140 Giddens, Anthony  23, 24, 26, 27, 31, 89, 97, 202 Glare, Peter Geoffrey William  34 Goethe, Johann Wolfgang  44 Gogarten, Friedrich  204 Goldman, Alvin Ira  22 Goodhart, David  125, 166, 230 Gross, David  24, 39, 108

Großheim, Michael  41, 66, 67, 121, 127, 164, 166, 190, 206, 208, 213, 234, 236, 240 Groys, Boris  228 Grüny, Christian  80 Guénon, René  18, 22, 84, 101, 122, 149 Gugutzer, Robert  30 Gusfield, Joseph R.  16, 22 Habermas, Jürgen  33, 92, 105, 106, 166, 177 Hacke, Jens  28, 31, 33, 38, 205, 234 Hagemeister, Michael  228 Hagemeyer, Hans  228 Hager, Kurt  45 Hahn, Alois  220 Haidt, Jonathan  193, 230 Halbwachs, Maurice  27, 238, 239 Han, Byung-Chul  9, 77, 161, 197 Hartmann, Nicolai  81, 89, 138, 168, 174, 203 Hartung, Gerald  215 Hastedt, Heiner  7, 102, 125, 169, 229 Hayek, Friedrich August von  102, 113, 151, 158, 184, 186, 205 Heelas, Paul  37 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  89, 174, 230 Heidegger, Martin  16, 23, 60, 62, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 92, 110, 111, 124, 171, 182, 183, 220 Heinimann, Felix  5 Herder, Johann Gottfried  27, 35, 42, 117, 176, 177, 187, 189, 190 Herms, Eilert  126 Herzen, Alexander Iwanowitsch  214 Hillard, Gustav  149 Hobsbawm, Eric  17, 18, 19, 38, 89, 94, 100, 102, 115 Honecker, Erich  45 Horkheimer, Max  19, 105 Hubbard, Lafayette Ron  88 Husserl, Edmund  39, 54, 57, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 68, 73, 80 Ichii, Saburo  224 Imhof, Arthur Erwin  143, 184, 206, 232 Iswolski, Helene  228

Namensregister Iwanow, Wjatscheslaw  7, 99, 138, 140, 189 Jablonka, Eva  13, 14, 15, 35, 100, 113, 160 Jaspers, Karl  73, 105, 107, 108, 129, 130, 131, 170, 202 Jaucourt, Louis de  28 Jesus 88 Jonas, Hans  6, 199, 200, 201 Kamper, Dietmar  156 Kämpf, Heike  12 Kant, Immanuel  177, 178, 188, 189, 203 Karolewski, Janina  9, 104 Kaschuba, Wolfgang  232 Kasper, Walter  22, 75 Kendal, Jeremy R.  14 Kendal, Rachel L.  14 Kierkegaard, Sören  73, 105, 131 Klaas, Tobias Nikolaus  80 Klages, Ludwig  41 Kluck, Steffen  1, 8, 10, 18, 28, 35, 39, 49, 52, 57, 73, 74, 82, 89, 101, 115, 151, 153, 158, 176, 184, 191, 216 Kluxen, Wolfgang  36, 91 Knell, Sebastian  109, 161, 217 Koenig, Otto  9 Kolakowski, Leszek  28, 47, 48, 93 Kondylis, Panajotis  42, 46, 142, 178, 197, 198 Konersmann, Ralf  158, 159, 223 Koselleck, Reinhart  35, 102, 232, 237 Krüger, Gerhard  9, 19, 31, 131 Kuhn, Thomas Samuel  62, 106, 184 Kwasman, Theodore  134 Ladenthin, Volker  45, 139, 140 Laland, Kevin Neville  14 Lamb, Marion Julia  13, 14, 35, 100, 113, 160 Landmann, Michael  12, 13, 14, 15, 21, 42, 70, 71, 88, 94, 95, 96, 105, 113, 141, 142, 147, 169, 178, 179, 202, 232 Lash, Scott  37 Lauer, Robert Harald  224 Lazarus, Moritz  174 Lenin 45 Lessing, Gotthold Ephraim  28, 178 Levinas, Emmanuel  171

