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German Pages 358 Year 2017
Günter Rinke Das Pophörspiel
Edition Medienwissenschaft
Günter Rinke (Dr. phil.), geb. 1953, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Literaturwissenschaft, Literatur- und Mediendidaktik an der Europa-Universität Flensburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Literatur der Weimarer Republik und den Hörmedien. Er publiziert u.a. zu den Dramatikern Georg Kaiser und Ernst Toller sowie zum Hörspiel und seiner Didaktik.
Günter Rinke
Das Pophörspiel Definition – Funktion – Typologie
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fördergesellschaft der Europa-Universität Flensburg e.V.
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Inhalt
1. Einleitung | 9 2. Pop im Hörspiel oder Pophörspiel? Einige Vorüberlegungen | 15 3. Zur Geschichte des Hörspiels | 23
3.1 Hörspiel-Begriff und Gattungsfrage | 23 3.2 O-Ton-Hörspiel und Feature | 26 3.3 Das Neue Hörspiel | 33 4. Definition des Pophörspiels | 39 5. Elemente des Pophörspiels | 59 6. Sport, Jazz, Beatniks und James Dean | 65
6.1 Alfred Andersch: Der Tod des James Dean | 65 6.2 Beatniks in Momentaufnahmen: Jörg Fauser, Carolyn Cassady | 70 6.3 Biographische Jazzhörspiele I: Bix Beiderbecke | 74 6.4 Biographische Jazzhörspiele II: Pannonica und Rauschtenberger | 77 7. Exkurs zur Typologie | 81 8. Hörspiele im Zeichen von 1968 | 85
8.1 Rolf Dieter Brinkmann | 86 8.2 Wolf Wondratschek | 96 8.3 Ferdinand Kriwet | 105 8.4 Hans-Georg Behr | 111 8.5 Michael Glasmeier | 115 8.6 Alfred Behrens | 117 8.7 Hadayatullah Hübsch | 122 9. Biographische und autobiographische Pophörspiele | 129
9.1 Ich-Geschichten | 129 9.2 Star-Geschichten | 138 9.3 Lifestyle | 155
10. Literarische Pophörspiele | 173
10.1 Hörspiele nach Texten von Heiner Müller | 173 10.2 Weltliteratur, bearbeitet von Andreas Ammer und FM Einheit | 195 10.3 Rekombination von Stoffen und Formen der Literatur | 203 11. Die Musik bestimmt das Hörspiel | 213
11.1 Popmusik schafft Situationen | 213 11.2 Hörspiele über Top Hits | 221 11.3 Das Hörspiel als Dancetrack | 227 12. Akustische Comics | 239
12.1 Die Rock-Legenden des Phil Perfect | 241 12.2 Superhelden | 243 12.3 Westernhelden | 251 12.4 Orpheus transmedial | 253 13. Intermediale Hörspiele mit Bezügen zu Film und Fernsehen | 259
13.1 Familienfernsehen im Hörspiel | 260 13.2 Intermediale Bezüge zum Film | 265 13.3 Ein Edelwestern – neu erzählt | 269 14. Medienkritische Hörspiele | 273
14.1 Schlingensiefs Vexierbilder | 273 14.2 Radio till you drop | 280 14.3 Soundprocessing | 285 14.4 Schnittstelle Mensch. Edgar Lipkis Hörspiele | 288 15. Popkriminalhörspiele | 295
15.1 Alfred Behrens macht Nowhere Man zum Detektiv | 296 15.2 Popdetektiv Viktor Berger und Yevgeny Marlov | 298 15.3 Der letzte Hippie | 303 16. Sprach- und medienexperimentelle Hörspiele | 307
16.1 Sprechaktvarianten und Stilübungen | 308 16.2 Klanglandschaften und Bildoberflächen | 313 17. Schlussbetrachtung und Ausblick | 323
18. Anhang | 327
18.1 Abkürzungen der Sendeanstalten | 327 18.2 Literatur- und Quellenverzeichnis | 328 Hörspielregister | 341 Personenregister | 349
1. Einleitung
Wie schreibt man über das Hörspiel, das gehört und nicht beredet oder beschrieben werden will? Frei nach Goethes Werther: Ich begebe mich ins Hörspiel-Archiv und finde eine Welt. Es ist die Welt der Stimmen, Klänge und Geräusche und ihres Mediums: des Radios. Das Hörspiel als Kunstform, die durch das Radio hervorgebracht wurde und daher als „radiophone“ Kunst bezeichnet wird, hat im Laufe seiner Geschichte immer wieder die Bedingungen des Mediums selbst gespiegelt und reflektiert. Um nur drei Beispiele zu nennen: Angefangen mit Hans Fleschs Zauberei auf dem Sender von 1926, in dem ein Zauberer den Sendebetrieb durcheinander bringt, über Helmut Heißenbüttels Neues Hörspiel Was sollen wir überhaupt senden? (1970), dessen Titel für sich spricht, bis zu Michael Stauffers satirischem Stück Radio till you drop (2006), das einen möglichen interaktiven Kommerzfunk der Zukunft karikiert, ist das Radio selbst Thema von Hörspielen gewesen. Das Hörspiel ist – auch – ein Spiegel der Radiogeschichte. So musste sich mit dem Aufkommen eines neuen wirkungsmächtigen Rundfunkmediums, des Fernsehens, nicht nur das Radio, sondern auch das Hörspiel verändern. Im laut- und sprachspielerischen Neuen Hörspiel und im O-Ton-Hörspiel, das auf dem Prinzip der Collage beruht, fand es neue Ausdrucksmittel, die allerdings kein Massenpublikum begeisterten. Die Strukturen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks machten es möglich, dass solche experimentellen Formen in Nischen des Sendebetriebs entwickelt und gepflegt werden konnten. Sie verdrängten aber nicht das traditionelle, dramaturgischen Gesetzen folgende, auf Plot und Figurenkonstellation beruhende Hörspiel, das vor allem als Kinder- und Kriminalhörspiel weiterhin seine Hörerschaft fand und findet. Seit die Sendeanstalten im Internet Angebote von Download oder Podcast machen und mit Herbert Piechots nützlicher Datenbank HörDat1 die Möglichkeit
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HörDat informiert über Hörspiele aus dem gesamten deutschen Sprachraum, also auch aus Österreich und der Schweiz, und deckt die Geschichte des Hörspiels seit den Anfän-
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schneller Orientierung über aktuelle Titel und Sendeplätze im ganzen deutschsprachigen Raum gegeben ist, sind dem Liebhaber radiophoner Kunst zumindest technisch kaum noch Grenzen gesetzt. Vermutlich ist der Adressatenkreis dadurch größer geworden. Herbert Kapfer, Hörspielpraktiker und -theoretiker, sprach schon 2001 von einem „Image-Wandel“, den der Begriff ‚Hörspiel‘ im Laufe der 1990er Jahre erlebte. Die Kunstform erfahre wieder mehr Beachtung in der Publizistik und sogar eine Automarke warb damals mit der Bezeichnung ‚Hörspiel‘ (vgl. Kapfer 2001). Dies mag aber auch das Wunschdenken eines Hörspielmachers sein, denn es gab auch skeptische Stimmen: „Während das Hörspiel einst konkurrenzlos in einem Programm für alle (und zur privilegierten abendlichen Sendezeit) ausgestrahlt wurde, ist es inzwischen aus den populären Wellen verschwunden. Vor allem die hörerarmen Kulturwellen senden in ihren hörerarmen Abendstunden akustische und literarische Hörspiele. Die Jugendwellen haben inzwischen ihre eigenen (kurzen) Hörspielformate.“ (Schanze 2002, 140)
Die hier erwähnten Hörspielformate für die Jugend sind immerhin ein Lichtblick.2 Zudem fällt auf, dass der ARD-Hörspielpreis mit seinen öffentlichen Aufführungen immer mehr Liebhaber anzieht und zunehmend an Publizität gewinnt. 2005 erschien ein neues Hörspiellexikon, das erste seit Reclams Hörspielführer von 1969.3 Schließlich hat die Deutschdidaktik die Hörerziehung wiederentdeckt und richtet ihre Aufmerksamkeit damit auch auf Hörbuch- und Hörspielproduktionen. Allerdings zeigt gerade das letzte Beispiel, dass begriffliche Klarheit angebracht ist: Es ist vor allem der Boom der Hörbücher, der auch dem Hörspiel zu neuer Beachtung verhilft. Manches wird von den Sendeanstalten als Hörspiel angekündigt, was eigentlich ein Hörbuch ist. Zwar ist die Grenze nicht klar zu ziehen; ebenso wie zwischen Hörspiel und Feature gibt es fließende Übergänge. Jedoch sollte es möglich sein, sich darauf zu verständigen, dass ein Hörbuch vorgelesene Literatur, ein Hörspiel aber eine akustisch-auditive Gattung sui generis ist, die eine Vielzahl künstlerischer Mittel zur Verfügung hat. In der Regel bringt im Hörbuch eine Stimme einen literarischen Text zu Gehör. Hintergrund- oder Zwischenmusik kann die Wirkung der Stimme verstärken oder modifizieren, es können auch mehrere
gen ab. Die ARD-Hörspieldatenbank enthält Beschreibungen von Hörspielen aus Deutschland seit 1945. Umfassend informiert auch die Datenbank Hsp.Dat.to. 2
Allerdings stellte das Programm N-Joy vom NDR sein Hörspielangebot wieder ein. Es
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Reclams Hörspielführer von 1969 wurde von Heinz Schwitzke herausgegeben. Mitarbei-
bleibt WDR EinsLive. ter waren Franz Hiesel, Werner Klippert, Jürgen Tomm.
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Stimmen sein – das Primäre aber bleibt der Text, dessen Strukturen die akustische Darbietung bestimmen. Der Text des Hörspiels ist, wie der Dramentext, für die Inszenierung geschrieben, auch wenn beide oft in Buchform vorliegen und demnach rezipiert werden können, ohne dass man ins Theater geht oder das Radio einschaltet. Für ‚Partituren‘ neuer Hörspiele gilt dies schon nicht mehr. Hier nähern wir uns Verhältnissen wie zwischen der Partitur und der aufgeführten Symphonie. Das Hörspiel ist also ein akustisches Ereignis, das einen Lesetext oder eine Partitur zur Vorlage haben kann. In ihrem Aufsatz „Anmerkungen zum Hörspiel“ mit dem Untertitel „‚hörspiel‘ ist ein doppelter Imperativ“ legen Ernst Jandl und Friederike Mayröcker (1970, 88) für ihren recht weit gefassten Hörspiel-Begriff zwei Kriterien fest: Das Material des Hörspiels bestehe hauptsächlich aus gesprochener Sprache – dadurch unterscheide es sich von Musik – und die Wiedergabe erfolge durch den Rundfunk. Die Gültigkeit des ersten Kriteriums kann noch heute behauptet werden, vielleicht mit der Einschränkung, dass die gesprochene Sprache nicht mehr der Hauptbestandteil eines Hörspiels sein muss, sondern ein Element unter mehreren sein kann. Für akustische Abläufe ohne Sprache, wie sie Friedrich Knilli 1961 vorschwebten, als er forderte, Hörspiel müsse ein „Schallspiel“ sein und auf Worte verzichten können, beginnen sich Bezeichnungen wie AudioArt oder „Soundscape“ einzubürgern. Das zweite Kriterium, das die beiden Autoren anführen, muss ergänzt werden durch das Internet und andere digitale Wiedergabe- und Speichermedien. Mit der Etablierung einer freien Hörspielszene, die ihre Produktionen im Internet oder auf CD veröffentlicht, beginnt sich das Hörspiel von den Rundfunkanstalten, die ihm jahrzehntelang seine Existenz sicherten, zu emanzipieren.4 Dennoch wird es vermutlich weiterhin der Rundfunk mit seinem Programmumfeld, seinem Personal und seinen Produktionsmitteln sein, der die Entwicklung des Hörspiels maßgeblich beeinflusst. Denkt man aber über die technische und ökonomische Seite des Mediums hinaus, ist es präziser, vom Radio zu sprechen, obgleich die alten Apparate mit ihrer eigenen Faszination und in ihrer Vielgestaltigkeit ausgedient haben. Das Wort „magisches Auge“ hat nur noch historische Bedeutung. Die beleuchtete Scheibe mit den Stationsnamen weckt nur noch bei älteren Hörern Erinnerungen. Einer von ihnen, der Hörspielmacher Ror Wolf, sagte in seiner Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden: „Radio war ein nächtliches Ereignis. Es hatte etwas angenehm Gefährliches, etwas zart Unerlaubtes. Und die Dunkelheit war gewissermaßen Voraussetzung für ein konzentriertes und zugleich sinnliches Hörabenteuer. Ich glaube nicht, daß ich mich täusche, wenn ich behaupte,
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Ein Beispiel ist pressplay. Die Anthologie der freien Hörspielszene 1-3, hrsg. v. Claes-
Neuefeind, mairisch Verlag 2006-2012.
12 | D AS P OPHÖRSPIEL das Radiohören war ein besonderer Entzündungszustand; es vermittelte ein schwebendes Gefühl von Unabhängigkeit und von – verzeihen Sie bitte: von Freiheit. […] Diese RadioKnöpfe waren die wunderbarsten Knöpfe der Welt, mit denen man sich mühelos etwas Unerhörtes direkt aus der Luft ins Ohr drehen konnte.“ (Wolf 2000, 272)
Dieses Unerhörte war für den Jugendlichen in der damaligen DDR der Jazz. Etwa 15 Jahre später konnte es das Weiße Album der Beatles sein, das ein Jugendlicher in Westdeutschland nachts mit seinem kleinen Transistorradio, an dem ein einzelner Knopf-Ohrhörer hing, von Radio Luxemburg hörte, verrauscht mit vielen Störungen, aber sonst sendete es niemand. In deutschen Sendern erklang Popmusik jahrelang nur in Programmnischen, war eingehegt in Sendungen wie Die internationale Hitparade. Dies änderte sich allmählich, auch mit dem Entstehen der ServiceWellen, bis Programme, die nicht den ganzen Tag Popmusik sendeten, eher zur Ausnahme wurden. Die Ausbreitung des Pop im Radio hat auch das Hörspiel verändert und neue Formen hervorgebracht, für die sich die Gattungsbezeichnung ‚Pophörspiel‘ zu etablieren beginnt. Die Kunstform Hörspiel wurde dadurch bereichert, ohne dass die traditionellen und neueren experimentellen Formen dadurch verdrängt worden wären. Von der Hörspielforschung wurde bislang wenig beachtet, dass das Hörspiel längst ein Teil der Popkultur geworden ist. Andererseits hat die rasch anwachsende Forschung zur Popkultur sich bislang nicht um Popeinflüsse auf das Hörspiel gekümmert. In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch gemacht, das Pophörspiel als Gattung der Kunstform Hörspiel zu definieren und gegenüber anderen Hörspielgattungen abzugrenzen. Zur Definition wird ein Katalog von Merkmalen vorgeschlagen, die teils aus der Forschungsliteratur zur Popliteratur abgeleitet, teils medienspezifisch sind und sich vor allem auf die für Pophörspiele charakteristische Musik beziehen. Dabei kann es nicht primär um klassifikatorische Strenge gehen, denn wie bei jeder Gattungsbestimmung, die ohnehin kein Selbstzweck sein sollte, wird es Mischformen und Übergänge gehen. Gedacht ist vielmehr an ein Beschreibungsraster, ähnlich wie es Werner Klippert in seinem schon klassischen Büchlein „Elemente des Hörspiels“ entwickelt hat. Im Unterschied zu Klipperts nur spärlich mit Beispielen angereichertem Entwurf soll es im weiteren Verlauf dieser Studie darum gehen, das mittlerweile umfangreiche Korpus an Pophörspielen typologisch geordnet zu beschreiben und zu analysieren, gegebenenfalls auch zu interpretieren. Als Grundlage dient zum einen die einzige bislang vorliegende Typologie des Hörspiels von Armin Paul Frank, die wiederum von der Dramen- und Erzähltheorie abgeleitet ist, zum anderen werden formbestimmende Merkmale herangezogen, die zwar nicht ausschließlich, aber überwiegend aus der Popliteratur abgeleitet sind. Ist der Stoff der Hörspiele (auto-)biographisch organisiert, was auch für viele traditionelle Hörspiele zutrifft, ergibt sich der Zusammenhang mit der Popkultur aus dem Thema Starkult.
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In zwei Fällen wird sich eine Abweichung von der formalen Typologisierung als zweckmäßig erweisen: In einem Kapitel werden Hörspiele zum Thema Jazz vorgestellt, in einem anderen Hörspiele, die um 1968 entstanden sind und den politischen und kulturellen Umbruch jener Jahre thematisieren. In diesen Fällen handelt es sich um thematische bzw. historische Ordnungskriterien. Es ist zu erwarten, dass es immer wieder Stücke geben wird, die sich nicht eindeutig dem einen oder anderen Typus zuordnen lassen. Die Popkultur zeichnet sich durch rasch wechselnde Moden, Strömungen, Richtungen, kurz, durch eine Tendenz zur Unübersichtlichkeit aus. Diese Tendenz prägt auch die jüngere Hörspiel-Entwicklung und erschwert eine typologische Ordnung der Stücke. Dennoch wird dieser der Vorzug vor einer chronologischen Anordnung nach Entstehungsdaten gegeben, wie sie in Standardwerken zur Hörspiel-Geschichte zu finden ist. In erster Linie soll eine Gattung in ihren vielfältigen Erscheinungsformen dargestellt, nicht Geschichte (fort-)geschrieben werden. Dabei versteht es sich sich von selbst, dass es angesichts der Fülle von Produktionen vermessen wäre, Vollständigkeit anzustreben. Exemplarität darf aber erwartet werden.
2. Pop im Hörspiel oder Pophörspiel? Einige Vorüberlegungen
Der Begriff Pophörspiel ist noch keine fest umrissene und klar definierte Bezeichnung. Die Hörspiel-online-Datenbank HörDat ordnet im Jahr 2017 107 Hörspiele als Pophörspiele ein, jedoch sind die Kriterien unklar, und die Liste wird nur zögerlich ergänzt. Vereinzelt wurden Versuche einer wissenschaftlichen Gattungsbestimmung gemacht: Herbert Kapfer hat bereits 1997 einen Essay mit dem Titel „Harte Schnitte, ungezähmte Worte, Stimmen hört jeder“ über Pop im Hörspiel veröffentlicht. Martin Maurach (2003) hat versucht, die Popästhetik im Hörspiel „mit Hilfe von gestalttheoretischen Regeln des Hörens“ zu beschreiben.1 Und Götz Schmedes (2002) gibt eine Definition des Begriffs im Rahmen seiner Beschäftigung mit den Hörspielen von Alfred Behrens. Auf diese Versuche wird zurückzukommen sein. Es gibt die CD-Edition Lauschangriff. 5 Pop-Hörspiele des WDR von 2005. In der FAZ wurde sie begeistert rezensiert (am 19.10.2005), jedoch stellte der Rezensent Uwe Ebbinghaus die Frage, was mit der Bezeichnung eigentlich ausgedrückt werden solle. „Denn was alle Hörspiele der Sammelbox auszeichnet, ist gerade keine Affirmation des Lebensweltlich-Banalen, wie es die Begriffsverengung zuletzt nahelegte, sondern eine intelligent-witzige Unterminierung der Spaßgesellschaft, ein Spiegel der Gesellschaft, der so geschickt zerschlagen wurde, daß man mit überlegener Distanz seine Umwelt gerade in den kubistischen Splittern zu durchschauen beginnt.“ Sind es die „zwanghaft englischen Stücktitel“ sowie die fast durchweg eingesetzten elektronischen Beats, die die Bezeichnung recht-fertigen? so fragt der Rezensent. Ein anderer Rezensent, Wilhelm Trapp, versucht eine Antwort zu geben,
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Diesen Ansatz hatte Maurach bereits in seiner Dissertation „Das experimentelle Hörspiel“, Wiesbaden (DUV) 1995, erprobt, und zwar in Anwendung auf einige Neue Hörspiele aus den Jahren 1969 bis 1988. Das 7. Kapitel thematisiert die „Verarbeitung populärer kultureller Versatzstücke“ (S. 174-209).
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ohne das Wort „Pophörspiel“ zu verwenden: „Pop, das heißt hier: spritzig geschnittene Samples aus O-Tönen, Stimmen, Spielerei und reichlich Musik. Die Storys, so vorhanden, sind oft halsbrecherischer Schund um Terror und Verbrechen – und daher ehrlich, denn warum sollte man dem Real-Trash des Heute noch dramatische Kunst entgegensetzen?“ (Trapp 2005) Angesichts existierender uneinheitlicher Bezeichnungen und (Um-)Schreibungen wie „Pop-Hörspiel“, „Hörspielpop“, „Pop im Hörspiel“ (Kapfer, Krug) erscheint es als sinnvoll, analog zum inzwischen gebräuchlichen Begriff ‚Popliteratur‘ als einheitliche und umfassende Gattungsbezeichnung den Begriff ‚Pophörspiel‘ einzuführen. Er wird bereits in den folgenden Vorüberlegungen gebraucht, aber erst in einem späteren Kapitel definiert. Keine Frage: Der Versuch einer Definition des Pophörspiels kann nur gelingen, wenn aktuelle Pop-Diskurse einbezogen werden. Die Gefahr, sich im Labyrinth der Positionen und Kontroversen zu verlieren, ist dabei allerdings groß. Damit der Umweg zu der angestrebten Definition und Typologie des Pophörspiels nicht zu lang wird, ist es geraten, bei der Begriffsbestimmung von Pop eine pragmatische Lösung anzustreben. Mit welchen Kriterien lässt sich eigentlich die Popkultur definieren? Und ist es nötig, sie gegen die Hochkultur in Stellung zu bringen – oder umgekehrt, wie es die Wochenzeitung DIE ZEIT mit der Parole „Hoch die Hochkultur!“ tat (vgl. Jessen 2011)? Vielleicht hat doch Leslie Fiedler recht, der mit seiner schon sprichwörtlich gewordenen Forderung: „Cross the border, close the gap!“ (Fiedler 1994) die Grenze durchlässig machen oder sogar schließen wollte. Obwohl der Satz den Imperativ enthält, also als Aufforderung formuliert ist, könnte er genauso gut eine Zustandsbeschreibung darstellen. In seinem ZEIT-Artikel über die Hochkultur macht Jens Jessen darauf aufmerksam, dass selbst die Popkultur von Mustern der Hochkultur lebe: „Das Spiel mit Traditionen und Zitaten, das längst die populäre Musik erreicht hat, und erst recht das intellektuelle Niveau der Popkritik, verdankt sich der Einwanderung und Übernahme der Gedankenfiguren, die sich an der Hochkultur erprobt haben.“ (Ebd.) Zugestanden wird also, dass die Grenze durchlässig ist, aber popkulturelle Erzeugnisse und die Diskurse darüber erscheinen hier als abgeleitet von der Hochkultur und damit gewissermaßen zweitrangig. Den Rezipienten, vor allem wenn er ein „Fan“ ist, der sich um die Argumente und Urteile von Kritikern nicht kümmert, interessieren solche Spitzfindigkeiten wahrscheinlich ebenso wenig wie die Unterscheidung von Pop Art und popular culture, wie sie die Theorie des Pop bereits in den 1950er Jahren diskutierte (vgl. Hecken 2009, 9ff.). Die populäre Massenkultur liefert mit ihrem Industriedesign demnach Muster für den Prozess künstlerischer Um- und letztlich Aufwertung, der zur Pop-Kunst (fine-pop, Pop Art) bzw. zum „Avant-Pop“ (vgl. Hecken 2012) führt. Aber der Begriff wäre ein Widerspruch in sich, wenn er wieder zur Bezeichnung einer Elite-Kunst dienen sollte, die gerade nicht populär im Sinne von massentauglich ist. Horkheimer und Adorno würden wahrscheinlich unterschiedslos von Produkten der Kulturindustrie sprechen. „Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist
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auszuweichen nur in der Angleichung an ihn in der Muße“, heißt es in der „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer, Adorno 1971, 123). Und hinter der scheinbaren Bedienung des Massengeschmacks wittern die beiden Auguren der kritischen Theorie nur die verschleierte Entmündigung des Subjekts: „Die Unverschämtheit der rhetorischen Frage, ‚Was wollen die Leute haben!‘ besteht darin, daß sie auf dieselben Leute als denkende Subjekte sich beruft, die der Subjektivität zu entwöhnen, ihre spezifische Aufgabe darstellt.“ (Ebd., 130) In vielen Pophörspielen wird die Frage eher lebensweltlich-konkret gestellt, indem sie zum Beispiel, garniert mit viel Musik, Biographien von Jazz- oder Rockmusikern oder -fans hörbar machen, die ihren ‚kleinen‘ Widerstand gegen herrschende Regeln, Normen und Leitbilder auslebten – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Auf dieser Ebene geht es nicht um die Überwindung der Leistungsgesellschaft und wahrscheinlich nicht einmal darum, über sie aufzuklären, sondern sie, wie Roger Behrens, allerdings mit kritischem Unterton, formuliert, „als großes, alle möglichen Freiheiten zulassendes Vergnügen“ zu konterkarieren (Behrens 2010, 30). Eine andere Möglichkeit ist das ironische oder satirische, intermediale Spiel mit Produkten der „Kulturindustrie“. Was gemeint ist, soll ein Beispiel illustrieren. Die soeben beschriebene Haltung verkörperte sozusagen in Reinkultur der Musiker Frank Zappa, dessen Songs oft kleine Hörspiele voller musikalischer und verbaler Zitate waren und die er gerne mit längeren Ansprachen von beträchtlichem Wortwitz einleitete. „I ate a hot dog / It tasted real good / Then I watched a movie / From Hollywood“ (Cheepnis).2 Es geht um B-Movies aus Hollywood, die Zappa als Monster-Movies vorstellt, mit Monstern, die wie umgedrehte Eistüten „with teeth around the bottom“ oder wie übergroße Spinnen oder Pudel aussehen und auf die die National Gard gnadenlos Jagd macht. Der Song ist eingebettet in ein Gewitter aus Hardrock, Jazz, Funk, Blues und Versatzstücken aus Filmmusik. Er zeigt exemplarisch, was die subversive Spielart des Pop leisten kann, die aber vorgibt, nichts als Spaß machen zu wollen und die natürlich auch Spaß macht. Der Pop kann, wenn er es denn will, seine Kommerzialisierung nur unterlaufen, indem er sie zum Thema macht und sich selbst satirisch der Lächerlichkeit preisgibt, allerdings nicht ohne die nötige Prise Ernst, denn: „There’s no way to delay that trouble comin’ every day.“ Thema ist in diesem Beispiel eine bestimmte Sorte von Filmproduktionen und damit ein Teil der Medienwelt, zu der selbstverständlich auch die Popmusik gehört. Die billige Machart stört keineswegs das Vergnügen an diesen Produktionen – im Gegenteil. Vor allem würde Tiefgang stören, es geht um die reine Oberfläche und die vielfältigen Reize, die sie für die Sinne bereithält. Der Rezipient will nur konsumieren, nicht reflektieren. Seinen Genuss erhöht das Hot Dog, das er vor dem Kinobesuch verzehrt hat. Allerdings bleibt offen, was von all diesen Aussagen wörtlich zu verstehen ist, denn die Art des Vortrags klingt durchweg ironisch und provoziert beim Publikum 2
So der Titel des Songs in dieser verballhornten Schreibweise.
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Lacher, die in der Live-Aufnahme zu hören sind. Musikalisch verpackt Zappa seine Feier billigster Kunst, wobei billig nichts mit dem Budget zu tun haben soll („although it helps“), in ein Feuerwerk von vollendetem Eklektizismus. Dabei bedient er sich überwiegend der Beats, Rhythmen, Harmonien und elektronisch verstärkten Instrumente der Beat- und Rockmusik, vor allem der E-Gitarre, auf der er gern ausgiebig improvisiert, sodass der Rockfan, der nicht ganz schematisch an der einfachen Liedform hängt und sich nicht von Jazzelementen irritieren lässt, auf seine Kosten kommt. Die perfekte Stilmischung ist Zappas Spezialität, mit der er immer wieder für Überraschungen sorgt, sodass man nicht mehr überrascht ist, dass er später sogar mit Vertretern der klassischen Moderne (wie Pierre Boulez, Ensemble Modern) zusammenarbeitet und von ihnen ernst genommen wird. Ob er sich damit von der Popmusik abgewandt hat, in deren Bereich er sich mit seinen fantasievollen, aber durchaus anspruchsvollen Collagen noch bewegt, ist schwer zu entscheiden und hängt davon ab, wie weit man den Bereich des Avant-Pop auszudehnen bereit ist. Ähnlich wie der beschriebene Song von Frank Zappa sind viele Pophörspiele konzipiert: Sie beziehen sich auf Phänomene der populären Kultur mit den Mitteln szenisch eingesetzter oder auch diskursiver Sprache, populärer Musik, collagehaft verwendeter O-Ton-Elemente, die einerseits auf Bekanntes verweisen, es andererseits aber auch dekonstruieren und damit etwas Neues darstellen. Thematisch vergleichbar mit dem beschriebenen Song von Zappa ist beispielsweise Thilo Gosejohanns Hörspiel Auricula – Ohrwurm des Schreckens (WDR 2014), das das Genre des Tierhorrorfilms akustisch illustriert und zugleich erläutert.3 Durch die Zitate und ironischen Kommentare entsteht eine Art Gebrauchskunst mit Tiefgang, bei der absolut nicht klar ist, auf welcher Seite der Grenze von high und low sie angesiedelt ist. Sowohl Zappa als auch viele Hörspielautoren stellen implizit, d. h. nicht argumentierend, sondern durch ihre künstlerische Praxis die Berechtigung dieser Grenzziehung in Frage. Thomas Hecken weist darauf hin, dass die zunehmend bevorzugten englischen Adjektive high und low immerhin etwas weniger scharf klingen als die deutschen Wörter „hoch“ und „niedrig“ (vgl. Hecken 2012, 36). Er zweifelt aber nicht an, dass „die Konfrontation von hoher und niederer Kultur im Sinne einer Abwertung der populären, unterhaltenden, trivialen, seichten oder effekthaschenden Kultur eine wichtige gesellschaftliche Tatsache dar[stellt]“ (ebd.), die sich auf gesellschaftliche Machtverhältnisse zurückführen lässt. Dabei bezieht er sich u.a. auf Pierre Bourdieu, der drei Geschmacksklassen unterscheidet, welche mit drei Bildungsniveaus sowie drei gesellschaftlichen Klassen korrespondieren. Diese sind: 1. der „legitime Geschmack“ (die herrschende Klasse definiert demnach die „Legitimität“ von Kunstwerken); 2. der „mittlere Geschmack, der sich auf die minderbewerteten Werke der legitimen Künste bezieht“; 3. der „populäre“ Geschmack, wozu er z.B. Schlager, Walzer, beliebte 3
Vgl. dazu die Analyse in Kap. 13.2.
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Opern oder Operetten zählt. Fasst man 1. und 2. als Spielarten des „legitimen Geschmacks“ zusammen, ist die Zweiteilung wieder hergestellt. (vgl. Bourdieu 1982, 36f.). In einem Kapitel seiner Monographie über „Avant-Pop“ skizziert Hecken „die Bedeutung der kulturellen Grenze“ und deren Geschichte. Als Maßstäbe für die Bewertung von Kunstwerken und deren Einstufung als „hohe“ oder „niedere“ Kunst nennt er ästhetische und poetologische sowie moralische Aspekte. „[D]ie Werke der hohen Kunst sind schön, erhaben, kreativ, originell, formvollendet, überraschend, avantgardistisch, modern oder zeitlos, ihr Widerpart das jeweilige Gegenteil und anderes (kitschig, seicht, klischeehaft etc.).“ (Ebd., 34) Unter didaktischen Aspekten wirkten die einen Werke angeblich positiv „auf Bildung, Moral, Persönlichkeit“, die anderen führten gemäß verbreiteter Ansicht zu „Verrohung, Mittelmäßigkeit, entfesselte[r] Sinnlichkeit, Konzentrationsunfähigkeit etc.“ (ebd.). Zu dieser Aufzählung kann noch der Begriff „Zerstreuung“ hinzugefügt werden, den Walter Benjamin im Zusammenhang mit seiner nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch gemeinten Wirkungsbeschreibung des Mediums Film in einer vertrackten dialektischen Wendung positiv umdeutet und dem er die „Sammlung“ entgegenstellt: „Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein […]. Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich.“ (Benjamin 1977, 40)4 Heckens Befund, dass sich auch linke Kräfte, von denen eigentlich eine Kritik am bildungsbürgerlichen Kunstbegriff zu erwarten wäre, in die Abwehrfront gegen die Produkte der populären Kultur einreihen, lässt sich vielfältig belegen. Es wäre verwunderlich, wenn allein der Hörspielsektor von diesen Diskussionen unberührt geblieben wäre. Hecken weist außerdem auf die staatliche Förderung der „Hochkultur“ in Form von Zuschüssen zur Finanzierung von Museen, Theatern, Konzerthäusern hin. Auch das staatlich finanzierte Bildungswesen mache vorwiegend Werke der Hochkultur zum Unterrichtsgegenstand. Beim Hörspiel muss die besondere Situation beachtet werden, dass es wegen der öffentlich-rechtlichen Gebührenfinanzierung der Rundfunkanstalten nicht unter Marktbedingungen entsteht,5 so dass kommerzielle Rücksichtnahmen für Hörspielautoren und -regisseure kaum eine Rolle spielen (vgl. Krug 2008, 110f.). Interessant ist, dass Bourdieu das Hörspiel gewissermaßen aus dem Rennen nimmt, indem er es zu den „Surrogaten der legitimen Kultur“ zählt (Bourdieu 1982, 512), die von den Kleinbürgern geschätzt würden. Hörspielmacher genießen eine gewisse Narrenfreiheit, die entweder ernst 4
Bekanntlich knüpft Benjamin an seine Überlegungen zur verlorenen Aura des Kunstwerks bzw. zur künstlichen Auratisierung massentauglicher Kunstprodukte eine umfassende Kapitalismus- und Faschismuskritik.
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Abgesehen von Kinder- und Jugendhörspielserien (wie z.B. Die drei ???), die auf CDs veröffentlicht werden.
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(Neues Hörspiel, O-Ton-Hörspiel) oder fröhlich (nicht alle, aber sehr viele Pophörspiele) genutzt wird. An den kulturellen Um- und Aufwertungsprozessen, die Hecken beschreibt, indem er sich auf die Aufnahme des Avant-Pop in den Bereich der hochkulturell bewerteten Kunst bezieht, nimmt das Hörspiel nicht oder nur am Rande teil. Es gibt aber zweifellos viele Pophörspiele, denkt man zum Beispiel an die Produktionen von Heiner Goebbels, Ammer/Einheit, Schlingensief, Felix Kubin, die zum Avant-Pop gerechnet werden können, weil sie Werke der „legitimen“ Kultur, seien es klassische oder solche der avantgardistischen Moderne,6 einer an der Popkultur orientierten und an diese gewöhnten Rezeption zugänglich machen, ohne trivial zu sein. Den von Hecken aufgezählten „Kriterien des Kreativen, Originellen, Experimentellen“ (Hecken 2012, 66), die zur Begründung für die Aufnahme eines Werks in den „Avant-Pop-Kanon“ taugen, erfüllen diese Produktionen allemal. Wie bereits erwähnt, haben die in der Filmbranche geschätzten biographischen Erzählungen („Biopics“) auch Eingang in den Pophörspiel-Sektor gefunden und machen einen recht beträchtlichen Teil des dazu zählenden Repertoires aus. Diese Stücke, wie auch diejenigen, die Popmusik, Filme oder Fernsehserien zum Gegenstand haben, können im Rahmen des Retromania-Diskurses (vgl. Reynolds 2012), der die gegenwärtige Popkultur als gigantische Wiederverwertungsmaschinerie auffasst, verstanden werden.7 Diederich Diederichsen spricht von „Eigenblutdoping“ und „Leben im Loop“, in dem das Auftreten von Neuem eigentlich nicht vorgesehen ist: „Der Loop und die Weigerung, aus ihm herauszutreten, bewahrt das Glück, aber auch die Blödheit einigermaßen behüteter und unhungriger Lebensjahre nach 1960 auf und sperrt sich dagegen, dieses Glück gegen etwas Schlechteres heute einzutauschen.“ (Diederichsen 2009, 36) Der ältere Zeitgenosse, der sich – irgendwie – immer noch jung fühlt, weil er die wilden Platten mit den endlosen Gitarrensoli aus den 1960er und 1970er Jahren von Zeit zu Zeit gerne auflegt, kommt beim Hören vieler neuerer Pophörspiele auf seine Kosten. Aber erstens wird die „Blödheit“ dabei eher selten bedient, weil die Stücke nicht nur mit formaler Raffinesse und Vielschichtigkeit, sondern auch mit satirischer Schärfe brillieren und damit den Intellekt beschäftigen. Dies gilt sogar für scheinbar harmlose Krimis, die mit Popthemen spielen. Zweitens gibt es auch Produktionen, die, vor allem mit Blick auf die neuen Medien, eben doch Neues wagen. Und drittens ist die Gattung, wenn man sie denn als solche auffasst, wesentlich älter als der sogenannte „Pop II“, der (angeb6
Bei Bourdieu ist interessant, dass er den bürgerlichen „Rive-droite“-Geschmack vom intellektuellen „Rive-gauche“-Geschmack unterscheidet: ältere unumstrittene (z.B. Renoir) vs. moderne, avantgardistische Werke (z.B. Kandinsky) (Bourdieu 1982, 457).
7
„Das Wort ‚Retro‘ hat eine konkrete Bedeutung: Es meint die selbstreflexive Fetischisierung eines bestimmten Zeitraums (in der Musik, Mode oder im Design), die durch Nachahmung und Zitat kreativ ausgedrückt wird.“ (Reynolds 2012, 20).
V ORÜBERLEGUNGEN | 21
lich) von der Wiederverwertung und damit Verharmlosung des zur Zeit des „Pop I“ Geleisteten lebt (vgl. Behrens 2010, 24). Denn schon die „Popliteraten“ der ersten Generation, wie Rolf Dieter Brinkmann, Wolf Wondratschek und Peter Handke, haben Hörspiele gemacht, was allerdings nicht heißt, dass es sich in jedem Fall um Pophörspiele handelte.
3. Zur Geschichte des Hörspiels
3.1 H ÖRSPIEL -B EGRIFF
UND
G ATTUNGSFRAGE
Vor einer Beantwortung der Frage, was ein Pophörspiel sei, empfiehlt sich ein Blick auf den allgemeineren Begriff ‚Hörspiel‘. Hier entsteht das Problem, dass es einen Fachdiskurs über das Hörspiel gibt, in dem die Bekanntheit des Begriffs selbstverständlich vorausgesetzt wird, so dass eine Klärung nicht mehr nötig ist. Hingegen existiert in Publikationen, die nicht im engeren Sinn fachlich ausgerichtet sind, ein Gattungsbegriff, der, gemessen am aktuellen Stand der Entwicklung und Diskussion, als veraltet oder zumindest als zu eng gefasst erscheint. So definiert Stefan Neuhaus in seinem „Grundriss der Literaturwissenschaft“ das Hörspiel so: „Ein Hörspiel lässt sich definieren als eine auditive Inszenierung mit Erzähler, Sprechern und einer Geräuschkulisse. Wie eine Theateraufführung oder ein Film lässt das Hörspiel den Zuhörer über weite Strecken unmittelbar am Geschehen teilhaben. Dem Schnitt im Film und dem Abschnitt oder Kapitel im Buch entspricht die Blende.“ (Neuhaus 2009, 103) Die Musik fehlt in dieser Beschreibung. Neben der heute nicht mehr so häufig verwendeten Blende gibt es den harten Schnitt und die Collage. Der Vergleich mit Theater und Film lässt an die frühe Hörspieltheorie Richard Kolbs (1931) denken, in der ein „gemeinsames Ausgangszentrum für Schauspiel und Hörspiel“ postuliert wird (in: Scheffner 1978, 17). Allerdings unterscheiden sich nach Kolb Schauspiel und Kino vom Hörspiel schon darin, dass dieses über sein Trägermedium, den Funk, zum Einzelerlebnis führe, nicht wie jene zum Gemeinsamkeitserlebnis. Diesen Gedanken entwickelt Erwin Wickert in seinem berühmten Aufsatz von 1954 „Die innere Bühne“ weiter, in dem er behauptet, Gemeinschaftsempfang eines Hörspiels verfälsche den Eindruck. „Die Bühne, auf der das Hörspiel handelt, ist so weit wie die Phantasie des Hörers.“ (Wickert 1954, 513) Sie habe ihre eigenen Gesetze, die sich vor allem auf die Dimensionen Zeit und Assoziationskraft der Worte und Geräusche erstreckten. Neuhaus behandelt das Hörspiel nur in einem kurzen Abschnitt des Kapitels „Übergänge zur Medienwissenschaft“. Eine andere Einführung in die Litera-
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turwissenschaft weist das Hörspiel im Kapitel „Übersicht über die Gattungen“ neben der traditionellen Trias Lyrik, Epik und Dramatik in einem extra Kapitel als eigene Gattung aus. Zur Definition greifen die Autorinnen des Bändchens zwar zunächst auf eine Studie aus dem Jahr 1963 zurück: „Das Produktive an einem Hörspiel liegt in dem Zusammenwirken der geistigen Konzeption des Autors, der darstellerischen Leistung vor den Mikrophonen und der technischen Umwandlung durch den […] Hörfunk zur Erzeugung dieser akustischen Wirklichkeit als Grundlage für die mitvollziehende Phantasie des Hörers.“ (Becker u.a. 2006, 193). Immerhin wird die Bedeutung des Mediums und seiner technischen Gegebenheiten hier nicht verschwiegen, der Hinweis auf die „mitvollziehende Phantasie des Hörers“ lässt aber darauf schließen, dass Armin Paul Frank, von dem die Definition stammt, das literarische Hörspiel meint, in dem aus Dialogen und Monologen eine Handlung entsteht, so dass das Hörspiel entweder ein akustisches Theaterstück darstellt oder diesem nahekommt. Bereits 1961 hatte Friedrich Knilli in seinem Buch „Das Hörspiel. Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels“ diese Auffassung radikal in Frage gestellt: „Das Hörspiel als bloßes Sprachkunstwerk aber, als Wortkunstwerk oder als Literaturwerk […] pflegt von der Vielzahl möglicher Schallvorgänge einen einzigen.“ (Knilli 1961, 108) Er fordert, das Hörspiel aus den Fesseln einer Abbildungsästhetik zu befreien und sich auf das „Spiel und Gegenspiel“ aller Schallvorgänge einzulassen. Diese radikale Position hat sich zwar nicht durchgesetzt, zumindest nicht als ausschließliche, aber sie steht am Anfang der Experimentierphase mit dem Neuen Hörspiel, ohne die auch das Pophörspiel nicht zu denken ist. Die erwähnte Einführung in die Literaturwissenschaft dokumentiert diese Entwicklungen auf knappem Raum relativ genau und geht sogar noch auf die technischen Möglichkeiten des Hörspiels ein. Es scheint ungewiss, welcher Wissenschaft die Hörspielforschung eigentlich zuzuordnen ist. Das „Handbuch Literaturwissenschaft“ (Anz 2007) erwähnt es im Gattungskapitel nicht und widmet ihm nur wenige Zeilen im Kapitel „Audiovisuelle Medien“. Dagegen erhält es einen Eintrag im „Metzler Lexikon Medientheorie/ Medienwissenschaft“, der mit dem interessanten Satz beginnt: „Das Hörspiel ist eine künstlerische Sonderform für Minderheiten innerhalb des auf Aktualität, Unterhaltung und Information orientierten Massenmediums Hörfunk“ (Schanze 2002, 139). Der Satz ist unhistorisch, da in den 1950er Jahren von einer „Sonderform für Minderheiten“ nicht die Rede sein konnte. Zudem ist die Kunstform Hörspiel heute nicht mehr allein auf den Rundfunk angewiesen. Besser trifft es die Definition, die im „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“ zu finden ist. Autor des Artikels ist Stefan Bodo Würffel, Verfasser der bis heute beachteten Monografie „Das deutsche Hörspiel“ (1978). Seine Definition ist umfassend und brauchbar: „Das Hörspiel ist eine mit dramatischen, epischen oder auch lyrischen Elementen arbeitende, Sprache, Geräusch und Musik verbindende Gattung, die (bei einer üblichen Dauer von weni-
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gen bis ca. 90 Minuten) über den Rundfunk ausgestrahlt bzw. auf Tonträgern wie Schallplatten, Cassetten, Compact Discs […] aufgezeichnet und vertrieben wird. Wichtigste technische Mittel der akustischen Bühne Hörspiel sind Schnitt, Montage und Blende […], die wie beim Film den Übergang von einer Spielphase bzw. -ebene zur nächsten ermöglichen.“ (Würffel 2000, 77f.)
Würffel sieht im Neuen Hörspiel Wickerts „Innere Bühne“ „durch einen deutlich wahrnehmbaren Spielraum ersetzt, zu dem der Hörer in Distanz treten soll“ (ebd., 78). In diesem ‚Spielraum‘ können sich andere als dramatische oder theatralische Ereignisse abspielen, welche sich (mit Zutun des Hörers) auf der „Inneren Bühne“ entwickeln. Es können auch „Schallspiele“ im Sinne Knillis oder Wortspiele sein, wie sie Franz Mon entworfen hat, oder es können Dokumentarspiele sein, die sich der Techniken des O-Ton-Hörspiels bedienen. Mit der Frage nach der Literarizität des Hörspiels beschäftigt sich Elke Huwiler in ihrer narratologischen Untersuchung „Erzähl-Ströme im Hörspiel“ (2005). Ihr Anliegen ist es, den Terminus literarisches Hörspiel ein für allemal aus der Diskussion zu verbannen. Zwar gebe es in sehr vielen Hörspielen eine literarische Sprache, jedoch seien sie auf diese nicht zu reduzieren, da mindestens die Stimme und weitere technische Zeichenträger hinzukommen würden. Zu unterscheiden sei zwischen narrativen und nicht-narrativen Hörspielen, wobei für den ersten, hinsichtlich der Anzahl an Produktionen eindeutig dominanten Typus die Narratologie nach Gérard Genette das angemessene Analyseinstrument sei. Deren Begriffe seien nicht nur auf literarische Texte, sondern auf alle erzählenden Medientexte im weitesten Sinne anwendbar. Dem ist soweit nicht zu widersprechen. Problematisch ist Huwilers dritte These, mit der sie den Unterschied zwischen Original-Hörspielen und Adaptionen1 literarischer Texte aufheben möchte. Ein Grund, auf dieser Unterscheidung zu bestehen, liegt darin, dass die auf der Ebene des discours ansetzende Narratologie sich nicht um die histoire kümmert, die der literarische Text und die Adaption gemeinsam haben, aber unterschiedlich erzählen. Das Verhältnis zwischen beiden ist das zwischen einem absenten und einem präsenten Text. Die Rezeption des letzteren wird dadurch gesteuert oder zumindest beeinflusst, ob der Rezipient die Vorlage kennt. Für filmische Adaptionen literarischer Werke verwendet Simone Malaguti den Begriff der Markierung: „Die Aktivierung des Vorwissens gelingt durch die Marker, d. h. Signale des Intertextes, die unsere Aufmerksamkeit auf den Prätext lenken.“ (Malaguti 2008, 42) Derartige „Marker“ gibt es auch in Hörspieladaptionen. Umgekehrt gehen auch bei der Produktion des Hörspiels wesentliche Impulse von der literarischen Vorlage aus, und das gilt selbst dann, wenn es sich um eine sehr freie 1
Huwiler schreibt immer: Adaptationen. Dieser Begriff ist hauptsächlich in der Biologie bzw. Medizin gebräuchlich.
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Adaption handelt. Eine solche Steuerung fehlt im Entstehungsprozess eines Originalhörspiels, sodass das sprachliche und narrative Material schon in der Tiefenstruktur ganz auf die Mittel und Möglichkeiten der Kunstform Hörspiel ausgerichtet sein kann. Hier ist also weiterhin eine Differenzierung nützlich, unbeschadet der von Huwiler betonten Tatsache, dass Hörspieladaptionen keine Literatur, sondern Hervorbringungen der „eigenständigen Kunstform“ (Huwiler 2005, 15) Hörspiel sind.2 Da in der vorliegenden Arbeit nicht nur formal, sondern auch historisch argumentiert wird, soll an den Bezeichnungen traditionelles und Neues Hörspiel festgehalten werden. Hinzu kommt als neue, in der Gegenwart sehr verbreitete Gattung das Pophörspiel. Hier ist nun die Grenze zum Feature schwer zu ziehen, was einen weiteren Exkurs nötig macht, da viele Pophörspiele wie Features wirken oder manche Features sich wie Pophörspiele anhören.
3.2 O-T ON -H ÖRSPIEL
UND
F EATURE
In seiner Radiosatire Doktor Murkes gesammeltes Schweigen lässt Heinrich Böll, ein Kenner des Betriebs in westdeutschen Funkhäusern der 1950er Jahre, eine Figur sagen: „Verfeature du mich, dann verfeature ich dich.“ Der Autor macht sich so über die Allgegenwart des Features im damaligen öffentlich-rechtlichen Rundfunk lustig, an der sich bis heute wenig geändert hat. Dies gilt allerdings nur noch für einige ausgewählte Sender. Die meisten haben den Charakter des Formatradios in Form von Servicewellen angenommen und unterscheiden sich nur marginal von den Privatsendern. Das Feature kann heute als erfreuliches Zeichen für das Überleben eines Qualitätsrundfunks gelten. Dass die Grenze zum Hörspiel fließend ist, zeigen z.B. Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur dadurch, dass sie eine Programmbroschüre zum Hörspiel und Feature herausgeben, in der beide Formen nebeneinander, nicht getrennt dargestellt sind .3 Wie schwierig die Grenzziehung ist, zeigt ein Kapitel aus Heinz Schwitzkes umfangreicher Studie „Das Hörspiel“ aus dem Jahr 1963. Es ist überschrieben: „Die Anfänge des Features / Das Spiel mit der verrinnenden Zeit beginnt“ und beschäftigt sich vor allem mit Walter Erich Schäfers Hörspiel Malmgreen (SÜRAG 1929). Ist es ein Hörspiel oder ein Feature? Ein Jahr vor Erscheinen seiner Studie hatte Schwitzke den Text in seiner Sammlung „Frühe Hörspiele“ herausgegeben. Jetzt
2
Auf Huwilers Argumentation wird zurückzukommen sein, wenn es um literarische Pop-
3
Die Hörspieldatenbank HörDat zeigt seit einiger Zeit neben Hörspielen auch Features an,
hörspiele (Kap. 10) geht. allerdings verschiedenfarbig (Hörspiel blau, Feature grün).
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schrieb er: „Während Johannsen und Wolf4 für ihre Figuren noch alle Dimensionen der Wirklichkeit, besonders auch die dramatische Tiefendimension in Anspruch nehmen, läßt Schäfer sie ganz in der Fläche, läßt die Gestalten sozusagen nur als Zitate aus der Berichtform hervortreten. Überraschend wird hier die fünfundzwanzig Jahre später von Ernst Schnabel und Alfred Andersch praktizierte Sprache des Features vorweggenommen.“ (Schwitzke 1963, 132) Spezifisches Mittel des Features sei, so Schwitzke, der „Bericht über wirkliches Geschehen, die Reportage“. Ist es also so, dass dem Feature ein Kennzeichen der Literatur, die Fiktionalität, fehlt? Fiktionale Rede ist nicht behauptend, das heißt, sie verpflichtet einen Sprecher nicht, ihren Wahrheitsgehalt gegen kritische Einwände und Fragen zu verteidigen. Der Fall des Kapitäns Malmgreen, der auf der Polarexpedition des Luftschiffs Italia ums Leben kam, ist authentisch, jedoch dürften Schäfer die Gespräche des Kapitäns mit seinen Offizieren kaum protokolliert vorgelegen haben, so dass er für deren Wortlaut nicht hätte haftbar gemacht werden können. Dem Zitat Schwitzkes lässt sich entnehmen, dass Schäfers Stück die „dramatische Tiefendimension“ fehlt, die er für ein wesentliches Kennzeichen des Hörspiels hält. Das Feature berichtet demnach sachlich von einem Geschehen, das Hörspiel entfaltet einen dramatischen Konflikt. Was aber macht dann Malmgreen dennoch zu einem Hörspiel? Es sei, so Schwitzke, die „menschliche Botschaft“ (ebd., 136), das heroische Sterben eines Einzelnen im Kampf mit einer unbarmherzigen Natur, im Gegensatz übrigens zu Wolfs „kollektivistischer Hymne“ über denselben Fall. Laut Schwitzke haben hier die Männer ihr Menschsein zugunsten einer Ideologie aufgegeben – es ist unübersehbar, dass die Studie mitten im Kalten Krieg erschien. Malmgreen ist ein neusachliches Originalhörspiel, das äußerlich Züge eines Features trägt. Diese sind: der Stoff, also der authentische Fall, um den es geht, und der Reportagestil, der aus den Ansagen eines Daten und Uhrzeiten nennenden Sprechers sowie aus der Wiedergabe von Funksprüchen entsteht. Die Unterscheidung zwischen Hörspiel und Feature wird noch schwieriger, wenn man den Original-Ton (O-Ton) hinzunimmt, der schon in der ersten Phase der Hörspiel-Entwicklung erprobt wurde, etwa von Walter Ruttmann in seiner berühmten Collage Weekend (1929), und der in den 1960er und 1970er Jahren zu einem ideologisch aufgeladenen Trägermedium avancierte. Was ist überhaupt O-Ton? Medientheoretiker betonen, dass die Schwierigkeit einer Definition vor allem darin besteht, dass O-Ton einerseits als authentisch gilt, andererseits aber irgendwann produziert worden sein muss (vgl. Häusermann 2007, 31). Definitionsversuche richten sich entweder auf die Entstehungssituation („Aufnahme eines akustischen Ereignisses, das einer nicht-fiktiven Situation entstammt“) oder auf den Entstehungsort (außerhalb des Studios) oder auf die Verwendung von O-Ton (Einbettung 4
Gemeint sind Ernst Johannsens Hörspiel Brigadevermittlung und Friedrich Wolfs SOS...Rao rao...Foyn „Krassin“ rettet „Italia“, beide aus dem Jahr 1929.
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in einen anderen Kontext) (vgl. Tieke 2007, 101). Dieser andere Kontext kann entweder ein journalistischer Beitrag, ein Feature, es kann aber auch ein Hörspiel sein. Theoretiker wie Klaus Schöning und Autoren wie Paul Wühr, Günter Wallraff und Michael Scharang verknüpften mit dem O-Ton-Hörspiel die Hoffnung, Brechts sogenannte „Radiotheorie“ könne nun in die Praxis umgesetzt werden. Ihr Kern bestand bekanntlich in der These, der Rundfunk, der bislang nur ein Distributionsapparat sei, müsse zum Kommunikationsapparat werden. Inwiefern konnte die Verwendung von O-Tönen für Hörspiele dazu beitragen, diese Vision zu verwirklichen? Man konnte Leute zu Wort kommen lassen, die bislang die Sendungen aus dem Radio nur konsumiert hatten oder die an diesen Sendungen nur beteiligt waren, solange sie die vorgegebenen Regeln befolgten, etwa in Anrufsendungen. Der neue Kommunikationsapparat konnte zur Waffe im Klassenkampf werden. Wohl nicht zufällig nennt Klaus Schöning als erstes Beispiel in seinem Aufsatz „Der Konsument als Produzent?“ das „Original-Ton-Stück eines Lehrlingskollektivs“ (Schöning 1974, 7). Jedoch stand diesem Vorhaben die Organisationsstruktur des Rundfunks entgegen. Die marxistische These vom Grundwiderspruch im Kapitalismus, der darin bestehe, dass formal kollektiv produziert, aber der Mehrwert privat angeeignet werde, wurde auf das Radio übertragen, das wahrhaft emanzipatorisch gar nicht wirken könne, da es in der Klassengesellschaft nur eines der Instrumente zur Unterdrückung der Arbeiterklasse sei (vgl. Scharang 1970, 190). Der Hörspielautor und -theoretiker Michael Scharang machte sich ausführlich darüber Gedanken, weshalb zum Beispiel der halbstündige Bericht eines Arbeiters über seine Tätigkeit nicht ungefiltert im Radio gesendet werden könne. Redakteure, auch solche, die sich als „links“ verstünden, würden einen solchen Bericht unter dem Vorwand ästhetischer Unzulänglichkeit ablehnen – und sie müssten es tun, weil sie verständlicherweise ihre Stellung nicht gefährden wollten. Der bürgerliche Kunstbetrieb lässt nach dieser Auffassung vieles zu: Gesellschaftskritik, solange sie folgenlos bleibt, ästhetische Experimente, die ohnehin folgenlos bleiben und nur Minderheiten interessieren, endloses Gerede, das aber eine Wahrheit nicht ausspricht, nämlich die Wahrheit der Klassenverhältnisse, und das damit nur die Vernebelung des Bewusstseins der Rezipienten aufrechterhält. Denn letztlich habe die Bourgeoisie nichts zu sagen, weil sie sonst sagen müsste: „Ich bin ein Ausbeuter, ein Menschenschinder, ein Preistreiber.“ (Scharang 1974, 262) Scharang sagt ganz klar, dass O-Ton keineswegs ein Mittel sei, die Realität abzubilden, schon gar nicht, wenn er von kunstbeflissenen Autoren oder Regisseuren montiert oder collagiert wird. Allenfalls sei O-Ton „eine Methode zur Untersuchung der Realität“ (ebd., 271). Es überrascht nicht, dass für ihn die Frage, ob etwas ein Hörspiel oder ein Feature sei, völlig überflüssig ist. Der Rekurs in die 68er Rhetorik ist aus zweierlei Gründen interessant: Folgt man Johannes M. Kamps, der 1984 „Aspekte des Hörspiels“ darstellte, bemerkenswerterweise in dem Band „Tendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur“, so
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wurde mit dieser politischen Rhetorik die Chance vertan, „die getrennt verlaufenen Entwicklungen von Feature und Hörspiel wieder zu vereinigen“. (Kamps 1984, 361) Mit einigem Recht sieht Kamps in manchen Produktionen der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Einheit beider Formen gegeben. Vielleicht das beste Beispiel für ein kunstvolles Feature, das ebenso gut ein Hörspiel mit featureartigen Zügen sein kann, ist Ernst Schnabels Stück Der 29. Januar 1947, produziert vom NWDR. Der Kunstanspruch des Hörspiels der 1950er Jahre vertrug sich nicht mit der scheinbar nur informierenden Funktion des Features. Zudem erinnert Kamps daran, dass sich Anfang der 1950er Jahre Hörspiel- und Feature-Redaktionen trennten, so dass schon organisatorisch eine Grenze zwischen den Gattungen gezogen war, obwohl für beide Formen dieselbe Apparatur genutzt wurde.5 Allerdings wurde die Trennung bereits Ende der 1950er Jahre wieder in Frage gestellt, und zwar, vielleicht nicht zufällig, mit dem von drei Sendeanstalten produzierten Hörstück Der Tod des James Dean (1959) von Alfred Andersch, das der Autor selbst als „Montage“ bezeichnete. War es ein Hörspiel oder ein Feature? Herbert Kapfer räumt ihm in seinem Aufsatz über „Pop im Hörspiel“ viel Platz ein, nennt es aber „Dokumentar-Hörspiel“ (Kapfer 1997, 4). Vielleicht lässt es sich begründen, in diesem Stück das erste Pophörspiel zu sehen, und vielleicht ist es dieses Segment der Kunstform Hörspiel, das die Zusammenführung von Hörspiel und Feature letztlich doch möglich gemacht hat. Der zweite Grund für ein ausführliches Erinnern an die marxistische Rhetorik der späten 1960er Jahre besteht darin, dass sie im aktuell geführten Popdiskurs wieder auftaucht. Aus der „kritischen Theorie des Pop“ sei hier ein längerer Abschnitt zitiert: „Pop ist Kultur im dialektischen Sinne: Ausdruck des Lustprinzips und des Realitätsprinzips gleichermaßen. Als großes, alle möglichen Freiheiten zulassendes Vergnügen konterkariert Pop die Leistungsgesellschaft; aber er überwindet sie nicht, klärt nicht einmal über sie auf. Darin folgt Pop dem Modell bürgerlicher Kultur, wie es sich vor zweihundert Jahren herausbildete: Zunächst als Hochkultur, dann als Massenkultur. Mit dem Pop wurde dann gewissermaßen Hochkultur und Massenkultur absorbiert, indem einerseits die Inhalte der Hochkultur (Freiheit, Glück, das Geistige, Vernunft etc.) in Formen der Ideologie, andererseits die Formen der Massenkultur (Standardisierung, Schematismus, Quantität, eben ‚die Masse‘) zum Inhalt der materiellen Bedingungen des Pop verwandelt wurden.“ (Behrens 2010, 30f.)
Der Anspruch ist hoch: Kultur, hier offenbar gleichgesetzt mit Kunst, soll die Leistungsgesellschaft überwinden; oder sie soll wenigstens über sie aufklären. Dabei gibt es offenbar nur eine Methode der Aufklärung: „eine materialistische Analyse 5
Antje Vowinckel verweist darauf, dass beim NWDR in den Jahren 1950 bis 1954 44 Hörspiele in Features umbenannt wurden (Vowinckel 1995, 94).
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der Gesellschaft“. Unklar bleibt, wer wen absorbiert: die Hochkultur die Massenkultur oder umgekehrt? Oder werden beide von etwas anderem absorbiert, z.B. vom Markt, der jede Art von Kultur bzw. Kunst gnadenlos funktionalisiert, wie alles Mögliche andere auch, um Profit zu generieren? Im legendären Kursbuch 15, 1968 ist zu lesen, die Studenten hätten an die Wände der Sorbonne geschrieben: „L’art est mort, ne consommez pas son cadavre“. Die Erkenntnis vom Tod der Kunst galt ebenso als revolutionär wie die mediale Art der Verbreitung dieser Erkenntnis, nämlich als Graffiti auf den Wänden der ehrenwerten Sorbonne. Aber Karl Markus Michel bestritt den Wahrheitsgehalt dieser Aussage: „[…] denn in Wahrheit ist sie ja nicht tot, sie lebt geschäftig fort, wenn auch als Leiche, als Ware, als Fetisch, und gaukelt weiter eine Zone der Freiheit, der Autonomie, des Sinnes vor, die es zu entlarven gilt als Schwindel“ (Michel 1968, 170). Der Streit, worin die Aufgabe oder Existenzberechtigung der Kunst besteht, ist uralt und nicht zu entscheiden. Hat sie sich außerkünstlerischen Zwecken, z.B. der Umgestaltung der Gesellschaft in welchem Sinn auch immer, zur Verfügung zu stellen, oder gehorcht sie eigenen Gesetzen und eröffnet wenigstens dem Geist einen Freiraum und der Fantasie Spielräume? Zu fragen ist auch, ob der moderne Mensch nach dem Verlust metaphysischer Gewissheiten und geschlossener, teleologischer Geschichtsbilder nicht (auch) andere Grundfragen seiner Existenz kennt als die nach der „widersprüchlichen Verfasstheit der kapitalistischen Popgesellschaft“ (Behrens 2010, 29). Z.B. die nach der Möglichkeit des „Ereignisses“, des geglückten Augenblicks in der „planen Kontinuität“ des Lebens, die absehbar zum Tod führt, wie es Karl Heinz Bohrer einmal formuliert hat (Bohrer 1988, 228). Der Horizont einer solchen Fragestellung ist ein anderer als der einer kritischen Theorie der Gesellschaft, was letztere nicht entwerten, allenfalls einordnen soll (was ihr aber offensichtlich widerstrebt). Die Debatte sollte jedenfalls nicht im Gestus der Ausschließlichkeit und Intoleranz geführt werden, der aus westdeutschen Theorietexten der späten 1960er und frühen 1970er Jahre nur allzu bekannt ist. „Der Dichter steht hoch im Kurs, aber er hat nichts zu melden“, schrieb Karl Markus Michel (Michel 1968. 174). „Nichts zu melden“ soll wahrscheinlich heißen, dass er keinen direkten politischen Einfluss hat, dass er die Revolutionierung der Gesellschaft nicht unmittelbar auslösen kann. Bemerkenswert ist, dass sich nicht die explizit politischen O-Ton-Hörspiele wie Hans Gerd Krogmanns Bergmannshörspiel (WDR 1972) oder Wallraff/Hagens Das Kraftwerk (WDR 1973) oder auch Paul Wührs preisgekröntes Preislied (BR/NDR 1971) als die wirkmächtigsten und einflussreichsten erwiesen haben, sondern Ludwigs Harigs Staatsbegräbnis oder Vier Lektionen politischer Gemeinschaftskunde (SR/WDR 1969), eine Collage über die Trauerfeier und Beerdigung Konrad Adenauers und ihre mediale Vermittlung in Form einer Radioreportage. Harig verwendete also als Material nicht produzierte, sondern vorgefundene O-Töne. Kurzfristig machte das Stück Skandal, durfte nicht gesendet und auf Schallplatte veröffentlicht werden, galt es doch als pietätlose Ver-
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spottung des Toten oder der Redner, die alle noch in Amt und Würden waren. Heute, bestes Beispiel für einen ‚Horizontwandel‘, wird es als perfekt gemachtes sprach- und medienkritisches Schelmenstück wahrgenommen. Durch die Montage, in der z.B. das Satzfragment „weil es wahr ist“ aus seinem Kontext gelöst und mehrfach wiederholt wird, erscheinen die neu kombinierten Versatzstücke aus den Trauerreden gerade als unwahr, als bloße Phrasen. Die satirische Wirkung, die durch Wiederholungen und Reihung kontextfreier Floskeln entsteht, wird verstärkt durch die nahezu musikalische Präsenz der Stimmen, unter denen der Singsang des Kardinals Frings besonders auffällt. Offenbar gefiel es Harig, den Kardinal den Satz „Er erkannte die christliche Bedeutung politischer Tätigkeit“ mehrfach wiederholen zu lassen und damit die Sakralisierung der Politik im Staatsakt herauszuarbeiten. Frings scheint diesen Satz, der im Kontext seiner Rede nicht so stark aufgefallen sein mag, jetzt wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Unversehens wandelt sich Adenauer vom Machtpolitiker, der er war, zu einem „Mann des Glaubens“. Und Bundeskanzler Kiesinger darf die Frage „Wer ist groß?“ penetrant wiederholen und bekommt von den verschiedenen Festrednern teils erwartbare, teils erstaunliche Antworten: Churchill, De Gasperi, Truman, Bismarck, John Foster Dulles, Pius, der heilige Paulus, Habakuk, bis hin zu Gott im Himmel. Dazu kommen Orgelkänge, fromme Gesänge, Böllerschüsse und die Poesie der Radioreporter, die den Hörern stimmungsvoll die Szenerie schildern: „Der Himmel hat sich etwas bedeckt, ist bewölkt, zuweilen fallen Sonnenstrahlen herunter.“ Am Ende wollen sie aber doch fertig werden und sind froh, dass alles glatt gelaufen ist. Dass es für sie ein Job wie jeder andere war, hat der Hörer nicht mitbekommen – und sollte es auch weiterhin nicht erfahren, denn die Reporter wehrten sich zunächst gegen die Veröffentlichung dieses Studiomaterials. In ein neues Licht gerückt wurde dieses Hörstück, als Harig vier Jahre später Staatsbegräbnis 2 produzierte: Der von Erich Honecker längst entmachtete Walter Ulbricht war zu Grabe getragen worden. Die bei den Feierlichkeiten vernehmbaren Töne waren teils ähnlich, teils sehr verschieden von denen des westdeutschen Gegenstücks. Mit tränenerstickter Stimme las der Nachrichtensprecher die Todesnachricht vor, der Verstorbene wurde als Held und Vorkämpfer der Arbeiterklasse gefeiert und statt Orgelklängen und Sanctus gab es Märsche und Kampflieder zu hören. Sakralisierung und Heroisierung stehen für Vorgänge im ideologischen Überbau der beiden deutschen Staaten, die sich auszuschließen scheinen und doch nur zwei Seiten einer Medaille sind. Die beiden Hörspiele scheinen sich auf Tagesaktualität zu beziehen und könnten daher Features sein (vgl. Schwitzke 1963, 277), sie besitzen aber bis heute Aktualität, da sie Zeichenbezüge aus den Symbolsystemen der Politik und der Medien vorführen und durchschaubar machen. Collagierte Originaltöne sind zudem in besonderer Weise dazu geeignet, Atmosphäre herzustellen, Stimmungen zu erzeugen und insofern unmittelbarer zu wirken, als dies mit Sprachzeichen möglich ist. Der menschlichen Stimme kann eine
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eigene Körperlichkeit zugesprochen werden, die vom Hörer über das hinaus wahrgenommen wird, was mit ihr (und den Artikulationswerkzeugen) verbal bzw. zeichenhaft gesagt wird. Stimme gilt als Präsenzphänomen, im Unterschied zu den Zeichen, die auf Nichtpräsentes verweisen (vgl. Mersch, Waldenfels 2006). Dasselbe gilt für Klänge und Geräusche, die allerdings anderen Ursprungs sind als die Stimmlaute. Indem das O-Ton-Hörspiel mit Sprachzeichen spielt, sie aus erwartbaren Zusammenhängen löst, sie neu und überraschend kombiniert, kann es die Aufmerksamkeit des Hörers stärker auf das Trägermedium Stimme sowie auf die klangliche Umgebung lenken. Diese wird zum autonomen Mitspieler und fungiert nicht nur als „Atmo“ wie im traditionellen Handlungshörspiel.6 In seinen FußballCollagen, die ebenso witzig und hintersinnig sind wie Harigs Staatsbegräbnis, hat sich Ror Wolf dieser Möglichkeiten ausgiebig bedient. Auffällig ist, dass er ebenso wie Harig im Medium mit dem Medium spielt, etwa in dem Stück Schwierigkeiten beim Umschalten (HR 1978), in dem es um die samstagnachmittäglichen Bundesliga-Berichte geht. Ebendies macht auch Ferdinand Kriwet mit seinen als ‚Hörtexte‘ bezeichneten Radiocollagen, die vor allem das Radio selbst – entsprechend heißt eines dieser Stücke Radioselbst (WDR 1979) –, seine Programmabläufe und technischen Möglichkeiten zum Thema haben. In Radioselbst, das aus Mitschnitten des Senders WDR 2 collagiert ist, führt Kriwet exemplarisch den „Sound“ der neuen Servicewellen vor und dokumentiert damit frühzeitig die Entstehung des heute verbreiteten Formatradios (vgl. Vowinckel 1995, 230). Ein kritischer Ansatz entsteht daraus, dass ein Programmtag auf das Gerüst der Ansagen und Absagen, Erkennungsmelodien und Signale reduziert wird. Die Inhalte, auf die verzichtet wird, erscheinen als sekundär, eigentlich unwichtig. „Kriwets Stück zeigt in seiner Zusammenziehung des Programmschemas, wie sehr ein ganzer Sender vom Collagecharakter dominiert ist.“ (Ebd., 232). Wer für einige Zeit nicht hinhört, versäumt nichts; das Radio ist zum Nebenbei-Medium geworden. Der bekannteste dieser ‚Hörtexte‘, der noch zu untersuchen sein wird, heißt ONE TWO TWO (WDR 1969), ein weiterer Dschubi Dubi (HR/WDR 1977), in dem Kriwet sich vornimmmt, „die Lautsprache des Schlagers in ihren unterschiedlichen, chorischen und solistischen Erscheinungsweisen“ zu demonstrieren (Kriwet, zit. n. HörDat). Im Unterschied zu Harig und Wolf arbeitet Kriwet hier mit Elementen der Popmusik und der Popkultur im weitesten Sinn. In seiner ausführlichen Analyse von ONE TWO TWO stellt Ingo Kottkamp fest: „Unsere Zeit hat noch klarer ausgeprägt, was Kriwet schon geahnt hat: auch Politikerreden werden zu Pop, wenn sie, zu kurzen Statements zurechtgestutzt, durch die Nachrichtensendungen geistern“ (Kottkamp 2001, 20). Als ONE TWO TWO entstand, beherrschte die Popmusik 6
Ingo Kottkamp widmete diesem Phänomen 2001 seine Studie „Stimmen im Neuen Hörspiel“.
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noch nicht die allermeisten Radioprogramme, aber ihr Siegeszug begann und wurde in manchen Hörspielen bereits vorweg genommen. Anders als im späteren Radioselbst werden in ONE TWO TWO die sprachlichen und (pop-)musikalischen Inhalte der Sendungen ebenso zum Material wie diese Sendungen selbst mit ihrem spezifischen Sound, einschließlich der Werbeunterbrechungen. Hinzugefügt sind LiveMitschnitte und Studioaufnahmen. Auch wenn der Autor behauptet, sein Stück habe eigentlich keinen Takt, ist es der Beat, der die Gesamtkomposition strukturiert. Als das Deutschlandradio ONE TWO TWO 1995 wieder sendete, wurde Kriwet als Vertreter der „Lautpoesie“ bezeichnet, womit eine lyrische Erwartung geweckt wurde, die das Stück nicht erfüllt; unmittelbar darauf folgte ein typisches Neues Hörspiel, nämlich Gerhard Rühms rund oder oval, das vom RIAS 1971 produziert worden war. Die Bezeichnungen O-Ton-Hörspiel und Neues Hörspiel entstanden etwa zur gleichen Zeit in den 1960er Jahren. Zuweilen wird das O-Ton-Hörspiel als Subgattung dem Neuen Hörspiel zugeordnet, wie in Klaus Schönings erster großer Textausgabe „Neues Hörspiel“ von 1969, jedoch gibt es Unterschiede (s. Kap. 3.3). Das Pophörspiel hat mit ihnen Schnittmengen gemeinsam, was Intentionen und Verwendung künstlerischer Mittel angeht, ohne in einem von beiden aufzugehen. Dem Feature sind O-Ton- und Pophörspiel näher als dem Neuen Hörspiel. Es ist gefragt worden, wie sinnvoll eine Grenzziehung überhaupt ist, zumal von den bisher oft für das Feature genannten Kriterien ‚Aktualität‘ und ‚Nicht-Fiktionalität‘ zumindest das zweite auch auf Hörspiele zutreffen kann. Vowinckel deutet an, dass es sich um graduelle Unterschiede handelt: „Das Feature zielt also eher auf schnelle, unmißverständliche Vermittlung bestimmter Inhalte, das Hörspiel eher auf selbständige, kritische Auseinandersetzung des Hörers mit dem Material.“ (Vowinckel 1995, 98) Dazu wird der Hörer durch künstlerische Verfahren, vor allem durch Techniken der Collage, das Spiel mit Erzählebenen oder Grenzüberschreitung zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Teilen, herausgefordert, die dem Hörspiel eine vom Feature in der Regel nicht beanspruchte ästhetische Qualität verleihen.
3.3 D AS N EUE H ÖRSPIEL Ein Wort, das in Abhandlungen über das Neue Hörspiel immer wieder zu lesen ist, ist das Wort ‚Experiment‘. Damit stellen sich die Hörspielmacher in eine Tradition der Moderne, die man seit etwa 1885, der Blütezeit des Naturalismus, kennt. Damals versuchten die Dichter aus literarischen Versuchsanordnungen nach dem Vorbild der Naturwissenschaften Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Wirklichkeit zu gewinnen, und zwar vornehmlich der sozialen Wirklichkeit. Dadurch entfernten sie sich zeitweise vom Geschmack des bürgerlichen Publikums, das seine Kunster-
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wartungen nicht erfüllt sah, wenn auf der Bühne elende Wohnmilieus, stammelnde Betrunkene und tuberkulosekranke Kinder gezeigt wurden. Peter Szondi interpretierte solche Formen des modernen Theaters als Krisenerscheinungen des klassischen Dramas sowie als Versuche zur Rettung der dramatischen Form. Boris Groys bringt das Verhältnis von Publikum und künstlerischer Avantgarde in der Moderne auf eine einfache Formel: „Nun ist die Moderne ein Codewort für die unübersehbare Kluft zwischen dem Geschmack der kreativen Klasse und dem Geschmack der Mehrheit der Gesellschaft.“ (Groys 2012) Und weiter: „Wollte die moderne kreative Klasse Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts innovativ und ästhetisch progressiv werden, dann musste sie sich von der Tradition absetzen oder sogar mit ihr brechen.“ (Ebd.) Dieser Traditionsbruch konnte sich auf unterschiedliche Weise vollziehen: naturalistisch, das heißt, die Kunst konnte Ausschnitte der Wirklichkeit abbilden, die sie vorher gemieden hatte; ästhetizistisch, symbolistisch im Sinne der Wiener Moderne, die sich als ‚Nervenkunst‘ verstand, als Darstellung bisher vorborgen gebliebener Seelenzustände mit einer Tendenz zur Autonomisierung der Kunst; schließlich futuristich, ganz auf das Material und seine Kombinationsmöglichkeiten, auf Verfremdung, Dekontextualisierung, Montage konzentriert (vgl. Grimminger 1995, 22f.). An diese Tradition schließt sich das Neue Hörspiel an. Wenn Sprache zum Spielmaterial wird, ist sie nicht mehr primär ein Kommunikationsmittel mit unittelbarer Mitteilungsfunktion auf der Inhalts- oder Beziehungsebene. Aus pragmatischen Zusammenhängen herausgelöst, fordert sie zur Reflexion über ihre Strukturen und Funktionen auf: lautliche, morphologische, grammatische, aber auch pragmatische, wenn mit den Sprechakten selbst experimentiert wird. Andererseits werden, jenseits von Reflexion und Metareflexion, Präsenzphänomene erlebbar, etwa wenn Artikulationsvarianten von Sprachlauten vorgeführt werden oder durch exzentrische Stimmführung die Grenze zur Musik überschritten wird. Ein Beispiel ist Franz Mons Lautspiel ausgeartetes auspunkten (HR 2007), das im Rahmen eines Spiels um Wörter mit dem Vokal a Elemente wie Tempo, Stimmqualität, Stimmhöhe, Dynamik sowie parasparachliche Mittel wie Lachen, Aufstoßen, Schluckauf usw. verwendet. Hinzu kommt beim Neuen Hörspiel, „daß in ihm das Hörspiel sich selbst zum Problem wird“, wie Helmut Heißenbüttel einmal festgestellt hat (zit. n.: Döhl 1992, 61). Es macht sich selbst zum Thema, was schon Titel deutlich machen wie: Hörspiel (Peter Handke, 1968) oder Paul oder Die Zerstörung eines Hörbeispiels (Wolf Wondratschek, 1969). Wenn ein Geräusch als ‚Geräusch‘ angekündigt oder als ‚Hörspielgeräusch‘ an irgendeiner Stelle im akustischen Geschehen vorgeführt wird, ist der Hörer irritiert und beginnt darüber nachzudenken, was er sich bisher unter einem Hörspiel vorgestellt hat. Wolf Wondratschek formuliert diese Erwartung ausdrücklich in seinem Hörbeispiel über den LKW-Fahrer Paul und seine me-
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diale Lebenswelt. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass der Hörer entnervt sein Radio abschaltet. Noch einmal ist der Abstand der künstlerischen Avantgarde vom Massenpublikum hergestellt. Die Fachwelt hingegen feiert die neue Form: In zwei aufeinander folgenden Jahren erhielten Neue Hörspiele den gewöhnlich als „renommiert“ bezeichneten Hörspielpreis der Kriegsblinden: 1968 Ernst Jandl und Friederike Mayröcker für Fünf Mann Menschen und 1969 Wolf Wondratschek für seinen Paul. Beide entsprechen noch nicht dem heutigen Standardformat für Hörspiele von ca. 53 Minuten, gerade so lang, dass sie zwischen zwei Nachrichtensendungen passen. Fünf Mann Menschen ist nur 14 Minuten lang und doch inhaltlich und im Hinblick auf die verwendeten akustischen Mittel im Grunde abendfüllend. Gleiches gilt für Wondratscheks 26 Minuten langes Hörstück. Beide setzen gezielt die neue Stereofonie ein und verlassen damit den durch die Monofonie bestimmten „Raum des Bewusstseinsstroms“ (Klippert 1977, 19). Die Monofonie, die den Szenenwechsel durch Blende begünstigt, gilt als technische Sphäre des traditionellen Hörspiels, das letztlich ‚raumlos‘ funktionierte und daher, etwa von Schwitzke, den Zeitkünsten zugerechnet wurde (vgl. Schwitzke 1963, 25ff.). Über die Möglichkeiten der Stereofonie im Hörspiel gingen die Meinungen auseinander. Werner Klippert, ein Rundfunkpraktiker, schreibt der Stereofonie einen Informationszuwachs zu, der zur Folge habe, „daß das akustische Geschehen jetzt in den Raum vor den Hörer verlegt wird. Zwischen ihn und das Geschehen legt sich eine räumliche Distanz“ (Klippert 1977, 20). Durch die Distanzierung wird der von den Autoren des Neuen Hörspiels intendierte Reflexionsvorgang beim Hörer gefördert, insbesondere wenn die Verteilung der Stimmen und Geräusche auf die beiden Kanäle vordergründig unmotiviert erscheint. Schwitzke behauptet 1969 in seinem „Hörspielführer“: „Es hat sich nämlich als zweifelsfrei herausgestellt, daß die realistische Verwendung des RechtsLinks-Prinzips (etwa durch Einführung von Positionen und Gängen wie auf der Bühne) für das Hörspiel gänzlich uninteressant, ja hinderlich ist.“ (Schwitzke 1969, 16) Aber um die realistische Verwendung dieses Prinzips ging es im Neuen Hörspiel gerade nicht. Es ging darum, sprachliches und sonstiges akustisches Material in neuen, ungewohnten Kontexten vorzuführen, dadurch automatisierte Wahrnehmungsvorgänge zu stören und neue Verstehensprozesse in Gang zu setzen. Das wurde auch durch technische Verfremdungsmittel versucht, wie z.B. von Paul Pörtner in seiner Schallspiel-Studie (BR 1964), in der eine Stimme fortschreitend elektronisch zerlegt und verzerrt wird. Viele Autoren waren nun davon begeistert, dass sie den Schreibtisch verlassen konnten und im Studio direkt an der Produktion ihrer Stücke beteiligt waren. Ihre Hörspiele waren weiter denn je davon entfernt, Literatur zu sein, man testete bewusst die Grenze zur Musik aus, was auch daran deutlich wird, dass zunehmend zeitgenössische Komponisten, vor allem Mauricio Kagel, sich im Hörspielbereich betätigten.
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Neben dem Hang zum Experiment hat das neue Hörspiel eine Tendenz zum Antihierarchischen, ohne politisch zu werden wie manche O-Ton-Hörspiele. Vielleicht passte es in das antiautoritäre Umfeld der 1960er Jahre. Heinz Schwitzke hat die Widerständigkeit des Neuen Hörspiels durchaus richtig erfasst, wenn er exemplarisch Pörtners Schallspielstudien als „herausforderndes ‚antiliterarisches‘ Paradox“ einordnete (Schwitzke 1969, 17), allerdings tat er die neuen Hörspieltheorien und ihre Realisationen als Zeiterscheinungen ab, die dem Wesen des eigentlichen Hörspiels fremd seien. Konsequent bestand er auf dem Primat der Sprache im Hörspiel, während das Neue Hörspiel kein Primat mehr zuließ. Musik, Geräusch, Klang hatten keine illustrierende oder, passend zum Text, Stimmungen erzeugende Funktion mehr, Sprachlaute mussten nicht mehr Bedeutungen transportieren, Sprechakte mussten nicht mehr auf intendierte Anschlusshandlungen zielen, sondern konnten einfach vorgeführt werden, das Material wurde Prinzipien der Reihung, Variation, Anordnung, Rhythmisierung unterworfen, polyphone Strukturen, unterstützt durch die Stereofonie, forderten die Aufmerksamkeit (und auch den guten Willen) des Hörers aufs Äußerste. Scheinbar Nebensächliches wurde zur Hauptsache wie in Mauricio Kagels (Hörspiel) Ein Aufnahmezustand (WDR 1970), das das, was bei Orchsterproben und Musikaufnahmen gesagt wird, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Das umfangreiche Tonbandmaterial wurde dem Publikum nur deshalb in relativ kleinen „Dosen“ verabreicht, weil das Sendeschema des Rundfunks eine zusammenhängende Sendung nicht erlaubt hätte. Die Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden führte in der Begründung für die Preisverleihung an Jandl/Mayröcker an, diese zeigten in Fünf Mann Menschen „exemplarische Sprach- und Handlungsvorgänge, in denen der zur Norm programmierte menschliche Lebenslauf nicht abgebildet, sondern evoziert“ werde (zit. n. Döhl 1992, 5f.). Zweifellos gilt für alle Neuen Hörspiele, dass sie keinen mimetischen Kunstanspruch erfüllen. Jedoch war die Evokation von Vorstellungen durch ungewöhnliche sprachliche Bilder eher das Ziel der Symbolisten des Fin de siècle, während das Neue Hörspiel sich zunächst mit dem Zeigegestus begnügt. Jandl und Mayröcker kam es vor allem darauf an, durch das Spiel mit dem (Sprach-)Material Verwunderung und Überraschung zu schaffen und dadurch den Hörer „wirklich zu spannen“ (Jandl/Mayröcker 1970, 91). Damit das gelingen konnte, mussten die Sätze kurz sein, lange Satzperioden liefen dem Programm zuwider. Der von den Autoren behauptete Vorrang der Sprache kann allerdings für Fünf Mann Menschen mit einigem Recht in Frage gestellt werden, denn andere Klänge sind hier gleichberechtigte Spielteilhaber. Reinhard Döhl zitiert einen Kommentar der FUNKKorrespondenz, der dem Stück Popaspekte abgewinnt: „Es hat etwas von dem Appeal und der Leichtigkeit der Beat-Generation. Pointen ergeben sich aus listig verdrehten Sprachklischees, es herrscht der Pop.“ (Zit. n. Döhl 1992, 6) Die Grenzen zwischen dem Neuen Hörspiel und dem Pophörspiel sind ebenso durchlässig wie die zum O-Ton-Hörspiel. In seinem Hörspiel baut Peter Handke ei-
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ne sprachtheoretische Versuchsanordnung mit der Überschrift ‚Verhör‘ auf, bei deren Rezeption der Hörer die Frage nach der Textkohärenz nur durch Reflexion und Metareflexion auf Sprechakte und Spiegelungsvorgänge beantworten kann. Das Stück ist ein Klassiker des Neuen Hörspiels, das nicht nur mit der Sprache, sondern auch mit den Möglichkeiten des Hörspiels spielt, indem es Geräusche nicht als ‚Geräusche‘, sondern als ‚Hörspielgeräusche‘ einsetzt; so sind sie im Text bezeichnet und so nimmt der Hörer sie aufgrund des ‚Ortes‘, an dem sie laut werden, wahr. Der Rahmen für das ähnlich konzipierte Hörspiel Nr. 2 mit der Grundsituation ‚Taxifunk‘ ist der berühmte Blues Hey Joe von Jimi Hendrix. Es ist bezeichnend, dass in dem Song ein Frage-Antwort-Spiel vorgeführt wird und sein Text somit nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern eine Kommunikationssituation wiedergibt wie die beiden kurz nacheinander verfassten Hörspiele Handkes. Laut Text sollte am Ende des Hörspiels Nr. 2 John Lennons Schrei von der Seite 3 der LP „The Beatles“ (gemeint wohl: das Weiße Album), der Schluss der Nummer Helter Skelter: „I got blisters on my fingers!“ zu hören sein. Heinz von Cramer lässt dies in seiner Inszenierung von 1970 weg und lässt das Stück mit Hey Joe und der damit verkoppelten katholischen Liturgie ausklingen. Ob es sich um ein Pophörspiel handelt, wird zu untersuchen sein, jedenfalls sind popkulturelle Einflüsse unüberhörbar. Gleiches gilt für Helmut Heißenbüttels (1921-1996) Collage Was sollen wir überhaupt senden? (SDR/SFB 1970), die unter anderem deshalb als parodistische Vorführung des Radioprogramms aufgefasst werden kann, weil sie die Grenzen zwischen U- und E-Musik konsequent ignoriert und aus Deep Purple, Jazz, Operette, klassischer Symphonie, Bachscher Fuge teils ein Potpourri, teils eine große Kakophonie macht. Mit dem Baden-Württembergischen Landfunk, der immer wieder versucht, ‚Pflaume‘ von ‚Zwetschge‘ definitorisch zu unterscheiden, und mit semiotischen sowie kommunikations- und medientheoretischen Textfragmenten, die auch Brechts „Radiotheorie“ nicht aussparen, werden amüsante Kontraste geschaffen, die umso komischer wirken, als zunehmend alles gleichzeitig erklingt. Am Ende werden die Radiotheoretiker, die danach fragen, was überhaupt gesendet werden solle, von all dem, was täglich gesendet wird, massiv übertönt. Das Wort von „dem Appeal und der Leichtigkeit der Beat-Generation“ (s.o.) ist auf dieses experimentelle Hörstück sicherlich auch anzuwenden. Das Neue Hörspiel verschloss sich nicht vollständig den Tendenzen der Postmoderne und näherte sich, wie die Beispiele zeigen, der Popkultur an, jedoch verdankt sich seine Entstehung wohl doch überwiegend der Tradition der klassischen Moderne. Der Regisseur Heinz Hostnig zeigt dies in einem programmatischen Aufsatz mit dem Titel „Hörspiel – Neues Hörspiel – Radiospiel“ (Hostnig 1982). Darin begründete er die Notwendigkeit eines Neuen Hörspiels aus Entwicklungen der Naturwissenschaft (Quantentheorie), der Linguistik (Saussures Modell des Sprachzeichens), der Semiotik (Charles S. Peirce), der modernen Kunst (Picasso, Kandinsky, Mondrian usw.), der neuen Musik (Schönberg, Webern, Berg), der modernen Literatur (Joyce), der Philosophie und Ästhetik
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(Walter Benjamin). Das Hörspiel hingegen sei lange Zeit bei einer Ästhetik des 19. Jahrhunderts stehen geblieben. Seine Erneuerung, seine Anpassung an die Moderne sei überfällig gewesen. Im engeren Sinn wird das Neue Hörspiel oft in folgende Tradition gestellt: Mallarmés Gedicht „Un coup de dés jamais n’abolira le hasard“, der Dadaismus (Schwitters, Hugo Ball usw.), die russischen Formalisten (Viktor Chlebnikov), der Lettrismus (Isidore Isou), der Nouveau Roman (Sarraute, Butor); schließlich wird auf wechselseitige Einflüsse der Konkreten Poesie und des Neuen Hörspiels hingewiesen, die sich etwa gleichzeitig entwickelten und die sich auf die gleiche Tradition beriefen. Manche Autoren (wie z.B. Gerhard Rühm) schrieben parallel Konkrete Poesie und Neue Hörspiele. Nicht zuletzt beruft man sich auf Vorbilder aus der Hörspielgeschichte der zwanziger und frühen dreißiger Jahre (Walter Ruttmann, Friedrich Bischoff, Brecht). Franz Mon sieht den Sinn der Neuen Hörspiele in ihrem Modellcharakter und insistiert auf ihrer aufklärerischen Funktion: „Auf die stereotyp wiederkehrende Klage: solche Stücke seien unverständlich, kann nicht dadurch reagiert werden, daß das Maß an Verständlichkeit der Stücke erhöht wird, sondern nur so, daß das Maß an Verstehensfähigkeit bei den Hörern vergrößert wird. Der andere Weg hieße, die Augen und Ohren verschließen vor der unerhörten Quanität an Noch-nichtverstehbarem, an Nicht-verstehbarem in unserer Gesellschaft.“ (Mon 1982, 93)
Dagegen gelten satirischer Witz, Parodie, Persiflage, Spiel mit der Gattung (Roman, Bühnenstück, Hörspiel) und ihrem Medium als wesentliche Merkmale des Pop und machen, nach Leslie Fiedler, Susan Sontag und anderen Theoretikern, die Grenze zwischen Elite- und Massenkultur durchlässig. Die Begriffsverwendung von Popkultur und Postmodernismus ist dabei fließend. „Postmoderne Kunst ist einfach und muß erlebt werden; moderne Kunst dagegen bezieht sich auf eine hinter ihrer äußeren Form verborgene Bedeutung und muß verstanden werden.“ (Bertens 1987, 52, Hervorhebungen im Text) Diese Beschreibung unterschiedlicher Rezeptionsweisen von Kunst spielt auch in den wenigen bislang vorliegenden Versuchen, das Pophörspiel zu definieren oder wenigstens zu charakterisieren, eine Rolle.
4. Definition des Pophörspiels
Im Unterschied zum Neuen Hörspiel, das seit ca. 1970 eine Flut von Publikationen hervorgebracht hat – zu nennen sind vor allem die drei von Klaus Schöning herausgegebenen Sammelbände –, in denen sich Autoren, Regisseure, Radiopraktiker zu Wort melden, ist es um das Pophörspiel merkwürdig still geblieben. Gelegentlich wird das Wort als Gattungsbezeichnung verwendet, ohne dass es je zureichend definiert worden wäre. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass zwei Diskurse zusammengeführt werden müssten, zwischen denen es bislang kaum Interferenzen gibt: der Pop-Diskurs und die Hörspieltheorie. Weder interessieren sich Poptheoretiker besonders für das Hörspiel, noch nehmen Hörspieltheoretiker hinreichend Impulse aus den Diskussionen über die Popkultur auf. Es gibt aber die Wahrnehmung, dass sich spätestens seit den frühen 1970er Jahren im Hörspiel etwas verändert hat, das benannt werden musste. In Anlehnung an den bereits existenten Begriff Popliteratur nannte man es Pophörspiel (manche schrieben die Wörter auch mit Bindestrich: Pop-Literatur und Pop-Hörspiel). In einem Aufsatz über „Musik im Hörspiel“ von 2009 wundert sich HansJürgen Krug darüber, dass es „überraschenderweise“, bis auf den ersten Versuch von Kapfer aus dem Jahr 1997, an Untersuchungen fehle (Krug 2009, 138). Er selbst verwendet in seiner zuerst 2003 erschienenen „Kleine(n) Geschichte des Hörspiels“ gelegentlich das Wort ‚Pop-Hörspiel‘ (Krug 2003, 123; 2008, 89ff.). In dem erwähnten Aufsatz gibt es die Unterkapitel „Beatles, Rolling Stones – PopHörspiele“, „Musikhörspiel zwischen Pop und Avantgarde“ sowie „Hörspiel-Pop“ (diese Bezeichnung wird auch in der 2. überarbeiteten Auflage der „Kleinen Geschichte des Hörspiels“ verwendet; Krug 2008, 126). Das ‚Pop-Hörspiel‘ wird im Wesentlichen als eine Zeiterscheinung der 1970er und allenfalls noch 1980er Jahre aufgefasst, die dann wieder abebbte und von vielfältigen Hörspielen verdrängt wurde, in denen Pop eine Rolle spielte. Aber welche? In Anlehnung an Kapfer spricht Krug von „musikalisch definiertem Hörspiel-Pop“. (Krug 2009, 142) Krug scheint der Auffassung von Götz Schmedes zuzuneigen, dass das ‚Pop-Hörspiel‘ im engeren Sinne dadurch zu bestimmen sei, dass Popsongs hier nicht nur Beiwerk, sondern
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für die ästhetische Gestalt prägend sind. Schmedes schreibt über drei Hörspiele von Alfred Behrens aus den Jahren 1971/72: „Das für alle drei Stücke charakteristische Stilelement, Einspielungen von Original-Popsongs länger als für Hörspiele üblich und nicht nur als illustrierende Hintergrundmusik einzusetzen, sich deren Popularitätsgehalt also zu eigen zu machen, hat primär die Funktion, auf sich selbst und damit auf das spezielle Genre zu verweisen.“ Dann zitiert er Behrens mit der Aussage, er habe „immer schon mal ein Musikhörspiel“ schreiben wollen, und definiert schließlich das „Pop-Hörspiel“ so: „Als Zitate sind die Original-Songs nicht nur dramaturgische Bestandteile der Hörspiele, sondern stehen auch für ihre ursprünglichen Bedeutungszusammenhänge, und daher nicht für Pop-Kultur im Allgemeinen, sondern konkret für die Szene der sechziger und frühen siebziger Jahre. Indem die Musik nicht nur als Akzent einer vornehmlich an narrativen Erzählstrukturen orientierten Dramaturgie, sondern als eigenständiger, den Gang der Narration selbst vorantreibender und in semantischer Korrelation mit dem Wortlaut verschränkter Anker für die Vorlieben einer bestimmten Hörergruppe fungiert, macht sie die Hörspiele selbst zu PopStücken.“ (Schmedes 2002, 128)
Nicht nur von Alfred Behrens gibt es Stücke, die diesem Imperativ gehorchen, allerdings nicht sehr viele. Zu ihnen hinzurechnen könnte man solche Hörspiele, in denen die Musikstücke zwar nicht in extenso ausgespielt werden, jedoch durch das Anspielen etwa eines bekannten Motivs oder Refrains im Hörer permanent präsent bleiben, zumal wenn sie Titel gebend sind. Ein Beispiel dafür ist das Stück Working Class Hero von SEROTONIN (SWR 2009). Problematisch ist die Beschränkung auf die Musikszene der 1960er und frühen 1970er Jahre, denn die Popmusik entwickelte sich weiter und mit ihr das Hörspiel, das sich ihrer als Gestaltungsmittel bedient oder sich von ihr die Themen holt. Zweitens ist zu fragen, weshalb außer der Musik nicht auch andere Erscheinungen der Popkultur, künstlerische und alltagskulturelle, für das Pophörspiel stilbildend sein sollen. Das würde zu einer erheblichen Erweiterung des Korpus führen. Blättert man Herbert Kapfers Essay von 1997 durch, so findet man vieles, was vor allem Einfluss auf das Neue Hörspiel ausgeübt hat und entweder gar nicht oder nur im weitesten Sinn zur Popkultur gezählt werden kann: die Neue Musik, die konkrete Poesie, die Kunst der „Wiener Gruppe“, die Dadaisten und Futuristen, die Lettristen, den nouveau roman und die amerikanischen Beatniks. Offenbar sah Kapfer eine enge Verwandtschaft zwischen Neuem Hörspiel und Pophörspiel, was in den 1960er Jahren sicherlich zutraf. Verwiesen sei nur auf Handke, auf Jandl/ Mayröcker und auf Heißenbüttel. Auch Friedrich Knilli kommt zu Wort und wird mit dem Satz verabschiedet: „So viel zu Knilli, der ganz schön hip war. Ciao.“ (Kapfer 1997, 11) Der Text gibt sich mit solchen Formulierungen und knalligen Überschriften selbst ein bisschen poppig, weniger systematisch. Aber einmal muss
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doch gefragt werden: „Gibt es ein ‚Pop-Hörspiel‘?“ (Ebd.) Der Autor stellt dazu eine Reihe von Fragen, die er, das sei vorweggenommen, nicht beantwortet, die aber dennoch hier zitiert seien, weil sie das Phänomen auf treffende Art umkreisen: „Geht es um Stücke, die sich thematisch mit den Mythen und Kultfiguren der populären Kultur beschäftigen? Zum Beispiel James Dean, John Lennon, Amerika? Geht es um literarische und musikalische Techniken des Pop oder um die Art und Weise, wie Pop mit diesen Techniken spielt: Collage, Montage, Zitat, non-ideologischer Gebrauch von Geräusch-, Sprach- und Musikmaterial? Welche Elemente sind pop-typisch? Gibt es eine Ästhetik des Pop? Gibt es spezielle Produktionsformen? Oder geht es um Stücke von Pop-Künstlern, Literaten, Musikern, die ein Pop Selbstverständnis haben? Oder waren Elemente des Pop nur in einer kurzen Phase, zu Ende der sechziger Jahre, Impulsgeber für das Hörspiel? Oder werden die Einflüsse des Pop erst heute allmählich erkenn- und hörbar? Gibt es eine Hörspielzukunft ohne Pop?“ (Ebd.)
Die letzte Frage kann man, mit Blick auf das, was seither produziert und gesendet wurde, getrost verneinen. Zweifellos waren Elemente des Pop nicht nur in einer kurzen Phase, Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, Impulsgeber für das Hörspiel. Zweifler, die den Begriff besonders eng gefasst wissen wollen, werden sich durch die ‚akustischen Comic-Strips‘ Phil Perfect erzählt: Legenden des Rock ’n’ Roll von Serge Clerc und François Gorin, produziert vom WDR 1994-96, überzeugen lassen, dass die Entwicklung des Pophörspiels seit den 1970er Jahren weitergegangen ist. Die anderen Fragen stecken einen weiten Rahmen ab: von den Kultfiguren und Lifestyle-Phänomenen (offenbar gemeint mit „Amerika“) bis zu Material, Techniken, Spiel mit diesen Techniken und Produktionsformen. Die Definition des Pophörspiels als neuer Gattung der Kunstform Hörspiel ließe sich darauf sicherlich aufbauen, jedoch verzichtet Kapfer darauf. Interessante Überlegungen, die die Fragehaltung bei Weitem transzendieren, stellt Martin Maurach in seinem Essay „Pop und Neues Hörspiel“ an, der in einem Heft der Zeitschrift Text + Kritik zum Thema „Pop-Literatur“ erschienen ist. Jedoch zählt Maurach das Pophörspiel keineswegs zur Literatur, sondern argumentiert durchaus medienspezifisch, indem er sich auf die „Gestalttheorie“ der Wahrnehmung, speziell des Hörens, beruft. Trotz der Kürze seines nur wenige Seiten umfassenden Aufsatzes entwickelt der Autor eine Art normativer Pop-Ästhetik, die er zum Maßstab des gelungenen Pophörspiels macht. Es ist bezeichnend, dass er, ganz im Gegensatz zu Schmedes, die Zugehörigkeit von Alfred Behrens’ Hörspiel John Lennon, Du mußt sterben (SWF 1971) zu dieser Gattung in Frage stellt: „Dagegen machen bloße ausgiebige Zitate einschlägiger Musiktitel ein Hörstück nicht notwendigerweise zum Pop-Hörspiel.“ (Maurach 2003, 110). Welche Bedingungen muss es also erfüllen, um ein solches zu sein?
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Maurach postuliert für den Pop eine Hierarchie-Umkehr der Wahrnehmung im Verhältnis von ‚Figur‘ und ‚Hintergrund‘. Während in der von Handlungsdruck entlasteten Situation des Kunstgenusses komplexe Phänomene zur ‚Figur‘ würden, also differenziert wahrgenommen werden könnten, blendeten wir sie unter dem Handlungsdruck des Alltags eher aus und konzentrierten uns auf einfache, aber auffällige Signale. Als Beispiel drängt sich eine Symphonie, etwa von Beethoven oder Brahms, auf, die mit ihren komplizierten harmonischen und formalen Strukturen unsere ganze Aufmerksamkeit beansprucht – wenn wir im Konzertsaal sitzen. Vermutlich wäre es sinnlos, sich ein solches Kunstwerk anzuhören, wenn wir beim Einkaufen sind oder noch den Bus erreichen müssen und gerade eine verkehrsreiche Straße zu überqueren haben. Beim Pop nun komme es zu einer „sozusagen kontrafaktische(n) Übertragung von Maßstäben des einen Situationstyps auf den anderen“. (Maurach 2003, 105) Obwohl wir handlungsentlastet sind und uns auf das komplex Strukturierte konzentrieren könnten, machen wir „das einfachere Schema zur Figur. […] So kommt es zum Vergnügen an ‚banalen‘ Gegenständen, die von ihren ästhetischen Qualitäten her eher zur raschen Handlungsorientierung dienen: Reiz-, Werbungs- und Alarmsignale erscheinen als ästhetische Momente.“ (Ebd.) Hier sind wir bei dem, was die Pop-Theorie „Oberflächenästhetik“ nennt. Z.B. spricht Hecken von einer „Neubewertung des Oberflächlichen“ (Hecken 2009, 265) und der Zurückweisung der „traditionelle[n] Verurteilung der Oberflächlichkeit“ (ebd.) aus philosophischen, religiösen oder ästhetischen Gründen durch die Anhänger des Pop. Während aber Maurach unterschiedliche Abläufe der Wahrnehmung mit dem Begriff „Hierarchie-Umkehr“ beschreibt, spricht die Pop-Theorie von einer „Umwertung“ dessen, was früher als ästhetisch minderwertig oder belanglos angesehen wurde. Die Oberfläche des (scheinbar?) Lebensweltlich-Banalen wird gegen die Priester der traditionellen Hochkultur ins Feld geführt. Pop bemächtigt sich eines bisher als unkünstlerisch geltenden Materials und generiert daraus eine Protestkultur, die über längere Zeit überwiegend als Jugendkultur galt (vgl. das Kap. „PopGegenkultur.“ bei Hecken 2009, 271ff.). Neben der politischen hatte diese Protestkultur immer auch eine gesellschaftliche und moralische Stoßrichtung. Sie richtete sich gegen die bürgerliche Arbeitswelt mit ihrer Effizienzorientierung, ihrem Materialismus und Antihedonismus, gegen die protestantische Ethik und, in den USA, den Puritanismus.1 Für diese Dimensionen von Pop und Protest interessiert sich Maurach allerdings nicht, sondern er bleibt strikt auf dem Feld der Ästhetik und fragt nach dem Verhältnis des Pop zur ‚experimentellen‘ Kunst. Hier findet er einen Berührungspunkt im Verfahren der Collage, welches in der Tat vom Neuen Hörspiel oft genutzt wurde. Dass damit das „Gestaltergänzungsvermögen“ der Hörer gefordert wird, ist für 1
Vgl. z.B. Gay Talese: „Du sollst begehren. Auf den Spuren der sexuellen Revolution“. Berlin 2007 (zuerst 1980 unter dem Titel „Thy Neighbor’s Wife“).