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Locke, John  41 Lohmar, Dieter  60, 61, 62, 63 Lorenz, Konrad  113 Lübbe, Hermann  27, 33, 90, 105, 106, 120, 123, 131, 196, 200, 206, 207, 222, 231 Luckmann, Thomas  30, 219 Luhmann, Niklas  91, 220, 221 Luther, Martin  30, 40 Lyotard, Jean-François  82, 91, 166, 184 Mácha, Karel  11 Macho, Thomas  9, 25, 87 MacIntyre, Alasdair  113, 132, 140, 151, 172, 191, 192 Mannheim, Karl  111, 208 Mann, Thomas  200 Marcel, Gabriel  202 Marquard, Odo  27, 33, 102, 105, 131, 187, 220, 223, 228 Marrou, Henri-Irénée  180 Mattheis, Marco  104 Medawar, Peter Brian  151 Mendelssohn, Moses  28, 178, 193 Merleau-Ponty, Maurice  80 Miczek, Nadja  9, 104 Mill, John Stuart  228, 229 Mitscherlich, Alexander  98, 122 Morkel, Arnd  186 Morrand-Ferron, Julie  14 Morris, Paul  37 Müller, Klaus E.  97 Müller, Otfried  18 Murray, Gilbert  15, 135 Nahodil, Otakar  11, 12, 21, 26, 29, 36, 46, 83, 120, 202 Nestor 187, 236, 237, 238 Niekrenz, Yvonne  38, 39, 88, 152, 153, 219 Nietzsche, Friedrich  92, 124, 185, 202, 204, 207, 209, 210, 235, 236 Nora, Pierre  89, 90, 115, 123 Nussbaum, Martha  195 Nyíri, János  9, 10 Oakeshott, Michael  92, 151, 186 Oevermann, Ulrich  76, 92, 97, 113, 129, 239

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Namensregister

Ortega y Gasset, José  9, 135, 204 Ottmann, Henning  165, 203 Panikkar, Raimund  9, 93 Paret, Christoph  44 Pascal, Blaise  223 Paulus 19, 20 Perrin, Noel  223, 224 Perry, Susan  13 Peters, Achim  120 Pfafferott, Gerhard  124 Pieper, Josef  8, 18, 19, 22, 24, 29, 31, 37, 40, 46, 84, 91, 92, 144, 145, 187, 202, 203 Platon 8, 52, 85, 238 Plessner, Helmuth  125, 157, 202, 216, 217, 220 Polanyi, Michael  42, 62, 93, 186, 205 Popper, Karl Raimund  42, 47, 103, 104, 185 Proust, Marcel  82 Puchta, Jonas  202 Rappaport, Roy Abraham  9, 104 Ratzinger, Joseph  34 Rawls, John  210, 211, 213, 225, 235 Reckwitz, Andreas  237 Reid, Thomas  35 Reinisch, Leonhard  36 Ricœur, Paul  240, 241 Riesman, David  226, 239 Rizzo, Idle  185 Rogge-Börner, Sophie  228 Röpke, Wilhelm  125, 204, 205, 213, 241 Rosa, Hartmut  30, 31, 86, 87, 90, 102, 103, 107, 108, 118, 119, 120, 122, 131, 143, 160, 162, 165, 168, 178, 187, 191, 192, 195, 196, 197, 209, 210, 231, 236, 241, 242 Rösel, Martin  34 Rothacker, Erich  15, 16, 17, 25, 86, 95, 99, 117, 118, 129, 138, 140, 158, 184, 186, 215 Rousseau, Jean-Jacques  7, 70, 92, 121, 167, 168, 173 Rüstow, Alexander  12, 199 Sachs, Hans  2, 3, 4, 140 Sade, Marquis de  229