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den Autor von zentraler Bedeutung. Die in dem Aufsatz folgende Untersuchung einiger Hörspiele, die als Pophörspiele in Frage kommen, macht „Irritationen und Ambivalenzen“ zum Maßstab nicht nur ihrer Bewertung, sondern auch ihrer Zuordnung zur Gattung Pophörspiel. Dieses wird gewissermaßen hochkulturell aufgewertet. Bloße sinnliche Qualitäten werden als ornamental oder illustrativ abgewertet. Beispiel: Zur von Barbara Schäfer realisierten Neuinszenierung von Alfred Anderschs Collage Der Tod des James Dean (BR 1997) schreibt Maurach: „Wo immer die Texte sich gegen ein sofortiges ‚lineares‘ Verstehen sperren, wird ein Eintauchen in die verschiedenen Formen und Stile der meist rhythmusbetonten Begleitmusik angeboten.“ (Maurach 2003, 107) Gefordert ist demnach nicht Eintauchen, sondern intellektuelle Beschäftigung mit der selbstreflexiven Struktur des Hörspiels. Abgewertet wird die „bloße Klangtapete“ (ebd., 111), hoch geschätzt hingegen werden Stücke mit Leerstellen, die vom Hörer Eigenaktivität verlangen – wie etwa in dem bereits erwähnten Hörtext V: ONE TWO TWO von Ferdinand Kriwet, dem Maurach „eine Balance von Komplexität und Eingängigkeit“ attestiert (ebd., 110). Besonders vorbildhaft erscheint dem Autor Rolf Dieter Brinkmanns Hörspiel Auf der Schwelle (WDR 1971), weil es die auf ein triviales Krimischema zielende Rekonstruktionsleistung des Hörers durch irritierende Elemente immer wieder in Frage stellt. Bei der genaueren Untersuchung dieses Hörspiels wird zu fragen sein, ob der Hörer es nicht auch anders rezipieren kann, nicht nach einem syntagmatischen Zusammenhang suchend, sondern eben wie einen „Klangteppich“, der durch Abwechslung und Wiedererkennen schlicht Vergnügen bereitet. Die Elemente setzen sich nicht linear zu einer Art Krimihandlung zusammen, sondern stehen paradigmatisch für diverse Produktionen der Populärkultur: ein kleines, aber prall gefülltes Archiv aus Geräuschen, Musik, Stimmen, von denen dem Rezipienten viele bekannt vorkommen, präsentiert mit Raumklang, Hall, Kanalwechsel und anderen Effekten. Letztlich will Maurauch offenbar nicht gute von schlechten Pophörspielen unterscheiden, sondern diese Gattung selbst entsprechend einem von der AvantgardeKunst stammenden Anspruch definieren. Nicht die Hierarchie-Umkehr der Wahrnehmung ist das Definitionskriterium, sondern das gelungene Spiel mit dem Verhältnis von Figur und Hintergrund, die Herausforderung an den Hörer, „selbst aktiv Wahrnehmungshierarchien umzukehren“ (Maurach 2003, 109), selbstreflexive Strukturen zu erkennen, nicht zerstreut, sondern aktiv und konzentriert zu rezipieren. Schon Wondratschek mit seinem preisgekrönten Hörspiel Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels (WDR/BR/HR/SR 1969) macht es demnach dem Hörer zu einfach, indem er die Fiktion immer wieder explizit durchbricht. Brinkmann tut dies nicht, sodass ihm nach Maurach „das konsequentere Pop-Hörstück gelungen“ ist (ebd., 114). Dass man den avantgardistischen Pop auch ganz anders sehen kann, zeigt Markus Heidingsfelder in seiner systemtheoretischen Untersuchung des Pop-Phäno-
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mens. Für ihn sind der Pop-Rahmen2 und die durch ihn ausgelöste Erwartung, etwas sei Pop, entscheidend für die Wahrnehmung von Pop-Erzeugnissen. Das „close the gap“ ist nicht Sache des Systemtheoretikers, vielmehr besteht er auf der Unterscheidung Kunst / Nicht-Kunst = Pop und schreibt letzterem die Eigenschaft der ‚Einfachheit‘ zu, welche wiederum dem Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion in einer überkomplexen Welt Rechnung trägt. Während Kunst „nicht auf schnelle und leichte Anschlüsse aus [ist]“ und daher kaum „als Gegeninstanz [taugt], um dem modernen Kontingenzbewusstsein Halt zu geben“ (Heidingsfelder 2012, 111), leistet Pop genau dies. Wenn nun in der Popmusik die Grenzen der Einfachheit immer wieder ausgetestet wurden, z.B. in dem Stück Revolution No. 9 der Beatles, so bleibe der poptypische nicht-reflexive Wahrnehmungsmodus doch der gleiche wie bei den einfachen Hits von dreieinhalb Minuten Länge. Heidingsfelder belegt diese Ansicht mit Lennon-Zitaten zu dem Stück, die den auf die Oberfläche der Tonschnipsel konzentrierten spielerischen Produktionsmodus belegen (ebd., 342). „In der Regel wird weder beim Popmachen noch beim Pophören mitreflektiert, was durch eine bestimmte Tonfolge ausgeschlossen wird […] Alles steht im Pop im Dienst von Erlebnisintensitäten.“ (ebd., 343) Die bisherige Betrachtung hat gezeigt, dass von zwei Seiten normative Ansprüche an popkulturelle Erzeugnisse – bewusst sei nicht von Kunstwerken gesprochen – herangetragen werden, die diese in unterschiedlichem Maße erfüllen oder eben nicht, die aber nicht als Definitionskriterien für das Pophörspiel taugen. Der eine Anspruch ist der ästhetische, der Pop nur als Avantgarde-Kunst gelten lassen will und seine massentaugliche Seite als künstlerisch minderwertig qualifiziert. Hier stellt sich die Frage nach den Maßstäben. Ist ein Blues-Stück musikalisch wertlos, weil es nur auf drei Harmonien und einem denkbar einfachen Zwölf-TaktSchema beruht? Ist der Jazz eine jämmerliche „zeitlose Mode“, weil er „aufs Recht der Andersheit verzichtet und der Allherrschaft der Profanität sich einordnet“? (Adorno 1976, 161) Der andere Anspruch ist der politische der „kritischen Theorie des Pop“, der schon in früheren Diskussionen vorgetragen wurde: Hecken spricht von den „linkssozialistischen oder ihrerseits gegenkulturellen Kritiker[n] des Pop-Undergrounds“ (Hecken 2009, 273), die eine Art antibürgerlich-antikapitalistischen Überbietungswettwerb in Gang setzten, dem die Popkultur immer hinterher hinkte. Der inzwischen kommerzialisierte Pop wurde durch Underground, Rock, Punk, Grunge usw. 2
Das können z.B. ein Band-Name, ein Pop-Konzert, ein bestimmtes Plattenlabel o.ä. sein. Es sei angemerkt, dass hier ein Grundgedanke Heidingsfelders nur referiert, nicht diskutiert wird. Was er etwa über Texte in Popmusik sagt, kann man auch anders sehen: „Wer über den Text (die mitgeteilte Information) nachdenkt, hat nicht verstanden, worum es geht: nicht nachzudenken.“ (S. 100) Bruce Springsteen, wenn er das läse, wäre not amused.
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ersetzt, konnte aber nie das Maß an Gesellschaftskritik und erst recht nicht -analyse leisten, das von ihm verlangt wurde. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen kommerziellen Verwertern und Künstlern, die sich fantasievoll, oft listig, auch nicht selten selbstzerstörerisch immer neue Spielräume zur Entfaltung ihrer Kreativität erschlossen, ist seit jeher eine Existenzbedingung des Pop gewesen. Es hat gezeigt, dass die Alternative zum großen revolutionären Gestus nicht das Einverstandensein mit den ‚herrschenden Verhältnissen‘ sein muss. So genau Roger Behrens, Hauptvertreter der „kritischen Theorie des Pop“, über Erscheinungen der Popkultur Bescheid wissen mag, so wenig kann er über sie aussagen, weil er in letzter Konsequenz immer nur das Eine sagt: Sie sind sowohl Teil als auch (ästhetischer) Ausdruck der kapitalistischen „Verwertungslogik“. Ihre objektive Funktion bestehe darin, diese Logik zu verschleiern. Von dieser Warte aus gibt es keine Qualitätsunterschiede: „Pop bezeichnet ein Gemeinsames der Musik von der Kelly Family bis Goodspeed You Black Emperor, von Rammstein bis Squarepusher, von Elton John bis Einstürzende Neubauten, von Radiohead bis Merzbow, von Atari Teenage Riot und Joe Zawinul, Gemeinsames von Sex Pistols, Steve Reich und Kristof Penderecki, heute auch Gemeinsames von Beethoven und Beatles.“ (Behrens 2003, 174)
Für das Hörspiel wäre zu ergänzen: Gemeinsames von Hörstücken von Heiner Müller / Heiner Goebbels und den Episoden des Popdetektivs Viktor Berger. Das Gemeinsame ist der „Fetischcharakter der Ware“.3 In einem Aufsatz über Sound, sicherlich auch für das Hörspiel ein wichtiges Thema, vertritt Behrens die These, das Design der Musik sei der Sound (Behrens 2008, 182). Und im Sound verschwinde die Musik, in ihm trete ihr Warencharakter zutage. Müssen wir also nicht mehr genau hinhören, weil wir bereits wissen, was aus unseren Lautsprechern kommt? Wenn ein Saxophonist seinen Sound so entwickeln kann, dass wir ihn nach wenigen Tönen identifizieren können, weil sein Instrument so individuell klingt wie eine menschliche Stimme, so ist das eine besondere Qualität der Musik, neben der aber andere wie Tonalität, Harmonik, Rhythmus keineswegs entwertet werden (wie Behrens behauptet, ebd., 177). Richtig ist allerdings, dass Soundqualitäten schwerer zu beschreiben sind als andere ästhetische 3
Ergänzend hinzudenken muss man sich den Adressaten all dieser Produkte, den Behrens in einem Aufsatz über Walter Benjamins „Radio-Didaktik“ so beschreibt: „Es ist der entfremdete Mensch in der vom Warenverkehr durchherrschten kapitalistischen Gesellschaft.“ (Behrens 2001, 133) Schwerlich haltbar, jedenfalls in dieser Pauschalität, ist die im selben Aufsatz geäußerte Ansicht, beide heute existierenden Rundfunksäulen, die öffentlich-rechtlichen und die privaten Programme, seien „auf ihre Reklamefunktion zugeschnitten“. (Ebd.)
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Qualitäten von Musik, dass „Sound wesentlich an den musikalischen Moment gebunden ist“, dass der Versuch, Sound zu beschreiben, im Wesentlichen „auf Metaphern angewiesen ist“, und vielleicht ist sogar richtig, dass „das ästhetische Modell, dem er folgt […], das des dionysischen Rausches [ist]“ (ebd., 175). Aber weshalb Sound „als soziales Verhältnis zu begreifen“ sein soll, leuchtet nicht ein oder nur unter der Prämisse, dass im „Kapitalismus“ keine Lebensäußerung „nichtkapitalistisch“ sein kann (ebd., 176). Angesichts solcher Annahmen versteht es sich von selbst, dass es müßig ist, über mögliche Spielräume des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nachzudenken, die es ihm erlauben könnten, Kunstwerke für Minderheiten zu senden, zum Beispiel experimentelle Hörspiele, die sich der „Verwertungslogik“ entziehen. Zu dieser Frage ist weiter oben schon Michael Scharang zitiert worden. Es hängt wohl vom politischen Standpunkt ab, ob man „Nachtstudio und Hörspiel als linkes Refugium“ (Koch, Glaser 2005, 243) oder als bloße Spielwiesen einer letztlich staatserhaltenden Institution ansieht. „Am Hofe der Restauration“, schreiben Koch und Glaser in ihrer „Kulturgeschichte des Radios“, „spielte der Intellektuelle die Rolle des Hofnarren und er tat dies mit glänzend-feuilletonistischem Geschick – er war immer ‚dabei‛, immer im Gespräch, manchmal auch im Gerede, einflussreich, was die peripheren Probleme anging; insgesamt jedoch ‚durchschlagend wirkungslos‘“ (ebd., 246). So what!, könnte man sagen und sich am glänzenden Geschick erfreuen, mit dem nicht zuletzt viele Pophörspiele gemacht sind. Die „kritische Theorie des Pop“ mag den Diskurs über Pop bereichert haben, sie ist aber für die Definition und Analyse des Pophörspiels unbrauchbar. Im Übrigen erklärten Roger Behrens und Sven Opitz in einem Radiogespräch von 2008 (DRS 2, 23.07.2008) den Pop für tot. Behrens’ Zeitrechnung geht so: 1978 ist das Achsenjahr (was hier nicht näher zu begründen ist); 23 Jahre zurück, etwa 1955, begann ungefähr die Rock ’n’ Roll-Ära, 23 Jahre später, 2001, mit dem 11. September, endete das Zeitalter des Pop. Pophörspiele, wie sie hier verstanden werden, wurden aber seit 2001 zahlreich produziert und werden es auch weiterhin. Allerdings ist zu bemerken, dass auch in der Literaturwissenschaft nach der Jahrtausendwende von einer Krise des Pop die Rede war4, nachdem – etwa als Abschluss einer Entwicklung? – 2001 Thomas Ernsts Überblicksdarstellung „Popliteratur“ und 2002 Moritz Baßlers viel beachtete Monographie über den deutschen Pop-Roman erschienen waren. Und im gehobenen Feuilleton formulierte Thomas Assheuer 2001 „Zehn
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Vgl. den Aufsatz von Heinz Drügh „...und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen“. Christian Krachts Roman 1979 als Ende der Popliteratur? In: Wirkendes Wort 57. Jg. April 2007, H 1. Der Autor referiert Texte, die eine Krise des Pop behaupten, beantwortet aber seine im Titel gestellte Frage negativ. Krachts Roman zeige dass die Literatur gar nicht hinter die Popkultur zurück könne. Er montiere „popkulturelle Versatzstücke völlig selbstverständlich mit hochkulturellen Elementen“ (S.45).
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Thesen zur Krise des Pop“ (In: DIE ZEIT 16/2001) mit dem Ziel, der scheinbar alles umfassenden Popästhetik endlich wieder Grenzen zu setzen. Von den literaturwissenschaftlichen Forschungen über den Poproman kann die Hörspielforschung profitieren. Thomas Ernst „versteht unter Popliteratur eine literarische Entwicklungslinie, die sich im 20. Jahrhundert darum bemühte, die Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur aufzulösen und damit auch Themen, Stile, Schreib- und Lebensweisen aus der Massen- und Alltagskultur in die Literatur aufzunehmen (Ernst 2005, 9). Als Merkmale nennt Ernst einfache Sprache, Bemühen um authentische Sprechweisen, Verweise auf Popsongs, Zitatmix, realistische Erzählungen „aus dem Leben gesellschaftlicher Außenseiter“ (ebd.). Betont Ernst die kritische Haltung der Popliteraten zur traditionellen Literatur, so macht Katharina Rutschky in ihrem in der Zeitschrift MERKUR erschienenen Aufsatz „Wertherzeit“ den Versuch, „die Popliteratur in die literarische Tradition einzutragen“ (Rutschky 2003, 106). Interessant sind die von ihr genannten Merkmale des Popromans, die sich nur teilweise mit denjenigen Ernsts decken und eine neue Sicht auf das Phänomen eröffnen. Als Vorläufer oder sogar erster Prototyp des Popromans gilt ihr Goethes Frühwerk Die Leiden des jungen Werther. Popliteratur konzentriere sich erstens, so die Autorin, „auf den Abschied von der unschuldigen Kindheit und den Eintritt in die Welt der Erwachsenen“ (ebd., 107).5 Zweitens gehöre es zur „nicht erklärten Programmatik des Popromans, die Bereiche des allen Bekannten, ja Trivialen nicht zu verlassen und sie in keinem Fall durch Tricks und Kniffe, wie sie in der echten Trivialliteratur üblich sind, aufzuputzen“ (ebd.). Gemeint sind wahrscheinlich spannende Plots, die auf Wunscherfüllung „Seiner Majestät des Ichs“ (Freud) hinauslaufen. Drittens fördere die „Kombination von Sujet, Buch und Autor“ (ebd., 108) den Verkauf der Popromane, also der Starkult, der bereits aus der Wirkungsgeschichte des Werther bekannt ist. Star und Fan gehören in der popliterarischen Kommunikation zusammen. Viertens stehe der Poproman durchaus in literarischen Traditionen, stelle diese aber nicht aus, sondern verschleiere sie eher wegen der „Verpflichtung auf Coolness“ (ebd.). Fünftens sei der Poproman „ein Solitär“, d. h. ein Schriftsteller schreibe nur einen davon und dann entweder keine Romane mehr oder solche, die diesem Genre nicht mehr zuzurechnen sind. Das mag auf Goethe, Salinger und andere von Rutschky genannte Beispiele zutreffen, kann aber anders
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Von Seiten der Jugendliteraturforschung bestätigt diese Auffassung Carsten Gansel, der in seinem Beitrag für das Handbuch „Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur“ (3. Aufl. 2008) den Poproman als Adoleszenzroman beschreibt (S. 370ff.). In dieselbe Richtung weist Dirk Franks Essay „Verschwende deine Jugend?“ über Rocko Schamonis Dorfpunks und Heinz Strunks Fleisch ist mein Gemüse (in: Der Deutschunterricht 6/2008).
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gesehen werden, wie die von Moritz Baßler untersuchten Serien (Andreas Mands Grover-Romane, die Krimis von Wolf Haas) zeigen. Schließlich, sechstens, zeichne den Poproman eine „präsentische, oft protkollarische Erzählweise“ aus, er „archiviere“ die reine Gegenwart (ebd., 110). Rutschky nimmt hier Bezug auf Baßlers Studie, die den Untertitel „Die neuen Archivisten“ trägt.6 Popliteratur addiere, statt zu konstruieren, sie evoziere, statt zu argumentieren. Dies könne sie zum Beispiel tun durch „Aufrufung einer bestimmten Musik im Text“ (ebd., 112), etwa einer Platte von Oasis in Stuckrad-Barres Roman Soloalbum. Spätestens seit Christian Krachts Faserland ist bekannt, dass nicht nur Musikgruppen und -stücke aufgerufen werden können, sondern auch Markennamen, bei Kracht sind es die Barbourjacke, der Joghurt von Ehrmann, die Fischbude von Gosch, das Jever aus der Flasche u.v.m. „Können Markenartikel in einem literarischen Text eine Funktion haben?“, fragt Rutschky und beantwortet die Frage so: Für den Autor und Leser des Popromans sei „das Zeichen wichtiger als die Sache, nämlich ein Mittel der Vergesellschaftung und ein Anker, der einen davor schützt, im Meer der Depression verlorenzugehen“ (ebd., 114f.). Carsten Gansel sieht das Inventarisieren in Popromanen als „ein lockeres Spiel mit den Angeboten, die eine Erlebnisgesellschaft zur Selbstinszenierung des Ichs zur Verfügung stellt“ (Gansel 2008, 373), allerdings spricht er auch von „Abgründen“ und einem offensichtlichen Mangel an Werten und Orientierungen, der offenbar durch das Aufrufen von ‚Marken‘ nur oberflächlich kompensiert werden kann. Kommt also der Poproman nur scheinbar spielerisch und unbekümmert daher? Steckt hinter dem individuellen Liebesleid des Protagonisten von Soloalbum, der Melancholie und Spießerschelte des Ich-Erzählers von Faserland, dem Abhängen, Kiffen, Tanzen von Chris und seiner Freundin in Hennig von Langes Relax ein tieferes gesellschaftliches Defizit, die (Selbst-)Entfremdung, das Elend des „eindimensionalen Menschen“ (Marcuse)? Das mag sein, muss aber an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Wichtiger für die Definition des Pophörspiels ist Moritz Baßlers ästhetische Bestimmung einer „Literatur der zweiten Worte“. Er grenzt sie ab von einer „Literatur der ersten Worte, die ihre eigene Sprache als vom Zeitgeist unkorrumpiertes Werkzeug primärer, authentischer Welterfahrung ins Feld führt“, und meint damit Autoren wie Peter Handke und Botho Strauß (Baßler 2002, 184). Diesen Weg hält er offenbar für einen Irrweg, wie die Ironie zeigt, mit der er ein Textbeispiel von Handke analysiert („Reject all American!“, ebd., 171). Die „Literatur der zweiten Worte“ lässt sich auf die immer schon diskursiv geordnete Welt ein und verwendet deren sprachliches Material, ohne dabei trivial zu werden. Sie zieht sich nicht in die 6
Baßler wiederum bezieht sich auf Boris Groys: „Das Neue ist nur dann neu, wenn es nicht einfach nur für irgendein bestimmtes individuelles Bewußtsein neu ist, sondern wenn es in bezug auf die kulturellen Archive neu ist.“ (Groys, zit. nach Baßler 2002, 21).
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„Niemandsbucht“ (Handke) zurück, arbeitet aber auch „dezidiert nicht mit Spannungsbögen und anderen starken Erzählmustern“ (Baßler 2002, 185). Das hat diese Literatur mit dem Pophörspiel gemeinsam: Narration ist nicht ausgeschlossen, ist aber nicht ihre bzw. seine raison d’être. Auch für das Pophörspiel gibt es „keinen archimedischen Punkt außerhalb der kulturellen Enzyklopädie“ (ebd.). Es ist Teil der „Maschine zur Produktion von Erinnerungen“ im Sinne von Groys (Groys, 2000, 9), von dem Baßler seinen zentralen Klassifikationsbegriff – „die neuen Archivisten“ – bezieht. Der „Akt des Lesens“ (Iser) dürfte bei solchen Texten anders verlaufen, als er bisher beschrieben wurde: (1) Im Sinne Brechts, der dies für das epische im Unterschied zum aristotelischen Theater formuliert hat, wird an die Stelle der Spannung auf den Ausgang die Spannung auf den Gang treten. (2) Die Aktivität des Rezipienten wird sich von der Sinnkonstitution im Hinblick auf Leerstellen oder den „Unbestimmtheitsbetrag“ eines Textes auf das Wiedererkennen von Bestandteilen eines Paradigmas und das Abrufen äquivalenter Ausdrücke innerhalb dieses Paradigmas verlagern. Es wächst dann möglicherweise die Erkenntnis „worin die Äquivalenz der Elemente eigentlich besteht“ (Baßler 2002, 102). Wie das funktioniert, führt Baßler mit spürbarem Vergnügen an zahlreichen Beispielen, vor allem aus Stuckrad-Barres Soloalbum, vor. Da Stuckrad-Barres Listen oft idiosynkratisch konturiert sind, trägt ihm das seitens mancher Kritiker den Vorwurf des „Geschmacksterrorismus“ ein, den Baßler (vielleicht allzu) souverän vom Tisch wischt. Allerdings muss er zugeben, dass manche Tiraden einigermaßen boshaft sind und die Paradigmen, vielmehr eigentlich deren oft negative Bewertung, eine Tendenz zur Normsetzung aufweisen. Als Rezipient fragt man sich, wie wörtlich das alles denn genommen werden will, etwa wenn Krachts Protagonist in Faserland in seinem inneren Monolog einen Mann als „SPD-Schwein“ und „SPD-Nazi“ tituliert. Da es sich um Rollenprosa handelt, werfen die Gedanken primär ein Licht auf die Figur und nicht auf die von ihr registrierte Wirklichkeit. Außerdem stellt sich schnell der Verdacht ein, es handle sich um Parodie, Ironie, Satire7 und nicht um Dokumentation. Derselbe Eindruck entsteht oft auch beim Hören von Pophörspielen. Die folgende Überblicksdarstellung wird zeigen, dass viele von ihnen ihre Wirkung aus der satirischen Präsentation von Inhalten oder aus der parodistischen Verfremdung von Formen beziehen. Oft kann von einer Selbstparodie der Popkultur gesprochen werden, was durchaus nichts Neues ist: Die Beatles haben es bereits 1967 vorgemacht. Allerdings trifft dies nicht auf alle Stücke zu. U.a. ließen die immer wieder beschworenen Krisen des Pop auch die Hörspielmacher nicht unberührt. Zum ande7
Baßler zitiert dazu Bachtin: „[…] es genügt ja die Bedingtheit des stilisierten Wortes nur wenig zu pointieren, um ihm den Charakter leichter Parodie, Ironie, Vorbehaltlichkeit zu verleihen: das sage eigentlich nicht ich – ich hätte es wohl auch anders gesagt.“ (Baßler 2002, 120)
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ren hat die Ausweitung der Gattung in den Bereich des sogenannten Avant-Pop auch künstlerisch anspruchsvolle, unironische Produktionen hervorgebracht. Themen und formale Merkmale des Pophörspiels, die nicht immer alle gleichzeitig auftreten müssen, sind: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Beat, Rhythmus, spezifische Instrumentierung, Sound Starkult Jugendkultur antibürgerliche Haltung, Rebellentum, Provokation Bezugnahme auf die Mode- und Warenwelt, Oberflächenästhetik postmodernes Spiel mit Medien und Genres; Collagen; Intertextualität (im weitesten Sinne), Intermedialität
Ad 1. Die Leitkunst der Popkultur ist die Musik. Vor allem an ihr, an den „elektronischen Beats“, wie Ebbinghaus es nennt, ist das Pophörspiel zu erkennen. In seiner Untersuchung „System Pop“ macht Markus Heidingsfelder die Musik zum Unterscheidungskriterium von Pop/Nichtpop: „Pop ist in der Tat ein ‚Musik-und‘. Musik ist die Keimzelle, der Kristallisationskern.“ (Heidingsfelder 2012, 161) Allerdings ist es problematisch, das Pophörspiel allein über ausgedehnte Einspielungen von Original-Popsongs zu definieren, wie Götz Schmedes dies tut. Schon das Anspielen eines Popsongs, wie beispielsweise in Handkes Hörspiel Nr. 2 oder in Wondratscheks Paul oder Die Zerstörung eines Hörbeispiels, weckt im Hörer Assoziationen an popkulturelle Kontexte, und er wird dazu passende Paradigmen abrufen. Außerdem sind bekannte (oder weniger bekannte) Popsongs nur eine Möglichkeit, ein Hörspiel als Popkunstwerk auszuweisen. Eine andere besteht darin, dass eigens für das Stück komponierte Hörspielmusik den Charakter von Beat- oder Rockmusik, von Techno, Jazz, Fusion usw. trägt. Dies trifft u.a. auf Stücke von Heiner Goebbels oder auf Thomas Meineckes Produktionen mit Move D zu. Allgemein kann gesagt werden, dass der Musik im Pophörspiel eine andere Bedeutung zukommt als im traditionellen Hörspiel, wobei es sowohl mit dem Neuen Hörspiel als auch mit dem O-Ton-Hörspiel Überschneidungen gibt (Beispiel für letztere sind Stücke von Andreas Ammer und FM Einheit). Auf die Funktionen von Musik im Hörspiel wird zurückzukommen sein (vgl. Kap. 5). Ad 2. Am Starkult lassen sich Beschreibungsprobleme der Popkultur allgemein aufzeigen. Dies hat z.B. Christoph Jacke in seiner Untersuchung „Medien(sub)kultur“ getan (Jacke 2004). Grundsätzlich unterscheidet er in der Popkultur zwei Ebenen, denen er nicht normativ begegnen will: Main und Sub. Er zeigt in seiner Studie, wie sich diese Ebenen ergänzen, wechselseitig beeinflussen, wie sich Main aus Sub speist, wie also Erscheinungen der Subkultur immer wieder von der Main-
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Strömung integriert werden und dadurch ihren ursprünglichen Charakter verlieren, was wiederum die Entstehung neuer Subkulturen begünstigt. Im Hauptteil seiner Arbeit untersucht Jacke, wie verschiedene Kulturtheorien – die kritische Theorie, die er in eine klassische (Horkheimer, Adorno etc.) und eine moderne Spielart (Habermas, Prokop, Behrens) einteilt, die ursprünglich angelsächsischen Cultural Studies sowie der soziokulturelle Konstruktivismus, der Kultur als Programm auffasst (S. J. Schmidt) – auf diese Erscheinungen reagieren bzw. was davon sie überhaupt erfassen. Er selbst will diese Theorien zu einer Medienkulturwissenschaft weiterentwickeln, wobei er die Unterschiede insbesondere in einem Kapitel über Stars aufzeigt. Der Ebene Main ordnet er die Stars zu, der Ebene Sub die Anti-Stars; das dynamische Verhältnis zwischen beiden Ebenen zeigt sich für ihn im Phänomen der „Anti-Star-Stars“, das sind ursprünglich Anti-Stars, die zu Stars geworden, also auf die Ebene Main gelangt sind, ohne sich vollständig anzupassen. Jacke nennt sie „erfolgreiche Verweigerer auf dem Weg vom Sub ins Main“ (Jacke 2004, 284). Ihre Merkmale sind: „Nachweis eines Publikums, verweigerndes Verhalten, ökonomischer Erfolg und mediale kontinuierliche Publizität.“ (Ebd., 285). Das verweigernde Verhalten kann z.B. in einer Medienverweigerung bestehen, also etwa Verweigerung von Auskunft über die eigene Person, was wiederum die Fans und Medien in besonderem Maße zu Spekulationen und Mystifikationen anreizt. Gerade die Verweigerung, so Jacke, kann sich auch zur Vermarktung eignen, welche wiederum in verschiedenen Formen möglich ist (Licensing und Merchandising). Nach dem Tod eines Stars bzw. Anti-Star-Stars kann die Vermarktung oft noch gesteigert werden, Jacke spricht von „posthumer Mythossteigerung“ (ebd., 291). Was Jacke nicht ausdrücklich sagt, aber implizit andeutet, ist die einer Anti-Star-Star-Existenz innewohnende Tragik, weil die Verweigerung angesichts ihrer Tendenz zur kommerziellen Verwertung nur schwer, auf Dauer gar nicht durchzuhalten ist. Es kommt zum „Exitus durch Etablierung im Main“, wobei Exitus bei vielen Musikern wörtlich zu nehmen ist. Eine Reihe von Anti-Star-Stars ist früh verstorben, vielleicht die reinste Verkörperung dieses Typus war Kurt Cobain (über den es nicht zufällig schon Hörspiele gibt). Jacke konstatiert für die verschiedenen Kulturtheorien, dass sie die Sub-Ebene entweder gar nicht oder unvollständig thematisieren und damit der Dynamik zwischen Sub und Main nicht gerecht werden. Im Rahmen der Kulturindustriethesen kümmert sich laut Jacke lediglich Behrens angemessen um die Stars der Subkulturen. Auf andere Weise tun dies auch die Cultural Studies, während das Phänomen der Anti-Star-Stars zuvor noch nicht beschrieben wurde (vgl. die Tabelle in Jacke 2004, 298). Für das Pophörspiel lässt sich Jackes Beschreibungsmuster nutzen. Es beteiligt sich am Star- und Anti-Star-Kult auf vielfältige Weise. Es liefert Biographien, meist mit Originaltönen, manchmal aus ungewöhnlicher Sicht (Bob Marleys Frau) oder mit Bezug auf besondere Ereignisse im Leben von Stars (Johnny Cash im FolsomPrison, Fats Domino im Hurricane Katrina) oder auf Personen, die im Umkreis von
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Stars der Popszene auffällig geworden sind (die Frau, die auf Andy Warhol schoss). Die Stars und Anti-Stars in den Hörspielen müssen keineswegs nur Musiker sein, sondern es können Schriftsteller (Hunter S. Thompson, die Beat-Poeten), bildende Künstler (Warhol), Schauspieler (James Dean), Wissenschaftler (Wilhelm Reich, Albert Hofmann) oder Sportstars sein (Bunker Spreckels, ein Star der Surfer-Szene; die Boxer Sugar Ray Robinson und Jake LaMotta). Für die Zukunft besteht ein unerschöpfliches Reservoir an Themen und Figuren für diese Gattung.8 Ad 3. Hans-Jürgen Krug vertritt die These, dass die Erneuerung des Hörspiels auch mit den seit Mitte der 1990er Jahre eingerichteten Jugendwellen einiger öffentlichrechtlicher Sender zusammenhängt (Krug 2008, 156). So ging WDR Eins Live am 1. April 1995 auf Sendung und sendet seitdem für ein junges Publikum (14 bis 29) „Lauschangriff-Soundstories“. Seit 2001 gibt es eine Kooperation mit dem Kulturradio WDR 3 das eine Zeitlang am Montagabend ab 23 Uhr unter der Rubrik „open pop3“ aktuelle Hörspiele sendete, die am darauf folgenden Tag auf Eins Live wiederholt wurden.9 Der NDR bot in seinem Jugendprogramm N-Joy, etwas halbherzig, alle vier Wochen ein Hörspiel an, das als geeignet für die Jugend erschien (das aber nicht in der – inzwischen eingestellten – gedruckten Hörspielbroschüre des Senders angekündigt wurde und auf der Homepage des Senders nur schwer zu finden war). Der Kultursender Bayern 2 bringt in seiner Sparte artmix am Freitagabend häufig Hörspiele, die der Gattung Pophörspiel zugerechnet werden können, jedoch ist die Sendung nicht speziell an die Jugend adressiert. Hinsichtlich des Merkmals ‚Jugendkultur‘ ist damit noch wenig gesagt. Jugendkulturen sind Teilkulturen, die sich gegen Kulturen der Erwachsenen ausdifferenzieren und abgrenzen. In den Anfängen ihrer Entstehung sind sie oft der Sub-Ebene (im Sinne Jackes) zuzuordnen, es kommt aber häufig vor, dass sie durch Kommerzialisierung in den Mainstream integriert werden. Jugendkulturen sind unterschiedlich einflussreich. Besondere Bedeutung erhielten im 20. Jahrhundert die deutsche Jugendbewegung, die sich erst Wandervogel, dann Freideutsche Jugend etc. nannte, sowie die Hippie-Kultur der 68er mit Vorläufern in den 1950er Jahren (Beatniks, Rock ’n’ Roller, „Halbstarke“).10 Ein starker Kulturbruch herrschte zwischen der Kriegsgeneration des Zweiten Weltkriegs und den 68ern. Zwar war die Jugendbewegung des Kaiserreichs und der Weimarer Republik durchaus einfluss8
Auf das Verhältnis von Stars und Fans, Katrin Keller (2008) nennt sie Star-Nutzer, wird an anderer Stelle (Kap. 9.2) einzugehen sein.
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Inzwischen ist das Sendeschema verändert worden, vielleicht ein Indiz für die Schnelllebigkeit der heutigen Medienlandschaft.
10 Baacke (5. Aufl. 2007, 9) sieht hier, in der gesellschaftlichen Produktion des „Teenagers“, die eigentliche Initialzündung für die Entstehung neuer Jugendkulturen in der Bundesrepublik Deutschland.
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reich, jedoch schwächte sich ihre langfristige Wirkung entscheidend dadurch ab, dass sich Teile im Sinne des Nationalsozialismus radikalisierten oder sich zumindest widerstandslos integrieren ließen. Hingegen verband sich mit den 68ern eine Utopie, die sich vor allem als kulturelle und gesellschaftliche, weniger als politische behaupten konnte. Der SDS und die K-Gruppen zerfielen, manche ihrer Mitglieder engagierten sich in der bald etablierten Partei Die Grünen, politische Szenen wie die der Hausbesetzer, Putzgruppen etc. hatten in den 1980er Jahren spektakuläre Auftritte und lösten sich dann auf, aber die Liberalisierung der Mode, der gesellschaftlichen Umgangsformen, der moralischen Normen wirkten ebenso nach wie bestimmte musikalische Gestaltungsprinzipien, von denen nur Blues-Elemente, Offbeat und elektronisch verstärkte bzw. erzeugte Klänge genannt seien. Der Schrei der Beatles in dem Stück Twist and Shout von 1963 war für die ältere Generation im übertragenen und im Wortsinn un-erhört, Soulstimmen wurden von Älteren als Geschrei empfunden und Live-Konzerte von Rockgruppen, die alsbald auf Schallplatten veröffentlicht wurden, als organisierter Lärm.11 Zur Operette, zum Liedgut und Schlager schien es keine Brücke zu geben (wenngleich die Übergänge zu Letzterem fließend sein konnten). Dagegen sind die Brüche zwischen dieser und nachfolgenden Jugendkulturen wie Punk (noch auf der Grenze liegend), Heavy Metal (desgleichen), Grunge, Techno, House, Hip-Hop, Rap usw. wesentlich weniger tief. Jimi Hendrix at Woodstock oder The Doors live at Hollywood Bowl können durchaus die Generationen verbinden, und was die Lebenswelt angeht, zeigt das Schlagwort vom ‚Hotel Mama‘, also die Neigung vieler Jugendlicher, ganz im Unterschied zu ihren Eltern, möglichst lange zu Hause zu wohnen, einen gering ausgeprägten Generationenkonflikt an. Es sei nicht verschwiegen, dass das auch anders gesehen werden kann, etwa so, dass sich die „Kampfplätze“ jugendkulturellen Widerstands in die Neuen Medien verlagert hätten und einer anderen Logik folgten als die alten (Hagedorn 2008,11). Der Begriff ‚Jugendkultur‘ hat seinen spezifischen Inhalt verloren, wenn eine alternde Generation ihrem Selbstverständnis nach immer noch jugendlich ist und Jugend sentimentalisch (im Sinne Schillers) immer wieder herstellt. Die un- oder gegenbürgerliche Tendenz bohemehafter Subkulturen mag sich nicht (mehr) im äußerlichen Habitus, kann sich aber durchaus in der subjektiven Einstellung zur Gesellschaft und ihren Werten sowie in der Selbstkonzeption von Individuen zeigen. Das Pophörspiel lässt sich demzufolge in zwei Entwicklungsphasen einteilen: In der ersten Phase (Pop I) ist es Ausdruck und Teil der damals aktuellen Jugendkultur und schon aufgrund geringer Massentauglichkeit der Sub-Ebene zuzurechnen. Au11 Diese Einschätzung wurde auch von professionellen Kritikern vertreten, darauf weist Helmut Schmiedt hin: „Was den distanzierten Beobachtern musikalisch in die Ohren drang, erschien ihnen als infantil-infernalischer Lärm ohne jede ästhetische Qualität […].“ (Schmiedt 2013, 254).
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toren wie Rolf Dieter Brinkmann, Wolf Wondratschek, Ferdinand Kriwet, Alfred Behrens nahmen in ihren Hörspielen Elemente der Popkultur ihrer Zeit auf und bedienten sich dabei meist avantgardistischer künstlerischer Techniken: mit Vorliebe der Collage, der Autoreflexion des Kunstwerks, des gezielten Erwartungs- und Illusionsbruchs, der Stereofonie, der Klangmanipulation durch Hall, Verzerrer usw. In einer späteren, bis heute andauernden Phase (Pop II) nimmt das Pophörspiel mit Vorliebe die frühere Jugendkultur (quasi)dokumentarisch auf und bedient damit nostalgische Bedürfnisse der alternden ‚Jugend‘ der 1960er und 1970er oder auch schon 1980er Jahre (z.B. Christian Gasser: Dies ist kein Liebeslied! Bekenntnisse eines Pop-Besessenen, DRS 2003 oder für die DDR André Herzberg: Die wundersame Geschichte eines Ostrockers, DLF 2007); Idole werden vorgeführt (Jim Morrison, Bob Marley), berühmte Popsongs (Working Class Hero, Auf der Straße nach Mendocino) werden in unerwartete Kontexte gestellt. Oder die Mittel des Pophörspiels, vornehmlich musikalische, werden genutzt, um Erscheinungen der populären Medienkultur satirisch darzustellen (z.B. das Radio in Radio till you drop von Michael Stauffer, DRS 2006, die Hitproduktion in Top Hit leicht gemacht von Paul Plamper, WDR/NDR 2002, oder gar der Papstkult in Santo Subito von Eberhard Petschinka, MDR/ORF 2007). Darüber hinaus existieren ästhetisch anspruchsvolle Musikhörspiele (Heiner Goebbels), mit Beats unterlegte Collagen und Bearbeitungen klassischer Texte (Ammer/Einheit), akustische Theater-Events (Schlingensief, Schorsch Kamerun), Diskurse (Thomas Meinecke), in denen „popkulturelle und avantgardistische Formen neu gemischt“ erscheinen (vgl. Krug 2009, 141), die von der Jugendkultur der 1950er bis 1970er Jahre (Jazz, Rock, Underground) beeinflusst wurden. Ad 4. Da das Hörspiel, mit Ausnahme der Kinder- und Jugendhörspielserien, seit den 1960er Jahren nicht mehr massenwirksam war, konnte es nicht Teil des Mainstream werden. In seiner ersten Phase wirkte das Pophörspiel auf die HörspielGemeinde ebenso provokativ wie das Neue Hörspiel, allerdings tendenziell (bei fließender Grenze) mit anderen Mitteln und Inhalten. Geradezu prototypisch ist Alfred Anderschs Collage Der Tod des James Dean, die auf den jugendlichen Schauspieler-Rebellen schlechthin Bezug nimmt. Dazu passen coole Musik von Miles Davis, Texte der Beat-Poeten und eine Boxkampfreportage. Einige Jahre später traten Brinkmann, Wondratschek, Kriwet und andere mit dem Vorsatz an, die rebellische Jugendkultur ins Hörspiel zu tragen und die Radiohörer aufzurütteln und zu verstören. Die Provokation konnte in der politischen Aussage oder in der Verwendung der künstlerischen Mittel liegen. Allerdings sind explizit politisch gemeinte Hörspiele wie die von Scharang (z.B. Ansprache eines Entschlossenen an seine Unentschlossenheit, HR/NDR/SDR 1971) oder Peter O. Chotjewitz (Die Falle oder Die Studenten sind nicht an allem schuld, SDR/SR/WDR 1968) Wühr, Wallraff und anderen keine Pophörspiele. Den Doppelcharakter der Revolte von 1967/68 spiegelt
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auch das Hörspiel wider: Der Traum von der „wirklichen Befreiung“ schlug sich in sehr verschiedenen (oder auch fehlenden) Lebensentwürfen nieder. Der Alt-Hippie Bernd Cailloux stellt rückblickend unmissverständlich fest, dass „seinerzeit alle linken Gruppen die subkulturelle Szenerie samt Hippies verachtet hatten“ (Cailloux 2012, 209). Mit mildem Spott zieht er über diejenigen her, die stolz darauf sind, einmal Dutschke die Tasche getragen zu haben, und rechnet sich selbst zur „bestenfalls semipolitischen Subkultur“ (ebd., 205).12 Im Radio fand diese ihren Ausdruck in Hörstücken, die auf Medienreflexion, vor allem natürlich auf die des Radios (Helmut Heißenbüttel: Was sollen wir überhaupt senden?, SDR/SFB 1970) oder auf Selbstreflexion des Hörspiels zielen (Handke, Wondratschek). Ob eine Eigenproduktion wie Michael Glasmeiers Kaputt von 1970 als Akt der Rebellion gemeint oder Ausdruck purer Spielfreude eines Jugendlichen war, ist heute schwer zu entscheiden. Bemerkenswert ist, dass ein öffentlich-rechtlicher Sender wie der WDR ein solches vordergründig dilettantisches und völlig unprofessionell gemachtes Stück sendete. Zumindest kann dies als Anzeichen für einen in den Sendeanstalten sich etablierenden „erweiterten Kulturbegriff“ gelten, von dem Hans-Jürgen Krug sagt: „Neben die Kultur des traditionellen Bildungsbürgertums trat zudem die erweiterte der neuen (1968-er-)Eliten: […] statt Vivaldi machten die Rolling Stones den Sound.“ (Krug 2010, 87). Schon sehr früh schlug der Elan des Aufbruchs in Melancholie um: Bereits 1972 produzierte der Saarländische Rundfunk Keine Zeit für Trips von PaulGerhard Hübsch, der sich dann Hadayatullah Hübsch nannte, eine dreiteilige Bilanz seiner Drogenjahre, deren Mittelstück nicht zufällig mit dem Rolling-Stones-Titel Sympathy for the Devil eröffnet wird und die in Sätzen kulminiert wie diesem: „Ich fühlte den Dreck und die Unreinheit meines bisherigen Lebens.“ Später folgende Bilanzen sind weniger bitter oder verzweifelt, sondern teils sachlich dokumentarisch, teils verklärend, oft mit satirischem Beiklang. Die Satire wird auch zum dominierenden Darstellungsprinzip der von Medien geprägten Gegenwart. Wie schon in der ersten Phase sind Pophörspiele mit explizit politischer Aussage selten (z.B. das (medien-)kriegskritische Battle Field Eye von Edgar Lipki, WDR 2001). Im Rückblick auf die Debatten über die (deutsche) Popliteratur seit Anfang der 1990er Jahre lässt sich eine Polarisierung beobachten, von der der Diskurs über das Hörspiel unberührt blieb. Während Moritz Baßler „die neuen Archivisten“ feierte und seine Untersuchung zum deutschen Pop-Roman mit dem Satz eröffnete: „Zum 12 Dem widerspricht Detlef Siegfried: „Führt man das Untersuchungsobjektiv näher an die Praktiken der Akteure heran, dann wird dieses bipolare Bild unscharf. Viele Akteure schwankten zwischen einem alternativen Lebensstil und radikaler Politik, häufig wurde beides angestrebt und praktiziert.“ (Siegfried 2008, 20) Dann bejaht er aber doch die Unterscheidung zwischen einer „rationalistischen“ (linkspolitisch ausgerichteten) und einer „emotionalen“ (auf Drogen, Religion, die Popkultur bezogenen) Subkultur. (Ebd., 27)
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ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg ist die deutsche Literatur heute besser als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft“ (Baßler 2002, 9), bemängelte Thomas Ernst den Verlust an Subversivität und kritischem Potential und sah die Literatur des ‚Pop II‘ vor allem im Zeichen des Kommerz sowie des ästhetischen Verfalls und der eigentlich unpolitischen Restauration: „Der Hauptunterschied lag darin, dass Brinkmann damals einen literarischen (Pop-)Underground außerhalb des bestehenden Kulturbetriebs begründen wollte, während Pop nun zu einem verkaufsfördernden Markenzeichen innerhalb des Kulturbetriebs recycelt werden sollte – und sich diese Bemühungen als durchschlagender Erfolg erwiesen […]“ (Ernst 2005, 69). Zustimmend gibt Ernst Florian Illies’ Charakterisierung der Generation Golf wieder: „In völliger Abgrenzung zu den 68ern seien seine Generationsgefährten unpolitisch und vor allem an Wohlstand und konservativen Werten interessiert. Die Zeit der Utopien sei vorbei, der jungen Generation gehe es nur noch darum, sich möglichst angenehm und mit den besten Produkten in der Gegenwart einzurichten.“ (ebd., 71) Hoffnungen auf einen neuen Underground in der Literatur setzt Ernst vor allem in die Poetry-Slam-Bewegung und in die Literatur von Migranten der zweiten und dritten Generation wie Feridun Zaimoglu. Durch die später geführte Debatte um angeblich rechtes Gedankengut in Christian Krachts Roman Imperium (2012) mag Ernst sich in seiner pessimistischen Anschauung bestätigt gefühlt haben. Die Entwicklung des Pophörspiels gibt zu einer derartigen Polarisierung keinen Anlass, was schon daran liegt, dass Buchmessen wesentlich mehr öffentliche Aufmerksamkeit genießen als Hörspieltage, sodass die Gefahr einer bescheidene Grenzen überschreitenden Kommerzialisierung des Pophörspiels nie bestand.13 Ad 5. Das Pophörspiel als Archiv der Waren- und Konsumkultur bezieht sich hauptsächlich auf die von der Popkultur beherrschte Medienwelt. Markennamen kommen vor, aber seltener als in der Popliteratur. Es gibt Hörspiele, die die Konsum- und Warenwelt satirisch darstellen (Wo ist Wotan? oder das Schnäppchen von Matthias Brand, SWR 2008). Anders als in der Literatur muss das Zeicheninventar, das beim Hörer Assoziationen wachruft, nicht sprachlich codiert sein, sondern kann Klänge, Sounds, musikalische Riffs und Motive umfassen. Immer wieder thematisiert werden die Drogen der Hippiekultur, vor allem Heroin und LSD, oft unterlegt 13 Hans-Jürgen Krug sieht 1999 einen „Paradigmenwechsel“ in der Hörspielgeschichte, und zwar wegen der Tendenz, immer mehr Produktionen auf CD zu vermarkten. Die Jahreszahl 1999 steht für das Erscheinen des Hörspiels Mephisto (BR/MDR) nach dem Roman von Klaus Mann. Der Satz „Das Radio folgte dem Markt“ (Krug 2008, 148) lässt sich aber nicht verallgemeinern. Zwar erschienen auch einige Pophörspiele auf CD, z.B. solche von Heiner Goebbels auf dem renommierten Label ECM, aber diese Produktionen richten sich wohl eher an einen kleinen Kreis von Kennern und nicht an ein Massenpublikum.
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von psychedelischen Klängen (z.B. in Hundert nackte Kängurus von Michael Farin, WDR 2010). Dies geschieht entweder durch Dokumentarhörspiele mit O-Tönen, etwa über den LSD-Entdecker Albert Hofmann, oder literarisch, z.B. mit Texten des Beat-Poeten William Burroughs, oder eben musikalisch durch das Anspielen berühmter Songs. Mehrfach wurden Andy Warhol und seine Factory in Pophörspielen zum Thema oder der Meister der Pop Art kam selbst zu Wort (Warhol‛s Surfaces, BR 2003). Ausdruck der an Pop Art angelehnten „Oberflächenästhetik“ ist aber auch das name dropping von Prominenten aus Politik, Gesellschaft und Kultur, die Erwähnung von Skandalen und Sensationen aller Art, die Verwendung typischer Geräuschkulissen aus populären Filmgenres (Krimi z.B. in Fünf Mann Menschen; Western z.B. in Wondratscheks Paul) usw. Ad 6. Mehr als andere Hörspielformen, wenn man von den breiten Raum einnehmenden Literaturadaptionen absieht, funktioniert das Pophörpiel intertextuell bzw. intermedial. Es spielt mit Vorgefundenem, montiert bzw. collagiert es neu, bringt es in unerwartete Kontexte. Das Hörspiel an sich ist ein intermediales Ereignis auf der Stufe der Medienkombination, denn es kombiniert Text und Ton (vgl. Wirth 2007, 255). Auf der zweiten Stufe, der des Medienwechsels, nimmt das Pophörspiel mit Vorliebe Elemente des Films auf, und zwar sowohl inhaltlich und thematisch als auch formal, indem Schnitttechnik, Dialogführung, Einsatz von Musik übernommen werden. So können ‚Hörfilme‘ entstehen, die allerdings oft nicht der Erzeugung, sondern der Zerstörung oder kritischen Reflexion von Illusionen dienen. In Auf der Schwelle (WDR 1971) collagiert Rolf Dieter Brinkmann Töne aus Gewaltszenen, die man aus billigen Krimis und Gangsterfilmen kennt. In Walk of Fame (WDR 2007) kommentieren Experten die Entstehung und Wirkung von BMovies, während gleichzeitig eine Darstellerin zu Wort kommt und das Geschehen am Set hörbar gemacht wird. In Der Knochen (RBB 2010) treibt David Zane Mairowitz ein fiktives Spiel mit der Nachgeschichte des Knochens aus Stanley Kubricks Film Odyssee im Weltraum, wobei das Ganze vor allem wegen der Raumakustik und O-Töne aus London wie ein halb dokumentarischer, halb fiktiver Hörfilm wirkt, während andererseits die Möglichkeiten des Hörspiels zum Wechsel von Raum- und Zeitebenen, von Dialog und Monolog, Szenerie und Kommentar, auch aus dem Radio, exzessiv genutzt werden. „Intermediale Bezüge als Verfahren der Bedeutungskonstitution“ (Wirth ebd.) werden in den filmbezogenen Hörspielen ebenso wirksam wie in den RadioComics, die sprachliche Versatzstücke, Sprechblasentexte aus den Comics übernehmen und onomatopoetische Wörter wie „bang, bang“, „kreisch“, „klirr“ als Klänge oder Geräusche wahrnehmbar machen. Die Brüder Gosejohann tun dies in Operation Nation (WDR 2008), in dem es stark satirisch um Saddam Hussein und den Irakkrieg geht. Serge Clerc und François Gorin wenden in Phil Perfect erzählt Legenden des Rock ’n’ Roll dieses Prinzip auf Themen der Popmusikgeschichte an
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und setzen dabei leitmotivisch auf Marken (vgl. Punkt 5): die legendäre Gitarre Gibson (im Hörspiel Gibbons) Thunderbird ES 505, das Motown Label, Autos zum ‚Cruisen‘ auf den US-Highways (Cadillac, Rolls Royce). Im Zeichen des Pop änderte sich die Beziehung zwischen Theater und Hörspiel: In den zwanziger Jahren gab es Sendespiele, mit verteilten Rollen vorgelesene Theaterstücke. 1945 sendete der NWDR als erstes Hörspiel nach dem Krieg Carl Zuckmayers Der Hauptmann von Köpenick in der Inszenierung von Helmut Käutner. Es mochte manchen scheinen, als sei der Rundfunk der akustische Stellvertreter des Theaters. Dahinter stand die Vorstellung einer werktreuen Inszenierung, für die der Dramentext die primäre Instanz war. Neuere Konzeptionen, die unter der ungenauen Bezeichnung ‚Regietheater‘ dem Bühnengeschehen vielfältige neue Möglichkeiten eröffneten, richteten dagegen ihre Aufmerksamkeit auf die Performance der Körper und Stimmen. Für das Hörspiel interessant ist die theaterwissenschaftliche Sicht der Stimme: „Denn die Künstler stellen sie nicht in den Dienst der Sprache, verwenden sie nicht als ein Medium, durch das Sprache zu Gehör gebracht wird. Ihre Stimme bringt vielmehr auch sich selbst zu Gehör. Dies bedeutet keineswegs zwangsläufig eine Desemantisierung, wie häufig behauptet wird. Die Vielgestaltigkeit der Stimme setzt vielmehr die Vieldeutigkeit der sprachlichen Äußerung frei, sie erschwert daher lediglich ein eindeutiges Verstehen, nicht aber generell sprachliches Verstehen. Die Stimme lenkt jedoch immer auch zugleich, wenn nicht zuallererst, die Aufmerksamkeit der Lauschenden auf ihre eigene, sich im und mit dem Atem verströmenden besonderen Qualitäten.“ (Fischer-Lichte 2010, 50f.)
Im Pophörspiel, soweit es sich auf das Theater bezieht, konvergieren Popkultur und Regietheater. In Heiner Müllers Hamletmaschine (Funkhaus Berlin 1990) geschieht die Hamlet-Zertrümmerung im Zusammenwirken scharfer Klirr-Geräusche, monotoner elektronischer Klänge und fast prosodieloser Stimmen. Stärker ausgeprägt ist das rockmusikalische Element in dem Stück Die Befreiung des Prometheus (HR/SWF 1985) von Heiner Müller und Heiner Goebbels. Allgemein besteht im Hörspiel eine Tendenz zur Inter- und Multimedialität. Krug weist auf das Projekt Intermedium des Bayerischen Rundfunks hin, das „ästhetische und mediale Mischformen aus Performance, Livesendung, musiktheaterinspirierter Aufführung, Remix-Projekt und interaktiven Versuchen ausdrücklich fördern“ wollte (Krug 2008, 159). Damit ein Hörspiel als Pophörspiel klassifiziert werden kann, muss es nicht alle diese Merkmale aufweisen. Vor allem die Merkmale 3 und 4 treffen meist nicht unmittelbar, sondern historisch bzw. dokumentarisch vermittelt zu. Der Begriff soll weit gefasst werden, eine Grenzziehung zu anderen Gattungen und Subgattungen des Hörspiels wird nicht immer leicht sein. Nicht unterschieden werden Pophörspiel und Hörspiel-Pop (wie in Krug, 2009).
5. Elemente des Pophörspiels
Werner Klipperts 1977 erschienes Reclam-Büchlein „Elemente des Hörspiels“ gilt bis heute als Standardwerk, in dem Grundlegendes über das Wesen des Hörspiels ausgesagt wird. Deshalb wurde es 2012 unverändert wieder veröffentlicht, allerdings mit zwei ergänzenden Aufsätzen, die den Fortschritt der Studiotechnik, vor allem im Hinblick auf die Digitalisierung, dokumentieren. Peter Herbertz stellt in seinem Aufsatz dar, inwiefern vor allem Schnitt und Mischung dank der digitalen Technik heute sehr viel einfacher zu machen sind als seinerzeit.1 Dies habe eine „Abnahme der Unmittelbarkeit zwischen Aufnahmesituation und Endergebnis“ (Herbertz 2012, 30) zur Folge, da bei Nachbearbeitungen kein Umkopieren mit der Folge zunehmenden Bandrauschens mehr nötig sei. Schnitte können heute überaus präzise gesetzt und problemlos wieder rückgängig gemacht werden. Das „Vielkanalremix“, das früher viel Zeit in Anspruch nahm, kann heute am Bildschirm „nahezu en passant“ vorgenommen werden (ebd., 40). Dies sind nur Beispiele für eine Entwicklung, durch die die Hörspiele akustisch – nicht unbedingt inhaltlich – komplexer geworden sind und damit höhere Anforderungen an den Hörer stellen. Selbst Kriminalhörspiele, wie etwa der seit einigen Jahren gesendete Radio Tatort, fordern mit harten Schnitten, vielschichtiger Mischung und manchmal verwirrender Dramaturgie vom Publikum hohe Aufmerksamkeit und Konzentration.2
1
Statt von „Analogie“ würde Herbertz lieber von „Proportionalität“ sprechen und statt „digital“ hieße es seiner Ansicht nach besser „numerisch“. Herbertz 2012, S. 31. Ästhetische Veränderungen der Hörspiele durch den technischen Fortschritt der Aufnahmemedien stellt Hans-Jürgen Krug in einem Aufsatz dar, den er ausdrücklich als ersten Versuch versteht: „Jede neue Technologie erfordert einen neuen Krieg“. Technik, Radio und das Hörspiel. (Krug 2012).
2
Diese Entwicklung wird auch kritisch gesehen. Die Hörspieldramaturgin Martina MüllerWallraf fragt: „Müssen unsere Erzähleinheiten geschreddert, Dramaturgien gehäckselt und Räume ausgetauscht werden?“ (Müller-Wallraf 2012, 26).
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Das ändert aber nichts daran, dass Klippert die „Konstitutiv-Elemente des Hörspiels, Wort, Laut und Technik“, die wiederum alle in der (Sprech-)Stimme zusammentreffen (Klippert 1977, 98), unverändert gültig beschreibt. Und indem er sie beschreibt, befreit er sie aus ihrer dienenden Funktion, auf die sie im traditionellen Hörspiel beschränkt waren. Man kann das Buch als erste Bilanz der neuen Hörspielentwicklung seit den 1960er Jahren lesen. Wenn zuvor Geräusche als scheinbar statische „Geräuschkulisse“ die Illusion eines Bühnenbildes hervorrufen sollten, so werden ihnen jetzt vielfältige dynamische Funktionen zugeschrieben: als Interpunktionszeichen, Symbol, Dialogpartner, Existenzbeweis, Mittel zur Charakterisierung, zur Milieudarstellung usw. (ebd., 60ff.). Die Musik ist nicht mehr nur „Ergänzungs-, Intensivierungs- und Strukturierungsmittel“, sondern kann kritisch-kommentierende oder interpretierende Aufgaben erfüllen (ebd., 55ff.). Die Technik dient nicht nur der Konservierung und Übertragung der Schallphänomene, sondern wird selbst zum künstlerischen Gestaltungsmittel. Und sogar Wörter müssen nicht als semantische oder verbindende Einheiten in Sätzen und Texten aufgehen, sondern können zum Material für permutative Spiele oder Lautkompositionen werden. Das Neue Hörspiel hat von diesen Möglichkeiten reichlich Gebrauch gemacht. Die von Klippert beschriebenen Elemente des Hörspiels sind auch die Elemente des Pophörspiels, die hier auf eine für die Popkultur spezifische Weise eingesetzt und kombiniert werden.3 Dies gilt vor allem für die Musik, bei der zwischen Musik im Hörspiel, Hörspielmusik und Musik als Hörspiel unterschieden worden ist (Ladler 2001, 40).4 Nach dieser Einteilung hat die Musik im Hörspiel vorwiegend eine Gliederungsfunktion, während Hörspielmusik auch inhaltlich klar auf ein bestimmtes Hörspiel bezogen und für dieses konzipiert ist, ohne dass es sich zwingend um Originalkompositionen handeln muss. Komponisten wie Mauricio Kagel, die Musik als Hörspiel zu realisieren versuchten,5 bewegen sich am Rande der Hörspielszene, in der immer noch der bereits erwähnte Satz von Jandl/Mayröcker als konsensfähig gelten kann: 3
Neuere Beiträge bauen auf Klipperts Pionierarbeit auf und setzen allenfalls andere Akzente. Karl Ladler bezeichnet Sprache, Musik, Geräusch als semiotische Kommunikationsinstrumente des Hörspiels, wobei er Sprache als gesprochene Sprache und damit Stimme versteht (Ladler 2001, 35ff.). Hingegen widmet Klippert Wort und Stimme je ein eigenes Kapitel. Götz Schmedes konzentriert sich bei der Darstellung „audiophoner Zeichensysteme“ ganz auf technische Aspekte: Blende, Schnitt, Mischung, Stereofonie, elektroakustische Manipulation (Schmedes 2002, 86ff.)
4
Ladler zitiert diese Einteilung aus der Dissertation von Mechthild Hobl-Friedrich aus dem
5
In den Erläuterungen zu (Hörspiel) Ein Aufnahmezustand von 1969 spricht Kagel von
Jahr 1991. Realisation 1-3. In: Klaus Schöning (Hrsg.): „Neues Hörspiel. Texte Partituren“, Frankfurt/M. 1969, S. 395ff.
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„Das Hörspiel ist ein akustischer Ablauf, der sich von Musik dadurch unterscheidet, daß sein Material hauptsächlich aus gesprochener Sprache besteht […].“ (Jandl/ Mayröcker 1970, 88) Für das Pophörspiel, in dem Musik fast immer ein wesentliches Element darstellt, ist die Unterscheidung zwischen Musik im Hörspiel und Hörspielmusik problematisch. Denn auch wenn Popmusik als Einleitung oder Szenentrenner verwendet wird, bestimmt sie den Charakter des Stücks als Pophörspiel, indem sie einen popkulturellen Kontext evoziert. Das Spezifische dieses Kontextes definiert sich durch die Auswahl der Musik, die dadurch zum Dialogpartner der Sprache, der O-Ton-Schnipsel oder auch der Geräusche werden kann. In Tom Nogas Hörspiel L.A. Blues (WDR 2013) repräsentiert der Song Hotel California den Sehnsuchtsort L.A., während Gangsta Rap für die Hölle von Los Angeles steht. Die Musikstücke, die immer wieder kurz angespielt werden, fungieren zwar auch als Szenentrenner sowie als Einleitungs- und Schlussmusik, aber sie sind doch sehr viel mehr. Um die zu selten ausgeschöpften Möglichkeiten der Hörspielmusik geht es in einer umfassenden Studie von Christiane Timper, die den Zeitraum von den Anfängen bis 1986 umfasst. Timper schließt sich der Forderung Rudolf Arnheims an, die Musik als „Partner“ der Sprache einzusetzen (Timper 1990, 307).6 Timpers Kritik an der Verwendung von Musik im Hörspiel verbindet sich mit ihrem generellen Anspruch an das Hörspiel, es müsse gesellschaftskritisch sein. Sie beklagt nutzlose O-Ton-Experimente und, seit Ende der 1970er Jahre, eine „Rückwärts-Tendenz“ des Hörspiels, was bedeute, dass die Stoffe „wieder mehr nach ‚innen‘ gewandt seien“ (ebd., 304). Statt auf Widersprüche aufmerksam zu machen, den Text ironisch oder kritisch zu kommentieren, seine Tendenz zu akzentuieren oder zu konterkarieren, sei Musik eher zur „Verkleisterung“ eingesetzt worden (ebd., 308). Beats, Elemente der Discomusik, Synthesizer-Klänge seien ins Hörspiel eingezogen, hätten aber kritische Aussagen nur allzu leicht hinweg geschwemmt. Auch wenn sie professionell gemacht seien, machten Synthesizer-Klänge z.B. Science-Fiction-Hörspiele zu leicht konsumierbaren Unterhaltungsstücken. Der Erneuerung des Hörspiels in den 1960er und 1970er Jahren kann Timper nicht viel Positives abgewinnen: „Zahlreiche Neue Hörspiele blieben letztlich stecken in einer Aneinanderfügung von akustischen Materialien.“ (Ebd., 301) „Wenn von 1968 bis etwa Mitte der 1970er Jahre Rockmusik ins Hörspiel Eingang fand, so, um das Hörspiel für junge Leute attraktiver zu machen.“ (Ebd., 293) Abgesehen davon, dass eine solche Attraktivität für ein junges Publikum der Vitalität der Kunstform Hörspiel nur gut tun kann, erscheint Timpers Position im Licht der neueren Studien zur Popkultur und speziell der Popliteratur, aber auch 6
Rudolf Arnheims Großessay „Rundfunk als Hörkunst“ gilt, ähnlich wie Klipperts „Elemente des Hörspiels“ als grundlegender Text. Bereits 1936 erstmals erschienen, wurde er 2001 als Suhrkamp Taschenbuch wieder aufgelegt.
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zahlreicher Hörspiele, die seitdem produziert wurden, zumindest als zu einseitig. Bereits in der Phase des ‚Pop I‘ gab es für Rock, Pop, Jazzmusik im Hörspiel unterschiedliche Verwendungen, die über eine rein äußerliche Attraktivitätssteigerung hinausgingen. In erster Linie zu nennen ist die von Baßler für die Literatur beschriebene Archivierung von Gegenwartskultur (Baßler 2002, 184). Weitere Funktionen können nur im Einzelnen aus den Musik-Text-(Geräusch)-Relationen erschlossen werden. Im Überblick zeigen sich für den Einsatz von Musik im Pophörspiel folgende Verwendungsweisen: 1. 2. 3. 4. 5.
6. 7. 8. 9.
Das Hörspiel thematisiert ein Musikstück, einen Musiker, eine Band oder einen Musikstil; die jeweilige Musik wird dabei entweder einmal oder mehrmals angespielt. Ein bekanntes Musikstück wird angespielt, um ein Lebensgefühl oder Zeitkolorit zu evozieren. Musik tritt immer wieder leitmotivisch oder symbolisch neben das Wort. Musik wird als „Jingle“ verwendet, um bestimmte mediale Kontexte aufzurufen; es liegt nahe, dass es dabei in erster Linie um Radiosender bzw. -sendungen geht. Musik ist Bestandteil einer O-Ton-Collage. Die Hörspielmusik ist ein gleichberechtigtes Element neben dem Text und begleitet ihn entweder durchgängig oder über längere Zeit. Text und Musik verbinden sich zum Dancetrack, wobei der Text einen RapCharakter annehmen kann. Durch den üppigen Musikeinsatz, Chöre, Songs, Rezitative entsteht der Eindruck eines Musicals, einer Rockoper oder -operette (nach dem Vorbild des oratorisch-balladesken Hörspiels der 20er Jahre).
Die Dramaturgie der mit Musik angereicherten Pophörspiele gehorcht in vielen Fällen den Gesetzen der dokumentarischen Reportage oder des autobiographischen Berichts. Die dominante Stimme ist dann die eines Berichterstatters oder eines (oder mehrerer) Experten. Wie in Fernseh-Dokumentarspielen können fiktive dialogische Spielszenen eingefügt sein. Da häufig mit O-Tönen gearbeitet wird, entsteht der Eindruck eines Wechsels zwischen akustischen Räumen wie Straße, Discothek, Studio usw. Die verschiedenen Formen der Blende, die Klippert beschreibt, werden dabei nur selten gebraucht, umso häufiger Schnitt und Mischung, die unter bestimmten Bedingungen zeichenhaft gedeutet werden können. Am Beispiel der Mischung lässt sich das so formulieren: „Wenn die Zeichenschichten jeweils eigene Bedeutungen aufweisen, deren Gesamtheit einen über sie selbst hinausweisenden Zusammenhang repräsentiert, sind diese Konfigurationen akustische Superzeichen, die generell aus allen Zeichensystemen zusammengesetzt sein können.“ (Schmedes 2002, 88f.) Gerade die Musik weist im Pophörspiel eine eigene Bedeutung auf,
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wird also zur „Zeichenschicht“, die zusammen mit Sprache, Geräusch, elektronischen Effekten zur Entstehung neuer Bedeutungen beiträgt. Hinzu kommt die „eigenwillige Kraft der Montage als Collage“ (Klippert 1977, 34), die aus der überraschenden Kombination akustischen Materials ihr semiotisches Potential gewinnt (und damit zum „akustischen Superzeichen“ wird). 1977 schrieb Klippert: „Am häufigsten sind bisher Collageverfahren in kritischer Absicht zur Anwendung gekommen.“ (Ebd., 35) Das trifft auch auf einige Pophörspiele zu, allerdings wirken die Collagen hier, anders als im Neuen Hörspiel oder in den politischen O-Ton-Stücken der 1960er und frühen 1970er Jahre7, oft satirisch, wobei dem Hörer das Lachen durchaus im Hals stecken bleiben kann. Ein Beispiel ist Stefan Weigls mit dem Preis der Kriegsblinden ausgezeichnetes Hörspiel Stripped. Ein Leben in Kontoauszügen (WDR 2004), in dem das finanziell prekäre Dasein eines Autors durch die Collage seiner Kontoauszüge vorgeführt und mit den Werbeangeboten und bürokratisch formulierten Anschreiben seines Kreditinstituts konfrontiert wird, das Ganze auf der Basis eines flotten Dancetracks. Schon Kriwets ONE TWO TWO wirkte durch die Auswahl und Kombination des collagierten Materials wie eine Satire auf unsere Medien(um)welt.
7
Klippert nennt Harigs Staatsbegräbnis, Paul Wührs Preislied und andere. Zu ergänzen wären rein politische Stücke wie Chotjewitz’ Die Falle oder Die Studenten sind nicht an allem schuld (SDR/SR/WDR 1968) oder Yaak Karsunkes & jetzt bachmann – Abrichtung eines Täters (WDR/HR 1972).
6. Sport, Jazz, Beatniks und James Dean
6.1 ALFRED ANDERSCH : D ER T OD
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J AMES D EAN
Als Alfred Andersch 1957 seine „Funkmontage“1 Der Tod des James Dean schrieb, war er längst ein erfahrener Radiomann. Seit 1948 hatte er für Radio Frankfurt (später: Hessischer Rundfunk), für den NWDR und den SDR gearbeitet. Er hatte das ‚Frankfurter Abendstudio‘ begründet und im SDR die Reihe Radio-Essay eingerichtet. Die 1950er Jahre gelten allgemein als die große Zeit des literarischen Hörspiels, für das Namen wie Günter Eich, Heinrich Böll, Martin Walser, Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Peter Hirche, Fred v. Hoerschelmann u.v.m. stehen. Weniger bekannt ist heute, dass neben den poetischen, oftmals parabolisch zu deutenden Hörspielen zahlreiche nicht nur thematisch wichtige, sondern auch formal interessante Features und Dokumentarhörspiele gesendet wurden, als deren profilierteste Autoren Ernst Schnabel und Axel Eggebrecht zu nennen sind.2 Sie waren Vorbilder für Andersch, der es liebte, mit neuen Formen zu experimentieren und vor allem die Möglichkeiten des zeitkritischen Features zu erproben und zu erweitern. Mit dem berühmten Regisseur Fritz Schröder-Jahn hatte er mehrere Hörstücke produziert und die Form des Radio-Essays erfunden, die zwischen Hörspiel, Feature und Funkerzählung angesiedelt war.3 Der Biograph Stephan Reinhardt beschreibt Anderschs Vorstellung vom anspruchsvollen Radio so: „Einerseits war dem Hörer etwas zuzumuten, andererseits legte Andersch großen Wert auf ‚funkische‘ Darbietungsform, auf Streitgespräche, Hörstücke, feature-artige Aufbereitung von Themen
1
So lautet Anderschs eigene Genre-Bezeichnung. Antje Vowinckel bespricht das Stück in dem Kapitel „Hörspiele mit Feature-Einfluß“. (Vowinckel 1995, 100).
2
Schnabels wichtigstes Stück hieß Der 29. Januar 1947 (NWDR 1947) und ging aus
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Ein Beispiel ist die SDR-Produktion Synnöves Halsband von 1958, die auf den Eindrü-
35.000 Hörerzuschriften hervor. cken einer Reise nach Schweden beruht.
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oder Mischformen aus Spielszene, Lesung, Interview und Reportage. Anschaulich, zur Sache – das war der beste Weg.“ (Reinhardt 1990, 164) Der Tod des James Dean wurde zuerst vom SWF am 1. September 1959 gesendet und vom SDR am 29. März 1960 übernommen.4 Zeitlich steht das Stück damit an der Schwelle zwischen der Rock ’n’ Roll-Kultur der 1950er und der PopRevolution der 1960er Jahre. Musikalisch integriert es aber nicht den Rock ’n’ Roll oder Rockabilly der Presley, Haley, Cochran oder Buddy Holly, sondern den Cool Jazz, der unter anderem mit Texten der Beat-Poeten kombiniert wird. Ob die Lieblingsmusik der Beatniks der Bebop oder der Cool Jazz war, ist nicht geklärt (vgl. Jost 1982, 117). Viel spricht aber für den Bebop, der die Lebensform und -ideale der Beatniks am besten auszudrücken schien: ungezügelt, unbürgerlich, unkonventionell, verstörend. Die schwarzen Bebopper waren lange Zeit Außenseiter der Musikszene und die Beatniks fühlten sich als Außenseiter der US-amerikanischen Gesellschaft. Der sogenannte „bop-talk“ wurde in den Schriften der Beat-Poeten literaturfähig (ebd., 103). Aber viele Leitbilder, die damals auch wegen ihrer Verbreitung in der Presse die Moden vorgaben, beruhten auf Missverständnissen. Den Bopmusikern ging es keineswegs darum, einen Lifestyle zu prägen, sondern sie wollten sich musikalisch anders ausdrücken als ihre Vorläufer in den Swing-Orchestern. Ihre Karrieren verliefen äußerst unterschiedlich. Während der rauschgiftsüchtige Meister des Altsaxophons Charlie Parker mit fünfunddreißig Jahren starb, überlebte das nicht minder virtuose Trompetengenie Dizzy Gillespie die eigentliche Zeit des Bebop um Jahrzehnte. Vor allem Parker war das Idol der Beatniks und weißen Hipster. Ekkehard Jost zitiert Lawrence Lipton mit den Sätzen: „Für die BeatGeneration ist der Jazzmusiker der Schamane ihres Kultes. Was immer er tut und sagt, ist etwas, worüber man oft und lange zu sprechen hat. […] Alles, was die Schamanen des Jazz tun, wird für den Beatnik zum Stoff für Legenden: der gargantuaische Fixer; der Typ, der davon losgekommen ist; der Märtyrer-Held, der daran starb.“ (Jost 1982, 116) So mag es zunächst überraschen, dass Alfred Andersch in seiner „Funkmontage“ das Gedicht Howl von Allen Ginsberg mit augesprochen „cooler“ Musik von Miles Davis unterlegt, nämlich der Filmmusik zu Ascenseur pour l‛échafaud von Louis Malle sowie Ausschnitten aus den Alben My Funny Valentine und Cooking with the Miles Davis Quintet. Davis und der Pianist John Lewis galten als schwarze Ausnahmen in der sonst von Weißen beherrschten Sphäre des Cool Jazz. Der Cool Jazz wirkte spröde, introvertiert, intellektuell und, im Gegensatz zum Bebop, weniger spontan, er war stärker durcharrangiert und von der europäischen klassischen Musik beeinflusst. Bei der von Miles Davis angeblich in einer Nacht eingespielten Filmmusik kommt es aber vor allem auf die Stimmung an, die sie erzeugt. Das galt schon für Louis Malles Film, in dem die kaum geschminkte Jeanne 4
Eine Neufassung brachte der BR 1997 (vgl. Kap. 4).
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Moreau als Florence auf der Suche nach ihrem im Fahrstuhl steckenden Geliebten durch die nächtlichen Pariser Straßen irrt. Und das gilt bei Andersch für die ausschließlich von Männern vorgelesenen Texte über das kurze Leben James Deans, den Boxkampf des „Stiers“ Jake LaMotta gegen den jüngeren „Sugar“ Ray Robinson, den dieser mit seiner durchdachten Taktik nach dreizehn Runden schließlich gewann, das rhetorisch aufgeladene Langgedicht Howl und einige weitere Gedichte damals schon klassischer, aber immer noch jüngerer amerikanischer Poeten, darunter E. E. Cummings und Kenneth Rexroth, „Dichter und Maler und zugleich einer der scharfsinnigsten Theoretiker der Beat-Generation“ (ebd.). Die Musik mit ihren Blue Notes und langen, gezogenen, obertonarmen Trompetentönen vermittelt ein Gefühl von Einsamkeit, Illusionslosigkeit, Verlorenheit in der Welt. Sie passt zu Anderschs existentialistischer Lebensanschauung, die auch in den Romanen Sansibar oder der letzte Grund, Die Rote und zuvor in dem autobiographischen Bericht Die Kirschen der Freiheit sichtbar wurde. Andersch macht genaue Vorgaben, wann welche Musik ertönen und ausgeblendet werden soll. Wenn nur die Stimmen zu hören sind, ist die Musik trotzdem gegenwärtig, sie muss nur ab und zu angespielt werden, um den Charakter des Stücks zu prägen. Am Anfang lautet die Anweisung: „Der Sprecher legt den Beginn des Cummings-Textes rhythmisch genau unter die Baß-Schläge“. Danach „Baß blitzschnell wegnehmen“. Dazwischen: CUMMINGS by gorry / by jingo / by gee / by gosh / by gum / verstummen / muß das Gequatsche von der Schönheit [...]“ (Andersch 2004, 206). Damit ist der Beat vorgegeben und der Hörer auf ein JazzStück eingestimmt, dessen Rhythmen sich in den Texten selbst und in ihrer Anordnung ebenso finden lassen wie in der Musik. Laut Dos Passos hatte James Dean eine geradezu musikalische Haltung zu seiner Umgebung. Über New York soll er gesagt haben: „Mir liegt die rhythmische Figur von New York, sein Tonus, seine Tempi.“ Und er soll einen Privatjargon gesprochen haben, „montiert aus Kaffeehaus-Geschwätz über be-bop und Bach [...]“. (Ebd., 223) Ginsbergs Geheul und die anderen Gedichte sind am Jazz orientierte Sprachmusik: „Ich sah die besten Köpfe meiner Generation vom Wahn zerstört hungrig hysterisch nackt Musik hochziehen.“ (Ebd., 207) Alle Figuren der Texte blicken in Abgründe: James Dean, nachdem er endlich zum Star geworden ist, fordert das Schicksal mit Rennwagen heraus: „Der Tod auf der Piste ist der glorreichste, den es gibt“, soll er gesagt haben (ebd., 231). Ray Robinson steht nach seinem Sieg vielleicht verlorener da als der unterlegene „Stier“: „Mit schwachem Lächeln, mit blutendem Mund und geschundenen Augen sah er sehr klein aus und sehr menschlich und sehr einsam.“ (Ebd., 230) Und die junge Generation leitet Beatnik offenbar weniger von beatific (glückselig) ab, wie es Jack Kerouac getan haben soll, sondern von beaten (geschlagen). „REXROTH Man sagte, wir seien verloren, unmoralisch, verrückt, / und kam mit Wirtschaftsplänen dazwischen.“ (Ebd., 224)
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Der SPRECHER deutet in seiner Vorrede an, dass die Texte symptomatisch seien für die „finstere Jugend“ Amerikas, die bald schon in Europa anzutreffen sein wird. In seiner Reportage über den Boxkampf habe Robert Lowry fünf Jahre vor James Deans Tod bereits die Stimmung vorgeformt, die aus Dos Passos’ Bericht über die Entwicklung und das jähe Ende des Idols spricht. Aber Dos Passos sagt auch: „Die finstere Jugend Amerikas ist ein Mythos, der Kasse macht.“ (Ebd., 226) Der Autor beschreibt das Problem des Anti-Stars, der sich den Mächten des Marktes nicht entziehen kann, weil es keiner kann. Die Erzählung von den Farmerjungen aus dem Mittelwesten, die ihre Jugend zwischen Viehherden und mit den Geschichten über Huckleberry Finn verträumen, ist an ein Ende gekommen. Die moderne Jugend trinkt Coca Cola, raucht Zigaretten – „die bekannte Marke“ – und liest Comic-Hefte, während aus den Radios „der letzte Rock“ trommelt und auf dem Bildschirm „die neueste Schnulzenkönigin“ verschwimmt. „Die fiesen Verkaufskanonen wissen, wo der Nerv sitzt.“ (Ebd., 216) Der Vorwurf der Jungen an die Alten lautet, sie hätten einen Krieg gewonnen, aber ihre Freiheit verloren. Sie wollten nur noch Sicherheit und Konsum und verzichteten darauf, das Leben mit seiner „Aura“, seinem „Glanz“ auszukosten, allerdings ohne Sicherheiten und daher stets am Abgrund. Ihr Schönheitsbegriff ist ein ander als der der Kriegs-Generation, den Cummings offensichtlich ironisiert: „[...] verstummen muß das Gequatsche von der Schönheit, was könnte / schöner sein als unsere tapferen seligen Toten, die / wie die Löwen zum Gemetzel rannten munter. / nicht stoppten, um zu denken, lieber starben sie, / soll nun der Freiheit Stimme nicht mehr tönen?“ Ähnlich wie LaMotta stürzten sie sich blind in die Schlacht, jetzt aber siegt der Jüngere mit überlegener Intelligenz. (Vgl. Wehdeking 1983, 103) Der Generationenkonflikt, der sich einige Jahre später zuspitzen und an Breite erheblich zunehmen wird, deutet sich hier an. Kristallisationspunkt der Jugend- und Protestkultur ist der Star, das Idol, mit dem man sogar post mortem noch intim ist. „Wir wollen allerdings, das ist eine zentrale Mechanik der Gegenwartskultur, das, womit wir ganz intim sind, draußen zeigen.“ Das erscheint Diedrich Diederichsen als „zentrales Paradox der zeitgenössischen Populärkultur“. (Diederichsen 2008, 87) Eine der eindrucksvollsten von Andersch verwendeten Stellen aus Dos Passos’ Essay erzählt, was dabei passiert, und zwar in einer rhythmisch gegliederten Sprache, die auch in Versen gesetzt sein könnte wie die Gedichte. Drei Jahre nach James Deans Tod stehen die „Boys in den Lederjacken, in den hohen Stiefeln, die Boys in den hautengen Blue Jeans, die Boys mit den handbreiten Motorradkoppeln um den Leib“ immer noch vor den Spiegeln und kämmen ihre Haartollen wie ihr Held und probieren denselben Gesichtsausdruck, wie er ihn hatte, „jeder Fan ein gottverlassener Narziß, verliebt in sein eigenes Bild, jeder ein kleiner James Dean“ (Andersch 2004, 208f.) Neben der von Diederichsen benannten Paradoxie gibt es eine weitere, nämlich die Paradoxie des Anti-Stars: „der Ausgestoßene als massenhaft rezipierte
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und imitierte Pop-Ikone, die auch von der Hochkultur gewürdigt wird.“ (Seiler 2006, 131)5 Was ist das Neue an der „Funkmontage“ Der Tod des James Dean, von der Kapfer sagt: „Heute würden wir sie ein ‚Dokumentar-Hörspiel‘ nennen“, die aber auch als Feature bezeichnet wurde? (Kapfer 1997, 4) Es ist nicht das Gestaltungsmittel der Montage, das z.B. von Ernst Schnabel bereits verwendet wurde. Es ist die Art der Kombination von Musik und Text, der Herstellung intermedialer Bezüge zum Film; die Thematisierung einer Jugend- und Protestkultur, die sich aus Modebewusstsein, Starkult und populärphilosophischen Versatzstücken speist. Obwohl man bei Andersch, laut Sascha Seiler, „wenig Hinweise auf eine Beschäftigung mit der populären Kultur“ findet (ebd., 128), wird er mit seinem Hörstück zum Wegbereiter einer neuen Form des Hörspiels, die in ihrer Gesamtwirkung vom Sound bestimmt ist. Zum Sound der punktuell eingespielten Musik kommt derjenige der Sprecherstimmen, die die Texte teils monoton, teils zunehmend aufgeregt (Howl), teils sachlich berichtend, teils auch pathetisch intonieren. Zwar sind die zitierten Texte sämtlich US-amerikanischen Ursprungs, aber die Grundierung ist europäisch wegen des indexikalisch auf den Existentialismus verweisenden Sounds.6 Die Bedeutung des Sounds in der Inszenierung von 1959 unterschätzt möglicherweise Martin Maurach, auf dessen negatives Urteil über die aktualisierte Fassung des Hörspiels von 1997 bereits hingewiesen wurde.7 Barbara Schäfer setzt Musik viel üppiger ein als seinerzeit Friedhelm Ortmann. Dass Texte ohne unterlegte Musik gesprochen werden, ist hier eher selten und dass es sich um eine andere Art von Musik handelt als in den 1950er Jahren, überrascht nicht, jedoch ist das Stück dadurch nicht unbedingt soundlastiger als das frühere. 1997 wirkt alles hektischer, fast überladen, sodass ein Nachdenken über die von Andersch ausgewählten Dokumente erschwert wird, vielleicht nicht einmal beabsichtigt ist. Entscheidendes Element ist aber nicht der neue Sound der Popmusik bzw. des Punk, sondern es sind die O-Ton-Schnipsel, die den Texten illustrativ immer wieder beigegeben sind: die Boxreportage, direkt live aus dem Ring, die Lesung von Howl des jungen Ginsberg, Aussagen von Jack Kerouac über Wörter wie ‚cool‘ oder ‚beat‘. 5
Zusätzlich ist anzumerken, dass der zuvor kaum bekannte Louis Malle durch den zunächst umstrittenen, dann aber zum Kultfilm avancierenden Film Ascenseur pour l‛échafaud zum Star wurde. Der Musik von Miles Davis maß er dafür hohe Bedeutung bei. Es kann nur darüber spekuliert werden, ob Hörer des Hörspiels mit den Musikausschnitten auch Filmbilder assoziierten.
6
Zu den Zeichenfunktionen von Sounds vgl. den Aufsatz von Diedrich Diederichsen (2008): „Drei Typen von Klangzeichen“. Darin heißt es, bezogen auf Sound-Logos: „Man begann – Urszene der Subkulturen und gesamtkunstwerkartigen Verfasstheit von Pop-Musik – einen Lebensstil mit einer bestimmten Musik zu verbinden.“ (S. 112)
7
Siehe Kap. 4.
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Schon der Beginn erweckt den Eindruck einer Livereportage direkt vom Times Square, im Hintergrund reichlich Verkehrsgeräusche und Sirenengeheul. Die Absage lautet, überraschenderweise (jedenfalls für den, der den Text und die Vorgängerinszenierung nicht kennt): „Alfred Andersch für Südwestfunk 1959“. Livereportage oder historisches Dokument? Dann folgt unvermittelt die Ansage: „Edinburgh 1993“ als Auftakt zum Intro des Drogenfilms Trainspotting, dessen Text, in breitestem Schottisch gesprochen, die Parole „choose your life, choose your future“ ad absurdum führt und folgerichtig in der Aussage mündet: „I chose not to choose life. I chose somethin’ else. And the reason?“ Auf diese Frage antwortet das Motto des Films: „Who needs reasons when you’ve got heroin?“ Es werden also die vorgelesenen Texte aus den 1950er Jahren sowohl mit dem von 1993 als auch mit ihrem ‚Original‘ konfrontiert. Das Ergebnis ist verwirrend. Zu Recht kritisiert Martin Maurach, dass die Inszenierung in einer Ambivalenz zwischen Aktualisierung und Historisierung stehenbleibt. Neue Musik, weniger unterkühlte Sprecherstimmen, Trainspotting-Zitate dienen der Aktualisierung: Sie verdichten die konsumkritischen Aussagen, die sich bei Dos Passos finden, und zeigen, wie sich der Gestus der Rebellion inzwischen gewandelt hat.8 Hingegen lassen die O-Ton-Schnipsel an eine historische Dokumentation denken, ohne den Texten viel Neues hinzuzufügen. Ihre Funktion bleibt letztlich unklar.
6.2 B EATNIKS IN M OMENTAUFNAHMEN : J ÖRG F AUSER , C AROLYN C ASSADY Jörg Fauser (1944-1987), Schriftsteller, Journalist, Übersetzer, schrieb in den 1970er Jahren einige Hörspiele, die vom WDR, vom Hessischen und vor allem vom Saarländischen Rundfunk produziert wurden. Wie in seinen literarischen Texten verarbeitete er darin überwiegend Erfahrungen aus seinem unsteten Leben. In seinen jungen Jahren war er Junkie und Dealer, später Alkoholiker, aber zugleich ein diszipliniert Schreibender. Politisch stand er der Achtundsechziger Bewegung nahe, ohne den linken Dogmatismus selbstverliebter Revolutionäre zu teilen. Er hielt sich oft in Istanbul auf, lebte in Berliner Kommunen und in besetzten Häusern in Frankfurt, bevor er sich erst in Berlin, dann in München niederließ. Dort kam er unter ungeklärten Umständen nachts bei einem Unfall auf einer Autobahn ums Leben. Der Nonkonformist Fauser gilt als früher Beat-Poet, beeinflusst von Burroughs und Kerouac, später von Charles Bukowski, aber auch von Gottfried Benn und anderen Dichtern der Moderne (vgl. Penzel/Waibel 2004, 16).
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Bis hin zur Wortwahl: Die „Schamhaarbärte“ der jungen Männer (bei Ginsberg: who got busted in their pubic beards) fehlen in der Übersetzung der 1950er Jahre.
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Sein erstes vom WDR 1974 produziertes Hörspiel Café Nirwana ist ein Dokumentarstück über Leute, die von harten Drogen abhängig sind, verfasst zu einem Zeitpunkt, als der Autor sich von seiner Sucht bereits befreit hatte. Als Sprecher traten u.a. Fausers enge Freunde Jürgen Ploog und Carl Weissner auf. Während Fauser hier eigene Erfahrungen verarbeitete, stützte er sich in seinem wohl besten und bekanntesten Hörspiel auf eine literarische Vorlage. Das unter der Regie von Peter Michael Ladiges produzierte Hörspiel Der Tod der Nilpferde (SR 1977) reflektiert Fausers intensive Beschäftigung mit den US-amerikanischen Beatniks, insbesondere mit Jack Kerouac. Es ist locker bezogen auf Kerouacs autobiographischen Roman Vanity Of Duluoz (erschienen 1968), der die Jugend des Autors 1935-1946 schildert. Für sein Hörspiel, das die Frühzeit der Beatniks beleuchten soll, greift Fauser eine Episode aus dem Jahr 1944 heraus. Kerouac, der sich zum Schreiben berufen fühlt, aber noch keine Erfolge zu verzeichnen hat, ist eine Projektionsfigur Fausers, der ebenfalls den Durchbruch als Schriftsteller noch nicht geschafft hat. Das Hörspiel ist ein intensiv wirkendes Stimmungsbild einer Generation im Wartezustand. Die Freunde sitzen herum, trinken, nehmen Drogen, führen Gespräche über existentielle Fragen und die Literatur. Vor allem Rimbaud mit seinem Buch Une saison en enfer (1873) hat großen Einfluss auf sie. [20:45] Die Figuren und Motive sind allesamt nicht von Fauser erfunden, sondern er hat sie vorgefunden, aber etwas Eigenes daraus gemacht. Den Rahmen bildet ein Monolog von Jack Kerouac, der sich mit diesem Namen vorstellt, begleitet am Anfang von einer jazzigen Klavier-Improvisation, am Schluss von Charlie Parker. Jack hat sich vorgenommen, die Duluoz-Legende zu schreiben und am Ende meldet er, dass 1183 Seiten fertig sind. In einer Reihe von Szenen wird die Geschichte der unkonventionell lebenden Gruppe erzählt. Ihr Treiben wird von der älteren Generation, darunter Jacks Eltern, skeptisch bis ablehnend kommentiert. Hinter den fiktiven Namen der (meisten) Figuren verbergen sich Kerouac selbst, William Burroughs, Alan Ginsberg, Herbert Huncke und Lucien Carr, der seinen älteren Freund Dave Kammerer (er heißt auch im Hörspiel so) durch mehrere Messerstiche ermordete. Vor allem wegen des Skandals um Homosexualität und möglichen Missbrauch erregte diese Geschichte die amerikanische Öffentlichkeit und wurde später zum Filmstoff (Beat, 2000). In ihrem erst viel später (2008) publizierten Doppelroman And the Hippos Were Boiled in Their Tanks hatten Kerouac und Burroughs die Geschichte erzählt. Die Legende, auf die dieser Titel zurückgeht, übernimmt Fauser für sein Hörspiel und benennt es danach: Bei einem Brand in einem Londoner Zoo seien alle Nilpferde gekocht worden, lautet eine Radiomeldung. [41:10] Weitere Meldungen über das Weltgeschehen werden über einen Zeitungsausrufer vermittelt: Attentat auf Hitler [16:30], Paris befreit [52:54]. Die Freunde kümmern sich wenig um die große Politik oder sie wandeln sie in verrückte Träume um: Jack will mit Claude (Carr) in einem Frachtschiff nach Europa fahren und durch Nordfrankreich nach Paris wandern, um bei der Befreiung der Stadt dabei zu sein.
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Penzel und Waibel zitieren in ihrer Fauser-Biographie eine FAZ-Rezension aus dem Jahr 2001, in der beklagt wird, dass das Stück nur dreimal ausgestrahlt worden sei,9 obwohl es mit „dem latenten Bebop und den hervorragenden Sprechern“ eine starke Wirkung erzielt (Penzel/Waibel 2004, 103). Musik ist in dem Hörspiel fast immer präsent und begleitet die Dialoge. Sie reicht von Swing-Nummern über Marlene Dietrich, Lilli Marlen auf Englisch singend, Billie Holiday mit ihrem traurigen Protestsong Strange Fruit bis zum Schlussstück von Charlie Parker, womit der Bebop eigentlich erst erreicht ist. So spiegelt das Hörspiel auch jazzgeschichtlich eine Übergangsphase, für die programmatisch der von dem Gitarristen Charlie Christian in Minton’s Playhouse gespielte Titel Swing to Bop steht. Während der Bebop gerade entsteht, suchen die später so genannten Beatniks noch ihren Weg. Irwin (= Ginsburg, gesprochen von Christian Brückner) deklamiert Verse, die wie Entwürfe zum späteren Welterfolg Howl klingen, Jack (in der Rolle: Matthias Ponnier) entwickelt seine autobiographische Schreibweise und Bill (= Burroughs, Michael Degen) ist mit sich und Vorstudien zu seinem ersten Roman Junky (dt. Titel: Junkie) beschäftigt. Während Fauser hier die Frühzeit eines Aufbruchs beleuchtet, spiegelt sein nur wenig später entstandenes letztes Hörspiel Romanze (SR 1979) eine Spätzeit wider. Johnny mit dem sprechenden Nachnamen Tristano ist (wie Fauser, als er das Stück schrieb) 33 und hat bereits die Aufbrüche von 1968 hinter sich gelassen, aber vielleicht verbindet ihn mit den Beatniks und dem Bebop mehr. Einmal merkt er an: „Charlie Parker war längst tot.“ [12:19] Sein Grundgefühl beschreibt er so: „Ich war allein. Ich war vollkommen überflüssig.“ [05:35] Auf einem Trip nach Ibiza trifft er übrig gebliebene Hippies. Susi bietet ihm eine Muschelkette an, und Togo Franz gesteht ihm, dass er aus Bocholt stammt, aber lange nicht da war. Außerdem erlebt er ein kurzes Glück mit der älteren Lilly, die ihn verführt. Den passenden Song dazu singt Bob Dylan: Shelter From the Storm. Als ihm der mysteriöse Dr. Demeter, um den Lilly sich kümmert, etwas von seiner „verschlampten Zeit“ abkaufen will, ist die Beziehung zu Ende. Was noch erreichbar ist, sind „Augenblicke der Vollkommenheit“, die in impressionistischer Sprache zu Akkordeonimprovisationen geschildert werden, oder surreale Träume, zu denen eine einsame Flöte erklingt. Bearbeitet und unter der Regie von Heike Tauch produzierte der WDR 2006 ein Hörspiel nach dem autobiographischen Bericht Heart Beat. My Life with Jack and Neal. Es handelt sich dabei um ein akustisches Bravourstück, das vor allem wegen der reichlich verwendeten Originaltöne, aber auch wegen des Charakters der Prota9
Laut Penzel und Waibel gab es 2001 eine vierte Ausstrahlung des Hörspiels. Das Senderarchiv des SR verzeichnet nur die Erstausstrahlung am 15.09.1977 und zwei Wiederholungen 1985 und 1996.
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gonistin, die trotz der vordergründig skandalösen Geschichte auf jedes Skandalgehabe verzichtet, zum wiederholten Hören einlädt. Carolyn Cassady, Mutter dreier Kinder und „Tochter aus einer anständigen New-England-Familie“ (so Jack Kerouac über sie), erzählt, wie sich mit Duldung und Ermunterung ihres Mannes Neal eine Liebesbeziehung mit dessen Freund Jack Kerouac entwickelt und wie sie nach einiger Zeit endet. Dass die Dreiecksbeziehung durchaus nicht so etwas wie bohèmehafte Normalität für die Erzählerin ist, zeigt sich nicht nur sprachlich, sondern auch in der Aufteilung der Rolle, die auf Deutsch und Englisch sowie akustisch distanziert (wie ein sachlicher Bericht) und nah (wie ein Selbstgespräch) in Erscheinung tritt. Am Anfang, nach Kerouacs Einquartierung, ist der Umgang miteinander vorsichtig und geradezu schamhaft; Carolyn ist unsicher und Jack keineswegs ein Draufgänger, anders als in seiner Selbstdarstellung, die wiederum doppelt hörbar wird: Einmal in Kerouacs Texten, die ein Schauspieler vorliest, zum anderen in seiner stark rhythmischen, sprachspielerischen Poesie, die in Originaltönen zu hören ist, oft eingebettet in raue Saxophonklänge. Auch als Szenentrenner ist Jazzmusik zu hören: die Sängerin Billie Holiday, Bebop- und Bluestöne, einmal, zur Überraschung des Hörers, Velvet Underground, womit möglicherweise eine Kontinuität zwischen den Beatniks und der späteren New Yorker Popszene angedeutet werden soll. Wenn Drogen genommen werden, Marihuana, Peyote, hält Carolyn sich heraus, sie braucht keine künstlichen Kicks, bleibt bodenständig, überwindet aber anfängliche Skrupel und kann die Situation dann genießen und letztlich ihre Ehe bewahren. Das Hörspiel greift den Mythos der Beatniks kritisch auf, ohne ihn zu zerstören, es lässt die enge Verbindung zwischen ihnen und dem zeitgenössischen Jazz hörbar werden und erhält durch den Einsatz der Originaltöne einen Drive, der sich aus der Wechselwirkung von Texten und Musik ergibt. Die musikalische Qualität der Texte Kerouacs erschließt sich vor allem im akustischen Medium, was wiederum deutlich macht, dass das Wort ‚Beatnik‘ nicht nur mit ‚beaten‘ oder ‚beatific‘, sondern auch mit musikalischem Beat zu tun hat.
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6.3 B IOGRAPHISCHE J AZZHÖRSPIELE I: B IX B EIDERBECKE Ob der Jazz ein Teil der Popkultur ist, ist umstritten und wird wohl nicht mit letzter Gültigkeit zu entscheiden sein, schon gar nicht für alle Phasen der Jazzgeschichte. In einem Interview von 2011 wies der Gitarrist Pat Metheny auf die Verflochtenheit des Jazz mit der Popkultur hin: „Denken Sie an Miles Davis und „My Funny Valentine“ – ein Pop-Song, den Miles zum Jazzstandard befördert hat. Oder an Fletcher Henderson und Duke Ellington, die aus Tanzmusik Jazz gemacht haben. Diesen Austausch zwischen Jazz und Popkultur hat es immer gegeben. Er ist nur etwas in Vergessenheit geraten, weil manche so auf die vermeintlich exklusive Jazztradition fixiert sind. Mir jedenfalls gefällt der Gedanke, dass der Jazz auch heute noch ziemlich enge Verbindungen zur Popkultur hat. Im Gegensatz zu jenen, die den Jazz in eine Art Klassik verwandeln möchten.“10
Bemerkenswert ist der letzte Satz, der auf den Elite-Anspruch vieler Jazzanhänger hinweist und der im Widerspruch zu z.B. Adornos, allerdings zeitbedingtem, Verdikt steht, Jazz gehöre zur „Massenkultur“ (Adorno 1976, 155). Dass Grenzen heute allgemein durchlässiger sind, als dies früher der Fall gewesen sein mag, ist eine Grundannahme der vorliegenden Untersuchung (vgl. Kap. 2), sodass es nicht näher begründet werden muss, wenn die wenigen Hörspiele, die den Jazz zum Thema haben, hier berücksichtigt werden. Über das musikalische Thema und die Verwendung von Musik in verschiedenen Funktionen hinaus weisen sie weitere Merkmale des Pophörspiels auf, vor allem dreht es sich immer entweder um Stars oder um „Fans“, deren Biographien ganz oder in Ausschnitten präsentiert werden. Es entspricht dem Starkult der Popkultur, dass viele Pophörspiele biographisch oder autobiographisch organisiert sind, also das Leben von Stars oder Anti-Stars erzählen. Das autobiographische Muster kann aber auch für die Lebensgeschichte der Fans (oder von Teilen dieser Geschichte, vorzugsweise der Jugend) genutzt werden, wobei die ausgewählten Erlebnisse ganz auf die Beziehung des Fans zum Star oder zur jeweiligen Musikrichtung fokussiert sind. Komplex, vielschichtig und für das Hörspiel noch nicht untersucht ist die Frage nach dem Wahrheitsgehalt oder der Fiktionalität solcher ‚Texte‘. Bezogen auf die Literatur unterschied Philippe Lejeune zwischen dem autobiographischen Pakt und dem Romanpakt, die zwischen Autor und Leser implizit geschlossen werden (vgl. Lejeune 1994, 30). Beim autobiographischen Pakt sind Autor und Erzähler identisch und das Erzählte gilt als wahr, oder dem Erzähler wird zumindest Wahrhaftigkeit unterstellt, d. h. es wird ange-
10 Interview mit Claus Lochbihler: http://www.nmz.de/online/den-austausch-zwischen-jazzund-popkultur-hat-es-immer-gegeben-pat-metheny-im-gespraech
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nommen, er meine das Gesagte so, wie er es sagt. Die Biographie unterscheidet sich davon insofern, als hier Erzähler und Figur nicht identisch sind, also nicht Selbsterlebtes, sondern Recherchiertes erzählt wird. Authentizität kann durch Quellenzitate verbürgt werden; im biographischen Hörspiel gibt es die Möglichkeiten vorgelesener Quellentexte oder einmontierter Originaltöne, wovon in vielen Stücken reichlich Gebrauch gemacht wird. Die verwendeten O-Töne müssen aber nicht notwendig darauf zielen, den Eindruck von Authentizität zu erhöhen, vielmehr können sie auch den atmosphärischen oder musikalischen Charakter des Hörspiels prägen.11 Unter anderem wegen dieser doppelten Funktion von O-Tönen ist es problematisch zu entscheiden, ob es analog zum ‚Romanpakt‘, also zur stillschweigenden Übereinkunft zwischen Autor und Leser, die folgende Geschichte sei fiktional, einen ‚Hörspielpakt‘ gibt. Vermutlich bleibt die Frage nach ‚Wahrheit‘ und ‚Fiktion‘ sowohl beim Roman als auch beim Hörspiel oft in der Schwebe. Grundsätzlich beruhen aber beide auf fiktionaler Rede und sind daher nicht behauptend. An beide kann die Frage gestellt werden, ob sie ihren Gegenstand adäquat abbilden, wobei dem Hörspiel dazu einige (akustische) Mittel zur Verfügung stehen, die der Roman nicht hat.12 Ror Wolfs mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden (1987) ausgezeichnete „Radio-Ballade“ Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus NordAmerika (SWF/HR/NDR/WDR 1986/87) erzählt die Lebensgeschichte des legendären Kornettisten aus der Frühzeit des Jazz auf höchst kunstvolle und unkonventionelle Weise. Die darin reichlich verwendeten Originaltöne umfassen hauptsächlich Beiderbeckes Musik, ergänzt durch wenige Beispiele weißer Jazzmusik vor Beiderbecke sowie New Orleans Jazz. In seiner Rede zur Preisverleihung hebt Ror Wolf hervor, dass seine Freiheit beim Verfassen des Hörspiels darin bestand, dass er sich keiner Hörspiel-Tradition verpflichtet fühlte, einfach weil er sie nicht kannte: „Jeder Schritt ist der erste Schritt einer Forschungsreise in das unerhörte Gebiet der Töne, Stimmen und Geräusche. Und jeder Ton, jedes Wort ist noch unverbraucht. Es ist alles möglich, was hörbar ist; und was nicht hörbar ist, ist erst recht möglich.“ (Wolf 2000, 273) Durch die Freiheit seines Umgangs mit den biographischen Fakten sowie mit den erzähltechnischen Mitteln setzt Wolf Maßstäbe. Er schafft einen für das biographische Hörspiel ungeahnten ‚Spielraum‘ im wahren und übertragenen Wortsinn. Auf einer Dampferfahrt auf dem Mississippi vertreiben sich drei Herren – der Erzähler, Jackson und Jones – die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten. Die Geschichte des Erzählers, eines Pianisten, die das Hörspiel ausmacht, ist diejenige des Musikers Bix Beiderbecke, wie er traumwandlerisch ins Leben hineinstolpert, geni11 Gerade in Pophörspielen ist das oft der Fall. 12 Vgl. zu dem Problem Wahrheits- und Adäquatsanspruch in der Literatur den grundlegenden Aufsatz von Gottfried Gabriel (1975).
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al musiziert, berühmt wird, den Schnaps liebt und daran frühzeitig stirbt. Die vollkommene Rücksichtslosigkeit gegenüber den Normen und Regeln der Gesellschaft, aber auch gegenüber den physischen Notwendigkeiten des eigenen Körpers haben den Erfolg dieses Musikers erst möglich gemacht – so zumindest eine mögliche Deutung des Hörspiels. Das Traumwandlerische, man könnte auch sagen Traumtänzerische oder Bendenkenlose des Protagonisten findet sich in der Form des Hörspiels wieder. Denn es wird nicht konventionell zwischen Erzählung und retrospektiven Szenen gewechselt, sondern die Erzählebene ändert sich ständig, manchmal mitten in der Rede: „Carmichael: Guten Abend, schön daß Sie da sind. – Ich kannte den Mann nicht, er machte auch keinen sonderlich interessierten Eindruck, er redete nichts.“ Nach einigen weiteren Beobachtungen zum seltsamen Verhalten Beiderbeckes wendet sich Carmichael an Trumbauer: „Wer war das? Trumbauer: Wer? Carmichael: Dieser Mann, der gerade hinausgegangen ist. –“ (Wolf 2000, 160) Die Szene wird etwas später fast wörtlich wiederholt, dafür wird einiges ausdrücklich übersprungen. Die Erzähler wechseln häufig, geben das Wort weiter, einige waren Musikerkollegen des inzwischen verstorbenen Beiderbecke, anderes wird von namenlosen Stimmen 1 bis 3 sachlich, stichwortartig, zusammen mit einem den Takt gebenden Metronom berichtet, und manchmal vergibt der Erzähler Rollen an seine beiden Zuhörer Jackson und Jones. Die Krönung sind allerdings die Monologe Beiderbeckes, gesprochen von Christian Brückner, der den stets angetrunkenen und irgendwie abwesenden Musiker stimmlich so verkörpert, dass man die schmächtige, leicht schwankende Gestalt vor sich zu sehen meint. Beiderbecke ist eigentlich nur in den Tönen seines Kornetts anwesend, so wie der Dichter Robert Walser, mit dem der Musiker mehrmals verglichen wird, in seinen Texten. Im Anhang zum Hörspieltext nennt Wolf seine Quellen und fügt einen Musikplan für 27 Ausschnitte an, die er alle kommentiert. Er weist darauf hin, dass er ein spätes Solo Beiderbeckes, in dem dieser sich, für ihn höchst ungewöhnlich, verspielt, aus dramaturgischen Gründen verwendet: Mit der Wirtschaftskrise beginnt der Niedergang des Musikers. Im Hörspiel sagt Stimme 2: „Der Spaß ist vorbei. Die verrückten zwanziger Jahre sind beendet.“ (Wolf 2000, 191) Wolf macht Beiderbecke zu einer vieldimensionalen Symbolfigur: das früh vollendete Genie, der Repräsentant der ‚roaring twenties‘ und ihres jähen Endes, der Träumer, der außerhalb der Gesellschaft steht, ohne gegen sie zu rebellieren (abgesehen davon, dass er in der Prohibitionszeit immer über ein Schnapsdepot verfügt), der aber Außerordentliches im Bereich der Musik leistet. Er unterscheidet sich von den späteren früh Verstorbenen (Morrison, Hendrix, Joplin, Cobain) durch sein unspektakuläres Auftreten und sein stilles Verlöschen – so jedenfalls das Hörspiel, das keine Dokumenta-
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tion zu sein beansprucht, sondern ein Kunstwerk, in dem im Besonderen das Allgemeine aufscheint und dadurch Erkenntnis vermittelt.13
6.4 B IOGRAPHISCHE J AZZHÖRSPIELE II: P ANNONICA UND R AUSCHTENBERGER Erwähnt seien noch zwei Jazzhörspiele, von denen das eine biographisch, das andere autobiographisch konstruiert ist. Grace Yoons Pannonica / Die Jazzmusiker und ihre drei Wünsche (SWR 2008) erzählt die Lebensgeschichte der Baroness Pannonica de Koenigswarter (1913-1988) aus der Sicht ihrer Enkelin Nadine. Sie galt als „grande dame“ des Jazz und war Mäzenin vieler Bebop Musiker, vor allem für Charlie Parker und nach dessen Tod für Thelonious Monk, der über längere Zeit bei ihr wohnte. Das Hörstück ist eine Hommage an „the Baroness“, weil diese den Musikern nicht nur ökonomisch aus mancher Klemme half, sondern auch deshalb, weil für sie die Rassentrennung nie eine Rolle spielte und sie schwarzen Musikern Auftritte ermöglichte, die ihnen sonst, z.B. aufgrund einer fehlenden „cabaret card“, verwehrt gewesen wären. Zwischen 1961 und 1966 fragte de Koenigswarter 300 Jazzmusiker nach ihren drei wichtigsten Wünsc hen. Erst posthum entstand aus den zum Teil erstaunlichen Antworten und den Polaroid-Fotos der Baroness ein Buch.14 Einer der bewegendsten Wünsche kommt von Miles Davis: „To be white.“ Im Hörspiel werden die Antworten der Jazzmusiker in den drei Sprachen Englisch, Französisch, Deutsch wiedergegeben, wobei die englischen Texte von dem Saxophonisten Monty Waters gesprochen werden, der im Jahr der Produktion verstarb. Das Stück ist ein Hörbild aus der großen Zeit des Jazz mit viel Musik und Originaltönen von Sessions und Auftritten. Besonders häufig ist Pannonicas bester Freund Thelonious Monk zu hören, der ihr ein Stück widmete, das inzwischen ein Jazzstandard ist. Es ist nicht das einizige ihr gewidmete Thema, insgesamt sind es ungefähr ein Dutzend, von denen mehrere im Hörspiel angespielt werden. Bei dem Stück Wie wir den Free Jazz erfunden haben, produziert vom AudioKleinverlag guanako (2005), weist schon der Titel darauf hin, dass es sich um eine Ich-Geschichte handelt. Der Performance-Künstler, Musiker und Autor DIETRICH RAUSCHTENBERGER alias Trombeck, gesprochen vom Schauspieler Rolf Becker, erzählt seine Gegengeschichte zur Entstehung des Free Jazz, die nicht in New York,
13 Deshalb sah schon Aristoteles in seiner „Poetik“ (9. Kapitel) Dichtung als „etwas Philosophischeres, Ernsthafteres als Geschichtsschreibung“. Das Wiedererkennen des Allgemeinen im Besonderen nannte Kant Urteilskraft. 14 Auf Deutsch: Pannonica de Koenigswarter: Die Jazzmusiker und ihre drei Wünsche, Stuttgart (Reclam) 2007.
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sondern in Wuppertal beginnt. Dieses Monolog-Hörspiel, in dem das ‚Wort‘ passagenweise an Rauschtenberger Schlagzeug gegeben wird, trägt in seiner Verdichtung parabelhafte Züge. Der Free Jazz wird zur Chiffre für einen typisch deutschen Generationenkonflikt, der vor allem die sechziger Jahre bestimmte, den Konflikt zwischen der vom Nationalsozialismus geprägten, immer noch autoritären, traditionalistischen und deutschtümelnden Elterngeneration und den sich auflehnenden Jungen, die erst große Probleme haben, ihre Richtung zu finden. Aber auf dem Höhepunkt werden die alten Marschlieder, Schlager und Opernarien der Eltern in ganz kurzen Ausschnitten angespielt und vom neuen Jazz überwunden. Es ist jazzgeschichtlich durchaus korrekt, den Free Jazz als deutsches Phänomen einzuordnen, obwohl die im Hörspiel erwähnten amerikanischen Musiker Cecil Taylor, Ornette Coleman, Albert Ayler zu seiner weltweiten Verbreitung maßgeblich beigetragen haben und, in Grenzen, sogar kommerziellen Erfolg damit hatten. Joachim Ernst Berendt schreibt in „Ein Fenster aus Jazz“: „Die Amerikaner – und überhaupt viele Ausländer – meinen, Deutschland sei das Land des Free Jazz. In der Tat wird nirgendwo in der Welt so viel Free Jazz gemacht wie bei uns.“ (Berendt 1978, 238) Andererseits spitzt Rauschtenberger die Entstehungsgeschichte des Free Jazz zu, denn: „Wie jeder andere Stilbereich des Jazz ist auch der Free Jazz nicht das Werk einiger einsam schaffender, genialer Musiker, die sich – abgeschieden vom Weltengetriebe – an die ‚Erfindung‘ einer neuen Musik machten, sondern er resultiert aus den kollektiven Anstrengungen vieler, die zunächst alle auf das gleiche hinausliefen: die während der Hard Bop-Ära erstarrten kreativen Kapazitäten des Jazz neu zu beleben und eine Musik zu schaffen, die eine Entfaltung neuer Ideen jenseits der zum Klischee heruntergekommenen, kommerzialisierten Formen des Soul Jazz und des Bossa Nova ermöglichte.“ (Jost 1978, 187)
Rauschtenbergers Hörspiel ist ein Schelmenstück, das im Ton an das etwa zur gleichen Zeit entstandene Erfolgsbuch Fleisch ist mein Gemüse von Heinz Strunk erinnert, von dem auch eine Hörspiel-Version existiert. Wie Heinzer in diesem autobiographischen Buch macht auch Rauschtenbergers Held Trombeck zunächst Tanzmusik mit einer „Cocktail Combo“ im „Wuppertaler Hof“, um Geld zu verdienen. Seine musikalischen Vorbilder sind aber die Bebop-Musiker, allerdings ist sein Problem, dass er sein Instrument nicht gut genug beherrscht, um diese Musik selbst zu spielen. Sein Freund Adolf Kampschulte, genannt Dölfie, findet sich zunächst damit ab, sich musikalisch unter Niveau zu verkaufen, während ein neuer Freund namens Notenbast darauf aus ist, alle rhythmischen und harmonischen Grenzen zu überwinden und sich total frei auszudrücken. Trombeck steht zwischen beiden Freunden, aber dann wird seine Entscheidung dadurch erleichtert, dass im Zuge der Poprevolution, also des Welterfolgs der Beatles, Rolling Stones und anderer Gruppen, Tanzmusik nicht mehr gefragt ist.
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Während Dölfi nun nur noch Bebop spielen will, lehnt sich Trombeck gegen die Taktzählerei auf und schließt sich Notenbast an. Bei einer Session im Vereinshaus des deutschen Turnvereins spielen sie sich frei, und zwar derart, dass das Dach wegfliegt und die Wände einstürzen. Die Geburt des Free Jazz wird verglichen mit der klanglich ausgiebig dargestellten Weltentstehung aus dem Chaos. Das Hörstück wird zur kosmischen Metapher, die aber in einem vertraulich verschwörerischen Ton erzählt wird: Der Ich-Erzähler spricht den Hörer mit Du an und plaudert umgangssprachlich, oft mit den für den Jugendjargon charakteristischen komischen Übertreibungen. Beispielhaft dafür stehen bereits die ersten Sätze: „Du willst die Geschichte hören? Wie ich den Free Jazz erfunden habe? Sei ehrlich: In Wirklichkeit willst du wissen, warum ich den Free Jazz erfunden habe. Eine Musik, die keiner hören will.“ Und später: „Die meisten Menschen hassen Free Jazz, du ja wahrscheinlich auch. Muss auch jeder selbst wissen. Mir ist es inzwischen scheißegal.“ Vorher musste er allerdings einen Psychiater aufsuchen, weil er es nicht aushielt, vom Publikum ausgelacht zu werden. Als ein Kritiker jedoch den Free Jazz als die „authentische Sprache der industriellen Revolution“ bezeichnet, wendet sich allmählich das Blatt. Tatsächlich wurde sogar der Free Jazz mit der Zeit zum akzeptierten Teil der Jazzentwicklung. Zu einem Phänomen der Massenkultur wurde er aber nie, die Entwicklung von Sub zu Main fand nicht statt, da bei dieser Musik, zumindest aus Sicht der Rezipienten, die Anschlussfähigkeit an frühere Musiktraditionen kaum gegeben ist. Wer dies bestreitet, wie etwa Ekkehard Jost, argumentiert wohl zu musiktheoretisch: „Inzwischen ist für uns alle deutlich geworden, daß Free Jazz weder einen Bruch mit der Jazztradition noch musikalische Willkür bedeutet. […] Wer dies begriffen hat, den wird der Free Jazz nicht vor unlösbare Rätsel stellen, sondern dem wird er Erkenntnisse vermitteln – Erkenntnisse über die Aggressivität und die Bitterkeit, aber auch über die Freude, die Kommunikation und den Humor.“ (Jost 1978, 191) Rauschtenberger wusste, wovon er sprach. 1961 gründete er mit zwei später bekannten deutschen Free Jazz-Musikern, dem Saxophonisten Peter Brötzmann und dem Bassisten Peter Kowald, ein Trio. Notenbast, im Hörspiel Posaunist, steht vermutlich für Brötzmann, über den der Gitarrist Attila Zoller, bekannt für eher coole Klänge, gesagt haben soll: „Ich kann‛s nicht hören, ich möchte alles anstecken oder kurz und klein schlagen, wenn ich eine Weile Brötzmann gehört habe.“ (Zit. n. Berendt 1978, 236) Der Satz ist ganz im Sinne der jungen Free JazzErfinder, die genau das wollten: provozieren, aufwecken, aufrütteln, indem sie etwas ganz Eigenes, bis dahin nie Gehörtes machten. Beispiele, allerdings sparsam eingesetzt, für diese Musik sind im Hörspiel zu hören, sie akzentuieren die großartige Darstellungskunst Rolf Beckers, derentwegen dieses Hörspiel anderen großen Monologhörspielen wie Walter Karl Schweickerts Herhören, hier spricht Jesus Ha-
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ckenberger! (MDR 1951; in der Inszenierung von Radio DDR von 1953 fehlt „Jesus“ im Titel) mit Willy A. Kleinau oder Klamms Krieg (MDR 2001) von Kai Hensel mit Ernst Jacobi an die Seite zu stellen ist.
7. Exkurs zur Typologie
Den bisher einzigen Versuch zu einer Typologie des Hörspiels legte Armin Paul Frank 1963 vor. In modifizierter Begrifflichkeit nahm er sein Konzept 1981 in seiner Monographie „Das englische und amerikanische Hörspiel“ wieder auf. Irmela Schneider bezieht sich in ihrer Übersichtsdarstellung „Das deutsche Hörspiel“ (Schneider 1985) auf die erste Fassung der Typologie, merkt dazu aber kritisch an: „Franks typologischer Versuch, so nützlich er für das Hörspiel der fünfziger Jahre ist, wird allerdings ahistorisch, wenn Frank unter seine vor allem an Beispielen aus der Nachkriegszeit gewonnen Typen auch Hörspiele aus der Weimarer Zeit subsumiert.“ (Schneider 1985, 191) Dem ist hinzuzufügen, dass neuere Formen des Hörspiels, das Neue und das O-Ton-Hörspiel, von der Typologie nicht erfasst werden. Da das Pophörspiel den gesamten gattungsgeschichtlich erreichten Formenbestand integriert, reicht zu seiner Klassifizierung Franks Typologie nicht aus. Dennoch ist der Ansatz, die „Strukturtypen des Hörspiels“ (Frank 1981, 117) auf die mehr oder minder große narrative Distanz bzw. abnehmende Unmittelbarkeit zurückzuführen, interessant, obgleich er sich nur auf erzählende Hörspiele anwenden lässt.1 Grundlage ist der Aspekt des Modus in der Erzähltheorie, der auf einer Skala von dramatisch (unmittelbar) bis narrativ (mittelbar) markiert werden kann. Den höchsten Grad an Unmittelbarkeit hat die autonome direkte Rede ohne Inquit-Formel (er sagte), am anderen Ende der Skala liegt die Erwähnung des sprachlichen Aktes (A sprach mit B) oder der Gesprächsbericht (A sprach mit B über C). Auf der einen Seite ist der Leser ganz nah an den Figuren, auf der anderen Seite ist der Erzähler dazwischen. Dies wendet Frank auf das Hörspiel an, indem er seinen ersten Typus, das dramatische Hörspiel, so definiert: „Es gibt Hörspiele, die nahezu vollkommen die Illusion erwecken, je und je gegenwärtiges Geschehen zwischen Menschen zu übertragen, d. h. menschliches Handeln aus sich selbst heraus sich entfalten zu lassen,
1
Allerdings gibt es Mischformen, etwa aus fiktionalen und O-Ton-Passagen, bei denen sich die fiktionalen Teile mit Hilfe der Typologie beschreiben lassen.
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ohne auktoriales Hinzutun – also ohne daß die auswählende und ordnende Tätigkeit eines Autors bemerkbar wäre.“ (Ebd, 118) Hörspiele dieser Art erfüllen die aus der Dramentheorie bekannten Bedingungen der drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung, sie kennen keine narrative Instanz, die in den Handlungsablauf eingreift.2 Das unterscheidet sie vom nächsten Typus, den Frank objektiv narratives Hörspiel nennt. Darin betätigt sich eine solche vermittelnde Instanz, und zwar entweder implizit durch Zeitsprünge, abrupte Ortswechsel oder Wechsel zwischen verschiedenen Handlungssträngen oder explizit als Erzählerfigur, die Einleitungen, Überleitungen oder Kommentare gibt, dies aber sparsam, aufs Nötigste beschränkt, sonst handelt es sich um ein subjektiv narratives Hörspiel. Eine Sonderform ist die Reportage als Hörspielform, in der der Erzähler in der Rolle eines Reporters auftritt. Im Bewusstseinsporträt oder stream-of-consciousness-Hörspiel erscheint die dargestellte Welt in einem Bewusstsein gespiegelt. Problematisch ist die Grenzziehung zwischen den nächsten drei Typen, die Frank das radiogene Spiel der objektivierten Innerlichkeit, der absoluten Stimmen sowie der reinen Gedanken nennt. Die verbindende Bezeichnung radiogenes Spiel soll wohl andeuten, dass diese Formen ausschließlich im Hörspiel möglich sind, für das spezifisch ist, dass sich die Stimme einer vorgestellten Person zunächst nicht von derjenigen einer im Rahmen der Hörspielhandlung ‚realen‘ Person unterscheidet, ebensowenig wie Gedankenrede anders klingt als ein ‚wirkliches‘ Sprechen. Der Unterschied kann allenfalls durch Hall oder Raumlosigkeit hörbar gemacht werden. Ob aber hier noch das Kriterium der abnehmenden Unmittelbarkeit oder zunehmenden narrativen Distanz geltend gemacht werden kann, ist zu bezweifeln. Vollends gilt das für Franks letzten Typus, das Hörspiel der poetischen Realität, das nicht mimetisch, sondern parabolisch funktioniert. Es enthält Rezeptionssignale an den Hörer, die diesen auffordern, die dargestellte Wirklichkeit als Bild für etwas anderes aufzufassen und auf dieses andere zu übertragen. Frank spricht von einer „vermeinten empirischen Welt“ (ebd., 135) und deutet damit an, dass sich hier die Strukturtypen an den Enden seiner Skala berühren und ein dialektischer Umschlagpunkt erreicht ist, weil diese Hörspiele ihrer äußeren Form nach wieder aussehen (können) wie dramatische Hörspiele. Wegen ihrer erwähnten historischen Begrenztheit ist diese Typologie für das Pophörspiel nur bedingt brauchbar. Sie kann aber für die Formbeschreibung nützlich sein, weshalb sie hier in aller Kürze vorgestellt wurde. Eine Typologie des Pophörspiels kann das jeweils formbestimmende, den Inhalt strukturierende Merkmal zur Klassifikation nutzen: 1.
COLLAGE: Material unterschiedlicher Qualität und Provenienz wird „zusammengeklebt“ und erhält im so entstehenden neuen Kontext eine neue Funktion
2
Ein Beispiel ist das älteste Hörspiel von 1923: Gefahr von Richard Hughes über ein Bergwerksunglück.
E XKURS ZUR T YPOLOGIE
2.
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5.
6.
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und Bedeutung; mit Anderschs Tod des James Dean wurde ein Beispiel vorgestellt. BIOGRAPHISCH: Wie bereits mehrmals erwähnt ist der Stoff zahlreicher Pophörspiele biographisch oder autobiographisch organisiert. Darüber hinaus geht es um den Lifestyle des Popzeitalters, der vor allem Jugendliche geprägt und sie in ihrem weiteren Leben begleitet hat. LITERARISCH: Literarische Texte bestimmen die Struktur der Hörspiele, wobei es sich nicht um Literaturadaptionen im engeren Sinne, sondern eher um Neuarrangements handelt, bei denen auch Musik zur Bedeutungskonstitution beitragen kann. Als Vorlagen dienen keineswegs nur Texte der Popliteratur, sondern auch Klassiker oder Texte der literarischen Moderne. MUSIKALISCH: Die Musik ist das Primäre, sie beherrscht und organisiert den Text (vgl. Kap. 5) in Dancetracks oder Rockopern oder thematisch, wenn bestimmte Popsongs oder Alben im Zentrum stehen. COMIC: Manche Autoren versuchen die Text-Bild-Relation des Comics ins Akustische zu übertragen. Die Hörspiele beruhen dann entweder direkt auf Comic- oder Graphic-Novel-Vorlagen oder sie nehmen die Ästhetik dieser visuellen Kunstformen auf und übersetzen sie ins akustische Medium. INTERMEDIAL: Das Hörspiel nimmt Themen, Stoffe oder Gestaltungsprinzipien anderer Medien, vor allem von Film und Fernsehen, auf; möglich sind dabei direkte Bezugnahmen auf bekannte Filme oder Sendungen, wobei auch O-Ton daraus verwendet werden kann. MEDIENKRITISCH: Erscheinungen aktueller Mediengestaltung werden in kritischer Absicht auf das Hörspiel übertragen und bestimmen seine akustische Form. Dabei macht sich häufig das Radio selbstkritisch zum Thema. Es kann aber auch um mediale Kommunikationsformen, wie z.B. die Kriegsberichterstattung, oder um mediale Vermarktungsstrategien gehen. KRIMI: Das Schema der Kriminalgeschichte wird für Popthemen genutzt. Skandalgeschichten, mysteriöse Todesfälle aus der Geschichte der Popkultur eignen sich hierfür besonders gut. SPRACH- UND MEDIENEXPERIMENTELL: Hier gibt es Berührungspunkte zwischen dem Pophörspiel, Audio Art, dem Neuen Hörspiel und moderner experimenteller Literatur.
Die folgende Darstellung ist weitgehend nach dieser Typologie strukturiert, allerdings gibt es Mischformen, bei denen verschiedene Gestaltungsprinzipien zusammenwirken und eine Entscheidung getroffen werden muss, welches das primär strukturierende Prinzip des jeweiligen Hörspiels ist. Die „Hörspiele im Zeichen von 1968“ werden in einem eigenen Kapitel untersucht, weil es sinnvoll ist, sie in ihren historischen Kontext zu stellen.
8. Hörspiele im Zeichen von 1968
1968 ist zur Chiffre für eine Vielzahl politischer, sozialer und kultureller Neuerungen geworden, von denen nicht alle, aber doch viele langfristig nachgewirkt haben. Dabei stammen einige der wahrhaft ikonischen Bilder, die im (deutschen) öffentlichen Bewusstsein für 1968 stehen – der am Boden liegende, von einer Kugel getroffene Benno Ohnesorg; die nackte Kommune 1 von hinten; zwei Studenten, die zwei Professoren im Ornat das Transparent mit dem Spruch „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“ vorhalten – bereits aus dem Jahr 1967. Aber die inzwischen zahlreiche Gedenkliteratur aus Jubiläumsjahren trägt die Jahreszahl 1968 im Titel. Die Folgen werden bis heute in umfangreichen Monographien aufgearbeitet.1 Wenn 1968 „die letzte Revolution, die noch nichts vom Ozonloch wußte“ war – so nannten Daniel Cohn-Bendit und Reinhard Mohr ein Bändchen, das zwanzig Jahre danach, also 1988, erschien – , wenn also den „Achtundsechzigern“ der letzte Ernst noch fehlte, weil ihnen die globalen Umweltprobleme noch kein Thema waren, so fehlte es ihnen jedenfalls nicht an einem klaren Bewusstsein für Medienwirkungen. Das zeigen Fotobände wie der Klassiker „Ihr müßt diesen Typen nur ins Gesicht sehen“ von Michael Ruetz (erschienen 1980) ebenso wie akustische Inszenierungen in Gestalt von Sprechchören auf Demonstrationen, die inzwischen zum „Sound des Jahrhunderts“ gehören. Der berühmteste ist zweifellos der „Kampfschrei“ „Ho Ho Ho Chi Minh“, der jüngst als „symbolischer Schlüssel-Sound der Revolte“ bezeichnet worden ist.2
1
Ein Beispiel ist Sven Reichardts 1000-Seiten-Werk „Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren“, Berlin (Suhrkamp), 2014.
2
Der „Sound des Jahrhunderts“ ist dokumentiert in dem gleichnamigen Band, herausgegeben von Gerhard Paul und Ralph Schock, Bonn (bpb) 2013; darin findet sich ein Aufsatz über „Die Kampfschreie der Studentenbewegung“ von Kathrin Fahlenbrach, S. 472475.
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Bezogen auf das Hörspiel ist man geneigt, an die Sprechchor-Bewegung vom Anfang des Jahrhunderts zu denken, die sowohl proletarische als auch bürgerliche Wurzeln hatte, letztere vor allem in der Jugendbewegung, und deren Filiationen sich in Hörspielen nach 1930 wiederfinden lassen.3 Einige Hörspiele von 1968ff. nehmen die Sprechchöre von der Straße auf, teils in O-Tönen, teils in artifiziellen Sprachexperimenten. Wichtiger ist jedoch die Medienreflexion, die in vielen dieser Hörspiele stattfindet und die entweder sehr belehrend und theoretisch unterfüttert oder komisch bis clownesk, etwa im Stil der Aktionen von Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann, daherkommt. Ein weiterer im Hörspiel zu beobachtender Einfluss ist der der hedonistischen Hippiekultur mit ihren angestrebten körperlichen und psychischen Entgrenzungen, beflügelt durch Musikerlebnisse und Drogen, die allerdings schon bald in eine Krise geriet. Allen gemeinsam ist eine aus heutiger Sicht überwältigende Experimentierfreude, die auch so schräge Laienproduktionen wie Michael Glasmeiers Kaputt, das unbekümmerte Werk eines siebzehnjährigen Schülers, den Weg ins öffentlichrechtliche Radioprogramm finden ließ. Aus der Sicht des Musikers sagte der Gitarrist Jimmy Page rückblickend über jene Zeit: „Wir hatten keine Furcht. Es war wunderbar. […] Mein Plan war tatsächlich, die Produktionsmechanismen zu revolutionieren, indem ich mit dem Verhältnis von Klängen und Räumen experimentierte.“ (in DIE ZEIT, 22. Mai 2014) Gleiches gilt für viele Hörspielmacher.
8.1 R OLF D IETER B RINKMANN Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975), sensibles enfant terrible der Literatur und einer der Wegbereiter der Popliteratur in (West-)Deutschland, ist vor allem als Lyriker und Verfasser des autobiographischen Romans Keiner weiß mehr (1968) bekannt. Als Herausgeber brachte Brinkmann damals aktuelle US-amerikanische Lyrik nach Deutschland (ACID, Lunch Poems, Silver Screen). Auf großes Interesse des Publikums stieß auch der vier Jahre nach Brinkmanns Unfalltod erschienene großformatiger Band Rom, Blicke (1979), entstanden während eines Aufenthalts in der Villa Massimo, der sich weder auf die Textsorte ‚Tagebuch‘ noch überhaupt auf den Begriff ‚Literatur‘ reduzieren lässt, enthält er doch neben Beobachtungen, Schilderungen von Erlebnissen, Fragmenten von Erzählungen, Briefen, Reflexionen, Essays, Aphorismen auch Fotos, Landkarten, Fotokopien aus Büchern und Zeitschriften, von Rechnungen aus Restaurants, Werbung, Zeichnungen, Kritzeleien. Das ganze ist ein Fluss ohne Ufer wie Hans Henny Jahnns gleichnamiger, ‚aus-
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Etwa in Hermann Kasacks Der Ruf von 1932, dann verstärkt in den „Weihespielen“ der Nazionalsozialisten.
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ufernder‘ Roman, den Brinkmann in jener Zeit las, von dem er so beeindruckt war, dass er seiner Materialsammlung ein Motto daraus voranstellte: „Träume, diese Blutergüsse der Seele“. Brinkmann trachtete danach, Grenzen zu sprengen: zwischen Gattungen und Medien, zwischen Wichtigem und (scheinbar) Unwichtigem, zwischen Moral und Unmoral. In jeder Straßenszene lauert das Obszöne, das dieser Autor und Medienkünstler nicht schamhaft übersieht, sondern zutage fördert. Das Alltäglich-Banale reizt ihn dann zur Wut, wenn es Automatismen der Wahrnehmung, voraussehbare Handlungen und Reaktionen produziert, und es regt ihn zu zärtlicher Hingabe an, wenn er sich in einem Moment hellwacher Aufmerksamkeit plötzlich von ihm berührt fühlt. Aus dem vordergründig Banalen kann so ein „Wunder“4 werden und aus dem Wunder Poesie, dies wiederum trotz der tiefen Sprachskepsis, die an diejenige Hugo von Hofmannsthals in seinem Brief an Lord Chandos oder an Fritz Mauthner erinnert, den Brinkmann rezipierte. Der berühmteste Satz aus dem Chandos-Brief lautet: „Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“ (Hofmannsthal 1969, 106) In Mauthners Werk „Beiträge zu einer Kritik der Sprache „ heißt es: „Die Kultursprachen haben die Fähigkeit verloren, den Menschen über das Gröbste hinaus zur Verständigung zu dienen. Es wäre Zeit, wieder schweigen zu lernen.“ (Mauthner 1901, 215) Von Mauthner übernahm Brinkmann das Wort „Wortaberglaube“ und sagte in diesem Zusammenhang über sich selbst: „Ich bin kein Dichter. Ende 1969 habe ich aufgehört, mich mit Literatur zu beschäftigen.“ (Zit. n. Epping-Jäger 2012, 55) Das Zitat ist transkribiert aus dem umfangreichen Audiomaterial, das 1973 für den WDR entstand. Brinkmann erhielt leihweise ein tragbares Tonbandgerät und nahm insgesamt fast 660 Minuten Material auf: bei Gängen durch Köln, in Kneipen, in seiner Familie, im Studio, am Schreibtisch. Auszüge waren 1974 in der WDR-Sendung Die Wörter sind böse. Kölner Autorenalltag 1973 zu hören. Wesentlich größere Teile des Materials, nämlich 360 Minuten davon, wurden 2005 in einer CD-Box mit dem Titel Wörter Sex Schnitt veröffentlicht und auch im Radio gesendet. Was mag Brinkmann an dieser Produktionsform, die damals noch nicht Hörbuch hieß,5 gereizt haben? Zwei Hypothesen, die einander nicht ausschließen, bieten sich an: Erstens brauchen die Wörter die Stimme als Medium, nehmen dadurch eine körperliche Qualität an und beeinflussen sich wechselseitig mit anderen akustischen Phänomenen wie Straßenlärm, Geräusch der eigenen Schritte, Schnaufen, 4
Bestes Beispiel ist das Gedicht „Einen jener klassischen / schwarzen Tangos in Köln, Ende des / Monats August“ aus dem Band Westwärts 1&2 (1975/1999).
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Die CDs werden so genannt, entsprechen dieser Bezeichnung aber eigentlich nicht, sondern stellen eine Sonderform dar, ebenso wie Stuckrad-Barres Liverecordings oder Peter Kurzecks Erzählungen.
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Rülpsen, Klicken beim Einschalten des Apparats, Rückkoppelungen usw. Durch das Sprechen beim Gehen entsteht z.B. ein ganz eigentümlicher Sprachrhythmus, den die Schritte, deren Knirschen auf Sand oder Klacken der Absätze auf Asphalt, vorgeben. Statt das Leben in Sinnschablonen stillzustellen, wird die Sprache so zu einem Moment des Lebens, wächst aus ihm heraus, verwandelt sich ihm an. Wut auf die Kölner Spießbürger, auf den Dreck in der Stadt und das schmuddelige Wetter kann einfach herausgeschrien werden und bekommt so eine Wucht, die über diejenige der Worte weit hinausgeht. Zweitens entzieht sich der spontan hervorgebrachte Text der Formgebung und Kontrolle und wird zum nicht planbaren Ereignis, zur „Momentaufnahme“ eines Raums, in dem „unritualisiertes Sprechen“ möglich ist (zit. n. Epping-Jäger 2012, 57). So sollten nach Brinkmanns Vorstellung auch Gedichte entstehen: „Ich denke, daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich zeigende Empfindlichkeit konkret als snapshot festzuhalten.“ (Brinkmann 1994, 38) Wenn überhaupt Literatur noch entstehen kann, dann findet sie ihr Material im Alleralltäglichsten, wozu auch Hervorbringungen der Populärkunst, z.B. des Films oder der Popmusik, gehören: „Welcome to the Rolling Stones! Die Texte der Fugs sind besser.“ Besser nämlich als die Gedichte der „sogenannten großen, alten Vorbilder in den Regalen moderner Antiquariate“ (ebd.). Ein Vorbild sieht Brinkmann dagegen in dem als chaotisch und unorganisiert geltenden US-Poeten Frank O’Hara, dessen angeblich in der Mittagspause entstandene Lunch Poems er übersetzte und herausgab. Ihm und „all denen, die sich immer wieder von neuem gern auf den billigen Plätzen vor einer Leinwand zurücksinken lassen“ (ebd., 40), widmete er einen Gedichtband. Beim Gehen durch Köln reagierte er sprachlich und stimmlich auf alles, was ihm gerade begegnete, und zwar noch unmittelbarer als in manchen seiner besten Augenblicksgedichte. Das gleiche Material, aber stärker geformt und thematisch fokussiert, verwenden die drei Hörspiele, die Brinkmann in kurzer Folge in den Jahren 1971-73 veröffentlichte. Das erste heißt Auf der Schwelle (WDR 1971) und variiert das Schema des Kriminalstücks, Sektion Gangsterdrama.6 Der Hörer lässt sich im Sessel vor seinem Radio zurücksinken, fühlt sich in die Akustik eines Kinosaals versetzt – und erschrickt, nicht vor dem Unbekannten, sondern vor dem allzu Bekannten. Es geht in einer seriellen, auf zirkulären Wiederholungen beruhenden Form um Gewaltakte aller Art: Auspeitschen, Folter, Sturz aus dem Fenster, Erschießen usw. Gleichzeitig empfindet er aber, trotz der Schrecklichkeit der Inhalte, Vergnügen, weil er ständig Bekanntes wiedererkennt, und zwar von den geäußerten Worten bis hin zu akustischen Details wie Stimmführung, Artikulation, Hintergrundgeräusche. Als Leitmotiv erweist sich bald der Dialogfetzen: „Wir haben schon für eine Menge 6
Auf Martin Maurachs positive Würdigung dieses Stücks wurde in Kap. 4 bereits hingewiesen.
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weniger wen umgebracht.“ – „Charlie, du bist immer eine Nummer besser.“ – „Deswegen lebe ich noch.“ Durch die Worte und die Art, wie sie geäußert werden, wird das Bild einer Szene zwischen zwei schmierigen, unbedeutenden, aber, wenn verlangt, äußerst brutalen, rücksichtslosen Gangstern evoziert. Es ist ein intimer Moment zwischen den beiden, in dem sich Vertrautheit – sie kennen einander aus vielen brenzligen Situationen –, aber auch latente Drohung offenbaren. Schon im nächsten Augenblick kann es wieder gefährlich werden, für ein potentielles Opfer ebenso wie für die beiden Täter, die natürlich nur Handlanger eines viel größeren Verbrechers sind. Das alles steht nicht im Text und muss dort nicht stehen, weil sich derartige Trivialmythen, bestehend aus bestimmten Figuren, Handlungen, Bildern und Geräuschen, im Gedächtnisarchiv des modernen Rezipienten befinden und dort mit der Wahrnehmung einzelner ihrer Elemente jederzeit als Ganze aufgerufen werden können. Es erübrigt sich beinahe, darauf hinzuweisen, wie das Olaf Selg in seiner Brinkmann-Studie wiederholt tut (z.B. Selg 2001, 293, 297), dass dieser Autor für seine Hörspiele weder eine auf Spannung zielende Dramaturgie noch einen Plot noch konsistente Figuren benötigt, ja dass er all diese Bestandteile traditioneller Hörspiele vehement ablehnt, weil er sie unendlich langweilig, überholt und abgegriffen findet. Denn er konnte auch andere herkömmliche Form- und Gattungsmuster, der Lyrik, des Romans, für seine schriftstellerische Produktion nicht gebrauchen. Wie erwähnt zweifelte er sogar an der Tauglichkeit der Sprache selbst als Medium der Welterfassung. Aber auch Organisationsprinzipien epischer und dramatischer Texte wie Rede / Gegenrede als Abfolge von Sprechakt (Illokution) / erwarteter Anschlusshandlung (Perlokution), Ursache / Wirkung, zeitliche Abfolge usw. werden außer Kraft gesetzt. So werden die Erwartungen an ein Kriminalhörspiel konterkariert, die zugleich durch bestimmte, für dieses konstitutive Elemente sprachlicher und akustischer Art immer wieder abgerufen werden: der Schuss, das Verhör, die Zeugenbefragung, der Detektivbericht. In seiner überaus genauen Analyse misst Selg die Hörspiele Brinkmanns an Kriterien, die einerseits für das traditionelle dramatische, andererseits für das experimentelle Neue Hörspiel gelten. Den Einfluss der Popkultur auf diese Hörspiele schätzt er als gering ein: „ Im Vergleich zu den vorhergehenden Prosatexten haben Beat- und Popkultur-Elemente inhaltlich so gut wie keine, und die Bezugnahme zur Sexualität nur eine untergeordnete Bedeutung. […] Beat, Pop Art und Sexualität, insbesondere in den Essays und Gedichten affirmative Hoffnungsträger einer lebenswerten Welt, haben in der zunehmend subjektiv-negativen Umweltrezeption der Hörspiele ausgedient.“ (Selg 2001, 288f.) In Bezug auf die Musik ist Selg zuzustimmen: „Insgesamt erstaunt ein wenig die geringe Rolle der damals aktuellen Pop- bzw. Beat-Musik in den Hörspielen, verglichen mit der Bedeutung, die sie in vielen anderen Prosatexten erreicht.“ (Ebd., 342) Aber was die künstlerischen Verfahren anbelangt, greift Brinkmann durchaus auf Techniken der Pop Art zurück.
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Dagegen spricht nicht, dass die „(seriellen) Stereotypen und Wiederholungen bzw. variierten Wiederaufnahmen […] als selbst geschaffene und nicht als Ergebnis eines Pop Art-ähnlichen Umgangs mit vorgefundenen Elementen“ erscheinen. (Ebd., 308) Der Hörer kann nämlich bei diesen Elementen nicht entscheiden, ob es sich um O-Töne oder um ‚nach der Natur‘ geschaffene Klangerereignisse handelt. Die Produziertheit der scheinbaren O-Töne spielt für den Hörer keine Rolle.7 Ein Beispiel: Im Hörspiel Der Tierplanet (WDR 1972) heißt es an einer Stelle unvermittelt: „Achtung auf Gleis 4 hat Einfahrt: Schnellzug von Hamburg-Altona.“ Dies klingt so, als sei es direkt auf dem Bahnhof aufgenommen worden, aber die Aufnahme kann genauso gut im Studio entstanden sein. Entscheidend ist das Collageverfahren, bei dem sich Selg an die cut-up-Methode des Beat-Poeten William S. Burroughs erinnert fühlt. (Ebd., 318) Die Methode funktioniert wie folgt: „The method is simple. Here is one way to do it. Take a page. Like this page. Now cut down the middle and across the middle. You have four sections: 1 2 3 4 ... one two three four. Now rearrange the sections placing section four with section one and section two with section three. And you have a new page.“ (zit. n. HörDat)
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Die von Brinkmann verwendeten Versatzstücke können durchaus nach dieser Methode arrangiert worden sein. Die Textkohärenz – der Begriff soll hier auch auf akustische ‚Texte‘ angewandt werden – ergibt sich dann primär nicht auf einer syntagmatischen, sondern auf einer paradigmatischen Ebene. Die Beziehungen zwischen den Textpartikeln, seien es sprachliche oder klangliche, entstehen vor allem durch Äquivalenz und finden ihre Grenzen nicht in den Texten, sondern in den Gedächtnisarchiven der Rezipienten.9 Diese Archive sind zunehmend mit Partikeln bestückt, die nicht aus direkter Erfahrung, sondern durch Medienrezeption entstanden sind. Welche Themen bzw. kulturellen Paradigmen sind nun in Brinkmanns Hörspielen zu entdecken? Die drei Hörspiele Auf der Schwelle, Der Tierplanet und Besuch in einer sterbenden Stadt (WDR 1973) können als eine Versuchsserie über Gewalt
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Selg scheint dies kritisch zu beurteilen: „Damit bleibt er – auch in der engeren Einbindung von Pop(Art)-Elementen – hinter seinen zeitgleichen Materialbänden zurück.“ (S. 312)
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In seinem Hörspiel Cut Up Burroughs (BR 1989), auf das sich das Zitat bezieht, hat CarlLudwig Reichert diese Methode auf O-Töne von Burroughs angewandt (siehe dazu Abschnitt 10.3).
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Dies ist eben der Vorgang, den Moritz Baßler für die Rezeption von Pop-Romanen beschreibt (s.o.).
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(in) der modernen Zivilisation und ihre Folgen aufgefasst werden.10 Im ersten Hörspiel tritt die Gewalt im kriminellen Milieu zutage, im zweiten ist sie teils in den Alltag verlagert (vgl. Selg 2001, 286), wird aber zugleich (pseudo-)wissenschaftlich reflektiert durch die Figuren Doktor Reich, Korzybski und den Verhaltensforscher. Das dritte Hörspiel erscheint wie ein Abgesang auf die technisch-medial geprägte Zivilisation nach einer Orgie der Zerstörung und Vernichtung, ein Zukunftsbild, das interessanterweise konterkariert wird durch die immer wieder angespielte und schließlich sogar zu einem Abschluss gebrachte Orgelmusik des Barockkomponisten Alessandro Scarlatti. Das Hörspiel Auf der Schwelle ist zweifellos aus Brinkmanns Beschäftigung mit dem US- amerikanischen Gangstermilieu der 20er und 30er Jahre hervorgegangen. Der Autor hatte die Memoiren einer Gangsterbraut von Virginia Hill gelesen und im SPIEGEL unter dem Titel „Phantastik des Banalen“ rezensiert. Im Hörspiel kommen zu Wort: Virginia Hill, ihr Freund Benjamin Siegel, genannt Bugsy, dessen Kumpan Dutch Schultz, der eigentlich Arthur Flegenheimer hieß. Sein leitmotivischer Satz „Wenn ich Arthur Flegenheimer geblieben wäre, hätte man nie von mir gehört“ verweist darauf, dass er neben seiner realen eine mediale Existenz hatte und ‚Dutch Schultz‘ wie ein Künstlername oder Markenzeichen seine Bekanntheit garantiert. Außerdem macht Joe Valachi, Mitglied der amerikanischen Cosa Nostra und späterer Kronzeuge, Aussagen. Schließlich wird die Schauspielerin Jean Harlowe erwähnt, mit der Bugsy Siegel ein Verhältnis gehabt haben soll. Weitere Namen wie Cohen, Fischetti, Costello lassen sich nicht ohne Weiteres identifizieren und stehen neben Bezeichnungen wie ÄLTERER MANN, JÜNGERER MANN, ARZT, FRAGER, STIMME usw. sowie Nummern von Sprechern. Die Figuren erhalten kein psychologisches Profil, sondern wechseln einander mit Reden, Sätzen, Satzfragmenten, Einzelwörtern ab, deren Bedeutung keineswegs ausschließlich im Inhalt, sondern auch in der Stimmführung und Artikulation liegt bzw. aus der Komplementär- oder Kontrastwirkung der Geräusche entsteht. „Die Klischees sind ausgezehrt. Die Figuren haben sich tief darin zurückgezogen“, schreibt Brinkmann in der SPIEGEL-Rezension. Es macht keinen Unterschied, ob die Figuren wirklich gelebt haben oder fiktiv sind. Alle repräsentieren die Klischees entweder vom Gangster oder vom Opfer. Und jeder Rezipient kennt diese Klischees, obwohl er vermutlich nie etwas mit der Mafia zu tun gehabt hat, aus medialen Repräsentationen, seien sie fiktiv (Kriminalfilm oder -roman) oder informierend (Nachrichten, Dokumentation). Dazu Brinkmann: „Die Stilfigur des Gangsters aber ist eben nicht allein eine Sache literarischer Artikulations- und politisch ambitionierter Interpretationslust, sondern sie zeigt an, von welchen immer noch mächtigen Fiktionen die sogenannte Wirklichkeit besetzt ist.“ (Ebd.) Die Ver10 Die Texte sind enthalten in dem Band: Der Film in Worten (1982), im Folgenden zit. als FiW.
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satzstücke, die er im Hörspiel verwendet, stammen aus der „sogenannten Wirklichkeit“ ebenso wie aus der (Trivial-)Kunst, und dieser Befund macht mehrere Deutungen möglich: 1. 2. 3.
Das Hörspiel macht auf die in unserer Gesellschaft überall (und nicht nur im kriminellen Milieu) gegenwärtige Gewalt aufmerksam. Es kritisiert Medien, die uns an diese Gewalt gewöhnen und uns dagegen abstumpfen. Brinkmann fände diese beiden Interpretationen wahrscheinlich viel zu kopflastig; im Vorwort zum Hörspiel spricht er von der von der uns phylogenetisch anhaftenden körperlichen Faszination durch Gewalt: „Ihr grausamer Ausdruck spricht den menschlichen Körper komplexer an, als es das Begreifen wahrhaben möchte.“ (FiW 5)
Die physisch induzierte Faszination durch Gewalt wird ergänzt durch alptraumhafte Regungen aus dem Unterbewusstsein, die sich in surrealen Bildern niederschlagen. Selg spricht von der „Transformierung von einer alltäglichen in eine surreale Bedeutungsebene“. (Selg 2001, 317) Sie ist schon am Anfang von Auf der Schwelle zu beobachten: „In der Luft mitten im Fallen sah der Körper ruhig aus. Er fiel schnell an den Glaswänden des grünlichen Gebäudes entlang früh am Nachmittag in der hellen Leere drei Uhr zwanzig an einem langen Geleefaden aufgehängt, (der sich schnell auseinanderzog)11.“ (FiW 7) Der Geleefaden ist die surreale Verlängerung der Wirklichkeit, die dem objektiv Messbaren, Beobachtbaren – der (vorgestellten) Geometrie des Gebäudes, der präzise bestimmten Zeit – das Amorphe, Klebrige, nicht Fassbare gegenüberstellt oder besser: es aus ihm herauswachsen lässt. In den beiden anderen Hörspielen scheint sich diese Materie, die wir meist als Ekel erregend empfinden, zu verselbständigen. Der letzte subjektlose Satz von Der Tierplanet lautet: „[...] lösten sich zu grauem, ranzigen Schleim auf.“ (FiW 199) Es gibt aber auch Bilder der Erstarrung, des Toten, Entseelten, die beim Betrachter Angst auslösen.12 Auch Metamorphosen werden möglich: Aus dem auf den Rücken gebundenen Spielautomaten resultiert die Verwandlung eines Menschen in einen solchen Automaten, der aus dem Fenster geworfen wird und zerspringt: „In dem weichen röchelnden Morgenlicht zitternd auf den Fensterscheiben des Bürogebäudes der amerikanische Spielautomat splitternd in grünblauen Farben.“ Das vierte Element sind scheinbar sinnlose, teils sadistische Gewalttaten („die Genitalien in einen Schraubstock gepresst“).
11 Der Relativsatz fehlt in der Textfassung, ist also eine Zutat der Hörspielregie. 12 Selg hat für das Hörspiel Der Tierplanet eine Liste surrealer Sprachbilder zusammengestellt (S. 320).
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Es hat den Anschein, als komme es Brinkmann vor allem auf die Intensität der Empfindungen an, die er mit seinen Sprachbildern auslöst, nicht darauf, ob diese Empfindungen angenehm oder unangenehm sind.13 In Auf der Schwelle sieht er eine dazu im Kontrast stehende populäre Musik vor, die einlullenden Charakter hat: Frank Sinatra singt My Funny Valentine, Rudi Schuricke singt „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“, ein paar Takte von Glenn Miller sollen zu hören sein, dann der Schlager Big Boss Man, gesungen von Jerry Lee Lewis, sowie Buddy Hollys Peggy Sue. (FiW 9, 11, 15) Die Regie entschied sich stattdessen für ein romantisches Klaviermotiv, das immer wieder eingespielt wird. In Der Tierplanet ist fast durchgängig Musik unterlegt, die (laut Selg) vom (Wolfgang) Dauner-Trio gespielt wird, überwiegend Free Jazz, vereinzelt Blues Rock, oft ein angespielter Tango, dessen Melodie an das kommunistische Kampflied Vorwärts und nicht vergessen erinnert.14 Hinzu kommt eine leise, ganz im Hintergrund ertönende Streichermusik, die in einem Kaufhaus oder eher noch in einer Hotelbar aufgenommen sein könnte, fast unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, für die sich die Bezeichnung ‚Muzak‘ eingebürgert hat. Sie begleitet Berichte einer Männerstimme, die jeweils mit den Worten „Zurück in der Gegenwart“ eingeleitet werden und längst nicht so alltäglich sind, wie die Musik suggeriert. Am Ende von Der Tierplanet steht die Auflösung jeglicher Ordnung, werden die akustischen Ebenen, auf denen Zurufe, Satzteile, Berichts- oder Dialogfetzen erklingen, unüberschaubar. Die Wörter sind in jedem Fall desavouiert, die Reflexionsebene dazu liefert im Hörspiel Korzybski, dessen reales Vorbild in seiner Allgemeinen Semantik die Irreführung des Gehirns durch Wortbedeutungen aufzudecken bestrebt war. „Also schleppen sie sich durch den Müll und reagieren auf Wörter, anstatt auf den Fakt, den das Wort bezeichnet“ (FiW 161), sagt Korzybski und, die Grammatik gleich mit erledigend: „Schafft den alten mythischen Gaul aus dem Zimmer: Subjekt, Prädikat, Objekt.“ (FiW 163) Sibylle Späth sieht in dieser Sprachkritik auch den Ansatz für die Kritik an der „klassischen Psychoanalyse Freudscher Prägung“: „Mit ihrem Gegenspieler Wilhelm Reich kennzeichnet Brinkmann sprachlich konstituierte Theorieansätze als tautologische Unterfangen mit Selbsttäuschungscharakter.“ (Späth 1989, 71)
13 Mit Bezug auf Deleuze und Guattari („Tausend Plateaus“) spricht Markus Tillmann in seiner Studie „Populäre Musik und Pop-Literatur“ (2013) „von einem ‚Musik-Werden‘ des Schriftstellers […], dessen Zweck es ist, tradierte Formen aufzulösen und Flüsse und Intensitäten zu erzeugen.“ (S. 15) Tillmann widmet u.a. Brinkmann ein Kapitel. 14 Diese musikalische Begleitung ist überwiegend der Inszenierung geschuldet. Im Text ist von einem Tango die Rede, der mehrfach angespielt werden soll. An anderer Stelle erwähnt Brinkmann eine Platte von Stan Getz, Corcovado, (FiW 169, 170, 194); Brinkmann macht sehr genaue Angaben sogar zum Plattenlabel und zu den Stellen, bis zu denen die Stücke gespielt werden sollen.
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Erwähnt werden muss noch ein Bild, mit dem Brinkmann für manchen aufmerksamen Hörer die Grenze des guten Geschmacks überschritten haben mag: „Sanftes gelbliches Licht, gefiltert durch die präparierte Haut eines Mädchens, die über den Lampenschirm gespannt ist.“ (FiW, 156) Die Auschwitz-Assoziation dürfte beabsichtigt sein, desgleichen mit dem makabren Bericht des Wissenschaftlers, der der anstrengenden Tätigkeit nachging, Lebende und Tote vergleichend zu wiegen und die Ergebnisse bis auf zehn Stellen hinter dem Komma zu notieren, um schließlich festzustellen, dass das Leben kein Gewicht hat. Formal scheint die Ordnung in Besuch in einer sterbenden Stadt durch die Abfolge kurzer erzählender, beschreibender oder berichtender Texte, gesprochen von fünf namenlosen, im Skript nummerierten Männerstimmen, wiederhergestellt. Als einziges Geräusch sind die Schnitte zu hören, die wie das Knacken beim Aus- oder Einschalten eines Tonbandgeräts klingen, dies allerdings unregelmäßig, keinem erkennbaren Rhythmus folgend. Ebenso unregelmäßig erklingen die bereits erwähnten Bruchstücke einer Toccata Alessandro Scarlattis. Im Gegensatz zu der im Vergleich zu den beiden anderen Hörspielen wenig aufregenden Form steht allerdings der Inhalt der Texte, die „eine letzte Landschaft wüster Entropie“ darstellen. Das Ganze wirkt, als habe Brinkmann es sich zur Aufgabe gemacht, Paradigmen negativ konnotierter Wörter zum Oberbegriff ‚Entropie‘ aufzustellen. Dazu gehören: Verwesung, Fäulnis, Verstümmelung, Ausscheidungen, Schimmel, Dreck, Schleim, Gestank, Trümmer, Schmiere, Müll; Subthemen sind Bezeichnungen für Tiere: Ratten, Insekten, Kaulquappen, Raupen, Käfer; in Frage kommende Gefühle oder Gemütszustände sind Hass, Wut, Wahnsinn, Delirium. Die entstehende Szenerie ist in eine „farblose Helligkeit“ oder „helle Farblosigkeit“ getaucht. Diese Endzeit-Vision ist ein Gegenbild zur verführerischen Konsum- und Vergnügungswelt des Popzeitalters. Dennoch trägt Brinkmann zur Pflege und Fortschreibung der Archive dieses Zeitalters bei, oft ganz unscheinbar wie an einer Stelle des Tierplanet, an der unvermittelt Titel von Trivialfilmen aufgezählt werden: Die Nacht der lebenden Toten (Horrorfilm von 1968, später zum Kultfilm mutiert und als erhaltenswertes Kulturgut eingestuft), Ein dicker Hund (Komödie von 1969), Drei auf einer Couch (Komödie von 1966), Zu heiß gebadet (Komödie mit Jerry Lewis von 1961), Tampeco [sic] (Italowestern von 1966) (FiW 183)15. Zur Sammlung gehören auch sprachliche Versatzstücke, kommunikative und idiomatische Phraseologismen: „eine bedrohliche Atmosphäre“, „der heiße Atem des Dschungels“, „der Duft grüner Weiden“, „fantastisch“, „Geil, Mensch, geil!“, „Bloß schnell weg“, „Ich glaub, ich krieg die Panik“, „Knall ihm einen vor den 15 Im Text sind die Filmtitel mit Fragezeichen versehen. Außerdem wird Missouri River genannt (nicht zu ermitteln). An anderer Stelle entsteht aus Filmtiteln ein Frage- und Antwortspiel (FiW 186). Das Genreschema wird hier um Sexfilme wie Die Vergnügungsspalte (1971) und Der Wüstling (1969 erweitert.
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Latz“, „Wie die Fliegen“, „Ich würde wahnsinnig werden“ usw. (alle Beispiele aus Der Tierplanet). Eine vollständige Auswertung aller sprachlichen und akustischen Elemente der drei Hörspiele würde den Umfang einer eigenständigen Monographie verlangen.16 Ein Vergleich der Texte mit den akustischen Realisierungen durch die Regisseure Raoul Wolfgang Schnell und Ulrich Gerhardt für den WDR müsste weniger darauf zielen, einzelne Abweichungen zu registrieren, als vielmehr die Eigenständigkeit der Inszenierungen herauszuarbeiten und letztlich die Gesamtwirkung zu beurteilen. Einen Ansatz zur Beschreibung dieser Wirkung liefert Sibylle Späth: „Die Hörspielrealisation des WDR montiert diese verschiedenen Sprechertexte über weite Strecken ineinander, in denen ein eindringliches Hörerlebnis verschiedener Möglichkeiten der Artikulation von Angst entsteht. Angst wird in diesen Texten zum paradigmatischen Erfahrungsmuster der Gegenwart, zur einzigen unmittelbaren, authentischen Erlebensform, zur letzten kommunizierbaren Möglichkeit der Selbstaussage.“ (Späth 1989, 71) Diese Interpretation lässt sich sowohl mit Textstellen, insbesondere mit einer Stelle aus Der Tierplanet begründen, in der eine Frau ihre diversen Ängste aufzählt (FiW 178), als auch mit verschiedenen Merkmalen der akustischen Realisierung wie Geräuschen von Gewalttaten und Folter in Auf der Schwelle, mit der überwiegend disharmonischen und rhythmisch scheinbar unstrukturierten Musik von Wolfgang Dauner in Der Tierplanet und mit der Stimmführung und -qualität in allen drei Hörspielen (wobei sich wieder einmal die angeraute Stimme von Christian Brückner in Besuch in einer sterbenden Stadt als besonders wirkungsvoll erweist). Aber das Schreckliche wächst aus dem Alltäglichen heraus, das in der akustischen Realisierung ebenfalls präsent ist: Verkehrsgeräusche, Kino-Akustik, einlullende ‚Muzak‘, der sachliche Berichtston eines Mannes oder einer Frau, ein romantisches Klaviermotiv, das sich anhört, als komme es aus einem Radio. Brinkmann schreibt im Vorwort zu Auf der Schwelle: „Stimmen hört jeder. Meistens sind sie langweilig. Aber plötzlich, nach einer schwierig zu ertragenden Stille, beginnt irgendjemand zu sprechen, und die Stimme erschreckt.“ Beides ist zu hören, das Übliche, Langweilige, und das Plötzliche, Erschreckende. Hinsichtlich dieser Intention Brinkmanns sind die Realisationen des WDR gelungen, auch wenn hier und da aus dramaturgischen Gründen gekürzt, gestrafft, vereinfacht wurde,17 was Selg offenbar kritisch sieht, wenn er von einer „Verringerung der vom Autor angestrebten ‚Verwirrung‘“ spricht (Selg 2001, 329).18 16 Auch Selg gelingt sie auf mehr als 60 Seiten bei Weitem nicht. 17 Das trifft vor allem auf die langen Geräuschsequenzen zu, die Brinkmann im Tierplanet vorsieht. 18 Das Argument der zu geringen zur Verfügung stehenden Sendezeit, das Selg anführt, ist nicht ganz stichhaltig, da alle drei Hörspiele kürzer sind als die üblichen ca. 53 Minuten.
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Vor allem Rezipienten, die an traditionelle Hörspiele gewöhnt sind, werden durch die beiden ersten Stücke hinreichend verwirrt, vom dritten vielleicht abgestoßen werden. Selgs Fazit, Brinkmanns Hörspiele lägen zwischen traditionellem und Neuem Hörspiel, ist nur bedingt zuzustimmen. Vom traditionellen Hörspiel haben sie so gut wie nichts, vor allem dann nicht, wenn man sie als Ganze wahrnimmt und nicht einzelne Schnipsel herausnimmt. Hingegen haben sie Züge von Pophörspielen, indem sie einer „Grundtendenz“ folgen, mit der Brinkmann auch seine Vorliebe für moderne amerikanische Lyrik begründete: „zu kopieren, ein Vorhandenes in das Gaghaft-Flache zu verändern, das Tiefsinnig-Innerliche und ‚Gedankenreiche‘ in die Tiefe der Oberfläche, d. h. in das Konkrete zu verschieben, zu vulgarisieren“ (Brinkmann 1969, 25). Die Stücke animieren zum genauen Hinhören und zielen mehr auf eine vegetative Reaktion als auf das Auslösen von Reflexion. Man solle sich vorstellen, wie es ist, wenn man unvermutet einen Schlag in den Magen erhält, fordert Brinkmann im Vorwort zu Auf der Schwelle auf. Und weiter: „Erinnern Sie sich an Atembeschwerden, an einen Stich in der Seite.“ Oder bezogen auf Worte: „Erinnern Sie sich daran, daß jemand Ihnen gesagt hat, Sie seien der letzte Dreck.“ Und zusammenfassend: „Wenn Sie das begriffen haben, werden Sie sprechen, wie ich es mir vorgestellt habe, als ich das Hörspiel schrieb, diese holprige Revue, dieses stockende Ballett, den kranken Bilderbogen aus Stimmen und Handlungsfetzen.“ (FiW 6) Brinkmann gehört zu den „neuen Archivisten“ (Baßler), er nutzt deren Verfahren (cut up, Collage, Liste), sein Gestus ist rebellisch, sein Ansatz intermedial,19 aber er verzichtet in seinen drei Hörspielen weitgehend auf Bestandteile der Jugendkultur seiner Zeit wie Beat- und Rockmusik, Starkult, Mode.
8.2 W OLF W ONDRATSCHEK Als Hörspielautor war Wolf Wondratschek (*1943) einflussreicher als Rolf Dieter Brinkmann, und zwar vor allem wegen seines preisgekrönten dritten20 Hörspiels Paul oder Die Zerstörung eines Hörbeispiels, von dem in den Theoriekapiteln bereits mehrfach die Rede war. Beide Autoren haben Gemeinsamkeiten: ihre Affinität
Bis zu 10 Minuten mehr machen bei einem Hörspiel viel aus. Auf der Schwelle dauert sogar nur 35′, könnte also gut 15 Minuten länger sein. 19 Literatur, Fotografie, Film, Hörspiel. 20 Die ersten beiden Hörspiele von Wondratschek wurden vom Saarländischen Rundfunk 1968 und 1969 produziert: Freiheit oder ça ne fait rien ist eine Collage aus öffentlichen Reden. Zufälle versteht der Autor als „experimentelles Stereo-Hörspiel“ (Wondratschek 1971, 22).
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zur modernen amerikanischen Lyrik, zur Rock- und Popmusik, ihre Ablehnung traditioneller Literaturformen und Faszination durch alltägliche Stoffe und Themen, die aber in neue, ungewohnte Zusammenhänge gestellt werden, ihre Auflehnung gegen den etablierten Literaturbetrieb. Ein Sammelband mit den ersten vier Gedichtbänden Wondratscheks wurde als Heyne-Taschenbuch publiziert, dazu gedacht, neben der in diesem Verlag erschienenen Unterhaltungsliteratur im Bahnhofskiosk zu stehen. Auf dem Cover posiert der Dichter, skeptisch blickend, in Lederjacke, mit offenem Hemdkragen und lockerem Schal, Ikone der Popliteratur und so erfolgreich, dass der Verlag mit über 125.000 verkauften Exemplaren werben konnte. Käufer des Bandes wurden nicht enttäuscht: Mit ihrem scheinbar kunstlosen, jugendsprachlichen Parlando-Stil, ihren Themen, die jeden angehen, vor allem Liebe, Sex, Kino, Rock ’n’ Roll, große Hoffnungen, kleine Enttäuschungen, alltäglicher Blues und Untergangsvisionen, ihren Stimmungen zwischen Rebellion und Resignation, Euphorie und Melancholie entwickeln diese Gedichte einen Sog, der beim Lesen von Lyrikbänden nicht immer entsteht. Vieles, was Brinkmann an der neuen amerikanischen Lyrik schätzt, trifft auch auf Wondratscheks Gedichte zu: „Die Frage heißt: Was schreibe ich auf das Blatt Papier? Das geschieht in dem einen Augenblick, wo das Gedicht hingeschrieben wird. Wie das geschieht (also: Stil!), ergibt sich aus der Intensität des Autors, dem Grad seiner Beteiligung an dem vorhandenen Material; es ist eine momentane Kombination.“ (Brinkmann 1969, 9) Es mag fraglich sein, ob die Gedichte wirklich so spontan, aus augenblicklichen Empfindungen heraus entstanden sind, aber sie wirken so, als seien sie es, und erfüllen damit eine Forderung an die neue Literatur, die Brinkmann, zweifellos in Anlehnung an Leslie Fiedler, so formuliert: „Es ist das Bemühen, Literatur zu popularisieren, die Kluft zwischen ‚hohen Kulturleistungen‘ für eine kleine Elite und ‚niederen‘ Unterhaltungsprodukten zu verringern.“ (Ebd., 22)21 Interessant ist nun, dass Wondratscheks Hörspiele vordergründig anders funktionieren als seine Gedichte. Sie scheinen eher dem Imperativ der künstlerischen Avantgarde zu gehorchen, der Kunst durch das Experiment neue Räume zu eröffnen, ohne dabei Rücksicht auf den Geschmack des breiten Publikums zu nehmen. Paul als Hörbeispiel (und nicht Hörspiel) ist das Experiment des selbstreflexiven Hörspiels, das etwas anderes zu sein behauptet, als es ist. Als Beispiel kann es für eine unbestimmte Anzahl gleich gearteter Stücke stehen, deren wichtigste verbindende Eigenschaft darin besteht, dass sie gegen herkömmliche Publikumserwartungen an das Hörspiel als radiophone Gattung verstoßen. Die auf einer Metaebene des Textes angesiedelten Aussagen von SPRECHER 3 klingen paradox, haben aber ihren irritierenden Charakter im Zuge des seit den 1960er Jahren eingetretenen „Hori21 Dieser Forderung genügt z.B. auch Wondratscheks Langgedicht Carmen oder bin ich das Arschloch der achtziger Jahre von 1986, worauf schon der Titel schließen lässt.
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zontwandels“ (H. R. Jauß) verloren, zumindest für geübte Hörspielhörer:22 „Ein Hörspiel muß nicht unbedingt ein Hörspiel sein“ (Wondratschek 1971, 48), heißt es dort, als ob es etwas geben könnte, das nicht mit sich selbst identisch ist. Aber die Paradoxie lässt sich leicht auflösen, wenn man weiß, dass der Begriff „Hörspiel“ seit den frühen 1960er Jahren (und eigentlich schon viel früher) nicht mehr einheitlich definiert ist und dass Wondratscheks Negation sich gegen die Vorstellung vom traditionellen dramatischen oder erzählenden Hörspiel richtet. Negiert bzw. zerstört werden: die Einheit der Handlung, die Identität der Figur Paul, der einheitliche monaurale Hörraum, die illustrierende, überleitende oder symbolische Funktion von Geräuschen. Damit das alles zerstört werden kann, muss eine Idee davon vorhanden sein, und hier besteht ein Unterschied zu den Hörspielen Rolf Dieter Brinkmanns, in denen eine solche Idee fehlt, weil Brinkmann sie zur Verwirklichung seiner Intention nicht braucht. Man hat den Inhalt des Hörspiels oft in einem Satz zusammengefasst. „LKWFahrer Paul auf der Autofahrt von München nach Hamburg.“ (HörDat) Das Stück lebt von der Spannung zwischen der vermeintlichen ‚Geschichte‘23, die eigentlich eine prototypische bzw. iterativ vorkommende Situation mit einer typisierten, ganz und gar nicht individuellen Figur ist24, und deren gezielter „Zerstörung“. Im Bewusstsein der Rezipienten können ganz verschiedene Hörstücke entstehen, je nachdem, wie viele Anteile des akustischen Materials sie der vermeintlichen ‚Geschichte‘ zuordnen, oder ob sie das schon bald aufgeben und ihre Aufmerksamkeit ganz auf das akustische Geschehen als solches richten. Der „Chronotopos“ (M. Bachtin) des Hörspiels wird markiert durch die Orte München und Hamburg sowie durch die Zeit, die ein für heutige Verhältnisse nicht sehr schnelles Fahrzeug benötigt, um die Strecke zwischen beiden Orten zurückzulegen. Durch das am Anfang als akustisches Zeichen erklingende Geräusch „Starten eines Lastkraftwagens, langes Motorengeräusch“ (Hörspieltext: Wondratschek 1971, 46) wird der Hörer darauf eingestimmt und ist vermutlich zunächst nur mäßig dadurch irritiert, dass eine Sprecherstimme zuvor das Wort „Geräusch“ sagt, was für ein traditionelles Hörspiel absolut unüblich wäre. Die sehr verschiedenen Texte, die dann zu hören sind, lassen sich teilweise als Gedankenrede Pauls, als O-Ton aus dem Autoradio sowie als Erzählerrede in die 22 Dies mag 1975 noch anders gewesen sein, als Birgit Lermen in ihrer Studie „Das traditionelle und neue Hörspiel im Deutschunterricht“ das Stück ausführlich analysierte und auf didaktische und methodische Möglichkeiten des Neuen Hörspiels hinwies. 23 Eine ‚Geschichte‘ ist ein sinnbestimmtes Geschehen zwischen einem Anfang und einem Ende. 24 Zu Recht schreibt Antje Vowinckel: „Paul ist kein Individuum, sondern ein Typ, ein aus medialen oder zumindest sehr allgemeinen Aussagen zusammengestückelter Durchschnittstyp, der nichts für sich allein hat.“ (Vowinckel 1995, 263).
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‚Geschichte‘ einordnen. In doppelter Hinsicht passt dazu der Beatles-Song I’m so tired25, der fast vollständig gespielt wird. Dabei könnte es sich einerseits um (handlungsinterne) Musik aus Pauls Radio handeln, andererseits passt der Songtext zur möglichen Verfassung Pauls, nämlich eine durch frühes Aufstehen und das lange Sitzen am Steuer verursachte große Müdigkeit: „I’m so tired, I haven’t slept a wink / I’m so tired, my mind is on the blink“ usw. Dass ein Popsong fast vollständig gespielt wird, kann ein Argument dafür sein, dass es sich um ein Pophörspiel handelt, allerdings prägt der musikalische Beat nicht das gesamte Stück, dafür aber die aus der Pop Art bekannte Collagetechnik, die dazu dient, sehr verschiedenes Material aus der Alltagskultur und Politik der späten 1960er Jahre zu kombinieren.26 Dabei handelt es sich zu einem geringeren Teil um O-Töne, zu einem größeren um von Sprechern gesprochene Texte, von denen wiederum manche direkt die damalige westdeutsche Realität zitieren.27 Ein Beispiel ist der Satz, den Fuhrunternehmer damals auf ihre LKWs klebten: „Dieser Wagen kostet jährlich 18 000 DM Steuern.“ (Ebd., 49) Ein anderes der Satz: „[Vor Göttingen] baut die Bundesrepublik Deutschland“ (ebd., 55), ein weiteres die Aufstellung des FC Bayern München (ebd., 49), was möglicherweise eine Anspielung auf Peter Handkes ‚Readymade‘ Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1 1968 in seinem Band Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (1969) ist. Die auffälligsten O-Ton-Dokumente sind zwei jeweils mehr als zwei Minuten lange Ausschnitte aus Reden von Franz Josef Strauß und Kurt Georg Kiesinger, in denen beide Politiker die revoltierenden Studenten als „Rabauken“ und „Radikalinskis“ anprangern; Strauß spricht vom „linken Neo-Vandalismus des SDS und Konsorten“ sowie von „Randalierertum“. Die Zitate können als indirekte Stellungnahme Wondratscheks zur Studentenrevolte gewertet werden – wenn man sie als sich selbst entlarvend auffasst, was aber nicht zwingend ist. Eben in der „Verweigerung von Aussagen“, im Fehlen jeglicher Kommentierung der politischen Redeteile zeigt sich das Poptypische an Wondratscheks Collage-Verfahren.28 Ebenso wie den Beatles-Song könnte Paul diese Reden im Autoradio hören. Wenn die Geräuschkulisse eines Westernfilms ertönt, wenn auf die sexuelle Revolution angespielt wird („Seit meine Frau gelesen hat, wie das ist mit dem Or25 Vom Weißen Album, November 1968, damals also brandaktuell. 26 Für Vowinckel gehört das Stück zu den „Mischformen“, „in denen verschiedenste Quellen, verschiedene Aufnahmeweisen und zusätzlich zu vorgefundenem Material eigenes Material verwendet wird“. (Vowinckel 1995, 261) 27 Dieses Collage-Verfahren erprobte bereits Alfred Döblin in seinem Roman Berlin Alexanderplatz (1929). 28 Martin Maurach (1995, 189) bezieht den Ausdruck „Verweigerung von Aussagen“ auf Leslie Fiedlers Charakterisierung des Klischees als „beinahe so unhörbar wie das Schweigen selber“ (Fußnote 48 bei Maurach).
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gasmus, verlangt sie von mir mehr, als ich ihr geben kann“, ebd., 50), wenn damals populäre Namen aus Kultur, Politik und Gesellschaft genannt werden (Marilyn Monroe, Mahatma Gandhi, Soraya, Onassis, Jean Luc Godard, der „Fall Brühne“, der Posträuber Bruce Reynolds) und wenn Sätze, Satzfragmente oder einzelne Wörter unverbunden aufeinander folgen, oft von verschiedenen Sprechern in verschiedenen Stereo-Positionen gesprochen, so kann der Hörer all dies auf die ungeordneten Gedanken Pauls zurückführen, die ihm während der langen Fahrt durch den Kopf gehen. Birgit Lermen hat also nur zum Teil recht, wenn sie schreibt: „Seinem Hörspiel fehlt die ‚story‘, ein durchgehender Handlungs- oder Vorgangszusammenhang, der Fiktion bewirkt und Illusion schafft.“ (Lermen 1975, 309) Denn sie berücksichtigt dabei nicht die Bedeutung des Rezeptionsvorgangs, durch den ein Kunstwerk erst aktualisiert wird. Erinnert sei an Sartres bekanntes Diktum, dass Lesen gelenktes Schaffen sei. Richtig ist allerdings, dass dem Rezipienten die bruchlose Integration aller Sprach- und Geräuschpartikel, aus denen das Hörstück sich zusammensetzt, in eine ‚story‘ nicht gelingen kann, wenn er nicht vieles einfach ausblendet, was sich dem Paradigma ‚Autobahnfahrt‘ nicht zuordnen lässt. Dazu gehören 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
die metakommunikativen Signale „Geräusch“, „Zitat“; die Erwähnung von Geräuschen, die nicht zu hören sind („Geräusch 7 ist eine Zeitung vom Tage, die Paul jeden Tag in der Frühstückspause liest“); die hörspieltheoretischen Passagen, von denen die wichtigste bereits erwähnt wurde („Ein Hörspiel muß nicht unbedingt ein Hörspiel sein“ usw.); Sätze über Paul, die diese Figur als ein sprachliches Konstrukt erscheinen lassen („Was hat dieser Satz mit Paul zu tun?“); weitere metasprachliche Sätze („Paul stellt sich unter dem Wort ‚Autobahn‘ das Wort ‚Politik‘ vor“; „Das Wort ‚Susi‘ ist eine Sache“ usw.); scheinbar sinnfreie Sätze, die in keinem Zusammenhang stehen („Nachts stehen die Wiesen senkrecht“, „Aber ein Knecht hat zwei Gedanken“); das gleichzeitige Sprechen dreier Textpassagen aus verschiedenen Lautsprecherpositionen gegen Ende des Hörspiels; die laut Anweisung im Text in das Hörspiel hinein genommene Absage, die die Regie durch das Einspielen von damals üblichen Senderkennungen einiger Rundfunkanstalten der ARD ergänzt.
Diese Liste könnte weitergeführt werden, denn wie bei Brinkmanns Hörspielen ist die Vielfalt dessen, was zu hören ist, so groß, dass eine vollständige Auflistung zwar möglich, aber sehr aufwendig und nicht unbedingt sinnvoll wäre.29 In summa 29 Birgit Lermen geht sehr weit darin, zu verschiedenen thematischen Aspekten möglichst alle Zitate aufzuzählen.
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teilt Wondratscheks Stück Eigenschaften mit einer Gruppe von Hörspielen, die Martin Maurach unter der Überschrift „Verarbeitung populärer kultureller Versatzstücke“ beschrieben hat (Maurach 1995, 175ff.).30 Es gibt ein „globales Schema“ (Autobahnfahrt), dem sich vieles, aber längst nicht alles zuordnen lässt, es lassen sich „abstrakte Geräuschverwendungen von sozusagen naturmimetischen unterscheiden“, womit (u.a.) „ein Abbildrealismus vermieden“ wird (alle Zitate ebd., 188). Im Verlauf des gesamten Stücks stellt sich die Frage „wieweit der Hörer sprachliche Beiträge und Geräusche in die Vorstellung einer einheitlichen ‚Wirklichkeit‘ integrieren kann“ (ebd., 185). Am wenigsten gelingt ihm das am Schluss, jedoch nicht wegen der Texte, von denen zwei sich vollständig in das „globale Schema“ einfügen, sondern weil (ähnlich wie in Brinkmanns Tierplanet) deren lineare Abfolge hier aufgehoben ist. Die Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden sieht nicht die poptypische Oberflächenästhetik, sondern das avantgardistischexperimentelle, auf Reflexion zielende Verfahren des Autors, das dieser plakativ „Zerstörung“ nennt, als charakteristisch für dieses Hörspiel an: „Wolf Wondratschek macht es den Hörern leicht, die geläufigen Hörgewohnheiten zu verlassen und eine neue Hörfähigkeit zu entwickeln. Er negiert in seinem Stück überkommene Formen, die eine Geschlossenheit vorgeben, wo Realität sich heute nicht mehr als eine totale begreifen lässt. Konsequent setzt er anstelle eines Bewusstseinsflusses exakt gefügte Bewusstseinssplitter und lässt aus Mentalität, Umwelt, Biografie und Psyche eines Lastwagenfahrers, aber auch der des Autors, der über ihn reflektiert, ein Mosaik entstehen, das neue Denkschemata erkennbar macht und dessen akustische Musterung das Ohr auf eigentümliche, ganz dem Rundfunk zugeordnete Weise reizt.“ (zit. n. HörDat)
Mit seinem Hörspiel Maschine Nr. 9 (BR/HR/NDR 1973), das er „als Höhepunkt und Abschluss (seiner) Arbeit für das Radio“31 betrachtet (zit. n. HörDat), verschreibt sich Wondratschek, mehr als in den früheren Stücken, der Oberflächenästhetik. Das „Tonwerk“, das der Autor zusammen mit dem Musiker Georg Deuter und dem Multimedia-Künstler Bernd Brummbär erarbeitete, soll auf eine Sinneswahrnehmung, das Gehör, bezogen, aber nicht darauf beschränkt sein. Gemeint ist wohl die psychedelische, esoterische Dimension des Stücks, das durch seine sehr hohe Vielfalt an Hörsensationen Körper, Geist und Seele gleichermaßen ansprechen soll. Zu kognitiver Entschlüsselung lädt es hingegen nicht ein, vielmehr ist es einem Schaufenster vergleichbar, in dem so viel wie möglich von dem ausgestellt ist, was das akustische Universum aufweist.
30 Es handelt sich um Hörspiele von Oskar Pastior, Franz Mon und Ferdinand Kriwet. 31 Jedoch folgte Jahrzehnte später mit Die himbeerfarbene Glühbirne (WDR 2007) ein weiteres Hörspiel.
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Beim Versuch, den Titel zu erklären, stößt man wieder (wie in Paul) auf das Weiße Album der Beatles, dessen letzter Titel, das von Ringo Starr gesungene, von schwülstigen Streichern begleitete Good Night im Hörspiel angespielt wird. Das Stück davor auf der Platte ist das für damalige Beatles-Fans verstörende Revolution (Number) 9, das acht Minuten 22 Sekunden lang ist und sich wie ein experimentelles Collage-Hörspiel anhört, das mit O-Tönen, rückwärts laufender Bandmaschine und Stereo-Effekten spielt. Leitmotiv ist das wiederholt gesprochene „number nine, number nine“, das Wondratschek wahrscheinlich zu dem Titel Maschine Nr. 9 inspiriert hat.32 Aber auch die Machart der Beatles-Collage könnte für das „Tonwerk“ Vorbild gewesen sein, scheint sie doch wie dieses darauf ausgerichtet zu sein, so viel akustisches Material wie möglich, notfalls auf mehreren Spuren übereinander, in einer begrenzten Zeit unterzubringen. Wondratschek und seinen Mitstreitern steht dafür eine knappe Stunde zur Verfügung. Sie füllen sie mit etwas, was im Sinne Friedrich Knillis (Knilli 1961) als „totales Schallspiel“ bezeichnet werden kann. Der Totalitätsanspruch wird im Stück formuliert: Während das Radio „allenfalls vierzig Prozent unseres akustischen Wahrnehmungsvermögens beliefert, soll Maschine Nr. 9 die restlichen sechzig Prozent beschaffen. Es geht nicht nur um sehr verschiedene Töne, Klänge, Geräusche, sondern auch um Qualitäten, die das Radio meidet und die normalerweise niemand hören will, weil sie als technische Störungen gelten. Dazu gehören Rauschen, Kratzen, Knarren, Rumpeln, unzureichende Aussteuerung und vieles mehr. Die Sprache hat keine dominierende, allenfalls eine gleichberechtigte Rolle. Die thematische Klammer ist die Maschine Nr. 9, deren Eigenschaften in einer Abfolge verschiedener Textsorten umrissen werden: Beschreibung, Gebrauchsanweisung, Erziehungsprogramm, Diskussion, ethnographische Einordnung, Dialog in Form eines Frage-Antwort-Spiels. Wenn überhaupt von einem dem Hörspiel zugrunde liegenden „globalen Schema“ gesprochen werden kann, so ist es diese Thematisierung einer fiktiven Maschine, die erst in der „Abenddämmerung der Zivilisation“33 vorstellbar ist. Zu diesem Schlagwort passt inhaltlich der Ausschnitt „Magisches Theater“ aus Hermann Hesses Roman Steppenwolf, gelesen von Helmut Qualtinger, der gegen Ende des Hörspiels zu hören ist, bevor die Lesung nach dem Satz „Nur für Verrückte“ in zunehmenden Störgeräuschen untergeht. Den wenigen längeren Textpassagen, die in verschiedenen Artikulationsformen, z.B. mit amerikanischem oder tschechischem Akzent, gesprochen werden, stehen kurze, scheinbar zufällige Sprachschnipsel gegenüber. Sie zeigen, dass Maschine Nr. 9 keine Hierarchie der 32 Etwa bei Minute 27 wird der Titel angespielt, und zwar genau das wiederholte „number nine“. 33 Der Satz „Es ist die Abenddämmerung der Zivilisation“ wird nach gut sechs Minuten mit kosmischen Explosionen, Stürmen und Sphärenklängen gesprochen.
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Wahrnehmungen kennt und letztlich die Unterscheidung von Figur und Grund34 in Frage stellt oder sogar überflüssig machen soll. Allerdings wird es nicht ausbleiben, dass der Hörer bei bestimmten, ihm bekannten Texten – Martin Maurach verwendet das durchaus passende Wort „Zugnummer“ (Maurach 1995, 200) – besonders aufmerksam wird und diesen andere, weniger auffällige Texte bzw. Collagebestandteile zu- oder unterordnet. Die Hesse-Passage kann wie ein „Schlüssel“35 wirken, der dem Hörer eine kultur- bzw. zivilisationskritische Bedeutung suggeriert, die er wiederum dem ganzen Stück unterlegt. Dies ist umso wahrscheinlicher, als der zu Beginn des Hörspiels ausgesprochene Satz über die „Abenddämmerung der Zivilisation“ zu dieser möglichen, aber nicht zwingenden Bedeutungszuschreibung passt. Was zur „Zugnummer“ oder zum „Schlüssel“ wird, hängt vom Bildungshintergrund und von den Hörgewohnheiten des Rezipienten ab. Ebenso groß wie das sprachliche ist das musikalische Spektrum, mit dem das „Tonwerk“ den Hörer überrascht: Von arabischer Musik über spätromantische Klänge, Gregorianischen Gesang, ein Opernrezitativ mit ungewöhnlicher E-Gitarren-Begleitung bis zu harter Rockmusik und zum einschläfernden Schluss des Weißen Albums sind sehr unterschiedliche Klänge in variierender Länge und Lautstärke zu hören. Auffällig, markant und den Charakter des Stücks als Pophörspiel prägend, ist ein hartes Gitarrenriff mit stark verzerrter E-Gitarre, das etwa drei Minuten lang andere Musikschnipsel, Texte und verschiedene Geräusche dominiert, bevor diese es verschlucken. Auch diese musikalische Passage kann für den Hörer zur „Zugnummer“ werden und z.B. Assoziationen an Subkultur-Konzerte oder, zusammen mit der vorher zu hörenden Ansage „It’s midnight in Europe“, an mitternächtliche AFN-Radio-Shows auslösen. Wondratschek wendet die Schreibmethode von William S. Burroughs auf das Hörspiel an: „Was tut ein Schriftsteller denn anderes, als vorgegebenes Material zu sortieren, redigieren & arrangieren.“36 Der Hörer erhält im Fall von Maschine Nr. 9 allenfalls eine Ahnung vom Arrangement, während sich ihm die Sortierung weitgehend verschließt. Auch einen Schluss gibt es nicht, sondern wie bei einem Popsong wird am Ende aus einem von einem Amerikaner gelesenen Text über die Wissenschaft einfach ausgeblendet. Und wie bei einem solchen Musikstück entsteht der Sog, das Ganze gleich noch einmal von vorn zu hören. Aus Naked Lunch von Burroughs zitiert Wondratschek: „Ich maße mir nicht an, Ihnen eine ‚Story‘, ein 34 Mit der Maurach arbeitet, z.B. bei der Analyse von Hörspielen Ferdinand Kriwets. 35 Dazu Maurach: „[…] indem ein prominenter Bestandteil sozusagen als Schlüssel zu benachbarten gehört wird und sie in einen Bedeutungsbereich integriert.“ (Maurach 1995, 200). 36 Das Zitat steht am Anfang eines mit „Roman“ überschriebenen Textes, mit dem wiederum die von Wondratschek zusammengestellte Sammlung „Oktober der Schweine und andere Texte“ (1973) eröffnet wird.
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Handlungsschema, eine ‚Kontinuität‘ aufzuschwatzen... Nur insofern es mir gelingt, gewisse Bereiche des Wahrnehmungsprozesses direkt aufzuzeichnen, mag ich eine begrenzte Funktion haben [...]“ (Wondratschek 1973, 9). Diese Intention macht er sich auch als Hörspielmacher zu eigen. Trotz der Anlehnung an die Popliteratur und des Pop-Art-ähnlichen Verfahrens weisen einige theoretische Überlegungen Wondratscheks darauf hin, dass er um 1970 ähnlich wie Michael Scharang und andere Autoren des Neuen bzw. O-TonHörspiels (vgl. Kap. 3.2) eine politische bzw. utopische Vision vom Hörspiel im Sinne von Brechts „Radiotheorie“ verfolgte. Darüber sagt er einiges in dem Text „Es wird zwar im folgenden nur von Hörspielen geredet, man sollte aber mitunter trotzdem vergessen, daß hier nur von Hörspielen geredet wird“ (Wondratschek 1971, 67ff., zuerst erschienen in Schöning 1970). Traditionelle Hörspiele hätten die Hörer vereinzelt und zur Passivität verurteilt, schreibt er dort. Neue Hörspiele „hätten ebenso an einer neuen Form von Unterhaltung: einer Unterhaltung ohne Aura zu experimentieren, im Sinne ihres spezifischen Hörraumes, der Beteiligungen forciert, Handlung, Geschehnisse, rückbezügliche Kreativität, ganz allgemein also Wechselwirkungen.“ Dazu zitiert der Autor in einer Fußnote David Peel: „Ich warte auf die Zeit, wo 50 000 Menschen Musik machen, und die fünf auf dem Podium hören zu.“ (Ebd., 71) Unter der Überschrift „Rolling Stones“ kritisiert Wondratschek die zerstreuende Wirkung von Popkonzerten, die – die Interpretation sei in Anlehnung an Adorno hier erlaubt – die Jugendlichen zum Gleichschritt erzögen. Andererseits widmet er sein Hörspiel Kann das Quietschen der Straßenbahn nur eine Frau gewesen sein (WDR 1971)37 das die Spannung von Stille und Lärm aus der Sicht von vier Personen thematisiert, den vier Musikern der Gruppe Pink Floyd, was doch nur als Reverenz an die Popmusik verstanden werden kann. Und in Akustische Beschreibungen, Hörbeispiele (‚Thema eins‘) soll zweimal das Stück I‛ve got enough heartache[s] von Spooky Tooth angespielt werden (ebd., 113, 120). Eine politische Emphase ist den Stücken nicht abzugewinnen. Beim Hörer der Hörspiele und Leser der literarischen Texte Wondratscheks um 1970 muss der Eindruck entstanden sein, dass dieser mehr ein „Rock ’n’ Roll Freak“ war, wie er ihn in seinem bekannten gleichnamigen Gedicht (allerdings ironisch) darstellt, als ein politisch agitierender, utopische Visionen hegender Autor. Faktisch nutzte er O-Töne nicht, um den Arbeitern oder protestierenden Studenten eine Stimme zu geben oder ein „Zeitbewusstsein“38 abzubilden, wie dies Paul Wühr, Michael Scharang, Peter O. Chotjewitz, Günter Wallraff und andere versuchten. Ästhetisch gesehen ist es eher unwahrscheinlich, dass sich ihm das „Problem der Zusammensetzung nichttrivialer Collageformen aus trivialen Bestandteilen“ (Maurach 1995, 201) stellte, wobei diese Vermutung eher auf Maschine Nr. 9 als 37 Der Text ist erschienen in „Omnibus“ (1972), S. 81-102. 38 So die Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden über Paul Wührs Preislied.
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auf frühere sprachreflexive Hörspiele wie Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels zutrifft. Die erweiterten Möglichkeiten des Neuen Hörspiels reizten Wondratschek zum Spiel mit unterschiedlichem Material, für dessen Auswahl und Kombination die Unterscheidung zwischen trivial und nichttrivial, politisch oder unpolitisch, emphatisch oder anti-emphatisch eher sekundär war. Als Indiz für diese dem Pop sehr nahe künstlerische Haltung mag abschließend der Entwurf für ein Hörspiel mit dem Titel Gras, stückweise stehen, das ungesendet blieb: „Absicht des Hörspiels ist die Bestimmung von bisher völlig ungenutzter kreativer Produktivkraft jener Personen, welche Drogen benutzen, also: eine Unterhaltungssendung im Sinne eines verbalen (musiklosen) Äquivalents zur musikalischen Popunterhaltung unserer Jahre, eine elektronische Verewigung des schönen Zustands; das Produkt ist der Verlauf der Produktion, es wird produziert im gemeinsamen Drogengenuß: die auf städtischen Wiesen und Parks innerhalb der Städte, in Wohnungen und Wohngemeinschaften geübte Kommunikation dieser Art soll im Hörspielstudio als Modell stereofon aufgenommen werden.“ (Wondratschek 1971, 75)
8.3 F ERDINAND K RIWET Ferdinand Kriwet (*1942), der gleichen Generation wie Brinkmann und Wondratschek angehörend39, wurde nicht wie diese als Schriftsteller, sondern als multimedialer Künstler bekannt. 1961 debütierte er mit dem heute antiquarisch hoch gehandelten, radikal innovativen Text ROTOR40, der damals kaum Beachtung fand. Wenig später überraschte Kriwet die Kunstwelt mit „Sehtexten“, deren bekannteste aus (teilweise seitenverkehrt gespiegelten) Schriftspiralen bestanden und die eng mit der Konkreten Poesie verwandt waren. Dann wandte er sich dem Radio zu, um mit dem akustischen Material ebenso zu experimentieren wie mit dem grafischen. Bereits 1962 produzierte der SWF seinen ersten „Hörtext“ Offen und eröffnete damit eine Serie von Radio-Experimenten, die vermutlich mit der als „Hörtext 19“ bezifferten Radio-Revue (DLR/WDR 2013), einer autobiographischen Rückschau im Stil des Neuen Hörspiels, noch nicht zu einem Ende geführt ist. Fast genau 50 Jahre nach dem Erscheinen von ROTOR bearbeitete Kriwet diesen Text für das Radio. Das unter dem Titel Rotoradio vom DLR und WDR 2012 produzierte Stück wurde von der Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste zum Hörspiel des Monats Juli 2012 gewählt. Von der Jury hervorgehoben
39 Alle drei wurden Anfang der 1940er Jahre geboren und gehören damit zur Generation der Kriegskinder, von denen viele um 1968 politisiert wurden. 40 Ein durchweg kleingeschriebener Fließtext ohne Satzzeichen.
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werden der präzise Schnitt, die sensible Stimmführung der fünf jungen Sprecher durch den Autor und Regisseur Kriwet und die Erkundung der im Sprachmaterial verborgenen Möglichkeiten einschließlich der Grenzen menschlicher Artikulation. Es geht, wie schon in den „Sehtexten“, um den „Körper“ der „Wörter“, der von den Sprechern am Ende des Hörspiels in zwei übereinander gelagerten Blöcken aus chorischen, immer diese beiden Wörter intonierenden Stimmen geradezu magisch beschworen wird. Die jahrzehntelange Praxis und Erfahrung Kriwets mit diversen Formen des Neuen und des O-Ton-Hörspiels zeigen sich in diesem Radiostück. Wohl der bekannteste seiner „Hörtexte“ ist die Nummer 5 mit dem Titel ONE TWO TWO (WDR 1968). Die „Partitur“ wurde von Klaus Schöning in seinem Sammelband „Neues Hörspiel“ (1969) veröffentlicht und steht damit in der ersten Reihe damals aktueller Avantgarde-Hörspiele wie Jandl und Mayröckers Fünf Mann Menschen, Jürgen Beckers Häuser, Peter Handkes „Hörspiel“, Mauricio Kagels (Hörspiel) Ein Aufnahmezustand, Franz Mons das gras wies wächst und weiterer Stücke, die heute als Klassiker gelten. Im Unterschied zu diesen Stücken integriert ONE TWO TWO Materialien aus der Populärkultur in einem Ausmaß, dass diese seinen Charakter prägen und es zum Pophörspiel machen. Ingo Kottkamp schreibt allgemein über Kriwets Arbeitsweise: „Die Massenmedien machen das vor, was Kriwet Komponieren der Wahrnehmung nennt. Ihre Verfahren sind niederschwellig angelegt; sie wenden sich nicht an hochdifferenzierte und geschulte Sinne, sondern an den groben, aber vitalen Wahrnehmungsapparat.“ (Kottkamp 2001, 20)41 Zumindest beim ersten Hören könnte man das Stück als Illustration des Satzes „Alles ist Pop“ auffassen. Wir sind überrascht, was wir alles kennen, und haben ständig ein Bedürfnis nach mehr, das aber nicht befriedigt wird, weil wir nur mit winzigen Schnipseln bedient werden. „GONG. Hier ist ...“ das deutsche Fernsehen mit der Tagesschau, ergänzen wir im Kopf und sind inzwischen schon bei Monday, monday der „Mamas und Papas“ und weiter bei „Aus. Das Spiel ist aus“ in Bern, 1954. Respektlos wird dasselbe Verfahren auch auf sehr unterschiedliche politische Reden (Hitler, Kennedy, L. B. Johnson, F. J. Strauß), auf Predigten des Papstes, Studentenproteste, klassische Musik und vieles mehr angewandt. Ludwig Harig spielt, wie bereits gezeigt, in seiner Collage Staatsbegräbnis mit unseren Erwartungen an ein Ritual oder, linguistisch ausgedrückt: ein kommunikatives Handlungsspiel, dessen Ablauf und Regeln er durch Schnitt und Montage konterkariert. Kriwet überwältigt uns durch die Fülle des Materials, das er teils leitmotivisch wiederholend, teils paradigmatisch geordnet (Wortfelder: Weihnachten, Mutter, Liebe usw.) auf uns eindröhnen lässt. Aber auch die Pause lässt er zu ihrem Recht kommen, an manchen Stellen überraschend lang: Auf Sinatras Silent (Night) als Endlosschleife folgen der Ankündigung Dear God, these are things I like first 9 41 Diese Aussage ist anschlussfähig an das von Maurach verwendete Figur-Grund-Konzept.
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Sekunden Stille, im Hörspiel eine kleine Ewigkeit, second 7 Sekunden Stille usw. Die Stille wirkt wie ein ironischer Selbstkommentar, als betete das Stück um sein eigenes Ende, bevor der konzentrierte Angriff auf den Hörnerv wieder aufgenommen wird. Obwohl er im Text zur Partitur behauptet, sein Stück gehorche „natürlich keinem Takt“ (Kriwet 1969, 368), bleibt der Eindruck einer musikalischen Struktur, eines grundlegenden Beats, der durch das erste Fragment: Bill Haleys Rock around the clock, verkürzt zu ONE TWO TWO, vorgegeben wird. Der ‚Hörtext‘, so heißt es, bestehe aus Studio-Aufnahmen mit Sprechern, aus Studio-Montagen mit Sprecheraufnahmen und Archivmaterial sowie aus Mitschnitten einer Veranstaltung während der „Internationalen Essener Song Tage“ 1968, an denen Frank Zappas Gruppe The Mothers of Invention teilnahm. Nach dieser Beschreibung Kriwets könnte es sich um ein Feature handeln, jedoch wird niemand auf die Idee kommen, das Stück als ein solches zu klassifizieren, weil es sich keinesfalls primär informierend auf die Wirklichkeit bezieht. Einige wichtige darin verwendete künstlerische Verfahren hat Martin Maurach beschrieben: Schleifen, Integration bekannter Versatzstücke, Wechsel von ein- und mehrschichtigen Passagen (Maurach 1995, 193). Die Schleife ist das dominierende Gestaltungsprinzip von ONE TWO TWO; und zwar schon deswegen, weil das Stück mit einer Schleife eröffnet wird, auf die der Titel verweist. Da auf „two“ beim Anzählen eines Musikstücks eigentlich „three“ folgt, ist der Titel selbst eine Schleife. In einigen Fällen wird das Prinzip geradezu exzessiv eingesetzt, und zwar vor allem im Fall der bekannten Hitler-Rede vom Februar 1933, die mit der pervertierten Gebetsformel: „Herr, wir lassen nicht von dir, nun segne unseren Kampf und unsere Freiheit“ endet. Maurach hat die Wiederholungen in der Schleife durchgezählt und u.a. festgestellt, dass allein sechzehnmal das Adjektiv „stark“, in der Realisation wie ein „|dʌʀ|-Gebell“ klingend, zu hören ist. Interessant ist, dass Maurach die Herausbildung rhythmischer Dreiergruppen konstatiert, also eine musikalische (oder lyrische) Kategorie zur Beschreibung benutzt. Diese Rhythmisierung konstatiert er auch für die kürzeren Schleifen, die nach seiner Auffassung „insgesamt einen brutalen Taktschlag“ erzeugen (ebd., 196). Die Frage nach einer politischen Intention Kriwets drängt sich zwar auf, ist aber trotz des historisch brisanten Materials nicht zwingend zu bejahen, was Maurach aber implizit tut, indem er kritisch fragt, „ob nicht doch nur ein Wiedererkennungseffekt bleibt, ob sich die Pop-Idealvorstellung unmittelbarer Eingängigkeit nur um den Preis der Aufhebung historischer Tiefenschärfe verwirklicht“ (ebd.). Es folgt eine skeptische Einschätzung popkünstlerischer Verfahren am Beispiel der Schleifen: „Die Schleife als Verfahren der Originaltonbearbeitung hat offensichtlich teil am Dilemma der Reduktionsversuche des Pop“ (ebd.). Die Reduktion geht aber einher mit einer Expansion, etwa im Fall von Sinatras „silent“, das, nach dem vollständigen „silent night“, sogar siebenundzwanzigmal ertönt und dabei einen langsamen Walzertakt ausbildet, weil das |sai| zweisilbig gesungen wird. Laut Maurach wird
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„ein einzelner Diphthong als Träger von falschem Pathos“ zur Figur (ebd., 194). Dem leidenschaftlichen Hörer von Schallplatten drängt sich bei den Schleifen die Assoziation auf, hier sei bei einer oft gehörten und schon stark zerkratzten Platte der Tonarm hängen geblieben, was die Verletzlichkeit des technischen Reproduktionsapparats in Erinnerung ruft. Jedenfalls kann von „unmittelbarer Eingängigkeit“ bei Kriwets Stück keineswegs die Rede sein. Ungeübte Hörer, d. h. solche, die Hörspiele nur „naturalistisch (gestalthaft)“ zu hören gewohnt sind, werden vermutlich nach wenigen Minuten abschalten. Von dieser Art des Hörens unterscheidet Ingo Kottkamp ein „formales Hören“, das auf Klangobjekte mit bestimmten Eigenschaften gerichtet ist (Kottkamp 2001, 39), eine Rezeptionsform, die vom Neuen Hörspiel und vom OTon-Hörspiel gefordert wird. Bemerkenswert ist, dass Kriwet in seinem frühen programmatischen Text „Sehtexte – Hörtexte“42 mit Vorliebe auf Vertreter der Neuen Musik, insbesondere auf Karlheinz Stockhausen Bezug nimmt. Für die „Sehtexte“ bezieht er sich auf Mallarmés Gedicht Un coup de dés und auf Walter Benjamin. Im Bereich des Hörspiels ist ihm vor allem Franz Mon ein Vorbild, von dessen bevorzugter Arbeitsweise mit Laut- und Wortparadigmen sich in ONE TWO TWO einiges wiederfinden lässt. Kriwet ordnet sich also explizit in die avantgardistische Kunsttradition ein, wobei er die reine Lautpoesie, etwa im Sinne des Dadaismus, ablehnt, sondern darauf Wert legt, dass seine Seh- und Hörtexte zwar einerseits visuelles bzw. auditives Material exponieren, andererseits aber immer noch Texte sind und als solche verstanden werden wollen (vgl. Meissner 2012, 7).43 ONE TWO TWO zeichnet sich durch große thematische Vielfalt aus, z.B. Politik, Religion, Sport, Weltraumfahrt, aber einem thematischen Konzept lässt sich das disparate Material nicht zuordnen. Wer davon ausgeht, dass ein Text ein Thema haben muss, wird die Hörtexte nicht ‚lesen‘ können. Allenfalls kann von einem Metathema, dem Medium selbst, die Rede sein, aber das wäre viel zu abstrakt und würde der ausgebreiteten Vielfalt nicht gerecht. Zur Auswahl des Materials gibt es unterschiedliche Aussagen: Kottkamp nennt drei Kriterien: Wortfelder wie Zahl, Deutschland, Geist; den Kontrast verschiedener Kulturebenen (z.B. deutsch – USamerikanisch); die Popularität der Quellen. „Diese Popularität macht einen großen Teil der Wirkung des Hörtextes aus und bewirkt, dass die vorgefertigten Quellen stärker wahrgenommen werden“ als die eigens generierten (Kottkamp 2001, 31). Maurach geht noch weiter, wenn er sagt, „die Versatzstücke von besonderem Signalwert“ hätten in Hinsicht auf andere ‚anonyme‘ Geräusche oder weniger bekannte 42 Geschrieben 1961 und zuerst veröffentlicht in der Studentenzeitschrift „Diskus“, später publiziert in Klaus Schönings Band „Neues Hörspiel“ von 1970. 43 Jochen Meissners Feature von 2012, gesendet von SWR 2 zum 70. Geburtstag Kriwets, enthält viele Selbstkommentare des Autors, bei denen allerdings der zeitliche Abstand zu den eigenen kommentierten Werken zu berücksichtigen ist.