Sartre, Jean-Paul  168, 169, 170 Schaeffler, Richard  241 Schäfer, Hilmar  79 Schapp, Wilhelm  82 Scheler, Max  13, 14, 15, 27, 81, 203 Schiller, Friedrich  44 Schmitt, Arbogast  176, 178, 179 Schmitz, Hermann  39, 41, 57, 58, 65, 70, 71, 80, 81, 94, 96, 112, 116, 127, 128, 133, 162, 163, 164, 176, 178, 198, 207 Schnädelbach, Herbert  41 Schollmeyer, Friedrich  105 Scholtz, Gunter  105 Scholz, Oliver R.  60 Schoppelreich, Barbara  30 Schott, Rüdiger  58 Schreiter, Robert J.  30 Schröter, Jens  34 Schwaabe, Christian  197, 223 Searle, John  16, 92 Seel, Martin  165, 203 Seneca 181, 182 Sennett, Richard  77, 136, 190, 194 Sepp, Hans Rainer  60 Sheldon, Benjamin Conrad  14 Shils, Edward  24, 28, 29, 30, 33, 36, 39, 44, 76, 89, 108, 185, 186, 198, 205, 236 Simmel, Georg  35, 236 Sina, Kai  44 Sloterdijk, Peter  42, 99, 102, 122, 126, 131, 133, 134, 137, 142, 164, 168, 205, 225, 231, 240, 241 Smith, Joseph  88 Snell, Bruno  25, 99, 122 Sophokles 5, 110 Specht, Rainer  24, 39 Spoerhase, Carlos  44 Stavenhagen, Kurt  22, 125, 126 Steenblock, Volker  34, 46 Stemberger, Günter  108, 214 Stierle, Karlheinz  179 Stirner, Max  28, 29 Svjatogor, Alexander  161 Taylor, Charles  43, 102, 122, 123, 131, 132, 167, 170, 171, 172, 173, 176, 190, 191, 192, 198, 203, 205 Teichert, Dieter  11

Namensregister Tertullian 181, 183 Theissen, Gerd  9 Thompson, John  36 Thornton, Alex  14 Throsby, David  185 Thunberg, Greta  212 Tocqueville, Alexis de  90, 134, 228 Tomasello, Michael  35, 112, 113, 158, 185 Tönnies, Ferdinand  35, 103, 128 Toynbee, Arnold  12, 101, 106, 147 Tremmel, Jörg  207 Trendelenburg, Wilhelm  79 Trevor-Roper, Hugh  18 Tschernyschewski, Nikolai ­Gawrilowitsch  214 Uexküll, Jakob von  13 Venturi, Franco  214 Waal, Frans de  13, 14 Wagner, Richard  2, 3, 4 Walther, Gerrit  34 Weber, Max  33, 35, 236 Weigel, Sigrid  208

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Weill, Simone  188 Weißmann, Karlheinz  45 Weiss, Peter  45 Welsch, Wolfgang  91, 101 Welzer, Harald  37, 46, 82 Wendebourg, Dorothea  31, 193 Wertsch, James V.  78 Werz-Kovacs, Stephanie von  11 Wiedenhofer, Siegfried  8, 9, 10, 12, 20, 21, 28, 30, 34, 36, 58, 59, 75, 76, 149, 184 Wimmer, Franz Martin  227 Windelband, Wilhelm  150, 185, 186 Wingert, Lutz  211, 212, 213 Winter, Thomas Arne  1, 9, 10, 12, 22, 26, 33, 40, 44, 45, 66, 67, 68, 70, 86, 104, 112 Witschel, Christian  104 Wittgenstein, Ludwig  26, 51, 100, 131, 144, 176 Wulf, Christoph  156 Wunsch, Matthias  35, 174 Ziegler, Leopold  8, 18, 22, 84 Zimmer, Jörg  11, 34 Zotter, Christof  9, 104

Sachregister Arten des Wandels  110 Aufklärung  28, 34, 35, 39, 41, 117, 147, 162, 170, 176, 178, 182, 203 Autonomie  159, 162, 168, 169, 171, 172, 173, 193, 194, 242 Biokosmismus 161 Biologie  35, 151, 152 Demut  202, 203, 204, 205 Endlichkeit  159, 160, 217 Epoché  61, 62, 63 Erste-Person-Perspektive  58, 59, 74 Ethnologie  35, 151, 152 Eurozentrismus 50 Explikationismus 176 Fehldeutung – existentialistische 168, 169 – rousseauistische 167, 168 Gefahr  220, 221, 222 gelingendes Leben  119, 133, 138, 143, 165, 175, 191, 193, 195, 196, 198, 207 Generationenbegriff 209 Generationengerechtigkeit  207, 209, 210, 211, 213, 214 Generationenkonflikt  111, 148, 208, 236 Gerede 67 Geschichte  68, 70, 120 Geschmack 179 Gewohnheit  77, 82, 83, 130 Heteronomie  157, 159, 160, 161, 165, 169, 170, 171, 173, 198 Hyperkultur 237