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Klangpartikel eine bindende Kraft. Er nennt das Beispiel des Tagesschau-Gongs, durch den Geräusche wie Schüsse, Explosion als Bestandteile der Nachrichten erscheinen können (Maurach 1995, 198). Zu ergänzen sind im weiteren Umfeld Sportereignisse (Fußball, Boxkampf), Politikerreden, Aufnahmen von einer Demonstration in West-Berlin, Aufnahmen von Astronauten aus dem All, Ansprachen des Papstes usw. Interessant ist nun, wie Kriwet in seinen „Bemerkungen zur Produktion“ die Notation in seiner Partitur beschreibt: Unspezifisch, weil sehr viel divergentes Material umfassend, ist die Sammelbezeichnung ‚Archivmaterialien‘, die in der Partitur mit AT gekennzeichnet sind. Die Live-Mitschnitte der Mothers of Invention werden mit ESSEN gekennzeichnet. Die Studioaufnahmen werden von je einer Gruppe deutscher und amerikanischer Jugendlicher gesprochen, die Kriwet GANG A und B nennt. Die Radio-Mitschnitte bezeichnet er mit DISC-LINGO, womit er den Slang der Sprecher von Radio Luxemburg meint. Eine weitere Sprachform heißt TABACCO LINGO und stammt aus der Werbung des Zigarettenherstellers Reemtsma, der anlässlich eines Firmenjubiläums eine Schallplatte mit dem unverständlichen Singsang der Tabakhändler auf amerikanischen Auktionsmärkten herausgab. In der Einleitung nicht erwähnt wird die SPACE LINGO, also die Sprache der Raumfahrer, die in der Partitur hin und wieder auftaucht. Hinzu kommen Montagen aus bekannter Musik, die er EVERGREEN und KLASSIK nennt, die aber nur sehr selten (zusammen viermal) unter dieser Bezeichnung vorkommen (Kriwet 1969, 365). Die Musikpartikel sind in den meisten Fällen mit AT bezeichnet, einmal bei Chorälen von Monteverdi, Perotinus und Bach auch mit MUSIK. Sucht man nach ‚roten Fäden‘ in der Vielfalt, findet man diese vor allem in der DISC-LINGO und in ESSEN. Das Live-Konzert der Band Frank Zappas durchzieht das gesamt Hörstück. Die Stimme des Bandleaders und der Klang der Band sind „Versatzstücke von besonderem Signalwert“, die sich von den Schallplattenaufnahmen, die sonst im Radio gesendet wurden, unterscheiden. Das Radio, also das Medium, das Hörspiele sendet, ist nur durch einen Sender repräsentiert, nämlich durch Radio Luxemburg. In den 1960er Jahren bereitete dieser Sender den Siegeszug der Popmusik und eines bestimmten, für poporientierte Sender typischen Sprechstils im Radio vor. Die englischsprachigen DISC-LINGO-Teile, die über die ganze Collage verteilt sind, stehen exemplarisch für diese neue Art von Radiosender und verleihen Kriwets Hörstück den Charakter einer Popsendung. Dadurch, dass musikalisch, in Werbeslogans und Ansprachen das Thema ‚Weihnachten‘, und zwar hauptsächlich in amerikanisierter Form, immer wieder auftaucht, könnte es sich um eine Sendung handeln, die in der Vorweihnachtszeit zu hören war. Durch den kommerziellen Aspekt erhält das Weihnachtsthema einen satirischen Anstrich: „Only eight shopping days to christmans.“ „The worlds highest seller...“ „Just mail the money, send no card.“ Dazu gibt es Weihnachtsbotschaften des Papstes und aus dem All in SPACE LINGO sowie passende Choräle und Lieder wie Stille Nacht
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(Silent Night), Oh Tannenbaum, Oh come all ye faithful, zudem ein beeindruckendes Spektrum alter und neuer populärer Musik.44 Ob es sich bei der wiederholt eingespielten feierlichen Ansprache Lyndon B. Johnsons an die Nation um eine Weihnachtsansprache handelt, ist nicht sicher, jedenfalls passt die Beschwörung „they [the Americans] are coming together – to stand together“ zu dieser Gelegenheit und wird von GANG B mit heftigem Gelächter beantwortet, das in dem Satz endet: „I can’t laugh anymore.“ Die Frage ist, ob die Bindekraft der DISC-LINGO groß genug ist, um diese Deutung zu rechtfertigen. Kottkamp, dessen ungefähr 70 Seiten umfassende Untersuchung zu ONE TWO TWO „vor allem dem gewinnbringenden Hören dienen soll“, fordert mit Recht dazu auf, das Stück immer wieder „gegen den Strich zu hören, also den Zusammenhang, den man gerade als offensichtlich wahrnimmt, versuchsweise zu verlassen“ (Kottkamp 2001, 72). Man wird dann vielleicht entweder ein politisches oder ein religiöses oder ein laut- und sprachexperimentelles Hörspiel hören. Vor allem die Wort-Cluster, Silbenreihen, technischen Lautmanipulationen, das von Kriwet selbst gesprochene Satzfragment: „Das Spezifische einer phonologischen Opposition...“ passen zu den Neuen Hörspielen, wie sie in den 1960er Jahren Paul Pörtner, Gerhard Rühm, Franz Mon u.a. produzierten. Kriwet gelang es, die manchmal hermetisch anmutenden Experimente der Hörspiel-Avantgardisten mit der Popkultur zu verbinden und eine überaus vielschichtige Collage herzustellen, die für diese Form Maßstäbe setzt, was Ideenreichtum, klangliche Vielfalt, kompositorische Sorgfalt und zeitdiagnostische Qualität angeht. Auch wenn der Begriff 1969 noch nicht existierte, könnte man ONE TWO TWO als frühes Zeugnis des „Avant-Pop“ ansehen, allerdings ohne kommerziellen Aspekt.45 Noch einmal sei auf Kottkamp verwiesen, der verschiedene Hörmodi für möglich hält: Man kann sich auf den sinnlichen, den dokumentarischen, den ideologiekritischen oder den anarchischen Aspekt des Stücks konzentrieren (vgl. Kottkamp 2001, 70/71); letzterer sei vor allem durch Frank Zappa und die Mothers of Inventi-
44 Die „Playlist“ reicht von Lavender‛s Blue aus dem 17. Jahrhundert bis zu damals neuesten Hits der Beatles, Doors, Mamas & Papas usw. Dazu zählen auch populäre ‚Klassik‘ wie Bachs H-moll-Messe oder Freude schöner Götterfunken, Musical (Tonight aus WestSide-Story), Operette (Dein ist mein ganzes Herz) und Schlager (z.B. von Paul Anka, Connie Francis, Heintje), ein Wahlkampfsong für Barry Goldwater. 45 Hecken beschreibt „Avant-Pop“ in seiner Pop-Monographie (S. 432f.) sowie in seiner Studie „Avant-Pop“ von 2012 (vgl. oben Kap. 2). In der ZEIT vom 4. Dezember 2014 (Überschrift: „Gauguin besucht Entenhausen“) vertritt der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller die These, „Avant Pop“ [sic] habe die Pop-Art abgelöst, denn die Popkultur sei „immer künstlerischer und avantgardistischer“ geworden.
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on repräsentiert.46 Das Hörspiel ONE TWO TWO verbindet auch die zwei wesentlichen Spielarten der 68er-Bewegung, die politische mit Demonstrationen und Gegendemonstrationen, Adenauers Antikommunismus („Und es bildet dieser Kommunismus immerdar [Schleife 7x] eine Bedrohung“) und dem unvermeidlichen Franz Josef Strauß („Die These, der Geist steht links ist nichts anderes als die permanente Wiederholung einer Dummheit“) und die popkulturell geprägte, hedonistische mit ihrer Oberflächenästhetik, Medienaffinität, ihrem musikalischen Drive und ihrer anarchischen Unberechenbarkeit.
8.4 H ANS -G EORG B EHR 1981 erschien in der Zeitschrift DER SPIEGEL unter der Überschrift „Didis Dope“ eine Rezension zu dem Buch „Weltmacht Droge“ von Hans-Georg Behr (19372010), die zugleich eine Reportage über die Praktiken der Hamburger Rauschgiftfahnder ist. Da die Szene beispielhaft für das Leben Behrs und für den von ihm zeitweise geführten Kulturkampf ist, sei sie hier wiedergegeben: „Eines Abends im letzten Juni saß er gerade im ‚arabischen Flatterhemd‘ (Behr) vor der Maschine und schrieb am Polizeibericht, da tutete es an der Tür seiner Wohnung. Kaum war einen Spalt breit geöffnet, rammte jemand von außen mit voller Kraft gegenan, zwischen splitterndem Holz erschien eine Hand mit Pistole, zwei Männer drangen ein. Behr und sein Wohnungsgefährte wurden zu Boden geworfen. Die Eindringlinge stellten sich als Zivilpolizisten vor und durchsuchten alles. Nachdem sie kleine Mengen Haschisch und Marihuana gefunden hatten, die Behrs Freund gehörten, nahmen die Beamten beide mit zur Wache.“ (DER SPIEGEL 21/1981)
Die gefundenen 25 Gramm Haschisch, 62 Gramm Marihuana und acht Gramm Opium bildeten in dem darauf folgenden Prozess aber nicht den Hauptpunkt der Anklage, vielmehr wurde Behr vorgeworfen, er habe mit Rauschgift gehandelt, was dieser mit dem Gegenvorwurf parierte, Polizei und Staatsanwaltschaft wollten nur verhindern, dass er die unsauberen Machenschaften der Zivilfahndung, u.a. Erpressung im Prostituierten- und Drogenmilieu, aufdecke. Den staatlichen Stellen erschien Behr als subversives Element und Quertreiber, während seine zahlreichen
46 Von ihnen war in Kapitel 2 dieser Arbeit schon die Rede. Kriwet verwendet vom Essener Konzert mehrfach ein von Schlagzeuger Billy Mundi mit Kopfstimme gesungenes, in Schleifen vervielfachtes „Oh“ aus einer R&B-Ballade, den italienischen Gassenhauer Funiculi, Funicula sowie Ansagen Zappas, die einen „special song“ ankündigen und von technischen Problemen auf der Bühne zeugen.
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Anhänger ihn fast wie einen Guru verehrten. Das wird aus dem langen, liebevollen Nachruf deutlich, den ihm die taz nach seinem Tod im Jahr 2010 widmete. Im Vorspann dazu wird Behr als „unkonventionelle[r] 68er und große[r] Schelm“ bezeichnet. (Michael Sontheimer in: taz, 12.07.2010) Er veröffentlichte mehrere bestens recherchierte Bücher über Drogen, speziell Cannabis, und zwei Autobiographien, von denen vor allem die erste, Fast eine Kindheit, Anerkennung bei der Literaturkritik fand. Zwar trat er für die Legalisierung von Drogen ein, jedoch reflektierte er durchaus den Preis des Drogenkonsums, ohne diesen deswegen einzuschränken. Zur äußeren Erscheinung des gebürtigen Wieners, der viel reiste und schließlich bis zu seinem Tod in Hamburg-Winterhude lebte, zitiert Sontheimer einen SPIEGELArtikel von 1970: Behr geriere sich „als malerischer Extravagant mit Vollbart und Schlapphut. In einer Uniform, halb Zirkus-Magier, halb Salon-Landsknecht, mit glänzendem Rokoko-Fräckchen überm bestickten Seidenwams, mit Hippieketten, martialischem Eisengürtel und Knobelbechern, baut [er] sich zielstrebig auf als lustige Pop-Figur“. Im Nachruf nicht erwähnt wird Behrs einziges, 1969 vom SWF produziertes Hörspiel Das Erlebnis einer fremden Kultur. Das 35 Minuten lange Stück wird als „Hearing“ bezeichnet, das keinen Autor habe. „Alle Mitwirkenden konnten ihre Ideen in das Hörspiel einbringen, das Normierungen und Zwänge unserer Gesellschaft anhand alltäglicher Redewendungen aufzeigt.“ (HörDat) Die fremde Kultur ist also die eigene, scheinbar vertraute, die aus einer Perspektive gesehen wird, aus der sie fremd erscheint. Es ist also die aus der Ethnologie bekannte „Praxis des Fremdmachens“, die Behr in diesem Hörspiel künstlerisch erprobt (vgl. BachmannMedick 2008, 87). Am Anfang wird der Hörer dadurch auf Fremdheit eingestimmt, dass in einer Aufblende eine exotische Musik aus Trommeln und Gesang angespielt wird, sozusagen ein akustisches Hörbild „aus dem Busch“. Was dann folgt ist nur aufgrund der Form fremd, während inhaltlich allzu Bekanntes in Thema und Variation, Kontrapunkt und Engführung präsentiert wird. Das Ganze ist komponiert wie ein polyphones barockes Musikstück, das durch die Nutzung der Stereofonie sehr komplex, aber auch durchsichtig wirkt. Oft folgt die Montage dem Prinzip der Steigerung, und zwar durch zunehmende Lautstärke, Mischung einer wachsenden Anzahl übereinander gelegter Zeichenschichten, chorisches Sprechen, StimmModulation bei gleichzeitiger Zunahme des Sprechtempos durch Erhöhung der Bandgeschwindigkeit – bis alles durch einen Cut beendet wird. Bis zum nächsten Furioso sind ruhigere „Interludien“ eingebaut. Als deren Merkmale der scheinbar fremden, tatsächlich aber allzu bekannten Kultur werden vorgeführt: Sauberkeit, Ordnung, Gehorsam, Leistung, Triebunterdrückung, Selbstkontrolle. Dahinter verbergen sich latente Gewaltbereitschaft und sadistische Neigungen. Direkt formuliert sind diese Aspekte in Sprichwörtern, Werbesprüchen, Volksweisheiten, Ge- und Verboten. Indirekt erscheinen sie im Aufsagen der Deklination des Wortes „Ordnung“ und des Einmaleins, in Zeitungs-
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meldungen, Trivialliteratur und sogar im Kreuzworträtsel. Obwohl vieles, gerade aus heutiger Sicht, übertrieben klingt, lautet das Motto: „Alles ist wahr, nichts ist erfunden.“ Im Entstehungsjahr mag sich dieses Motto auch auf die Publikumserwartung richten, in der sich mit dem Hörspielbegriff eine fiktionale Handlung verband. Der mentale Bodensatz einer Kultur wird hier anders vorgeführt als zwei Jahre später von Paul Wühr in seinem Preislied. Während Wühr spontane Äußerungen von Zeitgenossen zu bestimmten Fragen zu einer Collage verdichtet, arbeitet Behrs Sprechergruppe mit existierenden sprachlichen Mustern, die von den Sprecherinnen und Sprechern, darunter dem Autor selbst, in süddeutsch mundartlicher Färbung vorgetragen werden. Fasst man Kultur als Text auf, wie es die moderne Kulturanthropologie vorgeschlagen hat und praktiziert, so stellt man fest, dass die Lesart der deutschen Kultur in beiden Fällen die gleiche ist. Wührs Interviewpartner haben keine eigene Sprache, sondern reproduzieren mit unterschiedlichen Worten die gleichen Denkschablonen und Stereotype, wie Behr sie gesammelt ausstellt. Unübersehbar ist dabei der Fingerzeig auf Reste faschistischer und militaristischer Anschauungen. Gemeint ist offensichtlich die deutsche Kultur, in der die laut Freud kulturell bedingte, ein „Unbehagen in der Kultur“ auslösende Domestikation der Triebe besonders ausgeprägt scheint. Von einem Kulturrelativismus oder Annahmen über einen ‚dritten Raum‘ interkultureller Begegnung, der Kulturgrenzen letztlich fragwürdig werden lässt, ist man um 1970 noch ein Stück weit entfernt. Nicht abwegig ist aber die Annahme, dass sich Behr als einer der Wegbereiter einer in Deutschland längst überfälligen Kulturrevolution sieht. Sowohl die alte als auch die angestrebte neue Kultur werden in Behrs Hörspiel symbolisch dargestellt. Zwei Beispiele für die alte Kultur: Nach dem Klingeln des Weckers springt der Deutsche aus dem Bett und beginnt seinen Frühsport, denn bekanntlich wohnt nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist und die schlanke Linie kommt beim anderen Geschlecht gut an. Die Anweisungen zur Gymnastik gehen in Kommandos über, mit denen Unteroffiziere ihre Rekruten bei der Grundausbildung drillen; daraus wiederum wachsen Kriegsgeräusche hervor, Artilleriefeuer, Detonationen. Am Ende wird der Satz gesprochen: „Die Bundeswehr muss wieder die große Schule der Nation werden.“ [06:58] Unter der Überschrift „Kultur und Askese“ wird die repressive Sexualmoral im Zustand ihrer ultimativen Verkitschung satirisch auf die Schippe genommen: Der Hörer fragt sich, ob das, was da aus einem Liebesroman vorgetragen wird, eine Parodie oder ein Zitat ist. Im Sinne des übergreifenden Mottos „Alles ist wahr, nichts ist erfunden“ ist anzunehmen, dass es sich, worauf die verschiedenen Namen schließen lassen, um eine Zitatcollage handelt, deren parodistische Wirkung durch die akustischen Zutaten Zithermusik und Vogelgezwitscher nur verstärkt wird. Die unverhohlen lüsterne Atmosphäre mit zärtlichen Berührungen, wilden Küssen und feuchten Lippen wird durch ein scheinbar entschiedenes Wort der jungen Frau fast zerstört: „Nein. Soweit ist es noch nicht mit uns zweien, Wolfgang“ [24:20], aber
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dann sinken doch die Blicke beider ineinander, bis schließlich „das Laken von ihren braunen, samtenen Schultern rutscht“. Die schamvoll verbrämte Paarung geschieht aber nicht zur Lustbefriedigung, sondern sie kann nur dem einzig vorstellbaren telos dienen: der Gründung einer auch die Ordnung des Staates verbürgenden deutschen Familie.47 Zwar wird der Maxime, die da lautet, die Unberührtheit sei das Wichtigste, die Reinheit das höchste Gut, offenbar nicht uneingeschränkt Genüge getan, jedoch lauern unter der Oberfläche der Wohlanständigkeit noch ganz andere Triebe, denen das Hörspiel in der Schlussphase eine Sprache gibt. Begleitet von Serge Gainsbourgs und Jane Birkins schlüpfrigem Hit Je t’aime, mois non plus sagt eine männliche Stimme dem deutschen Mann, was er so alles möchte, welche sadistischen Wünsche in ihm schlummern, während andere Stimmen ihm einhämmern, was er soll, um bei den Frauen und im Beruf Erfolg zu haben. Abgerundet wird das Ganze dann durch Werbesprüche, in denen der Name des beworbenen Produkts verfremdet ist, im Wechsel mit Warnungen vor der enthemmenden Wirkung von Alkohol, zu denen Blasmusik erklingt. „Ein bedeutendes emotionales Bindemittel derjenigen Gruppen, die sich unter dem Sammelbegriff ‚Gegenkultur‘ als Widerlager zu einer vermuteten Majorität verstanden, war Beat- und Rockmusik.“ (Siegfried 2008, 58) Behr verwendet sie in seinem Hörspiel sparsam, aber gezielt. Wieder ist das 1968 überaus wichtige, einflussreiche Weiße Album der Beatles zu nennen, aus dem, im gegebenen Kontext unmissverständlich, dreimal die Zeile Happiness is a warm gun zu hören ist. Der Text ist vermutlich von Drogen inspiriert. Nach einer O-Ton-Einspielung von einer Demonstration, möglicherweise der Black-Power-Bewegung, folgen Heroin („it’s my wife and it’s my life“) von Velvet Underground, danach der psychedelische Song As You Said der Gruppe Cream. Die Gegenkultur wird also musikalisch vor allem an Drogen festgemacht, was zu Behrs Biographie bestens passt. Das von Behr wahrscheinlich unterstellte Befreiungspotential von Drogen war jedoch nach 1968 durchaus umstritten und wurde von politisch ambitionierten Vertretern der linken Szene zunehmend angezweifelt (vgl. Siegfried 2008, 68). Wahrscheinlich wollte Behr aber gar keine politische Botschaft im engeren Sinne verkünden. Am ehesten lässt sich sein Stück als Verteidigung einer bohemienhaften Gegenkultur deuten, die damals mit Bezeichnungen wie „Gammler“ oder „Provos“ verknüpft war (vgl. ebd., 133). Mit ihnen gelangte die Bohème um die Mitte der 1960er Jahre in die Öffentlichkeit und damit in die Medien. In den Ausdrücken von Abscheu, die im Hörspiel häufig in Du-Form formuliert sind, finden sich diejenigen Attribute, die man üblicherweise den „Gammlern“ zuschrieb: lange, ungewaschene Haare, Schweißge47 Es ist daran zu erinnern, dass schon Friedrich Bischoff in seinem fulminanten Hörstück Hallo! Hier Welle Erdball (Schlesische Funkstunde 1928) ausgiebig aus einem LiebesKitsch-Roman vorlesen ließ und damit eine parodistische Wirkung erzielte.
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ruch, ungepflegte Fingernägel, nachlässige Kleidung, dazu Zügellosigkeit und mangelnde Arbeitsmoral. Ihnen schmettert Freddy Quinn seinen lächerlichen Schlager Wir entgegen, den Behr genüsslich ausspielt: „Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden? Wir!“ Zeitlich ist das Hörspiel bereits nach dieser ersten gegenkulturellen Phase einzuordnen. Detlef Siegfried stellt dar, wie sich daraus musikalisch und literarisch ein underground herausbildete, der schon bald der Kommerzialiserung unterlag und damit aus Sicht seiner Wortführer dem Verfall preisgegeben war. „Mit dem Politisierungsschub durch die Studentenbewegung, der im Sommer 1967 einsetzte und im Laufe des Jahres 1968 eskalierte, bot sich als schwer kommerzialiserbare Basis des ‚kulturellen Countdowns‘ die politische Sphäre an.“ (Ebd., 146) Jedoch: „Zwischen 1967 und 1969 verschmolzen kulturrevolutionäre und politische Strömungen noch zu einem umfassenden Aufbruchklima, in dem ganz heterogene Elemente einen Platz hatten und eine Revolution greifbar nahe schien.“ (Ebd., 146f.) HansGeorg Behrs Hörspiel ist ein faszinierendes Zeugnis dieses Aufbruchklimas. Wertet man es als underground-Hörspiel, wofür einiges spricht, ist immerhin bemerkenswert, dass es ohne größeres Aufsehen über die öffentlich-rechtliche Bühne ging, während etwa zeitgleich produzierte Hörspiele, die politisch gemeint oder so verstanden wurden, wie Staatsbegräbnis von Ludwig Harig und Die Falle von Peter O. Chotjewitz, von Sendeverbot bedroht bzw. (zeitweise) betroffen waren.
8.5 M ICHAEL G LASMEIER Irgendwann im Jahr 1970 sitzt der achtzehnjährige Oberschüler Michael Glasmeier (*1951) in seinem Jugendzimmer, schließt ein nicht mehr ganz funktionstüchtiges Mikrophon an ein Tonbandgerät an, legt eine seiner Lieblingsplatten auf und beginnt ein Hörspiel zu produzieren. „Mich interessieren neue Möglichkeiten des Hörspiels“, spricht er in das Mikrophon, „Hörspiel als gehörtes Spiel.“ Dann liest er Sätze aus einem Interview mit William S. Burroughs vor. Titel: „Zwischen Marx und Haschisch. Neue Innerlichkeit und der dritte Weg in die Revolution.“ Bestimmte Sätze wiederholt er mehrere Male, bis sie sich den Hörern einprägen. Eigentlich ist es extrem unwahrscheinlich, dass ihm jemand zuhören wird, aber er scheint es selbstverständlich vorauszusetzen, denn er wendet sich oftmals direkt an das Publikum, spricht über die gestörte oder gerade einmal störungsfreie Verbindung, kündigt ein schönes langes Gitarrensolo oder eine neue Platte an. Die Musik ist nur schwach im Hintergrund zu hören, wir erfahren aber, dass es sich um Ceremony von Spooky Tooth und Pierre Henry handelt, progressive Underground-Musik von 1969, die ihn manchmal zum Mitsingen animiert. An einer Stelle wird das (anglikanische) Glaubensbekenntnis zitiert, „forgive us our trespasses“, er greift das Wort
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„trespasses“ auf und findet es „unwahrscheinlich gut“. Später legt er eine Platte der Gruppe Traffic, möglicherweise die damals gerade erschienene LP John Barleycorn Must Die, auf, singt wieder mit und pfeift an einer Stelle dazu. Der Wackelkontakt bringt hin und wieder kurze Pausen, Sekunden der Stille, hervor. Wegen der technischen Störungen schleichen sich manchmal fremde Elemente ein, ganz kurze Splitter klassischer Musik, die am Schluss die Oberhand gewinnt, sodass das knapp dreißigminütige Stück mit Barockmusik ausklingt. „Ich höre jetzt auf“, sagt Glasmeier am Schluss, „Sie können sich jetzt anhören die Musik, die vorher auf dem Band war.“ Aus der Sicht des gegenwärtigen Zeitalters digitaler Perfektion ist Michael Glasmeiers Hörspiel-Monolog Kaputt das exotische Dokument einer vergangenen Technik-Periode. Heute sind Eigenproduktionen in Studioqualität möglich und nehmen in den Hörspielprogrammen der öffentlich-rechtlichen Sender immer größeren Raum ein. Dass damals der WDR Glasmeiers Hörspiel sendete, kann als mediengeschichtlich revolutionäre Tat gelten. Erst ein Jahr zuvor war mit Heinz Schwitzkes „Hörspielführer“ bei Reclam die letzte große Gesamtschau des traditionellen Hörspiels erschienen. Sollte der Altmeister der Hörspieltheorie Glasmeiers Stück im Radio gehört haben, dürfte ihm eine Ahnung gekommen sein, dass seine Zeit abgelaufen war. Damit schien Brechts Radiotheorie an ihr Ziel gekommen: der Konsument als Produzent. Während die Autoren des Neuen Hörspiels sich der Studiotechnik bedienten und bald erkannten, dass sie das nicht selbst machen konnten, sondern Fachleute brauchten, ging hier ein Jugendlicher neue eigene Wege. Kaputt mag ein Einzelfall sein, aber in dem Stück sind mehrere Tendenzen der Zeit gebündelt. Es repräsentiert das Selbstbewusstsein der Jugend und ihren Willen, politisch und künstlerisch neue Wege zu gehen, in diesem Fall nicht nur rezeptiv, sondern auch produktiv. Der ausgewählte Text steht für eine antibürgerliche Haltung, für Rebellion und Provokation. Glasmeiers Lieblingssätze sind: (1) „Sexualität ist ein wichtiger Bereich der Befreiung. Wer sexuell ausgefüllt ist, interessiert sich sehr viel weniger für den Kauf eines Kühlschrankes oder eines neuen Autos.“ – (2) „Autorität existiert nur, wo sie sich beweisen kann. Die Polizei würde vollkommen verrückt, wenn alle Kriminellen der Welt einen Moment lang streiken würden.“ – (3) Jeder Krieg ist heute rein verbal. Sobald Sie vom ideologischen Krieg sprechen, sprechen Sie vom verbalen Krieg.“ – (4) „China ist heute das einzige Land, das seine Jugend für sich hat, weil es ihnen das Gefühl geben konnte, dass es für sie etwas Wichtiges zu tun gibt.“ Diese Sätze interessieren ihn offenbar nicht nur inhaltlich, sondern auch klanglich. Er liest sie mit unterschiedlicher Intonation, Lautstärke und in verschiedenem Sprechtempo vor. Als auf der Spooky-Tooth-Platte das lange Gitarrensolo erklingt, steigert er den Satz über die Sprache ins Ekstatische und endet in einer Schleife, die, im Unterschied zu Kriwets Schleifen, nicht technisch, sondern mit der Stimme
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produziert ist: „rein verbal, rein verbal, rein verbal“ usw. Glasmeier ist sich also des Materialcharakters von Sprache und Musik bewusst und er bezieht die technischen Störungen als Gestaltungselemente in seine Produktion ein. Er kommentiert sein Stück so: „Hörspiele, wie sie im Augenblick produziert werden, sind die perfekte Weiterentwicklung literarischer Aussagen. Mein Hörspiel verzichtet darauf. Das heißt: Ich habe mich hingesetzt, einen Text von Burroughs genommen, Platten vorgespielt, mit dem kaputten Kassettenrecorder gekämpft. Ich habe mich oft versprochen. Alles ist Zufall.“ (Zit. n. HörDat) Als Hörer des Stücks, das 2012 vom Deutschlandradio wieder gesendet wurde, ist man sich nie sicher, ob das alles ganz ernst gemeint ist.48 Man weiß nicht, wie Glasmeier die Sätze von Burroughs auffasst, die er vorliest, ob er die Welt genauso sieht. Er sagt nur, dass der Text ihn interessiert. Jedenfalls kann der Satz „Alles ist Zufall“ nicht stimmen, denn die Schallplatten und das Burroughs-Interview sind gezielt gewählt. Der Autor muss eine ungefähre Vorstellung gehabt haben, was er damit machen würde, bevor er die Aufnahme startete und zu sprechen anfing. Zufall ist allenfalls der konkrete Ablauf, der auch spontane Entscheidungen – z.B. umblättern oder nicht – zuließ. Aus heutiger Sicht erscheint das Hörstück als eine Parodie auf das Befreiungspathos der Achtundsechziger sowie auf die etablierte Form des Hörspiels. Zugleich wirkt es wie eine atmosphärisch dichte Momentaufnahme aus einer Zeit, in der vieles möglich war, sogar die Ausstrahlung einer Laienproduktion, die den üblichen Ansprüchen an Rundfunksendungen zwar nicht genügte, die aber gerade daraus ihren Reiz gewann. Inzwischen kann Kaputt zu den Klassikern des Pophörspiels gezählt werden.
8.6 ALFRED B EHRENS Einer der produktivsten Hörspielautoren für die deutschen Rundfunkanstalten ist Alfred Behrens (*1944). Ein Werkeverzeichnis seiner Arbeiten für das Radio bis 2006 umfasst 49 Titel, darunter auch Features und Romanbearbeitungen, wobei der Autor in den meisten Fällen selbst die Regie führte. 2007 produzierte der RBB das preisgekrönte Stück Amok Koma, in dem es um das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit im künstlerischen Schaffensprozess geht. Götz Schmedes beschreibt Behrens’ Hörspielwerk „als differenzierte und thematisch vielfältige Aufarbeitung zeitgeschichtlicher Zusammenhänge, in der gesellschaftliche Realität und individuelle Wirklichkeitserfahrung sowie deren gegenseitige Bedingtheit aus unterschiedli-
48 Glasmeier, heute Professor für Kunstwissenschaft, profilierte sich später wissenschaftlich mit Arbeiten über Karl Valentin. Ihm wird ein Hang zu Komik, Albernheit und Subversion nachgesagt. 2011 publizierte er zusammen mit Lisa Steib ein Buch über „Albernheit“.
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chen Blickwinkeln durchleuchtet werden.“ (Schmedes 2002, 123) Diese sehr allgemeine Charakterisierung lässt viel Raum für unterschiedliche Themen und Hörspielformen, wobei vor allem „die Verknüpfung von dokumentarischem Material und fiktionalen Elementen“ (ebd.) kennzeichnend für Behrens’ Arbeitsweise ist. Vor allem in den frühen Arbeiten, also in den um 1970 entstandenen, hat die Popmusik eine bedeutende Funktion. Als Pophörspiele gelten vor allem drei Stücke: John Lennon, du mußt sterben (SWF 1971), ein Stück über den Starkult bzw. über dessen Destruktion am Beispiel des damals schon ehemaligen Beatles John Lennon, Lucy in the Sky (RIAS/SR 1971), ein Kurzhörspiel über die enttäuschten Hoffnungen einer Londoner Jugendlichen, die den Kopf voller Popmusik hat, und der Popkrimi Als Nowhere Man den Fall erledigt hatte, legte er ‚Street Fighting Man‘ von den Rolling Stones auf (BR/HR 1972), womit Behrens ein neues Genre begründete (vgl. Kap. 15). Stark von der Popkultur geprägt ist auch das Science-Fiction-Hörspiel Das große Identifikationsspiel (BR/RIAS 1973), für das Behrens den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhielt. Vorstudien zu diesem komplexen Hörspiel enthält der collagehafte Prosaband Künstliche Sonnen. Bilder aus der Realitätsproduktion von 1972: In 46 Teilen wird darin, neben anderen Geschichten aus der medial vermittelten Welt, der Science-Fiction-Thriller „Der große Traumraum“ erzählt. Bereits John Lennon, du mußt sterben ist als Science-Fiction-Hörspiel inszeniert. Wie im Identifikationsspiel sind sowohl die Stars als auch die Fans von der Medienindustrie produzierte Zombies, deren Attribute beliebig reproduzierbar und austauschbar sind. Bedeutungsparadigmen konstituieren sich über diese Zusammenhänge und verbinden scheinbar disparate Hörereignisse. Die wichtigsten sind die Popsongs, von denen mehrere ausgespielt, einige auch nur angespielt werden, hinzu kommen Stadiongeräusche, die eine fast konstante Geräuschkulisse bilden, sowie die „Echohall-manipulierten Herztöne“ Yoko Onos, die überall aus Lautsprechern ertönen. Die wichtigsten Medien sind der Guardian, der die Meldung vom Tod Lennons mit der lakonischen Überschrift „John Lennon dead. OD“ bringt; ein anscheinend von einem Amateur gedrehter Super-8-Farbfilm, auf dem nicht sichtbar wird, ob Lennon durch Mord, Selbstmord oder Unfall ums Leben kam; die Tagesschau des Deutschen Fernsehens, die den Zuschauer mit einer übertrieben detaillierten Beschreibung vom toten Star schockiert, sowie die „in Paris gedruckte englischsprachige Ausgabe der BILD-Zeitung“. An einer Stelle wird die O-Ton-Erkennung von FOX Tönender Wochenschau eingeblendet. Außerdem ist von der BBC und Radio Luxemburg die Rede. Die Austauschbarkeit der Star-Attribute zeigt sich darin, dass Yoko Ono mit einer Andy-Warhol-Perücke abgebildet wird, während „die Sikorski“ eine YokoOno-Perücke trägt. Am wichtigsten sind die Blue Suede Shoes, die John Lennon am Tag seines Todes trägt und die auf den Rockabilly-Sänger Carl Perkins verweisen,
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dessen angeblich zehnter Todestag den Sender Radio Luxemburg veranlasst, den ganzen Tag den gleichnamigen Hit zu spielen. Tatsächlich starb Perkins erst 1998, aber er wird hier als Star gleichsam en passant gleich mit erledigt. Der Fan, Travis genannt, fährt mit der S-Bahn nach Bahrenfeld, weil er hofft, dass die Blue Suede Shoes dort noch nicht, wie in der Innenstadt, ausverkauft sind, aber auch da gibt es schon Engpässe für den begehrten Artikel. Am S-Bahnhof drückt ihm jemand einen Reklamezettel für das damals unter Hamburger Filmfans angesagte Programmkino „Lupe“ in die Hand, in dem eine Performance der Rolling Stones angekündigt wird. Passend dazu – Pop ist überall – ertönt aus den Bahnhofslautsprechern der von Jagger gesungene Blues Love in Vain: „Well I followed up to the station with a suitcase in my hand.“ Der melancholische Song wird verfremdet durch lauten, stellenweise sogar dominierenden Stadionlärm, was an die damals überhand nehmenden Begeisterungskundgebungen der Fans bei Popkonzerten, die überdies oft in Fußballstadien stattfanden, denken lässt. Das Hörspiel ist voller grotesker Elemente: Im Mittelpunkt steht das von einem Amateurfilmer festgehaltene Fußballspiel sechs falscher Maharishis, einer davon ist John Lennon, im Wembleystadion. Es kommt zum Elfmeterschießen, bei dem Peter Handke im Tor eine unglückliche Figur macht, weil er die „Angst des Tormanns“ nicht überwinden kann. Die Ursache von Lennons Tod ist OD = Overdose, aber wer sie ihm beigebracht hat, bleibt wegen einer Bildstörung unklar. Das Wort „Overdose“ wird im Stil des Neuen Hörspiels an zwei Stellen in Stereo multipliziert. Kurz vor Lennons Tod entsteht Italo-Western-Atmosphäre durch die Einspielung der Spiel-mir-das-Lied-vom-Tod-Melodie. Paul McCartney kommentiert das Ereignis als „optimalen Poptod“, den Lennon sich gewünscht habe. Grotesk ist auch das angekündigte Staatsbegräbnis mit Doubles, weil, falls es sich um Mord handelt, Wiederholungstaten befürchtet werden. Rainer Werner Fassbinder will den Regisseur des Woodstock-Films Michael Wadleigh doubeln. Die Leiche des Stars wird von einem Fan gedoubelt, der sich aus Solidarität im Stadion eine Overdose gesetzt hat, um mit seinem Idol jenseits des Hügels zu sein; dazu hört man den Song Fool on the Hill. Das Hörspiel klingt aus mit der Verlesung von Bundesliga-Ergebnissen vom KICKER-Ergebnisdienst. Eine weitere Ebene ist die Liebes- bzw. Sexgeschichte des Fans mit Karen Sikorski al. Nowottny (es kommt auf die Namen nicht an) die mittels vorgestanzter, in Aluminium verpackter Sätze aus Jugendzeitschriften wie BRAVO oder TWEN in Gang gesetzt wird. Dabei wird ein Meinungsfeld über das andere geschoben, und wenn sie zur Deckung gebracht sind und die Ansichtsspannung gleichgerichtet ist, gibt eine After-Eight-Packung den letzten Anstoß: SIE, die er zuerst im Werbefernsehen gesehen hat, nimmt ihn mit zu sich nach Hause, legt die neueste Platte von John und Yoko „Fucksoundtrack Number One“ auf, mixt einen Tranqulizer „zum Langsamer-Kommen“ und die Situation ist perfekt. Allerdings ist die Aufmerksam-
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keit dadurch von den Silikonbrüsten abgelenkt, dass der Fernseher läuft und die englischsprachige Ausgabe der BILD-Zeitung im Zimmer herumliegt. Diese nur annähernd vollständige Beschreibung zeigt, dass Behrens wie kaum ein anderer Hörspielautor in das Arsenal der Popkultur gegriffen hat. Priorität hat jedoch die Musik, denn Behrens’ Grundidee war es, ein Musikhörspiel zu schreiben: „Mit den Platters und Janis Joplin. Ein Gag-Hörspiel. Mit Fox Tönender Wochenschau und der Sgt. Pepper-Version der britischen Nationalhymne. Ein PopHörspiel. Mit Carl Perkins und der Originalversion von Blue Suede Shoes.“ (zit. n. Schmedes 2002, 128) In der Ansage werden „als Gaststars“ die Beatles, Ella Fitzgerald, Janis Joplin, die Platters und die Rolling Stones genannt. Der Soundtrack der voll ausgespielten Titel umfasst Can’t Buy me Love und Nowhere man von den Beatles, Only You von den Platters und die bereits erwähnten Blue Suede Shoes von Carl Perkins und Love in Vain von den Stones. Angespielt werden Summertime von Janis Joplin und Ella Fitzgerald sowie Magical Mystery Tour, Sgt. Pepper und Fool on the Hill von den Beatles. Zusammen genommen ergibt das bei einem 32minütigen Hörspiel einen sehr hohen Musikanteil, und genau das entspricht der Intention des Autors. Erinnert sei an die Aussage von Schmedes (vgl. Kap. 4), dass die Original-Songs „nicht nur dramaturgische Bestandteile der Hörspiele [sind], sondern […] auch für ihre ursprünglichen Bedeutungszusammenhänge, und daher nicht für PopKultur im Allgemeinen, sondern konkret für die Szene der sechziger und siebziger Jahre [stehen].“ (Schmedes 2002, 128) Zu ergänzen ist, dass das Hörspiel nicht nur für diese Szene steht, sondern selbst ein Bestandteil dieser Szene ist. Radioplay goes pop, könnte das Motto dieser und anderer Produktionen jener Zeit heißen. Zwar wird der Starkult kritisiert, jedoch lebt das Stück auch davon, dass es ihn aufgreift und den entsprechenden Sound reproduziert.49 Am meisten Aufsehen und Bewunderung erregte Behrens mit seiner „Social Science Fiction“ Das große Identifikationsspiel. Was damals Science Fiction war – Entwurf einer andersartigen Realität mit den Mitteln wissenschaftlicher Plausibilität – , ist heute im Zeichen sozialer Netzwerke und sich in alle Lebensbereiche ausbreitender intelligenter Systeme auf der Basis der Digitalisierung in den Bereich nicht nur des Möglichen, sondern des Tatsächlichen gerückt. Das Ziel, Verhalten von Menschen mittels digitaler Datenspeicherung und gezielt platzierter Werbung zu steuern, wird von einigen Konzernen offen propagiert. Angesichts dieser Entwicklungen mögen Behrens’ Visionen nahezu naiv anmuten, jedoch zeugen sie von einem hohen Maß an Weitsicht, wenn man von den konkreten technischen Details absieht. Schmedes konstatiert im Jahr 2002, „dass die in [Behrens’] Prosatexten und Hörspielen der siebziger Jahre entworfenen Konturen gesellschaftlicher, technolo49 Das gilt auch für den Popkrimi mit dem komplizierten Titel Als Nowhere Man den Fall erledigt hatte, legte er ‚Street Fighting Man‘ von den Rolling Stones auf, der in Kap. 15 dargestellt wird.
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gischer und kommerzieller Entwicklungen in der Realität der neunziger Jahre deutlich erkennbar sind.“ (Schmedes 2002, 141) Dies gilt umso mehr für die darauf folgenden zwei Jahrzehnte. Mit diesen Themen, angereichert durch den sozialkritischen Aspekt der Bauspekulation in London, überschreitet Das große Identifikationsspiel die Gattung des Pophörspiels, aber stofflich und hörspielästhetisch greift es auf Elemente der Popkultur zurück. Denn zum Transportmittel der Krimihandlung, die im Stil klassischer amerikanischer Kriminalromane von Dashiell Hammett oder Raymond Chandler entwickelt wird, wählt Behrens den medial befeuerten Starkult, der schon Thema seiner früheren Pophörspiele war. Gangster nutzen eine spezielle Video-Technik, um unliebsame Personen auszuschalten, indem sie sie zu „Kultgeflippten“ oder „Schweridentifizierten“ machen. Die Geschichte beginnt damit, dass die leblose Körperhülle von Jim Burns mit Humphrey-Bogart-Latexmaske vor dem Fernseher sitzt, auf dessen Bildschirm sein so verändertes Gesicht projiziert wird, während aus dem Lautsprecher die Tonspur des Films The Big Sleep von 1946 erklingt. Das Hörspiel arbeitet mit zahlreichen intermedialen Bezügen zum Film, die von der Erwähnung bekannter Filmklassiker (The Treasure of the Sierra Madre, Gumshoe, The Brasher Doubloon) bis zu Originalton-Einspielungen von Erkennungsmelodien großer Produktionsfirmen reichen. Die Atmosphäre US-amerikanischer Kriminalfilme entsteht sowohl durch die nachlässig coole Sprache, die auch diejenige ihrer Romanvorlagen ist, als auch durch die wenig variable, sachlich und trocken wirkende Sprechweise der ganz überwiegend männlichen Sprecher: Den 17 männlichen Stimmen, darunter die des unverwechselbaren Christian Brückner als Erzähler, stehen nur zwei weibliche Stimmen gegenüber. Hinzu kommen technische Manipulationen durch Walkie Talkies und Abhörgeräte sowie klassische Krimigeräusche wie Schritte auf Kies, mit quietschenden Reifen wegfahrende Autos, Revolverschüsse usw., die einmal ironisch kommentiert werden : „Es war wie in einem Kriminalhörspiel.“ An anderer Stelle heißt es: „Das reinste Andy-Warhol-Hörspiel.“ Seine besondere Qualität und Unverwechselbarkeit bezieht das Stück jedoch daraus, dass es sich auf kein Genre festlegen lässt. Die Science-Fiction-Atmosphäre wird dadurch erzeugt, dass durchgehend eine synthetische Hintergrundmusik von Klaus Schulze zu hören ist, die manchmal an Friedrich Dürrenmatts Hörspiel Das Unternehmen der Wega (BR/SDR/NDR 1954) denken lässt. Sind es dort die Geräusche heftiger Sternstaub-Explosionen und kosmischer Winde, die im Hörer ein Gefühl der Bedrohung entstehen lassen, so ist es hier ein untergründiges Wabern elektronischer Klänge von unterschiedlicher Tonhöhe, Lautstärke und Intensität, das auf keine bestimmbare Ursache verweist. Es könnte die stets präsente zweite Realität der Medien symbolisieren, in der Identitäten jederzeit zur Disposition stehen. Hinzu kommt das Element der Fußballreportage, denn der Gangster Jackie the Tripper ist Fan des Vereins Manchester United, speziell des Kickers George Best, in dessen Gestalt er sogar einen Trip machen will. Für das Hörspiel ist das die Gelegenheit,
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nach Einspielung der Eurovisionsmelodie ein bisschen akustische StadionAtmosphäre zu vermitteln. Jackie verkehrt mit einem Mädchen in Sinéad-CusackVerkleidung, einer Wiedergängerin von George Bests vorletzter Geliebter, und vor allem das macht deutlich, dass er kurz davor ist, ein Schweridentifizierter zu werden. Nach dem Ausflippen wird er allerdings von einem Komplizen endgültig ins Jenseits befördert. Dass das Stück auch den Charakter eines Pophörspiels hat, dürfte sich in der bisherigen Beschreibung gezeigt haben. Schmedes zählt es in einer tabellarischen Übersicht zu den Hörspielen im Themenbereich „Pop-Kultur“ (Schmedes 2002, 181). Es überrascht nicht, dass auch Stars der Popmusik als Traumraum-Ziele der Sehnsüchte von Fans erwähnt werden: John Lennon und Janis Joplin. Im Zentrum steht aber Humphrey Bogart in der Phase seines größten Ruhms. Am Schluss des Prosa-Textes, der die Vorlage für das Hörspiel bildet, ertönt aus den „vollaufgedrehten Transistorradios“ einer Gruppe Jugendlicher der Hit EVE OF DESTRUCTION von Barry McGuire. (Behrens 1973, 135) Das Hörspiel endet hingegen nicht apokalyptisch, sondern ironisch, man kann auch sagen autoreflexiv: Die Jugendlichen hören THE MAGICAL MYSTERY TOUR von den Beatles.50
8.7 H ADAYATULLAH H ÜBSCH Den frühen Abgesang auf die Hippiezeit und die politisch aufgeladenen Jahre um 1968 lieferte der 1946 in Chemnitz geborene Paul-Gerhard Hübsch (gest. 2011), der sich nach mehreren Erweckungserlebnissen Hadayatullah Hübsch nannte, mit seinem „Hörroman in drei Teilen“ Keine Zeit für Trips (SR 1972).51 Zwanzig Jahre später machte er daraus seine Autobiographie gleichen Titels in Buchform. In einem auf YouTube zu sehenden Porträtfilm, der nach seinem Tod 2011 entstand, wird Hübsch „an extremist in every aspect of his life“ genannt. In einem taz-Porträt aus dem Jahr 2008 heißt es, durchaus überraschend, der Imam Hübsch fühle sich als ein bis dato weithin verkannter Beatnikschriftsteller.52 Hübsch radikalisierte sich zunächst politisch, war in Apo-Kreisen aktiv, arbeitete als Programmleiter im Frankfurter Club Voltaire, schrieb erste Gedichte unter dem Einfluss der BeatPoeten, wechselte nach West-Berlin, verlor sich in Drogenexzessen, die er mit Zenbuddhistischen Mediationen anreicherte, und brach schließlich nach Marokko auf,
50 Am 30. 10. 2016 sendete der MDR als Uraufführung Behrens’ Hörspiel Audiobiographie, die vorläufige akustische Bilanz eines von der Pop- und Medienrevolution sowie von (linken) politischen Idealen geprägten Lebens. 51 Der „Hörroman“ ist ca. 250 Minuten lang. Teil 2 dauert 89 Minuten. 52 Das taz-Porträt vom 18.01.2008 stammt von Andreas Fanizadeh.
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wo er seine erste Erweckung erlebte. Im zweiten Teil des Hörspiels mit dem Titel Ausgeflippt, sicherlich das Kernstück der Trilogie, schildert er diese Ereignisse. Nach weiteren halluzinogenen Trips, einem an den marokkanischen Behörden scheiternden Versuch, nach Mekka zu pilgern, und einem Aufenthalt in einer Frankfurter Nervenklinik schloss sich Hübsch der islamischen AhmadiyyaGemeinde an und erhielt den Namen Hadayatullah, Der von Allah Geleitete. Das in geringem zeitlichen Abstand nach diesen Ereignissen verfasste Hörspiel unterscheidet sich in wesentlichen Punkten vom zwanzig Jahre später entstandenen autobiographischen Bericht. Über diesen schreibt Dirck Linck in seinem Aufsatz „Über das Verschwinden der ästhetischen Texterfahrung in konjunktiven Erfahrungsräumen“: „Die epische Montage Keine Zeit für Trips kennzeichnet ein durchgängig melancholischer Gestus, der erkennbar damit zu tun hat, daß in den Abstraktionen der Verschriftlichung, die der Autobiograph anfertigt, eben die Dimension des Körperdaseins ausgelöscht ist, auf die es dem Beatnik Hübsch doch seit seinen ersten Auftritten in der subkulturellen Kunstszene angekommen war.“ (Linck 2005, 1) Die in Hübschs Text tatsächlich durchgängig spürbare Melancholie führt Linck auf die durch die Semiotisierung und Verschriftlichung verlorene unmittelbare Sinnlichkeit und präsente Leiblichkeit zurück, die das Wesen der Kunstperformances der 1960er Jahre ausgemacht hätten.53 In den „konjunktiven Erfahrungsräumen“ hätten sich Kunst-Ereignisse abgespielt, in denen ästhetische und nichtästhetische Ereignisse, Künstler und Zuschauer verschmolzen seien. Als Beispiel nennt Linck die Stelle in Hübschs Bericht, in der „diese Vietnam-Tournee durch xStädte“ beschrieben wird: „Eine Collage aus Zitaten, Dias, Protestsongs, Beschreibungen von Folterungen, Zahlen und Fakten und Gedichten.“ (Hübsch 1991, 15) Diese hier sehr verkürzt wiedergegebene Ansicht kann nur als Ergebnis eines verengten Blicks gewertet werden. Denn die düstere Stimmung, die dieser autobiographische Text vermittelt, wird vor allem dadurch verursacht, dass der Leser von Hübsch auf einen Horrortrip mitgenommen wird, von dem es nur durch Allah eine Erlösung geben wird. Dauerthemen sind nicht Kunsterlebnisse, sondern die tief empfundene Befleckung und innere Verunreinigung durch den Gebrauch verschiedener Drogen, unter denen Acid/LSD eine herausragende Stellung einnimmt. Interessant ist dabei, wie schnell sich Hübsch von seinen linken politischen Anfängen zu entfernen scheint. Standen diese unter der wiederholt geäußerten Parole „Der Beat bleibt links“ (ebd., 15, 19, 20), so heißt es schon wenig später: „Und hier kam es zum ersten einschneidenden Knacks zwischen der Politszene und der gerade flüggen Hippie-Bewegung.“ (ebd., 35) Die Hoffnung, er könne seine politische Arbeit im Club Voltaire nach der Acid-Erfahrung fortsetzen, erweist sich bald als trü53 Der Systemtheoretiker Heidingsfelder sieht, generalisierend, „Kommunikation über Körper“ als Spezifikum des Funktionssystems Pop; das zeige sich z.B. im Tanz (Heidingsfelder, 2012, 397, 406).
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gerisch. Künstlerisch betätigt er sich als Lyriker und kann 1969 bei Luchterhand einen Gedichtband veröffentlichen, dessen Titel „mach, was du willst“ Programm ist: Auch sprachlich macht Hübsch, was er will, indem er vor plakativen Formulierungen und „vor Kalauern und Spielereien“ nicht zurückschreckt.54 Aber schon die aus heutiger Sicht vielleicht „denkwürdige Tour“ (Stahl 2014) „Beat & Lyrik“ mit dem Zeitschriftenherausgeber Hansjürgen Bulkowski und der Band Free Group durch mehrere Städte des Ruhrgebiets im Sommer 1967 schildert der Autobiograph 24 Jahre später mit Lakonie und traurigem Spott: „[...] und ich streckte meine unbeschreiblich schmutzigen Sommerfüße den Fußgängern ins Gesicht und lachte dazu und war voll stoned.“ (Hübsch 1991, 19) Schmutz und Rausch sind die Leitthemen dieses Textes, verursacht durch einen ungestillten „Hunger nach Ganzheit“55 und damit nach unbezweifelbarem Sinn, nach uneingeschränkter Freiheit und nach unentfremdetem Leben in Gemeinschaft. Dass diese Utopie in sich widersprüchlich ist, kam Hübsch offenbar nicht in den Sinn. Vielmehr stürzte er sich, um sie zu verwirklichen, stets von Drogen beflügelt, in diverse Aktivitäten, u.a. betrieb er eine Zeitlang einen alternativen Laden für den Bedarf von Hippies, bis dieser von der Polizei geschlossen wurde, beteiligte sich mit Beiträgen und als Mitherausgeber an Untergrund-Zeitschriften und begab sich schließlich zur Kommune I nach Berlin Moabit (vgl. auch Reichardt 2014, 845847). Die erhoffte Wärme im Binnenraum der Kommune fand er nicht, vielmehr stellte sich vieles, was am berühmten ovalen Tisch und auf dem Matratzenlager der Kommunarden geschah, als von Eitelkeiten beflügeltes Rollenspiel heraus. Die häufig wiederholte Aussage Hübschs, alles sei ungeheuer wichtig gewesen, jedes Wort, jede Bewegung, jedes Drehen eines Joints, ist nur ironisch aufzufassen. Diese Ironie findet sich sowohl im Hörspiel als auch im autobiographischen Bericht, aber das Hörspiel wirkt präziser, analytischer als der spätere Prosatext. Die Sprache ist wesentlich knapper, stärker verdichtet, und sie hat durch das anaphorische „und“ in den parataktischen Satzreihen eine vorwärts drängende Wirkung. Der Text in „IchForm“ wird von drei Sprechern und einer Sprecherin in sachlichem, emotionslosem Ton vorgetragen und ist vor allem am Anfang unterlegt mit klassischen Stücken der Popmusik. Im Prosatext von 1991 gehen oft deutschsprachiger Bericht und englische Songtexte ineinander über, wobei die lineare Abfolge gewahrt ist, während das Hörspiel eine vertikale Schichtung, also das gleichzeitige Erklingen von Sprechertext und Musik möglich macht. Es gibt allerdings auch Passagen, in denen nur Text oder nur Musik zu hören ist. Ausgeflippt beginnt mit Sympathy for the Devil von den Rolling 54 In seinem Aufsatz „Untergrund-West. Ploog, Fauser, Hübsch und die Folgen“ zitiert Enno Stahl Beispiele. 55 In seinem Buch „Die Republik der Außenseiter“ (1987) prägt Peter Gay diesen Ausdruck im Hinblick auf die Geisteshaltung vieler Intellektueller der Weimarer Republik.
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Stones, und zwar erklingt die Musik eine Minute lang überwiegend allein, darüber nur die Ansage mit dem Untertitel „Wir wissen, dass der Weg der Weg ist, und wir wollen jetzt wissen, wie er zu gehen ist“. Das Musikstück hat eine doppelte Funktion: Die Platte Beggars Banquet, von der alle „schrecklich beeindruckt“ waren (Hübsch 1991, 67), steht für das Lebensgefühl der Kommune, die sich durch Musik euphorisieren ließ und gerne tanzte, der Text „sympathy for the devil“ lässt sich aber auch auf Hübschs kritische Haltung zu seiner Vergangenheit beziehen, nachdem er den Drogenteufel durch Allah ersetzt hatte. Der Beat und das „wooh wooh“ der Stones scheinen die Sprache anzutreiben, bilden aber auch einen Kontrast zur nüchtern anmutenden Prosodie des Vortrags. Ebenso begeistert wie „Beggars Banquet“ begrüßt die Kommune das Erscheinen des Weißen Albums der Beatles, aus dem Hübsch sich vor allem durch Stücke beeindrucken, lässt, deren Texte durch Drogenerfahrungen inspiriert zu sein scheinen. Sie und viele andere Popklassiker der Zeit werden in dem Hörspiel mehr oder weniger lang angespielt. Mehrere Stücke sind so ausgewählt, dass man sie auf die Lebenssituation des Protagonisten beziehen kann, z.B. auf der Autofahrt nach Marokko spielen die Rolling Stones Route 66, nach dem Marokko-Trip, als ihn in Südspanien die Guardia Civil verhaftet, singt Bob Dylan: „Oh, mama, can this really be the end“ [59:40] oder als Hübsch, wieder freigelassen, sich von Alicante nach Formentera zu den Hippies treiben lässt, hört man von den Beatles „Get back to where you once belonged“ [1:02:45], was wahrscheinlich als Aufforderung zu verstehen ist, endlich nach Deutschland zurückzukehren. Sicherlich als Höhepunkt des Hörspiels gemeint ist das erste Erweckungserlebnis, das Hübsch hat, als er mit seiner Freundin Heidi in Marokko Richtung Marrakesch unterwegs ist, vollkommen high aus dem Auto aussteigt, sich die Kleider vom Leib reißt, in die wüstenartige Landschaft läuft und plötzlich ein Gebet ausstößt: „Oh Allah, bitte reinige mich!“ [47:50] und weitere Zeilen auf Deutsch und Arabisch, die der Autor selbst spricht. Dies ist die einzige Stelle, in der Hübsch selbst zu hören ist. Ausgerechnet danach folgt in Marrakesch einer der intensivsten Trips, im Hörspiel begleitet von Train Time, einem atemlosen, fast sieben Minuten lang ausgespielten Gesang von Jack Bruce im Wechsel mit einer Bluesharp, getrieben von Ginger Bakers wirbelndem Drumbeat. Die Zeit für Trips ist damit noch längst nicht vorbei. Die Fixierung auf Drogen hält an und treibt Hübsch in Deutschland zu einem Selbstmordversuch – die Doors singen „The End“ – und in die Nervenklinik, bis er nach einem zweiten und dritten Erweckungserlebnis den Weg in die Moschee findet. Das wird im zweiten Teil des Hörspiels nicht mehr erzählt. Dieser endet mit dem Abschiedsbrief an die Mutter und einem Song der Incredible String Band, den die Sängerin Licorice McKechnie, nur von einer Gitarre begleitet, intoniert: „My name is death / cannot you see / that life must turn to me / and you must come with me.“
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Ausgeflippt ist ein beeindruckendes Zeitdokument, das keinerlei Züge einer Hippie-Nostalgie trägt, sondern kühl auf die damals jüngst vergangenen Jahre zurückblickt. Auf den ersten Blick lässt das Buch einen anderen Eindruck entstehen. Das bunte Cover mit psychedelisch anmutenden Farben und Motiven, das Foto des Autors von 1968, mit Fellweste und rebellisch gereckter Faust, die rosa-hellgrüngelb-blauen Seiten wirken so, als habe der Verlag mit dem Werk die Kultur der Hippies wieder aufleben lassen und entsprechende Assoziationen als Verkaufsargument einsetzen wollen. Die Lektüre wirkt dann eher desillusionierend, was Stimmungen und ausgelöste Emotionen angeht, vermittelt aber referentiell den Eindruck eines reichhaltigen Archivs des kulturellen Untergrunds jener Jahre. Neben den schon erwähnten – und vielen anderen – Popklassikern, deren Texte zitiert werden, hören Hübsch und seine Freunde Holy Modal Rounders und Rotary Connection, sie lesen Jan Cremer, Verfasser des heute nur noch unter Eingeweihten bekannten Skandal- und Kultromans Ich Jan Cremer, im Shop werden diverse Untergrundzeitschriften angeboten, die nur sehr kurzlebig gewesen sein dürften, man fährt zu den Essener Songtagen, trifft Amon Düül usw. Als Motto kann darüber der Satz stehen: „Neubeginn: Ausgedreht aus dem faulen Körper dieses Monsters namens Gesellschaft.“ (Hübsch 1991, 45) Zu zeigen, dass dieser Neubeginn fehlschlug, scheint als Botschaft beider ‚Texte‘ gemeint, die denselben, eigentlich kontrafaktischen Titel Keine Zeit für Trips tragen. Beschrieben wird ja gerade die Zeit, in der Drogentrips das Leben des Protagonisten ausfüllen. Das Hörspiel bezieht seine spezifische Wirkung aus seiner performatorischen Qualität, dem Wechselspiel von Stimmen und Musik, das im gedruckten Text nicht stattfindet. Aufgrund der technisch-medialen Vermittlung kann zwar kein „konjunktiver Erfahrungsraum“ im Sinne Lincks erzeugt werden, aber die „Abstraktionen der Verschriftlichung“ werden durch die Dimension realer auditiver Präsenz überschritten, die der Hörer, wenn er will, mit Kopfhörer und geschlossenen Augen intensiv erleben kann. Als Hübsch zum Islam konvertierte, war er gerade 23 Jahre alt. Bereits in dieser Zeit führte er Vorgespräche mit dem Saarländischen Rundfunk über ein großes autobiographisches Hörspiel, zu dem ihn offenbar Werner Klippert anregte: „Ich habe einen großartigen Plan gefaßt, nachdem mir Klippert vom Rundfunk geschrieben hatte: ‚...ich möchte Sie nämlich fragen, ob Sie immer noch Spaß an ausgefallenen Experimenten haben. Wenn dieser Spaß auch dem Medium Rundfunk und speziell der Stereofonie gilt, geben Sie mir doch bitte ein Zeichen...‘ Mir schwebte ein reinigendes dreiteiliges Hörspiel vor, das mir helfen sollte, auf eine richtige Bahn zu kommen, mit einer Leitplanke und grenzenlosen Kinderaugen.“ (Hübsch 1991, 167)
Vielleicht ist es ein einmaliger Fall in der Radiogeschichte, dass ein Hörspiel als autokathartisches Experiment geplant wird, angeregt von einem führenden Hör-
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spieltheoretiker und Rundfunkmann. Bei Keine Zeit für Trips handelt es sich jedenfalls um ein Hörspiel, das, unabhängig von der Frage nach der Wahrheit autobiographischer Selbstdarstellung, in seinem Referenzrahmen als authentisches Dokument der Jugendkultur um 1970 angesehen werden kann. Die wesentlich durch ihren Sound bestimmten Pophörspiele weisen durch sprachspielerische Elemente eine Nähe zum Neuen Hörspiel auf, unterscheiden sich aber von den klar politisch gemeinten Hörspielen, die um 1968 produziert wurden. Mit ihnen haben sie die Verwendung von O-Tönen gemeinsam, die aber mit unterschiedlichen Absichten verwendet werden. Als Beispiele für die politischen Hörspiele zu nennen sind vor allem Peter O. Chotjewitz’ Die Falle oder die Studenten sind nicht an allem schuld (SDR/SR/WDR, 1968), dessen Sendung wegen seiner Parteinahme für die revoltierenden Studenten verboten werden sollte, und Yaak Karsunkes Stück & jetzt Bachmann - Abrichtung eines Täters (WDR/HR 1972), das zu klären versucht, was den Dutschke-Attentäter Bachmann zu seiner Gewalttat gebracht hat. Die künstlerische Absicht ist in beiden Fällen der politischen klar untergeordnet, es geht um Aufklärung bzw. Agitation. Chotjewitz tritt in seinem Hörspiel sogar selbst auf, um den Einsatz von Gewalt seitens der Studenten als Notwehr zu begründen. Und Karsunke will den Hörer sicherlich weder unterhalten noch ästhetisch erbauen, wenn er einen Jungen im Stimmbruch stotternd eine Gewaltszene aus einem trivialen Thriller vorlesen oder wenn er ausführlich aus dem „Deutschen Waffen Journal“ zitieren lässt. Das heißt aber nicht, dass diese Stücke rein dokumentarisch wären und keinerlei ästhetische Qualität hätten.56 Sarkastisch weist Chotjewitz in einer Vorrede zu seinem Hörspiel die Kritik zurück, dieses habe keinen künstlerischen Wert.57 Allzu durchsichtig ist in der Tat die Absicht, mit dieser Begründung ein politisch unliebsames Stück zu erledigen. Beide Autoren nutzen die Stereofonie, legen Zeichenschichten übereinander, collagieren ihr Material so, dass ausgeklügelte Kompositionen entstehen, in denen die politische Aussage verdichtet erscheint, kurz: Sie nutzen die Mittel avancierter Hörspielkunst. Während Chotjewitz auf die Verwendung von Elementen der populären Kultur jener Jahre verzichtet, montiert Karsunke mehrere damals sehr erfolgreiche Schlager ein: So schön war die Zeit und Der Legionär von Freddy Quinn“ und „Smoky“ von der Gruppe Die sieben Raben. Sie stehen wie in dem Hörspiel von Hans-Georg Behr, der ebenfalls auf Freddy Quinn zurückgreift, für den trivialen Kitsch, den die Mehrheitsgesellschaft schätzte, und werden verknüpft mit deren reaktionären Anschauungen. Als Gegenmodell erscheinen sowohl bei Chotjewitz als auch bei Karsunke die Aktionen der protestierenden Studenten, welche die Staatsmacht, begleitet vom Beifall vieler Bürger, gewaltsam zu unterbinden versuchte.
56 Karsunkes Stück wird in der Ansage als „dokumentarische Hörcallage“ bezeichnet. 57 In einer Sendung im Deutschlandradio am 24. Mai 1998.
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Dagegen weisen die Pophörspiele einen anderen Weg zum Aufbruch. Er führt in den subkulturellen Untergrund und zeichnet sich durch ästhetische Experimente aus, die im Hörspiel nicht in dem Maß dem Trend zur Kommerzialisierung unterliegen wie in der Musik und anderen Künsten. Der öffentlich-rechtliche, durch Gebühren finanzierte Rundfunk machte – und macht bis heute – Nischenprogramme möglich. Selbst solche radikal politischen Hörspiele, die zunächst für Aufregung sorgten und kleine Skandale provozierten, wurden letztlich gesendet. Die Beziehungen zwischen der linken politischen Szene, für die in Deutschland vor allem der SDS stand, und den in erster Linie auf alternative Lebensstile zielenden Subkulturen waren teils eng, teils spannungsgeladen. „Generell war die linksradikale Szene immer bestrebt, die rein subkulturelle Abwendung von der Gesellschaft durch Bewusstseinsbildung zu politisieren. Uneinigkeit bestand hingegen darin, inwieweit Subkulturen selbst bereits revolutionäre Qualität hatten.“ (Siegfried 2008, 130f.) Es ist zu vermuten, dass vor allem Hans-Georg Behr und Alfred Behrens für ihre Arbeiten, zumindest potentiell, auch eine politische Wirkung beanspruchten. Dennoch ist der Befund im Hörspielsektor eher derjenige einer Abgrenzung zwischen einer popkulturellen und einer (links-)politischen Spielart.
9. Biographische und autobiographische Pophörspiele
9.1 I CH -G ESCHICHTEN Nach der Phase, die Diedrich Diederichsen als die des Pop I bezeichnete und zeitlich etwa von 1960 bis 1980 eingrenzte (vgl. Diederichsen 1999), setzte eine rasant sich beschleunigende Produktion an Texten ein, die das Pop-Phänomen theoretisch zu erklären und einzuordnen versuchten. Sie begleiten seitdem die Entwicklung von Pop II, dem vor allem eine zunehmende Unübersichtlichkeit attestiert wird, so dass es immer problematischer wird, ordnende Beschreibungsmuster zu finden. Gesucht werden solche weniger in ästhetischen als vielmehr in soziologischen, sozialphilosophischen oder auch politökonomischen Theorien, wobei die Grenze zwischen Deskription und Interpretation immer durchlässiger wird, jedoch ohne dass dieses Problem ausreichend reflektiert würde. Vielmehr lesen sich die Texte mit ihren Verallgemeinerungen und versteckten polemischen Anteilen als Beschreibungen, die aber empirisch weder verifizierbar noch falsifizierbar sind und letztlich den Eindruck gekonnter Sprachspiele erwecken. Aufmerksame Leser dürfen sich dann fragen, ob sie wirklich jeden Satz verstehen müssen, der da mehr oder weniger wohlklingend daherkommt. Roger Behrens negiert die wissenschaftliche Erklärungsbedürftigkeit von Pop schlechthin und stellt zum Verstehensproblem fest: „Was sich als Pop ‚ereignet‘ kann von allen verstanden werden – nicht zuletzt deshalb, weil einerseits jeder Versuch, Pop zu verstehen, selbst im Sinne des Pop verstehbar ist (Redundanzschleife), weil andererseits jeder Versuch, Pop zu verstehen, in letzter Instanz irrelevant ist (Nietzsche antizipierte das als Nihilismus). Um Pop zu verstehen, muss man Pop nicht verstehen, und vice versa.“ (Behrens 2010, 25) Relevant findet Behrens, wie an anderer Stelle bereits mehrfach festgestellt, eine kritische Gesellschaftstheorie im Sinne der Frankfurter Schule. Von ihr ausgehend kritisiert er die Popkultur umfassend und negiert letztlich ihr subversives Potential. Tom Holert und Mark Terkessidis beziehen sich in einem Text über den „Mainstream der Minderheiten“ (1996) ebenfalls auf die Kulturindustrie-Kritik der
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Frankfurter Schule sowie auf Michel Foucaults Begriff der „Disziplinargesellschaft“ und auf Gilles Deleuze’ These, letztere werde allmählich durch die „Kontrollgesellschaft“ überwunden. Allzu generalisierend, aber tendenziell richtig kann dann die Pop-I-Phase als diejenige des Kampfs der Jugend „gegen die Disziplinierungen des Alltagslebens“ beschrieben werden. Damit hätten die Jugendkulturen und die Popmusik „unabsichtlich“ dazu beigetragen, dass an die Stelle der Einschließungsmilieus der Disziplinargesellschaft ein Zustand der freiwillig akzeptierten „permanenten Kontrolle“ trete. Deleuze bewies erstaunliche Weitsicht, als er diese Entwicklung 1990 beschrieb, lange vor Smartphone, Smartwatch und intelligentem Auto, Kühlschrank oder Haus. Heute ist es Pop, sich durch Preisgabe seiner Daten der Kontrolle von wem auch immer (werbetreibende Industrie, Krankenkasse, Arbeitgeber) zu unterwerfen. „Die Individuen sind zu Dividuen geworden und die Massen zu Daten, Märkten oder Banken“, schreibt Deleuze. (Deleuze 1990, 8) Das mag stimmen und kann hier nicht diskutiert werden. Dennoch hören die Literatur, das Theater, der Film und eben auch das Hörspiel nicht auf, individuelle Geschichten zu erzählen, in ihnen Entwürfe von mehr oder weniger gelingendem oder misslingendem Leben zu liefern und Sinndefizite zu kompensieren. „Woke up this mornin’ and my baby was gone.“ Gegen diesen Satz lässt sich nicht ins Große argumentieren. Er ist weder utopisch noch dystopisch, weder affirmativ noch kritisch. Er spricht über eine Situation, die jeder kennt, die überlebt werden muss und für die Popmusik zu einem Überlebensmittel werden kann. Die Erlösungshoffnungen der Achtundsechziger durch politische oder kulturelle Revolution mögen sich vorerst überlebt haben, aber die Suche nach individuellen Überlebensstrategien ist geblieben und bedient sich aus dem Arsenal der Popkultur, die nunmehr keine reine Jugendkultur mehr ist. Was Holert und Terkessidis in Hinsicht auf die erste Phase der Entwicklung der Popmusik feststellten, gilt immer noch: „Es ging nur selten um Parteien und Ideologien. Die meisten Songs handelten von erfüllten zwischenmenschlichen Erfahrungen. Aber gerade darin äußerte sich eine Politik, die Peter Brückner ‚Umwälzung von Alltäglichkeit‘ genannt hat, eine Körperpolitik im Hier und Jetzt. Heute könnte man auch sagen: Es ging um persönliche Betroffenheit.“ (Holert, Terkessidis 2013, 234) Die biografischen Pophörspiele, die seit dem Jahr 2000 entstanden, erzählen in meist einfachen Formen Episoden aus dem Leben der Popbegeisterten und ihrer Stars. Die erste Gruppe, die hier an einigen Beispielen beschrieben werden soll, ist jeweils zentriert um einen Ich-Erzähler, der sich an seine durch Popmusik bestimmte Jugendzeit um 1980 erinnert. Das nachträgliche Motto dafür liefert Oskar Roehler mit seinem 2015 in die Kinos gebrachten Film Tod den Hippies! Es lebe der Punk. Die Hippiezeit wird kritisch gesehen, lange Gitarren- und Keyboardsoli wirken jetzt öde, wallende Gewänder erscheinen als Verkleidung und die Suche nach Spiritualität hat im Ashram in Poona einen vorläufigen Endpunkt gefunden. Als
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Zeichen der Abkehr von den Vorläufern rasiert sich der Held in Roehlers Film die langen Haare ab, bis eine Punk-Frisur übrig bleibt. Noch vor Roehler hatten XAÕ SEFFCHEQUE (*1956) und MARTIN RITZENHOFF (*1969) den Gegensatz zwischen Punks und Hippies in ihrem turbulenten Hörspiel Zurück zum Beton (WDR 2012) dargestellt. Hippie Jürgen, bald nur ‚Woodstock‘ genannt, scheitert mit seiner Wehrdienstverweigerung und sucht, um unterzutauchen, seinen Cousin ‚Lloyd‘, Kunststudent und Punk, auf, dessen Band sich gerade darauf vorbereitet, als Vorgruppe für Iggy Pop zu spielen. Leider kommt der Gitarrist bei einem Unfall ums Leben. Da wirbt der langhaarige ‚Woodstock‘ für sich, der viel besser Gitarre spielen kann als die Punks. Aber mit seinem Vorspiel von Hotel California und einem Song von David Bowie kann er nicht landen. Auch die Joints, die er anbietet, kommen nicht gut an – man bevorzugt Bier und Schnaps. In der Not nimmt man ihn doch, und er bewährt sich bei einer Kunstperformance mit skandalösem Presseecho, was als voller Erfolg interpretiert wird. Außerdem scheint sich die ‚Nivea‘ genannte Freundin Lloyds in ihn zu verlieben. Sie formuliert in markanten Sätzen die Lehre des Punk: „Punk is ’ne Haltung und nich Pogo, ’ne Lederjacke und ’n Iro. Punk, das is’ Freiheit und Kreativität. Man kann machen, was man will, Hauptsache, man is’ anders.“ [20:45] Letztlich geht aber alles schief, selbst die Wahl des Bandnamens. Als der Name Die Toten Hosen ins Spiel gebracht wird, lehnt Lloyd das ab, weil er meint, kein Mensch wolle sich eine Band mit einem solchen Namen anhören. Seffcheque, der die Düsseldorfer Punkszene von innen kennt, geht rückblickend ziemlich kritisch mit ihr um, entlarvt markige Sprüche als Ausdruck von Orientierungs- und Hilflosigkeit, macht sich über die musikalische Dürftigkeit der akkordarmen Punkmusik lustig, liefert aber ein beeindruckendes und gar nicht liebloses Hörbild eben jener Szene, für die der Song mit den einzigen beiden Textzeilen „Zurück zum Beton / Zurück zur U-Bahn“ das Leitmotiv vorgibt. In CHRISTIAN GASSERs (*1963) Hörspiel Dies ist kein Liebeslied! Bekenntnisse eines Pop-Besessenen (DRS 2002) geht es um die Verbindung von Popmusik und – meist unglücklichen – Liebesgeschichten in einer nicht enden wollenden Pubertät. Der Erzähler versetzt sich zwanzig Jahre zurück, als er als Sechzehnjähriger seine Angebeteten mit Mix-Kassetten zu bezirzen versuchte, aber damit meistens scheiterte. Das Leitmotiv liefert nicht der Blues (siehe oben), sondern der damals sehr erfolgreiche Song Love Will Tear Us Apart der Dark-Wave-Band Joy Division und ihres unglücklichen Sängers Ian Curtis. Diverse weitere Popsongs bilden den Hintergrund zu den in der Gegenwart des Erzählers sowie in der erzählten Zeit, den frühen Achtzigern, angesiedelten Monologen und Dialogen. Die Wiedergabequalität der Musik ist eher mäßig, denn man legte noch zerkratzte Platten auf oder spielte Musikkassetten ab, die nicht für HiFi-Qualität garantierten. Der Erzähler der Ge-
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genwart bevorzugt immer noch die Schallplatte gegenüber der CD, aber nicht aus Vinylfetischismus, sondern wegen des durch den Zwang zum Umdrehen der Platte zeitlich strukturierten Liebesspiels. Dieses Detail zeigt schon, dass das Hörspiel auch satirische Qualitäten hat bzw. von einer milden Selbstironie getragen ist. Die Freundin will Konstantin Wecker hören, er bevorzugt Iggy Pop, weil der so schön selbstzerstörerisch ist („das find ich stark“ [07:30]). Eine andere Freundin liest dauernd Fromms „Die Kunst des Liebens“, ein Buch, das ihr „schön und tief“ erscheint, während er die in den Songs von Suzi Quatro ausgedrückte ungezügelte Sexualität bevorzugt, für die in der Gegenwart des Erzählers vor allem der Schlager Sex Bomb von Tom Jones steht. Nur selten ist er Stupidly Happy (XTC), besser passen Do You Really Want to Hurt Me (Culture Club) oder eben Love Will Tear Us Apart. Nur einmal deutet sich die Möglichkeit eines unerwarteten Glücks an: Der Erzähler hat einen Aushilfsjob in einem Plattenladen gefunden; naturgemäß ist das sein Traumberuf, denn er kann den ganzen Tag seine Lieblingsplatten auflegen. Gerade läuft eine sehr spezielle Platte von Roky Erickson, die der Verkäufer eigentlich selbst behalten möchte, als ein schönes Mädchen hereinkommt, das ausgerechnet nach dieser Platte verlangt („Ein Mädchen, das Roky Erickson kennt!“). Er kann ihr den Wunsch nicht abschlagen, aber sein Traum, sie möge ihn zu sich einladen, damit sie gemeinsam diese Musik hören, erfüllt sich nicht. Der rückblickende Erzähler reflektiert nicht, ob der endlich gefundene „gemeinsame Soundtrack“, der psychedelische Halloween- und Vampir-Rock des lange Zeit als schizophren geltenden Sängers Erickson, eine tragfähige Basis für ein dauerhaftes Liebesglück abgegeben hätte. Er erklärt auch nicht, ob seine Vorliebe für Erickson von dessen Texten herrührt oder von seiner rau und ungeschliffen wirkenden Sing- und Spielweise der Gitarre oder von all dem zusammen, verbunden mit dem Stolz, etwas zu mögen, was die Allermeisten gar nicht kennen. Objektiv richtig, aber subjektiv völlig sekundär ist, dass es sich auch bei Roky Ericksons Platten um „käufliche Kulturgegenstände“ handelt, womit sie der „kapitalistischen Verwertungslogik“ unterliegen – als wäre mit dieser Feststellung eine wie auch immer geartete inhaltliche Relevanz von vornherein ausgeschlossen. Die Szene zeigt vielmehr, dass Popmusik, obwohl sie Gemeingut, also generell Mainstream geworden ist, immer noch und immer wieder neue subkulturelle Codes hervorbringt (Bandnamen, Songtitel), durch deren Gebrauch Einzelne sich ihrer Besonderheit versichern können. Das Hörspiel thematisiert nicht, ob der erwachsene Ich-Erzähler, der wie sein jugendliches Alter ego die durch Popmusik erzeugte „Intensität und Schönheit“ schätzt, inzwischen zu den „blöde[n] Bürokraten und kranke[n] Karrieristen“ gehört, die laut Diederichsen mit vermeintlicher „Authentizität“ ihre Innenausstattung pflastern (vgl. Diederichsen 2013, 254), oder ob er sein labiles inneres Gleichgewicht in einer widersprüchlichen Einheit mit seiner (bürgerlichen) Trägergruppe gefunden hat, wobei er sich letztlich als „Alternativer“ definiert, ohne irgendwo anzuecken. Denn inzwischen,
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so noch einmal Diederichsen, „bietet Pop II Matrizen für alles, innerhalb und außerhalb des normalen Spektrums“. (Ebd., 256) Anders, nämlich immer berührt von Politik und Geschichte, verläuft Die wundersame Geschichte eines Ostrockers, erzählt von ihm selbst (DLF 2007).1 In dem Dokumentarhörspiel erzählt der Sänger der in der DDR sehr erfolgreichen Band Pankow ANDRÉ HERZBERG (*1955), überwiegend gesprochen von dem Schauspieler Boris Aljinovic, Situationen aus seinem Leben. Der Text ist nicht chronologisch angeordnet, sondern er springt in der Zeit hin und her, zurück bis in die Nazizeit, in der die jüdische Familie Herzberg verfolgt und die Großmutter Johanna in Auschwitz ermordet wurde. 1987 erlebt es Herzberg bei einem Konzert, dass ihm aus dem Publikum zugerufen wird: „Berliner Juden, macht euch fort!“ [19:55] Auf solche Erlebnisse reagiert er weder traurig noch empört, sondern er erzählt sie, als nähme er gelassen hin, dass solche Dinge eben geschehen. Aljinovic findet für Herzbergs lakonische Erzählweise den angemessenen Ton. Zuweilen hört man den Autor selbst, wie er sich in Interviews, z.B. im DDR- Jugendradio DT 64, äußert. Fast immer ist die Musik von Pankow zu hören, entweder im Hintergrund oder allein, wobei die autobiographischen Liedertexte die erzählte Geschichte poetisch ergänzen. Dem Titel der Buchvorlage Mosaik wird auch das Hörspiel gerecht. Aus Mosaiksteinen setzt der Autor sein Leben zusammen: Geboren wird er als „drittes ungewolltes Kind“ seiner vom Kommunismus überzeugten Mutter, einer Staatsanwältin, bei der er lebt, nachdem sein Vater aus dem Haus gegangen ist. Als sich seine Neigung zur Musik abzeichnet, sagt die Mutter zu ihm: „Wenn du Schlagersänger wirst, lass ich mich von dir scheiden.“ [08:22] Denn sie hört nur Kampflieder, gesungen von Ernst Busch oder Pete Seeger. Den Bandnamen Pankow erklärt er so: Im Kalten Krieg heißt die DDR oft ‚Pankow‘, das ist auch der Name seines Heimatbezirks und außerdem gibt es eine Assonanz an Punk. Der Punk hat in der DDR einen schweren Stand, denn es gehört zu seinem Wesen, sich nicht auf Linientreue verpflichten zu lassen. Für Herzberg zählt nicht der politische Standpunkt eines Sängers, sondern die persönliche Bedeutung, die ein Text für ihn hat: „Wenn ik ne Platte höre, will ik mich wiederfinden.“ [12:55] Eigentlich sind die Fronten klar: Was Mainstream – und damit zugelassen – ist, bestimmt die Partei. Grenzüberschreitungen, hin zu Subkulturen, sind demnach auch nur kontrolliert möglich. Von 1
Dazu Thomas Kochan in einer Studie über die Bluesrock-Szene der DDR: „Doch das Spannungsverhältnis zwischen Subkultur und ostdeutscher Gesellschaft ging nicht im Kulturellen auf, sondern wurde von einer Sphäre des Politischen überlagert, gebrochen und mit ihr verquickt. Diese Fusion von kulturellem und politischem Handeln, die einherging mit der Verschmelzung von Staat und Gesellschaft, war herrschaftlich intendiert.“ (Kochan 2002, 76)
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Stasi-Überwachung ist im Hörspiel nicht die Rede, aber es ist davon auszugehen, dass sie stattgefunden hat. Konflikte mit der Staatsmacht werden nur angedeutet: „Ich wollte ein guter Pionier sein, aber ich stellte die falschen Fragen.“ Aber die Gruppe Pankow ist so erfolgreich, dass sie sogar im Westen auftreten darf. Man lässt es Herzberg durchgehen, dass er auf der Bühne immer zuerst eine Rede als Funktionär hält, womit er die Vertreter der Arbeiter- und Bauernmacht persifliert. Herzberg ist ein Störenfried, der Prestige bringt, und wird im Westen wahrgenommen als „der Märchenonkel aus dem Osten“. Das Hörspiel vermittelt Zeitgeschichte, vermeidet aber die große politische Geste. Der Beitrag der Popmusik zur Entwicklung einer freieren Gesellschaft kann sich in einfachen Sätzen niederschlagen: „Hoffnung gibt es immer.“ „Spaß is auch schon was, aber auch nich immer so einfach zu haben.“ Nach dem Mauerfall fährt Herzberg im Dezember 1989 nach New York und schließt sich tagelang in einem Loft ein, aus Angst vor der Freiheit, wie er sagt. Aber bald besinnt er sich, kehrt zurück und nach Deutschland und macht wieder Musik.2 Ein Sonderfall der Gattung, jedenfalls ein witziges Archiv musikalischer Populärkultur, ist das Hörspiel Fleisch ist mein Gemüse (WDR/NDR 2005) von und mit HEINZ STRUNK (*1962). Die straffe, sehr hörenswerte Bearbeitung des autobiographischen Romans gleichen Titels führt den Hörer in die Welt eines frustrierten Provinz-Musikers, der mit Tanzbands über die Dörfer südlich von Hamburg tingelt. Der Beat, der dieses Hörspiel beherrscht, ist nicht der von Punk, Bluesrock oder Hip-Hop, sondern es sind die behäbigen Drei- und Vierviertel der Schlager, Oldies und Schunkellieder. Am häufigsten fordert das Publikum An der Nordseeküste von Klaus und Klaus; als Intro, Outro oder Zwischenmusik spielt man Hello, Dolly!. Die Klänge der Tanzkapelle Tiffanys vor Dorfgasthof-Atmo werden kontrapunktisch ergänzt durch kurze Saxophon-Solo-Licks als Szenentrenner. Der Autor und Musiker Strunk, der seine eigene Hauptrolle mit unverwechselbar norddeutscher Sprachfärbung spricht, beherrscht sein Instrument besser als seine Musikerkollegen und hat eigentlich andere Ambitionen, die er in einem privaten Studio zu verwirklichen versucht. Ganze zwölf Jahre muss er bei den Tiffanys ausharren, zugleich gekettet an seinen Hang zu Spielautomaten und an seine depressive, kränkelnde Mutter, mit der die Gespräche immer gleich verlaufen. Vordergründig sind seine Hauptprobleme eine chronische Akne und sexueller Frust. Er fühlt sich „von den Futtertrögen des Lebens unüberbrückbar weit entfernt“. Es wird aber immer deutlicher, dass das scheinbar so unpolitische Stück auch einen politischen Kern 2
Einige Parallelen zu dieser Geschichte weist diejenige von Kai-Uwe Kohlschmidt, Sänger der Cottbusser Band Sandow, auf. Sie wird in Kohlschmidts Hörspiel Im Feuer (HR 2009) nicht als Ich-Geschichte, sondern, teils als Märchen, von einer Erzählerin erzählt. Der Protagonist heißt Hendrik Kostschak, ist also eine fiktive Figur.
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hat. Zunehmend unerträglich wird dem jungen Mann das dumpfe, spießbürgerliche, zu später Stunde, wenn der Alkohol reichlich geflossen ist, kaum verdeckt faschistische Reden und Verhalten seines Publikums bei Schützenfesten, Silberhochzeiten und Fohlenschauen. Die zweifelhafte Szene, in der er auf der Bühne von fürchterlichen Blähungen gequält wird und sich übelriechend Erleichterung verschaffen muss, bekommt ihren Sinn durch das voraufgegangene Erzählen eines sadistischen „Negerwitzes“, den er stumm mit anhören muss. Bald darauf, nachdem seine Mutter gestorben ist, verabschiedet er sich von den Tiffanys. Die Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste wählte das Stück zum Hörspiel des Monats Oktober 2005, unter anderem mit folgender Begründung, die sich auf die Form bezieht: „Auch die Regisseurin, Annette Berger, legt ein Rhythmusgefühl an den Tag, das die Musiken als gleichberechtigten Teil der Erzählung behandelt (nicht als bloße Dekoration, wie es im Hörspiel leider auch vorkommt) und die notwendigen Wiederholungen zu straffen Situationen gestaltet, so dass die unterschwellige Traurigkeit dieser Stagnationsgeschichte warm, nachvollziehbar und verständlich wird. Ein schöner Weg, Ernstes zu thematisieren, ohne im Ernst zu schwelgen.“ (Zit. n. HörDat) Zurück in die Zeit um 1980 führt JOCHEN RAUSCHs (*1956) raffiniert konstruiertes Hörspiel Dann sind wir Helden (WDR 2011). Rausch, einst Sänger der kurzlebigen Band Die Helden, später Programmchef des Senders WDR1live und Schriftsteller, blickt zurück auf wilde Zeiten. In seinem tieftraurigen Hörstück geht es um die Sehnsucht nach Subkultur, Hassliebe zu den Eltern, Verachtung der Spießer und der Hippies. Formal interessant ist das Hörspiel dadurch, dass die Bezüge verschiedener Zeichenschichten den Hörer darüber im Unklaren lassen, ob es sich um eine Dokumentation oder um eine fiktive Geschichte handelt. Genau datiert ist das Tagebuch des Sängers der Band Johannes Feininger, genannt Jojo: Es umfasst den Zeitraum vom 12. Januar 1978 bis zum 4. September 1979 und ist angelegt als Anrede Jojos an den verstorbenen Vater („Pap“), der durch einen Sprung vom Dach Selbstmord begangen hat. Das daraus resultierende Trauma, über das Jojo mit seiner Umwelt anscheinend nicht kommuniziert, fördert seine oft verzweifelten, dann wieder euphorischen Zustände, seine radikale und rebellische Haltung, seine Rücksichtslosigkeit gegenüber seinen Mitmenschen und das mehr als entschlossene, fast fanatische Verfolgen des Bandprojekts, an das er seine Hoffnungen auf ein freies, unbürgerliches, kreatives Leben knüpft. Der kurze Abschnitt der erzählten Zeit von knapp eineinhalb Jahren wird stark erweitert durch die Rückschau in Interviews mit Zeitzeugen, deren Identität jeweils durch einen Sprecher benannt wird, sowie durch Konzerteinspielungen der Band. Die scheinbare Authentizität wird dadurch erhöht, dass zwei Prominente das Spiel mitspielen: Campino, der Sänger der Band Die toten Hosen, und Judith Holofernes, die am Schluss behauptet, der Name ihrer erfolgreichen Band Wir sind Helden gehe
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auf die längst vergessenen Helden zurück, für die sie als kleines Mädchen geschwärmt habe. Deren Geschichte verläuft unglücklich. Erst springt der Organist Jochen, der bereits Familienvater ist, aus dem Fenster, als ihm seine Frau erzählt, sie habe ein außereheliches Verhältnis. Dann fahren alle in einem alten Leichenwagen (sic!) in die Bretagne, um dort eine LP aufzunehmen. Sie müssen erleben, dass sie aus einem Lokal gewiesen werden, weil die Gäste sich durch ihr Deutsch an die Nazi-Besatzer erinnert fühlen. Für ein paar Tage verschwindet Jojo in einem Hippiecamp, wo er sich in der Meinung bestätigt fühlt: „Die Hippies kapieren nicht, dass die Nazis es gut finden, wenn die Jugend zu stoned ist, den Alten in den Arsch zu treten.“ [13:30] Schließlich lässt die Begeisterung der Bandmitglieder für die Proben nach, weil sie sich mehr für ihre Mädchen interessieren, die Jojo am liebsten gar nicht mitgenommen hätte. Die Band löst sich auf, worauf Jojo scheinbar ruhig reagiert. Er hat schon eine Fahrkarte nach Paris in der Tasche, als alle, mit ihm am Steuer, beim Sturz von einer Klippe ums Leben kommen. Ob es ein Unfall war, bleibt ungeklärt. Jojos letzter Tagebucheintrag lautet: „Wir werden nichts hinterlassen. Wir waren Zeitverschwendung.“ Das Ganze endet mit einem zur akustischen Gitarre gesungenen Liebeslied und der erwähnten Äußerung von Judith Holofernes. Im Netz, bei YouTube und auf der Homepage von Jochen Rausch, kann man ein Video mit dem Song Romantisch sehen und hören, angeblich 1979 von der Band die Die Helden gesungen und gespielt. Als sähen sie sich einen alten Film an, schmunzeln dazu der älter gewordene Jochen Rausch und zwei Herren, möglicherweise ehemalige Bandmitglieder, in die Kamera. Die besondere Ironie dieser Geschichte liegt darin, dass Rausch seine PostHippie-Prä-Punk-Helden auf der Ebene der Erzählung symbolisch sterben lässt wie seinerzeit Remarque seinen Protagonisten Paul Bäumer am Ende des Weltbestsellers Im Westen nichts Neues, während er sie zugleich medial wieder auferstehen lässt. Eine ketzerische Interpretation dieses Vorgangs könnte lauten, dass das rebellische Potential jener Jahre verpufft, aber der Spaß geblieben ist. Eine andere, dass Melancholie herrscht, wo nicht erfüllte Sehnsüchte nur noch ästhetisch aufbewahrt sind und lächelnd von fern betrachtet werden. Positiv gewendet, sind sie immerhin aufbewahrt und damit nicht verloren. Künstlerisch sind die hier vorgestellten retrospektiven Ich-Geschichten vor allem durch das Spiel mit Fiktion und Dokumentation interessant und innovativ. Dieses Spiel wird in den biographischen Pophörspielen immer wieder gespielt, sehr gekonnt auch in DAVID ZANE MAIROWITZ’ (*1943) mit dem Prix Europe ausgezeichneten Hörspiel Category 5: Wie ich Fats Domino aus dem Hurrikan Katrina rettete (SRF 2012). Ungeachtet aller Katastrophenmeldungen, die im Stück als OTöne präsent sind und akustisch verstärkt werden durch Gewitter-Atmo und Wasserrauschen oder -plätschern, reist der 67jährige Dudeck aus Berlin-Kreuzberg nach New Orleans, um sein lebenslanges Idol Fats Domino aus den Fluten zu retten. Der
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reale Hintergrund dieser Ich-Erzählung, in der Martin Reinke, wunderbar berlinernd, die Rolle des Protagonisten spricht, ist es, dass „der Fatman“ im Hurrikan tatsächlich eine Zeitlang als verschollen galt. Dudeck, ein vom Leben nicht gerade verwöhnter, aber unerschrockener Fan, pflegt eine besondere Beziehung zu seinem Star, mit dem er direkt kommunizieren kann, und zwar über dessen Songtexte. Die Anfänge der jeweiligen Songs werden passend eingespielt, deren Texte werden dialogisch verwertet. Aber im Wirrwarr der Naturkatastrophe, nach Konflikten mit der Polizei und einem Raubüberfall, bei dem ihm nicht nur Pass, Geld und Kreditkarten, sondern auch seine Beta-Blocker geraubt werden, verliert Dudeck den Kontakt zu Fats Domino. Erst durch eine Hellseherin, die er mit einer aus den Fluten gefischten Flasche Jack Daniels bezahlt, gewinnt er ihn zurück und findet dadurch das verlassene, vom Wasser fast zerstörte Haus des Sängers und schließlich diesen selbst, den er in einem Schlauchboot rettet. Dabei erlebt er seinen erfüllten Augenblick, den Höhe- und zugleich Endpunkt seiner existenziellen Reise, als der Sänger ihm einen seiner Hits vorsingt. Danach hört man im O-Ton: „Fats Domino rescued.“ „You saved my black ass“, sagt der Musiker zu Dudeck, der am Ende mit Blutdruck Category 5 in seinem Boot in den Golf von Mexiko treibt. Ein akustisches Gesamtkunstwerk besonderer Art ist das Hörspiel Autobigophonie (BR 2004) des Musikerpaars FRANÇOISE CACTUS (*1964) und BREZEL GÖRING (eig. Hartmut Richard Friedrich Ziegler, *1967). Es ist eine fiktive Autobiographie in Form eines Pop-Musicals mit viel Musik, wenig Dialog und dem von Françoise Cactus mit charakteristischem französischen Akzent gesprochenen Text, einer IchErzählung, vermischt mit Tagebuchaufzeichnungen und eingestreuten Personenverzeichnissen (‚registre‘). Die erzählte Zeit verlegt Cactus in die Zeit nach 1968, in der sie ihre Initiationserlebnisse gehabt haben will. Der autobiographische Kern ist der Weg der Protagonistin in die Musikszene, aber die skurrilen Episoden sind so locker aneinander gereiht, dass die Kohärenz des Stücks eher durch die ungewöhnlichen sprachlichen Bilder, durch Stimme und Akzent der Autorin und durch die zwischen Punk, Chanson und Elektrobeat wechselnde Musik entsteht als durch eine nachvollziehbare Geschichte. Am Schluss gibt es ein Alphabet der Sponsoren, quer durch die moderne Konsumwelt, darunter zum Beispiel BILD, „die Erfindung der Wahrheit“ oder Reader‛s Digest, „leichtverdauliche Klolektüre“. Als Quintessenz dessen, was sie in ihrem langen Leben gelernt hat, formuliert die Erzählerin den Satz: „Die Macht des Friseurs ist unermesslich.“ Dem Hörer vermittelt dieses Pophörspiel das pure Vergnügen an der grellbunten Oberfläche. Noch schriller, bizarrer, bissiger ist ein weiteres Pophörspiel des Duos Cactus/Göring: Patty Hearst – Princess and Terrorist (BR 2007). Es beruht auf den Fakten des Entführungsfalls der Millionärserbin Patty Hearst durch die sogenannte Symbionese Liberation Army (SLA) 1974, der sich Hearst nach einigen Wochen Gefangneschaft anschloss, wodurch sie zur „revolutionären Ikone“ geworden sei.
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Erzählt wird die Geschichte von Patty selbst im Interview mit einem fiktiven Privatsender, begleitet von einem besonders gefälligen ‚Klangbett‘ und unterbrochen durch Werbepausen. Wortanteile ohne Musik gibt es im gesamten Hörspiel so gut wie keine, die eklektische Musik der Band Stereo Total (Cactus/Göring) bildet das Gerüst mit jeweils zu der Geschichte passenden Texten, darunter vor allem das mehrmals wiederholte Titelstück: „Patty Hearst, romantic terrorist – please, free me!“ Nach Hearsts Festnahme folgt die Justizfarce mit Herabsetzung der Strafe von 35 auf sieben Jahre, baldiger Begnadigung und vollständiger Rehabilitierung durch Präsident Clinton 2001, während die SLA-Mitglieder nach verschärften Gesetzen erneut in Haft kamen. Die naive Patty, für die alles ein großes, auch sexuelles Abenteuer war, behauptet davon nichts zu wissen. Die Sendung endet mit dem Satz: „Toll, mit diesem wunderschönen Beispiel von Klassenjustiz verabschieden wir uns.“ Mediensatire, Politsatire, gesellschaftskritische Farce mit Robin-Hood-Note – die SLA verteilt die Beute aus Banküberfällen in Armenvierteln, und auch das erpresste Lösegeld soll wohltätigen Zwecken dienen –, das Hörspiel kann die These stützen, dass Pop, bei aller Vielfalt, prinzipiell ideologie-abstinent und -resistent ist.
9.2 S TAR -G ESCHICHTEN Die Geschichte der Patty Hearst liegt an der Grenze zu den Star-Geschichten, von denen in Pophörspielen etliche erzählt werden.3 Da Popkultur vom Starkult lebt, ist das nicht verwunderlich. Vermutlich wegen der real-biographischen Bezüge und der reichlich verwendeten O-Töne sind viele dieser Hörstücke in den Programmübersichten als Features ausgewiesen. Sehr oft enthalten sie aber fiktive Spielszenen und Dialoge und sind höchst einfallsreich geschnitten und montiert, was für die Bezeichnung Hörspiel spricht. Originell können auch die Perspektiven sein, aus denen die Star-Geschichten erzählt werden, z.B. die von Bob Marley aus der Sicht seiner vielfach betrogenen Ehefrau Rita in dem Hörspiel He, Mädel, jetzt heul doch nicht! – Wie Rita Marley zur Queen von Trenchtown wurde (SWR 2006) von UTAMARIA HEIM (*1963). So erweist sich an den Star-Geschichten ein weiteres Mal die Grenzziehung zwischen Feature und (O-Ton-)Hörspiel als problematisch und in vielen Fällen überflüssig (vgl. Kap. 3.2). Die Hörspiele sind Teil der medialen Konstruktion von Star-Images, an deren Formung und konkreter, allerdings ständig sich wandelnder Gestalt neben den Medien auch die Stars selbst und die Fans bzw. Star-Nutzer beteiligt sind. Gegen die
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In seinem Text Pop als Wille und Vorstellung (2001) erwähnt Andreas Neumeister Patty Hearst neben Andy Warhol, Hubert Fichte und Martin Kippenberger. (Neumeister 2007, 323).
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Abwertung und fast schon Pathologisierung der Fans wendet sich Katrin Keller in ihrer Studie „Der Star und seine Nutzer“ (2008). Überzeugend begründet sie die These, dass in Mediengesellschaften Stars nötig sind, um Identität bzw. Selbst- und Fremdkonzepte zu konstruieren, und dass deshalb die Star-Nutzung ein ganz normaler und alle Individuen betreffender Vorgang ist. Wegen der Omnipräsenz populärer Kultur könne sich dem niemand entziehen, auch nicht der aficionado sogenannter ‚Hochkultur‘, der sich eben auf seine Weise zur Popkultur und deren Starkult positioniere. Dem ist hinzuzufügen, dass auch die ‚Hochkultur‘ längst ihre Stars kennt, seien es berühmte Dirigenten, Pianisten, Geiger oder Theaterschauspieler. Es mag aber sein, dass in der Popkultur die private Seite des Stars, nicht der ‚Star-Star‘, sondern der ‚Star-Mensch‘ für den Starkult bedeutsamer ist als in der ‚Hochkultur‘. Das Geschäft der Paparazzi blüht, weil sie den Star-Nutzern versprechen, ihnen die Stars privat nahe zu bringen (vgl. Keller 2008, 146). Der heimliche Blick auf den privaten Star liefert Facetten zu einem Fremdbild, das seinen Reiz für die Star-Nutzer vor allem aus der Illusion der Authentizität bezieht. Dabei vergessen sie oft, dass nichts, was sie über ihren Star erfahren, nicht medial konstruiert ist, und dass nur gezeigt wird, was kommerziell verwertbar ist. Für den Fan4 haben die Bilder, die er sich vom Star macht, zweierlei Funktionen: Sie zeigen ihm ein „Selbst-Ideal“ („So könnte ich sein“) und ein „SelbstMahnmal“ („So könnte ich enden“) (ebd., 182). Weil sein eigenes Leben ihm als eher arm an Ereignissen und im Hinblick auf seine Träume und Wünsche defizitär erscheint, versetzt er sich gern in das imaginierte und medial beglaubigte Leben der Stars: Sie müssen, so scheint es, nicht täglich einer eintönigen Arbeit am selben Ort nachgehen, sondern sind ständig weltweit unterwegs, erholen sich an sonnigen Traumstränden, verfügen über märchenhaften Reichtum und ein überbordendes Sexualleben, haben keine Scheu, sich vor einem großen Publikum darzustellen, und genießen dessen Bewunderung und Hingabe. Aber das Leben auf der Überholspur hat seinen Preis, zum Lustprinzip kommt das Realitätsprinzip: Der Star lebt in ständiger Gefahr vor dem Absturz, ihm droht Bedeutungsverlust durch Misserfolge und abnehmende Präsenz in den Medien, er kann sich missverstanden fühlen, weil er sich eigentlich als Anti-Star konzipiert hat, aber sich der Vereinnahmung durch den Kulturbetrieb nicht entziehen kann. Darauf reagiert er mit Missbrauch von Drogen und Medikamenten, was schließlich zum frühen Tod führen kann. Andererseits gibt es Rettungsgeschichten, in denen Stars aus solchen selbstzerstörerischen Phasen wieder herausfinden, um anschließend noch interessanter zu erscheinen. Star-Nutzer, die sich für die Konstruktion ihres Selbstbildes an Anti-Stars orientieren, sind insofern in einer prekären Situation, als der Status des einer Subkultur 4
Keller nennt Fans „‚wertungszugespitzte‘ Star-Nutzer“ (S. 184) und charakterisiert sie näher als „Rezipienten bzw. Nutzer mit überdurchschnittlichem Involvement und starker affektiver Nutzungskomponente gebunden an einen oder mehrere Stars“ (S. 188).
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zugerechneten Anti-Stars nur schwer dauerhaft zu halten ist. Schon bald können sich Mainstream-Erfolge einstellen, was für den Fan die Suche nach einer, wie Keller es formuliert, „rekodierende[n] Coping-Strategie“ notwendig macht (ebd., 207). Grundsätzlich scheint Keller an der Tragfähigkeit des Anti-Star-Konzepts zu zweifeln, da es zu viel Verbindendes zwischen Star und Anti-Star gibt, insbesondere die Prominenz durch Medienpräsenz. Mit diesen skizzenhaften Bemerkungen sind mögliche Inhalte von Pophörspielen über Stars ausreichend umrissen. Diese unterscheiden sich hinsichtlich der Darstellungsstrategien und der dargestellten Wirklichkeitssegmente: Formal gehören sie überwiegend dem Typus des objektiv narrativen Hörspiels im Sinne Armin Paul Franks (vgl. Kap. 7) an, wobei die Beispiele zeigen, welche Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten dieser Typus umfassen kann. Es gibt aber auch nicht-narrative Hörspiele, die der „Akustischen Kunst“ oder AudioArt zuzurechnen sind (vgl. Huwiler 2005, 11).5 Inhaltlich geht es um Star-Genese, Star-Images, Star-Biographien (darunter auch die Geschichte von Pop-Bands) sowie um die Produktionsästhetik der Stars, also um das, was sie als Künstler charakterisiert.6 Um ein Paradestück der Star-Genese handelt es sich bei einer Großproduktion7 des RIAS aus dem Jahr 1980: Fame – Berühmt von ANTHONY J. INGRASSIA (19441995), übersetzt und inszeniert von Götz Naleppa. An diesem Beispiel lässt sich der Funktionszusammenhang von Fan-Ego, Star und Medienapparat gut studieren. Der Fan ist diesem Fall der Autor, der mit seinem 1974 auf dem Broadway uraufgeführten Theaterstück grandios scheiterte, daraufhin für mehr als sechs Jahre nach Berlin flüchtete, wo aus den 80 Szenen ein Hörspiel gemacht wurde. In einem Nachruf auf Ingrassia in der New York Times vom 18. Dezember 1995 wird eine Aussage des Autors über den Misserfolg und seine Wirkung auf ihn zitiert: „It was misunderstood in New York, and I got blown out by the experience.“ Was ist der Grund für dieses angenommene Missverständnis? In dem Stück geht es um eine StarSchauspielerin namens Diane Cook, die sich leicht als Marilyn Monroe identifizieren lässt. Realnamen kommen nur selten vor, vor allem die von Clark Gable, Louis B. Mayer, Studiochef der Produktionsfirma Metro Goldwyn Mayer, sowie der des berühmten Theaterregisseurs Max Reinhardt. Aber obwohl alle anderen Namen fik5
Elke Huwiler betont die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen „akustischer Kunst“ (= alle Kunst im akustischen Medium, also auch Hörspiele) und „Akustischer Kunst“ (= Klangkunst, mit klanglichem Material experimentierende Kunst) (ebd., Fußnote 5).
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Dieser Aspekt, nämlich dass Stars, abgesehen von Eintagsfliegen à la Big Brother oder DSDS, in der Regel etwas ganz besonders gut können und damit den Durchschnitt überragen, kommt in Katrin Kellers rollen- und systemtheoretisch geprägter Studie zu kurz.
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Ursprünglich war es 102 Minuten lang; wieder aufgeführt wurde es am 26. Juli 2015 vom Deutschlandradio mit 88 Minuten. Kürzungen sind bei Hörspielen keine Seltenheit.
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tiv sind, sind die realen Vorbilder leicht zu identifizieren, z.B. heißt der „berühmte Dichter“, den Diane Cook heiratet, Milton (= Arthur Miller). Monroes zweiter Ehemann, der Baseballstar Joe DiMaggio, ist im Hörspiel ein erfolgreicher Boxer namens Sonny usw. Es könnte sich also um ein biographisches Schlüsselstück mit dokumentarischem Charakter handeln, durch das sich möglicherweise einige noch lebende Persönlichkeiten unvorteilhaft dargestellt fanden. Eine andere Hypothese ergibt sich, wenn man die Problemlage des Autors einbezieht, die seine künstlerische Produktion bestimmte. Offenbar fühlte er sich in einem falschen Leben gefangen, das seinen sichtbaren Ausdruck in seinem enormen Übergewicht fand, gegen das er vergeblich ankämpfte und das schließlich seinen frühen Tod verursachte. Im Nachruf schreibt Lawrence van Gelder über Ingrassias Theaterstücke: „On the surface, they were concerned with cross-dressing, heart failure, incest, impotence, suicide and the unkindness of physicians. But their deeper subject was being trapped in the wrong family and the wrong relationships.“ In diesem Sinne ist auch Diane Cook al. Marilyn Monroe dargestellt. Sie bewegt sich zwischen zwei Wunsch-Identitäten, der der treu sorgenden Familienmutter und der des Schauspieler-Stars, die nur schwer zu vereinbaren sind. An der Entscheidung für eine dieser Identitäten zerbricht sie, nachdem sie ihre erste Ehe mit dem biederen, aber charakterfesten Feuerwehrmann Bill hat scheitern lassen. Schauspielerin zu werden ist ihr überaus wichtig, weil sie glaubt, diesen Erfolg nur sich selbst, ihrer eigenen Leistung zu verdanken. Dabei wird ihr Image systematisch von außen geformt: Erst wird eine sexy Blondine aus ihr gemacht, dann erhält sie einen neuen Namen, schließlich gibt man ihr Rollen, die zu dem produzierten Image passen, die sie aber immer unzufriedener machen. Zunehmend leidet sie unter Schlaflosigkeit, die sie mit Tabletten bekämpft. Eine Kollegin wirft ihr Unprofessionalität vor: „Die Leute wollen nicht, dass wir unser Film-Image in unser Privatleben tragen.“ [55:30] Diese Feststellung trifft, laut Keller, nicht in jedem Fall zu: „Zwar tritt die private Rolle des Schauspielers in der Nutzung des fiktionalen Medienangebots tendenziell in den Hintergrund; dies bedeutet jedoch nicht, dass das Vexierbild Star-Image nicht jederzeit auf die Fokussierung des Star-Mensch umspringen kann, insbesondere dann, wenn aktuelle Skandale aus dem medialen Privatleben des Stars auf Verarbeitung drängen [...]“ (Keller 2008, 214). MM ist bis heute vor allem als Star-Mensch im Fokus der Fans, Forscher und Interpreten, die immer neue Publikationen über sie hervorbringen.8 Wer sich an den Spekulationen über ihr Leben und Sterben beteiligt, setzt sich der Kritik aus, wobei Unterschiede zwischen Dokumentation und Fiktion (wie im Falle Ingrassias) leicht übersehen werden. 8
Zusätzlich zu Marilyn-Monroe-Kalendern und immer neuen Biographien erschienen 2010 auf Deutsch private Aufzeichnungen der Schauspielerin unter dem romantisierenden Titel Tapfer lieben (engl. Fragments).
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Die große Zahl von 80 Einzelszenen, die in einem Theaterstück dramaturgisch problematisch sein kann, ist in ein Hörspiel ohne Weiteres integrierbar, wie das Beispiel zeigt. Das Stück ist akustisch vielschichtig und wirkt doch als Einheit, dies vor allem durch die exzellente Besetzung der Hauptrolle mit Barbara Valentin als Diane Cook, die in fast jeder Szene präsent ist und in ihre samtene Altstimme jeden Ausdruck von Stolz und Übermut bis zu Hilflosigkeit und Verzeiflung zu legen vermag. Für die Überleitungen wird ein Erzähler eingesetzt, der in kurzen präsentischen Sätzen Situationsbeschreibungen gibt oder Aussagen von Zeitzeugen sowie fiktive Reportagen ankündigt. Diese werden von Schauspielern gesprochen, ebenso wie die Dialoge, mit Ausnahme eines Original-Filmdialogs, in dem die Stimme der Monroe zu hören ist. Außerdem hört man ihre Original-Singstimme in eingespielten Ausschnitten aus berühmten Songs wie I Wanna Be Loved By You. Eröffnet wird das Stück, das eine Rahmenstruktur aufweist – am Anfang und Ende steht Diane Cooks Tod –, mit dem Intro von Twentieth Century Fox, Monroes Produktionsfirma. Im Vergleich zu anderen Star-Hörspielen wird O-Ton aber sparsam eingesetzt. Wie die Darstellung von Star-Images im Hörspiel gelingen kann, zeigt die Serie von BARRY GRAVES (1942-1994) über die Beatles aus dem Jahr 1974, produziert vom RIAS.9 Graves, der 52jährig an Aids starb, war ein multimedialer Künstler, Musikjournalist, Radiomoderator und Förderer der Techno-Bewegung. In den vier Hörspiel-Folgen geht es jeweils um einen der Beatles, die nicht nur wegen ihrer rasanten musikalischen Entwicklung eine besondere Stellung in der Popgeschichte innehaben. Vor allem in ihren Anfängen boten sie ein erstaunlich homogenes Erscheinungsbild: gleiche Anzüge, gleiche „Pilzkopf“-Frisuren, gleiches sympathisches Lächeln. Zugleich verkörperte jeder einzelne von ihnen ein bestimmtes StarImage, sodass die Gruppe für sehr verschiedene Bedürfnisse von Star-Nutzern, die sich ihren Favoriten aussuchen konnten, anschlussfähig war. Ebendies versucht Graves in seiner Hörspiel-Serie zu zeigen: ein Rebell (John), ein Glückskind (Paul), ein Grübler (George) und ein Kumpel (Ringo) ergänzten sich nach außen perfekt, gerieten aber intern nicht selten in Konflikte, die nach einigen Jahren eskalierten und die Gruppe sprengten. Graves gelingt das Kunststück, die verschiedenen Charaktere in höchst unterschiedlichen Hörbildern darzustellen, die auch musikalisch so stark divergieren, dass man sich am Ende fragt, ob es einen einheitlichen BeatlesSound überhaupt gegeben hat. Vielleicht war es gerade die Mischung unterschiedlicher musikalischer Temperamente, die diesen Sound ausmachte. Für seine Porträts setzt Graves vielfältige hörspielspezifische Mittel ein. Es handelt sich mehr um Stimmen-Collagen im Wechsel mit Musik als um chro9
Deutschlandradio Kultur sendete 2013 die vier Hörspiele in seiner Reihe „Aus den Archiven“, die ersten drei davon allerdings um ca. 10 Minuten auf die heute übliche Länge gekürzt.
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nologisch erzählte Geschichten. Am Anfang des Lennon-Hörspiels John: I am the Walrus hört man die Stimme des Musikers im O-Ton, während sonst alle Rollen von deutschen Schauspielern gesprochen werden und auf O-Ton verzichtet wird. Dieser beschränkt sich auf opulente Musikeinspielungen, wobei nicht selten Stücke vollständig gespielt werden, vor allem im Hörspiel über Ringo Starr, das wie die Dokumentation eines Konzerts konzipiert ist. In seinen kurzen Ansprachen an das Publikum wirkt Ringo entspannt und in sich ruhend, befreit von der Rolle, die er in der Supergruppe zu spielen hatte. Aber auch über die spricht er mit Humor, wenn er sagt, jetzt könne er endlich Country-Music machen, was ihm früher nur möglich war, wenn „John und Paul mal Kaffee holen gingen“. Fast satirisch wirkt das Hörspiel Paul: Baby you’re a rich man über Paul McCartney. Paul wird als Glückskind dargestellt, dem alles gelingt, was er sich vorgenommen hat, der dreamboy junger Mädchen, dessen Geschichte Kindern als Gute-Nacht-Geschichte von einer Märchenfee erzählt wird. Musikalisch wird das Hörspiel beherrscht von Streicherklängen, denn „Paul liebt die Violine“. Problematisch sind eigentlich nur die Anfänge, als er sich gegenüber seinen Eltern rechtfertigen muss, weil er sich mit so widerspenstigen Leuten wie John Lennon abgibt. Als Paul seine Karrierepläne darlegt, funkt John, gesprochen von Christian Brückner, dazwischen: „Du willst wohl in den Buckinghampalast“, eine Vision, die sich schon bald erfüllen sollte. Die Ehe zwischen Paul und Linda Eastman wird als Verbindung zwischen „Prinzessin und Selfmadeprinz“ bezeichnet. Die Subkulturleute finden beide spießbürgerlich, was Paul nicht berührt: „Ich bin Paul im Glück“, sagt er über sich, „ich habe alles erreicht“. Es gibt nur wenige Störmomente, er regt sich über Georges Indien-Tick auf und kann Yoko Ono nicht leiden. Das Gerücht, dass er tot sei, macht ihn eine Zeitlang für die Fans nur interessanter. Am Ende lebt er mit seiner Familie auf einer Farm in Schottland, züchtet Schafe und ist sogar mit dem Klima zufrieden. Ganz anders wirken die Porträts von John und George, die beide unter Identitätskonflikten leiden. John ist für Graves vor allem ein sozialkritischer und politischer Künstler, der lieber ein Anti-Star als ein Star wäre und ständig, aber letztlich vergeblich, gegen das Star-Image ankämpft, auf das die Medien und Fans ihn festlegen wollen. Die konfligierenden Ansprüche der Fans zerreißen ihn fast: Die Einen hegen Heilserwartungen – das Hörspiel kann solche Stimmen einfach in den Raum stellen – die Anderen verfluchen ihn, weil er sich anmaßt, größer als Jesus zu sein. „A working class hero is something to be“, vielleicht steckt in dieser Liedzeile seine Wunschvorstellung, aber zugleich singt er in demselben Song: „When you can‛t really function, you’re so full of fear“. Als Klangbett fungieren häufig das Klicken von Kameras, das Geräusch von Flugzeugturbinen und das Kreischen, Schreien, Pfeifen des Publikums, dem er mit Schimpftiraden antwortet. „Ich hab die Schnauze voll von all den aggressiven Hippies.“ Er fühlt sich von Krüppeln und Blinden umgeben, überdies sagt ihm der Manager Alan Klein, jetzt müsse er sich mal ver-
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kaufen, während die Fans ihm vorwerfen, dass er gute Geschäfte macht, aber von Frieden und Sozialismus singt. In einer satirischen Passage analysieren Wissenschaftler mit Bachscher Klaviermusik im Hintergrund die Beatles-Musik unter musikwissenschaftlichen, kulturgeschichtlichen und philosophischen Aspekten wobei sie einander mit ihren Kenntnisen zu übertrumpfen versuchen. Ruhe kommt erst in das Hörspiel, als Yoko Ono auftritt und mit dunkler Stimme über ihren künstlerischen Werdegang spricht. Ihretwegen gibt es Streit in der Band, aber den hält John aus und riskiert das Zerwürfnis mit Paul. Am Ende löst sich alles in Stimmen, elektronischen Klängen und Hall auf, einer Textcollage aus Beatles-Songtexten und einer Klangcollage aus Themen klassischer Beatles-Hits. Dieser Schluss mutet psychedelisch an und verweist auf neue, noch unbekannte Sphären einer Star-Existenz, deren Fortgang Graves 1974 nicht vorhersehen konnte. Schließlich George:The fool on the hill, der immer im Schatten von John und Paul steht und sich mit dem Image des Liebenswerten, Sensiblen, der ab und zu auch mal eine eigene Komposition singen darf, nicht abfinden will. Auch er bedient Fan-Bedürfnisse, einige Mädchen finden ihn besonders süß und für Brian Epstein, der in einem langen (inneren) Monolog mit viel Hall zu Wort kommt, verkörpert er das Ideal männlicher Jugend. Epsteins homoerotische Zuneigung zu George Harrison ist es nach Graves’ Darstellung, die ihn zum Manager der Beatles werden lässt. Als sie 1967 nach Indien gehen, was für George’s weiteres Leben und Musizieren besonders bedeutend ist, bringt Epstein sich um. Zuvor lässt Graves seine GeorgeFigur in einer ausgedehnten (ca. achtminütigen) Sequenz im Kino nach dem richtigen Image suchen: Soll er werden wie Humphrey Bogart? Zu alt, nicht mehr zeitgemäß. Wie James Dean? Schon besser, aber zu jung gestorben. Am ehesten bietet sich ihm Marlon Brando an, dessen Wildheit George sich wünscht, um sich John und Paul entgegenzustellen: „Ich bin zu schwach, das sagen sie alle, und ich will nicht, dass sie recht haben.“ Aber Brutalität als Attitüde eignet sich auf Dauer nicht zur Identitätsfindung. Erst nach dem Ende der Beatles kann er sich mit dem Album All Things Must Past befreien, was nicht heißt, dass Graves als Star-Nutzer diesen Weg unkritsch sieht, jedenfalls lässt er einen Kritiker zu Wort kommen, der Georges „Orientalismus“ als unecht ansieht. Am Ende wird der Klage- und Harmoniesong Isn‛t It A Pity komplett gespielt: Klage über die Menschen, die einander schaden und durch die Tränen die Schönheit der Welt nicht sehen. Wer so singt, hat Hoffnung, dass es anders kommen kann. „In ihren medialen Darstellungen und Selbst-Darstellungen verkörpern Stars personalisierte kulturelle Anwendungsmodelle, zu denen sich der Star-Nutzer als Ego positionieren kann“, schreibt Katrin Keller (Keller 2008, 191). Solche Modelle gewinnen in Barry Graves’ Beatles-Hörspielen Kontur, wobei er kaum einmal Szenen braucht, die so etwas wie eine ‚innere Bühne‘ entstehen lassen. Durch Monolog, Gedankenrede, Stimmengewirr, Raumklang, Geräusch-Atmo und Musik baut sich die Hörspielwirklichkeit auf. Dabei besteht trotz vieler überprüfbarer Bezüge
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zur Wirklichkeit kein Anspruch auf Objektivität, sondern der Autor objektiviert sein ganz persönliches Bild von den Stars, das wir mit unseren Bildern vergleichen können. Am wenigsten komplex ist das Ringo-Hörspiel (Ringo: A Hard Day’s Night). Es scheint, als sei Graves zu diesem Beatle nicht übermäßig viel eingefallen, sodass er ihn einfach seine Musik spielen lässt. Einen klarer dokumentarischen Charakter haben TOM NOGAs (*1960) Star-Hörspiele über den Doors-Sänger Jim Morrison (Not To Touch The Earth, WDR 2011), den Gonzo-Journalisten und Schriftsteller Hunter S. Thompson (Hunter – Aus dem Leben eines Outlaws, WDR 2007) und den Surfer Bunker Spreckels (Bunker, WDR 2010). Alle drei Hörspiele sind Doku-Fiktionen mit viel O-Ton, viel Musik, Selbstaussagen der Stars und fiktiven Dialogen. Wie Graves erzählt Noga keine chronologischen Geschichten, sondern setzt die Bilder der Stars aus Mosaiksteinen zusammen, die teils Schlüsselszenen darstellen, teils Deutungen enthalten, teils die Kunst des jeweiligen Künstlers dokumentieren. So fungiert als Klammer des Morrison-Hörspiels dessen Film HWY (= Highway, ursprünglich The Hitchhiker): Eine junge Frauenstimme erzählt Filmszenen wie in einem Hörfilm, dazu gibt es übersetzte Filmdialoge und O-Ton-Filmmusik. Zu den Deutungen äußert sich Thomas Collmer, Verfasser einer zweibändigen Monographie über Jim Morrison als Dichter.10 Den Mord an dem Autofahrer, den Jim im Film begeht, deutet Collmer als Vatermord – von Morrison auch in The End besungen –, der gleichzeitig den Tod der die USA beherrschenden WASP, der White Anglosaxon Protestants bedeute. Aus deren Welt, so die Aussage des Hörspiels, versucht Morrison auszubrechen im Sinne des Songtitels Break On Through To The Other Side, aber ob ein Leben „auf der anderen Seite“ auf Dauer auszuhalten ist, wird von Collmer bezweifelt. Der Außenseiter sei ein Mensch, der zum Chaos erwacht sei, der Rebell isoliere sich selbst. Morrison sei in seinem Leben von Dämonen gepeinigt gewesen, was sich auch im von ihm geschätzten Symbol des lizard king zeige. Die Eidechse sei einerseits ein Omnipotenzsymbol: Ihr Schwanz wächst immer wieder nach, andererseits ein Symbol der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins: Sie wird von der Schlange bedroht. Neben solchen Interpretationen liefert das Hörspiel auch konkrete biographische Daten und Ereignisse. Eine männliche Erzählerstimme gibt kommentierende Überleitungen und Ray Manzarek (gesprochen von Torsten Sense) erzählt von seinen Begegnungen und Erlebnissen mit Jim, u.a. das legendäre Zusammentreffen 1965 am Strand, als Jim seine jüngst erdachten, Ray zu musikalischer Ausgestaltung inspirierenden Songs vorsingt. Des Weiteren das Skandal-Konzert in Miami, das zu einer Anklage Morrisons wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses führte; ein Kri10 Thomas Collmer: Pfeile gegen die Sonne, Der Dichter Jim Morrison und seine Vorbilder, 2 Bde. 2009.
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sengespräch in der Gruppe wegen Morrisons Alkoholismus; eine Szene, in der Morrison Densmore mühelos eine Frau wegschnappt – mit späterem déjà-vue. Die Band wird wegen der unterschiedlichen Temperamente als beinahe von Anfang an kriselnd dargestellt: Ray, der Musiker, der große Zampano, Robbie, der Autist, John, der wandelnde Minderwertigkeitskomplex, Jim, der Dichter [19:15]. Stärker als die Beatles war das Bild der Doors in der Öffentlichkeit durch eine Persönlichkeit, den Sänger und Poeten Jim Morrison bestimmt. So reflektiert das Hörstück über ihn die Geschichte der gesamten Band, die als Ganze durch die vielen Einspielungen ihrer Musik hörbar gemacht wird. Original-Ton-Einspielungen und Expertenkommentare, von den Wissenschaftlern selbst gesprochen, sind charakteristisch für Dokumentarhörspiele an der Grenze zum Feature, die mit ihrer immer wieder überraschenden horizontalen und vertikalen Montage fiktionaler und nicht-fiktionaler Elemente nicht nur informieren, sondern auch ästhetisch reizvoll sind. Der Gesamteindruck der Star-Pophörspiele wird durch den hohen Anteil von (Pop-)Musik bestimmt, die sehr häufig nicht nur in einer dem Wort dienenden Funktion oder als Einleitungs- bzw. Überleitungsmusik vorkommt. Die Musik verweist auf einen ganzen popkulturellen Zusammenhang, auf eine bestimmte, oft subkulturelle Szene, ein Lebensgefühl oder ein StarImage. Dass dieser Star kein Musiker sein mss, zeigt Tom Nogas Hörspiel über den Schriftsteller Hunter S. Thompson (1937-2005), der mit einer Reportage über die Hells Angels (1967) und mit dem Roman Fear And Loathing In Las Vegas (1971) bekannt wurde. Das Hörspiel konzentriert sich auf die Jahre 1964-1972, in denen Hunter (gesprochen von Bernhard Schütz) besonders nahe am Puls der Zeit gewesen sei. Bei dem Ziel, den amerikanischen Traum zu erneuern, spielten bewusstseinserweiternde Drogen eine zentrale Rolle, und für deren reichlichen Gebrauch war Hunter bekannt. Noga setzt viel O-Ton ein, darunter wiederholt die Stimme von Hunter, während Spielszenen selten sind. Eine Sprecherin nennt biographische Daten, ein Erzähler kommentiert die Ereignisse, unter denen vor allem das HellsAngels-Treffen, ein Pferderennen, über das Hunter schreiben sollte, und seine Sheriff-Kandidatur in Aspen/Colorado zu nennen sind. Geographischer Mittelpunkt des Hörspiels ist Haight Ashbury in San Francisco. Dessen Atmosphäre wird durch Westküsten-Hippie-Musik wachgerufen, vor allem von Jefferson Airplane (Got A Revolution, White Rabbit), aber auch Dylans doppelsinniges Everybody Must Get Stoned darf nicht fehlen. 1972, mit dem Watergate Skandal, dessen Bedeutung Hunter anfänglich verkannte, endet der Traum. Die folgenden Jahre bis zum spektakulären Ende durch Pistolenschuss fasst das Hörspiel knapp zusammen. Den Epitaph bildet der O-Ton von der Trauerfeier, bei der sechs Monate nach Hunters Tod dessen Asche aus einer Kanone in den Himmel geschossen wurde. In dem Hörspiel über den Ausnahme-Surfer Bunker Spreckels setzt Noga den Akzent klar auf die letzten Jahre des bereits 1977 mit 27 Jahren verstorbenen Stars. Dessen Freund, der Surfer-Fotograf Art Brewer, gesprochen von Ulrich Noethen,
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erinnert sich an Bunker, als er nach 30 Jahren ein Tonband mit dessen Stimme anhört.11 Zäsuren im Hörspiel entstehen durch den hoch- und herunterfahrenden Ton beim An- und Abschalten des Tonbands. Auf dem Band und in einigen Dialogen wird Bunker von dem deutschen Schauspieler Nic Romm gesprochen, Hin und wieder hört man O-Ton eines älteren Zeitzeugen, es könnte Art Brewer selbst sein, und am Anfang die junge Stimme eines Surfers, die diejenige Bunkers sein könnte. Zwar wird erwähnt, dass Bunker bei der ersten Begegnung auf Hawaii 1969 asketisch wirkte und mit einem von ihm neu entwickelten kurzen Surfboard wahre Wunder vollbrachte, aber der längere Teil des Hörspiel schildert die Jahre des Exzesses. Bunker hat sein Erbe aus einem Zucker-Imperium angetreten, leistet sich die teuersten Sportwagen, reist um die Welt, wobei er immer in den besten Hotels absteigt und sich mit den schönsten Frauen zeigt. Dabei stilisiert er sich als Popstar der wilden Siebziger, einmal mit Schlaghose, Rüschenhemd, Wildlederstiefeln, alles in lila. Drogenexzesse lassen ihn immer unberechenbarer und oft gewalttätig werden, auch gegenüber Brewer, der sich zeitweise von ihm lossagt. Jedoch gewinnt Bunker mit seiner nachdenklichen, charmanten Seite nach jedem Bruch seine Sympathie zurück. Bunker verfällt zunehmend dem Heroin und stirbt im selben Alter wie Jim Morrison und andere Heroen des Pop an einer Überdosis Schlaftabletten. Sein Tempo gewinnt das Hörspiel durch eine fast immer mitlaufende rockige oder funky Instrumentalmusik, oft vermischt mit Wellenrauschen. In diesem und den anderen Starporträts von Tom Noga und von anderen Autoren12 tendieren die ambivalenten Star-Images für den Fan bzw. Star-Nutzer stets dazu, zum „SelbstMahnmal“ zu werden, was nicht heißt, dass nicht auch die Faszination der bürgerliche Grenzen überschreitenden Star-Existenz spürbar würde. Vor seinem Absturz findet der Star den erfüllten Augenblick, für den es sich zu leben lohnt, wie Bunker, als er nach Genuss eines Drogencocktails mit einem für Normalmenschen völlig ungeeigneten Surfbrett auf einer Welle surft, die ihn in den Himmel hebt. In Hörstücken über Bands geht es weniger um Star-Images oder Biographien, sondern hauptsächlich um die Musik der Band und ihre Wirkung. Sehr weit entfernt von konventionellen Vorstellungen vom Hörspiel und eher als AudioArt zu charakterisieren ist das Hörstück CANtales (WDR 2003) von MARTINA GROß und ANDREAS HAGELÜKEN (*1963). Deutschlandradio kündigt das Stück als Feature an, wäh11 2007, also 30 Jahre nach Bunker Spreckels’ Tod, machte Art Brewer zusammen mit Craig Stecyk (C.R. Stecyk III) einen Bildband über den Surfer. Stecyk, der anfangs Surfbretter entwarf, beschäftigte sich später mit dem Skateboarden und verlieh ihm einen Nimbus von underground. 12 Weitere Beispiele: Von Tom und Vera Noga gibt es das Hörspiel Vicious (WDR 2004) über den Sänger der Sex Pistols Sid Vicious. Zum 70. Geburtstag von Iggy Pop produzierte der WDR 2017 das Hörspiel IGGY von Christian Möller.
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rend HörDat es als Pophörspiel klassifiziert. Elektronisch verfremdet, mit viel Hall, Schleifen und Repetitionen, unklarem Figur-Grund-Verhältnis, dadurch oft schwer verständlich sprechen die Musiker über sich, die Band und ihre musikalische Konzeption. Diese Konzeption wiederum bestimmt die Akustik des Hörspiels: „CANtales ist die klang-experimentelle Auswertung der gesammelten Materialien im Mix mit Musiken, die CAN im Laufe ihres Bestehens hervorgebracht haben. Der Einsatz der Materialien orientiert sich an der Produktionsästhetik CANs, d. h. er folgt der Idee von Improvisation und Sessionhaftigkeit in der Musik und führt diese fort. Es entsteht eine ‚Geschichtensammlung‘, die im Verbund mit der Musik und deren experimenteller Bearbeitung seinerseits zum ‚triphaften‘ Hörstück wird.“ (HörDat)
Die 17 Geschichten, aus denen sich das Hörspiel zusammensetzt, sind nur bedingt zu identifizieren und voneinander abzugrenzen, sie ergeben vielmehr ein Ganzes wie die Can-Alben. „Wir machen keine Musik, die Musik bedient sich unser“, sagt ein Bandmitglied, was zwar eine Mythisierung ist, aber eben auch improvisatorische Praxis reflektiert, wenn z.B. aus dem daktylischen Wort „Lumpenpack“ eine Schlagzeugfigur für ein potentiell endloses Stück entsteht. Can könnte ein Beispiel sein – jedenfalls suggeriert es das Hörspiel – für eine Formation, die den scheinbar unvermeidlichen Weg von ‚Sub‘ zu ‚Main‘ nicht gegangen ist, die sich ihren underground-Nimbus bewahren konnte, gerade weil sie dies wohl nicht bewusst anstrebte. Es darf spekuliert werden, ob das ein Phänomen der Vergangenheit ist und in der Pop-Geschichte ad acta gelegt werden muss. Das letzte Wort hierzu soll ein YouTube-Kommentator zu einem Can-Titel haben: „man this takes me back to my highschool days when I used to drop acid and smoke weed … good times.“ Gute Zeiten verbinden Fans auch mit der Band The Ramones, die in dem dokumentarischen Hörspiel (oder Feature) Today your love, tomorrow the world (WDR 2011) von VEIT KÖNIG zu Wort kommen. Das Hörstück ist einfach gebaut, wirkt aber abwechslungsreich dank der Kombination verschiedener Zeichenschichten: Sprache fungiert, auch stilistisch, unterschiedlich als Bericht, Expertenkommentar, entweder deutsch oder englisch, Sprache der Fans; dabei kommen O-Ton-Interviews neben fiktiven Fan-Gesprächen vor. Die Stimmführung ist im einen Fall sachlich, im anderen empathisch bis enthusiatisch. Ein männlicher Sprecher, dessen Intonation der eines Märchenerzählers ähnelt, gibt einen anekdotischen Überblick über die Geschichte der Band und kommentiert sie; ergänzend liefert eine weibliche Stimme im Stichwortstil Daten und Fakten. In den Spielszenen unterhalten sich Fans, teils schreiend, vor und während der Konzerte über ihre Idole, einmal wird eine Aufnahmesession mit Phil Spector zu der Platte The End Of The Century gespielt. Wie nicht anders zu erwarten werden Sprache und Stimme ergänzt durch viel Musik der Ramones, oft aus Konzertmitschnitten.
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Inhaltlich geht es um die Einordnung der Band in die Geschichte der Rock- und Popmusik. Die erste Plattenveröffentlichung der Ramones, die schlicht den Namen der Gruppe trägt, wird als „Mutter aller Punk-Platten“ charakterisiert. Die Musiker werden als „Helden der Subkultur“13 bezeichnet, die es ungeachtet allen Merchandizings in Gestalt von Ramones-T-Shirts auch geblieben seien. Als die Ramones 1974 bekannt wurden, hätten sie der Rockmusik, die zwischen der ausgefeilten Musikästhetik von Bands wie Emerson, Lake & Palmer und schlichter Discomusik dümpelte, den nötigen „Arschtritt“ verpasst. Die Sonderstellung der Ramones zeige sich in den Nachwirkungen: Einflüsse auf zahlreiche Musiker, Aufnahme in die Rock and Roll Hall of Fame (2002), schließlich, als Kuriosität, die Existenz eines Ramones-Museums in Berlin. Der Schlachtruf „He, Ho, Let’s Go“ wurde zum geflügelten Wort und schließt das Hörspiel ab. Schließlich gibt es eine Gruppe von Star-Hörspielen, in denen Stars aus ungewöhnlichen Perspektiven gesehen oder Randphänomene des Starkults beleuchtet werden. Dem immer wieder anzutreffenden dokumentarischen Muster gehorcht das bereits erwähnte Stück He, Mädel, jetzt heul doch nicht! – Wie Rita Marley zur Queen von Trenchtown wurde von Uta-Maria Heim. Wieder ist die Geschichte des charismatischen Stars, Bob Marley, erzählt aus der Sicht seiner vielfach betrogenen und doch geliebten Ehefrau Rita, mit viel Musik unterlegt. Als Leitmotiv fungiert das Stück No Woman No Cry mit Erinnerungen an die gemeinsame Zeit in Trenchtown und der tröstlichen Zeile Everything’s gonna be all right! Da der Star sich in kein Schema bürgerlicher Normalität einfügt, ist es gefährlich, aber auch unendlich bereichernd, in seiner Nähe zu leben, und sehr oft enden die Geschichten tragisch. Ein besonderer Fall ist die Geschichte des Häftlings Glen Sherley (1936-1978), der durch Johnny Cash kurzzeitig zum Country-Star wurde, sich aber nach Veröffentlichung eines Albums aus der Musikszene zurückzog und sich wenige Jahre später erschoss. LUDWIG FELS (*1946) schrieb über ihn das 85-minütige Hörspiel Hello, I’m Glen Sherley (RB 2006) als Ballade eines melancholischen underdogs, der trotz seines Talents an der Widerwärtigkeit der Welt scheitert. Ein Erzähler weist darauf hin, dass die Geschichte zwar einen wahren Kern hat, aber im Wesentlichen erfunden ist. Der wahre Kern ist die Existenz des Häftlings Sherley, der in Folsom-Prison Lieder dichtete, komponierte und vortrug, von denen der berühmte 13 Der Subkultur scheint Veit Königs besonders Interesse zu gelten. In einer Eigenproduktion von 2012 mit dem eigenwilligen Titel Kiss Flowers, Eat Babies stellt er die Drogen- und Musikszene der sechziger Jahre in San Francisco vor, und zwar aus der Sicht des Bassisten der Band Blue Cheer, Dickie Peterson (1946-2009). Das Hörbild basiert auf einem Interview mit dem Musiker und ist angereichert mit zeitgenössischen Reportagen (u.a. hört man Gerd Ruge) und viel Musik.
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Johnny Cash eines sang, als er im Janaur 1968 sein legendäres Konzert im Gefängnis gab. Tatsächlich förderte Cash Sherley anschließend, trat mit ihm zusammen auf und ermöglichte es ihm, eine Platte aufzunehmen. Weshalb dieser die Laufbahn nicht weiter verfolgte und sich nach ein paar Jahren umbrachte, ist nicht vollständig geklärt. Fels gibt in seinem Hörspiel eine Antwort, nach der der Mann nicht nur physisch, sondern auch existentiell im Gefängnis saß, obwohl er im Refrain seines berühmtesten Songs Greystone Chapel singt: „Inside the walls of prison / my body may be / but the Lord has set my soul free“. Der Song, gesungen von Sherley selbst und von Johnny Cash, bildet die musikalische Klammer des Hörspiels. Zwar verstand sich Ludwig Fels später nicht mehr, wie in seinen Anfängen, als Arbeiterschriftsteller, aber in der emotionalen Grundierung erinnert das Hörspiel an den Romanerstling Die Sünden der Armut von 1975: Einmal unten, immer unten, das kristallisiert sich als Hauptaussage beider Werke heraus. Nach einer wenige Sätze umfassenden Einleitung wird die „als trauriges Country-Märchen“ angekündigte Geschichte in Monologen und von Sherley vorgestellten Szenen erzählt, jeweils unterlegt mit Geräusch-Atmo oder Musik, sowie in Dialogen der Hauptfigur mit dem Gefängnispfarrer, dem Mithäftling Spade Cooley14, dem Aufseher Pat Maharry, der Geliebten Hedelin und dem Gefängnisdirektor, glänzend gespielt von Hans Peter Hallwachs. Zu den Originalaufnahmen der Country-Songs, darunter auch das meisterliche Looking Back In Anger, kommt die an den Country-Stil erinnernde Musik der Komponistin Sabine Worthmann, die auch selbst Bass spielt. In einem Gespräch Sherleys mit Cooley erfährt der Hörer, dass es eine Farce war, die den Sänger ins Gefängnis gebracht hat: Beide lachen herzlich, als er erzählt, wie er Polizisten mit einer Spielzeugpistole seines Stiefsohns bedroht und dafür sechs Jahre bekommen hat. Das Stück als solches ist aber keine Farce, sondern eine Tragödie. Der Protagonist hat in Maharry einen Gegenspieler und im Gefängnispfarrer einen Helfer. Diese Funktionen der beiden Figuren werden in der Hörspielinszenierung auch stimmlich ausgedrückt: Christoph Zapatka als Maharry spricht oft übertrieben höhnisch oder manchmal, wenn er von Sherley etwas will, einschmeichelnd, lauernd, mit drohendem Unterton, während der Reverend durchgehend mit ruhiger, gedämpfter Stimme spricht.15 Inhaltlich liegt die Tragik des Stücks darin, dass die Erfüllung von Sherleys Traum sich mit dem Scheitern seiner Liebe verbindet: Johnny Cash erhält mit Erlaubnis des Direktors die Kassette mit Greystone Chapel und kündigt an, das Stück 14 Spade Cooley (1910-1969) war ebenfalls Country-Musiker, der in einem Eifersuchtsdrama seine zweite Ehefrau zu Tode gefoltert hatte und deshalb in Folsom-Prison einsaß. 15 Wird der Inhalt des Gesagten durch die Stimmführung verstärkt, spricht man von Amplifikation, widerspricht die Stimme dem Gesagten, von Kontradiktion. (Vgl. Huwiler 2005, 232; dort zit. n. Ludwig Bauer). Das Beispiel Maharry zeigt, dass die Kontradiktion vom Rezipienten entlarvt werden kann.
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zu singen. Hedeline reist zu dieser Gelegenheit an und erliegt der ziemlich primitiven Verführungskunst des Wärters Maharry, dem Sherley bis dahin Liebesbriefe verfasst hat, weil er es selbst nicht konnte. Aber die Briefe waren für Wendy, das Objekt der Begierde, zu poetisch formuliert, sie ließ den angeblichen Schreiber sitzen und nun hält er sich an der Geliebten des Häftlings schadlos. So liefert das Hörspiel in poetischer Fiktion eine Erklärung für das spätere Scheitern Sherleys. Der Schritt von der Existenz des Unterprivilegierten zur Essenz des Stars, der eine Zeitlang als Befreiung von allen möglichen Fesseln erträumt wird, kann nicht gemacht werden, denn die Existenzbedingungen sind übermächtig. Im Übrigen wird an einer Stelle angedeutet, dass der schon berühmte Johnny Cash tablettenabhängig, das Dasein als Star also eine fragwürdige Verheißung ist. Das zeigt auch das sprachmächtige Monologhörspiel Nico – Sphinx aus Eis (HR/SWR 2003) von WERNER FRITSCH (*1960), in dem es um Nico (eigentlich Christa Päffgen), die zeitweilige Sängerin der Band Velvet Underground, Queen der Warhol Factory, Muse vieler Popgrößen und einflussreiche Musikerin, geht. Der „Monolog“, eingeteilt in die Strophen I-III, ist keine Erzählung, sondern ein Langgedicht, das mit Songtexten angereichert ist. Nur dem Buch (Fritsch 2004), nicht dem vom Autor selbst inszenierten Hörspiel vorangestellt ist The End von Jim Morrison, dessen Titel das Motto für den Monolog vorgibt und dessen Text einige Motive vorwegnimmt. Nico spielte das Stück nach Morrisons Tod neu ein. Die Überladenheit von Fritschs Poem mit sprachlichen Bildern und überbordenden Metaphern wurde teils kritisch gesehen, teils aber auch positiv als Zeichen großer Sprachkraft des Autors gewürdigt.16 Für ähnliche Debatten hatte schon Fritschs Monolog-Hörspiel Sense (SWF 1992) gesorgt, für das der Autor 1993 den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhielt. Das Urteil mancher Kritiker über dieses Stück ist, mit Einschränkungen, auch auf Nico – Sphinx aus Eis anwendbar: „Dieser furiose und rauhe Text ist nicht unmittelbare Weltabbildung, sondern ein ziemlich hinterhältiges Kunstprodukt.“ (Zit. n. Wagner 2001, 169) „Rau“ ist der Nico-Monolog nicht, sondern ziseliert, angefüllt mit literarischen, geschichtlichen und geistesgeschichtlichen Anspielungen. Damit ist es eher ein offenes als ein „hinterhältiges“ Kunstprodukt. Andererseits enthält es so viele Realien aus Christa Päffgens Leben, dass mancher Hörer, der einiges über die Sängerin weiß, auf die Idee kommen kann, es handle sich um eine Doku-Fiktion.17 Dies sind vor allem Namen: Jim (Morrison), Lou (Reed), Bob (Dylan), Andy (Warhol), Brian (Jones), Jimi (Hendrix) usw. Des Weiteren Ari, Nicos Sohn, der angeblich aus der Beziehung zu Alain (Delon) stammt (was von diesem immer bestritten wurde). Hinzu kommen Ortsna16 In seiner Kritik der Bühneninszenierung nennt Nikolaus Merck das Stück „Rumorendes Avantgarde-Hörstück“ (in: www.nachtkritik.de) 17 HörDat klassifiziert das Stück als „Biographie“.
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men, vor allem Paris, Rue Richelieu, Lübbenau, Ort der Kindheit, und Ibiza, wo Nico mit knapp 50 Jahren starb. Fritsch macht aus Nico eine exemplarische deutsche Leidensgestalt, vergleichbar mit manchen tragischen Existenzen unter den Achtundsechzigern, wie z.B. Bernward Vesper. Während die Sängerin sich in Wirklichkeit zeitweise von ihrer deutschen Herkunft zu distanzieren suchte, verquickt Fritsch ihre Erinnerungen und Halluzinationen mit der dunkelsten Epoche der deutschen Geschichte, für die Nicos Geburtsjahr 1938 steht: Reichskristallnacht, Höhepunkt der Macht Hitlers, ein Jahr vor Kriegsbeginn. In paradigmatischen Ausdrücken werden der Holocaust und der Krieg aufgerufen: „Großdeutschland“, „Stuka“, „Viehwaggon Richtung Auschwitz“ (Fritsch 2004, 17), „im Gas“, verdichtet in den berühmten Metaphern aus Paul Celans „Todesfuge“: (Der Tod ist ein) „Meister aus Deutschland“ (ebd., 10), „schwarze Milch“ (der Frühe) (ebd., 38). Jim Morrison, der immer wieder mit „Du“ angesprochen wird, und Nico werden zudem in eine literatur- und geistesgeschichtliche Tradition von der englischen Romantik (William Blake, Lord Byron) über Nietzsche, H. P. Lovecraft bis zu Malcolm Lowry und Faulkner gestellt. Ein weiteres Paradigma bilden mythische Frauenfiguren mit tragischen Schicksalen: Medea, Persephone, Eurydike, Ophelia. Die Hauptthemen des Stücks sind Rausch, Sex, Schmerz, Schuld und Tod. Heroin ist für Nico Charon, der Fährmann über den Styx ins Totenreich. Schuldgefühle hat Fritschs Figur gegenüber ihrer Mutter, der sie während ihrer Krebserkrankung nicht beistand und bei deren Beerdigung sie nicht war – stattdessen war sie bei der Beerdigung von Ulrike (Meinhof) (ebd., 33) –, und gegenüber ihrem Sohn Ari, der Acid mit der Muttermilch einsaugen musste (ebd., 27). Todesahnung oder auch Todessehnsucht ist die Grundstimmung des Hörspiels, und sie wird mit Deutschland verknüpft: „Nur ein toter Künstler ist ein guter Künstler / in Deutschland D-E-A-D D-E-A-D / spielt mein Pianist […]“ (S. 30f.). Man kann das auch als Kritik an einer Kunstauffassung verstehen, die nur die „konsekrierte“ Kunst meist schon toter Urheber gelten lässt. Corinna Harfouch spricht die Rolle fast durchgehend, mit wenigen Ausnahmen, im Flüsterton, als wäre es ein Selbstgespräch oder eine Beichte. Die Musik stammt von dem Klangkünstler Sam Auinger (*1956) und besteht aus entweder ratternden, flackernden, pulsierenden oder aus flächigen, an- und abschwellenden elektronischen Sounds, die teils textbegleitend, teils auch, vor allem zwischen den Strophen, textfrei eingespielt werden. Manchmal hört man so etwas wie Reifenquietschen, kurz vor dem großen Aufprall. Das Flüstern und die Musik vermitteln einen Eindruck von Entrücktheit, von Selbstentfremdung und Todesnähe, was der Stimmung entspricht, die auch beim Lesen des Textes entsteht. Die durch Drogen hervorgebrachten Ekstasen und Halluzinationen sind zwar durch die Sprache (und durch den Vortrag) noch zu erahnen, aber als ihr Ziel erscheinen nicht Lust oder Glück, sondern der Tod.
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In der Reihe großer Star-Tragödien darf diejenige des „Grunge-Halbgotts“ Kurt Cobain (1967-1994) nicht fehlen. In Cobains Asche (SWR 2004) stellt AGNIESZKA LESSMANN (*1964) die Geschichte seines Aufstiegs und Untergangs vorwiegend aus der Perspektive seiner Ehefrau Courtney Love dar. Hinzu kommt die Sicht eines weiblichen Fans, einer Friseurin, die sich ihrem Idol so nah fühlt wie einem persönlichen Freund. Ein Erzähler (Ulrich Noethen) berichtet in knapper, sachlicher Sprache im Präsens von Courtney Loves Reise zwei Monate nach Cobains Tod mit dessen Asche nach Ithaka, N.Y., wo sie mit Hilfe buddhistischer Mönche das Karma des Verstorbenen verbessern will. Sie ist selbst ein Star, wird aber in der Stadt vor allem als Cobains Ehefrau erkannt. Ihr Image ist überwiegend negativ, manche schreiben ihr sogar die Schuld am Tod ihres Mannes zu. In dem vielschichten Hörspiel nutzt Lessmann die Möglichkeiten dieser Kunstform, Zeitebenen durch horizontale und vertikale Kombination von Zeichenschichten zu verschmelzen. Raumklang mit Geräusch-Atmo wechselt abrupt mit raumloser Stimme. Courtneys innere Monologe werden meist mit der Musik von Nirvana unterlegt, sodass Cobain fast immer anwesend ist. Ausnahmen sind zwei Szenen, die Courtney selbst charakterisieren, die eine in einer Boutique, in der die ehemalige Stripperin vergisst, sich in die Umkleidekabine zurückzuziehen, weil sie „ein anderes Verhältnis zu ihrem Arsch“ hat als andere Leute, und eine weitere in einem Gitarrenladen, in dem sie mit einer gesperrten Karte zu bezahlen versucht. Wütend schreit sie den Verkäufer an, weil er sie mit solchen Kleinigkeiten belästigt. Der bewahrt ihr zurückgelassenes Taschentuch und eine mit Lippenstift verschmierte Kippe als Popreliquien auf, neben einem Plektron, das Eric Clapton gehört, und einer Mundharmonika, die Bob Dylan weggeworfen haben soll. Bei aller Tragik hat auch dieses Hörspiel Züge einer Popsatire, ohne allerdings ins Komische abzugleiten. Für die Aufrechterhaltung der Spannung und, vor allem zum Ende hin, dramatische Steigerungen sorgt die Schauspielerin Sophie Rois als Courtney Love, die mit ihrer rauen, manchmal sich überschlagenden Stimme Großartiges leistet. In der Deutung von Cobains Selbstmord, über den viel spekuliert worden ist, führt Lessmann überwiegend psychologische Aspekte an. In den Szenen, die aus Courtneys Erinnerungen reale Dialoge mit Kurt machen, tritt er als Leidensmann auf. Zwar wird auch deutlich, dass er eben nicht „Grunge-Halbgott“ und Rockstar sein will, aber im Vordergrund stehen nicht seine programmatischen Selbstentwürfe als Star oder Anti-Star, sondern Kindheitstraumata, psychische Labilität, das Leiden an der Beziehung zu Courtney, ausgedrückt in dem Song (My Girl, My Girl) Where Did You Sleep Last Night, und künstlerisches Ungenügen: Er blickt auf die rasante musikalische Entwicklung der Beatles in wenigen Jahren und vermisst Vergleichba-
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res bei sich selbst. Das alles führte, nach Courtneys Aussagen im Hörspiel, zu seiner Drogensucht mit gelegentlichen Überdosierungen.18 Eine Reihe von Dokumentationen zwischen Feature und Pophörspiel beschäftigen sich mit Erscheinungen aus Pop-Subkulturen, die wenig bekannt, aber zeittypisch sind, also über den Einzelfall hinausweisen. STEFFEN IRLINGER (*1967), ein Musiker und Hörspielmacher, hat mehrere solcher Stücke produziert, unter anderem über den von Insidern bewunderten blinden Louis Thomas Hardin al. Moondog (19161999) (Moondog Rising, WDR 2010), der als Straßenmusiker in New York begann, später bis zu seinem Tod in Deutschland lebte und ein umfangreiches PlattenŒuvre zwischen Klassik, Jazz und Pop hinterließ. Oder über den Fall von Mingering Mike (WDR 2008), der für sich selbst eine fiktive Star-Existenz als SoulMusiker entwarf, wobei er für seine Kompositionen, teils im Badezimmer auf Tonband aufgenommen, minutiös Plattencover gestaltete, die von einem Privatdetektiv auf einem Flohmarkt in Washington aufgestöbert wurden und mittlerweile in Museen ausgestellt werden. Oder unter dem Titel Paradise Garage (WDR 2006) über den legendären, exzentrischen DJ Larry Levan (1954-1992), der in der New Yorker Diskothek Paradise Garage zum Pionier der House- und Garage-Szene wurde. Diese Stücke setzen sich aus Erzählungen, Interviews und viel Original-Musik zusammen. Thematisch vergleichbar, aber anders gebaut sind die Hörspiele des Autors, Regisseurs und sehr produktiven Hörspielmachers MICHAEL FARIN (*1953). Ihre besondere Stimmung wird durch Farins Zusammenarbeit mit dem Bassisten, Komponisten und Performancekünstler (Georg) Zeitblom erzeugt, dessen Musik die Texte mit einem Beat und Elektro-Pop-Sound unterlegt und damit die Stücke zu psychedelisch anmutenden Dancetracks macht, vergleichbar mit den Produktionen Thomas Meineckes mit Move D, von denen noch die Rede sein wird. In dem Hörspiel Cookie Mueller (WDR 2013) über die von (seinerzeit) trash-Regisseur John Waters entdeckte Schauspielerin, Tänzerin, Schriftstellerin, früh verstorbene Kultfigur des amerikanischen underground der 1970er und 1980er Jahre, gibt es zwischen den Erzählungen und Monologen (wohl) von Blixa Bargeld gesungene Songs zu hören, was das Stück in die Nähe der noch darzustellenden musikalischen Hörspiele rückt. Allerdings ist immer noch der Text das Primäre, die Musik organisiert nicht den Stoff, sie lässt aber die Sprache rhythmisch, manchmal ekstatisch wirken. Das gilt in besonderem Maß für Farins, Zeitbloms und Hans Schmids Hörspiel 18 Unerwähnt bleiben Cobains Magenprobleme, die manche als Auslöser für seinen Drogengebrauch ansehen. Die Spekulationen um seinen Tod wurden von Thomas Doktor und Carla Spies für ihren satirischen Popkrimi Dead men don‛t pull triggers (SWR 2006) genutzt, von dem noch die Rede sein wird.
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Hundert nackte Kängurus (WDR 2010), in dem es um den LSD-Erfinder Albert Hofmann (1906-2008) geht. Die Drogentrips werden durch die Musik akustisch erfahrbar gemacht. Hofmann war ein Star der Wissenschaft, der durch das, was er tat, einen erheblichen Einfluss auf die Popkultur ausübte. Ganz kann man ihn aus diesem Kontext nicht herauslösen, aber dass man die Akzente auch anders setzen kann, zeigt ein weiteres Hörspiel über ihn: Hofmanns Elixier (RBB 2005) von Regine Ahrem und Michael Rodach. Es wurde als Hörspiel des Monats Januar 2006 mit der Begründung ausgezeichnet, es habe „die Entdeckung der chemischen Droge LSD aus den Stereotypen der Popkultur gelöst und in die geistesgeschichtliche Tradition der Mystik und Ekstase gestellt“. (Zit. n. HörDat) Abschließend sei bemerkt, dass in beiden Hörspielen die als Sprecherin viel beschäftigte Kathrin Angerer zu hören ist, die auch schon in Cookie Mueller und als Hedelin in Hello, I’m Glen Sherley auftrat. Ihre hohe Stimme wirkt einerseits kindlich-naiv, andererseits trauriggebrochen, verträumt, nahezu entrückt, und vielleicht ist es diese Ambivalenz, die Hörspielregisseure dazu bringt, gern mit dieser Schauspielerin zu arbeiten. Die Stimme ist eben nicht nur Transportmittel für Sprache, sondern sie fügt den Texten neue Bedeutungsvarianten hinzu und kann darüber hinaus „auch rein klanglich und ohne semantische Verweisfunktion zur Geltung kommen“. (Schmedes 2002, 74)
9.3 L IFESTYLE Das (auto-)biographische Organisationsschema von Stoff wurde schon in Hörspielen über Musikgruppen teilweise verlassen, weil es da um Kollektivsubjekte ging, deren einzelne Lebensläufe nicht in der Bandgeschichte aufgehen. Die Zugehörigkeit zur Band bestimmte aber in vielen Fällen in hohem Maß das Selbstverständnis ihrer Mitglieder und beeinflusst es oft weit über die Zeit der Bandexistenz hinaus. Die beiden noch lebenden Mitglieder der Beatles sind seit Jahrzehnten ihre eigenen musikalischen und persönlichen Wege gegangen und dabei doch ExBeatles geblieben bzw. als solche gesehen worden. Star-Images lassen sich also nicht als einfache Größen bestimmen, sondern setzen sich oft aus diversen aufeinander folgenden, zugleich einander überlagernden Bildern zusammen, was es dem Star-Nutzer erschwert, sich an ihnen zu orientieren, aber auch für den Star selbst ein Problem sein kann.19 Nachdem es im vorigen Abschnitt um Star-Biographien in Pophörspielen ging, soll unter der (womöglich etwas plakativen) Überschrift Lifestyle eine Übersicht
19 Manche Stars wechseln häufig ihre zur Schau gestellten Selbst-Entwürfe. Heinrich Detering hat das für Bob Dylan beschrieben. Im ersten Kapitel nennt er ihn „Alias“. (Detering 2007)
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über einige Pophörspiele gegeben werden, die „Selbstverhältnisse im Pop“ (vgl. Geisthövel 2014) darstellen. Wie konstituiert sich Identität im Zeitalter der Popkultur? Zunächst könnte man antworten: Nicht anders als in allen anderen Zeiten, nämlich durch Inszenierung in Rollenspielen. „Immer ist der Mensch in seiner Verdoppelung zu einer erfahrbaren Rollenfigur er selbst“, schreibt der Sozialanthropologe Helmuth Plessner (1974, 33). In seinem bekannten Werk The Presentation of Self in Every Day Life20 beschrieb der Soziologe Erving Goffmann die soziale Existenz des Menschen im Rahmen einer detailliert ausgeführten Bühnen-Metapher. Nicht die Rollenexistenz des Menschen und sein Agieren (wie) auf einer Bühne sind spezifisch für die Popkultur, sondern es sind die Ausstattung der Bühne, die jeweilige Kostümierung, die Formen der (Inter-)Aktion, also alles, was sich mit dem Begriff ‚Stil‘ zusammenfassen lässt, und, erst in Ansätzen erforscht, das Verhältnis des Individuums zu sich selbst. Der Stil-Begriff ist für die Popkultur zentral. „Stil bedeutet, Formen für eine bestimmte Art des Denkens und Handelns zu finden und diese nach außen sichtbar zu machen, bzw. mit diesen Formen zu kommunizieren. Von Stil sprechen wir, wenn eine bestimmte Gruppe über vergleichbare (homologe) Objekte, Handlungen, Riten etc. für sich als Gruppe Identität herstellt mit dem Ziel, sich von anderen damit zu differenzieren.“ (Caspers 2011, 148) Stile in der Popkultur zeichnen sich allgemein durch geringe Konstanz und schnellen Wechsel aus. Wer stilistisch auf der Höhe der Zeit sein will, muss ständig empfangsbereit sein, sich verhalten wie der seinerzeit von David Riesman in The Lonely Crowd beschriebene außen-geleitete „Radartyp“. Von der Popkultur geprägte Individuen folgen dabei zwei entgegen gesetzten Strebungen. Zum einen versuchen sie sich abzugrenzen gegenüber einer als dominant und einengend erlebten Kultur des Establishments, der Mächtigen, der Älteren. Das Freiheits- bzw. Befreiungsversprechen der Popkultur wird auch als Angebot erlebt, sich selbst zu finden, im Nonkonformismus seine Persönlichkeit zu entwickeln. Dieses Angebot ist vor allem für Jugendliche interessant, die sich noch nicht gefestigt fühlen, aber die von Älteren gesetzten und (nicht immer) befolgten Regeln nicht als Orientierungshilfe, sondern als Zumutung empfinden. Zugleich bilden sich aber neue Konformitätszwänge heraus, die von peer groups ausgehen. Geisthövel stellt fest: „Der Wille zur Unterscheidung ‚von den anderen‘ war ein starkes Motiv dieser Anstrengungen [der Arbeit am eigenen Körper, Anm. G.R.], ebenso wie die Kehrseite, der Wunsch dazuzugehören.“ (Geisthövel 2014, 184) Die zweite Paradoxie besteht darin, dass die Popkultur einerseits zum Erleben des erfüllten Augenblicks, etwa im ekstatischen Tanz oder auf dem Drogentrip, animiert. Pop macht Angebote zur „Lebenssteigerung“, vor allem durch Musik, Konsumgüter, Modeartikel, attraktives Design. Am besten scheint die Steigerung des Lebensgefühls zu gelingen, wenn sie spontan und unerwartet geschieht. Aber 20 Zuerst erschienen 1959, später unter dem deutschen Titel „Wir alle spielen Theater“.
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der rauschhafte Augenblick ist schnell vorbei, man möchte ihn wiederholen oder perpetuieren, wissend, dass beides nicht möglich ist. Dieses Motiv fand sich schon in der Wiener Moderne als Ursache von Melancholie und Ich-Dissoziation, welche sich unter anderem in einem Hang zur Selbstbeobachtung manifestierte. Zur „Lebenssteigerung“ im Pop schreibt Geisthövel resümierend: „Fraglos ist die Popgeschichte reich an individuellen Momenten, die sich ohne konstruktivistischen Vorbehalt als rauschhaft, innovativ und befreiend, kurz: als lebendig beschreiben lassen. Doch als Kultur strebt Pop danach, diese Momente zu verstetigen, zu strukturieren, in eine Ressource zu verwandeln, die vielen zugänglich ist und nicht ständig neu erfunden werden muss.“ (Ebd., 194) Diese hier nur skizzierten Paradoxien können zum Gegenstand von Literatur, Theater, Hörspielen werden. Es geht dann weniger um Stationen einer Biographie als vielmehr darum, unter welchen, insbesondere medialen, Bedingungen biographische Selbstentwürfe entstehen. Diese Bedingungen selbst werden zum Material von Kunstwerken, was zur Folge hat, dass die Materialität und Medialität der Texte – erinnert sei hier an Götz Schmedes’ Bezeichnung der Hörspiele als ‚Medientexte‘ – vom Rezipienten primär wahrgenommen werden, sich die Aufmerksamkeit also auf die Signifikanten selbst und auf die ‚Performance‘, weniger auf ‚Inhalte‘ und damit die Signifikation richtet. Unterstützt wird diese Annahme durch die These, dass für die Popkultur „leere Signifikanten“ charakteristisch seien, deren Bedeutung sich nicht durch Referenz auf Signifikate, also durch den gewohnten Prozess der Bedeutungskonstitution erschließe, sondern durch ihre Funktion, Zugehörigkeitsbzw. Ausschlussbeziehungen erfahrbar zu machen. Etwas kryptisch, systemtheoretisch, formulieren das Sven Opitz und Felix Bayer: „Der leere Signifikant leistet also eine Selbstrepräsentation des Systems im System. Er vollzieht eine Operation des re-entry, indem er die Unterscheidung von innen und außen zu Selbstbezeichnungszwecken in das System kopiert.“ (Opitz, Bayer 2007, 288) Als Beispiele nennen sie Sounds wie das Scratching im Hip-Hop oder das Skateboard: Über dieses „als symbolisch-materieller Knoten aktualisiert sich letztlich eine Welt, in der bestimmte Dinge begehrenswert erscheinen, andere nicht“ (ebd., 289). Im Zusammenhang damit taucht immer wieder der Begriff der Emergenz auf.21 Die Szenen und Subszenen der Popkultur, die sich in Bezug auf bestimmte Zeichen und Codes definieren, entstehen aus der Lebenspraxis heraus, aus körperlich, sinnlich erfahrbarer Aktion.22
21 „Zunächst verweist Pop offenbar auf Prozesse der Emergenz. Denn Pop aktualisiert sich in der sozialen Welt, die Pop hervorbringt.“ (Opitz, Bayer 2007, 286) 22 Erinnert sei hier an die Bemerkungen zu den Kunstperformances in Kap. 8.7 über Hadayatullah Hübsch.
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Ein Autor, der diese Prozesse zum Thema seiner Prosatexte und Theaterstücke macht, ist RAINALD GOETZ (*1954). „Das ‚ästhetische System‘ Goetz ersetzt die Beschreibung der gesellschaftlichen Kommunikationssysteme durch das Kommunikationsprotokoll eines diese Systeme durchlaufenden Bewusstseinssystems. Doch diese neue Perspektive stößt auf ein nicht in den ausdifferenzierten Kommunikationssystemen Aufgehendes: auf die Sphäre des Populären.“ (Schäfer 2007, 266) Goetz’ dreiteiliges Theaterstück Krieg wurde vom SWF 1989 und 1991 als monumentales Hörspiel produziert. Was Petra Gropp über das Theaterstück sagt, trifft auch auf das Hörspiel zu: Krieg stelle „Szenen der Schrift“ auf die Bühne (Gropp 2006, 337). Im Fall des Hörspiels ist die Bühne der akustische „Raum“, und die agierenden „Körper“ sind die Stimmen der Schauspieler. Letzteres ist an sich nichts Ungewöhnliches und trifft auch auf traditionelle szenisch-dramaturgische Hörspiele zu. In Krieg wird Sprachmaterial neben anderem akustischen Material ausgestellt, wobei schon die Unterscheidung zwischen Szene und Zwischentext inhaltlich unklar ist und ein dramaturgischer Zusammenhang der Szenen sich nicht erschließt, ein auf Qualitäten des Materials bezogener dagegen durchaus. Der Sprecher der Zwischentexte, es ist immer derselbe, zeichnet sich durch eine betont coole Sprechweise mit geringen Betonungsunterschieden aus. Gleichzeitig mit seinen Ansagen wird House-Musik gespielt, vor allem das Stück Pump Up the Volume der Gruppe M/a/r/s, das an sich schon Programm ist. Es verspricht die Steigerung des Lebensgefühls durch Erhöhung der Lautstärke, und es handelt sich um das erste Musikstück, das mit den Techniken des sampling und scratching erfolgreich war.23 Bei Goetz findet sampling mit Sprechweisen der Alltagssprache und der Dramenund Theatersprache statt. Figurentexte werden meist mit der Bezeichnung „(mündiger) Bürger“ angekündigt, bei der sich der Verdacht, hier werde mit einem „leeren Signifikanten“ gespielt, sofort aufdrängt und umso mehr bestätigt, je öfter er wiederholt wird. Aber auch Namen wie Heidegger, Stockhausen, Stammheimer sind nur scheinbar referenzielle Ausdrücke. Vielmehr sind sie völlig beliebig und könnten, wie es auch zuweilen geschieht, durch allgemeine Ausdrücke wie „Mann“, „Frau“, „Soldaten“ oder durch eine Absurdität wie „fünfjähriger männlicher Bürger“ ersetzt werden. Entsprechend leer sind die gesprochenen Texte, in denen (fast) pausenloses Sprechen immer in Sprachlosigkeit in Form sinnlosen Gestammels umzuschlagen droht (was manchmal auch geschieht). Business-Talk, politisches Räsonnement, pathetische Naturbeschwörung, philosophische Spekulation, Gewaltphantasien, Liebesgeflüster, Floskeln der Alltagsrede, Naziparolen, chorisches Sprechen wie im antiken Drama – das Gerede ist losgelöst von individuellen Figuren, aber nicht von Stimmen, ohne die es nicht existieren könnte. Die Stimmen dienen dazu, um „Sprache 23 Wegen der Verwendung bereits vorhandenen Materials kam es zu Urheberechtsstreitigkeiten.
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[…] in ihren grammatischen, performativen und materiellen Dimensionen“ vorführen zu können, „wobei die Reflexion und Ausstellung der Grenze von Sinn und Verkörperung im Vordergrund steht, die materielle Grenze zwischen Stille und Sprache“ (Gropp 2006, 335, Kursivierung im Text). Im Zentrum des Hörspiels steht ein großer Monolog, gesprochen von Christian Brückner, über Leiber und Maschinen im Stil des Futurismus, vom Ansager angekündigt als The Texas Chainsaw Massacre, „in der die Präsentation der Worte ‚Flexgekreisch, Leiberstampfen, Mundlochschreie, Qual, Qual, Qual, Qual, Augenlöcherlust, wilder, wilder‘ […] auf eine Szenographie der Metal- und Industrial Culture bezogen ist“ (ebd., 336). Und, wenn man den angesagten Szenentitel wörtlich nimmt, auch auf einen skandalösen Horrorfilm. Aber die Titel haben durchaus ein Eigenleben, reichen von bloßen Ansagen der Figuren über Aufforderungen wie Keep your city clean, lateinische Gebetsformeln wie confiteor, pax tecum bis zu philosophischen Werktiteln wie Meditationes und Discours de la méthode, wobei mit letzterem die fortgeschrittene Stufe eines Besäufnisdialogs angekündigt wird, in dem Harald (Juhnke) und Bubi (Scholz) sich mit Trinksprüchen zu weiterem Biergenuss anstacheln. Dieser Dialog taucht immer wieder auf und bildet so etwas wie eine dramaturgische Klammer für das ganze Stück, wobei hier sogar eine – allerdings nicht inhaltliche – Entwicklung von anfangs noch annähernd klarem Sprechen bis zu kaum verständlichem Lallen stattfindet. Solche Szenen gehen dann doch über das reine Ausstellen von Theatralität hinaus, da man sie auch als handfeste satirische Kritik am geistigen und moralischen Bankrott des „mündigen Bürgers“ verstehen kann. Das Spiel mit Sprachzeichen ist insofern ambivalent, als dabei einerseits zwar die Sprachelemente handeln (wie Franz Mon es einmal formulierte), andererseits diese nicht nur in ihrer Lautgestalt erscheinen, vielfältig kombiniert und ‚zum Tanzen‘ gebracht werden, sondern ihre Verweisfunktion als Zeichen nicht ganz verlieren.24 Der Verlust ihrer ursprünglichen Bedeutung darf dann auch betrauert werden, etwa wenn aus „Hoch die Tassen“ bruchlos die früher mit politischen Hoffnungen behaftete Parole „Hoch die internationale Solidarität“ wird.
24 Diese Ambiguität macht auch den Reiz des von Goetz selbst gesprochenen Hörtextes loslabern (BR 2010) aus, den man sich beim Hören als absatzlosen Textblock vorstellt (was er in gedruckter Form größtenteils auch ist), aus dem einige sprachliche Versatzstücke, darunter das Verb LOSLABERN selbst, als Versalien herausragen, im Hörtext akustisch verfremdet. Der Text ist ebenso ein Sprachspiel wie eine satirisch-kritische Darstellung des Buchmessenbetriebs und eines Herbstempfangs der FAZ. Die Erzählung wird mit einer wehmütigen Erinnerung an die Love Parade und den verstorbenen DJ Spoon (= Markus Löffel) verknüpft. Die Eitelkeit der Feuilletonredakteure und deren Selbstinszenierung stehen im Gegensatz zum authentischen Erlebnis der Liebesparade, für deren trauriges Ende Spoons berühmt gewordener Ruf „Ihr seid so scheiße leise“ [29:48] steht.
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Noch weiter als Rainald Goetz treibt der Theaterdichter RENÉ POLLESCH (*1962) das Spiel mit leeren Signifikanten und Versatzstücken des zeitgenössischen Diskurses. Als Beispiel steht hier sein Hörspiel Tod eines Praktikanten (DLR 2007), in dem das schnelle, atemlose Sprechen dreier Darstellerinnen nur ab und zu von angespielten, dann abrupt abbrechenden (Pop-)Musikstücken unterbrochen wird. Wer aufgrund des Hörspiel-Titels negative Erwartungen hinsichtlich des Inhalts entwickelt hat, den wird der feierliche musikalische Auftakt irritieren: Bei dem wie eine Barock-Ouvertüre klingenden Orchesterstück handelt es sich um Le Grand Choral des Filmmusik-Komponisten Georges Delerue. Wie passen diese Klänge zum Elend einer (wahrscheinlich unbezahlten) Praktikanten-Existenz, die mit einem tragischen Tod, möglicherweise durch Suizid, endet? Schon bald wird man zu der Vermutung gebracht, dass der Praktikant sein Leben hingegeben hat, weil der angesagte Fotograf Wolfgang Tillmans sein Atelier aus rechtlichen und Kostengründen nach London verlegt hat und deshalb die bei ihm beschäftigten Praktikanten – es scheinen mehrere zu sein – nicht mehr braucht. Tillmans, politisch als „grün und links“ eingeordnet, gehört jedenfalls zu denjenigen, die ‚es geschafft haben‘ und deren Namen nicht mehr nur für ihre konkreten Leistungen, sondern für die Zugehörigkeit zur Schicht der Arrivierten und finanziell Sanierten stehen. Solche Namen bilden den Geheimcode des Stücks, den nur derjenige entschlüsseln kann, der sich in der populären Gegenwartskultur bestens auskennt. Alle anderen sind auf Wikipedia verwiesen, wo sie zum Beispiel herausfinden können, worum es in dem Film Snow Cake (2006) geht, in dem sich Sigourney Weaver einmal im Schnee wälzt. Vermittelt über die Figur (Linda), die Weaver in diesem Film spielt, wird der Autismus zu einem der Themen des Hörspiels – und nur so, durch diese Vermittlung, kann er es werden. Mediale Zuschreibungen werden weitergedacht, zugespitzt, ins Absurde getrieben. Millionäre werden zum Beispiel als Autisten bezeichnet, die sich im Schnee wälzen. Andererseits werden stereotype Wendungen und Kuriositäten aus den Medien einfach übernommen: Angela Merkel steht für eine Frau, bei der der Lack noch nicht ab ist; der Schauspieler Orlando Bloom gilt als ein Mann, den eine Frau sich zum besten Freund wünscht; (die Regisseurin) Andrea Breth hat angeblich 30 Plasma-Fernseher gekauft, mit denen sie nichts anfangen kann. Die demenzkranke Maria Schell weiß aus Erfahrung, was den modernen Menschen antreibt: Angst. Mit dieser Aussage verunsichert sie die Kommentatoren. Die einen sagen, die alte Frau habe sowieso alles vergessen. Es kann aber auch sein, dass sie mit dieser Einsicht „vielleicht zum ersten Mal nicht getrennt von ihrem Leben“ ist [08:10]. Das letzte Wort des Praktikanten soll „Rosebud“ gewesen sein. Was es bedeute, müsse man Charles Foster Kane fragen, die Hauptfigur aus Orson Welles’ Film Citizen Kane (1941). Nun müsse aber der Praktikant beerdigt werden, und zwar nach einem afrikanischen Ritual, wie es mit Sigourney Weaver (als Dian Fossey) in dem Film Gorillas im Nebel (1988) geschah. Auch letzte Worte sind nicht authentisch,
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und die Wahl des Begräbnisrituals hängt davon ab, welchen Film man zuletzt gesehen hat. Soll man spekulieren, weshalb Sigourney Weaver oder der Porno-Produzent Hans Moser in dem Stück so oft genannt werden? „Hat Pollesch im Kino oder sonst wo eine interessante Szene aufgeschnappt, dann ändert er den Text noch in letzter Minute“, schreibt Thomas Assheuer in ZEIT ONLINE (2007). Es kann eben alles so sein oder auch alles ganz anders [34:20], und der Vorwurf „Du hast dein Leben erfunden“ wird mit dem Satz „Na und, ich sehe keinen Sinn in einem nicht erfundenen Leben“ pariert [33:30]. „Tatsächlich inszeniert Pollesch Wortspiele, bei ihm gibt es keine wetterfesten Charaktere, die Figuren sind weder sie selbst, noch sind sie jemand anders – sie sind etwas dazwischen. Das Ich könnte auch ein anderer sein, manchmal wechselt eine Pollesch-Figur die Rolle wie das Hemd und probiert neue Lebensstile wie Konfektionsware.“ (Ebd.) Auch hinsichtlich der Musikstücke ist die Frage kaum zu beantworten, ob die Auswahl getroffen wurde, um eine mögliche Aussage des Textes zu unterstützen, oder ob sie vom Zufall gesteuert war. Die playlist umfasst neun Titel, was zusammen mit Delerues Grand Choral25 einen veritablen Soundtrack ergibt. Die Stücke erzählen Geschichten von Außenseiterinnen (Sukie in the Graveyard), Suchenden (Carrie Ann, The Diary of Horace Wimp) und Angekommenen (Diamonds on the Soles of her Shoes); am Ende besingt Freddie Mercury (warum auch immer) Mustafa Ibrahim, bevor der Grand Choral das Stück beschließt. Länger als die anderen wird der sechste Titel angespielt, die englische Version von J’en ai marre der damals dreiundzwanzigjährigen Sängerin Alizée [26:1527:45], ein Wunderwerk der zuckersüßen Variante des Pop und möglicherweise der ironische Kommentar zu allen bedeutungsschweren, einander immer wieder aufhebenden Sätzen, die die Sprecherinnen äußern: Ein Mädchen liegt in der Badewanne, sie streicht sich über ihre zarte Haut und fühlt sich wohl. Doch etwas geht ihr auf die Nerven: all die Leute, die Trübsal blasen, Schwarz sehen und überall Probleme wittern. Auf das Stück bezogen: Es kann doch nicht so schlimm sein, dass der Kapitalismus Menschen für die Liebe, aber ohne Geld arbeiten lässt [18:40], so dass sie als „Praktikantungsreisende“26 schließlich vor die Hunde gehen. An dieser Stelle reißt der medial gewebte Glitzervorhang ein Stück auf und gibt den Blick frei auf die von Sprachkaskaden eher zugedeckte als enthüllte deprimierende soziale Wirklichkeit. Ein ebenfalls tieftrauriges Satyrspiel über den Menschen in der Konsumgesellschaft und im Medienzeitalter ist SCHORSCH KAMERUNs (*1963, eigentlich Thomas Sehl) 25 Das Musikstück wurde 2009, also zwei Jahre nach der Produktion des Hörspiels, für den Soundtrack des erfolgreichen Animationsfilms Fantastic Mr. Fox verwendet. 26 Wie Arthur Millers „Handlungsreisender“.
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Hörspiel Ein Menschenbild, das in der Summe null ergibt (WDR 2006), für das der Autor 2007 den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhielt. Die Versuchsanordnung ist unklar: Befinden wir uns in einer Radio- oder TV-Show? Wird hier eine empirische Erhebung dokumentiert oder fingiert? Ein reißerischer Ansager, flankiert von verkaufsfördernder Musik, ermuntert das Publikum dazu, sich der Bewegung der NINPUTS, der No-Inputs, anzuschließen und sich auf die Suche nach eigenen Wünschen zu machen. Die Werbung bedient ihn laufend mit Superlativen, denen er nur die Einsicht entgegensetzen kann: „Wenn alles super ist, ist nichts mehr super.“ Die auf die Einleitung folgenden Erzählungen von Männern und Frauen über ihre prägenden Erlebnisse, Vorlieben,Träume, Obsessionen, Ängste wirken wie Ausschnitte aus Originalton-Interviews mit Laien, werden aber teilweise von Schauspielern gesprochen und enthalten auch fiktive, von Kamerun geschriebene oder fortgesponnene Geschichten mit wahrem Kern. Die Grundstimmung der Erzählungen setzt sich zusammen aus Einsamkeit, Verlorenheit, Unsicherheit. Eine Frau fragt sich, ob sie sich die Nase operieren lassen soll. Sie sagt das zu einer Freundin, die ihr nicht zuhört, sondern von ganz anderen Dingen spricht, z.B. von Sorgen über Gasengpässe. Ein junger Mann will nicht den Publikumsjoker, sondern den Telefonjoker. Ein anderer erzählt von einem Schreckensmoment: „Plötzlich war’s stockdunkel und ich fand mein Handy nicht, um Licht zu machen.“ [35:05] Ein weiterer spricht über seinen Zähltick, von dem er besessen ist, seit ihn seine Freundin verlassen hat. Nachts muss er neunmal spülen, sonst kann er nicht schlafen gehen. Eine verfremdete Jungenstimme berichtet in Hamburger Slang, wie er und seine Gang einen Werbeträger, der im Pantherkostüm Flyer für eine Telekom-Flatrate verteilte, solange mobbten, bis er ins Wasser sprang und fast ertrank. Besonders eindrucksvoll ist die Geschichte eines Angestellten, der sich zunächst vom Fortschritt in der modernen Konsumgesellschaft überzeugt zeigt und z.B. einen Investor lobt, der ein „Einkaufszentrum der Superlative“ plant. Auf einer Reise nach Südamerika gelangt er auf die Galapagos-Inseln und begegnet dort einer Riesenschildkröte namens Lonesome George, die sich nicht fortpflanze, weil sie die letzte ihrer Art sein wolle. „Dieses Tier will nicht mitmachen“, schlussfolgert der Mann, und es klingt, als sei er den Tränen nahe [16:15]. Hintergrund der Erzählungen sind entweder Alltagsgeräusche wie Schritte, leise Stimmen, Signaltöne, manchmal auch eine Art Lounge Music oder elektronischer Klangteppich. Dazwischen gibt es moritatenhafte Songs, die an Brechts episches Theater erinnern. In einem dieser Songs heißt es in mehrfacher Wiederholung: „Und es gibt immer weniger Zeugen, die bereit sind, sich nicht zu verbeugen.“ [22:00ff.] Dazu passt, dass Kants Satz „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, unmittelbar gefolgt von den Sätzen „Stoppt den Krieg!“ und „Schlagt die Schweine tot!“ [07:20] wie ein Verzweiflungsschrei klingt, untermalt von dramatischer Musik. Zuweilen nimmt das Hörspiel opernhafte Züge an, der
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Monolog einer Frau endet damit, dass sie die Arie der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte singt. Kamerun erhielt den Preis der Kriegsblinden unter anderem wegen des künstlerisch gelungenen Gebrauchs radiophoner Mittel. Das Artifizielle mancher Texte, in denen die Sprachzeichen ebenso wie bei Goetz und Pollesch ein Eigenleben führen, verschleiert Kamerun durch die O-Ton-Illusion, wobei der Hörer sich oft nicht sicher ist, ob es eine Illusion ist oder ob es sich wirklich um O-Töne authentisch gemeinter Selbstaussagen handelt. Zum Inhalt stellte die Jury fest: „Kamerun zeichnet das bestürzende Porträt einer Generation, die zwischen Mediengeschwätz, Lifestylemode und Kaufwelt, zwischen verordneter Wahlfreiheit und allgemeiner Beliebigkeit keine Chance auf ein originales Leben, auf authentische Wünsche hat. Kameruns Menschen leben in einer indirekten Welt, zugeschüttet mit einem Übermaß an Null-Information. Sprechen sie, zitieren sie? Ist das Plattheit oder Ironie?“ (zit. n. HörDat)
Die Geschichten, die von der Anpassung moderner Zeitgenossen und -genossinnen an den Lifestyle im Zeitalter der Popkultur handeln, erweisen sich meist als tragikomische Geschichten vom Scheitern. In EBERHARD PETSCHINKAs (*1953)27 Chatroomdreams (SRF 2013) versucht die 60jährige Witwe Billie, gesprochen von Jutta Hoffmann, mittels des Internets noch einmal die große Liebe zu finden und sich dadurch auch von ihrer Familie zu emanzipieren. Die für den Internet-Marktplatz ewige.liebe.dot.com gewählten Pseudonyme Billie (offenbar abgeleitet von Billie Holiday), Tiger 60, Robert Redford stehen für vorgestellte Selbstbilder, die sich beim ersten Treffen als Wunschvorstellungen herausstellen. Das wird sowohl auf der Ebene der Dialoge als auch auf derjenigen der Musik deutlich. Achsenzeit in Billies Leben ist das Jahr 1970, in dem sie mit ihrem Onkel Alfred, einem Maler, in dessen Atelier eine inzestuöse Beziehung hatte. Angespielt werden I’ve Been Loving You Too Long von Otis Redding, Jimi Hendrix mit Machine Gun und die Rolling Stones mit Love in Vain. Billie erzählt, sie habe damals eine Lust nach... (wonach bleibt ungesagt) verspürt, die später gleich wieder zugeschüttet wurde. Der Versuch, sie mit 60, als mehrfache Mutter und Großmutter, wieder aufleben zu lassen, misslingt aus verschiedenen Gründen. Entweder der Mann ist ein Langweiler, was sich schon daran zeigt, dass ihm kein anderer Codename als ‚Horst‘ eingefallen ist, oder er hat Potenzprobleme oder es klingelt in dem Moment, in dem das Licht ausgemacht wird, die Tochter, um ihr Kind für zwei Stunden abzugeben. Als Hintergrundmusik der Dialoge mit den Männern hört man Tanzcafé-Musik. Die 27 Eberhard Petschinka kann bereits auf ein Hörspielwerk von ca. 50 Stücken zurückblicken, davon viele mit Co-Autoren, und ist vielfach preisgekrönt, u.a. mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden für Rafael Sanchez erzählt „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1999) (s.u.).
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wilden Siebziger sind lang vorbei, aber Billie gibt nicht auf. Sie fährt sogar zu einer Beraterin namens „Fräulein Else“28 nach Wien und lernt dort, Sex als Spiel zu begreifen. Am Ende stylt sie sich, nach Ansicht ihrer Tochter, wie Ingrid Bergman in Casablanca, um sich mit einem 35jährigen Mann zu treffen, der eine Erfahrung mit einer Älteren sucht.29 Ebenfalls auf die Siebziger Jahre bezogen ist Eberhard Petschinkas Hörspiel LUIS / footage (WDR 2011), in dem es um die Selbstfindung Emiles, des Sohns eines Stones-Groupies, geht, weshalb die Musik dieser Band immer präsent ist. Emile wächst bei seinem Großvater auf, weil die drogensüchtige Mutter sich nicht um ihn kümmern kann. Bei ihm kratzt er Stones-Stücke auf der Geige. Dann sucht er die Mutter in Paris auf, mit der wegen ihrer Heroinsucht immer noch nichts anzufangen ist, und schließt Freundschaft mit einem Maler, die durch eine Frau gefährdet wird. Die Ausgangssituation dieses Hörspiels erinnert an Versuche, Erfahrungen mit Eltern der Hippie-Generation zu bewältigen, wie Elementarteilchen von Michel Houellebecq oder Herkunft von Oskar Roehler, der beide Bücher auch verfilmte. Auf seiner Homepage firmiert Eberhard Petschinka als Krok & Petschinka, und diese Namen werden als Autoren angegeben, wenn seine neueren Hörspiele gesendet werden. Aber wer ist Krok? Krok ist eine Kunstfigur, erfunden für ein erfolgreiches Hörspiel gleichen Titels (DRS/ORF 1994) und eigens vorgestellt als Medienstar auf Petschinkas Homepage in einem Gedicht: Iʼm Krok, folks! Iʼm the fruit of the passion of a bold inquiring spirit, created in Europeʼs most modern laboratory under the best possible conditions. Krok comes from crossing a chimpanzee with a daisy and the odd batch of crocodile chromosomes. (http://www.krok.cc/index.php/story)
Derartige Fiktionen sind typisch für die Popkultur, weil sie Medienbilder auf sich selbst zurückspiegeln und Star-Images als Konstrukte erfahrbar machen. Sie können als einmalige Erscheinungen aufblitzen wie Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band der Beatles (1967) oder Ziggy Stardust and the Spiders of Mars, bekannt gemacht 28 Ob damit auf Schnitzlers berühmte Novelle Fräulein Else angespielt wird, die eben den im Hörspiel gegebenen Rat nicht befolgt und darum untergeht, bleibt unbestimmt. 29 Eine vergleichbare Idee liegt dem Hörspiel @LOVE (ORF 2013) der österreichischen Autorin PATRICIA JOSEFINE MARCHART zugrunde: Hier sucht eine 39jährige im Internet einen Mann für ihren Kinderwunsch, gerät in Konkurrenz mit ihrer Mutter und trifft am Ende – ihren Ex-Mann bei einem im Netz verabredeten Rendezvous im Regen.
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durch David Bowie (1972), sie können aber auch ein Eigenleben entwickeln wie Krok oder Fraktus, die fiktive deutsche Techno-Band, deren angebliches Revival 2012 in einem Film dargestellt wurde. Die Erfindung von Fraktus geht zurück auf „Studio Braun“, ein Trio aus ROCKO SCHAMONI (*1966, eigentlich Tobias Albrecht), JACQUES PALMINGER (*1964, eigentlich Heinrich Ebber) und HEINZ STRUNK, von dem bereits die Rede war. Mit Mutter Tourette und ihre Kinder (WDR 2006) – die Brecht-Reminiszenz dürfte kein Zufall sein – versuchten sich die Medienprofis Schamoni und Palminger an einem Hörspiel, mit irrealer Handlung, aber voller Anspielungen, die von antiken Mythen über die Weltkriege bis zu Konflikten der Obrigkeit mit der HausbesetzerSzene reichen. Das Stück umfasst mehrere Ebenen: 1. Die Musik, verträumte Songs im Reggae-Stil, gesungen von Frauen, der wichtigste heißt Babylon Must Fall. 2. Diskussionen im Studio: Die Autoren sprechen selbst die Rollen der Regisseure, die jeden Protest der DarstellerInnen an ihren Ideen autoritär unterbinden: „Das is keine Idee, das is einfach ’n Hörspiel und wir sind die Chefs.“ 3. Ein Sprecher (Dietmar Mues) schildert mit brummiger Verschwörerstimme die Szenerie. 4. Die eigentlichen Szenen, Figurengespräche, im Hintergrund Vogelgezwitscher, 5. Stimme des Vaters, gedämpfter Kriegslärm. Ort der Handlung ist ein einsamer Bauernhof in der Holsteinischen Schweiz, wo eine seltsame WG aus Nodger, dem einzigen Mann, und drei amazonenhaften Frauen eine Hanfplantage betreiben, die Nodger gegen einen irgendwann angreifenden Polizei-Hubschrauber verteidigen soll. Mit Nachtwachen und Folter bereiten sie ihn auf seine Aufgabe vor. Während er sich an der Flak wach zu halten versucht, erscheint ihm die brummige Stimme seines Vaters, erinnert ihn an seinen Großvater, der im selben Schützengraben saß wie er, und ermuntert ihn zum Durchhalten. Das schafft Nodger allerdings nie, weil ihn zuvor eine der Amazonen ‚mit den Waffen einer Frau‘ vom Schlafen abgehalten hat. Dafür muss er ausgepeitscht werden. Die folgende Diskussion erinnert an die RAF-Parolen vom bewaffneten GuerillaKampf. Hierauf wird der Gepeinigte mit Salbe versorgt und alle vier steigen in ein warmes Bad, was der Sprecher raunend im Stil eines Märchen-Onkels ausmalt. Die gewalttätigen Amazonen sind zu zärtlichen Kätzchen geworden, die Szenerie hat sich zur lustvollen Männerphantasie gewandelt. Sie findet ihre Fortsetzung vor der nächsten Nachtwache, als Nodger wieder verführt wird, die Amazone allerdings protestiert, als sie „Slurp“ sagen soll. Palminger macht vor, wie es klingen soll, es entsteht ein Streit, der durch ein Ensemble-Gespräch mit Sekt beigelegt wird. Im Stuhlkreis wird „eine klassische Supervisions-Atmosphäre erzeugt“, dazu hört man stark verhallte Reggae-Musik mit Blubb-Geräuschen. Abrupt geht es weiter im Text, die Amazonen formulieren ihr Programm: „Wir müssen ihn lieben und wir müssen ihn brechen.“ Noch einmal verführen sie ihn,
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bevor er den Polizeihubschrauber abschießt. Die Frauen verprügeln den notgelandeten Piloten zur Strafe dafür, dass er als Polizeihauptwachtmeister in Neumünster zwei Punks namens Rocko und Jacques aus einem besetzten Haus getrieben hat. Mit dem Song Polizeihubschrauber suchen uns von oben endet das Stück, das die großen Themen Gewalt und Liebe in einer bittersüßen Mélange zum Schlürfen („Slurp“) anbietet. Es kann als Gute-Nacht-Geschichte für Männer gehört werden und könnte von Palminger als Fortsetzung eines früheren Genie-Streichs gedacht sein: Einschlafgeschichten für Männer aus der Sammlung Jacques Palminger (WDR 2002). Die surrealistischen Geschichten faszinieren durch den Kontrast zwischen einschläferndem Sprechgestus der Vorlesenden, ergänzt durch dazu passende Zwischenmusiken, und der drastischen Sprache, die überwiegend um verschiedene Spielarten der Sexualität kreist. Auf den ersten Blick ist das Hörspiel STRIPPED. Ein Leben in Kontoauszügen (WDR 2004) von STEFAN WEIGL (*1962), enthalten in der WDR-Edition Lauschangriff (vgl. Kap. 2) und prämiert mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden 2004, ein Gegenmodell zu den dargestellten Mimikry-Phänomenen. Allerdings müsste man von dem die Musik beisteuernden Elektronik-Duo Holosud absehen, das aus den Musikern Schlammpeitziger und F.X. Randomiz (bürgerlich: Jo Zimmermann und Felix Höfler) besteht. Ihr Elektro-Pop, der immer dann gespielt wird, wenn die einem ‚Stefan Weigl‘ zugeschriebenen Buchungen auf Konto-Auszügen vorgelesen werden, rückt den in Zahlen gespiegelten Balanceakt am Rande des finanziellen Abgrunds in die Sphäre des unernsten Lifestyles. Neben den Konto-Auszügen gibt es zwei weitere Textebenen: die Briefe der Banken, die zu unterteilen sind in Werbebriefe und Mahnungen wegen Überziehung des Kontos, und die Darlegungen des Wirtschaftsjournalisten Wolf Lotter, der den Mangel an ökonomischer Bildung in Deutschland ebenso kritisiert wie den Niedergang des Industriekapitalismus und die von ihm so genannte „Taschengeldgesellschaft“. Die in Wirtschaftsfragen ahnungslose Gesellschaft glaube immer noch, der Staat und die Banken wollten ihr Bestes, ließen sich entmündigen und gäben sich mit einem Taschengeld zufrieden. Bezieht Weigl diese Kritik auf sich, wenn er aufdeckt, dass er sich ständig im Bereich des überteuerten Dispo-Kredits bewegt und schließlich einen Kreditvertrag zu horrenden Konditionen unterschreibt, den er letztlich nicht bedienen kann? Zudem fragt sich der aufmerksame Hörer vor allem am Anfang des Hörspiels, weshalb jemand mit sehr geringen Einnahmen einen Versace-Mantel braucht, Weihnachten in Palma de Mallorca verbringen und irrwitzige Beträge für Bücher ausgeben muss. Er überlegt, ob es nicht kostengünstigere Möglichkeiten gibt, sich fit zu halten, als durch eine Mitgliedschaft in Twenty-four-hours-Fitness. Nicht nur diese Ausgabenposten, sondern auch Werbebriefe, die auf den „Anlagehorizont“ des nahezu insolventen Kunden zielen, geben dem Stück eine irreale Note.
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Andererseits sendet das Hörspiel zahlreiche Authentizitätssignale aus: Jedem wird einleuchten, dass ein Autor Mitglied des Vereins deutscher Drehbuchautoren ist und dafür Mitgliedsbeiträge abgebucht werden oder dass er sich bei der Berlinale kostenpflichtig akkreditieren lässt. Die Bankbriefe sind an den sehr geehrten Herrn Weigl gerichtet und werden, ebenso wie Wolf Lotters Ausführungen, ohne Hintergrundmusik vorgelesen. Im Text des WDR zum Hörspiel werden die Reden Lotters als „Breaks“ bezeichnet (vgl. das Begleitheft zu Lauschangriff). „Ein Mensch zieht sich aus – und alle hören zu“, heißt es dort außerdem, nur dass, wie beim Striptease, nicht der ‚wahre Mensch‘ in seiner Nacktheit zum Vorschein kommt, sondern eine vielfach modellierte Nacktheit. Falls Weigl sich durch die Enthüllung seiner wirklichen Kontoauszüge entblößt, was niemand genau weiß, zumal die Präsentation durch fugenhafte Engführungen und Überlagerung von Stimmen immer unverständlicher wird, lernt der Hörer aus dem Stück, dass es auch nach dem finanziellen Herztod durch Sperrung des Kontos weitergegangen sein muss. Das heißt, es muss dem Autor möglich gewesen sein, auf Reset zu drücken und einen neuen Versuch zu starten. Weigls Hörspiele zeigen, dass die Kategorien der Echtheit, Wahrhaftigkeit, Authentizität auf Aussagen über Lebensentwürfe und -geschichten im Zeitalter der Popkultur nicht anwendbar sind. Alles ist gespielt, alles und alle existieren doppelt, mindestens als Mensch und als Verbraucher und als digitale Wesen in ihren Medien-Accounts und als Fans von irgendwem oder irgendetwas. Im Erfinden von Konstellationen, in denen diese Selbstverhältnisse wirksam werden, ist Weigl durchaus originell. In dem Hörspiel Pimp My Aufsatz (SWR 2007) wird behauptet, dass die Ladies nur diejenigen Typen cool, finden, die in der Schule besonders hippe dialektische Erörterungsaufsätze schreiben. Dem Protagonisten Andreas ist das mit seinem Aufsatz zum – nicht zufällig gewählten – Thema ‚Schönheitsoperationen‘ nicht gelungen. Sein schülertypischer Verlegenheitstext voller Floskeln und Wiederholungen wird ab und zu zitiert und abqualifiziert. Daher bieten sich die NeckarCoastGhostwriters an, seinen Aufsatz zu pimpen, und sie machen das nach allen Regeln der postmodernen Kunst, indem sie zunächst die schwer lesbare Handschrift von Robbie Williams nutzen, um dem Aufsatz ein interessantes Aussehen zu geben. Dann kopieren sie diverse Theoriebausteine, darunter vor allem Foucault und etwas Luhmann hinein, umgehen die Gefahr des Entdecktwerdens durch Plagiatssoftware, indem sie den Text umformatieren, perfektionieren die Rechtschreibung und würzen das Ganze mit einem chinesischen Sprichwort (das sie erfunden haben), denn: „Darauf stehen alle Deutschlehrer.“ Das Ergebnis für Andreas lautet: „Früher war ich ’n Hänger, jetzt bin ich der King.“ Andreas’ Entwicklung spiegelt sich in der Popmusik, die neben den durchweg im Jugendjargon gehaltenen und betont lässig artikulierten Texten die zweite Zeichenebene bildet. Mit I’m a loser, baby, so why don’t you kill me (Beck) über Turn it into something special (Sasha) bis zu Mr. Boombastic (Shaggy) wird Andreas’ Aufstieg durch Popsongs illustriert.
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Dazwischen geben tanzbare Technotracks, Rap-Elemente sowie O-Ton aus den Adventures of Superman dem Pophörspiel Schwung. Auf der Geräuschebene hört man vor allem das Klappern einer Computertastatur, das dem Rhythmus der Tanzmusik folgt – oder ihn ihr vorzugeben scheint. Wegen des Jargons und der jugendlichen Sprecher könnte es sich um ein speziell an die Jugend gerichtetes Hörspiel handeln.30 Die zahlreichen Anspielungen auf zeitgenössische Theoriediskurse machen es aber auch für Erwachsene interessant: als Rundumschlag gegen intellektuelle Moden und damit verbundenen Etikettenschwindel. Um falsche Etikettierungen in einer Scheinwelt geht es auch in Weigls tragikomischem Stück Moment, das wird Sie interessieren! (WDR 2008), dessen Thema, der Wahnsinn der Servicelines und Callcenter-Kommunikation, satirisch auf die Spitze getrieben wird. Weigl gewann damit den Hörspielpreis der ARD 2009. Die Musik, die die ganze Zeit leise mitläuft, lieferten wieder Holosud. Reini, gesprochen von Boris Aljinovic, will nichts weiter als seinen Account kündigen. Als er nach längerer Warteschleifenmusik und dem Befolgen von Anweisungen automatisierter Ansagen schließlich durchkommt, verwickelt ihn der Kundenbetreuer, der sich Günther Jauch nennt, in ein zunehmend ins Absurde abgleitendes Gespräch, das seinen Realitätsgehalt schließlich nur noch aus der Wut und steigenden Verzweiflung des Kunden und der Kommunikationsstrategie des geschulten Callcenter-Mannes bezieht. Am häufigsten wiederholt er die Floskel „Das ist überhaupt gar kein Problem“, tippt rasch etwas in den Computer, tut aber nicht das, was der Kunde will, obwohl er dessen Worte ständig wiederholt, sondern preist ein Rundum-Sorglos-Paket an, zu dessen unausweichlichem Kauf am Ende eine Frauenstimme gratuliert. Vorher hat sich der freundliche Gesprächspartner als Pradesh Singh geoutet, dessen Aufenthaltsort irgendwo auf der Welt sein kann. Weigl nimmt die Thesen des Ökonomen Wolf Lotter wieder auf. Die angeblichen Dienstleister geben vor, das Beste ihrer Kunden zu wollen, sind aber nur darauf aus, sie zu entmündigen. Das Hörspiel führt vor, wie schwer es ist, dieser Entmündigung zu entgehen, und lässt keinen Ausweg aus dem Gefängnis zyklischer Kommunikation erkennen. Nebenbei wird aufgedeckt, dass der Anbieter aus den gespeicherten Daten der Internetbewegungen die Gewohnheiten seiner Kunden längst erschlossen und die Angebote derart passgenau darauf abgestimmt hat, dass eine Ablehnung schon aus diesem Grund unmöglich ist. Obwohl dieser Telefondialog und seine akustischen Zutaten einen hohen Wiedererkennungswert haben und auf Missstände unserer zunehmend von Medien und Datentransfer bestimmten Ökonomie hinweisen, handelt es sich nicht um ein Thesenstück, sondern um ein auf die Spitze getriebenes Sprachspiel, bei dem das Hörvergnügen nicht zu kurz kommt. 30 Derselbe Eindruck entsteht auch bei dem Hörspiel Party Zone (SFB/HR 1994) von MICHAEL
ESSER (*1955), in dem ein ziemlich missglücktes Party-Wochenende einiger Ju-
gendlicher dargestellt wird.