Ideologiekritik 230 Kanon  139, 140 kulturelle Unterlassungen  222, 223, 224 Last der Kultur  236 Lebenszeit  159, 160, 161, 184 Mafia 133 Meme 113 Mythos 90 neuer Mensch  228 Neugier  180, 181, 182, 183 Neuheit  89, 90 objektiver Geist  138, 168, 174, 175 Personbegriff 174 Phänomenbegriff  53, 54, 57, 58, 75 Phänomenologie  57, 117, 144 Pietät  202, 203 Postmoderne  82, 91, 125, 135, 137, 164, 166, 229, 235 Resonanz  118, 119, 120, 131, 172, 195, 196, 197 Risiko  220, 221, 222 Scholastik  35, 39, 40 Situation  127, 128, 162, 176 Subjekt – desengagiertes  171, 172, 173, 234 – engagiertes  122, 190, 233, 234 Tabu  96, 97 Takt  179, 201, 205, 216

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Sachregister

Tradition – Anthropinon  12, 14, 15, 21, 27, 28, 29, 166, 219 – Auffälligkeit  97, 98, 99, 126 – Auslegbarkeit  84, 108, 111, 147, 148, 150, 204, 242 – Bahnung  117, 118, 122, 123, 149, 157, 234 – Einbettung  123, 125, 126, 129, 131, 132, 133, 134, 160, 175, 189, 195, 224, 226 – Ende/Verschwinden 167, 231 – Entbettung  125, 137, 138, 141, 162, 163, 165, 166, 189, 193, 195, 196, 197, 216, 234 – Entlastungsfunktion 22, 23 – Entschluss/Sprung  71, 72, 73, 105, 107, 108, 129, 164 – Explizitheit  15, 16, 63, 71, 92, 94, 95, 96, 100, 176 – Form  75, 76, 107 – Gedächtnis  114, 115, 116 – Gefühlsrichtung 81, 82 – Gehalt  75, 76, 77, 86 – Heimat 124, 125 – Hintergründigkeit  16, 47, 92, 97 – Homöostase 204, 205 – Implizitheit  64, 93, 94, 96 – individuelle 87, 88 – Irrationalismus  39, 40, 41 – Kern – Peripherie  52, 74, 144, 145, 150 – Konstruierbarkeit  17, 18, 19, 100, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 112, 131, 146, 217, 218, 219 – Kulturleistung  112, 147, 149, 152, 215 – Leiblichkeit 80, 81 – Medium 85 – Narrativ  82, 109, 166 – Normativität  38, 44, 83, 84, 99, 115, 118, 137, 139, 168 – Omnipräsenz 1, 10 – Posttradition 152, 153 – Praxis 77, 83 – Realdefinition  51, 60, 145, 146

– Rechtsanspruch 229 – Reichhaltigkeit  121, 141, 196, 215, 216 – Schutzraum 216 – Steigerungsfunktion 70 – Tiere  12, 13, 14, 15, 156, 160 – Umfang  22, 86, 87, 237 – Umgang  6, 55, 92, 167, 183, 191, 199, 202, 203, 204, 205, 207, 218, 220, 221, 222, 240, 242 – Ungeklärtheit  1, 10, 20 – Unverfügbarkeit  103, 104, 146, 222 – Veränderbarkeit  23, 24, 101, 108, 109, 110, 111, 146, 147 – Verantwortung  199, 200, 201 – Verdeckung  62, 65, 66, 68, 69 – Verkörperung 79, 80 – Vervollkommnung 157 – Wählbarkeit  106, 107, 108, 129, 130, 169, 221, 222 – Wissen  77, 112, 114, 151, 184, 185, 186, 194 – zeitliche Tiefe  89, 90 Verfehlung – autistische 163 – ironistische 163, 164 Vernunft – analytische  148, 162, 176, 177, 199, 223 – entsituierte  123, 189, 190  – hermeneutische 178, 179 – praktische  54, 55, 191, 199 – situierte 189 Vertikalspannung  99, 126, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 157, 179 Wagenheber-Modell 158 Weltoffenheit  13, 23, 117, 157, 216 Weltzeit  159, 160, 161, 184 Zeithorizont  120, 121, 149, 160, 206, 217, 231, 232, 233, 240, 241 Zwangshandlung  25, 26, 87, 128, 130, 150