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Ist also Lifestyle nichts als Fremdsteuerung durch Geschäftemacher, die mithilfe der modernen Medien ihre Ausbeutungsmechanismen perfektionieren? Objektiv mag das zutreffen, aber subjektiv gibt es immer wieder Gegenmodelle, auch wenn viele von ihnen inzwischen im Loop ablaufen, was durchaus kritisch gesehen werden kann (vgl. z.B. Diederichsen, zit. In Kap. 2). Ein Beispiel ist der große On-TheRoad-Traum, dem einige Pophörspiele gewidmet sind, ein Mythos spätestens seit Jack Kerouac. Als Road-Movie fürs Radio bezeichnet CHRISTIAN SCHOLZ (*1951) sein als Feature gesendetes Stück My American Dream (SFB/ORB 1998), das aufgrund von Sprache, Schnitt und Montage die künstlerischen Kriterien eines (Pop-)Hörspiels erfüllt. Hörbar gemacht wird „der Traum, mit Musik durch den kinematographisch anmutenden Raum Amerikas zu gleiten“ [Zitat am Anfang des Stücks]. Dabei wird auf eine fiktive Handlung verzichtet. Eingebettet in (amerikanische) O-Töne und viel Musik, wechselt der Bericht eines Sprechers mit einer weiblichen Gegenstimme, die mit skeptischen Einwürfen und Fragen nie dominant wird. Indem es heißt, die Musik wolle immer irgendwohin, wo Amerika noch nicht sei, wird der amerikanische Traum als solcher kritisch reflektiert, ohne dass er von seiner Faszination etwas einbüßt. Wie in Tom Nogas Hörspiel L.A. Blues (WDR 2013), in dem der ‚Mythos L.A.‘ mit der oft tristen Wirklichkeit von Los Angeles konfrontiert wird, stellt Scholz das Traumland Amerika dem Strapazenland USA gegenüber. Die Oberhand behalten der scheinbar grenzenlose Raum, durch den der Protagonist sich mit der Bahn und dem Auto bewegt, und die Musik, „die so ist, wie Amerika nie war“. Am Highway No. 1, zwischen Big Sur und Carmel, besiegt ihn der Zauber des Augenblicks. Die Robben am Pazifik übertönen die Höflichkeits- und Freundlichkeitsfloskeln des amerikanischen Alltags. Ähnlich klingt das Hörspiel Hotel California (RBB 2010) von JAN DECKER (*1977), das im Untertitel als Ein akustischer Roadtrip bezeichnet wird. Der Titel verweist sowohl auf den berühmten Hit der Eagles, der auch in Scholz’ American Dream und in Nogas L.A. Blues angespielt wird, als auch auf das Land an der Westküste der USA, in dem die, diesmal fiktive, Handlung spielt. Michael Müller, Reporter einer Tiroler Zeitung, erhält den Auftrag, eine Reportage über Österreicher in Hollywood zu schreiben. Er nutzt die Reise für eine Recherche nach den mysteriösen Umständen des Freitodes seiner Mutter, die starb, als er drei Jahre alt war. Damals hatte sie ein Verhältnis mit dem jetzt in Kalifornien lebenden Österreicher Hans Mauer, den Michael aufsucht. Statt einer Reportage will er nun ein Drehbuch für einen Film schreiben und hört daher während seiner Fahrt auf dem Highway No. 1 einen Ratgeber für Drehbuchschreiber. Auf dem Roadtrip vermischen sich Gegenwart und Vergangenheit, Traum und Wirklichkeit, was durch unterschiedliche akustische Mittel dargestellt wird: Ton eines Schmalfilms aus Michaels früher Kindheit, als die Mutter noch lebte, Halleffekte, ein elektronischer Dauerklang, der
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plötzlich abbricht, verschiedene Geräusch-Atmos, deren wichtigste das Rauschen der Brandung des Pazifiks und das Quietschen der Reifen auf dem Highway sind. Eine Zeitlang verfolgt Michael ein Wohnmobil mit der Aufschrift „Innsbruck“. Es ist das mobile Studio von Radio Innsbruck, the hottest station in California, das die passende Musik spielt: Songs von Joni Mitchell, Lieblingssängerin der Mutter, Surfmusik von den Beach Boys und vor allem das unvermeidliche Hotel California. Ab und zu taucht ein Surfer auf, der am Ende Michael sagt, was er aus seiner Reise machen kann: „You can be what you wanna be. Be yourself. Write a story about it.“ [47:40] Der Traum, ganz man selbst und frei zu sein, scheint sogar im scheiternden Roadtrip noch auf. In dem Hörspiel Alter Ford Escort dunkelblau (MDR 2008) nach dem gleichnamigen Theaterstück von DIRK LAUCKE (*1982) lässt Schorse, animiert von AC/DC-Musik, die Arbeit auf dem Getränkehof hinter sich und will mit zwei Freunden und seinem entführten Sohn, für den er kein Sorgerecht mehr hat, in einem alten Ford Escort nach Legoland in Dänemark fahren. Es kommt zu Konflikten zwischen den dreien, der Sohn erstickt beinahe im Kofferraum, das Auto streikt und am Ende landen alle wieder in ihrer alten Misere. Stark fühlt sich Schorse nur, wenn er an sein Idol Angus Young denkt, der ihm einmal bei einem Konzert die Hand gegeben hat, aber wenn er so wild zu sein versucht wie sein Vorbild, schadet er immer nur sich selbst. Der Trip ist gedacht als Vorschein der erträumten Fahrt auf der Route 66, die vermutlich nie stattfinden wird. Ein Roadtrip kann Ausdruck von Eskapismus, Selbstfindungsprojekt oder unerfüllter Traum sein. Bei CHARLOTTE KNOTHE (*1967) wird er zum politischen Fanal. In dem Hörspiel 75 Meilen Grenze (WDR 2008) reist Paul aus Berlin auf der Suche nach seinem verschwundenen Freund Alejandro ins US-amerikanisch-mexikanische Grenzgebiet und wird dort mit dem Elend der Migranten konfrontiert, von denen viele beim Versuch der illegalen Einreise ins Traumland USA ums Leben kommen. Das Hörspiel ist ein Monolog Pauls, gesprochen von Milan Peschel, kombiniert mit O-Tönen in spanischer und englischer Sprache, die Paul wie in einem Selbstgespräch teilweise übersetzt. Hinzu kommt Musik von Viktor Marek und Ronald Henseler aus dem Umkreis des Hamburger Pudel Clubs31, die dem Stück den Charakter eines Pophörspiels gibt. Paul und Alejandro sind DJs, die in New York auflegen. Die Techno-Musik, das Sampling sind keine Hintergrund-Untermalung oder Zwischenmusiken, sondern integrale Bestandteile des Stücks, die mit den Texten der Augenzeugen von der Grenze als Popsongs funktionieren. Paul nimmt an einer Demonstration der Befürworter offener Grenzen und an einer Gegenkundgebung 31 Über diesen Club schrieb Charlotte Knothe das Hörspiel Die Welt ist eine Pudel (WDR 2013).
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amerikanischer Hardliner teil. Deren Parole „We need a wall on the border“ wird mit dem entsprechenden Beat zum Refrain eines Techno-Songs. Das Ganze klingt aus mit einer Scratching- und Cutting-Ballade zur Textzeile „This land’s faces and language will change. You can’t stop that.“ In einem Aufsatz zum Thema ‚Pop und Politik‘ schreibt Detlef Siegfried über den Begriff Lifestyle Politics: „Als Kennzeichen der politischen Kultur postindustrieller Gesellschaften hat Anthony Giddens die gegenseitige Durchdringung von Politik und Lebensstil konstatiert: Die (post-)moderne Lebensweise beinhaltet auch politische Haltungen, die sich in Alltagshandlungen, wie etwa im Konsum oder bei Freizeitaktivitäten, widerspiegeln.“ (Siegfried 2014, 42)32 Diese These ist nicht nur auf das letzte der in diesem Abschnitt beschriebenen Hörspiele anwendbar. Fast alle haben politische Implikationen, von Rainald Goetz’ plakativen Sprachschablonen „mündiger Bürger“ über Kameruns triste Selbstaussagen verunsicherter Zeitgenossen, Weigls ökonomisch grundierte Selbstentblößungen, Petschinkas Chatroom-Rollenspiele, Schamonis und Palmingers feministisch angehauchte Männerphantasien mit Hausbesetzer-Reminiszenzen bis zu Lauckes trister, nur durch Rockmusik und Roadtrip-Träume aufgehellter Sozialstudie. Formal weisen diese Hörspiele nur insofern ein biographisches Organisationsschema ihrer Stoffe auf, als in ihnen Teile von Lebensgeschichten erzählt werden. Es könnte reizvoll sein, die darin gestalteten Splitter von Lebensläufen zu einer Art ModellBiographie des postmodernen Zeitgenossen zusammenzusetzen.
32 Siegfried bezieht sich auf die Studie „Modernity and self-identity“, Cambridge 1991.
10. Literarische Pophörspiele
10.1 H ÖRSPIELE
NACH
T EXTEN VON H EINER M ÜLLER
Bei den Hörspiel-Adaptionen literarischer Texte unterscheidet Huwiler zwischen Übertragung und (medialer) Bearbeitung. Übertragung bedeutet, dass Handlungselemente, Figuren, Schauplätze usw. unverändert in den Hörspieltext übernommen werden. „Um eine Bearbeitung bezüglich der Darstellung handelt es sich, wenn eine narrative Struktur (zum Beispiel eine Figurencharakterisierung) zwar eine Veränderung erfährt, sich aber im gleichen Zeichensystem manifestiert […].“ (Huwiler. 2005, 93) Bei einer medialen Bearbeitung seien die Veränderungen im anderen Zeichensystem des Zielmediums vorgenommen worden. Denkbar sei auch der Fall einer doppelten Bearbeitung, bei der Veränderungen sowohl im Text als auch im anderen Zeichensystem der Adaption zu beobachten seien. Während diese Begriffe für die Analyse durchaus nützlich sind, eignen sie sich typologisch aus mehreren Gründen nicht. Erstens bezeichnen sie sowohl Prozesse als auch deren Resultate, die jeweils als solche beschrieben und untersucht werden können. Zweitens sind realisierte Hörspiele immer mediale Bearbeitungen, bei denen die akustischen Zeichensysteme ihre eigenen Bedeutungen entfalten. Dies gilt sogar für Hörbücher, bei denen Stimme, Intonation, Lautstärke, Dynamik, Artikulation der Sprecher oder Sprecherinnen die Bedeutung des Textes verstärken, modifizieren, konterkarieren können (vgl. dazu Lehmann 2012). Drittens existieren Übertragungen, die zugleich Bearbeitungen sind, und zwar insofern, als die medialen Zeichenträger den möglichen Lesarten des (annähernd) unveränderten Textes eine neue hinzufügen, indem sie ihn interpretieren, neu akzentuieren und dabei sinnlich erfahrbar machen. In Bezug auf die Hörspiele von Heiner Goebbels (*1952) zu Texten von Heiner Müller (1929-1995) spricht Barbara Kordes von „‚performancenahen‘ Inszenierungen, die den Text wiederentdecken“, ihn aber nicht „entliterarisieren“ (Kordes 2009, 248). Zu einem ähnlichen Befund kommt Antje Vowinckel, die die ‚Hörstücke‘ Goebbels’ unter dem Aspekt untersucht, ob es sich um Collagen handelt. In Bezug auf das Hörspiel Die Befreiung des Prometheus stellt sie fest,
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dieses gehe hinsichtlich des kritischen Umgangs mit der Prometheus-Sage nicht über den Text hinaus. „Die Qualität des Stückes liegt [...] viel mehr in seiner Expressivität als in seiner Materialanalyse.“ (Vowinckel 1995, 190) Goebbels selbst stellt die Musik in seinen Hörstücken nicht über, aber auch nicht unter, sondern neben den Text, dessen Ausdrucksmöglichkeiten er durch seine Vertonungen auslotet. Souksengphet-Dachlauer (2010, 23) stützt sich auf dieses Selbstverständnis Goebbelsʼ und verwendet dessen Bezeichnung „Hörstück“ als „Kategorie des gegenwärtigen Hörspiels, in der Sprache, Klang und Musik konsequent als gleichwertige Informationen fungieren“. Zur Analyse der Hörstücke von Müller / Goebbels liegen bereits eingehende Studien vor,1 sodass sich eine Wiederholung an dieser Stelle erübrigt. Gefragt werden soll nur, ob bei diesen Stücken von Pophörspielen die Rede sein kann, obwohl das Figur-Grund-Verhältnis, wie es Manfred Maurach für die Popkunst beschrieben hat (vgl. Kap 4), hier offenbar nicht zu beobachten ist. Hört man zum ersten Mal das 1986 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnete Hörstück Die Befreiung des Prometheus (HR/SWF 1985), so hat man jedenfalls nicht den Eindruck, dass damit das „Vergnügen an banalen Gegenständen“ geweckt werden soll, vielmehr wirkt das 45 Minuten dauernde Klangereignis überaus komplex und verwirrend. Dies liegt einerseits an der Textcollage selbst, in der vordergründig Disparates zusammengefügt wird, das zudem ohne Bildungshintergrund nur schwer verständlich ist. Der eine Haupttext ist die in Müllers Theaterstück Zement eingefügte Fassung des Prometheus-Mythos (Werke 4, 2001, 404-406), der andere ist die IchErzählung vom Mann im Fahrstuhl aus dem Theaterstück Der Auftrag (Werke 5, 2002, 27-33), die mit starken Kürzungen von Otto Sander vorgelesen wird. Hinzu kommen ein Text aus „Traktor“, der den Sisyphos-Mythos erzählt (Werke 4, 499f.), und aus dem Stück Prometheus (Werke 4, 9). Zum zweiten liegt es an der Art der Textpräsentation: Die Texte werden nur passagenweise ‚linear‘ vorgelesen, sonst aber verfremdet durch Zerstückelung, Expansion, Repetition, tastenden Aufbau eines Satzes wie in dem folgenden von Kordes zitierten Beispiel: „Wo ein Hund | wo ein Hundskopf | wo ein Adler | wo ein hundsköpfiger Adler | wo ein hundsköpfiger Adler | täglich von seiner Leber | wo ein hundsköpfiger Adler täglich von seiner immerwachsenden Leber aß aß“ (Kordes 2009, 159). Drittens wird der Rezipient durch die Performanz des Textvortrags irritiert, der wegen der sehr unterschiedlichen Vortragenden eine große Varianz aufweist: Teile werden von einem Kind (Goebbels’ Sohn Jacob), andere von einem professionellen Schauspieler (Sander) oder einer Schauspielerin (Angela Schanelec), weitere von Heiner Müller selbst, wieder andere von einem Sänger (Walter Raffeiner) rezitiert, 1
Zu verweisen ist vor allem auf diejenige von Barbara Kordes (2009) und die von Anna Souksengphet-Dachlauer (2010).
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gesungen, geschrien. Die Stimmen können elektronisch verfremdet sein, die Melodieführung des Gesangs erinnert manchmal an Arien aus atonalen modernen Opern. Der Text kann auch mehrstimmig erklingen oder parasprachlich durch Husten, Verschlucken, Würgen, Versprecher zugedeckt werden [32:30ff.]. Viertens ist selten nur eine Klangebene zu hören, sondern es überlagern sich mehrere, wobei vor allem die Musik oft eine verfremdende Wirkung hat. Immer wenn Heiner Müller selbst spricht, hört man als irritierende Begleitung Blasmusik. Der sachliche, emotionslose Vortrag des Textabschnitts „Heimweh nach dem Fahrstuhl“ durch Sander [ab 24:57] wird anfangs vereinzelt durch einen Pulston oder durch die aus Bild 1 schon bekannte aufheulende E-Gitarre, später durch Samples aus anderen Teilen des Stücks unterbrochen, bis der Text abbricht und ein Rock ’n’ Roll-Sample einsetzt, das verschiedene stimmliche und musikalische Klangereignisse begleitet. Es könnte sich um den Anfang des Summertime Blues handeln, verkürzt um die Gitarren-Kadenz, auf die man vergeblich wartet. Die unregelmäßigen, an Häufigkeit zunehmenden Unterbrechungen des Erzählflusses sind ein gutes Beispiel für Goebbels’ Auffassung von „Puls und Bruch“ bzw. Metrum und Rhythmus (vgl. dazu Kordes 2009, 122-125). Demnach entsteht die Spannung eines Hörstücks aus rhythmischen Verschiebungen und Verlängerungen, die den regelmäßigen Schlag des Metrums stören und dadurch den Text oder die Musik interessant machen. Dass dieses Spannungsverhältnis schon die Texte Müllers auszeichnet, macht sie für Goebbels zu reizvollen Vorlagen seiner Vertonungen. Die Befreiung des Prometheus beginnt mit einem regelmäßigen Pulston, über den sich der Text und verschiedene andere Klänge legen, die die Regelmäßigkeit stören, bis der zitierte Satz über den „hundsköpfigen Adler“ stockend aufgebaut wird wie bei der nach Kleist sprichwörtlich gewordenen „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Später [ab 16:20] setzt ein Synthesizer-Sample ein, das an eine Figur aus der Minimal Music erinnert und unzählige Male wiederholt wird, während immer mehr Störelemente hörbar werden, z.B. gezogene Posaunentöne, die wie Elefantenrufe klingen, oder kurze Free Jazz-artige Trompetenläufe. Das Sample läuft insgesamt sieben Minuten lang weiter, auch als Müller, wieder begleitet von Blasmusik, liest. Hier muss der Hörer sehr aufmerksam sein, um es herauszuhören, jedenfalls bleibt es als „Puls“ erhalten. Den Schluss [ab 38:40] leitet wieder ein Pulston ein, bevor Sander die Erzählung vom Abgang des befreiten Prometheus mit dem Satz einleitet: „Weitere 3000 Jahre dauerte der Abstieg zu den Menschen.“ Den Rest der Geschichte überantwortet Goebbels der Erzählmaschine Hollywoods. Nach bekannten Intros großer Studios (Twentieth Century Fox, Universal) wird die weitere Lesung von einer Collage aus Filmmusik begleitet, bis die Musik allein die Herrschaft übernimmt. Das Ganze endet nur scheinbar mit Beifallsklatschen sowie Zugabe- und vereinzelten Buhrufen wie ein (Pop-)Konzert, denn den allerletzten Satz, der Prometheus’ Scheinsieg darstellt, muss Raffeiner gegen eine Wand von
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Sturmgeräuschen stockend herausschreien: „Prometheus arbeitete sich an den Platz auf der Schulter seines Befreiers zurück und nahm die Haltung des Siegers ein, der auf schweißnassem Gaul dem Jubel der Bevölkerung entgegenreitet.“ (Werke 4, 406). Das beim ersten Hören befremdliche Stück offenbart schon bei der Zweitrezeption viel Bekanntes, aus dem sich zumindest eine Nähe zum Pop ableiten lässt. Wie bereits erwähnt, sieht Maurach das Verfahren der Collage als Berührungspunkt zwischen Pop und ‚experimenteller‘ Kunst an. Antje Vowinckel bezweifelt, allerdings in vorsichtiger Diktion, ob es sich bei dem Hörstück Die Befreiung des Prometheus um eine Collage im engeren Sinn handelt, gesteht aber zu, dass die Bezeichnung „fraglos“ zutrifft, wenn man nur die „materiale Verfahrensweise“ betrachtet (Vowinckel 1995, 189). Ihren Anspruch, dass die Collage eine neue, im Verhältnis zum Ausgangsmaterial kritische Aussage produzieren müsse, erfüllt das Stück ihrer Ansicht nach nicht (s. obiges Zitat). Hier klingt eine Abwertung der „Oberflächen-Ästhetik“ an, die die Pop-Theorie zurückweist (vgl. die in Kap. 4 zusammengefassten Überlegungen Heckens). Auch Maurach schließt sich dieser Abwertung nicht an, sondern ihm ist ‚nur‘ wichtig, dass durch die Collage das „Gestaltergänzungsvermögen“ der Hörer gefordert werden müsse. Dies geschieht durch Prometheus zweifellos, und zwar schon durch die Auswahl der beiden Haupttexte. Eine Verbindung zwischen Prometheus und dem Mann im Fahrstuhl herzustellen ist keineswegs trivial, sondern bedarf einer intellektuellen Anstrengung. Beiden fällt es letztlich schwer sich von der Situation ihrer totalen Unterwerfung zu lösen. Der Mann, der aus dem Kellergeschoss zu seinem Chef (den er in Gedanken immer Nummer Eins nennt) strebt, um wahrscheinlich einen Auftrag entgegenzunehmen, kommt zu einer überraschenden Einsicht, nachdem er in einer unbekannten, abweisenden Landschaft in Peru gestrandet ist: „Nie hätte ich gedacht […], daß ich Heimweh nach meinem Fahrstuhl empfinden könnte, der mein Gefängnis war.“ (Werke 5, 31) Und Prometheus verteidigt seine Ketten gegen den Befreier. Diese verstörende psychische Disposition beider Figuren bildet Goebbels in seinem, wie gezeigt, mit vielen Brüchen angereicherten Hörstück klanglich ab. Dabei nutzt er nicht ausschließlich, aber unter anderen solche Instrumente und Verfahren, die aus der Popmusik bekannt sind: E-Gitarre, Synthesizer, Sampling, Collage. Die Funktion des Samplings für Goebbels im Umgang mit Müllers Texten lässt sich so beschreiben: „Dabei handelt es sich um eine Methodik, die Müllers Zitattechnik bzw. Intertextualität stark ähnelt und hier mittels eines technischen Instruments verwirklicht und auf die Musik übertragen wird.“ (Kordes 2009, 102) Zum Verhältnis von Text und Musik allgemein resümiert Souksengphet-Dachlauer: „Die Textebene wird im Hörstück nicht interpretierend dargestellt, sondern als rhythmische Sprachfläche ausgebreitet, die von Geräuschen und Musik teils bereichert, teils dominiert wird.“ (2010, 131)
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Nach Verkommenes Ufer (HR 1984) war Die Befreiung des Prometheus die zweite Produktion, bei der beide Künstler zusammenarbeiteten. Nach dem documentaProjekt MAeLSTROMSÜDPOL von 1987 folgten zwei weitere Ende der 1980er Jahre, davon nahm die erste den zweiten Haupttext aus Prometheus wieder auf: Der Mann im Fahrstuhl, aufgenommen im März 1988 für das ECM-Label mit den renommierten Jazz-Musikern Don Cherry (tp), Fred Frith (g), George Lewis (tb), Ned Rothenburg (sax), Charles Hayward (dr). Der Text wird, zweisprachig2, auf drei Stimmen verteilt, nämlich die von Ernst Stötzner, Heiner Müller und Arto Lindsay. Der Jazz-Kritiker Bert Noglik schrieb zu diesem Stück: „Mit dem Scharfsinn für die Steigerung des Literarischen durch Musik, demgegenüber herkömmliche Jazz- und Lyrik-Kopplungen wie blasse Schülerversuche anmuten, vor allem aber mit einem Gespür für die Brisanz der MüIlerschen Botschaften gelang Heiner Goebbels schier Atemberaubendes: das Abschalten von Gleichgültigkeit und das Treffen des Nervs individueller gleich sozialer Existenz – hier wie anderswo. Müllers Text ist gedanklich vieldimensional angelegt. Heiner Goebbels gelang es, dazu musikalische Bilder zu entwerfen, die nicht illustrieren, sich vielmehr assoziationsreich mit dem Gesagten verknüpfen, bis hin in Bereiche des so mit Sprache nicht Sagbaren führen.“ (Zit. n. ARD Hörspieldatenbank, Hervorhebung G.R.)
Welches den Text Müllers bestimmende Konzept wird durch Goebbels’ Musik gesteigert, vielleicht für manchen Hörer erst erkennbar gemacht? Bevor diese Frage beantwortet wird, muss klargestellt werden, dass es zwar plausibel begründete, aber nicht unumstößlich richtige Aussagen über Konzepte in Erzählungen geben kann, weil es sich dabei um Interpretationen handelt. Aus der Verbindung von Geschehen und Konzepten entstehen Geschichten, die sich als sinnerfülltes Geschehen bestimmen lassen. Die Vieldeutigkeit der literarischen Erzählungen liegt darin, dass sich in ihnen unterschiedliche Konzepte entdecken lassen, dass also unterschiedliche Sinnbestimmungen möglich sind. Im Fall von Der Mann im Fahrstuhl ergibt sich eine Interpretationsmöglichkeit daraus, dass diese Prosaerzählung in das Theaterstück Der Auftrag (zuerst veröffentlicht 1979) eingebettet ist. In seiner Funktion ist sie vergleichbar mit Lessings Ringparabel in Nathan der Weise oder mit der Parabel Vor dem Gesetz in Kafkas Roman Der Prozess. Die jeweilige Kernbotschaft des Dramas und des Romans ist in den Binnentexten aufgehoben und erschließt sich aus der wechselseitigen Erhellung jeweils beider. Bei Müllers Der Auftrag handelt es sich um ein Revolutionsstück, das in der Karibik spielt, also um eine historisch klar bestimmbare Handlung. Hingegen spielt die Geschichte vom Mann im Fahrstuhl in einer unbestimmten Zeit, die allerdings 2
Hinzu kommen zwei brasilianische Lieder, deren Text nicht von Heiner Müller stammt. Arto Lindsay singt sie auf Portugiesisch.
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dadurch eingegrenzt ist, dass es schon Fahrstühle gibt und dass Angestellte Krawatten tragen, dass wir uns also im 20. und nicht im späten 18. Jahrhundert befinden. Zum Schauplatz gibt es außer der Nennung des Fahrstuhls und des zugehörigen mehrstöckigen Bürohauses nur den Ländernamen ‚Peru‘, der offenbar als Chiffre für ein unbekanntes, potentiell gefährliches Land gemeint ist. Christian Klein deutet den Zusammenhang zwischen der parabolischen Binnengeschichte und dem Theaterstück so: „Im Unterschied zu Kafkas Parabel Kaiserliche Botschaft, wo sich die Entfernung zwischen dem Kaiser und dem Boten durch Häufung geographischer Hindernisse zu einer existentiellen Metaphorik steigert, thematisiert das Versagen des Angestellten die hierarchisch geordnete Bürokratie eines erstarrten Systems und die Diskrepanz zwischen der Zeit des weißen Subjektes und der Zeit der Geschichte im Rahmen einer Konfrontation Europas mit der Dritten Welt.“ (Klein 2003, 192)
Für den Vergleich bietet sich aber noch eine andere Kafka-Parabel an, wenn man Müllers Prosatext aus dem Kontext des Theaterstücks herauslöst und für sich als eine Geschichte über den Zerfall unserer Zeitvorstellungen liest. In der kurzen Parabel Gib’s auf! heißt es: „Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, daß es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich mußte mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden“ usw. Eben dieses Erlebnis hat der Mann im Fahrstuhl. Als er zum zweiten Mal auf die Uhr sieht, ist es plötzlich später, als er geglaubt hat, was ihn zu der Einsicht bringt: „[M]it der wahren Pünktlichkeit ist es vorbei, die Zeit arbeitet nicht mehr für mich.“ (Werke 5, 28) Wie Kafkas Ich-Erzähler ist er sich nun des Wegs unsicher, weiß nicht mehr, in welcher Etage sich der Chef befindet, der ihn (wahrscheinlich) erwartet. Der Zerfall des Zeitbegriffs liefert Goebbels den Ansatz für seine musikalische Interpretation des Textes, den er zeitlich versetzt in den Sprachen Deutsch und Englisch singen und rezitieren lässt. Als Achse dieser Vorträge erscheint ein Satz, den Müller in Versalien setzt: FÜNF MINUTEN VOR DER ZEIT / IST DIE WAHRE PÜNKTLICHKEIT. Mit dieser Maxime glaubt der Angestellte alles im Griff zu haben und verrät zugleich, wie sehr andere ihn im Griff haben. Goebbels vertont diesen Satz in Titel 3 als eingängigen Popsong zwischen Rock und Funkjazz, wobei Arto Lindsay den Satz mehrmals auf Englisch singt: FIVE MINUTES TOO EARLY WOULD BE / WHAT I’D CALL TRUE PUNCTUALITY –, während Stötzner im Hintergrund auf Deutsch mit langen Pausen die Sätze über den Zeitzerfall und damit über das Selbstkonzept des Angestellten vorliest. Auch der englisch gesungene Satz, der sich bestens als Refrain eignet, wird beim ersten Mal durch Pausen unterbrochen, die eine Spur zu lang erscheinen. Vor allem gilt das für die Pause bei der Zäsur.
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Interessant wird der Doppelvortrag auch durch den Gegensatz der Stimmen: diejenige Arto Lindsays gilt als besonders sanft3, während die tiefe Stimme Stötzners metallisch hart klingt. In Titel 6, als es für die „wahre Pünktlichkeit“ schon zu spät ist, ruft Stötzner den Satz mit einer dynamisch sich steigernden Rockbegleitung mehrmals aus, während hier Lindsay im Hintergrund ausspricht, „that it’s too late even for basic punctuality“. Dieses Rockstück bricht in die Stimmung ein, die durch das davor von Lindsay gesungenen brasilianische Lied No taboleiro de baiana erzeugt wurde, eine Art Atempause vor der Wahrnehmung der Katastrophe. Nach dem wild bewegten Titel 10, in dem es um den vorgestellten Selbstmord des Chefs geht, folgt ein weiteres brasilianisches Stück: Fita nos meus olhos, zuerst nur mit Gitarren-, später zusätzlich mit Synthesizerbegleitung, wieder eine Pause zum Atemholen, nach der es noch wilder mit splitternden Gitarrenklängen weitergeht, als der Mann auf einer Dorfstraße in Peru völlig die Orientierung verliert. Titel 14 Mitleid in Peru ist ein Instrumentalstück mit einer als Puls durchlaufenden, in einer Schleife sich wiederholenden Gitarrenfigur und unregelmäßigen, verstörenden Geräuschen, Klängen, Tönen verschiedener Instrumente; überraschenderweise klingt dieses Stück mit dem ‚Achsensatz‘ FIVE MINUTES usw. aus. Musikalisch wiederum im starken Gegensatz zueinander stehen Titel 17 Kalter Schweiß mit doppeltem, versetzten Textvortrag Stötzners und Titel 18, dem von Lindsay gesungenen, sehr ruhigen Lied Something like serenity, das allerdings vom Text her eine trügerische Idylle ausdrückt: Dem dahinschlendernden Mann kommt ein Hund entgegen, der in der Schnauze eine verbrannte Hand trägt. Als der Mann nach einer Frau die Arme ausstreckt, wird der Traum mit dem von Lindsay wiederholt gesprochenen Satz THIS WOMAN IS THE WIFE OF A MAN beendet. Hierauf schreit Stötzner diesen Satz auf Deutsch, was von Don Cherry’s scharfen, hohen, gezogenen Trompetentönen unterstrichen wird. Letztere wechseln dann mit Heiner Müllers Lesung des Schlusses, an der schließlich die beiden anderen Stimmen mit früheren Textstücken beteiligt werden, begleitet von Störgeräuschen, kurzen Läufen verschiedener Instrumente, wechselnden Drumbeats und vor allem einer durchgehaltenen „Sekundreibung“ im Keyboard (Kordes 2009, 220). Die Verunsicherung des Mannes bis zur Ich-Auflösung kulminiert in den von Stötzner gerufenen, von Lindsay auf Englisch wiederholten Sätzen: „Bin ich nicht einmal ein Messer wert […] Worin besteht mein Verbrechen.“ Der Zeitzerfall, der zum Ich-Zerfall geworden ist, bestimmt Goebbels’ musikalische Lesart des Textes, mit der er wieder seine grundlegende Auffassung von der notwendigen Spannung zwischen „Puls und Bruch“ verwirklicht. Literarisch 3
Darauf verweist sogar Wikipedia, neben dem Hinweis auf sein „oft lärmiges, akkordfreies, autodidaktisch angeeignetes Gitarrenspiel“. Dieses nutzt Goebbels auch in seiner Vertonung (z.B. vermutlich in Titel 12), jedoch klingt auch Fred Friths Gitarrenspiel oft sehr sperrig, sodass beide schwer auseinander zu halten sind.
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gesehen besteht eine Spannung zwischen Inhalt und sprachlicher Form, denn diese ist eher im Sinne des „Pulses“ mit meist gleichmäßig kurzen syntaktischen Einheiten strukturiert, was Müller durch seinen monotonen, leicht stockenden Vortrag ausdrückt. Durch die Musik kann die Form-Inhalt-Spannung hörbar gemacht werden. Regelmäßige Beats oder Loops treten in ein Spannungsverhältnis zu wechselnden Taktarten und synkopischen Rhythmen Und ein weiteres Spannungsmoment wird durch verschiedene Musikstile und den Wechsel von eingängigen Harmonien und „schrägen“ Klängen sowie verstörenden Geräuschen erzeugt. Zusammenfassend kann die Komposition so charakterisiert werden: „Goebbels hat als musikalische Fläche hier eine Mischung aus ‚Rock-, Jazz- und Noise-Art-Elementen‘ komponiert, welche die gesamte Inszenierung stärker dominiert als dies bei den anderen Vertonungen der Fall ist.“ (Kordes 2009, 208; das Binnenzitat stammt von Achim Heidenreich) Im Opus magnum der beiden Künstler, dem 84minütigen Zyklus Wolokolamsker Chaussee I-V (SWF/BR 1989) verbinden sich Speedmetal, Hip-Hop- und FolkElemente mit klassischer Musik, insbesondere mit Schostakowitschs 7., der ‚Leningrader‘ Symphonie. Die Intention, die Goebbels mit diesem Zyklus verfolgt, beschreibt Kordes so: „Um eben wieder mittels der Musik weitergehende ‚kollektive Lesarten‘ und neue Erfahrungen mit und an dem Text hervorzubringen, ist es Goebbels ein Bedürfnis, mithilfe dieser populären, von der Sinphonie [sic] abgesehen, trivialen Musik einen ‚westlichen‘ Zugang zu den ‚fünf Lehrstücken über Vorgeschichte und Identitätskonflikte der DDR‘ zu schaffen.“ (ebd., 222; das Binnenzitat stammt von Hans-Thies Lehmann) Die Bewertung der Musik als „trivial“ bezieht sich vermutlich auf die herkömmliche, gemessen an Maßstäben der Neuen Musik einfache Metrik und Harmonik, wobei hinzuzufügen ist, dass auch Schostakowitsch kein „Neutöner“ war. Goebbels macht mit seiner Musik Wolokolamsker Chaussee zu einem Pophörspiel, was auch im Vergleich mit der 1986/87 in der DDR produzierten Hörspielfassung der beiden ersten Teile Russische Eröffnung und Wald bei Moskau deutlich wird. In dieser Fassung trägt der Schauspieler Klaus Manchen den Text des ersten Teils vor, begleitet nur von einer erst ganz leisen, dann lauter werdenden, dann auch zeitweise verstummenden Handtrommel. Dialog wird durch stereofonische Verteilung der Stimme auf zwei Kanäle dargestellt. Diese asketische Inszenierung macht es möglich, dass der aus Blankversen bestehende Text mit seinen Enjambements und Pausen, die zum Ende hin immer länger werden, einen Sog ausübt, also den Hörer mitzieht und zugleich zur Reflexion einlädt über ein ungeheures Geschehen: Im Wald vor Moskau, bedrängt von den deutschen Truppen, lässt ein sowjetischer Kommandeur einen Soldaten erschießen, der sich durch einen Schuss in die Hand selbst verstümmelt hat. Der Kommandeur sagt „ich“ und nennt sich im selben Atemzug „der Kommandeur“. Der Gewissenskonflikt wird ihn bis zum Sieg über
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die Deutschen begleiten: „Auf unserm Weg von Moskau nach Berlin / Und immer geht der Tote meinen Schritt.“ (Werke 5, 96). Diese Konstellation, in der angesichts der Einkesselung durch deutsche Truppen die Sowjetordnung zu zerfallen droht, wird im zweiten Teil fortgesetzt, wobei der Text jetzt von zwei Schauspielern, teils verdoppelt und versetzt, teils auf zwei Kanäle verteilt, gelesen wird. Es geht um den Konflikt zwischen dem Kommandeur und dem Bataillonsarzt, der den Sanitätszug im Stich gelassen hat. Der Kommandeur, der an seine eigenen Durchhalteparolen nicht mehr glauben kann, degradiert trotzdem Hauptmann Belenkow, den Bataillonsarzt. Er fordert ihn auf, sich die Rangabzeichen selbst abzunehmen. Für die Hörspiel-Fassungen wichtig ist die Formbeschreibung der fünf Stücke: „Formal handelt es sich in allen Teilstücken um episch referierte Szenen, weniger Dramen als erzählte Ereignisfolgen, in komplex verschachtelten Zeit-Perspektiven als ‚Rückblenden‘ dargeboten.“ (Lehmann 2003, 292) Schon die ursprüngliche Sequenz ist also nicht im dramatischen, sondern im narrativen Modus verfasst, allerdings sind Dialoge unmittelbar, d. h. ohne Angabe der Sprecher wie überhaupt ohne jeglichen Nebentext, in die Erzählungen eingefügt. Diese Form wird in den Hörspielen übernommen, sodass diese zwischen dem subjektiv narrativen Typus und dem Bewusstseinsporträt stehen. Die Rollenverteilung wird in der DDR-Fassung entweder durch die Stimmführung eines Sprechers oder durch Verteilung auf zwei Kanäle oder auf zwei Sprecher dargestellt. Goebbels hat durch die Musik zusätzliche Mittel zur Verfügung, er kann zum Beispiel die Expressivität von Textstellen durch die Wahl der Instrumente, durch Wechsel der Tempi oder Harmonien verstärken. Als Einleitungs- und Zwischenmusik nutzt er eine in einer Schleife vervielfältigte, eigentlich nur wenige Sekunden dauernde Figur aus dem 1. Satz der 7. Symphonie von Schostakowitsch: ein Trommelwirbel und ein von den Streichern gezupftes Thema. Es verweist im Sinne einer Programmmusik auf die erste Phase von Hitlers Russland-Feldzug mit der Beinahe-Katastrophe der Roten Armee, um die es auch in Alexander Beks Roman und in den ersten beiden Teilen von Heiner Müllers Zyklus geht. Goebbels Vertonungen dieser beiden ersten Teile stehen in größtmöglichem Gegensatz zueinander, was den musikalischen Ausdruck angeht. Der erste Teil hat insgesamt ein hohes, mehrfach wechselndes Tempo, wird durch die Beats, Wirbel und E-Gitarren der Gruppe Megalomaniax vorangetrieben, die chorisch den Refrain „Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau“ mehrfach in den sonst von Ernst Stötzner mehr geschrienen als vorgetragenen Text einwirft. Puls und Bruch wechseln in diesem Satz ständig und stehen für die Konfliktsituation, in der der Kommandeur eine ihn dauerhaft belastende Entscheidung trifft. Die Frage, ob es angesichts des späteren Siegs der Roten Armee die richtige Entscheidung war, wird weder in Müllers Text noch durch die Musik beantwortet: Der Satz endet mit dem Refrain und dem Knallgeräusch eines Schusses, wie er angefangen hat. Was die Musik dem Hörer vor allem vermittelt, ist das Gefühl, dass
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er in eine Extremsituation geführt worden ist, in der keine Zeit zum Nachdenken bleibt. Das Hörspiel legt deshalb auch nicht nahe, die Überlegungen einer literaturwissenschaftlichen Textinterpretation nachzuvollziehen, die einerseits an Brechts in dem Lehrstück Die Maßnahme durchgespielte Frage erinnert, ob man aus Gründen der Parteitaktik eigene Genossen opfern müsse, und die zum andern darauf aufmerksam macht, dass der Kommandeur durch eine Salve in einen Fluss seine Affekte ebenso abreagiert hat wie der Soldat, sodass die Hinrichtung „eine reflexhafte, blitzschnelle Umdeutung der eigenen Affekthandlung“ sei (Lehmann 2003, 295). Dagegen lädt der zweite Satz durch den sehr ruhigen balladenhaften Duktus mit akustischer Gitarre und langsamem, artikulierten, tief intonierten Textvortrag durch Ernst Stötzner zur Reflexion ein. Eine Steigerung ergibt sich daraus, dass im weiteren Verlauf des Satzes ab und zu E-Gitarren-Riffs und Schlagzeugwirbel scharf dazwischen schlagen, jedoch ohne die Harmonien der akustischen Begleitung im Folk-Stil zu stören. Dann wird das Tempo gesteigert und die Ballade endet in einem fast kitschig anmutenden Chorgesang, an dem auch Stötzner, singend, beteiligt ist. Besungen werden der „sowjetische Wald“ und „Hauptmann Belenkow“, der inkriminierte Bataillonsarzt, der den Sanitätszug im Stich gelassen hat. Es geht um die Frage, ob der Kommandeur, selbst nur Oberleutnant, den Arzt im Rang eines Hauptmanns, der zudem als Akademiker eine höhere Bildung hat, degradieren darf. Des Weiteren geht es darum, ob die Sowjetordnung überhaupt noch stabil ist, nachdem Stalin und seine von ihm zum Kommando Bevollmächtigten die Armee in eine scheinbar ausweglose Situation geführt haben. Darüber hinaus wird klar gestellt, dass im postheroischen Zeitalter ein Kommandeur nicht mehr das Ganze repräsentiert, sondern nur noch ein austauschbarer Funktionsträger ist: „Merkst du jetzt daß du / Auch nur ein Rädchen bist und eine Schraube / In unsrer Sowjetordnung Kommandeur“ (Werke 5, 202). Obwohl er das erkennt, ignoriert er diese Einsicht („ich bin die Sowjetmacht“, ebd., 204) und vollzieht das aus seiner Sicht Notwendige, indem er sagt: „Nehmen Sie Ihre Rangabzeichen ab / Eh ich sie Ihnen von den Schultern reiße“ (ebd., 205). Bei diesen Sätzen schweigt die Musik, bringt dann aber in einem Nachspiel die das ganze Stück durchlaufende, ostinate Begleitfigur zu Ende, als dürfe hier nichts offen bleiben. Barbara Kordes interpretiert die gefällige Musik, insbesondere den „süßlich[en]“ Chorgesang als Ironisierung des Wandels des Kommandeurs „zum erneut patriotischen Kämpfer“ (Kordes 2009, 229). Sie gesteht aber zu, dass dies nur „eine der möglichen Erfahrungen [ist], die an der Vertonung gemacht werden kann“ (ebd., 230). Eine andere ist die einer großen, durch die Musik gesteigerten Melancholie angesichts einer Situation, in der das Richtige eigentlich gar nicht getan werden kann. Das Dilemma des Kommandeurs hat eine existentielle Dimension und geht über das Ausloten von Rechtsbegriffen und Handlungsmöglichkeiten in einer konkreten historischen Situation hinaus. Das macht auch Lehmann deutlich: „In einer starken Passage tritt die Einsamkeit des Handelnden hervor, die aus dem Entzug
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jeder Vergewisserung entsteht und momentweise […] die Vision des rettenden Verschwindens in der anonymen Menge der fragenden Soldaten heraufruft.“ (Lehmann 2003, 295) Die Sehnsucht nach dem „sowjetischen Wald“, der kitschig besungen wird, zum Zeitpunkt der vordringenden Deutschen aber gar nicht existiert, jedenfalls nicht, wenn man das Attribut als Besitztitel auffasst, hat regressive Züge und erinnert an literarische Visionen einer Existenz im Halbdunkel, jenseits der Qualen des Bewusstseins und der Reflexion.4 Diese Deutung wird durch Goebbels’ Musik unterstützt. Die Teile III-V von Wolokolamsker Chaussee durften in der späten DDR nicht inszeniert werden, da sie sich mit heiklen Themen aus der Geschichte des deutschen Arbeiter-und Bauernstaates beschäftigten. Teil III, Das Duell, von Müller als „Fortsetzung“ einer Erzählung von Anna Seghers konzipiert,5 handelt vom 17. Juni 1953. Er beginnt mit den Worten: „Das war im Juni in dem schwarzen Monat / Im fünften Jahr der Republik Den wir / Gestrichen haben aus unserm Kalender“ (Werke 5, 215). Ein Kommunist, jetzt VEB-Direktor, der in der NS-Zeit einem Arbeiter zum Studium verholfen hat, sodass dieser nach dem Krieg sein Stellvertreter werden konnte, sieht sich von diesem, jetzt mit den Aufständischen sympathisierenden, ehemaligen Schützling bedroht. Dieser Mann konnte Mathematik studieren, während er selbst im Zuchthaus der Nazis saß. Wurde das Duell bei Seghers zwischen dem Kommunisten und einem Professor ausgetragen, der dem Arbeiter das Studium nicht zutraute, so findet es jetzt zwischen zwei Parteigenossen statt. Dem VEBDirektor bleibt nun nichts übrig, als – wieder, wie 1945 – auf die sowjetischen Panzer zu hoffen, und als sie kommen, kann er seinen Stellvertreter zu einer Selbstkritik zwingen. Die musikalische Kommentierung dieser Situation ist viel eindeutiger ironisch als in dem Stück Wald bei Moskau. Goebbels setzt einen Männerchor ein, der den Text im Wechsel mit Stötzner im Stil der Spätromantik (vgl. Kordes 2009, 230) intoniert. Die Unsicherheit in der Beurteilung des Konflikts wird auch dadurch ausgedrückt, dass anscheinend die Chorprobe als solche dokumentiert wird, indem Unterbrechungen mit neuem Anstimmen, auch Stühlerücken und Lachen nicht herausgeschnitten sind. Der Rezipient kann sich allerdings nicht sicher sein, ob nicht auch das inszeniert ist, ob es sich also wirklich um einen Live-Mitschnitt, einen einzigen langen O-Ton handelt oder ob nur dieser Eindruck erweckt werden soll.6 Denn im Übrigen wirkt das Ganze sehr sorgfältig einstudiert, was besonders an solchen Stel4
Vgl. z.B. das Drama Die Koralle von Georg Kaiser oder auch das Stück Octopus’s Garden von den Beatles.
5 6
Dazu Lehmann (S.296): „Tatsächlich schreibt es sie von ihr fort.“ Kordes formuliert erkennbar vorsichtig, wenn sie sagt: „Darüber hinaus erhält die gesamte Vertonung so die Färbung eines Live-Mitschnitts“ usw. (ebd., 234, Hervorhebung G.R.).
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len deutlich wird, wo der Chor mit präzise platzierten Einwürfen die Wirkung des Textes verstärkt, d. h. meist in den Bereich des Tragikomischen verschiebt: „Du weißt den Text“ (gemeint ist der verlangte Wortlaut der Selbstkritik), „Ich kenn die Bibel“ (als Antwort des Beschuldigten, der sich den Spielregeln wieder unterwirft). An einer Stelle, einer Schlüsselstelle, schweigt der Chor und lässt den VEBDirektor mit seinem Warten allein: Kommen die Panzer Jetzt wo bleiben sie Sie müssen kommen und sie werden kommen Die Panzer unser letztes Argument Und mit dem gleichen Atem der Gedanke Vier Jahre an der Macht und soweit sind wir (Werke 5, 219)
Im anschließenden chorischen Gebet wird Stötzner zum Vorbeter: „Wir werden wieder an die Brust genommen / Die Amme ist schon unterwegs Sie fährt / T Vierunddreißig und hat Milch für alle“ (ebd.). Handelt es sich um eine Farce oder um eine Tragödie? Die Erinnerung an den glorreichen Kampf des Proletariats, den auch Niederlagen nicht entwerten können, wird noch lebendig gehalten durch gesungene und gepfiffene Arbeiter- und Kampflieder, besonders auffällig durch das Spanienlied MADRID DU WUNDERBARE (in Müllers Text in Versalien), in das Stötzner, allerdings gequält und etwas schräg, einstimmt. Die Front, die einst gegen die faschistischen Generale aufgebaut wurde, hat sich in eine „Front der Bürokratie“ verwandelt (ebd., 218). Als am Ende alle zurück an die Arbeit gehen, mag der Hörer denken: Fortsetzung folgt. Er findet sich in einem Alptraum wieder, der an Gregor Samsas Verwandlung aus Kafkas gleichnamiger Erzählung erinnern soll. Teil IV von Wolokolamsker Chaussee, Kentauren, von Müller mit „Amtsschimmel“ übersetzt, treibt die Farce auf die Spitze und wird durch Goebbels’ Vertonung gewissermaßen mit dem Abglanz des Tragischen versehen. Inhaltlich geht es um die Verschmelzung eines Bürokraten mit seinem Schreibtisch, nachdem er seinen Untergebenen zu einer Ordnungswidrigkeit im Dienst gezwungen hat, nämlich bei Rot über die Kreuzung zu fahren. Der Alptraum des Bürokraten verhält sich wie die Antithese zu demjenigen, den Kafka durchspielt: Für Gregor Samsa bedeutet das Aufwachen als Käfer das Ende der Ordnung seines Lebens, hingegen besteht der Alptraum des Ordnungshüters darin, dass alles in Ordnung ist, denn damit wird er überflüssig. Musikalisch kulminiert der ganze Zyklus in diesem vierten Teilstück, weil hier die Eingangs- und Zwischenmusik, das Motiv aus Schostakowitschs 7. Symphonie, ausgeweitet und zum klanglichen Fundament gemacht wird. Während Alexander Kluge den Part des Bürokraten mit leiser, sanfter Stimme spricht und Ernst Stötzner als Untergebener stockend respondiert, baut sich im Hintergrund immer gewaltiger der 1. Satz der Symphonie auf, die an die Belagerung Leningrads durch die Deut-
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schen, aber auch an Stalins Terror erinnert, unter dem der Komponist zu leiden hatte. Das jämmerliche Geschehen, das nicht einmal den Abglanz des Heroischen trägt, steht im Kontrast zur gewaltigen, nach und nach das gesamte Orchester beschäftigenden Musik, die erst am Schluss von einer „synthetische[n] Geräuschebene“ nach und nach abgelöst wird: „Es handelt sich um Geräusche, die wie das Knarren von Holz, das Rasseln und Scheppern von Metall klingen.“ (Ebd., 237). Am Anfang lässt Goebbels das von Müller dem Text vorangestellte Shakespeare-Motto aus The Tempest akustisch zerbrechen: Nach Miranda’s Ausruf: „O brave new world, / That has such people in’t!“ folgt nicht Prosperos „’Tis new to thee.“, sondern ein Klirren, als ginge die „schöne neue Welt“ in Scherben. Die wirkliche Welt, die Lenin einst mit dem Ausruf vorbereitete „Wir sind keine Utopisten“, ist eine Dystopie geworden, in der Marx von den Füßen auf den Kopf gestellt wurde: „[...] Sein / Bestimmt Bewußtsein in der Vorgeschichte / Im Sozialismus ist es umgekehrt“ (Werke 5, 232). Der bei dem Verkehrsunfall ums Leben gekommene Genosse ist „Gefallen an der Front der Dialektik“, und wenn die Massen diesen Tod nicht verstehen, liegt es daran, dass sie das ‚richtige Bewusstsein‘ noch nicht haben: „Nicht alles was den Massen dient verstehn / Die Massen“ (ebd., 234). Die Bewusstseinsbildung der Massen muss allerdings scheitern, wenn „Bewußtsein Sitzfleisch aus uns allen [macht]“. Der Bürokrat fühlt sich als Märtyrer seiner Mission und vergleicht sich mit Prometheus oder Jesus: „Mein Schreibtisch ist mein Kaukasus mein Kreuz“ (ebd., 235). Die sprachkritischen Feinheiten, mit denen hier die Metamorphose eines führenden Genossen erzählt werden, verstehen westdeutsche Hörer nur, wenn sie sich in die Ideologie- und Realgeschichte des Sozialismus vertieft haben. Ihnen wird aber nicht verborgen bleiben, dass, wo so viel von Ordnung geredet wird, nichts mehr in Ordnung ist. Die in einer Geräuschkulisse sich auflösende Musik begleitet Sätze, deren bittere Ironie nicht zu überhören ist: „Auf allen Vieren zum aufrechten Gang“ sowie das umgewandelte Mephisto-Zitat aus „Faust“: „Ha Tinte ist ein ganz besondrer Saft“ (ebd., 236). Als furioses Hip-Hop-Finale mit der Formation We wear the Crown7 wird der Zyklus abgeschlossen. Teil V trägt den Titel Der Findling und knüpft an eine Kleist-Novelle an, in der ein adoptierter Sohn die Familie seiner Pflegeeltern ruiniert. Während bei Kleist der triebgesteuerte Findling in Ausführung eines teuflischen Racheplans seine Mutter verführt, besteht das Vergehen des abtrünnigen Sohns in Müllers Version darin, dass er nach Ansicht des Vaters den Sozialismus verrät: Er verteilt 1968 Flugblätter gegen den Einmarsch der Sowjets in Prag. Wieder geht es um Panzer, der Vater nennt einen „Sozialismus ohne Panzer“ einen „Kindertraum“ (Werke 5, 240) und zeigt den Sohn bei der Staatssicherheit an, was diesem fünf Jahre in Bautzen einbringt. Danach verlässt er die DDR und geht nach 7
Dieses Projekt wurde von DJ Mark Spoon (al. Markus Löffel) zusammen mit dem späteren Rapper Moses Pelham gegründet.
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Westen, allerdings erst, nachdem er den Vater zur Rechenschaft gezogen und ihm seine Seelenlosigkeit vorgeworfen hat: „Wie oft hab ich gewollt du wärst mein Vater / Statt der Genosse der mich adoptiert hat“ (ebd., 241) und: „Wie redet man mit einem Leitartikel / Und wie umarmt man ein Parteiprogramm“ (ebd., 242) Schließlich: „Was eure Sache ist weiß ich jetzt auch / Mit Panzerketten auf den Leib geschrieben / Habt ihr sie UNSERN MENSCHEN eure Sache“ (ebd., 241). Es scheint, als habe Müller eine Gewaltgeschichte des Sozialismus schreiben wollen, zumal er die Reihe in der Rede des Sohns vervollständigt: „Und das zerrissne Blauhemd für den Toten / Gefallen an der Mauer […] Die Geisterstädte / VERGESSEN Kronstadt Budapest Prag“ (ebd., 243). Im Streitgespräch zwischen Vater und Sohn werden beide Rollen, teils kaum noch auseinander zu halten, von Ernst Stötzner gesprochen oder geschrien, und zwar meist nicht synchron mit den von Scratching befeuerten Hip-Hop-Rhythmen der Band. Kordes weist darauf hin, dass es eine Ausnahme gibt, nämlich die im zweiten Teil des Stücks oft wiederholte Zeile VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN, die von Stötzner und den Bandmitgliedern gemeinsam halb gesungen, halb gerufen wird. Aber es gibt eben nicht nur die Gewalt, die durch die russischen Panzerketten symbolisiert wird, sondern der Vater ist, wie der VEB-Direktor in Das Duell, durch die Gewalt der Nazis gezeichnet, die ihm sein Geschlecht zertreten haben. Und Goebbels vervollständigt das Bild, indem er neben Samples von Arbeiterliedern (Thälmannlied, Internationale) und einem Chor-Sample aus dem Duell („Wenn uns die Panzer nicht“) durch einen O-Ton-Schnipsel die Erinnerung an die Polizeigewalt im Westen gegen die APO aufleben lässt: „Räumen Sie den Kurfürstendamm! Wasserwerfer Marsch!“ [01:05:50]8 Weitere kurze Samples wecken Assoziationen an die rebellische Pop-Jugend im Westen, ein mehrfach eingespieltes „Remember“ von Jimi Hendrix, ein Orgelmotiv, das von Brian Auger oder Alan Price stammen könnte, ein E-Gitarrenriff, das vermutlich ein Gitarrensolo eingeleitet hat und von Jimmy Page gespielt sein könnte. Das Wiedererkennen muss nicht so aussehen, dass man die ‚Archivstücke‘ genau zuordnen kann, sie erinnern aber an den größeren Zusammenhang, in den sie gehören, und wirken so gegen das VERGESSEN wie das ganze Stück, dessen erste Lesung im Deutschen Theater in Berlin 1988 auf ungläubiges Staunen der Zuhörer stieß (vgl. Lehmann 2003, 207). Wegen seiner Vielschichtigkeit lässt das Stück auch ganz andere Deutungen zu. Antje Vowinckel hört einen „penetrant fröhliche[n] Hip-Hop“ (Vowinckel 1995, 195), der eine konsumfreudige Grundstimmung erzeugt. Sie beruft sich auf zwei Textzeilen, um diese Interpretation zu stützen: „Was geht mich euer Sozialismus an / Bald schon ersäuft er ganz in CocaCola“ (Werke 5, 244) und „Leichen im Keller 8
Hier verhört sich Kordes (S. 240). Sie schreibt: „Räumen Sie den Unterstand“ und deutet die Funktion des O-Ton-Stücks falsch. Souksengphet-Dachlauer behauptet (S. 215), es sei „ein scheinbar historischer O-Ton“, weiß ihn ihn aber nicht zu deuten.
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und Geld auf der Bank“ (ebd., 239). Das im Text immer wiederholte VERGESSEN werde „auf akustischer Ebene umgesetzt in beharrliches Zuschütten. Die collagierte Musik steht für den im Text angesprochenen westlichen Massenkonsum, in dem es nur noch auf die Menge, nicht mehr auf den Inhalt ankommt.“ (Ebd.). Diese Interpretation ist insofern problematisch, als sie zum einen sehr selektiv vorgeht und den wichtigsten Konfliktpunkt, den wechselseitigen Verratsvorwurf zwischen Vater und Sohn, ausspart, und zum anderen der Musik eine Eigenschaft zuschreibt, die mit Sicherheit viele Hörer anders wahrnehmen: Der Hip-Hop klingt durchaus nicht fröhlich, sondern eher aggressiv, und das gilt gleichermaßen für Stötzners Sprechweise, deren anklägerische Wucht an einigen Stellen durch Verdoppelung und Hall noch technisch verstärkt wird („Zuchthaus Bautzen“, „sein Arbeiterparadies“). Müller lässt sich weder auf eine Abrechnung mit dem ‚real existierenden Sozialismus‘ noch mit der westlichen Konsumgesellschaft festlegen, für ihn ist Wolokolamsker Chaussee „der dritte Versuch in der Proletarischen Tragödie im Zeitalter der Konterrevolution, das mit der Einheit von Mensch und Maschine zu Ende gehen wird [...]“ (Werke 5, 247). Einen weiteren Text von Heiner Müller, Herakles 2 oder Die Hydra,9 aus dem Theaterstück Zement hat Heiner Goebbels in dem Hörstück Ou le débarquement désastreux verwendet, und zwar in französischer Übersetzung, kombiniert mit Joseph Conrads Kongo Tagebuch (1890) und dem Notizbuch vom Kiefernwald (1940) von Francis Ponge. Eine deutsche Inszenierung, wieder mit Ernst Stötzner als Sprecher, wurde vom SWF im Jahr 2000 als ‚Live-Hörstück‘ unter dem Titel Oder die glücklose Landung realisiert.10 Alle drei Texte treten durch ihre immanente Dialektik miteinander in Beziehung, worauf die Musik mit verschieden gelagerten Spannungsmomenten reagiert. Dies sind zum einen das schon bekannte Verhältnis von Puls und Bruch, das sich in diesem Fall auch auf die Instrumente beziehen lässt: das regelmäßige Metrum, den Puls, liefert der senegalesische Musiker Boubakar Djebate mit dem Spiel seiner Kora, „einem gitarrenähnlichen Instrument[,] in Form von vier Ostinatiflächen“ (Kordes 2009, 181); die Brüche gehen von teils jazzartigen, teils unartikuliert wirkenden Einwürfen von Posaune, E-Gitarre und Saxophon aus. Die Instrumente repräsentieren also einen Kulturunterschied, der dadurch gemildert scheint, dass das sehr harmonische Kora-Spiel westliche Hörer an spät nächtliche 9
Derselbe Text wurde von Paul Plamper für sein Hörspiel H2OdH (WDR/SR 2004) verwendet und auf Szenen aus dem modernen Alltag bezogen, in dem in verschiedenen Gestalten überall die Hydra lauert. Das Verhältnis Mensch / Maschine ist nicht mehr als Nutzerbeziehung definierbar. Hier bestimmt nicht der Text, sondern das Medium die Gestaltung.
10 Kordes analysiert in ihrer Studie nur die Vertonung des französischen Herakles-Textes und spart dabei die Verflechtung mit den beiden anderen Texten explizit aus.
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Weltmusik-Sendungen im Radio erinnern mag. Auch Lautenmusik der Renaissance ist nicht weit davon entfernt. Goebbels erhöht daher die kulturelle Differenz, indem er original afrikanische Gesänge von Sira Djebate verwendet, die in die musikalische Matrix europäischer Hörer nicht so leicht integrierbar sind. Im größten Teil der Performance begleitet die Kora die Lesung des HeraklesTextes, allerdings immer wieder gestört durch Posaunensignale und verzerrte EGitarren-Riffs. In dem Text, einer personalen Er-Erzählung mit viel erlebter Rede, schreitet Herakles durch einen Wald der Hydra entgegen, gegen die er kämpfen soll, bemerkt aber, je weiter er vordringt, dass der Wald selbst die Hydra ist, die seinen Körper vermisst und regelrecht auseinander nimmt. Dadurch lernt er seine ‚Bauteile‘ immer besser kennen und erfährt sich als Kampfmaschine, die sich, um zu siegen, selbst besiegen muss: „in dem weißen Schweigen, das den Beginn der Endrunde ankündigte, lernte er den immer andern Bauplan der Maschine lesen, die er war aufhörte zu sein anders wieder war mit jedem Blick Griff Schritt“ (Werke 4, 428). Deutet sich hier, Anfang der 1970er Jahre, bereits die Erkenntnis an, die Müller zwanzig Jahre später in Bezug auf Wolokolamsker Chaussee formulierte? Gerhard Fischer interpretiert den Text als Umkehrung der „konventionellen Revolutions-Ikonographie“, in der „Herakles als der kommunistische Held erscheint, der in der Hydra die vielgestaltigen Kräfte der Konterrevolution besiegt (Fischer 2003, 301). Müller habe die Einsicht gewonnen, „dass nach dem Ausbleiben der Revolution in Deutschland 1918/19 der russische Weg zum ‚Sozialismus in einem unterentwickelten Land‘ nur auf die ‚Kolonisierung der eigenen Bevölkerung‘ […] hinauslaufen konnte“ (ebd.). Diese politische Interpretation ist im Kontext des Revolutionsstücks Zement plausibel, erschöpft das Bedeutungspotential des Textes aber nicht. Goebbels dürfte das bemerkt haben, als er einen intertextuellen Bezug zu Joseph Conrads Kongo Tagebuch herstellte, das als Vorstudie zum Roman Heart of Darkness gelten kann. Die Verbindung zwischen beiden Texten entsteht durch den Begriff ‚Kolonisierung‘ als Bezeichnung für zwei einander bedingende, nach außen und nach innen gerichtete Prozesse, nämlich die Kolonisierung der afrikanischen Völker, die mit der inneren Selbstkolonisierung der Europäer in der industriellen Moderne einherging oder durch sie sogar ausgelöst wurde. Insbesondere diejenige Spielart der interkulturellen Literaturwissenschaft, die sich auf die kritische Theorie beruft, hebt letzteren Aspekt hervor: Sie „kann in der kritischen Analyse der kolonialen Literatur zeigen, dass die koloniale Herrschaft nicht nur den unterworfenen Völkern unerträgliche Qualen bereitet, sondern auch die Psyche der Eroberer in spezifischer Weise verformt“ (Hofmann 2006, 46). Der Tagebuchschreiber Conrad registriert kühl und distanziert schreckliche Beobachtungen, ohne emotional zu reagieren. Als er eine Tote auf der Erde liegen sieht, fällt ihm dazu nichts anderes ein als: „unerträglicher Gestank“. Einem Jungen mit Kopfdurchschuss gibt er immerhin etwas Glyzerinsalbe für die Stelle, an der die Kugel austrat, denkt aber über die Verwun-
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dung nicht weiter nach. Konsequent wird dieser Text mit ständigen Störgeräuschen und befremdlichen Klängen von Goebbels vertont. Diese irritieren den Hörer aber auch bei der Lesung des Herakles-Textes, die von dem harmonischen, zugleich exotisch wirkenden Kora-Spiel fast durchgängig begleitet wird, bis auch hier am Schluss das Chaos siegt. Im Unterschied zu Herakles, der den Weg aus dem Wald nicht mehr findet, tritt der Spaziergänger und Beobachter des Kiefernwaldes im Notizbuch von Ponge am Ende ins Freie. Hier scheint ein Gegenentwurf zum Kolonisierungsmodell vorzuliegen, denn Ponge versucht dem Wald seine eigene Existenz zu lassen, ihr nur nach genauer Beobachtung eine Sprache zu geben. Der Teppich unter den Füßen des Spaziergängers ist nicht für einen Zweck fabriziert, sondern ein Ergebnis natürlicher Vorgänge. Aber auch der Verfasser dieses Textes kann sich der Einsicht in die geschehene Vermessung der Welt nicht entziehen. Dem Sosein des Waldes werden am Ende die forstwirtschaftlichen Kategorien übergestülpt, die vom jeweiligen Alter des Baumbestandes abgeleitet sind. Bevor der Waldgänger ins Freie tritt, zählt er sie auf. Diese Aufzählung ist, eigentlich überraschend, denn zum europäischen Kiefernwald nicht passend, mit lebhaftem Kora-Spiel unterlegt, und nach dem Satz „Jetzt geht’s hinaus aufs freie Feld“ endet das Stück mit einem Schlussakkord der Kora. Was Kordes über die Vertonung der französischen Fassung des MüllerTextes sagt, gilt auch für die Neufassung des Hörstücks in deutscher Sprache: „Bei allen hier angestellten möglichen Interpretationszugängen bleibt die Wahrnehmung dieses Hörstücks ‚kryptisch[ ]‘ und rätselhaft. Auch hier ist der Hörer dazu aufgefordert, Sprünge und Brüche in ‚Text [und Musik] als Landschaft‘ zu überbrücken. Dabei wird der rhythmische Strudel aus Worten und Bildern, in den man durch die Strukturkomposition schon bei Müllers ‚pur‘ gelesenem Text hineingezogen wird, in Goebbels’ musikalischer Umsetzung noch intensiviert.“ (Kordes 2009, 189f., die Binnenzitate stammen von Wolfgang Sandner)
Mit anderen Worten: Das „Gestaltergänzungsvermögen“ des Hörers ist vor allem bei diesem Hörstück in hohem Maße gefordert, und die Möglichkeiten, die drei collagierten Texte zueinander in Beziehung zu setzen, werden durch die Musik eher vermehrt als verringert. Handelt es sich um ein Pophörspiel? Zweifellos um ein anspruchsvolles – wie bei den anderen beschriebenen Hörstücken von Heiner Goebbels auch. Das Bedürfnis nach Vergnügen an banalen Gegenständen wird eher weniger bedient, aber es bleibt auch nicht ganz unbefriedigt. Die aus der Popmusik bekannten Samples, Instrumente und Rhythmen geben den Stücken oft einen drive, der die Rezipierbarkeit der durchaus sperrigen Texte Müllers erleichtert, sie andererseits aber wegen der gezielt eingesetzten rhythmischen und klanglichen Brüche nicht einfach konsumierbar macht, denn dies hätte Müllers Intention zweifellos widersprochen.
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Das bereits 1987 aufgenommene, auf einem kurzen Prosatext von Heiner Müller beruhende Hörstück MAeLSTROMSÜDPOL unterscheidet sich, nach Goebbels’ eigener Aussage, im Hinblick auf das Verhältnis von Text und Musik von seinen anderen Stücken. Es wurde als Theaterprojekt mit dem Bühnenbildner Erich Wonder auf der Documenta 8 in Kassel und an weiteren Orten, u.a. am Berliner Landwehrkanal, aufgeführt und anschließend als Hörstück produziert. Goebbels sagt darüber: „Bei der akustischen Inszenierung dieser knappen Seite Text reizte mich – im Gegensatz zu meinen anderen Hörstücken – nicht die mehr oder weniger kunstvolle Verknüpfung, sondern die Entzerrung von Musik und Sprache, im Verhältnis Erlebnis/Beschreibung.“ (Zit. n. Souksengphet-Dachlauer 2010, 144) Goebbels arbeitet mit nur einer Stimme, derjenigen des Schauspielers David Bennent, vervielfältigt sie allerdings an manchen Stellen elektronisch, so dass der Eindruck eines Stimmengewirrs, vielfachen Echos und verwirrenden Durcheinandersprechens erzeugt wird, während auf der anderen Seite im Sinne der angestrebten „Entzerrung“ Momente der Ruhe entstehen können, aus denen sich dann in einem Crescendo von Instrumentalmusik wahre Kakophonien und Rockjazzorgien entwickeln. Besonders bemerkenswert ist in dieser Hinsicht das Zusammenspiel der Band mit dem legendären Free-Jazz-Saxophonisten Peter Brötzmann, der seinem Tenorsaxophon erstaunliche Hightones entlockt und diese mit knarrenden Tönen aus den tiefen Lagen kontrastiert. Außerdem spielt Brötzmann ein dem Sopransaxophon ähnliches Tárogató, mit dem er hohe, weichere Töne erzeugt. Mit diesen Kontrasten, zu denen der Wechsel von Bennents Vortrag zwischen ruhigem Sprechen und Schreien kommt, setzt Goebbels die inhaltlichen Spannungsmomente des Textes, die sich vor allem in den Gegensätzen Weiß/Schwarz, Leben/Tod offenbaren, klanglich um. Müllers extrem verdichtetes, interpunktionsloses Prosastück bezieht sich intertextuell auf Edgar Allan Poes Roman The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket, auf Poes Erzählung A Descent into the Maelström, auf die der Titel direkt anspielt, sowie auf eine Textstelle aus T.S. Eliots Langgedicht The Waste Land, des Weiteren indirekt auf John Websters Drama The White Devil (1612) und eine Erzählung von William Faulkner (vgl. Primavesi 2003, 325). Das akustische Szenario, das mit traditionellen Geräuschen lautmalender Hörspielakustik aufgebaut wird – Wellenrauschen, Kreischen von Seevögeln, Tuten von Schiffssirenen – verweist auf eine abenteuerliche Seefahrergeschichte. Ein entsprechendes Paradigma wird im Text aufgebaut: Insel, Wasser, Boot, auch die Nebelwand, der Horizont und die großen weißen Vögel fügen sich zu diesem Bild. Irritierend, weil zum offenen Meer nicht passend, sind Wörter, die an einen Wasserfall denken lassen und an die „Nebelwand“ angeschlossen sind: Katarakt, Wehr und – metaphorisch – weißer Vorhang. Dazu kommt ein Paradigma, das Todesvorstellungen weckt: Blutbad, Blut, aschenartiger Staub, Leichnam sowie das englische, in Versalien erscheinende THAT CORPSE. Wenn eine Person in dem Boot als „Wilder“ bezeichnet wird, müssen die anderen, nur mit „wir“ bezeichneten, aber jeden-
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falls in kleiner Zahl auftretenden Personen ihrem Selbstverständnis nach zivilisiert sein, was auf Weiße schließen lässt. Hat sich der Leser eine im Ganzen vorstellbare Szenerie ausgemalt, drängen sich Erscheinungen und Wahrnehmungen hinein, die nicht zu deuten sind: das Wasser wird so heiß, dass man sich die Hand verbrennt, ein weißes Tier schwimmt vorbei, ohne dass es in seiner Art näher bestimmt würde, am Ende taucht „übermenschengroß eine Gestalt“ auf (Werke 2, 121), deren Haut weiß wie Schnee ist. Schon vorher ist deutlich geworden, dass sich dieses Geschehen nicht abbilden lässt: „[...] wir blicken in einen Wirbel aus flackernden Bildern wie Fetzen von Fotografien im Feuer“ (Werke 2, 120). In der Edition des Hörstücks heißt ein ganzer Track „Fff“. Goebbels arbeitet die Alliteration besonders heraus und verleiht ihr ein eigenes Gewicht, indem er Bennent das „F“ wiederholt überpointiert sprechen lässt. Selbst wenn man die intertextuellen Bezüge kennt, ist der Sinn des Müllerschen Prosastücks schwer zu erhellen. Einen Ansatz liefert Primavesi. Bezogen auf die übermenschengroße, weiße Gestalt, die vor den in einem Kanu Richtung Südpol fahrenden Weißen mit dem, inzwischen gestorbenen, Eingeborenen auftaucht, schreibt er: „Bei dieser Wiederkehr des Verdrängten wird der Tod verräumlicht, seine Erfahrung darstellbar als ein Tier-Werden.“ (Ebd.) Aber was ist das Verdrängte? Bei Poe kann es das Schreckliche sein, das Pym und sein Gefährte Peters auf ihrer langen Seereise erlebt haben. Mehrfach waren sie dem Hungertod nah, fanden in einer solchen Situation die letzte Überlebensmöglichkeit im Kannibalismus und mussten auf der Insel TSALAL, die Müller „die Insel des großen Blutbades“ nennt, erleben, dass ihre sämtlichen Gefährten von heimtückischen Wilden ermordet wurden. Als Motive, sich solchen Gefahren auszusetzen, erkennt man vor allem Abenteuerlust und Entdeckerfreude. Pym treibt seinen Kapitän an, immer weiter in das Südpolarmeer vorzustoßen. Das Motiv der Neugierde auch in allergrößter Gefahr findet man auch in Poes Erzählung Im Malström. Offenbar kann der ‚zivilisierte‘ Mensch nach Poes Aufassung nicht anders, als sich immer wieder in Grenzsituationen zu begeben, und dann aufmerksam zu registrieren, was in ihm und um ihn herum passiert. Pym behält fast bis zum Schluss die Haltung des katalogisierenden Naturforschers bei, notiert aber schließlich Wahrnehmungen, die erstens höchst unbestimmt bleiben und die zweitens mit den tatsächlichen Gegebenheiten in der Antarktis nicht das Geringste zu tun haben. Was hat Müller an diesen Texten interessiert? Sind es die Grenzen einer immer nur auf das Objektivierbare fixierten Einstellung zur Natur? Mit der Hinzunahme von Eliots The Waste Land kommt eine weitere Gedankenfigur hinzu. Hinter TEKELILI, den Todesruf der Wilden von „der Insel des grpßen Blutbades“, setzt Müller wie eine Erläuterung in Klammern den Satz: „that corpse you planted last year in your garden has it begun to sprout will it bloom this year“. Und er ergänzt etwa in der Mitte des Textes in Versalien die übernächste und die darauf folgende Zeile bei Eliot: OH KEEP THE DOG FAR HENCE THAT’S FRIEND TO MEN
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OR WITH HIS NAILS HE’LL DIG IT UP AGAIN. Goebbels gibt in seiner Vertonung diesen Zeilen ein großes Gewicht, indem er sie mehrfach auf verschiedene Weise vortragen lässt: zuerst [ab 10:00] in der schon aus dem Stück Die Befreiung des Prometheus bekannten Verfremdung durch Zerstückelung, Expansion und Repetition, in diesem Fall zweisprachig Deutsch und Englisch, und das zweite Mal, kurz vor Ende des Stücks, als Rocksong mit rhythmischer, treibender Bassfigur, Schlagzeug, Gitarre und Saxophon. Das an Anspielungen reiche Gedicht The Waste Land, das 1922, also kurz nach dem Ersten Weltkrieg, entstand, wird von Stephen Coote gedeutet als „a chart of this devastated world“ (Coote 1985, 9). Der erste Teil, The Burial of the Dead, der mit der berühmten Zeile „April is the cruellest month“11 beginnt, sei, so Coote, „a profound and very moving picture of modern man’s spiritual plight“ (ebd., 31). Die Idee einer Auferstehung der Toten durch natürliche Vorgänge erinnert, so der Interpret, an „ancient vegetation rites“ (ebd., 35), was wiederum als Gegenmodell zur spirituellen Verarmung der Großstadtmenschen gemeint sei. Eliot beschreibt zuvor seinen Eindruck von den über die London Bridge hastenden Menschen. Es bleibt die Irritation, dass des Menschen bester Freund, der Hund – um ihn geht es laut Primavesi in der Faulkner-Erzählung Gefild einer Nacht – diesen Vorgang unterbrechen könnte, wenn man ihn nicht fernhält: „Oh keep the dog far hence“. Darüber, was Müller bewogen haben könnte, die Texte von Poe mit demjenigen von Eliot zu verbinden, kann nur spekuliert werden. Denkbar ist, dass er Eliots zivilisationskritische Position als Antithese zum fatalistischen Hinnehmen selbstverschuldeter Katastrophen versteht, zu der die beiden Protagonisten Poes zunehmend neigen. Von den Naturvölkern trennen sie Abgründe. Der „Wilde“ Nunu mit den schwarzen Zähnen erschrickt, wie seine Stammesgenossen, zu Tode, als er etwas Weißes sieht. Am Ende ist es zu viel Weiß, und er stirbt im Kanu, was zur Folge hat, dass seine Zähne weiß werden. Dieser Vorgang ist ebenso rätselhaft wie die riesige weiße Gestalt, mit deren Auftauchen Pyms Bericht abbricht.12 Goebbels lässt am Schluss die Worte OH KEEP THE DOG rückwärts abspielen: GOD EHT PEEK HO, ein „Verfahren, das in der Popmusik oft zur Entschlüsselung von versteckten Botschaften verwendet wird“ (Souksengphet-Dachlauer 2010, 142), womit zunächst einmal nicht ein „Bezug zum Tod und zum Jenseits hergestellt“ wird (ebd.), sondern zu Gott. Trotzdem vermittelt das Stück weniger eine religiöse Botschaft als vielmehr ein Gefühl existentieller Einsamkeit. Schon durch das „weiße Rauschen“ ganz am Anfang, gegen das sich eine menschliche Stimme nur mühsam durchsetzt, wird der Hörer darauf eingestimmt und später immer wieder darin be11 In ihrem kammermusikalischen Rockstück April von 1969 spielt die Gruppe Deep Purple darauf an. 12 In seinem Roman Die Eissphinx von 1897 machte Jules Verne den Versuch einer Deutung.
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stärkt, z.B. durch eine über längere Zeit den Puls gebende Bassfigur, die wie aus einer anderen Welt zu erklingen scheint, des Weiteren durch das Echo, das der Sprecher mit seinem Schreien erzeugt, das aber keine Antwort darstellt, schließlich auch durch den von Zeit zu Zeit zu hörenden Textvortrag in raumloser Studioatmosphäre. Ein weiteres Stück von Heiner Müller, das es an dieser Stelle zu betrachten gilt, ist Die Hamletmaschine,13 das 1990 vom Rundfunk der DDR mit Blixa Bargeld und der Gruppe Einstürzende Neubauten als Hörspiel realisiert wurde. Die Zwischentexte liest der Autor. Der Regisseur Jean Jourdheuil, der das Stück bereits 1978 im Théâtre Gerard Philippe, Saint Denis, inszenierte, charakterisiert es als einen „auf das entschiedenste fremdartige[n] und rätselhafte[n] Text, und dies noch vielmehr in formaler als inhaltlicher Hinsicht, denn er verzichtet beinahe ganz auf Handlung und Dialog und stellt das Konzept der Person völlig in Frage.“ (Jourdheuil 2003, 223) Jourdheuil zeigt dann zahlreiche intertextuelle und historische Bezüge auf, von denen die auffälligsten diejenigen zu Shakespeares Hamlet sowie zu den Ereignissen in Ungarn 1956 sind: Teil 4 heißt „PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND“ (Werke 4, 549). Kann das Begräbnis von Hamlets Vater ein Anlass sein, an die Beerdigung des kommunistischen Diktators László Rajk in Budapest am 6. Oktober 1956 zu denken? In beiden Fällen finden Mordopfer in Staatsbegräbnissen ihre letzte Ruhe, bei Rajk mit der Besonderheit, dass seine Hinrichtung nach einem Schauprozess bereits sieben Jahre zurücklag und der damals verscharrte Leichnam vor der erneuten Bestattung erst exhumiert werden musste. In der Hamletmaschine öffnet der Sohn den Sarg des Vaters und verteilt die Leichenteile unters Volk; danach bespringt der Mörder auf dem leeren Sarg die Witwe. Überschrieben ist dieser erste Teil voller Tabubrüche mit dem Titel „FAMILIENALBUM“ (Werke 4, 545). Andere Bezüge, etwa zu Deleuze/Guattari, Ezra Pound, Sartre und Frantz Fanon, Susan Atkins aus der Manson-family, Dostojewskis Roman Schuld und Sühne, Hölderlin usw. wird der durchschnittlich gebildete Hörer nur zum Teil oder nur mit Erläuterungen verstehen. Die Bezüge zu Hamlet wiederum erschöpfen sich auf ganz wenige Zitate, das Auftreten Hamlets und Ophelias sowie die Nennung der Namen Horatio, Claudius und Polonius, „gerade so, als sei er (Shakespeares Text, Anm. G.R.) durch Müllers Text ausgelöscht, als sei er durch ihn ersetzt worden“ (Jourdheuil 2003, 222). Die Hamletmaschine ist eine Dramenvernichtungs13 Das Stück war schon einmal 1978 vom Süddeutschen Rundfunk produziert worden. Regie führten Heiner Müller und Harun Farocki. Es sprachen Hildegard Schmahl, Ulrich Pleitgen, Otto Sander und der Autor selbst. Außerdem gibt es eine 1987 uraufgeführte, danach selten gespielte Oper von Wolfgang Rihm, die 2016 vom Züricher Opernhaus wieder inszeniert wurde.
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maschine, die das Theater gleich miterledigt. „Mein Drama findet nicht mehr statt. Hinter mir wird die Dekoration aufgebaut. Von Leuten, die mein Drama nicht interessiert, die es nichts angeht.“ (ebd., 549) Ergebnis des letzten Versuchs, ein Drama zu inszenieren: „Die Schauspieler haben ihre Gesichter an den Nagel in der Garderobe gehängt. In seinem Kasten verfault der Souffleur. Die ausgestopften Pestleichen im Zuschauerraum bewegen keine Hand.“ (Ebd., 551) Müller wechselt ständig unvermittelt die Darstellungsebenen. Der Hamletdarsteller spricht darüber, dass er ein Schauspieler ist, der Hamlet spielt. Ophelia emanzipiert sich erst von ihrer Rolle als leidende Frau, kleidet sich als Hure und wechselt dann mit Hamlet die Kleider. Als an diesem Punkt die Rollen völlig austauschbar scheinen, gibt der Hamletdarsteller einen ziemlich klaren Bericht über den Aufstand in Budapest mit Sturz von Stalinstandbildern und Beschießung von Parteifunktionären, schließlich Eingreifen der Panzer. Nach dem Tod des Theaters wird ein Gebet über das Fernsehen und seine Lügen gesprochen, die die „Konsumschlacht“ vorbereiten, welche wiederum in dem Ruf „Heil COCA COLA“ (ebd., 552) gipfelt. Hierauf demontiert sich der Autor als privilegierter DDRIntellektueller selbst, das heißt, er überträgt den Ekel, den er über all das Geschilderte empfindet, auf sich und macht Verse daraus: In der Einsamkeit der Flughäfen Atme ich auf Ich bin Ein Privilegierter Mein Ekel Ist ein Privileg Beschirmt mit Mauer Stacheldraht Gefängnis (ebd.)
Der Ekel geht in diesem Stück über das Moralische und Politische hinaus und nimmt existentielle Züge an. An mehreren Stellen wird darauf verwiesen, dass alles Unheil in den Müttern seinen Ursprung hat, weil sie Leben gebären: „Man sollte die Weiber zunähn, eine Welt ohne Mütter“ (ebd., 546). Der Gestus des Zertrümmerns beherrscht auch die Hörspielinszenierung mit den Einstürzenden Neubauten, deren Name hier Programm ist. Das Hörspiel beginnt mit Geräuschen von klirrendem, splitterndem Glas und vielstimmigem BlaBla, das im ersten Monolog Hamlets als Anrede an die Brandung erwähnt wird und zugleich als Aussage über alles, was dann folgt, verstanden werden kann. Der Sprecher, Blixa Bargeld, der zu Beginn abwechselnd mit dem BlaBla des Chors spricht, wird danach begleitet von unregelmäßigen, durchdringenden Schlägen eines Schlagzeugs und jeweils doppelten Klavier- oder Synthesizertönen in tiefer Lage. Die Schläge klingen weniger nach einer Trommel als nach einem Blecheimer, was an die Gründungsphase der Einstürzenden Neubauten um 1980 erinnert, als diese Band Gegenstände aller Art zu Instrumenten umfunktionierte. Die Wirkung auf den Hörer lässt
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sich etwa so beschreiben, dass ihm der Text brutal eingehämmert wird. Die Zwischenüberschriften der fünf Teile werden geflüstert. Bei den von Heiner Müller ohne Betonungsvariation gesprochenen Regieanweisungen gibt es keine Geräuschkulisse, die sonst längere Passagen des Stücks zur Hörfolter macht: hohe, anhaltende Quietschtöne, ein kreischendes Geräusch, das zu hören ist, nachdem in der Regieanweisung von der Installation einer Kühlanlage die Rede ist, außerdem ein vom Chor erzeugter Klangteppich auf einem Ton, das Ganze oft mit viel Hall. Generell wechseln die harten Schläge sowie rhythmischen Doppeltöne von Klavier oder Synthesizer mit Dauergeräuschen, die das Gehör strapazieren. Der Sprechgestus von Blixa Bargeld ist meist überartikuliert und dem Schreien nahe, während Gudrun Gut zögernd, wie eine Tagträumende spricht, wobei dieser Eindruck durch ein gleichzeitig in einer Schleife ablaufendes federndes Sample und viel Hall unterstützt wird. Der Gesamteindruck ist der einer undergroundProduktion mit hohem destruktivem Potential und geringer Hoffnung auf eine Besserung der Zustände in der Welt, allerdings mit einer Einschränkung. Wie beiläufig von einem Zeitungsleser vorgelesen, wird im Hörspiel ein auf Marx, Lenin und Mao bezogener Satz zu Ende gesprochen, von dem in Müllers Text nur der Anfang zu lesen ist: „Es gilt alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ [26:30ff.] Im Text (S. 555) bricht der Satz, mit dem der Abglanz einer weltrevolutionären Idee auf das apokalyptische Szenario fällt, bei „Mensch“ ab.
10.2 W ELTLITERATUR , BEARBEITET VON ANDREAS AMMER UND FM E INHEIT Der Hörspielautor und -regisseur Andreas Ammer (*1960) nennt in einem phonostar-Fragebogen als sein Lieblingshörspiel, national, Die Hamletmaschine.14 So überrascht es nicht, dass sein „Hörspiel nach Dante“, das 74 Minuten dauernde Hörstück Radio Inferno (BR 1993) einige Gemeinsamkeiten mit der Hamletmaschine aufweist. Die Rolle Dantes („Dantes Augen, Dantes Hirn, Dantes Reden“) wird von Blixa Bargeld gesprochen, und FM Einheit (= Frank Martin Strauß, *1958), langjähriger Perkussionist der Einstürzenden Neubauten und vielfacher KoAutor bzw. Ko-Regisseur von Andreas Ammer, hat die Musik komponiert. Ammer und FM Einheit gehören zu den produktivsten und am meisten prämierten Hör-
14 http://www.phonostar.de/radio/andreas-ammer-eine-hoerspiel-ikone-schaltet-ab/a/25 Als Lieblingshörspiel, international, nennt er interessanterweise The Residents, The Third Reich ’n’ Roll, was wohl allgemein eher als Musikveröffentlichung gesehen werden dürfte.
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spielmachern des deutschen Sprachraums. Unter anderem erhielten sie zweimal den Hörspielpreis der Kriegsblinden (1995 für Apocalypse live und 2001 für Crashing Aeroplanes). Das Stück Radio Inferno sorgte international für Aufsehen und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter mit der Auszeichnung „Best Drama Special“ beim Radiowettbewerb des New York Festivals 1994. An die Hamletmaschine erinnert es nicht nur wegen der charakteristischen Stimme Blixa Bargelds und wegen des musikalischen Sounds, sondern auch thematisch: Während dort das Theater zertrümmert und zugleich neu aufgebaut wurde, ist es hier das Radio. Hatte Bargeld als Hamletdarsteller am Anfang von Müllers Stück am Meer gestanden und mit der Brandung BlaBla geredet, „im Rücken die Ruinen von Europa“, so verkündet er jetzt in der Rolle eines in die Gegenwart versetzten Dante: „Plötzlicher Ekel in den Sofas Europas. Vor uns das Bier und die Gespenster unserer Seele. Es wird kommen der Aufstand der Verdammten. Und wisst: Die Revolution zählt die Toten nicht.“ [1:02:19ff.] Was vom Aufstand bleibt, sind dann die schrottwerten Reste der Unterhaltungselektronik. Ammers Versuch, den ersten Teil von Dantes Divina Commmedia (vollendet in Jahr 1321) dem zeitgenössischen Publikum zugänglich zu machen, ist einerseits höchst komplex, andererseits formal an der Popästhetik ausgerichtet, die auf leichte Konsumierbarkeit zielt. Das dreisprachige Stück – Deutsch, Englisch, Italienisch – fingiert eine Sendung von „Radio Inferno“, die der legendäre Radio-DJ John Peel (1939-2004) moderiert. Peel, der den Tonfall des englischen Nachrichtensprechers perfekt beherrscht, berichtet vom Abstieg Vergils und Dantes in die Unterwelt, wobei er zugleich Ansagen zur (Radio-)Zeit macht, das Publikum zum „Dranbleiben“ ermuntert und die Ereignisse kommentiert: „After this somehow extreme number...“ „Stay tuned to Dante’s visit to Satan himself.“ [1:01:10] Schlüsselstellen aus Dantes Originaltext werden auf Italienisch von Enzo Minarelli vorgelesen, beginnend mit den berühmten Versen: „Nel mezzo del cammin di nostra vita / Mi ritrovai per una selva oscura.“ Entsprechende Textstellen in deutscher Übersetzung rezitiert Blixa Bargeld, während Reden Vergils vom englischen Sänger Phil Minton gesprochen, gesungen, gegrummelt, gequiekt werden. Sein Tonspektrum ist enorm, und seine Stimme klingt oft wie aus einer Geisterbahn-Installation. Die von Bargeld und von Minton vorgetragenen Passagen sind nicht auf Übersetzungen des Originaltextes beschränkt, sondern umfassen auch modernisierte Metatexte, meist mit Bezug auf das Medium Radio. Schon der erste Satz lautet: „Nacht. Eine Landschaft in völliger Stille. Von Ferne ein Radio. Wenn es im Urtext heißt: „Lasciate ogni speranza, voi che entrate“, lautet die modernisierte Übersetzung: „Lasst alle Hoffnung fahren, wenn ihr einschaltet.“ [43:00] Eröffnet wird der mediale Abenteuertrip mit einem verballhornten Marshall McLuhan: „Das Medium war das Messer. Die message war 01.“ Schon das klassische Original wird medial eingeordnet: „Die Hölle war ein Buch von Dante.“ Nicht um die Hölle geht es, sondern um ein Buch und um seine moderne Entsprechung, eben das Radio. „You’re listening to Radio Inferno.
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FM 93.5.“ Das Stimmenensemble wird vervollständigt durch Yvonne Ducksworth, die auf Deutsch mit amerikanischem Akzent der Hölle selbst ihre Stimme gibt bzw. den Inferno-Bewohnern Präsenz verleiht. Im Sinne des Aktualisierungskonzepts sind unter ihnen Kunsterneuerer des 20. Jahrhunderts: Duchamps, „der letzte Maler“, James Joyce und John Cage, Avantgardisten der Literatur und Musik, sowie der Schriftsteller William Burroughs, der sogar im O-Ton zu Wort kommt, wobei er sich über das readymade als Literaturform äußert. An ihm wird deutlich, dass das Stück auch ironisch funktioniert. Die Höllenstrafe dieses Autors ist pikant: „Here Beatnik Burroughs has to read his own books for all time.“ Dantes Beschreibung der Strafen für Simonisten, von Peel erklärt als Leute, „making money out of holy things“, leitet über zu den Qualen für Betrüger in öffentlichen Ämtern“. Deren Beschreibung wiederum wird mit O-Ton von Kaiser Wilhelm II. verknüpft, der seinen Landsleuten die Unausweichlichkeit des Krieges erklärt. Das Herunterzählen im O-Ton für einen Raketenstart wird als „countdown to hell“ bezeichnet, und die ultimative Selbstironisierung des ganzen Stücks steckt in dem vom Sänger Phil Minton dreimal in gequältem Tonfall hervorgebrachten Satz: „It’s vulgar to enjoy that kind of things.“ [u.a. 1:02:47] Die Ironie wird bitter, wo sich an die Aufforderung, alle Hoffnung fahren zu lassen, ein Originalton aus der Zeit des RAF-Terrors anschließt: Forderungen des Kommandos Holger Meins, Flugzeugentführung, Botschaftsbesetzung. Ist es vulgär, ein Buch zu lesen, in dem in schön geformter Sprache ausführlich geschildert wird, wie berühmte Leute ewige Pein erdulden müssen, oder ein Hörspiel zu hören, das eine Expedition ins Inferno zu einem Hörvergnügen macht? Medienökonomisch betrachtet, ist diese Frage belanglos, denn es geht einzig um den Imperativ des „stay tuned“. Ammer will das Publikum bei Laune halten, indem er sich an der Hitparade orientiert. Sie umfasst in diesem Fall 34 Titel, den 34 Gesängen im ersten Teil der „Divina Commedia“ entsprechend, und sie ist abwechslungsreich. In seiner zwei Jahre später (1995) gehaltenen Dankesrede zum Hörspielpreis der Kriegsblinden für Apocalypse live nennt Ammer die Hitparade und die Live-Reportage die beiden großen Errungenschaften des Radios. Das Hörspiel, wenn es die Struktur der Hitparade, also eine Abfolge von Topsongs, übernehme, habe die Möglichkeit, deren Beschränkungen zu überwinden. Es könne nämlich Stücke, die im Schnitt drei bis vier Minuten dauerten, in eine große Form bringen. Darin ähnele es der Oper, deren Arien ebenfalls nur eine begrenzte Länge haben, sich aber in ein großes Opus einfügen. Mozart habe die Struktur der Hitparade vorweg genommen. „Das Hörspiel – und viele, die auf dem literarischen Kunstanspruch dieser Gattung bestehen, wollen es nicht hören –, das Hörspiel gehört in die Hitparade.“ (In: Wagner 2001, 294) Es versteht sich, dass Ammer übertreibt und satirisch zuspitzt, vielleicht auch provozieren will, wie er es mit vielen seiner Hörspiele tut. Phil Minton, der auch in Apocalypse live (BR 1994) wieder dabei ist, ist mit seinem exaltierten Gesangsstil
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keineswegs hitparadentauglich. Und die Samples, die FM Einheit verwendet, zeichnen sich überwiegend nicht durch erwartbare Harmonien und das Gehör erfreuende Modulationen aus. Zum einen gibt es eine Geräuschkulisse, die zum Abstieg in das Inferno passt: Klappergeräusche, Wasserrauschen, Felssturz, Donnergrollen, es könnte auch der Lärm eines Bombergeschwaders sein, kosmische Explosionen, alles mit viel Hall. Zum anderen ist da eine Musik, die zum Großteil dem Soundtrack eines Horrorfilms entnommen sein könnte. Da man als Hörer gern etwas wiedererkennt, klammert man sich an den Hit Papa Was A Rolling Stone, der zu hören ist, als Dante und Vergil die Leute beobachten, die zur Strafe Steine schleppen müssen. Des Weiteren hört man Soul, Cocktailmusik (Shuffle), Barockoper, Beatsample, Oratorium, Anklänge an Neue Musik und Free Jazz. Es wird durchaus der gebildete Zeitgenosse angesprochen, aber es ist andererseits nicht zwingend, dass man alles identifiziert und korrekt zuordnet, es genügt, wenn man staunend dabei bleibt und nicht vor der Komplexität kapituliert, die das Resultat eines langwierigen Arbeitsprozesses ist. „Text und Komposition sind quasi nur Vorstufen, Radio Inferno entstand in monatelanger Arbeit im Tonstudio. Die Trennung von Text und Komposition […] funktioniert nicht mehr […].“ (Zeyns 2001, 204) Unter der Überschrift „Hörspielmaschinen“ stellt Martin Zeyns Radio Inferno in den Kontext einer Hörspieldramaturgie, die „das Unbehagen an der Apparatur“ überwindet (ebd., 197) und die technische Seite der Hörspielproduktion nicht verdrängt (wie es in den 1950er Jahren geschehen sei), sondern den Hörerinnen und Hörern bewusst macht. „Ein Hörspiel als Sprachspiel als Schallereignis als Versuchsanordnung mit offenem Ausgang.“ (ebd., 199) Als Beispiele nennt Zeyns: Fünf Mann Menschen von Jandl/Mayröcker (vgl. Kap. 3.3), Hörspiel – ein Aufnahmezustand (WDR 1970) von Mauricio Kagel, Schallspielstudie von Paul Pörtner, Verkommenes Ufer und Wolokolamsker Chaussee von Heiner Goebbels, Ohrbrücke / Earbridge Köln San Francisco (WDR 1987) von Bill Fontana, in dem der Künstler die Möglichkeiten der Liveschaltung und Simultanübertragung für ein Hörspiel nutzt, sowie das Radiostück Pressures of the Unspeakable (SWR 1998) von Gregory Whitehead, in dem Schreie zu hören sind, die von einem Anrufbeantworter aufgezeichnet wurden. Die Besonderheit der Hörstücke von Andreas Ammer, in diesem Punkt vergleichbar mit denen von Heiner Goebbels, besteht darin, dass hier die Grenzbereiche von Sprachspiel und Musik erkundet werden. Demzufolge sind viele Stücke von Ammer und Goebbels auf bekannten Plattenlabels erschienen. Josh Landau schrieb eine Musikkritik zu Radio Inferno, die die Qualitäten des Stücks zusammenfasst: „F.M. Einheit, the machinist for Germany’s Einsturzende Neubauten, is a regular collaborator with Andreas Ammer, who adapted the text for this radio-drama-meets-medieval-poetry version of Danteʼs ,Inferno‘. Featuring the vocal talents of Phil Minton, Blixa Bargeld and radio DJ John Peel this makes for a surprisingly good adaptation. Blixa’s shrieks and whistles har-
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monize nicely with the amazing vocal range Minton possesses; their path is described by Peel’s archetypal radio DJ voice. A good portion of Neubauten shows up to provide instrumentation for the fray, an odd sound sculpture drawing elements from both mediamanipulation sound sculpting and old-fashioned experimental rock. The tone varies wildly at times, jumping from a grinding industrial beat to an operatic soprano and back, but musical themes are woven throughout, giving the piece a continuity it needs. The adaptation by Ammer is excellent, straying from the text where appropriate but maintaining the tone of the whole quite well. One of the better examples of what experimental music can produce in an accessible vein.“
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Vieles von dem, was über Radio Inferno gesagt wurde, gilt auch für die nächste große Produktion von Ammer und FM Einheit, Apocaplypse live (BR 1994), wobei der Titel auf ein Novum hinweist, das Ammer in seiner Rede zur Preisverleihung als etwas ganz Altes darstellt: Das Stück wurde am 14. Oktober 1994 im Münchener Marstall live aufgeführt und gleichzeitig aufgezeichnet. In der Tat gab es LiveSendungen von Hörspielen in den 1920er Jahren und Live-Aufzeichnungen in den ersten Jahren nach 1945. Aber im Zeitalter der „Hörspielmaschinen“, in dem bereits Samples verwendet werden, die mit Computern generiert wurden, ist dieses Verfahren ungewöhnlich. Ammer frönt damit seiner Vorliebe für gattungs- und medienübergreifende Kunst, die vor allem das Radio und die Bühne verbindet. Die Textgrundlage ist die Offenbarung des Johannes, auch Apokalypse genannt. Das 67 Minuten dauernde Stück umfasst, dem Urtext entsprechend, 22 Titel, darunter viele kürzer als zwei Minuten, manche aber auch länger als fünf Minuten. Wie in Radio Inferno werden auch hier Teile des (griechischen) Originaltextes vorgelesen, und zwar von Pater Karl Kleiner. Phil Minton tritt in der Rolle des Johannes mit höchst exaltiertem (Sprech-)Gesang auf, Alex Hacke, Schauspieler und Gitarrist der Einstürzenden Neubauten, spielt Gitarre und trägt Anmoderationen und Abschnitte aus der Bibel vor. Der Textvortrag ist also wieder dreisprachig: Deutsch, Altgriechisch, Englisch. Wer ein Neues Testament zur Hand hat, kann mitlesen, allerdings stimmen die CD-Titel nicht genau mit den Kapiteln der Offenbarung überein. Für die mediale Aktualisierung konnten Ammer und Einheit den bekannten TV-Moderator Hanns Joachim Friedrichs gewinnen, der hier ganz kurz vor seinem Tod den Part übernimmt, dem Publikum die Apokalypse anschaulich zu machen und zu erklären, woran Ammer in seiner Preisrede sehr bewegt erinnert. Friedrichs’ Auftritte wurden im Fernsehstudio 1 des NDR aufgenommen und bei der BühnenAufführung des Stücks auf eine Leinwand projiziert. Friedrichs spricht unverkennbar im Tonfall seiner „Tagesthemen“-Moderationen, und zwar unabhängig davon, ob er Bibeltext vorträgt, textkritische Anmerkungen macht oder in aktualisierter Form vom Weltuntergang berichtet, als sei das Fernsehen bzw. Radio live dabei. In 15 http://www.allmusic.com/album/radio-inferno-mw0000258203
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Track 16 sagt er: „Zum Fall von Babylon jetzt der Kommentar.“ Seine Absage der Sendung lautet: „Wir hoffen, Sie hatten einen schönen Aufenthalt. Halleluja für Euch alle.“ Das Werk als Ganzes erscheint als Gattungsmischung zwischen kommerzieller Radiosendung, seriösem Nachrichtenformat, Zirkusshow, Gottesdienst, Oper und Popkonzert. So gibt es drei Werbeunterbrechungen (Tracks 4, 9 und 17), von denen die erste mit den Worten eröffnet wird: „And now a word for our sponsors.“ In der zweiten wird der Rezipient darauf aufmerksam gemacht, dass er jetzt einen Videorekorder braucht, um das Spektakel vom Weltuntergang ganz auszukosten. Alex Hacke spricht entweder wie ein affektierter Märchenerzähler oder wie ein Marktschreier.16 Die Oper wird in Duetten von Phil Minton und dem Countertenor David Greiner parodiert. Die überwiegend von Ammer, Einheit und der Pianistin Ulrike Haage komponierte Musik greift viele Musikstile auf, die in der Regel verfremdet werden, aber zum Wiedererkennen einladen. Erwähnenswert ist z.B. das „Halleluja“ aus Händels Messias im Techno-Stil mit außergewöhnlich hoher bpm-Zahl (Track 19). Interessant sind dabei intermediale Aspekte wie der, dass der Hit I Will Survive (Track 2) zunächst in einer „punkig verzerrten[n] Version“ (Bachmann 2013, 30) live vorgetragen, dann, nach einem von Hacke gesprochenen Zwischentext, im von Gloria Gaynor gesungenen Original vom Tonband eingespielt wird. Danach brandet Beifall auf, von dem auch der über die Aufnahmesituation informierte Zuhörer nicht wissen kann, ob dieser direkt bei der Aufführung mitgeschnitten wurde oder ob er aus der Konserve stammt. Nach Michael Bachmanns These beruht Ammers Bemühen um eine ‚Bewahrung‘ des als Kunstform gefährdeten Hörspiels „auf dem […] Schwanken zwischen transmedialem Erzählen und intermedialer Situation, für die „das singuläre Theaterereignis […] zwar unabdingbar ist, aber nicht gesehen werden muss“ (ebd., 29, Hervorhebungen im Text). Die Intermedialität wird zum einen im Stück selbst zum Thema, z.B. wenn das Radio erwähnt wird („Himmel voller Frequenzen“; „out there at your loudspeakers“) und wenn Hacke den Weltuntergang „live on stage und ohne doppelten Boden“ (Track 2) ansagt; zum anderen bestimmt sie die Produktion und Rezeption des Stücks, das nicht nur das im Theater anwesende Publikum erreicht, sondern auch, als – potentiell wiederholbare – Radiosendung, auf CD, als abrufbare Datei im Internet usw., die Nutzer entsprechender Apparate. Die zwei Ansager, Hacke und Friedrichs, sind aufgrund der medialen Situation schon stimmlich unterschiedlich präsent, was dem Publikum die Erfahrung vermittelt, dass es verschiedene „Arten der Liveness“ (ebd., 30) gibt. Die Übertragungssituation selbst ist damit Teil der performance.
16 Darin sehr ähnlich einigen Stücken von Christoph Schlingensief, z.B. Rosebud (WDR 2002) oder Lager ohne Grenzen (WDR/DLR 1999).
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Weniger einleuchtend ist, dass Bachmann den transmedialen Aspekt allein auf das Akustische beschränkt. Es gehe um den „weiten Bereich des Hörstücks […], der in all seinen medialen Erscheinungsformen weitgehend gleich, also auf einer gewissen Ebene unabhängig vom Medium bleibt: Das ist der Bereich des Akustischen [...]: Sie (die Erzählung) funktioniert im rein akustischen Rahmen ebenso wie im Audiovisuellen“ (ebd., 32). Das zweite transmediale Phänomen ist aber hier, wie auch in Radio Inferno, der Text, der nicht nur als Akzidens der intermedialen Inszenierung anzusehen ist, sondern seine eigene Bedeutung behauptet und in Verbindung mit dem modernen Setting neue Bedeutungen entwickelt. In seiner Preisrede betont Ammer, „dass die künstlerische Ausgestaltung des Weltendes [in der Offenbarung, Anm. G.R.] am Anfang der abendländischen Kultur steht, diese – bis heute – immer wieder begleitet und stimuliert hat. Der Weltuntergang ist ein künstlerisches Aphrodisiakum und richtig gelesen ist vielleicht die Bibel ein surrealistischer Text.“ (in: Wagner 2001, 292) Zwar hebt Ammer damit die Materialeigenschaften des Textes hervor, aber auch das Thema, eben das Weltende, beschäftigt ihn, und er fügt den biblischen Bildern zahlreiche dazu passende moderne hinzu, z.B. ganz am Anfang den Blick aus dem Weltall auf die Erde, akustisch gefasst als (scheinbarer?) Originalton aus einer Raumkapsel. Im übertragenen Sinn enthält die Offenbarung des Johannes eine überdurchschnittliche Zahl an ‚sprachlichen Samples‘, die in verschiedenen – religiösen und säkularen – Kontexten alltagssprachlich verwendet werden: das Buch mit sieben Siegeln, die apokalyptischen Reiter, das Tausendjährige Reich, das Jüngste Gericht, die Hure Babylon, das A und O. Allerdings treibt Ammer mit diesen Zeichen und den zugehörigen Bildern nicht einfach ein postmodernes Spiel, das von wirkungsvollen Effekten vorangetrieben wird, sondern er bleibt, zumindest in der Tiefenstruktur, erstaunlich texttreu, was auch bedeutet, dass er den Bibeltext ernst nimmt. Am Schluss bezieht er sich auf die moderne, philologisch orientierte Bibelkritik, indem er Friedrichs (in Track 20) über die beiden letzten Kapitel sagen lässt: „Es dürfte sich bei dem Text um eine spätere Hinzufügung handeln.“ Das Ganze wird abgeschlossen mit einem von Minton leicht verfremdet gesungenen Folksong über The Great Book of John, in den hinein Friedrichs seine Absage spricht. Man hat den Eindruck, dass der darauf folgende Beifall keine Einspielung ist, sondern tatsächlich nach der Aufführung des Stücks ‚live‘ aufgenommen wurde. Vielleicht um eine Trilogie zu vollenden, wahrscheinlich auch aufgrund der Faszination, die von alten Texten ausgeht, die Grenzsituationen der Menschheit thematisieren, ließen Ammer und Einheit ein weiteres großes Hörspiel von ähnlicher Gestalt (und Länge) wie die beiden besprochenen folgen: Lost & Found. Das Paradies (BR 2004) nach John Miltons Versepos Paradise Lost (erschienen 1667). Mehr als die beiden anderen erfüllt dieses Hörspiel die Erwartungen an ein Popkonzert. Es unterscheidet sich davon nur dadurch, dass es zwischen den Musikstücken keinen
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Zwischenapplaus gibt. Dafür wird die live-Atmosphäre am Schluss umso mehr ausgekostet, indem nach dem ersten spontanen Beifall eine Absage der Show und die Ankündigung einer Zugabe folgen: Es ist das fröhliche, tanzbare Stück „I’ll die happy“, womit das – trotz verlorener Unsterblichkeit – wiedergefundene Paradies auf Erden besungen wird. Davor geht es um die Rache des von Gott verstoßenen Satans, die er am Menschen verübt, statt einen offenen Aufstand gegen Gott zu wagen, worauf der Mensch zwar Erkenntnis gewinnt, aber aus dem Paradies vertrieben wird. Der Text wird auf Deutsch von Alexander Hacke und dem damals schon fast achtzigjährigen Schauspieler Günter Rüger sowie auf Englisch von der australischen Post-PunkSängerin Anita Lane vorgetragen. Es werden nicht nur ausgewählte Textstellen aus Paradise Lost vorgelesen, oder -gesungen, sondern auch Erläuterungen zum Werk gegeben. Alexander Hacke, der durch seine Sprechweise, wie er selbst erklärt, oft den Satan darstellt, erläutert am Anfang den Blankvers („da ta, da ta...“ ) und gibt einen Überblick über „die Geschichte des blinden Dichters Milton“. Dabei weist er darauf hin, dass „die Besucher hier im Saal“ Textstellen aus Miltons Werk auf Leinwänden sehen können. Wieder wird das Live-Ereignis selbst zum Thema. Nach einem Moment der Stille eröffnet Hacke das eigentliche Programm mit den Worten: „Der Teufel spricht. Die Musik setzt ein.“ Es folgt ein fünfminütiger Blues des Sängers und Gitarristen James „Blood“ Ulmer, der einen eigenen, unverwechselbaren Gitarren-Sound mit starkem Einsatz des Wah-Wah-Effekts entwickelt hat. [10:05-15:07] Einen weiteren Blues, The Devil Got To Burn, wird später [55:4059:25] zu hören sein. Dazwischen wechseln die Songs zwischen einem meditativen Stil, für den besonders die Querflöte steht, und rockigen Stücken mit treibenden Beats. Es gibt immer wieder Höhepunkte, vor allem nach dem Sündenfall, wenn bei den Menschen die Sinneslust geweckt ist und Satan sie mit Geschrei anstachelt und die Musik immer wilder wird. Am Schluss wechseln Rüger mit seinem pathetischen, hohen Ton und Lane, deren Sprechweise etwas Entrücktes und Meditatives hat, was gut zum Bild des schreitenden Paars in den abschließenden Versen passt: „They, hand in hand, with wandering steps and slow, / Through Eden took their solitary way.“ Alle drei hier beschriebenen Hörspiele von Ammer und FM Einheit scheinen der Pop-Erwartung schon wegen der Textgrundlagen zu widersprechen, denn diese lassen an ‚Hochkultur‘ oder ‚elitäre‘ Kunst denken. Das Milton-Stück hat an einigen Stellen, z.B. da, wo über den symmetrischen Aufbau [31:25] oder über den Blankvers gesprochen wird, scheinbar den Charakter einer Poetik-Vorlesung. Es liegt nicht fern zu fragen, ob ein erhabenes Epos wie Paradise Lost, in dem der Dichter eine auf Gott hin zentrierte hierarchische Ordnung des Kosmos darzustellen bestrebt ist, sich dazu eignet, zum Stoff für ein Pop-Musical zu werden. Andererseits beteiligen sich die Autoren nicht an den Kontroversen um die Ausdeutung des Werks, erwarten also beispielsweise nicht, dass die Rezipienten sich Gedanken dar-
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über machen, ob der rebellische Satan der eigentliche Held des Epos ist, wie es von manchen Romantikern gesehen wurde. Im Hörspiel hat die Figur Satans eine dramaturgische und eine auf den Sound bezogene Funktion; zudem erhöht sie den drive des Stücks. Dramaturgisch bringt Satan durch sein Dazwischenfunken und durch seine Störaktionen Spannung in das Leben von Adam und Eva. Er stachelt den Mann dazu an, sich rückhaltlos zur Frau zu bekennen, was zwar mit einem Verlust des Paradieses und des ewigen Lebens, aber mit einem Gewinn an Erkenntnis und sinnlicher Lust verbunden ist. Den Sound belebt er mit seiner schrillen, kreischenden Sprechweise, meist zu rockigen Rhythmus- und Bassfiguren, die mit dem gleichbleibend pathetischen Textvortrag Rügers kontrastiert. Eine uralte Geschichte von existentieller Bedeutung neu zu erzählen, und zwar in Gestalt einer Nummernrevue, von der man sich auch einfach nur unter unterhalten lassen kann – das ist die Leistung dieses Pophörspiels. Zugleich macht es die Grenzziehung problematisch, auf der der Systemtheoretiker bestehen muss: „Pop unterscheidet das Populäre vom Elitären.“ (Heidingsfelder 2012, 52) Da es aber richtig ist, dass, wer von Pop spricht, Nicht-Pop mitdenken muss, ist das Austesten und Überschreiten der Grenzen zwischen dem Populären und dem Elitären als ein mögliches, nicht notwendiges Element des Pop anzusehen. Es scheint, als machten sich Ammer und Einheit einen Spaß daraus, durch die Auswahl ihrer Texte und der musikalischen Gestaltungsmittel auf die Fragwürdigkeit der Unterscheidung von hoher Kunst und Popkultur hinzuweisen.17 Darauf deuten auch Ammers explizite Provokationen mit Bezug auf Mozart, die Oper, das Hörspiel und die Hitparade in seiner Preisrede hin.
10.3 R EKOMBINATION VON S TOFFEN UND F ORMEN DER L ITERATUR Auf einem Symposium anlässlich der 10. ARD Hörspieltage ging ein Expertenteam „der Frage nach, was Radiokunst heute ist: Erzählung? Künstlerisches Feature? Experiment mit Wort, Ton, Performance?“ (Skoruppa u.a. 2015, 14) Wenn mit „Radiokunst“ das Hörspiel gemeint ist, lautet die Antwort: alles. Und das ist keineswegs neu: Das Hörspiel kann Erzählung sein, dramatisch oder objektiv bzw. subjektiv narrativ (vgl. A. P. Frank), es kann Züge eines Features haben wie viele O-TonHörspiele (bei fragwürdiger Grenzziehung), es kann Experiment mit Wort, Ton, Performance sein wie viele Stücke vom Typ Neues Hörspiel. Relativ neu ist aller-
17 In diesem Zusammenhang wäre auch Pierre Bourdieus soziologischer Ansatz daraufhin zu befragen, ob von einer „legitimen Kultur“ als einer festen Größe wirklich noch gesprochen werden kann (vgl. oben Kap. 2).
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dings, dass ein Stück alles zugleich sein kann, was bei den von der Popkultur beeinflussten ‚postmodernen‘ Hörspielen immer häufiger der Fall ist. Der damit verbundene formale und inhaltliche Eklektizismus ist gewollt, er ist sogar das charakteristische Gestaltungsprinzip dieser Hörspiele. Wenn Materialien aus ganz verschiedenen kulturellen Sphären und von sehr unterschiedlicher ästhetischer Qualität collagiert werden, mag mancher Kritiker den Vorwurf der Oberflächlichkeit oder selektiven Wahrnehmung erheben, zum Beispiel im Hinblick auf den Umgang mit Werken der kanonisierten Literatur. In Opposition gegen eine solche an Maßstäben der Hochkultur ausgerichtete Kritik, die er ‚wissenschaftlich‘ nennt, hat Leslie Fiedler die Erfindung einer „neuen“, einer „post-modernen“ Kritik gefordert, die sich nicht ganz so ernst nimmt und die sich selbst als Kunst versteht: „{S]ie benutzt ein Kunstwerk als Gelegenheit, ein anderes zu schaffen. […] Diese Kritik muß ästhetisch und poetisch in Form und Inhalt sein, gleichzeitig aber auch komisch, respektlos und vulgär.“ (Fiedler 1994, 17) Viele neuere Radioarbeiten haben genau diese Eigenschaften. Vielleicht ist es angebracht, so wie Fiedler vom „wirklich Neue[n] Roman“ spricht, das Pophörspiel als das „wirklich Neue Hörspiel“ zu bezeichnen, das „anti-künstlerisch und anti-seriös“ sein muss (ebd., 20) oder, positiv gewendet: unterhaltend, sinnlich, originell, witzig. Das Duo SEROTONIN (bestehend aus MARIE-LUISE GOERKE und MATTHIAS PUSCH, beide *1964) ist bekannt für Hörspiele, in denen fiktionale und nicht-fiktionale Elemente ständig unvermittelt wechseln, sodass, wieder einmal, die Abgrenzung zwischen Hörspiel und Feature ironisch in Frage gestellt wird. Ein Beispiel für respektlosen, durchaus eklektizistischen Umgang mit hoher Literatur ist das Hörspiel Buddenbroichs oder Die Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg (WDR 2011). Die erste Grenzüberschreitung liegt schon im Titel, der eine Mischung aus Buddenbrooks von Thomas Mann und der Fernsehserie Die Fussbroichs (WDR 19892001) darstellt. Während Thomas Mann in epischer Breite vom Abstieg einer großbürgerlichen Familie über mehrere Generationen erzählt, geht es in den Fussbroichs um das Leben einer Kölner Arbeiterfamilie im Stil einer Doku-Soap. Im fiktionalen Raum des Hörspiels will Regisseur Bernhard Lenker die Buddenbrooks im Stil der Fussbroichs auf die Bühne bringen, denn: „Der Gesellschaftsroman von heute, das sind die Fussbroichs. Und das matcht mit den Buddenbrooks.“ [04:15] Als Schauspieler bevorzugt er arbeitslose Hartz-IV-Empfänger und findet Tamina Blum und Ante Slavić, die eigene Vorstellungen über den Verlauf des Stücks einbringen. So hat Ante musikalische Ambitionen und hat einen Rap gedichtet, den er im Stück unterbringen will (und den er im Hörspiel vorträgt). Tamina, gefragt nach ihrer Lieblingssängerin, nennt Madonna und singt, noch etwas schüchtern, Like A Virgin vor, dessen Melodie für ihren Rollentext verwendet werden soll. Etwas später begleitet sie sich auf dem Akkordeon, das sie gar nicht spielen kann, denn sie hält es verkehrt
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herum, aber sogar das lässt sich als „Super-Metapher“ [38:30] für die Kunst des einfachen Volks deuten. Die ganze Geschichte der Theater-Inszenierung wird in Zwischentexten, gesprochen von Friedhelm Ptok, im behäbigen Sprachstil von Thomas Mann erzählt und, wie in einem Feature, kommentiert von dem Kulturwissenschaftler Rolf Lindner. Dazu kommen Zitate aus Wissenschaft und Technik, z.B. über das Verhalten von Hängen und Böschungen bei verschiedenen Neigungswinkeln, Definitionen von ‚Mittelschicht‘ und ‚Sozialneid‘, von ‚Partizipation‘ nach Henri Lévy-Bruhl, Erläuterungen zu Joseph Beuys’ Zitat, jeder Mensch sei ein Künstler usw. Des Weiteren gibt es O-Ton-Einspielungen von Interviews, z.B. äußert sich ein Kind beim Stichwort ‚Fernsehen‘ darüber, welchen schädlichen Einfluss dieses Medium auf ihre Freundin hat. Eine Frau wird interviewt, die einen Großteil ihrer Altersvorsorge durch die Investition in Solaraktien verloren hat. Zwischendurch tritt die Schauspielerin Sophie Rois unter ihrem wahren Namen als Schauspielerin auf, die vorgibt, gerade Arbeitslosengeld II zu beziehen, um im Stück mitmachen zu dürfen. Sie spielt dann eine Sekretärin, der ihr eigenes Kündigungsschreiben diktiert wird. Der Zusammenhang all dieser Zitate und Szenen mit den Buddenbrooks wird über das Thema ‚Abstiegsangst‘ hergestellt, von der auch die Künstler – wie man sehen wird: zu Recht – betroffen sind. Thomas Manns Dekadenzmodell, in dem der über Generationen abnehmenden Vitalkraft eine zunehmende geistige Verfeinerung gegenübersteht, wird außer Acht gelassen. Zwei Figuren werden aus dem Roman herausgepickt: der Konsul Hagenström, der das Buddenbrookhaus in der Mengstraße kauft, und das Blumenmädchen Anna, in das Thomas Buddenbrook vor seiner Ehe mit Gerda verliebt war. Anna soll den Buddenbrooks vor ihrem Abschied silberne Löffel, als Symbol für den großbürgerlichen Lebensstil, stehlen. Auf der extradiegetischen Ebene der Theaterarbeit wird dem Regisseur sein Laptop gestohlen, und zwar offensichtlich von Ante, dem sozial Unterprivilegierten, den der Intellektuelle lieber nicht zur Rechenschaft zieht. Regisseur Bernhard Lenker, dem am Ende sein Projekt vom Intendanten Klaus aus der Hand genommen wird, vergleicht diesen mit Hagenström, dem neureichen Emporkömmling und Sieger. Seine nicht ausgesprochenen, oft gehässigen Gedanken bilden eine weitere Ebene, gesprochen von einer Frauenstimme und durch Echo-Effekt vervielfältigt. Nach der ersten öffentlichen Probe hört man, wieder im O-Ton, Theaterbesucher, die sich abfällig über die Verstümmelung klassischer Stücke durch moderne Regisseure äußern. So kommt es gar nicht zu einer Aufführung des Stücks, sondern ein neuer Regisseur macht mit Ante eine Doku-Soap für das Fernsehen: „Buddenbroichs – eine Familie wehrt sich“. Aus diesem Film hört man eine Szene mit elegischer Filmmusik, in der Figuren mit den Namen der Fussbroichs auftreten. Bernhard wird wieder Bühnentechniker, als der er einmal im Haus angefangen hat. Ironische Schlusswendung: Ein Schweizer Regisseur, der Das Haus am Eaton Place inszeniert, versucht ihn für
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sein Stück zu gewinnen, weil er einen „richtigen Arbeiter“ auf der Bühne haben möchte. Der Überblick zeigt, wie vielfältig das akustische Universum dieses Hörspiels ist. Typologisch könnte es auch den intermedialen Pophörspielen zugeordnet werden, bringt es doch die Medien Buch, Theater und Fernsehen in einen Zusammenhang, aber durch den an Buddenbrooks anklingenden Titel wird ein Signal gesetzt, das die Rezeption vorrangig steuert, was eine Zuordnung zum literarischen Typus legitimiert. Die Zwischentexte des Erzählers bestätigen die durch den Titel geweckte Erwartung, während die Figurenrede eher in Richtung Fussbroichs weist, allerdings ohne den Kölner Dialekt. In der den Zeitgeist widerspiegelnden Sprache der kreativen Szene wird eine Scheinwelt aufgebaut und als solche entlarvt, die schon durch die Konfrontation mit den davon abweichenden Artikulationsformen der (angeblichen) Laiendarsteller ins Wanken gerät. Der Zynismus, der darin liegt, durch die Rollenbesetzung mit ‚echten‘ Arbeitslosen dem Stück Authentizität zu verleihen, richtet sich am Ende gegen den Regisseur selbst. Darüber hinaus besteht die besondere Raffinesse des Hörspiels darin, dass es sich auf einer anderen Ebene, nämlich der des Features, selbst parodiert. Originell und überraschend ist es, physikalisch-technische Texte über Hänge und Böschungen als Klammer eines Hörspiels über Abstiegsängste zu nutzen. Im Sinne Vowinckels handelt es sich bei Buddenbroichs um eine „metaphorische Collage“, die aus der überwiegend linearen Verknüpfung scheinbar disparater Elemente einen neuen Weltbezug aufbaut (vgl. Vowinckel 1995, 290). Das Cut-up-Verfahren von William Burroughs wurde bereits in dem Abschnitt über Rolf Dieter Brinkmann (8.1) beschrieben. Dreißig Jahre nach Erscheinen des Romans Naked Lunch (1959) nutzte es CARL-LUDWIG REICHERT (*1946) für sein Collage-Hörspiel Cut Up Burroughs (BR 1989). Schon der Titel lässt erkennen, dass es hier weniger um Inhalte und Themen von Literatur als um eine Form geht. Es heißt, Burroughs habe sie nicht erfunden, sondern von dem Schriftsteller Brion Gysin übernommen und weiterentwickelt. Erstes berühmtes und sehr einflussreiches Beispiel für die Anwendung des Verfahrens ist der Roman Naked Lunch, der seinerzeit berüchtigt war, wegen der darin enthaltenen Obszönitäten in den USA zunächst nicht veröffentlicht werden durfte, aber heute als ein Klassiker der modernen Literatur gilt. Wie Kerouacs On The Road und Ginsbergs Howl hatte er großen Einfluss auf auf die Popkultur seit den 1960er Jahren. Wichtigstes Thema des Romans ist die Drogensucht, aus der sich das typische Personal ergibt: vor allem Junkies, Pusher, Dealer, Drogenfahnder sowie Ärzte, die sich um die Drogenopfer kümmern, wenn es nicht mehr anders geht. Das den Text beherrschende sprachliche Paradigma umfasst Namen von Halluzinogenen aller Art; dazu passend werden mit naturalistischem Blick auf abstoßende Details die Vorgänge und Möglichkeiten geschildert, wie man diese dem Körper zuführt. Das Cut-up-Verfahren erlaubt es dem Leser, an
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jeder beliebigen Stelle in den Text einzusteigen. Es ist insofern konsequent auf den Inhalt abgestimmt, als die Drogensucht ein Dauerzustand ist, der zu stetigen Wiederholungen führt und einen Plot mit Komplikation, Spannungsbogen, gutem oder schlechtem Ausgang ausschließt. Sprachlich oszilliert der Roman zwischen gewählt-gehobener Wissenschaftssprache (zum Beispiel in der Figurenrede eines Dr. Benway) und tiefstem derb-vulgärem Slang. Diese stilistische Spannweite findet man auch in den gesammelten Tonaufnahmen Burroughs’, die Reichert für sein Hörspiel nutzte. Am Anfang erklärt Burroughs, worin er den Nutzen seiner poetischen Methode sieht: „Cut-ups put you in touch with what you know and do not know that you know.“ Gemeint ist wohl, dass durch das Zerschneiden des Textes und das Umgruppieren der Teile Bedeutungsvarianten aktualisiert werden, die bei konventioneller Sprachverwendung nicht erkennbar wären. In Bezug auf Tonaufnahmen gilt das Gleiche für phonetische Merkmale von Stimmen, was Burroughs am Beispiel eines Cut-ups vorführt, das Brion Gysin in einem Studio der BBC hergestellt habe. Es folgt eine längere Lesung Burroughs’ im Originalton, die auf das Publikum offenbar wie Kabarett wirkte, weil immer wieder Lachen zu hören ist. Der Autor erzählt in Ich-Form, weshalb er nicht Präsident der Vereinigten Staaten, sondern lieber Abwasserinspizient (commissioner of sanitation) werden wollte, und er erklärt, wie nützlich dieser Job sein kann, wenn man sich günstig Drogen beschaffen will. Während dieser Text anschließend von einem deutschen Sprecher (Peter Fricke) für die Hörspielhörer übersetzt wird, läuft im Hintergrund der O-Ton weiter, teilweise mit Rückwärtsspule. Seine komische Wirkung entsteht einerseits durch unerwartete sprachliche Wendungen, andererseits durch Burroughs’ Predigerton, eine Art Singsang mit vielen lang gezogenen Silben, der zur Wortwahl und zum skandalträchtigen Inhalt nicht zu passen scheint. Wieder nimmt Burroughs den Mythos vom „american way of life“ aufs Korn. In Naked Lunch heißt es dazu: „Amerika ist kein junges Land: es ist alt und dreckig und bösartig, und das war es schon vor den Siedlern und vor den Indianern.“ (Burroughs 1978, 302f.) Der an dieser Stelle kurz und später wiederholt angespielte Song Lonesome Cowboy Bill von der Gruppe Velvet Underground formuliert eine, allerdings offenbar ironisch gemeinte Antithese zu Burroughs Schmäkritik am ‚Amerikanischen Traum‘, indem er in ständiger Wiederholung den uramerikanischen Mythos vom „lonesome cowboy“ aufleben lässt: „Lonesome Cowboy Bill / Rides the rodeo. / Lonesome Cowboy Bill, / You got to see him yodel ‚Ay-hee-ho‘!“ Musikalisch ist dieses Stück von dem 1970 veröffentlichten Album Loaded, ein konventioneller Folkrock, für Velvet Underground ebenso untypisch wie das ganze Album, das dennoch ein wichtiger Teil der Bandgeschichte ist, weil es in durchaus genialer Weise mit den Erwartungen der Produzenten und des Publikums an ein kommerzielles Album spielt. Lou Reed distanzierte sich erst davon, nahm aber später manche
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der Songs in sein Repertoire auf. So unterläuft Underground den Kommerz durch scheinbare, jedenfalls perfekt gemachte Anpassung.18 Indem Reichert das Cut-up-Verfahren für sein Hörspiel nutzt, wobei er auch das genannte Musikstück als Material verwendet, zeigt er, welches semantische Potential auf diese Weise freigesetzt werden kann. Ausschnitte aus amerikanischen und deutschen Nachrichten werden mit Vortragsschnipseln von Burroughs kombiniert, dazu hört man auf Deutsch eine Erzählung im Ton eines Agententhrillers, im Hintergrund atavistisch wirkende Sounds, die auf einer Expedition zu Naturvölkern aufgenommen worden sein könnten. Als politischer Referenzrahmen kristallisiert sich, passend zur Agentengeschichte, die Iran-Contra-Affäre (1985/86) heraus, danach verweisen Berichte aus deutschen Nachrichtensendungen auf die Fatwa Ayatollah Chomeinis gegen Salman Rushdie (1989). Wer sich auskennt, bezieht möglicherweise Laurie Andersons und Burroughs’ Sharkey’s Night (1984), mit dem das Hörspiel endet, auf die Stellungnahme der Künstlerin in ihrem Song O Superman zur missglückten Geiselbefreiung in der US-amerikanischen Botschaft in Teheran (1980). In Electronic Revolution (1971) vertrat Burroughs zur Leistung von TonbandCut-ups die These, mit erneut abgespieltem Bandmaterial könne man Wirkungen auf reale Objekte erzielen. Sprache könne wie ein Virus wirken und berechenbare Effekte in der Objektwelt auslösen (vgl. Conrads 2005). In einem gegen Ende des Hörspiels wie eine Radiosendung eingebetteten Interview erläutert ein fiktiver Mr. Martin (aus dem Roman Nova Express), in Analogie zu dieser These, in welchem Maß der Verlauf einer Drogensucht nach dem Erstgebrauch der Droge vorhersagbar ist. Der Effekt ist in diesem Fall die Entwicklung zum Junkie, die mit jedem Schuss immer wahrscheinlicher wird. Das Hörspiel inszeniert die Selbstinszenierung von Burroughs als Beat-Poet, Gelehrter und Junkie. Man hat den Eindruck dass die Performance des Autors sich zuweilen der jeweils dominierenden Rolle angleicht, indem seine Artikulation, üblicherweise ein breites, aber relativ klares Amerikanisch, manchmal in ein kaum verständliches Lallen übergeht und die Stimme sich wie ein Knarren anhört, wobei die Präzision der Wortwahl jedoch erhalten bleibt. Wer die vielfältigen Sinnbezüge nachvollziehen will, muss das Stück mehrmals hören und kann dabei, wie bei der Lektüre von Naked Lunch oder Nova Express, an jeder beliebigen Stelle einsetzen. Im Hinblick auf das intermediale Verhältnis von Literatur und Hörspiel handelt es sich im Sinne Uwe Wirths um „konzeptionelle Hybridbildung“, weil „das Konzept der medialen Konfiguration eines Zeichenverbundsystems (der Literatur, G.R.) auf ein anderes“ (des Hörspiels) übertragen wird (Wirth 2007, 263). Dieses Konzept ist das Titel gebende Cut-up-Verfahren. 18 2003 erreichte das Album Platz 110 in der Liste der 500 besten Alben aller Zeiten des Rolling Stone.
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Dieselbe Konfiguration kann durch einen Prozess entstehen, der in umgekehrter Richtung verläuft, also durch die Übertragung eines Hörspielkonzepts auf einen literarischen Text, wie es in dem Hörspiel Waldeinsamskype (DLF 2009) von HELGARD HAUG und DANIEL WETZEL (beide *1969) geschieht. Zusammen mit Stefan Kaegi (*1972) bilden sie die Theatergruppe RIMINI PROTOKOLL, die neben zahlreichen Theaterprojekten auch immer wieder Hörspiele realisiert. Deren wichtigste Kennzeichen sind: „nichtprofessionelle Darsteller als Experten für ihr eigenes Leben, für ihren eigenen Alltag. Die Auseinandersetzung mit dem konkreten Ort der Aufführung oder dessen Umfeld [...]. Ein Text, der deutliche Spuren seiner Entstehung zeigt, der dokumentarisch und literarisch zugleich ist und sehr disparate Materialien der Recherche [...] miteinander verschneidet. Die Eröffnung neuer Perspektiven auf vermeintlich Altbekanntes“ (Dreysse/Malzacher 2007, 8).
Im Fall von Waldeinsamskype ist das „vermeintlich Altbekannte“ das romantische Kunstmärchen Der blonde Eckbert von Ludwig Tieck, das hier in einem Telefonoder Skype-Gespräch zwischen dem Berliner Kunden eines Pizza-Service und einem indischen Callcenter-Angestellten neu erzählt wird. Wie in dem Hörspiel Moment, das wird Sie interessieren! von Stefan Weigl weitet sich eine zunächst realistische und banale Situation, die telefonische Bestellung einer Pizza, in den Bereich des zwar Möglichen, aber höchst Unwahrscheinlichen aus. Darauf verweist schon der Untertitel des Stücks: Ein romantisches Märchen aus den deutsch-indischen Wäldern. In der ersten Szene wird der Bestell-Vorgang zwischen den Gesprächsteilnehmern normal abgewickelt. Der Mann im Call-Center spricht fast fehlerfrei Deutsch mit einem indischen Akzent, die Rolle wird gesprochen von Sagnik Chakraborty, der zu Beginn, im Sinne des Konzepts von RIMINI PROTOKOLL, als „Experte in eigener Sache“ sich und seinen Arbeitsplatz vorstellt. Er hat Deutsch im Max Mueller Institut in Kalkutta gelernt, liebt die deutsche Literatur, vor allem die der Romantik, und schätzt seine Leidenschaft für das Deutsche realistisch als Wirtschaftsfaktor ein: „Ich verkaufe die Begabung, meine Pizza zu verkaufen.“ [22:55] Sein Gesprächspartner ist der Schauspieler Lars Rudolph, der als Kunde Philipp Walter heißt, dessen wahre Identität aber während des Gesprächs enthüllt wird. [23:50] In der zweiten Szene, in der der Inder den Kunden nach seinem Namen fragt, kommen die beiden ins Gespräch über Tiecks Märchen. Der Angestellte erinnert sich an Walther (mit h), eine der Hauptfiguren aus dem Blonden Eckbert, und beide beginnen die Erzählung im Rollenspiel zu rekapitulieren, der Inder als Eckbert, der Deutsche als Walther. Abwechselnd fassen sie Passagen im Frage-Antwort-Spiel zusammen, lesen einander viele Textstellen wörtlich vor und singen gemeinsam das Lied „Waldeinsamkeit“. Die zur Romantik passende Stimmung wird durch Musik von Franz Schubert und Vogelgekrächz als Symbol für die Waldatmosphäre er-
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zeugt, ergänzt durch elektronische Sounds, die auf die gegenwärtige Kommunikationssituation verweisen. Der Hörer erfährt im Verlauf des Stücks immer mehr über die Mentalität Sagniks, der auch in der entzauberten Gegenwart noch an die romantische Idee von der ewigen Liebe glaubt und sie mit einem bengalischen Lied besingt. Dadurch, dass Sagniks Identität schrittweise aufgedeckt wird, weitet sich das Stück zur Parabel über interkulturelle Kommunikation in einer globalisierten Wirtschaft aus. Der Dialog wechselt zwischen symmetrischer Kommunikation über Literatur und asymmetrischer Kommunikation zwischen dem sich überlegen fühlenden Europäer und dem plötzlich wieder als Kuli wahrgenommenen Inder, der irgendwann zögernd gesteht, dass er in Kalkutta sitzt und von dort aus den PizzaService für seine deutschsprachige Kundschaft regelt. Unvermittelt fällt der Deutsche in ein altes Rollenmuster zurück, als er in schroffem Ton beanstandet, gegen seinen Wunsch sei eine Pizza mit Mais geliefert worden, er wolle sein Geld zurück. Man sei hier schließlich in Deutschland. Plötzlich siezt er seinen neuen Freund wieder, der ihn mit dem Satz „Es tut mir so sehr leid“ zum Lachen bringt. Letztens Endes siegen aber Literatur und Musik und einen die beiden über Tausende von Kilometern hinweg. Zu diesem Sieg trägt auch das Medium bei, repräsentiert durch Skype, das solche Begegnungen erst möglich macht. Dass das Fremdverstehen über kulturelle Grenzen hinweg schwierig ist, wird in der von Sagnik angedeuteten Liebesgeschichte mit einer gewissen Ludmilla deutlich, die er während eines Aufenthalts in Deutschland erlebt hat. Indem Walter Ludmilla in Camilla umbenennt, versucht er die Geschichte eigenmächtig umzudeuten, was Sagnik ihm durch Abbruch der Kommunikation an dieser Stelle verweigert. Der tragische Schluss von Tiecks Märchen – Eckbert erschießt Walther, was den Tod seiner Frau Bertha und Eckberts Wahnsinn und abzusehendes Ende zur Folge hat – wird im Hörspiel ironisch aufgelöst: Den Satz aus dem Märchen „Aber indem flog der Bolzen ab“, setzt Sagnik fort mit: „Die Pizza war vergiftet.“ [42:30] Die Schlussfrage „Wer lebt noch?“ beantworten sie lachend mit: „Der Supervisor!“ und beziehen sie damit nicht mehr auf Tiecks Märchen, sondern auf ihre gegenwärtige Interaktion. So lernt der Rezipient die gesamte Geschichte kennen, ohne mit einer herkömmlichen, dialogisierten Adaption konfrontiert zu sein. Das Hörspiel ist weder eine Übertragung noch eine Bearbeitung des Ausgangstextes, sondern es nutzt, im Sinne Fiedlers, den alten Text als Gelegenheit, um etwas Neues zu schaffen. Es wechselt an keiner Stelle in die Gesprächsszene der Tieck-Novelle zwischen Walther, Eckbert und dessen Frau Bertha, sondern bleibt immer auf der Ebene des Call-Center-Anrufs, auch wenn es die Konventionen dieser Standardsituation zeitweise vergessen lässt. Waldeinsamskype kann auch als aktualisierende Neuinterpretation einer romantischen Märchennovelle gehört werden. Dagegen geht es in der O-Ton-Collage Friedrich Miles von Schiller Davis (SWR 2005) von ANDREAS AMMER und FM
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EINHEIT nicht um Inhalte von Schiller-Texten, sondern um den Sound historischer, auf Schellack-Platten festgehaltener Rezitationen berühmter Balladen, Dramenmonologe oder -prologe dieses Dichterfürsten. Durch die Collagierung dieser Aufnahmen mit Ausschnitten aus Miles Davis’ epochalem Jazzrock-Album Bitches Brew (1969/70) sowie mit Live-Mitschnitten und Interviews mit dem Musiker aus der Zeit, in der er seinen neuen, oft als Fusion bezeichneten Sound entwickelte, entsteht ein Hörstück, das die bildungsbürgerliche Inbesitznahme der Weimarer Klassik ideologiekritisch in Frage stellt. Bemerkenswert ist, dass es dies allein über den Sound tut, was auch eine gewisse Doppeldeutigkeit zur Folge hat. Das ewige Werte zelebrierende Pathos in der Stimmführung, das unerbittlich rollende -R-, mit dem Schauspieler wie Alexander Moissi oder Ludwig Wüllner die Texte vortragen, wirken heute beinahe komisch, erst recht, wenn ihre Patina durch den Zusammenschnitt mit Beats, elektronischen Sounds und dem nachlässigen Amerikanisch und der sehr rauen Stimme eines schwarzen Musikers kontrastiv hervorgehoben wird. Es gibt aber ein Kriterium, das die scheinbar so unterschiedlichen Aufnahmen kompatibel macht, und das ist ihre – zeitgebundene – Popularität. Alexander Moissi, von Max Reinhardt gefördert, war in seiner Zeit ein überaus gefeierter Schauspieler, der um die Welt tourte, ebenso wie es Miles Davis als einer der berühmtesten Jazztrompeter tat. Davis’ Popularität erreichte mit Bitches Brew ihren Höhepunkt, was sich in endlich wieder ausverkauften Konzerten und der höchsten Verkaufszahl im Vergleich zu seinen anderen Platten niederschlug. Kritiker wie Ekkehard Jost sehen ihn damit auf Abwegen des Mainstreams, gesteuert von seiner Plattenfirma Columbia, die sich mit dem im Vergleich zu Pop-Alben mageren Absatz seiner Tonträger nicht mehr abfinden mochte (vgl. Jost 1982, 228). Andere dagegen feiern Bitches Brew als Meilenstein der Musikgeschichte, durch den eine ganz neue Kreativität im jetzt um Rock- und Funk-Elemente erweiterten Jazz freigesetzt wurde.19 Nicht zu bestreiten ist aber, dass im Jazz seitdem auch wieder gerade Beats und eingängige Harmonien akzeptiert wurden, was eine gesteigerte Kommerzialisierung zur Folge hatte, obgleich die Verkaufserfolge der reinen Popmusik nicht zu erreichen waren. Ein Freejazzer wie Jost, der im Jazz eine revolutionäre, zumindest aber gesellschaftskritische künstlerische Ausdrucksform sieht, kritisiert den Fusion- und Rockjazz als etwas Reaktionäres, das es dem Publikum leichter macht, sich mit den unbefriedigenden gesellschaftlichen Verhältnissen der Gegenwart abzufinden. Den Schiller-Rezitationen der damaligen Schauspieler-Stars könnte man aus dieser Sicht ebenfalls einen affirmativen Charakter zuschreiben, 19 Beispielsweise hebt Karl Lippegaus Miles Davis’ innovative Leistung im Vergleich zu Vorläufergruppen wie Blood Sweat & Tears und Chicago hervor, die zu Unrecht beansprucht hätten, die Idee zum „Jazz Rock“ gehabt zu haben: „Mit Bitches Brew hatten sich die Versuche, Jazz und Rockmusik zu verbinden, auf ein neues Niveau begeben.“ (Lippegaus 1978, 224).
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was im Hörspiel durch eine pathetische „Ja“-Schleife [05:00 ff] tatsächlich geschieht. Ob nun Ammer und Einheit diese Parallele aufzeigen oder vielmehr einen Kontrast zwischen einerseits verstaubten, ideologisch belasteten und andererseits in die Zukunft weisenden Medienproduktionen herstellen wollten, bleibt offen. Hört man zum Vergleich ihre Collagen Deutsche Krieger 1 und 2: Kaiser Wilhelm Overdrive (BR 1991), Adolf Hitler Enterprise (BR 1995), so liegt die zweite Deutung nahe. Durch die Mischung mit modernen Sounds, durch Sampling und Loops wird das kriegstreiberische Pathos der damaligen Redner als Phrasendrescherei entlarvt. Die verheerenden Folgen sind bekannt. Das Hörspiel wurde mit dem Prix Italia ausgezeichnet. In der Begründung der Jury heißt es unter anderem: „This was a good example of technology serving an original concept, allowing an audience to experience Schiller with fresh ears: Schiller and Miles Davis jamming at the Village Vanguard, just imagine it!“ (Zit. n. HörDat) Zu Recht ordnet die Jury das Stück zwischen Literatur und Musik ein, indem sie zum einen argumentiert, es ermögliche es, Schiller neu zu hören, es zum anderen als „musical gig“ bezeichnet. Dennoch spricht viel dafür, dass es die primäre Idee bei der Entstehung des Hörspiels war, den historischen Rezitationen ein neues Gewand zu geben und damit zugleich ihren ideologischen Kern zu enthüllen. Eine andere Frage ist, ob die Autoren damit dem ‚richtigen‘ Ton für die SchillerTexte, nach dem Ernst Bloch 1932 in seinem Essay „Die Kunst, Schiller zu sprechen“20, suchte, näher gekommen sind oder ob es ihnen nur gelingt, den ‚falschen‘ Ton mit Mitteln der Popkunst zu entlarven.
20 Vgl. den Text in der ARD-Hörspieldatenbank.
11. Die Musik bestimmt das Hörspiel
Im Rahmen der Erläuterung von Merkmalen des Pophörspiels wurde festgestellt, dass Musik die Leitkunst der Popkultur und aus systemtheoretischer Sicht (Pop-) Musik sogar das Kriterium zur Unterscheidung von Pop / Nichtpop ist. Was in Kapitel 4 behauptet wurde, konnte inzwischen an zahlreichen Beispielen nachgewiesen werden: Beat, Rhythmus und die in der Popmusik gebräuchlichen Instrumente sowie musikalischen Verfahren bestimmen den Sound der allermeisten Pophörspiele und lenken die Rezeption dieser Stücke. Allerdings kann die Musik in unterschiedlichen Erscheinungsformen und Funktionen auftreten. So können bekannte Popsongs als Signale zum Wiedererkennen eingesetzt werden, ihre Texte können Kommentare zur Handlung liefern, bekannte oder eigens für das Hörspiel komponierte Musik kann Stimmungen erzeugen, zum Erinnern oder zum Tanzen animieren, sie kann zu neuen Lesarten von literarischen Texten anregen usw. Im folgenden Kapitel soll es um Hörspiele gehen, bei denen die Musik nicht nur ein, wenn auch besonders wichtiges, Merkmal ist, das sie zu Pophörspielen macht, sondern für die Popmusik auch strukturell und thematisch bestimmend ist. Bekannte Popsongs oder auch Alben liefern Ideen zu Hörspielen, was oft schon am Titel erkennbar ist.
11.1 P OPMUSIK SCHAFFT S ITUATIONEN In ihrem Hörspiel Norwegian Wood (SWF 1967) verknüpft GABRIELE WOHMANN (1932-2015) Elemente der Popkultur, insbesondere die Musik und den Text des Titel gebenden Stücks der Beatles vom Album Rubber Soul (1965), mit Merkmalen des Absurden Theaters, und zwar so gekonnt, dass eine perfekte Mischform dabei herauskommt. Das Absurde, für das vor allem einige Theaterstücke der klassischen Moderne von Samuel Beckett und Eugène Ionesco stehen, wird in die Post- bzw. Popmoderne transferiert. Das Archiv, aus dem die Autorin sich dafür bedient, enthält nicht nur das damals (fast) aktuelle, also eigentlich noch gar nicht für das Archiv reife Beatles-Stück, sondern es umfasst Mythen, sprachliche Preziosen, entle-
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genes Bildungsgut aller Art. Es handelt sich um den Dialog eines Ehepaars, Paul und Lony, die damit beschäftigt sind, gemeinsam die Zeit totzuschlagen. Ihren Spiel-Raum nennt Lony ihr „Gehenna“, also ihre Hölle. Durch die Ehe wird beider Aufenthalt dort perpetuiert: „Ich hab dir versprochen, bis zur Goldenen Hochzeit durchzuhalten, und nun halt ich auch durch“, lässt Paul verlauten (Wohmann 1979, 75). Zunächst spielen sie, dass Lony taub und Paul blind ist und dass sie Gäste haben, Selma und Didi, mit denen sie Hasenbraten verspeisen. Paul bemüht sich dauernd, das Stück Norwegian Wood auf der LP zu finden, es ist das zweite, aber da er scheinbar blind ist, erwischt er oft noch den Schluss des Vorgängerstücks Drive My Car. Wenn er versucht mitzusingen, erweist sich seine Textkenntnis als lückenhaft, sodass er eine angefangene Textzeile mit „da da da daaaa“ fortsetzen muss (ebd., 36). Bei einer solchen Gelegenheit fällt Lony aus der Rolle, als sie den korrekten Text mitsingt, den sie ja niemandem von den Lippen abgelesen haben kann (ebd., 52).1 Zudem versteht sie den Sinn der Ballade besser als er, der immer von norwegischen Waldstücken redet, bis sie ihm klarmacht, dass Lennon von einer Zimmereinrichtung, also von Möbeln singt (ebd., 39). Zusätzlich treten zwei Figuren auf, die genauso erfunden sein können wie Selma und Didi, die aber, im Unterschied zu diesen, eigene Stimmen erhalten: der als PERSON bezeichnete Nachbar, der behauptet, ihm seien seine Hasen gestohlen worden, und der Sohn Derek, dem einige die vermeintlichen Eltern stolz machende Eigenschaften und eine kleine Geschichte angedichtet werden. Ihm bleibt es am Schluss überlassen, Paul und Lony durch Knebelung mundtot zu machen. Für ihn sind anscheinend die Beatles schon out, obwohl sie 1967 auf der Höhe ihres Ruhms standen, denn er wird Plattenspieler und Tonbandgerät veräußern, „(w)eil doch keiner mehr nach John Lennon kräht“. Außerdem zerreißt er „den ‚New Musical Express‘ und den ‚Record Mirror‘ / Die mein Vater gesammelt hat, denn er ist ein Irrer“ (ebd., 78). Der Beatles-Forscher Mark Hertsgaard schreibt über den wohl bekanntesten Song2 von der LP Rubber Soul: „In poetischer Hinsicht kommt Norwegian Wood von Herzen, es ist witzig und im besten Sinn des Wortes enigmatisch. Der Text ist abwechselnd genaue Beobachtung, böse und komisch [...]“ (Hertsgaard 1995, 110). Diese Charakterisierung lässt sich sehr gut auf Wohmanns Hörspiel übertragen. Allerdings ist die misslingende Liebesnacht, die Lennon/McCartney als einzelnes Ereignis schildern, für das Ehepaar Paul und Lony offenbar ein Dauerzustand. Strukturell ähnelt die Kommunikation der beiden stark derjenigen der Landstreicher Wladimir und Estragon in Samuel Becketts Theaterstück Warten auf Godot. Man probiert verschiedene Strategien aus, die Zeit totzuschlagen, und wenn diese ver1
Zu bedenken ist dabei, dass es Mitte der 1960er Jahre noch völlig unüblich war, Song-
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Allenfalls kommt ihm Nowhere Man an Bekanntheit gleich.
texte auf Plattencovers abzudrucken.
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braucht sind und einem nichts mehr einfällt, wechselt man in die Metakommunikation, wie es Lony in folgender Äußerung tut: „Wir haben alles gemacht, mir fällt nichts mehr ein, Liebling. Wir waren blind und taub und wir hatten Selma und Didi und Topfhasen und Derekchen und den Nachbarn, die Polizisten, Zitatenschatz, Synonyme, Wissenswertes aus allen Wissensgebieten, idiomatisches Sprechen – was jetzt?“ Versuchsweise beschimpfen sie sich, aber: „Das hatten wir schon.“ (Ebd., 66) Das Spiel geht weiter, bis Lony sagt: „Wirklich, mon choux, es wird Zeit, daß wir unser Leben ändern.“ (Ebd., 76) Der Hörer weiß, dass dies nicht geschehen wird, sondern dass die eheliche Kommunikation sich so oder ähnlich ständig wiederholen wird. Auf das Prinzip der Wiederholung weist auch das musikalische Leitmotiv Norwegian Wood hin, das jetzt, laut Regie-Anweisung, zum ersten Mal in Gänze zu hören sein soll, nachdem es bis dahin nur angespielt, mitgesungen oder -gesummt worden ist und darüber hinaus das Gespräch, vor allem in Pauls Reden, in hohem Maß bestimmt hat. Weitere durch Popmusik inspirierte Hörspiele gehorchen weniger den Gesetzen der Literatur – wie Wohmanns frühes Beispiel Norwegian Wood es tut – als denen des Mediums Radio. Darin sich entwickelnde Situationen wirken oft wie Stegreifspiele, die im Originalton aufgenommen wurden. Der mit diversen Preisen ausgezeichnete Hörspielautor und -regisseur PAUL PLAMPER (*1972) ist seit seinem ersten Erfolgsstück TOP HIT leicht gemacht (WDR/NDR 2002) zu einem Trendsetter der Hörspielszene geworden. Charakteristisch für seine Stücke ist die halb dokumentarische Machart mit besonderem Augenmerk auf den zeitgenössischen Jargon. In einer Rezension zu Plampers Hörspiel Stille Nacht (Ruhe 3) (WDR 2013) charakterisiert Jochen Hieber dessen „raffinierte Arbeitsweise“: „Sie beruht auf Mimikry, also auf einer das Kneipen-, Küchen-, Couch- oder Bettgespräch scheinbar authentisch wiedergebenden, in Wahrheit aber filigran inszenierten Sprach-Spontaneität, die seinen Hörspielen Live-Charakter verleiht.“ (Hieber 2013). Ähnlich ist der Tenor einer Kritik von Alexander Cammann zu dem preisgekrönten Hörspiel Der Kauf (WDR/BR/DLF 2013), die die Überschrift trägt: „So reden wir heute!“ „Wir hören auch eine Momentaufnahme unserer Epoche“, schreibt Cammann über dieses Stück (Cammann 2013) und könnte sich damit auf alle Hörspiele Plampers beziehen, die diverse Bereiche des modernen Lebens sprachlich abtasten und darüber hinaus akustisch abbilden. TOP HIT leicht gemacht – In 50 Minuten an die Spitze der Charts ist ein satirisches Hörspiel, das nicht nur zeichenhaft auf das Geschäft mit tanzbaren Mainstream-Hits verweist, sondern selbst zu einem Teil dieses Geschäfts wird. Das Ziel ist im Untertitel formuliert: In den 50 Minuten, die das Stück dauert, soll ein in den Charts platzierter Hit entstehen, und zwar nicht nur in der Fiktion, sondern real. Grundlage dafür ist das Handbuch „Der schnelle Weg zum Nr- 1-Hit“
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von Bill Drummond und Jimmy Cauty.3 Beide hatten um 1990 mit ihrer Band KLF nach ihren eigenen Rezepten mehrere Hits produziert, bevor sie sich 1992 mit einem Skandal aus dem Musikgeschäft verabschiedeten. Das Besondere und wohl Einmalige an Plampers Hörspiel besteht darin, dass hier das Musikstück nicht den Ausgangspunkt der Handlung, sondern das anvisierte Endprodukt bildet. Ein Vokal-Jingle mit dem Motto „Top Hit – leicht gemacht“, der zu einer Radioshow gehören könnte, stimmt das Publikum darauf ein und wird zwischen den einzelnen Kapiteln jeweils wiederholt. Als „Bett“, also Hintergrundmusik zum Text, fungiert ein Reggae, der auch einmal verswingt werden kann, wenn das Tempo erhöht wird. Eine weibliche Stimme aus dem Off, es ist die verhältnismäßig tiefe, beruhigend wirkende Stimme der Schauspielerin Astrid Meyerfeldt, sucht auf der Straße in Berlin einen Arbeitslosen, der zum Hitproduzenten werden soll. Nach einigen offenbar zufällig mit Passanten geführten und mit Verkehrslärm im O-Ton aufgenommenen Gesprächen findet sich ein aussichtsreicher Kandidat namens Thomas Herford, gesprochen von Milan Peschel. Dass er musikalisch offenbar völlig unbedarft ist, qualifiziert ihn für das Spiel, für das er von der weiblichen Stimme fortlaufend Anweisungen erhält. Indem er sich zu Hause zunächst herausragende Hitsingles anhört, stimmt er sich auf seine Aufgabe ein, die ihm umso leichter erscheint, je mehr er hört. Er wird durch Drummonds und Cautys Leitfaden geführt, dessen „Goldene Regeln“ akustisch demonstriert werden. Von den Hauptbestandteilen des Hits, Dance-FloorGroove, am besten um die 120 bpm, Intro, Refrain, Strophe, Outro, das oft aus purem Ausblenden besteht, bleibt vor allem der Refrain übrig. Überleitung und break down, also ein eingeschobenes Solo, gelten schon als Zutaten für musikalisch Gereifte, die für den Erfolg eher hinderlich sind. Für den Refrain, der die Eingängigkeit und Wiedererkennbarkeit des Stücks garantiert, lautet das Motto: „Halt dich an Klischees!“ [26:20] Angeregt durch die gehörten Hits erfindet Herford eine Melodie zur Textzeile „I can see it in your eyes, can see it in your smile“, über die der Mann im Studio später sagen wird, sie klinge, als hätte man sie irgendwo schon einmal gehört, sei aber nicht schlecht. Weitere Stationen sind: Reservierung eines Tonstudios, Geldbeschaffung, und zwar im ersten vergeblichen Versuch bei einer Bank, dann telefonisch bei einem Kredithai, der für einen üblichen Zinssatz von 20 Prozent sofort 10.000 Euro zusagt. Ob diese Szenen gespielt sind oder ob reale Anrufe mitgeschnitten wurden, bleibt ungewiss. Jedenfalls ist die Sprache in den Dialogen, wie bei Plamper üblich, äußerst realitätsnah. Das gilt auch für die Situationen im Studio, in denen es dem Produzenten und Musiker Olsen Involtini nicht lange verborgen bleibt, dass sein Klient vom Geschäft keine Ahnung hat und überdies nicht singen kann. Nach einigem Hin und her nimmt der Song dennoch Gestalt an, insbesondere 3
Es erschien im Januar 1999 unter dem Titel „The Manual“.
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nachdem die Sängerin Celina Bostic4 den Refrain kraftvoll eingesungen hat. Zwischendurch bleibt viel Raum für akustisches Feuerwerk: Samples, (Rückwärts-) Schleifen, Micky-Mouse-Stimme durch Hochfahren und abgebremstes Brummen durch Herunterfahren der Abspielgeschwindigkeit, elektronische Sounds aller Art, mit denen die Alpträume des gestressten Herford illustriert werden. Ermuntert durch seine fürsorgliche Mentorin bleibt er hartnäckig und bringt Involtini dazu, den Hit fertig zu produzieren. Eines Morgens läuft er im Radio, ausgestattet mit so etwas wie einer Strophe, gesungen von dem niederländischen Popsänger CB Milton, der damit immerhin Platz 37 der deutschen Charts erreichte. Das Hörspiel ist ein witziger, akustisch abwechslungsreicher Rundumschlag gegen den Mainstream im internationalen Popgeschäft. Unverkennbar durch seinen Berliner Tonfall und seine leicht näselnde Aussprache etabliert sich Milan Peschel bravourös für die Rolle des strauchelnden, aber auch durchtriebenen Losers, der nicht eines gewissen Charmes entbehrt und sich immer wieder Chancen auf Besserung seiner Lebensverhältnisse erkämpft. Peschel ist in zahlreichen Hörspielen Plampers zu hören, so auch in einem weiteren um Musik zentrierten Pophörspiel mit dem Titel Radio Dramat Mixe ’05 (WDR 2005), bestehend aus drei Kurzhörspielen über mehr oder weniger bekannte Songs. Zusammen mit dem Komponisten Beat Halberschmidt versucht Plamper eine neue Form zu entwickeln, die als Reihe von „dramatisch-musikalischen Miniaturen“ bezeichnet wird (vgl. ARD-Hörspieldatenbank). Die Geschichten entwickeln sich sowohl aus den Texten bzw. Titeln der Musikstücke, die für die Figuren eine je individuelle Bedeutung erhalten, ihr Denken und Handeln bestimmen und damit ihr Leben in einem überraschenden Ausmaß prägen, als auch aus der Musik selbst. Der erste und mit gut 25 Minuten längste Dramat Mix heißt Dreckstag für Dreckstag und steht mit dieser Überschrift in auffälligem Gegensatz zu dem Titel Schritt für Schritt ins Paradies von Ton, Steine, Scherben aus dem Jahr 1972, auf dem das Stück basiert. Dieses Lied begleitet Antje an ihrem 37. Geburtstag und erinnert sie ständig an die verlorenen Illusionen ihrer Jugend, die sie, der ernüchternden Wirklichkeit zum Trotz, versucht aufrechtzuerhalten. Antje versteht sich als links und kapitalismuskritisch und gerät in Gewissenskonflikte, als ihre Mutter ihr 40.000 Euro schenkt. Das Gespräch mit dem Bankberater über Anlagemöglichkeiten hört sich wieder an, als wäre es live in einer Bank mitgeschnitten. Als der Berater vorschlägt, sie könne das Geld in soziale Projekte in Afrika investieren, sagt sie erleichtert: „Dann bin ich ja schon aus meinem Widerspruch raus.“ [02:10] Aber dem Argument, dann sei die Rendite eher gering, kann sie sich nicht ganz verschließen und auch ein 50:50-Splitting beruhigt ihr Gewissen nicht. Sie bringt 70:30 ins Gespräch, um sich dann auf 60:40 zu korrigieren.
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Involtini und Bostic sind ebenso reale Personen wie der Sänger CB Milton.
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Im weiteren Verlauf des Stücks trennt sie sich zur Musik der „Scherben“ von ihrem spießig gewordenen Freund Micha (in der Rolle einmal mehr: Milan Peschel), den sie zuvor mit dem Vorwurf konfrontiert hat, er sei „so weit weg von den Scherben wie nur irgendwas“ [05:10]. Tags darauf bringen ihr ihre Schützlinge in dem Sozialprojekt für Behinderte, in dem sie arbeitet, ein Geburtstagsständchen mit eben dem bekannten Lied, was sie zu Tränen rührt. Dann muss sie zum Zahnarzt und begegnet auf dem Weg dem Sänger Clueso, der im Park Lieder zur Gitarre singt. Beim Zahnarzt, den sie beiläufig wegen angenommener Bevorzugung von Privatpatienten angreift, erträgt sie die offenbar beruhigend gemeinte Begleitmusik, die allerdings das Sirren des Bohrers nicht übertönen kann, bis zufällig wiederum das bekannte Lied gespielt wird. Mit aufgesperrtem Mund und Betäubung kann sie den Arzt nicht dazu bringen, es abzuschalten. Als sie auf dem Rückweg Clueso wieder trifft, scheint sich eine Romanze anzubahnen. Es ergibt sich, dass sie zusammen das Lied vom Paradies singen und offenbar das Gleiche dabei empfinden. Aber der „Dreckstag“ endet, wie schon der vorige begonnen hat. Der Straßensänger bittet um zwei Euro für das Lied. Sie gibt ihm 20, nennt ihn „Witzbold“ und wünscht ihn „zurück in den Kindergarten“. Obwohl ein leiser Spott in diesem Stück nicht zu überhören ist, denunziert Paul Plamper seine Figuren nicht, er gibt sie nicht der Lächerlichkeit preis, sondern deckt die Tragikomik in ihrem Leben auf. Er hört genau hin, was sie sagen, registriert kleinste Spuren von Unaufrichtigkeit, ist sensibel für jede Nuance des Jargons und erzeugt so in vielen Szenen den Eindruck eines Stegreifspiels, das mit allen Hintergrundgeräuschen einfach mitgeschnitten wurde. Die Grenzen zwischen Fiktion und dokumentierter Realität werden ständig verwischt, unter anderem auch dadurch, dass ein bekannter Sänger wie Clueso in seiner Profession bzw. auf einer Vorstufe derselben als noch unbekannter Straßensänger auftritt.5 Im zweiten Dramat Mix Repeat One nach dem Techno-Track Rocker (2004) ist er wieder als Straßenmusiker dabei, allerdings nur, um mit seiner Akustik-Gitarre und dem Lied Schritt für Schritt ins Paradies im Getöse der Techno-Musik unterzugehen. DJ Justin Case, gespielt von Rapper FlowinImmO, kann nicht anders, als sich den ganzen Tag mit seiner Musik zuzudröhnen, und weil diese so laut ist, muss er die meiste Zeit schreien. Nachbarn beschweren sich, bis die Polizei kommt und ihm seine Musikanlage wegnimmt, weil es wohl nicht das erste Mal ist. Als er schließlich irgendwann nach Hause kommt, ist es still in seiner Wohnung. Aber er hört ein Piepen im Ohr, das er mit den Worten kommentiert: „Tinnitus is’ fett. Lauter!“ Die Sprache wird in diesem gut zehnminütigen Stück von der fast durchgängig lauten Musik fast verschluckt. Es bleibt vor allem das Wort „Druckbetankung“
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Mit seinem erstmals chartplatzierten zweiten Album hatte Clueso 2004 gerade seinen Durchbruch geschafft.
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[u.a. 27:12] als Lieblingswort des DJs, das sowohl auf die ‚Betankung‘ mit hämmernder Musik als auch mit Alkohol und Drogen zu beziehen ist. Der dritte wieder etwas längere Dramat Mix, der auf dem Stück Eiweiß (1999) von Schneider TM beruht, heißt Kühlschrank6 und ist eine Art Rondo. Es ist ein Mix, der aus drei annähernd gleich ausgesteuerten Zeichenschichten besteht, dem Dialog eines jungen Paars,7 der elektronischen Musik von Schneider TM (alias Dirk Dresselhaus) und den Geräuschen einer sich wiederholenden Frühstücksszene. Die inhaltliche Verbindung zwischen dem Musikstück und der Szene kann über das Wort ‚Frühstücksei‘ hergestellt werden, während die sich immer wiederholende Tonfigur den stereotypen Ablauf des Morgenrituals formal motiviert. Dieses Ritual drückt sich in wiederkehrenden Sätzen aus wie: „Toast ist fertig“, „Die Milch ist heiß“, „Käse fehlt noch“, „Soll ich einschenken?“, „Wann kommst du heut Abend wieder?“, „Bin heut Abend länger weg“ usw., wobei manche Sätze oder Satzteile in Schleifen vervielfältigt werden. Wie jedes Rondo Strophen hat, in denen etwas Neues geschieht, entwickelt sich hier aus der scheinbar immer gleich ablaufenden Szene heraus eine Geschichte mit großen und kleinen Veränderungen. Am Anfang versucht SIE IHN dazu zu bewegen, einen Apfel zu essen, weil es ungesund ist, nur weißen Toast ohne Vitamine zu sich zu nehmen. Später verlangt er von sich aus nach einem Apfel. Hinsichtlich der Mülltrennung hat er die spezielle Gewohnheit, Flaschen und Altpapier nicht in der Wohnung zu sammeln, sondern morgens gleich hinauszubringen, was SIE zuerst befremdet, bevor SIE es übernimmt. Dann fragt ER unvermittelt, ob sie „rausziehen“ sollten, man brauche schließlich eine „Heimstatt“, was SIE, noch sehr distanziert, auf das „Kinderkriegen“ bezieht. Nachdem ER IHR einen Heiratsantrag gemacht und SIE mit der Nachricht überrascht hat, er habe ein Haus gekauft, ist bald darauf Babygeschrei zu hören. Der neue Akteur sorgt für neue Sätze beim Frühstückseinerlei: „Ein Löffelchen für Mama, eins für Papa“. Die irritierende Schlussfrage des Mannes lautet: „Wollen wir eigentlich rausziehen?“, worauf die Frau mit der Gegenfrage reagiert: „Was hast du gesagt?“ So wird die ganze Entwicklung in Frage gestellt; es kann ein Traum gewesen sein, aber letztlich bleibt es sich gleich, ob das zutrifft. Der Traum ist jedenfalls ganz anders beschaffen als derjenige, den Rio Reiser besingt. Allerdings ist dieser, auch wenn die Protagonistin das nicht wahrhaben will und sogar die Trennung von ihrem Freund dafür in Kauf nimmt, schon im ersten Dramat Mix kaum mehr als ein Museumsstück, das im zweiten Kurzhörspiel fast zwangsläufig weggeräumt bzw. weggedröhnt wird. Ob Plamper mit den Achtundsechzigern und allen, die behaupten dazu zu gehören, wegen ihrer gescheiterten Utopie abrechnen will, bleibt offen, ist aber jedenfalls nur ein Aspekt unter mehreren. Der primäre Impuls bestand wohl 6
Dieser Dramat Mix ist auch auf der von Claes Neuefeind herausgegebenen Anthologie
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Gespielt von Caroline Peters und Matthias Matschke.
der freien Hörspielszene pressplay 2 (mairisch Verlag 2008) enthalten.
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darin, aus grundverschiedenen Musikstücken eine akustisch interessante, formal neue Art von Hörspiel zu entwickeln. Die gleiche Idee liegt dem Stück Hunderttausend Lo-Fi-Lieder zugrunde, das das Duo PHONOFIX (bestehend aus dem Autor JÖRG ALBRECHT, *1981, und dem Musiker MATTHIAS GRÜBEL, *1982) 2008 im Auftrag des SWR selbst produzierte. Es basiert auf dem Stück Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst des Hamburger Trios Tocotronic. Dieser einfache, gerade Punk-Song von dem Album Wir kommen um uns zu beschweren (1996) ironisiert im Text seine eigene Form und könnte genau so entstanden sein, wie es in der ersten Strophe beschrieben wird: „Ihr sitzt in euren Zimmern und ihr wartet auf das Glück / Und ihr habt schon zwanzigtausend Zigaretten ausgedrückt / Redet nur von den Projekten und von eurem neuen Stück / Manchmal frage ich mich bin ich oder ihr verrückt?“8 Im Hörspiel wird dieselbe Situation in Form eines mehrstimmigen Sprachspiels von männlichen und weiblichen Sprechern dargestellt. Zum Zweiten sind Phonofix fasziniert vom Kassettenrekorder, was sie auch dadurch demonstrieren, dass ein solches Gerät am Eingang ihrer Homepage steht und den Zugang zu weiteren Seiten eröffnet. Die Autoren blicken nach zehn Jahren auf eine Jugend in der Rock-Provinz zurück, wo sie damals mit „home recording equipment“ Musikstücke aufzunehmen versuchten. Es geht um batteriebetriebene Kofferplattenspieler, Tonbandgeräte, Diktiergeräte und Kassettenrekorder, die als Abspiel- und Aufnahmegeräte dienten. Wörter wie Bandabfall, Bandsalat, Löschkopf tauchen aus der Versenkung auf. Blecherne Gitarren-Sounds, das Quietschen der Rückkoppelungen, brummende Bässe, ein Rauschen und Knacken sind die Merkmale dieses Versuchs, eine musikalische Jugend akustisch zu rekonstruieren, wobei die Lo-Fi-Technik wichtiger, das heißt, in höherem Maß charakteristisch für die Jugendzeit zu sein scheint als die damit aufgenommenen oder abgespielten oder manchmal aus Versehen wieder gelöschten Lieder. Ausdrücklich genannt wird von den in der Jugend bevorzugten Hits nur Loser (1993) von Beck [05:04], was vermutlich kein Zufall ist, da dieser Sänger selbst mit Lo-Fi-Technik experimentierte. Der Refrain seines Nr. 1 Hits soll wohl das Lebensgefühl der damaligen jungen Provinz-Rocker widerspiegeln: „I’m a loser, Baby, so why don’t you kill me.“ Von den alten Geräten lernt man mehr, heißt es im Hörspiel, als von „Menschen, die behaupten, in Woodstock dabei gewesen zu sein“ [18:13], also von den Möchte-gern-Achtundsechzigern, oder von denen, „die behaupten, in Seattle dabei gewesen zu sein“, also Kurt Cobains Ruhm und Ende aus unmittelbarer Nähe miterlebt zu haben. Die Autoren sind aber viel stärker von Cobains Grunge-Musik beeinflusst als von den Protestsongs der Achtundsechziger, was durch angespielte Har8
http://www.songtexte.com/songtext/tocotronic/ich-verabscheue-euch-wegen-eurer-klein kunst-zutiefst-6bd05eae.html
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monien aus Smells Like Teen Spirit [11:06] signalisiert wird. Am Ende bittet eine Sprecherin für die kurzfristigen Tonstörungen um Entschuldigung, eine letzte selbstironische Wendung, da es eben diese Tonstörungen sind, die die Substanz des Hörspiels ausmachen.
11.2 H ÖRSPIELE
ÜBER
T OP H ITS
Einige neuere Pophörspiele dokumentieren inhaltlich und musikalisch die Bedeutung wichtiger Hits und kommen dabei entweder ganz ohne Fiktionalisierung aus oder sie enthalten nur geringe Anteile fiktionaler Rede. Beispiele für diesen Typus sind das 25 Minuten dauernde Stück Working Class Hero (SWR 2009) des bereits vorgestellten Duos SEROTONIN und INA KLEINE-WISKOTTs (*1975) Kurzhörspiel9 Irenes Mercedes (SWR 2008). Marie-Luise Goerke und Matthias Pusch sprechen in ihrem Hörspiel darüber, was eigentlich „Helden“ bzw. „Arbeiterhelden“ sind, und finden viele in Frage kommende Beispiele, die sie mit OriginaltonEinspielungen illustrieren. Wie bei Serotonin nicht anders zu erwarten, ist der Grundton ironisch, was sich vor allem in der bunten Mischung der vorgestellten möglichen Helden zeigt: Dem klassischen Bild vom Arbeiterhelden entspricht am ehesten der mythische Eisenbahnbauarbeiter John Henry, je nach Sichtweise auch der von der SED mit dem Orden „Held der Arbeit“ ausgezeichnete Wilhelm Pieck, schon weniger der Ausnahmesprinter Emil Zátopek und der Tischtennisweltmeister und dreimalige Tennis-(Wimbledon-)Sieger Fred Perry (wobei Sportidole selbstredend für Arbeiter und andere Menschen zu Helden werden können, besonders wenn sie so unkonventionell und dennoch, oder gerade deswegen, erfolgreich sind wie Zátopek). Vollends ironisch wird die Heldenschau, wenn auch Winnetou darin vorkommt oder eben der Sänger des Liedes, John, der einst erklärte, die Beatles seien inzwischen populärer als Jesus. Dem Arbeiter- und Bauernstaat bleibt es überlassen, sich selbst zu kommentieren mit parteioffiziellen Kitsch-Liedern wie Die Partei hat immer recht oder Unsere Heimat. Zu alldem erklingen verschiedene Versionen des berühmten Musikstücks von John Lennon, mit dessen Originalversion das Stück eröffnet wird. Sein Text ist ebenfalls voller (Selbst-)Ironie und Bitterkeit: Von Geburt
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Das Stück dauert 17 Minuten. Dass es noch kürzer geht, zeigt ERHARD SCHMIED (*1957) mit seiner fünfteiligen Serie Mörderisch gute Hits (RBB 2011). Mit durchschnittlich 5 Minuten Spieldauer übersteigen die Stücke kaum die Länge der Top Hits, die ihre Handlung bestimmen, nämlich Like a Virgin, Rock around the Clock, We are the Champions. Ich find dich scheiße, Satisfaction. Das Wort „mörderisch“ wird hier wörtlich genommen, insofern sind diese Kurzhörspiele Eulenspiegeleien des Pop-Zeitalters.
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an machen sie dich klein – Man müsste (was sonst?) ein Held der Arbeiterklasse sein. Oder man müsste einen Mercedes Benz besitzen (oder einen Farbfernseher oder mal groß ausgehen) und fordert diese materiellen Segnungen gleich von Jesus oder Gott ein: „Oh Lord, won’t you buy me / a Mercedes Benz“ (denn die anderen fahren alle schon Porsche). Anders als Serotonin in ihrem halb dokumentarischen Stück, dessen künstlerische Qualität vor allem auf der Auswahl und Collage von OTönen beruht, erzählt INA KLEINE-WISKOTT in ihrem Hörspiel Irenes Mercedes eine Geschichte, deren Rollen von Schauspielern gesprochen werden. Den Referenzrahmen bildet hier Janis Joplins bekannter Song Mercedes Benz, für den sich die Protagonistin Irene so begeistert, dass sie sich einen (angeblich) aus Janis’ Besitz stammenden Mercedes in blaumetallic in den Garten stellt und damit Aufsehen in der Nachbarschaft erregt. Das teure Stück ist zwar immer noch nicht abbezahlt, aber das stört Irene nicht, sie nutzt es an Joplins Geburtstag für eine Gedenkfahrt. Das Hörspiel ist eine (liebevolle) Satire auf die Mentalität und den Lebensstil von AltHippies, für die die Farben des summer of love kaum verblasst sind. Das Umkippen dieses Traums in blutige Gewalt dokumentieren ANDREAS AMMER und FM EINHEIT in ihrem Hörspiel Auf der Straße nach Mendocino (WDR 2008), das den Untertitel trägt: ’68 aftershow – Vom „Summer of Love“ zur RAF. Zu Wort kommen darin der Schlagersänger Michael Holm, dessen trivialisierte Fassung des ursprünglich von dem amerikanischen Tex-Mex-Musiker Doug Sahm komponierten Musikstücks Mendocino in Deutschland ein großer Hit war, und der ExTerrorist Peter-Jürgen Boock, der an der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer beteiligt war. Die Terroristen erschossen dabei drei Polizisten und Schleyers Fahrer. Das Codewort, das sie bei ihrer Aktion verwendeten, lautete „Mendocino“. Der makabre schwarze Humor des Hörspiels besteht darin, dass eine elektronisch verfremdete Frauenstimme in der Sprache eines Navigationsgeräts sowohl den Weg der Terroristen zum Anschlagsziel als auch den Reiseweg Michael Holms von San Francisco zum Kult-Ort Mendocino beschreibt. Auf einer Meta-Ebene unterhalten sich zwei ‚Pop-Sachverständige‘ über den Song und seine Geschichte, wobei der eine, Marcus Calvin, am Anfang aus dem Stegreif den Text der Originalversion ins Deutsche, später den deutschen Text von Michael Holm ins Englische übersetzt: „Teenie bopper“ versus „Auf der Straße“. So weist das Hörspiel eine – durchaus gewagte – semantische Doppelstruktur auf, die sich auch in der Gegenüberstellung von O-Ton zeigt: einerseits Tagesschausprecher Köpcke mit Meldungen zum Terroranschlag und zugehörige Teile von Reportagen, andererseits Bob Dylan mit einer Ankündigung zum Musiktitel [39.25]; einerseits eine deutsche, später eine bejubelte japanische Version des Schlagers, andererseits eine Gothic-Rock-Version des Songs; einerseits Holms nos-
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talgische, andererseits Boocks brisante Erinnerungen, wobei Holm – Gipfel der Ironie – seine früheren Aufzeichnungen zum Hit wegen der vielen Korrekturen mit der Metapher „wildestes Schlachtfeld“ [38:00] charakterisiert. Verbindend läuft im Hintergrund die meiste Zeit der treibende Beat einer Rhythmusgruppe mit häufigen Wiederholungen des Mendocino-Motivs durch: Ton / Tonverdoppelung / Ton als Brücke zwischen höchst disparaten Ereignissen und Erfahrungen. Der zweifellos größte und ambitionierteste Versuch, nicht nur einem Popsong, sondern einem ganzen Album, das Musikgeschichte geschrieben hat, ein akustisches Denkmal zu setzen, ist das Hörspiel Darkside (BBC 2013) des britischen Dramatikers TOM STOPPARD (*1937).10 Der berühmte Bühnenautor, der als Drehbuchschreiber sogar mit einem Oscar ausgezeichnet wurde,11 verfasste das Hörspiel im vierzigsten Jahr nach dem Erscheinen von Pink Floyds Album The Dark Side of the Moon. Im Einvernehmen mit dem Pink Floyd Musiker David Gilmour unterlegte er seinem Hörspieltext die Musik des Albums, von der er sich hatte inspirieren lassen. Radio BBC 212 sendete das Stück zum ersten Mal am 26. August 2013 und kündigte es dabei an als „a phantastical story about fear, philosophy and madness, woven together with the original music“.13 Mit „madness“ wird auf den Wahnsinn des Gründungsmitglieds der Band Syd Barrett angespielt, den Pink Floyd, so jedenfalls eine mögliche Interpretation, mit ihrem Werk zum Thema machen. Der Titel geht auf einen Aphorismus Mark Twains zurück, nach dem jeder Mensch eine dunkle Seite habe wie der Mond. Demnach erkunden die Musiker in den Texten des Albums die im gegenwärtigen Zustand der Welt liegenden Gründe für das Abgleiten eines Menschen in den Wahnsinn. Stoppard wiederum hatte bereits in seinem Theaterstück Rock ’n’ Roll (2006) auf Barretts Niedergang angespielt.14 10 Neben diesem hier ausführlich besprochenen Hörspiel schufen Volker Präkelt und Frank Tschöke aus dem gleichen Anlass ein Hörstück mit demselben Titel, das 2013 vom NDR produziert wurde. 11 1999 für das Drehbuch zum Film Shakespeare in Love. 12 Gina Thomas macht in der FAZ vom 26.08.2013 darauf aufmerksam, dass das Stück nicht von BBC 3 oder 4, den „übliche[n] Programme[n] für Hörspiele ausgestrahlt“ wurde, sondern vom „Unterhaltungssender Radio 2, der mit fünfzehn Millionen Zuhörern die bei weitem populärste Rundfunkstation des Landes ist. Stoppard vermutet, dass das Publikum für seine sämtlichen Bühnen- und Hörspiele nicht an diese Zahl herankommt. Diese Vorstellung hat ihn besonders gereizt.“ 13 Laut der Ansage habe ein Freund von Stoppard diesen bereits 1973 dazu ermuntert, ein Stück über das Album zu schreiben. Nunmehr, vierzig Jahre später, habe er es getan. 14 Barrett starb, als das Stück erstmals gespielt wurde. Auf dem Album thematisiert der Song Brain Damage den Wahnsinn. Zu Beginn jeder Strophe wird eine Ortsbestimmung des „lunatic“ gegeben.
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Wie andere Alben von Pink Floyd enthält The Dark Side of the Moon Elemente, die an ein Hörspiel denken lassen.15 Dies sind der Herzschlag am Anfang, das geloopte Klingeln von Weckern und Registrierkassen und rätselhafte Stimmen, deren Aussagen schwer zu identifizieren sind, bis auf die letzte des Pförtners der Abbey Road Studios: „There is no dark side in [sic] the moon. Matter of fact it’s all dark.“ Stoppards Hörspiel beginnt mit dem Herzschlag und endet – nicht ganz – mit der Aussage des Pförtners. Das letzte Wort hat hier die Protagonistin Emily McCoy, eine Studentin der Philosophie, die der Autor, ausgehend von einer Kollegstunde bei Mr. Baggott, auch Ethics Man genannt, auf eine surrealistische Reise schickt, die sie den letzten Fragen des Lebens und der Menschheit näherbringt. Gültige Antworten sind dabei ebenso wenig zu erwarten wie in den Songtexten der Band. Zwischen den Dialogen werden die Musikstücke in der Reihenfolge des Albums gespielt, den Text begleitend hört man die Instrumentalmusik, und zwar vor allem die elektronischen Samples und Loops, die sich als Hintergrund für Emilys Reise eignen. Der Hörer steht immer wieder vor der Frage, welches die tragende (extradiegetische) Ebene des Stücks ist, da mehrfach neue Erzählebenen eröffnet werden. Am Anfang wird ein moralphilosophisches „thought experiment“ in Szene gesetzt: Ein voll besetzter Zug rast auf eine zerstörte Brücke zu. Die Insassen wären dem Tod geweiht, wenn nicht in letzter Sekunde Ethics Man die Weiche umstellen würde, sodass der Zug auf ein anderes Gleis geleitet wird. Auf diesem steht allerdings ein Junge, der ums Leben kommt, weil der Zug unmöglich rechtzeitig bremsen kann. Im Philosophieseminar lässt nun Mr. Baggott darüber abstimmen, ob Ethics Man richtig gehandelt hat, indem er das Leben eines Menschen geopfert hat, um viele zu retten. Emily äußert Zweifel, sie möchte wissen, wer im Zug saß und wer der Junge war, eine Frage, die der Dozent nicht zulässt, weil sie nicht zum utilitaristischen Prinzip passt, das er mit dem Beispiel verdeutlichen will: „An action is a moral action, if the consequences are good. The consequences are good, if they increase the sum of human happiness. We define happiness as a state of well-being starting off with being alive instead of dead.“ [03:57ff.] In der nächsten Szene ist Emily mit dem geopferten Jungen unterwegs, der keinen Namen hat, weil er nur Teil eines Gedankenexperiments ist. Sie stellt wieder Fragen nach den Eigenschaften der geretteten Personen, es könnte zum Beispiel ein Mörder unter ihnen sein, während der Junge das Potential gehabt haben könnte, etwas sehr Nützliches für die Menschheit und die Erde zu tun, etwa den Frieden bringen oder das Abschmelzen der Gletscher verhindern. Sie fragt den Jungen, woran er glaubt, und als er auf die Transzendenz verweist, fordert sie ihn auf, das zu erklären. Seine Antwort ist verblüffend: Er glaubt an „the juggler on the radio“ [07:23]. Warum? „I heard him on the radio.“ Das Stück enthüllt sich als „radioplay“, dessen 15 So gibt es auf Atom Heart Mother (1970) Geräusche und Gemurmel eines Mannes, der sich ein Frühstück zubereitet.
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Akteure ihre Existenz einem „juggler“ verdanken, der im Apparat die Fäden zieht. In der zweiten Hälfte des Stücks – mittlerweile soll Emily als Hexe verbrannt werden – tritt er in Erscheinung: „If you’ve just joined us: There’s a change of the advertised programme. The radio juggler will now follow a live coveridge of the witch burning, and I think, yes, the two witches are being brought out now.“ [34:19ff.] Plötzlich scheint es sich um eine Live-Reportage zu handeln, die eine unerwartete Wendung nimmt, als die zuschauende Menschenmenge in das Schauspiel eingreift. Der Reporter berichtet, wie Emily und der Junge zur Hinrichtungsstätte gebracht werden und eine „lasergun“ für die moderne Form der Hexenverbrennung vorbereitet wird, als sich eine größer werdende Gruppe aus der Menge löst, um die Verurteilten zu retten: „This is unbelievable. It looks like a rescue attempt“, ruft der Reporter. Bis es soweit ist, bis Emily als Hexe angeklagt wird, weil sie ohne Einschränkung für das Gute eintritt, unter dem sie einen Wettstreit der Freundlichkeit („a contest of kindness“) versteht, denn „to be unkind is against nature“ [26:05], bevor sie wegen dieser Einstellung ihr Leben riskiert, kommt es zu weiteren Gedankenexperimenten: Ethics Man ist kein „utilitarian“ mehr, sondern entpuppt sich als „Nietzschean egoist“, als er mit dem Fallschirm landet, den er an sich gerissen hat, nachdem in seinem Flugzeug der Pilot infolge eines Herzanfalls starb. An Bord waren „a politician, a banker, a moral philosopher“, also er. Nur einer konnte sich retten, denn es gab nur einen Fallschirm. Im Kolleg erklärt Mr. Baggott, dass nach dem von Nietzsche verkündeten Tod Gottes letztlich der Stärkere die Regeln bestimmt. Aber er ist sich seiner Sache nicht sicher, denn es gelingt ihm nicht, den Namen Nietzsche korrekt an die Tafel zu schreiben. Mehrmals verschreibt er sich und ruft schließlich verzweifelt nach dem „eraser“. Inzwischen machen sich Emily und der Junge auf zu dem auf einem Hügel sitzenden „wise man“, der angeblich das Geheimnis des Lebens kennt. Dessen Antwort auf Emilys Frage lässt an den von den Beatles besungenen „fool on the hill“ denken. Er verkündet: „The secret of life – is not a drill“, was auch immer das heißen mag, außer dass er das Geheimnis des Lebens auch nicht kennt. Als Emily schließlich angeklagt wird, kann noch das berühmte Gefangenendilemma durchgespielt werden, nachdem sie und der Junge beide ein Geständnis abgelegt haben. Es geht um die Frage, welches Verhalten der beiden Gefangenen am ehesten rational wäre. Überblickt man bis dahin die Handlung dieses Hörspiels, so muss man Peter von Becker recht geben, der einen Essay über den Autor mit dem Satz eröffnet: „Bei Tom Stoppard geht es immer ein bisschen um alles.“ (Becker 2015) Gina Thomas bemerkt, Stoppard habe es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, „so viele Modelle des philosophischen Denkens wie möglich in eine knappe Stunde zu zwängen. Vom Utilitarismus über die Debatte um den Naturzustand bis hin zum Gottesbeweis und der Bewusstseinstheorie handelt er Grundfragen des Seins in einem surrealen Streifzug ab, der, trotz komischer Akzente, der verstörenden, trance-
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haften Stimmung der Platte entspricht“ (Thomas 2013). Gegen Ende des Stücks gewinnt der bekannteste und als Single-Auskoppelung erfolgreichste Song des Albums – Money – Dominanz. Die Kritik an der Macht des Geldes ist in dem Song scharf formuliert: „Money, it’s a gas. / Grab that cash with both hands and make a stash. / New car, caviar, four star daydream, / Think I’ll buy me a football team“ usw. Dazu passend sagt Emily im Hörspiel: „We consume everything. We’re dying of consumption.“ [50:55] Ist es die Ursache oder die Folge der Macht des Geldes, dass menschliche Gesellschaften auseinanderfallen? „Injustice and unfairness are running free.“ Die moralphilosophische Frage, ob Altruismus nicht eine versteckte Form von Egoismus sei, erscheint Emily zu spitzfindig. Sie hält an ihrem Glauben an das Gute fest. Zu Recht resümiert daher der Kritiker Robin Hilton: „But both Stoppard and Pink Floyd’s Roger Waters seem to conclude that surviving life’s myriad woes requires a leap of faith in humanity – to believe in goodness even if no evidence supports it – and that regardless of the moral and ethical dilemma, we’re all in this together.“16 Wie erwähnt hat im Hörspiel nicht der Pförtner der Abbey Road Studios das letzte Wort, sondern Emily, die auf den „juggler“ zurückkommt: „Do you believe in the juggler? When you hear the bell it’s time to go in.“ Man darf spekulieren, ob es sich um Kirchenglocken handelt. Versteht man das Läuten der Glocke (auch) als eine synästhetische Licht-Metapher, so kann man Emilys Schlusssatz als positive Antwort auf die Behauptung des Pförtners interpretieren, alles sei dunkel. Dieses noch nicht ins Deutsche übersetzte Hörspiel kommt den literarisch inspirierten Stücken von Heiner Müller und Heiner Goebbels oder denjenigen von Ammer/Einheit in Hinsicht auf formale Komplexität, Vielschichtigkeit und gedankliche Tiefe gleich. Die Art, in der Tom Stoppard sich produktiv mit dem Album von Pink Floyd auseinandersetzt, deckt die Texte der Platte nicht zu, sondern fördert bislang unerkannte Dimensionen in ihnen zutage und gibt dem 40 Jahre alten Werk neue Frische und Aktualität. Dabei passen Dialoge und Musik so gut zusammen, dass eine Art Rockoper daraus wird, die höchsten Kunstansprüchen genügt. So erfüllt das Werk auch Andreas Ammers Forderung, im modernen Hörspiel müsse das Prinzip der Hitparade eine Verbindung mit der Form von Mozartopern eingehen, denn vom Aufbau her entspricht Darkside der bekannten Abfolge von (szenischen) Rezitativen und Arien.
16 http://www.npr.org/blogs/allsongs/2013/08/22/214652788/tom-stoppards-daring-darkside-of-the-moon-makeover
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11.3 D AS H ÖRSPIEL
ALS
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D ANCETRACK
Die zahlreichen akustischen Arbeiten17 des Musikers und Autors THOMAS MEINECKE (*1955) mit dem Musiker, Komponisten und Klangkünstler MOVE D (d.i. David Moufang, *1966) wurden vom Bayerischen Rundfunk produziert und als Hörspiele bezeichnet, obwohl sie mit verbreiteten Vorstellungen vom Hörspiel nur wenig zu tun haben. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die Kunstform Hörspiel durch das Neue Hörspiel und das Pophörspiel eine enorme formale Erweiterung erfahren hat, nehmen die Stücke von Meinecke und Move D innerhalb dieser Kunstform eine Sonderstellung ein. Bezogen auf die Gattung Roman gilt das Gleiche übrigens auch für die von Meinecke publizierten Prosatexte, die in mehreren Fällen das Material für die Hörspiele bereitstellen – oder es aus diesen erhalten. Was im intermedialen Entstehungsprozess zuerst da war, ist nicht ohne Weiteres feststellbar. Die Überschreitung von Gattungsgrenzen ist mit der von Meinecke favorisierten poststrukturalistischen und postfeministischen Theorie sehr gut vereinbar, ist es doch deren wesentliches Ziel, scheinbar feste Begriffe und Identitäten zu dekonstruieren. Dabei geht es immer wieder und in erster Linie um sexuelle Identitäten, aber weshalb sollte jemand, der vorrangig an Grenzüberschreitungen interessiert ist, formale Grenzziehungen etwa zwischen Hörspiel / nicht-Hörspiel (sondern Feature, Lesung, Musikstück) oder Roman / nicht-Roman (sondern Dokumentation, Essay, Sachliteratur) akzeptieren? Auch sprachlich werden ständig Grenzen überschritten, indem unvermittelt zwischen Deutsch und Englisch gewechselt wird. Über Meineckes ersten Erfolgsroman Tomboy (1998) schreibt Moritz Baßler: „Der Diskurs ist die Musik, und nicht umgekehrt.“ (Baßler 2002, 135) In den Hörspielen stehen Diskurs und Musik zumindest gleichberechtigt nebeneinander. Da es aber kaum Textpassagen ohne Musik, andererseits aber immer wieder Musikstücke ohne Text gibt, ist es letztlich die Musik, die den Charakter der größtenteils auch auf CD veröffentlichten Audioproduktionen prägt. Das gilt nicht nur für das Hörstück übersetzungen / translations (BR 2007)18, bei dem der Vorrang der Musik ausdrücklich beabsichtigt ist: „Ansatz und Ausgangspunkt der aktuellen Produktion […] war der Wunsch, einmal eine Arbeit zu erstellen, bei der nicht zuerst (und damit letzten Endes übergeordnet) ein Text existierte, sondern die eher abstrakte, serielle Narrativität der Musik als gleichberechtigt, eigentlich sogar tonangebend erscheinen würde.“ (CD-Cover) Der Text besteht aus einer Reihe deutscher Wörter und ihrer englischen Übersetzung (oder umgekehrt) sowie aus Namen, die jeweils auf Deutsch und Englisch buchstabiert und dabei oft enggeführt oder übereinander
17 HörDat verzeichnet bislang (08/2016) elf Stücke. 18 Erschienen auch bei intermedium records (030) als Doppel-CD zusammen mit flugbegleiter (BR 2004).
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gelegt werden. Die Musik nimmt den durch das Buchstabieren entstehenden Sprachrhythmus auf oder gibt ihn vor. Die Wörter sind: Osterglocke / daffodil; Ursula Andress; monoton / monotonous; icing / Glasur; Bluse / blouse; butterfly / Schmetterling; Mini Cooper; Polizei / police; Neapel / Naples; Henry Kissinger. Ein inhaltlicher Zusammenhang ist nicht zu erkennen, die Sprache fungiert als Klangmaterial wie im Dadaismus oder in der Konkreten Poesie.Wie in allen seinen Produktionen ist auch hier Thomas Meinecke selbst der Sprecher. Auch in den andere Hörstücken wird die Sprache als Klangmaterial genutzt und ist eng mit der Musik verbunden. Hier gibt es aber ein Leitthema, nämlich das Geschlechterverhältnis, das, in Anlehnung an die postfeministische Theorie vor allem Judith Butlers, entweder theoretisch analysiert oder in Erzählfragmenten und ausführlichen Beschreibungen queerer Kleidung anschaulich gemacht wird. Meinecke bekennt sich ausdrücklich zu einem Collage-Verfahren, also zur Rekombination vorgefundenen Materials, wobei Eigenes und Fremdes kaum zu unterscheiden sind. Meineckes Wendung zur Gendertheorie wird von der Forschung als Versuch „einer Reartikulation linker Politik unter den Bedingungen prekär gewordener Subjektund Machtkonzepte“ (Hägele 2010, 10) interpretiert. Dieser sei eine Reaktion einerseits auf ein sozialdemokratisch geprägtes Politikverständnis bereits kanonisierter Nachkriegsautoren wie Böll, Lenz, Grass und anderer, das den jüngeren Autoren verstaubt und überholt zu sein schien, sowie zum anderen auf den sichtbar in die Aporie führenden Linksterrorismus der RAF, der auf einer nicht mehr überzeugend begründbaren Auffassung einer „authentischen Selbstermächtigung“ (ebd., 9) des Subjekts beruhte. Als ‚Zwischenstadium‘ beschreibt Hägele Meineckes „Strategie der Affirmation als vielleicht letzte verfügbare Geste der Dissidenz“ (ebd., 212) in den 1970er und frühen 1980er Jahren, die sich publizistisch in der Literaturzeitschrift „Mode & Verzweiflung“ artikulierte. Gemeint ist damit die „Prämierung popkultureller Oberflächenphänomenen [sic!] gegenüber den geschichtsmächtigen und vergangenheitsbewussten Diskursen [...]“ (ebd.), ein Vorgang, der bei etablierten Linken auf Kritik stieß, von jungen Kulturkonsumenten, mit einer gewissen Verspätung auch in Bezug auf die Literatur, jedoch enthusiastisch begrüßt wurde.19 Etwa zehn Jahre später, so Hägele, habe Meinecke dann die Grenzen der „kybernetischen Strategie der Affirmation“ (ebd., 214) erkannt und nach einer neuen Theorie gesucht, die eine Fortsetzung des linken „emanzipatorischen Projekts“ er19 Moritz Baßler beschreibt am Anfang seiner Monographie über den deutschen Pop-Roman sein (und seiner Generationsgenossen) Erweckungserlebnis, die Erfahrung nämlich, dass seit Anfang der 1990er Jahre die deutsche Literatur endlich für die Jugend interessant geworden sei. Inzwischen gibt es den Versuch einer Umwertung dieses Vorgangs durch Anett Krause in ihrer Studie „Die Geburt der Popliteratur aus dem Geiste ihrer Debatte“ (2015), in der der „Normalisierungsdiskurs“ der Berliner Republik als Urgrund der Popliteratur kritisch unter die Lupe genommen wird.
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möglichen sollte. Fündig wurde er zunächst bei Michel Foucault, der im Zuge eines linguistic turn der Sozialwissenschaften Macht im Bereich der Diskurse verortete und „die herrschaftserzeugenden Wirkweisen der Sprache“ untersuchte (ebd., 217), sowie schließlich bei Judith Butler, die Foucaults Theorie bei ihren Bemühungen um die Analyse der Geschlechterbeziehungen anwandte. Im Zuge seiner angestrebten Re-Politisierung stützte sich Meinecke darüber hinaus auf weitere kulturtheoretische Konzeptionen wie zum Beispiel diejenige vom Homi K. Bhabha zur kulturellen Differenz und interkulturellen Begegnung im „Dritten Raum“. Erster Angriffspunkt der neuen Denkweise ist der Glaube an ein fest umrissenes, womöglich als autonom gedachtes Subjekt.20 Aus der Auflösung bzw. „Verflüssigung“ des Subjektbegriffs wird die Notwendigkeit abgeleitet, scheinbar ontologische, jetzt als „essenzialistisch“ gebrandmarkte Bezugsgrößen von Identität wie Geschlecht, Nation, Ethnie zu „dekonstruieren“ (vgl. ebd., 218). „Als diskursives Feld, auf dem er die unterschiedlichen Identitätsdiskurse ausstellt und verhandelt, wählt Meinecke in seinen Romanen vor allen Dingen die Populärkultur.“ (Ebd., 219) Seinen Lernprozess beschreibt Meinecke so, dass ihm durch die Beschäftigung mit den Cultural Studies bewusst geworden sei, „dass Pop eine politische Komponente“ habe (zit. nach ebd.). Hägele zufolge geht es Meinecke um mehr als nur um die Archivierung zeitgenössischer Diskurse, wie von Baßler mit Bezug auf den Roman Tomboy behauptet (Baßler 2002, 135), vielmehr dienten ihm die referierten Theorien „als produktive erkenntnistheoretische und handlungsleitende Instrumente der Wirklichkeitserschließung und der politischen Praxis“ (Hägele 2010, 233). Vor diesem hier nur ganz knapp skizzierten Hintergrund lässt sich die Auswahl des sehr oft gesampelten Text-Materials in Meineckes Hörstücken erklären. Da auch die Musik auf dem Sampling-Verfahren beruht, können Text und Musik eine symbiotische Verbindung eingehen, durch die die Hörstücke eine suggestive, ja hypnotische Wirkung erzeugen. Musikalisch ergänzen sich flächige elektronische Sounds und durchlaufende Beats; im Unterschied zu den Stücken von Heiner Goebbels überwiegt eindeutig der Puls gegenüber dem Bruch, was zur Folge hat, dass die Stücke von Meinecke / Moufang als Dancetracks gehört werden können und manche Hörerinnen und Hörer vielleicht auch zum Tanzen anregen. Wie nicht anders zu erwarten gibt es allerdings Unterschiede zwischen den früheren und den späteren Produktionen. In den beiden frühen Stücken Tomboy (BR 1998) und Freud’s Baby (BR 1999) ist zusätzlich zu Moufangs SynthesizerKlängen das Vibraphon des bekannten Jazz-Musikers Karl Berger zu hören, der mit seinen Improvisationen eine meditative Stimmung erzeugt. Sie passt zu den Fragen, 20 Überblickt man die Literatur- und Geistesgeschichte der letzten 150 Jahre, so erscheint der Zweifel am autonomen Subjekt gar nicht als so neu, man denke nur an die Autoren des Naturalismus, die das Individuum vielfach determiniert sahen, vor allem durch Milieu und Vererbung, oder an Hermann Bahr („Das Ich ist unrettbar.“)
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die Meinecke im Vordergrund stellt, während im Hintergrund ein Sample mit Beschreibungen extravaganter Kleidungsdetails wie aus einem Modemagazin abläuft.21 Mit diesen Beschreibungen ohne Musikbegleitung wird das Stück eröffnet. Dann wird diese Klangebene heruntergeregelt, das Vibraphon setzt ein und spielt weiter, während hin und wieder die Fragen ausgesprochen werden, die auf die Bedeutung erotischer Signale und Codierungen von Kleidungsstücken, Gesten usw. zielen. Später erzählt Meinecke auch Andekdoten aus dem Leben der Stars, etwa die von Elvis Presley, der sich vor einem Auftritt eine leere Klopapierrolle in die Hose gesteckt habe, um den Penis zu betonen, und so im Grunde eine Frau simuliert habe, denn nur die habe Verwendung für einen Penis-Ersatz. Im zweiten Teil des Stücks werden Thesen aus der Gendertheorie wiedergegeben, z.B.: „Die Frau will, was ihr fehlt, und dadurch bestätigt sie, dass der Mann es hat.“ [40:10]. Ab und zu singt Meinecke, mit oder ohne Vibraphon-Begleitung, „How lovely to be a woman“ aus dem Musical Bye Bye Birdie (1960). Nach einer längeren Passage ohne Musikbegleitung, in der mit leichtem Hall der Basistext in Hintergrundakustik zu hören ist, setzt [ab 23:30] Moufangs elektronische Musik ein und dominiert eine Zeitlang das Geschehen mit einander überlagernden und ergänzenden rhythmischen Figuren und Akkordbrechungen, eine äußerst suggestive, entrückte Passage, in die nur selten im Vordergrund eine Frage oder These eingeblendet wird, während das bekannte Textsample weiter durchläuft. Der Sound wechselt etwa alle zehn Minuten, nach der meditativen Passage hört man [ab 33:00] einen schärferen elektronischen Sound mit unregelmäßigen Schlägen, danach [ab ca. 44:00] einen vermutlich auch mit dem Synthesizer erzeugten Gitarrensound, bis schließlich am Schluss wieder das Vibraphon dominiert. Bis auf den Titel und einige Zitate verbindet nur das Grundthema den Roman und das Hörspiel Tomboy. Neben den Theoriebausteinen und Listen gibt es im Roman eine im Jahr 1997 rund um Heidelberg und Ludwigshafen spielende Geschichte, in der die ihre Magisterarbeit über Otto Weininger schreibende Vivian die Hauptfigur ist. Mögliche parodistische Elemente in Bezug auf den Genderdiskurs, über die sich Baßler Gedanken macht (Baßler 2002, 140), fehlen im Hörspiel gänzlich. Beim darauf folgenden Stück Freud’s Baby22, an dem auch wieder Karl Berger beteiligt ist, drängt sich eher als in Tomboy der Verdacht auf Parodie auf, der schon durch das Thema begründet ist: Es geht um die Beziehung zwischen Sigmund Freud und Wilhelm Fließ, die aus heutiger Sicht komische, aber auch unübersehbar tragische Dimensionen hat. Nach Klangteppichen von unterschiedlicher Lautstärke und Tonhöhe folgt der erste befremdliche Satz: „Sigmund Freuds unbefleckte Empfängnis durch das Ohr, der Jungfrau Maria gleich.“ Das Satzfragment „Sigmund 21 Diese Textpassage ist aus dem Roman Tomboy (1998, S. 226) übernommen. 22 Tomboy und Freud’s Baby sind auch als Doppel-CD bei intermedium records (004) erschienen.
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Freud, Wilhelm Fließ’ Baby austragend“ wird zum Auslöser für den ersten, in steter Wiederholung gesampelten und auf die beiden Stereo-Kanäle verteilten Refrain: „The two of us, the one of us“, an den sich dann der zweite „Das Beste, was du weißt, darfst du den Buben doch nicht sagen“ und später der dritte „Freud’s Baby / Fließ maybe“ anschließt. Letzterer wird zur elektronisch leicht verzerrten TechnoFigur, die Karl Berger auf dem Vibraphon umspielt. Abstruse, vor allem auf Fließ zurückgehende Theoreme von der Effeminierung des jüdischen Mannes, der Deutung der Beschneidung als Kastration und vom Zusammenhang zwischen Nasenbluten und Menstruation sowie zwischen ungewöhnlichen Nasenformen und Masturbation dienen dazu, den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Antifeminismus aufzuzeigen. Mit seiner Behauptung, es gebe einen Kastrationskomplex, habe Freud den Antisemitismus naturalisiert, statt ihn zu entlarven. Der Zionismus erscheint als „Rückkehr nach Phallustina“ [42:32]. Die Tragik dieser geistigen Verrenkungen manifestiert sich im Fall der Freud-Schülerin Emma Eckstein, die nach einer von Wilhelm Fließ verpfuschten Operation an der Nase beinahe verblutet wäre. Es ist ein düsteres Kapitel aus der Frühphase der Psychoanalyse, dass Freud seinen Freund zu exkulpieren versuchte. Erst später distanzierte er sich von ihm. Meinecke zitiert, mit elektroakustisch leicht verzerrter Stimme, Textstellen, die offenbar aus dem Briefwechsel Freuds mit Fließ stammen. Danach hat der Zuhörer viel Zeit zum Nachdenken über das Gehörte, weil über längere Zeit der Musik das Feld überlassen bleibt: Berger improvisiert fast zehn Minuten zu „Freud’s Baby / Fließ Maybe“ und zu einem Synthesizer-Sample. Schließlich wird durch Zitate aus englischen und deutschen Monographien dargestellt, wie Freud zwar nicht sich selbst, aber seine Theorie von den früheren Irrtümern „kurierte“. Das letzte längere Zitat belegt die ins Positive gewendete Neuinterpretation der „fatalen Parallelen zwischen Antisemitismus und Antifeminismus“ durch jüngere Jewish Studies (vgl. CDCover). Das Stück klingt aus mit flächigen elektronischen Klängen als Hintergrund des vielfach wiederholten „The two of us / the one of us“, das sich zunehmend mit dem Knistern einer alten Schallplatte auf dem Plattenteller mischt, die irgendwann hakt und immer dasselbe abspielt. Die beiden Stücke vermitteln abwechslungsreiche Hörerlebnisse, regen aber nicht zwingend zu politischem Denken an. Baßler weist darauf hin, dass es sich bei den von Meinecke als Material verwendeten Texten um Bestandteile eines „durch und durch akademische[n] Diskurs[es]“ handelt (Baßler 2002, 135). Rezipienten, die nicht wie Meinecke mit der Gender-Debatte bestens vertraut sind, werden auf die Texte der Hörspiele vermutlich entweder ratlos oder befremdet oder auch belustigt reagieren. Im Roman Tomboy gebe es aber, so Baßler, so etwas wie Gegengewichte zur akademischen Fracht, die das Buch gewissermaßen Pop-kompatibel machten. Diese sieht er darin, dass Meinecke den Diskurs „lokalisiert und terminiert“ (ebd.) und ihn dadurch narrativ erdet. Diese Art der Erdung fehlt zwar in den Hörspielen, aber an deren Stelle tritt die Musik, die sich der Form des Dancetracks
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mehr und mehr annähert. In einem Gespräch von Jochen Bonz und Meinecke charakterisieren beide den Track als eine offenere Form als den Song der Rockmusik, wobei mit Offenheit ein Abschied zum einen von der als geschlossen wahrgenommenen Melodie gemeint ist, zum anderen von einem „komischen Authentizitätsdenken“ (Bonz/Meinecke 2005, 155), das auf das Erkennen und Identifizieren des jeweiligen Musikers fixiert ist. Elektronische Musik (House, Techno) habe „auch das Projekt Feminismus, oder die Klärung der Gender Relations vorangebracht“ (Meinecke, ebd.). In seinen Überlegungen zum scheinbaren Verschwinden des personalisierten Starkults in der elektronischen Musik spricht Tom Holert23 vom „Körper-Authentizismus des Rock-Mainstreams der 1970er Jahre“ (Holert 2005, 33). Die Rockmusik gilt als männlich dominiert, während Techno und House Geschlechtergrenzen durchlässig und glamouröse Star-Images überflüssig machten. So scheint es, dass die „postmoderne Subjektkritik“ (ebd., 20) durch diese Musik unterstützt wird oder auch in ihr ausgedrückt wird. Aber sowohl Holert als auch Meinecke erkennen, dass es sehr bald zu Gegenbewegungen kam. Die glamouröse Inszenierung von Körpern überdauert keineswegs, wie Friedrich Kittler glaubte, nur „für eine Zwischenzeit als Abfallprodukt strategischer Programme“ (zit. nach Holert 2005, 26), sondern erlebte in verschiedenen Formen wie „Maschinenglamour“ (Kraftwerk), „Elektroclash“ (DJ Hell) usw. eine Wiederauferstehung. Meinecke spricht von einer „Rückkehr des Rock“, die dazu geführt habe, „daß selbst die, die weiterhin an ihrem Laptop stehen, meinen, sie müßten an ihrem Laptop auch Rockismen produzieren“, womit wieder eine „Maskulinisierung“ eingesetzt habe (Bonz / Meinecke 2005, 156).24 So bekennt sich Meinecke Mitte der Nuller Jahre dazu, dass er am liebsten gute Platten aus den 1990ern auflege. Zusammen mit Move D entwickelte er eine hybride Form zwischen Musik, Literatur und Hörspiel, die seinen theoretischen Suchbewegungen und politischen Denkansätzen entspricht. So wie die Gender-Theorie für ihn eine politische Dimension hat, so versteht er auch den Track politisch: „Gesamtgesellschaftlich ist das ja auch nicht willkommen, was der Track repräsentiert. Zu unserer Neuen Mitte passt das nicht so.“ (Ebd., 159)
23 Im selben Sammelwerk, in dem auch das Meinecke/Bonz-Gespräch erschienen ist. Es trägt den Titel „Gendertronics. Der Körper in der elektronischen Musik“. 24 Birgit Richard sieht es sogar so, dass die Männerherrschaft in der Clubszene nie aufgehört hat: „Frauen sind als Konsumentinnen und Dienstleisterinnen gerne gesehen, als musikalischer Motor des Abends weniger gerne. […] Der Sexismus des Rock […] findet also auch in der Clubszene statt, die eigentlich als politisch korrekt gilt oder sich bemüht, so zu wirken.“ (Richard 2005, 150).
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In engem Zusammenhang mit dem Roman Musik entstand 2004 das Hörspiel flugbegleiter.25 Es umfasst 21 Titel, davon fünf reine Musik-Titel. Musik bestimmt den ganzen Höreindruck des Hörspiels, da tanzbare House-Musik, abgesehen von einer Swing-Schleife in den Titeln 12/13, allen von Meinecke gesprochenen situativen Erzählfragmenten und essayistischen Passagen unterlegt ist. Wieder geht es um sexuelle Codierungen von Musik, Kleidung, Gesten, Handlungen, Star-Images, wieder werden Theorie-Texte auf Deutsch und Englisch zu diesem Thema zitiert. Die Erzählung ist im Hörspiel etwas anders konstruiert als im Roman: Während dort abwechselnd aus der Perspektive der Schriftstellerin Kandis, die sich ins Südtiroler Gebirge zurückgezogen hat, um einen Roman zu schreiben, und ihres Bruders Karol, der als Flugbegleiter arbeitet, erzählt wird, ist im Hörspiel Karol der IchErzähler, der sich zuweilen an frühere Erlebnisse mit Kandis erinnert. Hauptsächlich berichtet er im Präsens von Treffen und Gesprächen mit seinen Kolleginnen Heidi, Ashley, Kristina und mit seinem schwulen Kollegen Felix, einmal auch mit dessen Mutter. Das Stück wird mit einer für Karol charakteristischen Episode eröffnet, die wörtlich aus Musik übernommen ist: Heidi erzählt ihm bei einem Latte macchiato, dass ihr Flugkapitän „der Kinder wegen“ mit ihr Schluss gemacht hat. Karol ist Heidis brüderlicher Vertrauter und liebt diese Rolle: „Idealvorstellung: Sich mit einer attraktiven Frau, Schulter an Schulter, Knie an Knie, in die gemeinsame Betrachtung der Welt zu versenken.“ (Meinecke 2007, 10f.) Lieber sitzt er beim Flirten neben seiner Partnerin als ihr gegenüber. Im Hotelzimmer schlafen sie, wie schon oft, gemeinsam in einem Bett, ohne dass etwas passiert. „Wie Freundinnen. Wie Kusinen. Wie Geschwister. Wie Bruder und Schwester.“ (Ebd., 11) In Boxershorts „auf Heidis luxuriöser Bettstatt“ (Titel 16) sitzend, beobachtet Karol seine kaum bekleidete Kollegin und unterhält sich mit ihr über Nacktheit und die Bedeutung kosmetischer Kunstgriffe. So entlädt sich knisternde erotische Spannung immer wieder in Diskursen, und der Hörer darf sich davon bei wunderbaren Musikstücken wie Titel 17 COMPUTER FLOP entspannen, die ihn in eine geradezu entrückte Stimmung versetzt. Dann: „Zum ersten Mal in Ashley’s neuer Wohnung“ hört man Amanda Lear’s neueste Platte, was zum Anlass wird, über die Geschichte vom ausgedachten Transvestiten Amanda Lear zu sinnieren. Die Einrichtungsgegenstände sind kostbar, erlesen, sogar die japanischen Teetassen sind irgendwie camp, ihre Beschreibungen könnten einem Roman von Christopher Isherwood entlehnt sein. In Titel 19 SISSIMAN wird ein englisches Wortparadigma zu sissy, auf Deutsch: ‚Waschlappen‘, ‚Memme‘, ‚weibisch‘ präsentiert, woran sich Ausführungen über die Etymologie von ‚homosexuell‘ anschließen. Im vorletzten Titel ist Karol mit der verheirateten Regula, diese wieder „sehr leicht“ oder auch „mangel25 Ähnlich ist das Verhältnis zwischen dem Roman Hellblau und dem gleichnamigen Hörspiel, beide erschienen 2001. Im Hörspiel sind neben Meinecke auch Bernadette La Hengst und Almut Klotz zu hören.
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haft“ bekleidet, in deren Wohnung zusammen, während ihr Mann „irgendwo im asiatischen Raum“ als Flugkapitän unterwegs ist. Sie hören Slow Disco von Barry White in erotisierender Atmosphäre, woraufhin sie gemeinsam in einen Club gehen, sich an der Bar durch Berührungen stimulieren, aber auch hier wird Judith Butler zitiert, bevor es heißt: „Dann mischen wir uns unter die Tanzenden“, und das Stück mit einem House-Track ausklingt. Wie der Roman ist das Hörspiel ein Archiv der Populärkultur, das dazu anregen kann, sich Filme noch einmal anzusehen (Godard: Masculin – Feminin), Musik bei YouTube aufzurufen (Karol hat Regula eine LP der Fatback Band mitgebracht) und über deren Kodierung zu reflektieren (Rap – männlich, Disco und House – weiblich?; Cool Jazz als Versuch einer Zähmung des widerspenstigen schwarzen Bebop durch Weiße?), schließlich bei Judith Butler nachzulesen, wie ihre Strategien der Dekonstruktion „essenzialistischer“ Begriffe und binärer Zuschreibungen aussehen. Die „verhaltene Komik“, die Baßler schon in Tomboy zu entdecken glaubt (S. 139) und an der er doch auch wieder zweifelt, entsteht hier vor allem durch das brave Vermeiden jeglicher Verführer-Pose, nach der die geschilderten Situationen zu verlangen scheinen, deren Ausleben aber ständig durch Theorie ausgebremst wird. So scheint es, als sei mit Karol ein SISSIMAN auf die Reise geschickt worden, um an seinem Beispiel zu beweisen, dass auch eine derart negativ konnotierte Bezeichnung ins Positive umgewertet werden kann. Sollte der Autor damit einen politischen Anspruch verbinden, so riskiert er es, dass sein Publikum diesen entweder nicht wahrnimmt oder belustigt darauf reagiert, statt sich ernsthaft aufgeklärt zu fühlen. Glaubt man Hägele, so ist der politische Anspruch generell eine wesentliche Schreibmotivation Meineckes: „Die Neufassung des Politischen und der Macht, die Konzentration auf die konstruktiven und normierenden Wirkungen von Sprache und ihrem konkreten Gebrauch in den diskursiven Bezeichnungsverfahren gilt ihm als das theoretische Paradigma eines linken Projekts, dem das Versprechen gesellschaftlicher Emanzipation unverändert eingeschrieben ist.“ (Hägele 2010, 250)
Der Anfang des Hörspiels WORK (BR 2009), bei dem es sich wieder um eine Produktion von Meinecke und Move D handelt, lässt an das Eingangstor eines Clubs denken, durch das nur Eingeweihte eingelassen werden. Mit zwei längeren Zitaten von Judith Butler und einem von Carol Cooper26, die Meinecke ohne musikalischen Hintergrund vorliest, stimmt der Autor seine Hörerinnen und Hörer auf schwere Kost ein. Von der spielerischen Leichtigkeit des Pop scheint nichts übrig geblieben zu sein, bedenkt man zudem, dass Judith Butler einmal einen Preis für besonders 26 Gemeint ist wohl die aus Jamaika stammende Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Carolyn Cooper (*1950).
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schlecht geschriebene Wissenschaftsprosa erhielt. Nach diesen spröden Statements geht es eher deftig weiter: Der DJ und Musiker Eric D. Clarke lässt auf die Einleitungsformel „If you are offended by“ eine Liste von Schimpfwörtern oder besser: Beschimpfungs-Wörtern folgen, an die sich ein House-Track mit dem Text „Nigger say my name / Bitch say my name“ anschließt. Die weiteren House- und TechnoTracks sind auf den Hit Supermodel (You Better Work) (1993) der vielleicht bekanntesten Drag Queen27 RuPaul bezogen, womit die Vieldeutigkeit des Wortes „work“ aufgedeckt wird. Es bedeutet nicht nur Arbeit im Sinne bürgerlicher Arbeitsmoral, sondern auch die Tätigkeit der Prostituierten, die als working girls bezeichnet werden, sowie das Ausleben einer oft queeren Sexualität. „Die Underground House Music New Yorks, Chicagos Booty Bass oder Detroits GhettoTech nutzt die Vokabel bis heute im Kontext kaum verhohlener sexueller Metaphern (work my body over), die hier aber, zumal oft sehr dialektisch bipolar kodiert, nicht dem (handels)üblichen Sexismus dienen, sondern (im Dreieck der Diffamierungen race, class and gender) kritisches Potential entfalten.“ (Zit. nach HörDat)
Die musikalischen Tracks, die den Charakter des Stücks prägen, werden unterbrochen von Statements und Erfahrungsberichten Clarke’s, die Meinecke nicht etwa übersetzt, sondern auf Englisch wiederholt. Der Überblick über das Schaffen von Meinecke und Move D soll mit dem Stück Lookalikes (BR 2011) beschlossen werden, das sein Programm im Titel trägt. Es ist eine weitere Variation des für Meinecke zentralen Themas der Untergrabung von festen Identitäten. Diesmal geht es um Doppelgänger von Stars und um die Unmöglichkeit, zwischen Original und, wenn man so will, Fälschung zu unterscheiden.28 Anders als WORK, darin dem Stück flugbegleiter ähnlich, beginnt Lookalikes mit einer ganz traditionell erzählten Szene: „Shakira und Hilmar auf der Kellertreppe zu einer im Souterrain gelegenen Bodega, sich unversehens in einer Fensterscheibe spiegelnd. Hilmar fingert seinen Fotoapparat aus der Jackentasche und nimmt das Spiegelbild seiner selbst und seiner Geliebten, seiner Trauzeugin, die nun den Kopf 27 „Bei Drag geht es meiner Auffassung nach nicht darum, die hinter dem System der Zweigeschlechtlichkeit verborgene heterosexuelle Norm der bestehenden Gesellschaft zu bestätigen, sondern Praktiken zu leben, die sich jenseits dieser Norm ansiedeln.“ (Schuster 2007, 184) 28 So schließt sich das Hörspiel an die postfeministische Theorie an. Es geht um die Rollenperformanz, in der „Normen sich in die Körper einschreiben. Das Frauwerden oder Mannwerden ist eine Imitation ohne Original. […] Endlos viele Kopien werden täglich hergestellt, doch niemandem ist klar, dass es Kopien ohne Original sind.“ (Schuster 2007, 185)
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auf seine Schulter gelegt hat, ins Visier.“ Bemerkenswert ist die Doppelung des Doppelgängermotivs, für das der Spiegel, neben vielen weiteren möglichen Bedeutungen, symbolisch steht: ‚Lookalike‘ Shakira im Spiegel. Darüber hinaus kann der Spiegel sowohl selbstverliebte Eitelkeit als auch Selbsterkenntnis symbolisieren. In der Fortsetzung des Eingangszitats stellt sich allerdings die Bemühung Hilmars, den Moment auf einem Foto zu fixieren als kontraproduktiv heraus: Er kann nicht vermeiden, dass die Kamera sich störend im Bild spiegelt, sodass dieses sein Gemachtsein verraten würde. Die Unmittelbarkeit des Vorgangs, auf die das Wörtchen „unversehens“ verweist, weicht überlegter Konstruktion. Das Bild soll so aussehen, als ob Shakira dem Betrachter direkt in die Augen sähe. In der darauf folgenden erotischen Szene im Lokal – er berührt sie unter dem Tisch an delikater Stelle mit dem Fuß – setzt sich die Doppelung fort: Der Erzähler deckt auf, dass für beide dieses Beisammensein ein Seitensprung ist. Daraus könnte sich eine Geschichte entwickeln, aber Meinecke entschließt sich auch diesmal nicht zum kontinuierlichen Erzählen, sondern verfolgt im weiteren Verlauf des Stücks die Spuren seiner Lookalikes durch die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Britney Spears alias Günter Immermann, mal gekleidet wie sein Rollenmodell, mal in der Kleidung und mit der Frisur, die seinem genetischen Geschlecht entsprechen, tanzt mit Greta Garbo im Monkey’s Club die Nacht durch, um danach im Starbuck’s einen von Justin Timberlake zubereiteten Morgenkaffee zu trinken. Beide wundern sich, dass ein Mann in dieser Jahreszeit im Pelzmantel die Kö(nigsallee in Düsseldorf) entlang spaziert, werden aber von Timberlake belehrt, dass Pelzmäntel nichts mit der Jahreszeit zu tun hätten. Von da ist die Assoziation zu Sacher-Masoch und Venus im Pelz und weiter zu Velvet Underground nicht fern. Eine Diskussion über die Bedeutung des Pelzes schließt sich an, der von Timberlake als „luxuriöser, intimer Schmuck einer als weiblich gedachten koketten Geschlechtlichkeit“ [10:30] eingestuft wird, was Greta Garbo schon fast „essenzialistisch“ findet. Meinecke ist also wieder ganz bei sich und seinen favorisierten Themen, denen er immer neue Facetten abgewinnt. Während er die Texte vorliest, begleiten ihn Klangflächen aus dem Synthesizer. In den längeren Pausen ist Tanzmusik zu hören, diesmal mit Stimm-Samples, die zu den Texten passen. Das wird besonders am Schluss deutlich, als die Stimme Serge Gainsbourgs zu hören ist, um den es zuvor im Text gegangen ist. Die längsten Passagen in diesem Stück sind Josephine Baker gewidmet, die nicht nur wegen ihrer „multiphallischen Bananenröckchen“ aus gendertheoretischer Perspektive besonderes Interesse beanspruchen kann, sondern allgemein wegen ihrer „offensiv ausgestellten Performativität“. Den Lookalike von Josephine fotografiert Hyazinth, Spitzname Zoom, in Wien, wobei sie sich vorstellen soll, dass alle Kirchenglocken läuten, wie es 1928 aus Protest der katholischen Kirche gegen die Skandaltänzerin geschah. Die Frage, ob Baker nicht eine moderne Wiedergängerin in Grace Jones habe, wird zwar letztlich aus historischen Gründen
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verneint, aber in Frankreich sieht man wegen ihres androgynen Erscheinungsbildes Verbindungen zwischen beiden Stars. „Die politische Arbeit, die es fortan zu leisten gilt, bestimmt sich für Meinecke in erster Linie in der Entschleierung und Analyse von repressiven Sprachstrukturen und Sprechakten“ (Hägele 2010, 251). Hägele verweist darauf, dass Meinecke diese Beschäftigung mit Diskursen selbstkritisch als „Luxus“ bezeichnet, ohne eine überzeugende Alternative zu sehen (ebd., 254), da sich nach seiner Erkenntnis auch mit massiven bis hin zu gewaltsamen Protestformen die Verhältnisse nicht nachhaltig verändern lassen. In den Hörspielen verbindet Meinecke seine Tätigkeit als Schriftsteller mit seiner Arbeit als DJ und Musiker. Er legt Platten von Move D auf29 (was selbstredend für die Kooperation der beiden nur eine Metapher sein kann), die das Potential haben, Körper in Bewegung zu setzen. Mit der Musik wird den vor allem den Intellekt ansprechenden Texten eine sinnliche Komponente hinzugefügt, die vom Dauerzwang zur Reflexion entlastet. Die sozial- und kulturkritischen Intentionen, die Meinecke mit seinen Hörstücken verfolgt, werden dadurch aber nicht entschärft. Vielmehr traut er der Musik zu, sie zu unterstützen, wie seine Gedanken über das Verhältnis von Rocksong und Techno-Track gezeigt haben.
29 Tatsächlich sind Serge & Josephine von Move D als EP 05 bei The Exquisite Pain Recordings erschienen.
12. Akustische Comics
Ein Wegbereiter des Comics für das Radio war RICHARD HEY (1926-2004), der bereits 1967 mit einer Form experimentierte, die er „Radio-Strip mit Gesang“ nannte. Seine Ballade vom Eisernen John wurde erstmalig1 vom Deutschlandfunk produziert und der Text, samt Noten zur Ballade und Comicstrips, wurde von Klaus Schöning in seine Anthologie Neues Hörspiel. Texte Partituren aufgenommen (Schöning 1969, 37-55). Das Hörspiel ist lose parodistisch auf das Eisenhans-Märchen der Brüder Grimm bezogen2, es parodiert aber vor allem die Comicsprache und, in der gedruckten Form, auch den (gezeichneten) Comicstrip: Allein viermal wird ein Streifen mit vier Bildern gezeigt, auf denen der Kopf einer jungen Frau zu sehen ist. Die Texte der Sprechblasen lauten: „Oh John, Mein Held / Oh Jim, Mein Held/ Oh Jim, Oh John / Mein Held“. Auch als Krimi-Parodie kann die Geschichte rezipiert werden, in der der „Eiserne John“, ein Polizeileutnant, sich zum Schurken wandelt, als der er letztlich seinen Mitstreiter Jim opfert. Formal setzt Hey Geräusche ausschließlich in „plakative[r] Funktion“ ein, also ohne Zusammenhang zu den John-Jim-Dialogen; er versteht sie als „akustische Analogie zu den Blasentexten (dröhn-dröhn) der comic strips“ (Hey in: Schöning 1969, 38). In der Beschreibung der ARD-Hörspieldatenbank heißt es zusammenfassend zu dem Stück: „Einige Takte Musik, eingeblendete Liedverse (Brecht), kernige Spruchblasensätze, simple Verständlichkeit ohne Emotion, knappe Szenen, im Stil sich selbst persiflierend. Eine akustische Parodie auf die Comic-Strips – laut Hey ‚unsere modernen BilderMärchen‘.“ Unter einem Comic stellen wir uns im Allgemeinen eine Folge von Bildern und Texten vor, mit denen eine Geschichte erzählt wird. Genauer definiert wird ein Comic als „Sequenz von Bildern oder Bildelementen, die einen Handlungsstrang oder Gedankenflug erzählen und dazu in räumlicher Folge (zumeist in direktem
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Erneut inszeniert wurde das Stück 1976 vom Rundfunkfunk der DDR.
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So taucht das Kopfkissen der Mutter als Motiv auf, unter dem sich im Märchen der Schlüssel zum Gefängnis des Eisenhans befindet.
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Nebeneinander) gezeigt werden. Sequentialität entsteht durch das Schaffen von Zusammenhängen zwischen den einzelnen Bildern und gegebenenfalls Textstücken, die nebeneinander abgebildet sind.“ (Dittmar 2011, 44) Manche Comic-Forscher sehen die „kunstvolle Verflechtung von Text und Bild als wesentlichen Teil jeder Comic-Definition“ an, andere glauben, dass auch wortlose Comics möglich sind (vgl. McCloud 2007, 128). Obwohl Scott McCloud, der drei Basiswerke über Comics in Comic-Form vorgelegt hat, zu letzteren gehört, nennt er den Text als eines der fünf Elemente des Comic-Erzählens. Dies sind: der Augenblick, der Bildausschnitt, die Gestaltung der Bilder, die Gestaltung des Textes sowie der Lesefluss (ebd., 10). Wie hat man sich einen Hörcomic vorzustellen, in dem das zentrale Element des Comics, die Bilder, akustisch substituiert werden müssen? Eine Schnittmenge zwischen Bild- und Hörcomic kann nur in den Texten bestehen. Die Bildinformationen müssten durch Töne, Klänge oder Geräusche sowie durch Stimmqualitäten, eventuell auch durch Stereofonie, Raumklang und elektronische Manipulationen des Klangmaterials vermittelt werden. Andererseits müssen in Hörcomics Geräusche nicht durch lautmalerische Wörter und Klangfarbe oder Lautstärke nicht durch verschieden gestaltete Sprechblasen und Schrifttypen dargestellt werden, wie es im Comic üblich und notwendig ist (vgl. Dittmar 2001, 114ff.).3 Laute und Geräusche können mit ihren expressiven Eigenschaften unmittelbar auf den Hörer wirken. In besonderem Maß gilt das für Musik, die in Comics schwierig darzustellen ist. Hinsichtlich der zeitlichen Abfolge der Informationsvergabe und damit auch des Rezeptionsmodus ist der Hörcomic dem Film näher als der Comic aus Bildern. „Die Bilder im Film sieht man nur in zeitlicher Abfolge nacheinander auf derselben Oberfläche, die des Comics kann man pro Seite gleichzeitig sehen.“ (Ebd., 44) Das Hörspiel ist wie der Film eine Kunstform, die den Rezipienten in einen zeitlichen Ablauf einbindet. Dennoch sind Comics als visuelle Kunst dem Film näher als dem Hörspiel. Die Bildgestaltung lässt sich mit Begriffen aus der Filmanalyse wie Einstellungsgröße und Perspektive beschreiben. Sogar bestimmte Erzählkonventionen des Films kann man in Comics wiederfinden: Eröffnung mit einem establishing shot, Annäherung an die Figuren in naher oder halbnaher Einstellung, Darstellung von Dialogen im Schuss-Gegenschuss-Verfahren usw. (vgl. Dittmar 2011, 121; Abel / Klein 2016, 86). Zwar setzt sich ein Comic unübersehbar aus einzelnen Panels (Bildern) zusammen und scheint daher die Montage des „unsichtbaren Schnitts“, die im Film dem Zweck dient, eine „Wirklichkeitsillusion“ entstehen zu lassen (vgl. Hickethier 2012, 149), auszuschließen, aber McCloud zeigt viele Möglichkeiten auf, einen „Lesefluss“ zu stimulieren und den Comic-Leser über die Zusammenset3
McCloud (2007, 146) stellt fest: „Beim Lettern von Soundwords kann man viel freier agieren als bei normalen Sprechblasenlettern.“ Zu den Soundwords vgl. auch Abel, Klein (2016, 101).
A KUSTISCHE COMICS
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zung der Geschichte aus Einzelbildern hinwegzutäuschen. Georg Seeßlen bemerkt dazu: „Ein ‚gutes‘ Comic-Bild ist […] eines, das eine Lesedauer erzeugt, die vorwärts treibt, ohne zu hetzen. Ein zu schnell lesbarer Comic macht ebenso unzufrieden wie einer, in dem es nicht recht weitergeht und die Schönheit des Einzelbildes den Fluss der Lektüre stört.“ (Seeßlen 2011, 257) Die Herausforderung bei der Konzeption akustischer Comics besteht weniger darin, den Erzählfluss aufrecht zu erhalten, weil dieser schon durch den Zeitablauf gegeben ist, als vielmehr darin, in der Vorstellung des Hörers schnell wechselnde Einzelbilder entstehen zu lassen.
12.1 D IE R OCK -L EGENDEN
DES
P HIL P ERFECT
Der französische Comic-Zeichner SERGE CLERC (*1957) veröffentlichte zusammen mit dem Texter FRANÇOIS GORIN 1984 das Comic-Buch La légende du Rock ’n’ Roll, das drei Jahre später auf Deutsch mit dem Titel Phil Perfect und die Legenden des Rock ’n’ Roll erschien. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von 18 Comicstrips im Umfang von einer bis zu sechs Seiten; die meisten sind zwei oder drei Seiten lang. Sie thematisieren Ereignisse aus dem Leben von Rock- und Popstars, Erscheinungen der Popkultur anhand thematisch verwandter Popsongs oder sie setzen Texte von Musikstücken in Bilder um. 1994 bis 1996 machten die Autoren dann den Versuch, einige ihrer Comicstrips in „Akustik Strips“ umzuwandeln. Der WDR produzierte zehn Kurzhörspiele, in denen der investigative Reporter Phil Perfect von ihm rekonstruierte Geschichten aus der Welt des Rock und Pop erzählt. Die ersten drei sollen hier näher untersucht werden.4 Eingeleitet werden die ersten drei Stücke, die direkt nacheinander gesendet wurden und durch die Zwischentexte zu einer Einheit verschmelzen, von einem Choralgesang, der den Eintritt in eine Kathedrale oder in eine Klosterkirche zu signalisieren scheint. Diese ist von einem Unwetter mit Regen, Blitz und Donner umtost, alles akustisch nur angedeutet, aber in der Vorstellung des Hörers sofort präsent. Der Sprecher – es ist Phil Perfect, der in Ich-Form erzählt – kündigt eine Geschichte an, die er in einem geheimnisvollen alten Buch gefunden habe. Es ist die Geschichte einer sagenhaften „verfluchten Gitarre“, einer Gibbons Thunderbird ES 505, die häufig den Besitzer wechselt und dabei keinem von ihnen Glück bringt. So ergibt sich eine Abfolge von Situationen, die durch den Text des Sprechers verbunden werden und durch drei Elemente voneinander abgegrenzt sind: erstens Kurzdialoge wechselnder Stimmen aus stark verknappten Texten und in stark stilisierter Intonation: So wirken die Stimmen leichter Mädchen besonders püppchenhaft und
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Es sind die Nummern 1, 4 und 10 im Comic-Buch, wobei die Nummer 4 mit 6 Seiten die umfangreichste Geschichte ist.
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diejenigen machohafter Männer besonders tief und rau. Zweitens Signalgeräusche, die die Bilder von Situationen entstehen lassen: Quietschende Reifen zeigen ein heranbrausendes Auto an, die Geräusche, die beim Kartenmischen und beim Ausspielen eines Trumpfs entstehen, verweisen auf einen Pokertisch, das Klappern einer Schreibmaschine auf ein Büro usw. Drittens musikalische Elemente: kurze Akkordbrechungen oder das Aufheulen der elektrischen Gitarre fungieren als Szenentrenner, außerdem werden in allen Kurzhörspielen die Hits der Musiker angespielt. Wer sich in Rock- und Popgeschichte auskennt, sieht viele der Musiker vor sich, oft vor dem Mikrofon stehend. Vergleicht man die Akustik Strips mit den Bildcomics, stellt man weitgehende Übereinstimmungen in den Texten fest, wobei in den Hörspielen hier und da etwas ausformuliert wird, was auf Bildern zu sehen ist. Andererseits liefern die Hörspiele die Musik, die im Comic-Buch nur durch die bekannten Songtexte mit gezackten Sprechblasen und angedeuteten Noten sowie durch die Bilder von Musikern mit oder ohne Instrumente dargestellt werden kann. Im ersten Hörspiel wechselt die sagenumwobene Gitarre von Carl Perkins zum Elvis-Gitarristen Scotty Moore, dann zu Elvis selbst und zurück, als dieser zur Armee nach Deutschland muss, schließlich über Jerry Lee Lewis und Chuck Berry, die beide wegen Affären mit zu jungen Mädchen Karriereknicks erleben, zu Eddie Cochran, der in einem Londoner Taxi bei einem Unfall ums Leben kommt. Von da an verliert sich die Spur der „verfluchten Gitarre“. Im längsten Comic Hitsville USA wird die Geschichte der Hitfabrik Tamla Motown erzählt. Der Gründer Berry Gordon, an einer Bar sitzend, erinnert sich im Jahr 1983 zurück an die sechziger Jahre und damit an die erfolgreichste Zeit seines Labels. Aus alltäglichen Situationen entstehen immer neue Ideen für Hits, die jeder, der hin und wieder Radio hört, wiedererkennt, weil sie in der Geschichte der Popmusik nachwirken. Thematische Klammer des dritten Hörspiels mit dem Titel Cruisin’ ist der Traum vom Autofahren auf amerikanischen Highways in legendären großen Autos, für die sich attraktive Frauen begeistern – und damit auch für den Fahrer, der in diesem Strip Phil Perfect selbst ist. Das Motto wird im Vorspann von Chuck Berry mit seinem Hit No Particular Place to Go vorgegeben: „Riding along in my automobil / My Baby beside me at the wheel“, was allerdings nicht so verstanden werden sollte, dass das Mädchen am Steuer sitzt. Als Phil Perfect einmal dem Wunsch seiner Beifahrerin nachgeben muss, den Fahrersitz einzunehmen – Anlass das Beatles-Stück (Baby, you can) Drive My Car anzuspielen –, kann sie, ganz dem früheren GenderKlischee entsprechend, kaum die Spur halten. Das ist das Wesen dieser klassischen Pohörspiel-Serie: Klischees werden laufend bestätigt und mit jedem Stück wird ein Teilarchiv der Rock- und Popmusikgeschichte aufgemacht. Im Comic-Buch wird der Archiv-Charakter der Geschichten dadurch besonders dokumentiert, dass am Ende mehrerer Strips playlists zu finden sind, auf der die Songs in der Reihenfolge
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ihres Erscheinens im Text verzeichnet sind. Bei Cruisin’ sind dies fünfzehn Titel, bei Stranger In The Night, in dem es nicht nur um Frank Sinatras gleichnamigen Welthit, sondern um Höhen und Tiefen auf dem Weg des Sängers und Schauspielers zum Superstar geht, sind es zehn. In den Hörspielen genügt es, die Musikstücke kurz anzuspielen. Aus Textzeilen der Songs ergeben sich Einzelbilder, die sich in den Strips zu Geschichten mit einer erzählten Zeit von sehr unterschiedlicher Länge zusammenfügen: von Momentaufnahmen bis hin zu ganzen Karriereverläufen. Die Comics haben Teil an der Produktion von Star-Images, ohne ihre berühmten Protagonisten zu Superhelden zu stilisieren.5 Die dunkle Seite des Star-Daseins wird nicht verschwiegen, ein Beispiel ist die Geschichte des genialen, aber depressiven Beach Boys Brian Wilson6, die aber durch die in der Darstellungsform des Comics liegende Komik aufgehellt wird (vgl. Abel/Klein 2016, 61). Dies gilt für Bild-Comics ebenso wie für Akustik Strips. Die Geräusche und Stimmen werden so eingesetzt, dass sie ebenso grell und komisch wirken wie die gezeichneten Bilder, und sie haben ebenso wie diese den Charakter von Zeichen. Diese verweisen primär auf reale Personen und Gegenstände (Stars, Gitarren, Autos usw.), sekundär werden sie zur Form, die sich, im Sinne Roland Barthes’, mit mythischer Bedeutung füllen lässt (vgl Barthes 2012, 251ff.). Statt Legenden des Rock ’n’ Roll könnte die Serie auch „Mythen des Rock ’n’ Roll“ heißen. Eigentlich ist es nur ein Mythos, dem wir in einer Reihe von Variationen begegnen und der schon im Titelbild des ComicBuchs sichtbar wird: Es bezieht sich auf die Geschichte Nr. 8 (von der es kein Hörspiel gibt) Rock ’n’ Roll Museum. Phil Perfect und sein „unbestechlicher Freund“ Sam Bronx stürzen in flatternden Anzügen, durch die Kugeln pfeifen, eine Treppe hinunter, verfolgt von einem grimmigen, schwarz gekleideten Mann mit Revolver, umgeben von herunter purzelnden Langspielplatten mit lauter berühmten Namen. Es ist der Mythos von der Ambivalenz des Showgeschäfts zwischen Weltruhm und permanenter Gefährdung, zwischen Höhenflug und Absturz.7
12.2 S UPERHELDEN Andreas Platthaus erklärt die Erfolgsgeschichte von Superman historisch. Jahrelang hätten Jerry Siegel und Joe Shuster keine Abnehmer für ihre bereits 1933 erfundenen Geschichten vom Superhelden gefunden. Erst 1939 sei die Zeit dafür reif gewe-
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Sascha Seiler stellt Superman als die Ur-Figur der (Trivial-)Kunstform Comic dar (Seiler 2006, 50ff.). Vgl. dazu auch Platthaus 2008, 55ff.
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I’m a poor lonesome Beach Boy, Nr. 5 in der Hörspielserie, Nr. 9 Comic-Buch.
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Im Comic erfahren wir, dass es sich bei dem Revolver, mit dem geschossen wird, um die Smith & Wesson handelt, „mit der John Lennon abgeknallt wurde“ (Clerc 1987, 23).
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sen, als in Europa Krieg drohte und die USA als demokratischer Staat „der Dynamik von faschistischen und kommunistischen Diktatoren nicht gewachsen“ schienen (Platthaus 2008, 56). Nun gab es Bedarf nach einem „Weltretter“, der stark genug war, die amerikanischen Werte zu verteidigen (vgl. ebd.). Seine übernatürlichen Kräfte waren ihm von seinem Heimatplaneten Krypton her angeboren. Schon bald wurde auch eine Radioserie mit dem Helden produziert, und mit diesem Medienwechsel zum Hörmedium wurde Superman die Fähigkeit des Fliegens verliehen, weil die Plumpsgeräusche nach seinen Weitsprüngen sich lächerlich und damit unpassend angehört hätten (vgl. ebd., 59).8 Der zu der Neuerung passende Sound war „das Geräusch, welches durch den Luftzug hervorgerufen wird, den Superman erzeugt, wenn er fliegt“ (Meier 2015, 58). Trotz dieses frühen Beispiels für einen Medienverbund zwischen Comic und Radio war die Verbindung von Comic und Film traditionell enger. Platthaus spricht von einer „langen Reihe von Kino-Adaptionen nach Comic-Vorbildern“ (ebd., 61) Im Fall der Operation-Hörspiel-Serie der Brüder THILO (*1971) und SIMON GOSEJOHANN (*1976) stand ein Film am Anfang, auf den das Hörspiel folgte. Thilo Gosejohann erinnert sich: „Ganz weit weg von den Verlockungen der Großstadt begannen wir 1990 in Gütersloh einen Haufen von Amateurfilmen zu drehen, die über die Jahre immer mehr Resonanz erzeugten. Der Höhepunkt und vorläufige Schlussakkord war dabei der Film ‚Operation Dance Sensation‘ (2003), der weit über die Grenzen Ostwestfalens hin Bekanntheit erlangte.“
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Das erste der vom WDR produzierten Hörspiele der Operation-Serie, Operation Nation (2008) stellt laut Gosejohann eine Fortsetzung des relativ erfolgreichen Trashfilms von 2003 dar. Die beiden Vietnamkriegsveteranen Jackson und sein Rivale, der schurkische Atlas, treten wieder auf, diesmal im Irakkrieg – und wieder, wie schon im Film, ist Atlas ein Verräter, ein Überläufer zum Feind, den Jackson in einer Hütte, wo er sich mit Kumpanen versteckt hält, aufspürt und dingfest macht. Atlas und Jackson sind in allen drei Hörspielen der Serie abgehalfterte Helden, die aber wegen ihrer Kriegserfahrung durch brenzlige Situationen nicht zu erschüttern sind. Sie haben zwar keine übernatürlichen Kräfte wie die frühen Superhelden der 8
In seiner Studie „Superman transmedial“ untersucht Stefan Meier die „medialen und medienökonomischen Aspekte, welche den originären Superman zur Folie des Medienwandels werden lassen“ (Meier 2015, 13). Sein zweiter Untersuchungsaspekt ist die Serialität der Superman-Geschichten. Zu den US-amerikanischen Superman-Radioserien (episode serials) vgl. ebd., 52-60. Die Episoden dauerten „jeweils ca. zwölf bis fünfzehn Minuten und wurden anfänglich dreimal, später fünfmal in der Woche ausgestrahlt.“ (Ebd., 56). Superman bezeichnet Meier als „Pop-Ikone“.
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http://www.wdr3.de/hoerspielundfeature/operation-baader-heino-komplex-100.html
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Comics, werden aber aufgrund erworbener Fähigkeiten für Spezialeinsätze gebraucht.10 Im Fall von Operation Nation wird Atlas, den eigentlich der elektrische Stuhl erwartet hätte, aus dem Gefängnis Alcatraz geholt, weil Arnold Schwarzenegger, der Gouverneur von Kalifornien, im Internet erfahren hat, dass Saddam Hussein in Wirklichkeit nicht tot ist, sondern nach seiner scheinbaren Hinrichtung von dem Zauberer David Copperfield durch eine Falltür gerettet und in einem weißen Golf Cabrio weggebracht worden sei. Da Atlas angeblich mit Saddam einige Monate in einem Erdloch zugebracht habe, soll er Jackson helfen, den ehemaligen Diktator dingfest zu machen. Im Irak geraten die beiden ungleichen Helden in die Fänge dreier Brüder, die durch die Entführung Lösegeld von der US-Regierung erpressen wollen, um ihr insolventes Internet-Cafè wieder aufzubauen. Für ein Video wird eine Folter-Szene inszeniert, die man ins Netz stellt, danach feiern Entführer und Entführte gemeinsam. Allerdings wird die Bar von amerikanischen Spezialkräften gestürmt, die alle fünf wegen Terrorverdachts nach Abu Ghraib bringen. Dort betätigt sich der berüchtigte Hudson als Folterknecht, der seinerzeit beim Sturm auf die Hütte Jacksons Freund Murphy abgeknallt hat und jetzt die Araber mit einem Schweißbrenner töten will. Zum Showdown erscheint Arnold Schwarzenegger mit seiner VizeGouverneurin Hella von Senses und befreit alle aus der Gewalt von Hudson. Es stellt sich heraus, dass Schwarzenegger ein Opfer seiner Internet-Leidenschaft geworden ist: Zwischen Sex-Videos, die ihm ab und zu Dick Cheney schickt, und Ebay-Angeboten war er auf die Nachricht vom überlebenden Saddam gestoßen, die die drei Brüder als Scherz ins Netz gestellt hatten. Die irrwitzige – hier verkürzt dargestellte – Handlung ist bestens tauglich für einen Comic. Dieses erste Hörspiel der Serie trägt stärker als die beiden anderen Züge eines Comics für das Radio. Ein Erzähler, gesprochen von Reiner Schöne, gibt kurze Einführungs- und Überleitungstexte im Präsens, die in einem Comicstrip in rechteckigen Kästen stehen könnten. Geräusche, für die in einem visuellen Comic lautmalerische Wörter wie „Peng“, „Klirr“, „Knatter“, „Krawumm“ stehen, werden sehr üppig eingesetzt und dominieren bei Kampfszenen das akustische Geschehen. Dazu hört man symbolische Musik zur Verdeutlichung des Schauplatzes, z.B. orientalische Klänge, wenn die Szenerie in den Irak wechselt. Stimmführung und Artikulation sind wie in den Phil-Perfect-Kurzhörspielen stark stilisiert, so gelingt es dem Schauspieler Johannes Scherer, den Terminator Schwarzenegger durch ein knarrend hervorgebrachtes, mit amerikanischen Brocken durchsetztes österreichisches Deutsch zu charakterisieren und damit eine komische Wirkung hervorzurufen. Diese Wirkung wird verstärkt durch O-Ton-Ausschnitte aus Reden des USPräsidenten George W. Bush. Die das Hörspiel strukturierenden Parallelmontagen 10 Auch Batman war kein Superheld im engeren Sinn, sondern hatte sich seine besonderen Kräfte und Fähigkeiten antrainiert.
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zwischen Sacramento und Bagdad wären gleichermaßen in einem Film oder in einem gezeichneten Comic möglich. Insgesamt zeigt das 54 Minuten lange, grell und bunt wie ein Comic wirkende Hörspiel, dass der Comic für das Radio auch als Langform funktioniert. Genauso verrückt und in höchstem Maß unwahrscheinlich ist das ein Jahr später entstandene Hörspiel Operation Baader Heino Komplex (WDR 2009), das mit Radio-O-Ton-Schnipseln aus Meldungen zur RAF und aus einem Helmut-SchmidtInterview eröffnet wird. Wieder führt ein Sprecher durch „unsere kleine wahre Geschichte“, die er am 23. Oktober 1999, dem Tag, an dem der Schlagersänger Rex Gildo aus dem Fenster stürzte, beginnen lässt. Jackson ist im Auftrag des ExBundeskanzlers Helmut Schmidt bei ihm, um ihn vor einer Bedrohung durch die wieder auflebende RAF zu beschützen. Er wird Zeuge, wie der Geist Andreas Baaders, der aus der rückwärts laufenden Black Sabbath Platte Never Say Die aufsteigt, den Tod des beliebten Schlagersängers verursacht.11 Dieselbe Platte legt, überraschenderweise, der Volkssänger Heino bei einem gemütlichen Beisammensein mit Karl Moik auf, was dazu führt, dass der Geist Baaders in ihn fährt und er zusammen mit der gerade aus der Haft entlassenen Brigitte Mohnhaupt und anderen Ex-Terroristen neue Anschläge plant. Schmidt setzt nun Jacksons Rivalen Atlas undercover ein, weil der eine Zeitlang mit Baader in einer Wohngemeinschaft gelebt hat. Christian Klar wird mit dem Versprechen gewonnen, man werde ihm sein Traumauto, einen Mercedes 500 SL, besorgen. Damit macht er sich dann allerdings aus dem Staub. Letztlich gelingt es den beiden Vietnam-Helden, einen Anschlag auf ein Volksfest vor dem Berliner Reichstag zu verhindern und Baaders Geist in die Ziege Hennes, das Maskottchen des 1. FC Köln, zu leiten, sodass Heino wieder er selbst sein kann. Das dritte Hörspiel der Serie, das im Unterschied zu den beiden anderen von Thilo Gosejohann allein verfasst wurde, soll hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden, da es von der Form des Hörcomics abweicht. Operation Endstation (WDR 2011) parodiert eine TV-Reality-Show nach dem Muster des Dschungelcamps. Die Helden Jackson und Atlas müssen ihre finanzielle Situation aufbessern und nehmen deshalb an dieser Show teil, die unter dem Motto „Raus aus der Pleite“ steht und mit dem Titelsong „Gestern Stolz der Nation / Heute schon Endstation“ Supermans vollzogenen Abstieg anzeigt. Das wieder überaus respektlose und makabre Stück führt die beiden Vietnamveteranen mit dem „Kannibalen von Rothenburg“ Armin Meiwes, dem österreichischen Missbrauchstäter Josef Fritzl und Bischöfin Margot Käßmann zusammen, die als moralisches Gewissen fungiert, ohne gegen die bedenkenlosen Moderatoren und die einlullende Wirkung der Musik viel 11 Das Muster, nicht ganz geklärte Todesfälle aus der Pop-Welt in Hörspielen aufzuklären, findet sich auch in der Krimi-Serie um den Pop-Detektiv Viktor Berger von Carla Spies (vgl. Kap. 15.2) wieder.
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ausrichten zu können. Auf den Killing fields von Kambodscha kommt es zu einem Unfall, bei dem Moderator Helge ein Auge einbüßt. Atlas ist mit einer Kampftechnik aus dem Vietnamkrieg über das Ziel hinausgeschossen, aber das Motto „The show must go on“ steht über allem: Nach einer eintägigen Sendeunterbrechung geht es weiter. Das Stück setzt die Tradition der schrillen Mediensatiren fort, für die vor allem Christoph Schlingensief bekannt geworden ist.12 Eine satirische Form des aktualisierten, alltagstauglich gemachten SuperheldenComics für das Radio bringen PAUL PLAMPER, P.R. KANTATE (* 1974)13 und ROBERT OHM mit ihrem Stück Sacht bescheid, denn com...ic! Kantomias rettet die Welt (EIG i. A. DLR / SWR 2004) zu Gehör. Es geht um den Kreuzberger Retter der sozial Benachteiligten, Kantomias, dessen Name sicher nicht zufällig an den genialen Verbrecher Fantomas aus der dreiteiligen, nach ihm benannten Filmserie und an Donald Ducks heldenhaftes Alter Ego Phantomias denken lässt. Das als „grenzenloser Hör-Comic“ bezeichnete Stück wurde von der Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste zum Hörspiel des Monats September 2004 gekürt, weil es verschiedene mediale Entwicklungen „rasant, grell, schnoddrig, albern, laut, frech“ persifliert und „durch unorthodoxen Sprachwitz, beträchtliche Spielfreude und überzogene, aber sehr präzise beobachtete Sprachstile“ überzeugt (zit. n. HörDat). Der Sprachwitz äußert sich nicht nur in Wortwahl und Satzbau, sondern auch im Berliner Dialekt und übertrieben artikulierten Unterschichtenslang, den P.R. Kantate und die anderen Darsteller und Darstellerinnen sprechen. Hinzu kommt die ausgiebige Verwendung von allem, was das Tonstudio an akustischen Sensationen hergibt: Musik – darunter der von P.R. Kantate komponierte Titelsong „Kantomias ist unser Held“ –, Geräusche, Hall und viele andere Effekte. Die zweiteilige Handlung erscheint so nur als Anlass dafür, ein äußerst dichtes und abwechslungsreiches akustisches Feuerwerk zu entfachen. Elemente, die an Superman-Comics erinnern, sind zum einen der Sprecher mit seiner markanten Stimme (Manfred Lehmann, Synchronsprecher für weltbekannte Schauspieler), der mit seinen präzisen Zeit- und Ortsangaben suggeriert, dass es sich um ein brandgefährliches Geschehen handelt: „Berlin Kreuzberg, SO 36. Es ist 14 Uhr 28 Ortszeit.“ Zum zweiten ist es Kantomias’ Superman-Spezialanzug, dessen Eigenschaften durch kurze Knarr- und Knarz-Geräusche beim Anziehen verdeutlicht werden und der ihm, ganz im Sinne der Superhelden-Tradition, übermenschliche Kräfte verleiht. Zum dritten sind es die für Normalmenschen unlösbaren Aufgaben, die darin bestehen, einen „Angriff der Klonkrüger“ (bei denen es sich um geklonte dreidimensionale Spammails handelt) abzuwehren, und ein „Country-Kartell“ zu besiegen, das die Hörgewohnheiten wehrloser Mitbürger im 12 Z.B. mit Rocky Dutschke ’68 (WDR 1997) oder auch Rosebud (WDR 2002). 13 Die Abkürzung P.R. steht für Plattenreiter = Discjockey.
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Sinne seines bevorzugten Musikstils zu manipulieren versucht. Allerdings stolpert Kantomias mehr von Sieg zu Sieg, als dass er ihn mit überlegener Kraft herbeiführt, denn eigentlich betätigt er sich als Hilfsdienst für Kreuzberger Nachbarn wie Oma Gierke, die ihn herbeiruft, wenn ihr die Eier ausgehen. Die Klonkrüger machen Kantomias vorübergehend unschädlich, indem sie ihn im Internet dematerialisieren. Währenddessen hält Thorsten (gesprochen von Matthias Matschke), der Anführer des Country-Kartells, eine Siegesfeier im Olympiastadion ab. Die Stadionakustik mit Geschrei der Massen ist überwältigend. Kantomias kann nur eingreifen, weil ein Computerspieler ihn durch Herunterladen eines Pac-Man-Spiels wieder ins Diesseits befördert und er dann zufällig eine Eintrittskarte für das Country-Fest erlost. Während Thorsten eine Ansprache an die Massen im Stil eines faschistischen Führers hält, schleudert ihm Kantomias den entscheidenden Satz entgegen, er sei überhaupt kein Country-Fan und gehöre nicht zum Team. Damit begibt er sich in Lebensgefahr, denn nun droht Thorsten mit Gewalt: „Das hier ist ein Colt, 1892, 12 Kugeln in der Trommel.“ [45:30] Roland Barthes bietet eine Deutung dieser Geste: „Der Colt ist Sprache, er dient dazu, das Leben unter Druck zu halten, die Geschlossenheit der Zeit zu umgehen; er ist logos, nicht praxis.“ (Barthes 2012, 93) Im Pophörspiel wird dieser Sachverhalt noch deutlicher als in den „Filmen der Schwarzen Serie“, mit denen Barthes sich beschäftigt, denn der Anführer der Country-Mafia zelebriert die Waffe verbal vor großem Publikum. Aber sein Widersacher, der eigentlich dringend auf die Toilette muss, ist unverwundbar, und im Kugelhagel, von wem auch immer ausgelöst, wird der Verschwörer selbst getroffen, während der Superheld das Publikum spielend auf seine Seite zieht. Hierauf gewinnt er sogar die schöne Isabell (gesprochen von Kathrin Angerer) für sich, die seine Schwächen in schönstem Psychodiskurs-Jargon in Stärken umdeutet und zu dem Schluss kommt: „Du gibst dich der Lächerlichkeit preis, und das finde ich eigentlich süß.“ [48:57] Doch dann klingelt der Wecker und zugleich klingelt es bei Kantomias an der Tür. Die Kreuzberger Freunde, die Country-Musik hassen, wollen einige seiner CDs brennen, und als dann auch das Telefon klingelt, muss der Weltretter los: für Oma Gierke Eier holen. Die popkulturelle Oberflächenästhetik weist zwei Spielarten (mit vielen Zwischenstufen) auf: Während die eine auf Witz und Komik beruht und zum Lachen reizt, wirkt die andere düster und makaber und löst eine melancholische Stimmung aus. Die bisher beschriebenen Superhelden-Hörspiele der Operation-Serie und das Kantomias-Weltretter-Stück gehören dem ersten Typus an. Auch CHRISTIAN GASSERs Hörspiele Blam! Blam! Kawumm!!! (WDR 1999) und Blam! Blam! Whizzz!!! (WDR 2001), in denen bekannte Comic-Figuren den Aufstand wagen und sich in
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die Realität begeben, gehören dazu.14 Ein düsteres Gegenstück bildet das als Hörcomic angekündigte Hörspiel Abwärtsbunker (WDR 2008) des Duos HALF PAST SELBER SCHULD (bestehend aus der Musikerin und Komponistin ILANIT MAGARSHAK-RIEGG, geboren 1972 in Leningrad, und dem deutschen Comiczeichner und Poeten FRANK RÖMMELE, geboren 1968 in Heilbronn).15 Das Hörspiel versetzt den Hörer in eine Art Kafka-Universum, das durch die hohe, gepresste Ausruferstimme des Erzählers und kurze Musik-Einlagen wie aus Micky-Mouse-Filmen nicht nachhaltig aufgehellt wird. Der entmachtete Superheld, dem sein Rüssel entfernt und die Rüstung weggenommen wurde, heißt Dunkelziffer. Ihm geschieht das Gleiche wie Kafkas Josef K. am Anfang des Romans Der Prozess: Er wird ohne für ihn ersichtlichen Grund verhaftet. In einem „Folterkomplex“, dem „Abwärtsbunker“, wird er von Tag zu Tag jeweils eine Etage tiefer verbracht, wo verschiedene Qualen körperlicher und psychischer Art auf ihn warten. Dunkelziffer wird ein Opfer der von ihm als seelenloser Verwalter angewandten Vorschriften und Gesetze. Sein Name verweist auf die vielen Namenlosen, die statistisch nicht in Erscheinung treten. Die Aufseher im Bunker sprechen mit elektronisch verfremdeten Maschinenstimmen. Sie spielen am Anfang ein sinnloses Überbietungsspiel mit Zahlen. Wie in jedem Gefängnisdrama lernt Dunkelziffer Mitgefangene kennen und schmiedet Ausbruchspläne, an denen sich allerdings nur einer, der Angeber Karl Klebebart, beteiligt, während der andere, K., völlig depressiv ist und in Passivität verharrt. In der 57. Etage soll es einen angefangenen Tunnel geben, durch den man ausbrechen kann. Eine weitere Figur ist der glückliche Bürokrat Allegro, der eine Kiste mit Archivmaterial gefunden hat und nicht an Ausbruch denkt. Diese „unendliche Kiste“, motivisch an Michael Endes Roman Die unendliche Geschichte erinnernd, wird für die drei Gefangenen, nachdem der Fluchtversuch in der 57. Etage gescheitert ist, zum Tor in die Freiheit. Aber die Luft der Freiheit wird ihnen zum Verhängnis: sie explodieren. Ein Schlussdialog rückt das ganze Geschehen in die Sphäre des medialen Scheins: „Zeigen Sie das nochmal!“, sagt eine Männerstimme. Eine Frau antwortet beflissen: „Aber gerne, Schmidt.“ Man hört, dass ein Film zurückgespult wird, dann die Explosion, dann das fünfmalige helle Auflachen der Frau, hierauf dieselbe Anzahl dunkler Auflacher des Mannes. Das allerletzte Wort haben die Maschinenstimmen der Wärter, die das Ganze zum „Maschinenhumor, den kein
14 Das erste der beiden Hörspiele wird in der ARD-Hörspieldatenbank als „schnell, rhythmisch, blutig – und lustig“ charakterisiert. 15 Das Stück steht hier exemplarisch für mehrere als Hörcomics deklarierte Produktionen des Duos: die sündenvergebmaschine. Ein Absurdical in sieben Phasen (2001); Die Tagebücher von Kommissar Zufall (WDR 2004); Barfuß durch Hiroshima (WDR/DLR 2006) (vgl. ARD-Hörspieldatenbank).
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Mensch versteht“, erklären. „Hahahaha.“ Das Publikum fühlt sich aus einer Graphic Novel entlassen, in der die Farbe Schwarz dominiert und die gezeichneten Gestalten groteske Züge aufweisen. Dieser Eindruck wird durch die schräge Musik verstärkt, für die die ungefähr in der Mitte des Hörspiels [23:40ff] gesungene „Selbstmörderhymne“ charakteristisch ist: „Wenn ich tot bin, schlaf ich aus […] Doch alle, die sie singen, leben noch.“ Makabre Züge trägt auch JÖRG BUTTGEREITs (*1963) spektakulärer Hörcomic Captain Berlin versus Dracula (WDR 2006), der zahlreiche Mythen der Trivialkultur aufgreift und dessen Plot und Darstellungsstil, wie der Autor selbst sagt, zwischen Trash und Trauma angesiedelt sind. Der Autor gilt als „Horror-Ikone“, da er sich, ausgehend vom Film, vorrangig für inter- und transmediale Phänomene verschiedener Horror-Genres interessiert, worauf auch Hörspieltitel wie Interview mit einem Monster (DLR 2004) und Fungus – Pilz des Grauens (WDR 2016) verweisen. Captain Berlin versus Dracula „greift die im Comic der 70er populäre Tradition der ‚Team-Ups‘ auf: haarsträubende Storys, in denen Comicfiguren verschiedener Serien in einer Sonderausgabe aufeinander treffen“, so der Ankündigungstext des Senders (in der ARD-Hörspieldatenbank). In dem Hörspiel wird eine schnell getaktete Comic-Ästhetik virtuos durchexerziert. Die Zwischentexte werden von einem Kind gesprochen, das man sich einen Comic lesend vorstellen kann. Figurentexte werden durch kurze, signalartige Geräusche illustriert, dazu gibt es viel Geschrei und Röcheln, dramatische Musik sowie den Mottosong „Captain Berlin, Retter der Welt, Superheld“ [34:05; 50:28]. Der hat es im Jahr 1973 im geteilten Deutschland mit zwei Mächten der Finsternis zu tun: mit Adolf Hitler, dessen Gehirn überlebt hat, und Graf Dracula, der jenseits des Eisernen Vorhangs in Schloss Brandenburg ruht und von Hitlers Leibarzt von Blitzen zum Leben erweckt wird, damit er den Führer mit seinem Blut unsterblich macht. Der wahnsinnige Leibarzt, der den Vampir mit einer Jungfrau, die sinnigerweise den Namen Maria trägt, erfolgreich ködert, will das Gehirn des genialen Führers zunächst einem aus Leichenteilen deutscher Landser zusammengeflickten UrGermanicus einpflanzen. Als dieser Versuch schiefgeht, versetzt er Hitler in einen Roboterkörper mit soliden Kruppstahlgliedmaßen. Mit der Opferung Marias plant der Arzt einen Doppelschlag, da sie die Tochter von Superman Captain Berlin ist, der in der DDR als Journalist Fritz Neumann im Verborgenen lebt. Ihm waren als Widerstandskämpfer gegen Hitler zahlreiche Attentatsversuche missglückt. Die Entführung seiner Tochter durch Dracula zwingt Neumann dazu, sich mit Maske, Kostüm, Ultrarevolver und Düsenschuhen wieder in Captain Berlin zu verwandeln. Er kommt gerade noch rechtzeitig, um die Bluthochzeit Draculas mit seiner Tochter zu verhindern. Zwischen beiden war es bereits zu einer erregenden Szene gekommen, die mit einem „mehr, mehr“ Marias geendet hatte. Jetzt erwacht sie aus der Trance, sieht sich nackt und mit Blut besudelt auf einem Altar stehen,
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erledigt Dracula, der sich aus Hitler-Roboters Zangengriff durch Verwandlung in einen fliegenden Drachen hat befreien können, mittels eines Pfahls, den sie ihm ins Herz stößt, und leitet danach die Selbstexekution des Hitler-Maschinenkörpers ein, indem sie auf einen roten Knopf zwischen seinen Beinen drückt. Akustisch wird bei diesen Szenen alles aufgeboten, was das Hörspielstudio zu bieten hat. Immer wenn Hitler auftritt, hört man Wagner-Musik aus dem Off oder, handlungsintern, seine Lieblingsmusik, mit der er sich mental auf seine neue Mission einstimmt: ein Kinderchor singt „Kein schöner Land in dieser Zeit“, Hans Albers singt „Heut muß ein Mann seinen Mann steh’n“, und in der Schlussszene erklingt das Lied „Das gibt’s nur einmal, das kommt nicht wieder“. Aber es kommt eben doch wieder – und das ist der schwarze Kern des Hörspiels. Leibarzt von Blitzen hat statt der befohlenen Zyankalikapsel nur ein Betäubungsmittel geschluckt und landet, zusammen mit Hitlers aus dem Metallkörper geschleuderter Seele, auf einer Wiese am Obersalzberg, wo sogar ein Hund bellt, den er als seine Schäferhündin Blondie identifiziert. Superman und Tochter, jetzt Superweib, kommen zwar per Teleportationsbeamer angeflogen, aber es bleibt offen, ob sie gegen Heidi Kröner, die zur Fortpflanzung der Edelteutonen bereit steht, etwas ausrichten können. Zum Ausklang ertönt, bitterböse, das Deutschlandlied. Das Sprecher-Ensemble leistet Großartiges, insbesondere Udo Schenk als Hitler, Nina Weniger als wandlungsfähige Maria und Bela B (Felsenheimer), Schlagzeuger der Gruppe Die Ärzte, als bedrohlicher, aber auch verführerischer Graf Dracula.
12.3 W ESTERNHELDEN In „Gewalt und Lässigkeit“ setzt Roland Barthes der Sprache des Colts „die lässige Geste des Gangsters“ entgegen, die keine Worte braucht. „So erhält der Zuschauer die Illusion der Gewißheit einer Welt, die sich nur unter dem Druck der Handlungen, nie unter dem der Worte verändert.“ (Barthes 2012, 93) Wenn im Hörspiel derartige Handlungen vollzogen werden, kann dies nur in Worten geschehen und allenfalls durch Geräusche verstärkt werden. Allein durch diese Notwendigkeit entsteht eine Tendenz zur ironischen Brechung des Sachverhalts. In den witzigen, diverse Mythen und Traditionen verspottenden Pophörspielen wird diese Ironisierung auf die Spitze getrieben. Das beschriebene Verhältnis von Colt und Handlung, Sprache der Waffe und schweigsam vollzogenen, effizienten Gesten ist auch für das Western-Genre charakteristisch. Der klischeehafte Satz „Er war einsam, aber schneller“ benennt treffend die Figurenkonzeption des melancholischen, aber alle Gefahren meisternden Helden in vielen Western. Die ironische Comic-Version dieser Heldenfigur ist Lucky Luke, der harmlos wirkende, aber stets treffsichere Cowboy, der mit seinem Colt die Welt verbessern will und nach bestandenem Abenteuer
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dem Sonnenuntergang entgegen reitet. Die Serie existiert in einem umfassenden Medienverbund: Ausgehend von der Comic-Heftserie gibt es neben einer Reihe von Zeichentrickfilmen auch Realverfilmungen, Video-Spiele und zahlreiche auf Kassetten veröffentlichte Lucky-Luke-Hörspiele. Dass der einsame Western-Held charakterlich durchaus fragwürdige Züge haben kann, lässt sich an der schillernden Figur Sartana zeigen, die der Synchronsprecher RAINER BRANDT (*1936) in einer 2016 veröffentlichten WDR-HörspielProduktion wieder aufleben lässt. In dem Hörspiel Sartana – noch warm und schon Sand drauf nach dem gleichnamigen Italo-Western von 1970 ist der Protagonist hinsichtlich seiner Geschicklichkeit mit dem Revolver allen Schurken überlegen, moralisch aber nicht eindeutig einzuordnen. Im Original hieß der Film, der unter der Regie von Giuliano Carnimeo mit Gianni Garko in der Hauptrolle gedreht wurde, Buon funerale amigos! ...paga Sartana, ein Titel, der noch deutlicher als der deutsche auf komödienhafte Züge dieses an Gewalttaten reichen Films schließen lässt.16 In seiner Synchronfassung, auf der das Hörspiel beruht, hatte Rainer Brandt den Dialogwitz durch viele Sprachspiele und Kalauer im Vergleich zum Original noch verstärkt. Das Hörspiel wirkt durch diese Dialoge und durch die Art, wie sie gesprochen werden, wie eine Satire auf das Italo-Western-Genre. Passend dazu entwarf der Zeichner Robert Schlunze Sartana als Comic-Figur. Auf dem Titelplakat ist er als verschlagener Cowboy mit schiefem Gesicht, einem halb zugekniffenen Auge und lässig über die Schulter gelegtem Gewehr dargestellt. Der zugehörige Trailer enthält Szenen, die aus einem Western-Zeichentrickfilm stammen könnten. Das glänzend besetzte Hörspiel setzt auf einer Meta-Ebene ein. Die Darsteller sind bei einer Probe, als der viel beschäftigte Sprecher Oliver Rohrbeck, sonst bekannt von den Drei Fragezeichen, eintrifft. Ihm – und damit dem zuhörenden Publikum – werden die anderen Mitspieler vorgestellt: Bela B (Felsenheimer), hier in der Hauptrolle des Sartana, die Musikerin Peta Devlin, der Schauspieler, Hörbuchund Hörspielsprecher Stefan Kaminski und Rainer Brandt als Erzähler. In einem kurz eingespielten Ausschnitt aus der Tonspur des Films hört man den jungen Brandt als die Stimme von Gianni Garko sagen: „Noch warm und schon Sand drauf“. Die Titelmusik, gespielt von der Gruppe Smokestack Lightning, leitet über zur Westernhandlung, an der vor allem bemerkenswert ist, dass sie es dem Protagonisten in einer schnellen Abfolge brenzliger Situationen ermöglicht, seinen Witz, seine Kaltblütigkeit und Geschicklichkeit zu entfalten. Es geht um ein wegen angeblicher Goldfunde begehrtes Grundstück, für das nach viel Schießerei und Pferdegetrappel schließlich 100.000 Dollar bezahlt werden, obwohl Sartana längst herausgefunden hat, dass die Goldmine taub ist. Mit dem Geld macht sich Jasmine, die Nichte des ermordeten Vorbesitzers aus dem Staub, was zum Anlass wird, noch einmal auf die Meta-Ebene zu wechseln. Peta Devlin, die Sprecherin der Jasmine, 16 In Deutschland erhielt er die FSK-Freigabe ab 18 Jahren.
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hält das für einen wunderbaren Schluss, weil diesmal eine Frau die Männer austrickst und nicht der männliche Held das letzte Wort hat. Aber es kommt anders: Sartana holt Jasmine ein, nimmt ihr das Geld ab, gibt ihr davon 10.000, also 10 Prozent, und dann noch einmal soviel in geteilten Scheinen. Es kann sein, dass man sich wiedersieht. Vorläufig reiten beide auf getrennten Wegen davon, Sartana auf seinem treuen Pferd Theophil, das für ihn ebenso wichtig ist wie für Lucky Luke sein legendäres Pferd Jolly Jumper. Das abschließende Musikstück nimmt die Genderthematik noch einmal auf, indem es darstellt, wie ein vom Familienleben gestresster Mann sich in einen Westernhelden hineinträumt, dann aber doch aufstehen und die Kinder versorgen muss, während die Frau liegen bleibt. Der nach der Vorführung aufbrandende Beifall, der zum Hörspiel gehört, dokumentiert die Situation der Live-Perfomance, mit der die Truppe auf Tournee geht. Der WDR bewirbt dieses Ereignis u.a. mit einem Trailer auf YouTube. Dieser Aufführungskontext erinnert an Andreas Ammers Apocalypse live, könnte aber auch den Versuch darstellen, ein neues Genre zu begründen, entweder den akustischen Film-Comic oder das Western-Comic-Hörspiel. Beides wäre ganz im Sinne Leslie Fiedlers, der drei Genres für geeignet hielt, den Graben zwischen Hoch- und Massenkultur zu schließen: den Western, Science Fiction und Pornographie. Die damals von der Kulturelite noch verpönten „Gestalten aus Comic Books“ (Fiedler 1994, 36) erschienen ihm dabei lebendiger als „archetypische Gestalten“ aus Büchern, die zur hohen Kunst gezählt wurden.
12.4 O RPHEUS
TRANSMEDIAL
Die Erzählung von Orpheus und Eurydike gehört zu den wohl am meisten bearbeiteten Mythen der Antike. Die tragische Liebesgeschichte des Sängers Orpheus wurde zuerst von Vergil (Georgica) und Ovid (Metamorphosen) erzählt und später vor allem als Opernstoff, als Bildmotiv sowie als Handlungskern in Filmen verwendet. 1969 sorgte der italienische Schriftsteller und vielseitige Künstler DINO BUZZATI (1906-1972) mit einer Pop-Art-Bearbeitung des Stoffs für Aufsehen. Der italienische Titel Poema a fumetti bezeichnet nur die Technik des Comics, während der Titel der deutschen Übersetzung Orphi und Eura auf die Hauptfiguren verweist. Buzzati verlegt die Geschichte in das Mailand der Gegenwart und macht Orphi zu einem Popsänger, bei dessen Gesang „im Keller des Lokals zum Polypen“ die Mädchen außer Rand und Band geraten (Buzzati 1970, 20). Er liebt aber nur Eura. In einer kalten Märznacht beobachtet er von seinem Fenster aus, wie sie aus einem Taxi steigt und durch eine geheimnisvolle, in eine Mauer eingelassene Tür verschwindet. Eine Zeitlang grübelt er, ob es wirklich Eura war, dann kann er nicht anders als ihr
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zu folgen. Er wird erwartet und in die Unterwelt eingelassen, in die er seine Gitarre mitnimmt. Das Buchcover zeigt, dass Buzzati seinen teilweise im Pop-Art-Stil gezeichneten Comic17 mit drastischem Sex anreichert. Auf dem Umschlagbild streckt eine barbusige Schöne ihre Hand nach dem verängstigten Sänger aus, der soeben die lange Treppe in die Unterwelt hinabgestiegen ist.18 Dort unten sieht er sich zahlreichen Versuchungen ausgesetzt. Nackte Mädchen bieten sich an, ihn zu trösten, aber er geht unbeirrt weiter, seiner einzigen Liebe folgend. Die Modernisierung des Mythos zeigt sich unter anderem darin, dass Orpheus im Einwohnermeldeamt der Unterwelt den entscheidenden Hinweis bekommt, der ihn zu Eura führt.19 Es ist eine verführerische Nackte, die ihm vor Türmen von Karteikästen den Hinweis gibt, er müsse am Bahnhof suchen. Dort findet er in der Tat seine Geliebte, aber sie versäumen die Frist, die ihnen gesetzt ist, um aus der Unterwelt zu entkommen. Wieder in der Oberwelt vor seinem Haus stehend, trifft er den geheimnisvollen Fremden, der ihn vor seinem Eintritt in den Hades erwartet und die geheimnisvolle Tür als eine von Millionen bezeichnet hat. Jetzt sagt er, alles sei nur ein Traum gewesen, und es bleibt offen, ob er damit nur Orpheus’ Ausflug ins Jenseits oder auch das irdische Leben meint. Deutlich ist die Anspielung auf Kafkas Türhüter-Parabel, die zahlreiche Interpreten herausgefordert hat. Das Werk lässt sich als Groß-Parabel über das Verhältnis von Leben und Tod, von Diesseits und Jenseits lesen. Das tertium comparationis ist die Kunst: Aufgefordert vom Wächter des Totenreichs, der als leeres Jackett dargestellt ist, besingt Orpheus die schönen und flüchtigen Momente des Lebens, die Liebe, Gott und alles, was den Toten ewig versagt bleiben wird. In den Referenzen auf der ersten Seite des Buches verweist Buzzati mit Angaben von Seitenzahlen auf Maler, Fotografen und Filmregisseure, von denen er Bildelemente direkt entlehnt hat. Ein Verweis auf Andy Warhol fehlt wahrscheinlich deshalb, weil das Buch insgesamt von diesem Pop-Art-Künstler stark beeinflusst ist. Die Pop-Art- und Comic-Ästhetik verbindet Buzzati mit romantischen
17 Das Buch wird auch als frühes Beispiel einer Graphic Novel gesehen; eine Grenzziehung ist schwierig. 18 Dieses Treppenmotiv findet sich auch in dem Filmklassiker Orfeu Negro (1959) von Marcel Camus, der die Geschichte während des Karnevals von Rio de Janeiro spielen lässt. 19 Die geometrisch gezeichneten Karteikästen, vor denen sich irritierend eine Nackte räkelt, markieren einen bedeutenden Unterschied zur Gestaltung des gleichen Motivs in Camus’ Film. Hier gerät Orfeu in einen verwahrlosten Bau, in dem ein alter Hausmeister vergeblich versucht, den Schmutz zusammenzukehren. Er stellt dem verliebten Sänger anheim, in Bergen vergilbter Akten zu suchen.
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und surrealistischen Mitteln der Bildgestaltung.20 Durch die doppelte Kodierung in Bildern und Texten – letztere mit geringem Anteil dialogischer Figurenrede – erzeugt Buzzati eine Wirkung, die sich als rätselhaft, unheimlich und zugleich erotisch stimulierend beschreiben lässt. Der Komponist, Musiker und Hörspielautor FELIX KUBIN (*1969) hat den Versuch gemacht, diese Wirkung mit den Mitteln eines musikalischen Hörspiels zu erzeugen, allerdings deutet er die Erotik nur an und fügt eine technisch-futuristische Komponente hinzu, die sich klanglich gut darstellen lässt. In Orpheus’ Psykotron (BR 2006) verfügt der Sänger über ein kastenförmiges Instrument, das Psykotron, mit dem er Gedanken direkt in Klänge und Geräusche umwandeln kann. In der Klangwelt des Hörspiels treffen Punk, Elektropop, Moderne Musik, mechanische Geräusche von Uhrwerken oder Spieluhren und Anteile von Noise (Musik) aufeinander. Im ersten von mehreren Songs stellt sich Orpheus (gesprochen von Lars Rudolph) vor: „Je suis Orphée Mécanique / Ich hab Metall im Genick / Mein Körper hat kein élastique / Und wenn ich gehe, macht es klick.“ [06:1508:48] Orpheus’ Vater, der Erfinder Vlad Dutrone, hat den Kasten konstruiert und dabei offenbar seiner Frau Delia, die früher eine berühmte Sängerin war, die Stimme genommen. Orpheus versteht sich als „Messias der körperlosen Musik“ und „erster astronautischer Dichter“. War er bei Buzzati ein Popsänger mit Gitarre, so bindet Kubin die magische Wirkung seiner Kunst an ein technisches Konzept. Beim Eintritt in die Unterwelt durch eine Schleuse schützt ihn sein Kubus vor der starken elektromagnetischen Kraft. Euras Tod wird mit der Verbreitung eines Virus erklärt, das nur Frauen befällt. Orpheus erfährt davon durch einen Brief seiner Schwester und durch Radiomeldungen.21 Kubin übernimmt vieles aus Buzzatis Text wörtlich, modernisiert ihn aber an einigen Stellen: Heißt es bei Buzzati „korrupt wie Chruschtschow“ (S.105), so hört man im Hörspiel „korrupt wie Putin“ [36:03], hat die Unterwelt im Comic schon „Farbfernsehen“ (S. 78), so ist es jetzt „Digitalfernsehen“ [32:12]. Und die Sekretärin im Meldeamt tippt jetzt hörbar auf einer Computertastatur. Ein überzeugender, weil die Möglichkeiten des Hörspiels nutzender Kunstgriff ist es, dass Orpheus den Bewohnern der Unterwelt den „Lärm der Welt“ vorspielt. Die visuellen Illustrationen des Comic-Buchs werden durch akustische Illustrationen ersetzt [38:20-39:50]. Am Schluss wird die Geschichte vom Gang in die Unterwelt zur Binnenerzählung, da Orpheus seine Eura fragt, ob ihr die Geschichte gefallen habe, und sie dies be-
20 So bezieht er sich in einem Bild auf Caspar David Friedrich (S. 112), in einem anderen auf Salvador Dalí (S. 33). 21 Bei Buzzati heißt es nur: „Plötzlich war eine unbekannte Krankheit aufgetreten.“ (S. 44) Wichtiger als dieser Satz ist das Bild, auf dem ein rosa Monster mit schwarzen Stacheln über Eura schwebt. Bei Ovid stirbt Eurydike am Biss einer Schlange.
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jaht, womit der Rahmen geschlossen ist. Die letzten, vom Erzähler gesprochenen Sätze entsprechen wieder dem Text Buzzatis. Zum einen hat Kubin also Buzzatis Buch modernisiert, wobei diese Modernisierung durchaus dystopische Züge trägt, da die pralle, körperbetonte Popästhetik der 60er Jahre einer abstrakt anmutenden elektronischen Klangwelt weichen muss. Der Sänger Orpheus mit Gitarre und lockigen Haaren wird zu einem roboterhaften Wesen, das sich selbst als „Orphée mécanique“ vorstellt. Zum anderen hat Kubin aus der Buchvorlage höchst kunstvoll ein musikalisches Hörspiel gemacht, in dem es ihm gelungen ist, die Bildstruktur beizubehalten. Der Anteil der Dialoge ist im Hörspiel größer als im Buch, vor allem das Gespräch zwischen Orpheus und dem Jackett, also dem Höllenwächter (gesprochen von Traugott Buhre) nimmt großen Raum ein. Der Erzähler (gesprochen von Gerhard Garbers) schaltet sich mit den im Präsens verfassten Texten oft in die Geschichte ein und lässt im Kopf des Hörers Bilder von der Szenerie entstehen. Wie in allen Hörcomics werden Geräusche und kurze elektronische Klänge eingesetzt, um besondere Ereignisse zu markieren bzw. zu akzentuieren, aber nicht in jedem Fall zu veranschaulichen.22 Kubins zweite Bearbeitung des Orpheus-Mythos, Orphée Mécanique (BR 2012), begeisterte die Jury der Akademie der Darstellenden Künste derart, dass sie es erst zum Hörspiel des Monats März 2012, dann zum Hörspiel des Jahres 2012 kürte. Es ist eine Art Sample aus Teilen des ersten Hörspiels, angereichert mit neuen Elementen, vor allem mit Rap-artigen Songs. So ergibt sich die merkwürdige Tatsache, dass der 2009 verstorbene Traugott Buhre drei Jahre nach seinem Tod wieder auf der Besetzungsliste auftaucht. Teile des Dialogs zwischen Orpheus (auch in den neuen Textteilen wieder gesprochen von Lars Rudolph) und dem Jackett als Höllenwächter sind aus der ersten Fassung übernommen, wobei Orpheus dem in Hall-Akustik wiedergegebenen Dialog zuhört, an dem er selbst beteiligt ist. So entsteht ein Meta-Hörspiel, in dem die lineare Handlung des Comics und des darauf basierenden ersten Hörspiels in einer zyklischen Struktur aufgelöst ist. Das Stück beginnt mit der Frage „Erinnert ihr euch noch an den Lärm der Welt?“, worauf dieser noch einmal vorgeführt wird, wie er bereits im ersten Stück zu hören war. Orpheus muss immer wieder durch die Schleuse, findet seine Liebe und verliert sie wieder. Die scheinbar wiedergefundene Eura versucht ihm seine Illusion zu nehmen: „Ich bin nicht Eura. Du hast die Orientierung verloren, Orpheus. Du suchst verzweifelt nach Liebe. Und weil du sie in deiner Welt nicht findest, kommst du immer wieder zu uns.“ [41:55-42:15] Und der Erzähler sagt zu ihm: „Durst schafft neuen Durst und Tränen neue Tränen.“ [43:28] Das Stück stellt die Frage, ob das Leben in der Oberwelt den ewig gleichen Ablauf, unter dem die Schattengestalten in der Unterwelt leiden, vorwegnimmt. Orpheus singt ihnen das 22 So dienten auch die kurzen, scharfen E-Gitarren-Klänge in den Phil-Perfect-Hörcomics der Akzentuierung, nicht der Veranschaulichung einer Szenerie.
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Lied „Jeder Tag – ein Arbeitstag“ vor [33:46-36:20], aber sie lassen sich durch die öden Wiederholungen und Imperative nicht davon abbringen, Beifall zu klatschen und mehr zu fordern. Das „Leben im Loop“ (Diederichsen) spiegelt sich in der Form der Hörspiele wider. Am Ende stellt sich Orpheus mit dem ersten Lied des ersten Hörspiels erneut vor: „Je suis Orphée Mécanique / Ich hab Metall im Genick.“ Da die Grenzüberschreitung im Wesen des Pop liegt, überrascht es nicht, dass sich immer wieder Hörwerke finden, die sich in eine strenge Typologie nicht fügen wollen. Während Orpheus’ Psykotron noch den Versuch darstellt, Buzzatis Poema a fumetti ins akustische Medium zu übersetzen und dabei die Erzählweise des Comics aufzunehmen, gibt es zwischen Orphée Mécanique und Buzzatis Werk nur noch vermittelte Bezüge, die vor allem inhaltlich, nicht mehr erzählstrukturell zu bestimmen sind. Das zweite Stück ist mehr von der Musik dominiert als das erste und wäre daher mit guten Gründen dem Typus des musikalischen Pophörspiels zuzuordnen. Ist es überhaupt Pop im Sinne von ‚populär‘23? Massentauglich sind die beiden beschriebenen Stücke vermutlich nicht, zum einen wegen der zu philosophischer Reflexion einladenden Thematik, zum anderen wegen der teils bruitistischen Klänge und ungewohnten Tonfolgen der Musikstücke. Lässt man sich allerdings auf den Rhythmus der Rap-artigen Texte ein, kann man sich durchaus mitreißen lassen und die Klangereignisse im Sinne der nach Martin Maurach poptypischen Hierarchie-Umkehrung der Wahrnehmung rezipieren (vgl. Kap. 4). Poptypisch sind auch die Verfahren des Samplings, der Serialität und die Verwendung vorhandener Muster als Vorlagen oder Material für (Um-)Gestaltungen, Verfahren also, die auch bereits von Buzzati genutzt wurden.
23 Was nicht von vornherein gleichzusetzen ist. Roger Behrens stellt fest: „Pop meint nicht unbedingt das Populäre. Sondern den Knall oder Puff (von engl. ‚pop‘). Pop ist ein Effekt, eine Sprengung der vorhandenen Strukturen und zielt auf die technisierte und urbanisierte Umwelt.“ (Zit. n. Seiler 2006, 27).
13. Intermediale Hörspiele mit Bezügen zu Film und Fernsehen
Im weitesten Sinn ist jedes Hörspiel ein intermediales Ereignis, da in ihm Text und Ton kombiniert sind und es damit auf einer „Kopplung verschieden konfigurierter Zeichenverbundsysteme“ beruht (Wirth 2007, 262). Bei Literaturadaptionen kommt zu diesem Aspekt der Medienkombination derjenige des Medienwechsels hinzu: Ein Erzähltext oder ein dramatischer Text wird in ein Hörspiel transformiert. Beide Gesichtspunkte werden auch als primäre und sekundäre Intermedialität bezeichnet (vgl. Siebert 2002, 152). Ein dritter Aspekt, die „figurative Intermedialität“, zeigt sich dann, wenn Formprinzipien oder Darstellungsmittel eines Mediums auf ein anderes übertragen werden. „Diese Variante kann als genuine Intermedialität, als Intermedialität im weitesten Sinn beschrieben werden, weil sie den Blick auf die fremdmediale Inszenierung im aktuellen Medium schärft und damit ein Phänomen der Moderne und Postmoderne aufgreift, in der Gattungsgrenzen und mediale Rahmungen fraglich geworden sind.“ (Ebd., 153) Vor allem die Hörspiele Rolf Dieter Brinkmanns weisen nahezu idealtypisch alle drei Aspekte von Intermedialität auf. Hingewiesen sei nur auf seinen programmatischen Essay Der Film in Worten, der sich auch auf Hörspiele bezieht.1 Gedeutet wird ein solches „konzeptionelles Miteinander“ (Wirth 2007, 256) verschiedener Medien unterschiedlich, entweder als „Hybridisierung“ (McLuhan) bzw. Verschmelzung oder als Möglichkeit, aufgrund der „Differenzqualität“ (Luhmann) verschiedener Mediensysteme „die Besonderheit medialer Verkörperungsformen zu erfassen“ (ebd., 257). Beide Auffassungen stehen in einer gewissen Spannung zueinander, schließen einander aber nicht aus: „Der gemeinsame Nenner besteht darin, dass bei den intermedial gekoppelten Kunstformen die Differenz zwischen den miteinander verbundenen medialen Ausdrucksformen wahrgenommen wird.“ (Ebd.)
1
In dem posthum (1982) erschienen Buch gleichen Titels sind Erzählungen, Hörspiele, Essays, Fotos und Collagen enthalten.
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Wie bereits bei der Definition des Pophörspiels (vgl. Kap. 4) festgestellt wurde, ist „genuine Intermedialität“ (s.o.) ein konstitutives Merkmal dieser Gattung. Weist man eigens einen intermedialen Typus aus, so kann gefragt werden, ob nicht die als literarisch, musikalisch oder als Hörcomics klassifizierten Stücke dazugehören. Sie alle lassen vielfältige intermediale Bezüge erkennen, manche nicht nur formal und inhaltlich, sondern auch hinsichtlich ihrer Aufführungspraxis, wie unter anderem am Beispiel von Apocalypse live (Kap. 10.2) gezeigt wurde. Das typologisch bestimmende Merkmal der im folgenden Kapitel untersuchten Hörspiele ist „das Thematisieren eines Mediums in einem anderen Medium“, was Wirth die „Nullstufe der Intermedialität“ nennt (ebd. 262). Bei den Medien, auf die in diesen Hörspielen Bezug genommen wird, handelt es sich um Film und Fernsehen. Thematisiert werden einzelne Filme (2001: Odyssee im Weltraum), Fernsehserien (Flipper, Lassie), Genres (B-Movies, Western) oder technische Mittel des Films (Soundtrack).
13.1 F AMILIENFERNSEHEN IM H ÖRSPIEL Als die Schriftstellerin ELFRIEDE JELINEK (*1946) im Jahr 2004 den Nobelpreis für Literatur erhielt und damit weltweit bekannt wurde, war ihr umfangreiches Werk, das Romane, Dramen, Essays und Hörspiele umfasst, im deutschen Sprachraum bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Dass sie im selben Jahr für ihr Hörspiel Jackie (BR 2003), einen Hörmonolog mit Marion Breckwoldt in der Rolle der Jacqueline Kennedy, auch den Hörspielpreis der Kriegsblinden bekam, ist der breiten Öffentlichkeit weniger bekannt. Jelinek hatte 1969 mit einem sprachexperimentellen Roman debütiert und schon kurz danach begonnen Hörspiele zu schreiben. Ihr erstes Hörspiel, das 1972 von den Sendern SDR/BR unter der Regie von Otto Düben produziert wurde, heißt wenn die sonne sinkt, ist für manche auch noch büroschluß! Es parodiert eine triviale Liebesgeschichte und spielt dabei mit sprachlichen Klischees, die, wie Thomas Bräutigam es im „Hörspiel-Lexikon“ formuliert, durch Wiederholungen „transparent gemacht“ werden (Bräutigam 2005, 421).2 Zudem werden sie als Material (auch Klangmaterial) verwendet, das beliebig kombiniert werden kann und nicht mehr an konkrete Kommunikationssituationen gebunden ist. Das Stück ist, ebenso wie das nachfolgende Hörspiel Untergang eines Tauchers (SDR 1973), in vieler Hinsicht mit den um 1970 entstandenen Neuen Hörspielen zu vergleichen. Was die Klanggestalt angeht, erinnert Untergang eines Tauchers an manchen Stellen an Jandl/Mayröckers Kurzhörspiel Fünf Mann Menschen, das Individualität
2
Bräutigam gibt den Titel in regulärer Groß- und Kleinschreibung an, ebenso die Hörspieldatenbanken.
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auf doppelte Weise typisiert: durch einen stereotypen Lebenslauf und durch die Verfünffachung von Situationen. Letztere bedingt Wiederholungen von Sprachfloskeln und chorisches Sprechen. Einen Chor, in diesem Fall zweistimmiges simultanes Sprechen, hört man auch in Untergang eines Tauchers. In seiner Funktion ist er dem Chor im antiken Drama ähnlich, der „den Einzelhelden der dramatischen Handlung betrachtend, deutend und wertend (‚idealisierter Zuschauer‘)“ gegenübersteh[t] oder auch in den Vorgang selbst eingreif[t]“ (v. Wilpert 1969, 132). Die Einzelhelden sind in diesem Fall der Taucher, der sich zu Beginn des Hörspiels vorstellt, und die Figuren aus bekannten Fernsehserien der 1960er Jahre, nämlich Flipper, Lassie und Daktari. Ein Schlüsselsatz des Chors lautet: „Im Fernsehen sehe ich so gern Leute, die einander gut verstehen.“ [36:05] Ein weiterer Satz bezieht die Fernsehunterhaltung auf das Alltagsleben der Zuschauer, was allerdings nur in Form einer Negation möglich ist: „Mit unserem Leben hat das andere Leben nichts zu tun. Aber es ist schön.“ [39:25] Der Taucher ist ein stark kriegsversehrter Mann mit sanfter Stimme (gesprochen von Gerd Baltus), der Einlass ins „Reich der lachenden Kinderaugen“ [05:50] begehrt, aber überall auf Ablehnung, Drohungen und Gewalt stößt. Als er unter Wasser in eine lebensgefährliche Situation gerät, bekennt er, dass er am liebsten klassische Musik von Mozart und Beethoven hört. Prompt wird diese eingespielt. Die harmonisierende Welt der Familienserien wird vor allem durch die Filmmusik repräsentiert, die immer wieder das Sprechen begleitet und im kundigen Publikum die entsprechenden Vorstellungen wachruft. Dazu kommt Musik aus den Filmen Once upon a Time in the West (1968) und Love Story (1970), die als Soundtracks die Welt des Kinos mit der des Fernsehens verbindet, inhaltlich aber wenig mit den genannten Serien zu tun hat, außer dass es einschmeichelnde Melodien3 sind, die das Harmoniebedürfnis der Menschen befriedigen. Generell werden die positiven Eigenschaften der tierischen und menschlichen Heldenfiguren der Serien ins Negative verkehrt. Lassie und Flipper werden zu zähnefletschenden Monstern, die Kindern und Erwachsenen am liebsten Gliedmaßen abbeißen, die Kinder werfen Geschenke gleich ins Meer und wollen den Taucher sofort vertreiben, der verheiratete Porter Ricks (aus Flipper) schickt sich an, Miss Norstrand zu vergewaltigen, und die in kindgerechtem Tonfall vorgetragenen pädagogischen Bemühungen der Erwachsenen werden mit Ankündigungen brutaler Handlungen unterstützt (bzw. konterkariert). Die üppig verwendeten Geräusche, vor allem Meeresrauschen, klingen naturalistisch und erwecken zusammen mit den Stimmen und der Musik den Eindruck, als handle es sich um O-Ton vom Soundtrack der Fernsehfilme.
3
Dies trifft selbstverständlich nicht auf alle Teile der Filmmusik zu Once upon a Time in the West (dt. Spiel mir das Lied vom Tod) zu, etwa auf das bedrohliche MundharmonikaThema. Für das Hörspiel wurden die sanften, gefälligen Melodien ausgewählt.
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Wie in ihrem ersten Hörspiel arbeitet Jelinek auch hier wieder mit Wiederholungen von Sprachfloskeln und Handlungen und dem Auftreten gleichartiger, typisierter Figuren. Mehrmals stellt sich der Taucher mit den Worten „Ich bin ein Taucher“ vor. In der zweiten Hälfte des Hörspiels treten nacheinander drei blinde, gelähmte Mädchen auf, die vergeblich auf Mitleid hoffen. Die Dritte überschreitet die Handlungsebene mit ihrer Beschwerde: „Bud und Sandy (aus Flipper, Anm. G.R.) lassen mich nicht ins Bild, sie stoßen mich immer weg. Daher komme ich hier überhaupt nicht vor.“ [23:35] Als Porter Ricks Miss Norstrand verstümmeln will, was in dem Hörspiel keine seltene Handlung ist, schreit sie „Nein, nicht!“ und sagt dann: „Mit meiner hohen, weiblichen Stimme, die keinem Menschen, sondern einem Tier in Todesnot zu gehören scheint, schreie ich: Nein, nicht!“ [19:05] So wird ein Sprechakt nicht nur wiederholt, sondern auf der Meta-Ebene kommentiert. Auf andere Weise wird der Handlungsraum der Hörspielfiguren überschritten, wenn fingierte Interview-Äußerungen von Fernsehzuschauern über ihren Serienkonsum und damit verbundene Träume und Hoffnungen eingeblendet werden. Auch das Medium selbst artikuliert sich an einigen Stellen mit den Sätzen: „Meine Damen und Herren. Wir bitten den Bild- und Tonausfall im Bereich des Senders Mühlacker zu entschuldigen.“ [16:20] Danach wird der Dialog der Figuren mit Tonstörungen fortgesetzt. Die Absage lautet schließlich: „Wir hoffen, Sie hatten einen guten Empfang.“ Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Illusionsdurchbrechung anstelle einer Einfühlungsästhetik die Gestalt des Hörspiels bestimmt, ein Verfahren, das aus dem epischen Theater bekannt ist. Die Frage, ob es sich bei Untergang eines Tauchers um ein medienkritisches Stück handelt, ist nicht eindeutig zu beantworten. Eine Fundamentalkritik des Mediums Fernsehen, etwa im Sinne von Günther Anders oder Neil Postman, findet jedenfalls nicht statt. Allenfalls kann von der Kritik eines bestimmten Medienformats, eben der familientauglichen Serie, die Rede sein. Mit der Vermeidung einer handlungsbestimmten Dramaturgie, der Verfremdung bekannter Figuren und Redeweisen, der Verwendung von Sprache und Musik als frei kombinierbares Material bewegt sich Jelinek im Bereich der Neuen Hörspiele jener Zeit. Sie leistet aber auch einen Beitrag zum Archiv der Populärkultur, da sich ihr Hörspiel nur demjenigen Rezipienten ganz erschließt, der die Serien und Filmmusiken kennt, mit denen hier experimentiert wird. Sicherlich wird man Elfriede Jelinek ebenso wenig als Pop-Autorin einstufen wie MAURICIO KAGEL (1931-2008) als Komponisten von Popmusik. Vielmehr gilt Kagel als Meister der neuen Musik, die nur einem Minderheitenpublikum zugänglich ist. Auch seine Hörspiele, von denen die ersten drei mit dem Titel (Hörspiel) Ein Aufnahmezustand (WDR 1969/1970) besonders beachtet wurden, sind nicht auf ei-
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nen Massengeschmack zugeschnitten.4 Kagel beschäftigte sich aber mit den Phänomenen der Populärkultur auf seine eigene Weise, wie sein Stück Soundtrack (WDR 1975) exemplarisch zeigt. Wie Jelinek bezieht sich Kagel auf die Situation des gemeinsamen Fernsehens im privaten Wohnzimmer. Diesmal geht es nicht um Tierserien, sondern um einen Western, den sich eine Familie, bestehend aus Eltern, Tochter und Großmutter ansieht. Der Sohn sitzt nicht vor dem Fernsehgerät, sondern übt die ganze Zeit gut hörbar Klavier. Mit seinen auf die Dauer befremdenden und enervierenden Tonfiguren im Stil der Minimal Music liefert er eine Art Kontrapunkt zum möglichen Soundtrack eines Films, dem hier die Filmmusik fehlt. Neben dieser Klangebene etabliert Kagel drei weitere: (1) das Gespräch der Familie und die zugehörigen Geräusche (einmal klingelt es an der Tür, aber niemand reagiert darauf). (2) Die Stimmen im Western und (3) die üblichen Geräusche dieses Filmgenres (Wiehern, Schnauben, Schüsse, Pferdegetrappel). Anders als Jelinek verwendet Kagel keinen Originalton, sondern erzeugt das Typische eines Soundtracks komplett künstlich. Die Männerrollen im Western sind mit drei der bekanntesten deutschen Synchronsprecher besetzt. Neben dem in Film und Funk beinahe allgegenwärtigen Christian Brückner agieren Gert Günther Hoffmann und Gerd Duwner. Selbst wer ihre Namen noch nie gehört hat, kommt um ein Wiedererkennen kaum herum, da alle drei über lange Zeit erstrangigen Weltstars ihre Stimme geliehen haben. Dasselbe gilt für die einzige Frauenrolle, die mit Margot Leonard, der deutschen Stimme von z.B. Brigitte Bardot und Marylin Monroe, besetzt ist. Von einem Gespräch der Familie kann kaum die Rede sein, vielmehr handelt es sich um ein Aneinander-vorbei-Reden, das sich teils auf den Filminhalt, teils auf die Bildqualität, teils auf das zu laute Klavierspiel, aber auch auf ganz andere Sachverhalte bezieht. Die Tochter beschäftigt sich mit ihrer Katze, und irgendwann wird festgestellt, dass die Oma eingeschlafen sei. Wer will, kann in dieser Beliebigkeit der Dialoge die Kritik von Günther Anders am Medium Fernsehen wiederfinden. Der Fernsehapparat sei der „negative Familientisch. Nicht den gemeinsamen Mittelpunkt liefert er, vielmehr ersetzt er diesen durch den gemeinsamen Fluchtpunkt der Familie“. Der Bildschirm richte die Familie „zentrifugal aus“ (Anders 1956, 106). Kagels eigener Kommentar zu seinem Stück verweist auf einen anderen Aspekt. Ihn interessiert das charakteristische „Vokabular“ von Soundtracks, das diese auch ohne Bild als solche erkennbar macht. „Wahrscheinlich zählen Soundtracks zu den ersten konkreten Musikkompositionen – ähnlich wie Theaterdekoration [sic] im ureigensten Sinn immer Pop-Art gewesen sind.“ (Kagel, zit. n. HörDat). Hinsichtlich des Schrecklichen in einem Film kommt Kagel zu einem unerwarteten Ergebnis seiner Versuche, sich Soundtracks ohne Bilder anzuhören. Das Bild mildere die 4
Faszinierend sind Kagels graphische Partituren zur Ersten Dosis (1969) in Klaus Schönings Band „Neues Hörspiel“ (1969), S. 401-429.
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Schrecklichkeit, das heißt, sie werde verschärft wahrgenommen, wenn man nur hört, was sich an Schrecklichem im Film abspielt. Nicht klar ist, wie Kagel die Wirkung von Filmmusik dabei einschätzt bzw. weshalb er diese in seinem Hörspiel durch das penetrante Klavierspiel des Sohnes ersetzt und sich bei der Erzeugung des Soundtracks auf Stimmen und Geräusche beschränkt. Wenn Kagel grundsätzlich auf O-Ton verzichten wollte, wäre immerhin eine eigene Komposition vorstellbar, die den musikalischen Gestus eines Western-Soundtracks aufnimmt. Davon kann aber keine Rede sein. Eine Deutungsmöglichkeit hierfür zielt wieder auf die kontrapunktische Funktion des Klavierspiels. Hatte Günther Anders behauptet, Geräte wie Radio und Fernsehen hätten uns das Sprechen abgenommen, so wie Grammophon und Radio (und wohl auch das Fernsehen) uns der Hausmusik beraubt hätten (ebd., 107), so baut Kagel in sein Hörspiel eine Figur ein, die sich dieser Entwicklung penetrant widersetzt. Der stumme Sohn hält verbissen an der Hausmusik fest und macht sich dadurch zum Außenseiter der Familie. Die beiden hier besprochenen Hörspiele sind Ausdruck der „akustischen Neuorientierungen (1968-1985)“, deren Vorbilder Hans-Jürgen Krug, ähnlich wie Herbert Kapfer (vgl. Kap. 4), in „der experimentellen Kunst der zwanziger Jahre (Ruttmann), der nicht radiophonen Lautmalerei Kurt Schwitters, der konkreten Poesie (Pierre Schaeffer), dem ‚Nouveau Roman‘, den Radiotheoretikern und -praktikern Brecht und Walter Benjamin sowie der neuen Pop-Kunst“ sieht (Krug 2001, 1495). Diese Aufzählung ist insofern interessant, als die ursprünglich anti-elitäre PopKunst auf den ersten Blick mit den hier aufgezählten Formen der künstlerischen Moderne kaum vereinbar ist. Aber dies gilt eben nur auf den ersten Blick. Zur Differenzierung kann wieder Thomas Heckens Arbeit über Avant-Pop herangezogen werden (vgl. Kap. 2). Hecken macht eindrucksvoll deutlich, welche Ausweitung der Begriff der Popkultur schon seit den 1960er Jahren erfahren hat.5 „Für den Avant-Pop-Bereich ist charakteristisch, innerhalb des Pop-Bereichs spezifische Kunstanstrengungen herauszustellen, die mit geringerem massenhaften Erfolg rechnen dürfen und u.a. darum als höherwertig gelten, ohne die Anforderungen der alten Bildungskultur erfüllen zu müssen.“ (Hecken 2012, 10). Hecken unterscheidet zwei Richtungen innerhalb des Avant-Pop, zum einen die „von Modeleuten, MarketingExperten, zeitgenössischen Pop-Artisten, Lifestyle-Journalisten“ gebildete, für die wichtig sei, dass sie „ein technisch wie stilistisch hochmodern und zeitgemäß erscheinendes Gegengewicht zum Biederen und Üblichen darstellt“ (ebd., 23). Die zweite setze „auf politische und/oder subkulturelle Tragfähigkeit, sie schätzt in ihrer kreativen Arbeit und bei der Rezeption von Artefakten eine größere Konzentration und Ausdauer [...]“ (ebd., 25). In der u.a. auf Leslie Fiedler zurückgehenden Ablehnung der „ältere[n], bildungsbürgerliche[n] Grenzziehung zwischen hoher und populärer, trivialer Kultur“ sind sich beide Richtungen, der „eklektizistisch5
Vgl. auch obige Ausführungen in Kap. 2 sowie zu Ferdinand Kriwet (Kap. 8.3).
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spektakuläre[ ]“ und der subversiv-experimentelle[ ]“ Zweig, einig (ebd.). Vergegenwärtigt man sich z.B. Charakteristika des Hörspiels Untergang eines Tauchers von Elfriede Jelinek, so erkennt man, dass es auch zwischen den erwähnten Richtungen des Avant-Pop Übergänge und Grenzbereiche geben kann, ist doch dieses Stück zugleich eklektizistisch-spektakulär und subversiv-experimentell. Es spielt mit Versatzstücken populärer Fernsehkultur und lässt zugleich einen gesellschaftskritischen Anspruch erkennen. Ob die Künstler selbst solche Unterscheidungen im Blick haben, ist eher zu bezweifeln; von heuristischem Wert sind sie aber allemal.
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ZUM
F ILM
Der Titel Walk of Fame (WDR 2007) weckt Erwartungen, die der Autor, Regisseur und Komponist ULRICH BASSENGE (*1956) mit seinem gleichnamigen Hörspiel, je nach Sicht, gezielt konterkariert oder auf unkonventionelle Art erfüllt. Es geht nicht um die berühmten Stars, denen ein Stern auf dem legendären Hollywood Boulevard gewidmet ist. Vielschichtig inszeniert wird vielmehr das Vergnügen an B- oder Splatter-Movies, versetzt mit reichlich Sex: als Film (der Film selbst) im Film (Herstellung des Films und die Folgen) im Hörspiel (Stimmen zum Film), kommentiert von zwei Spezialisten für das Genre, die in launigem Zwiegespräch die Qualitäten der Produktion herausarbeiten und sich dabei an eigene Seherlebnisse in den Autokinos der 1970er Jahre erinnern. Es sind die beiden Hörspielmacher und Filmkenner Jörg Buttgereit und Thilo Gosejohann, die den „Original-Audiokommentar“ zu „Blitz-Productions“ Walk of Fame beisteuern. Filminhalt und -atmosphäre des Trashfilms werden durch einen Off-Sprecher, den abwechslungsreichen Soundtrack sowie den Dialog von Assistent und Regisseur beim Schreiben des von Tag zu Tag entstehenden Drehbuchs hörbar gemacht. Dazwischen wenden sich Schauspielerinnen, Regisseur und Produzent in fiktiver Rede direkt an das Publikum, also an die Hörer des Hörspiels, und erklären ihre Lebensphilosophie. Im Showdown sieht Komparsin Pussy Stanton (eindrucksvoll gesprochen von der Schauspielerin Tanja Schleiff), die selbstverständlich, wie alle in Hollywood, einen Stern auf dem Walk of Fame anstrebt, ihren Film (Titel: Racheengel auf der Blutinsel) als third feature in einem Autokino und muss sich der Annäherungsversuche des Filmvorführers erwehren, der sie in der Vergewaltigungsszene des Films wiedererkannt hat. Everybody’s a dreamer, and everybody’s a star, der Song Celluloid Heroes der Kinks, der am Anfang des Hörspiels gespielt wird, allerdings gesungen von der Sängerin Rita Gillich, kann als Motto der durchaus tragischen Kerngeschichte gelten, die ihre Komik dadurch erhält, dass sie in der Mischung aus Dokumentation, Slapstick und akustischem Comic fast bis zur Unkennt-
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lichkeit verpackt ist. Den Höhepunkt der Mixtur bekommt man etwa in der Mitte des Hörspiels geboten, als Schauspielkollegin Mary davon erzählt, wie sie sich früher in Warhols Factory betätigte, bevor sie sich nach ihrem Drogenentzug den BMovies zuwandte: „Truman Capote, die Beatles, Mick Jagger schauten rein, […] eines Tages saß Bobby Dylan auf der Couch“, [23:30] vom schweigsamen J.J. Cale spricht sie, und während sie vom Regisseur aufgefordert wird, ihr Filmopfer auch mal mit dem Peitschenstiel auf die Genitalien zu schlagen, läuft erst leise im Hintergrund, dann immer lauter der Velvet-Underground-Song Venus in Furs. So mischt Bassenge ein Genre aus den Niederungen des Kommerz-Pop mit dem, was früher Underground war und inzwischen als klassischer Avant-Pop anerkannt ist, und er macht es so perfekt, dass der Gedanke an ein kulturelles Gefälle beim Hören nicht aufkommt. Zur B-Movie-Nostalgie steuert THILO GOSEJOHANN mit seinem Hörspiel Auricula – Ohrwurm des Schreckens (WDR 2014) ein eigenes Beispiel bei. Bei diesem Stück handelt es sich um eine Art Hörfilm mit Erläuterungen, der den Hörer mit dem Genre des Tierhorrorfilms bekannt macht. Es gibt zwar einen Sprecher (Jürgen Thormann), aber der erzählt nicht, was in dem Film geschieht, sondern er ordnet den Geschehensablauf dem zugrunde liegenden Genre-Muster zu. Insgesamt tut er dies achtmal, bis er am Ende in das Filmgeschehen hineingezogen und von einer riesigen Kellerassel gefressen wird. Als Pionier des Genres nennt er den „B-MoviePapst“ Roger Corman, der u.a. den Film It Conquered the World (1956) drehte, den wiederum Frank Zappa in einem Song parodierte (s.o. Kap. 2). Die „innere Bühne“ des den Film imaginierenden Publikums erhält ihre Bilder vor allem aus der Mauerschau der Figuren, die sich gegenseitig ihre Wahrnehmungen vom Verhalten des Monsters mitteilen, und durch die Berichterstattung eines WDR-Reporterteams über die Ereignisse. Thormann, der sich am Schluss mit seinem authentischen Namen vorstellt, gibt Informationen zur typischen Dramaturgie dieser Art von Horrorfilmen, deren Gestaltung nicht unwesentlich durch das schmale Budget bestimmt ist (worauf auch Zappa hinwies). Da es sich bei den Tierhorrorfilmen meist um Hollywood-Produktionen handelt, ist ihr Schauplatz in der Regel Kalifornien. Umso ungewöhnlicher ist es, dass Auricula in Bielefeld spielt, wo gerade der Leinewebermarkt vorbereitet wird. In Bielefeld ist auch der Sitz eines großen Lebensmittelkonzerns, der im Hörspiel Mr. Roetger heißt. Die Firma will eine neue Kreation namens „Vanille furioso“ auf den Markt bringen, allerdings nicht mit echter Bourbon-Vanille, sondern mit einer viel billigeren Import-Chemikalie, die wie Vanille schmeckt. Die Mutation des Ohrwurms zu einem Riesen-Monster ist durch diese Chemikalie verursacht. Das Monster bringt zwar die Planung für das Fest durcheinander, aber die Veranstalter sagen es nicht ab, weil sie sich vor allem vom „Wet-T-Shirt-Contest“ mit attraktiven Mädchen eine große Werbewirkung versprechen. Thormanns Kommentar weist auf
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den „indirekten Sexismus“ der Horrorfilme hin [31:50] und spricht von „exploitativer Fleischbeschau“, die im sonnigen Kalifornien leichter zu motivieren sei als im kühlen Bielefeld. Als Referenz an die US-amerikanischen Vorbilder rutscht einem Darsteller einmal der Satz „Dann noch einen schönen Tag, Officer“ heraus [23:10]. Neben dem Text tragen vor allem die exzessiv eingesetzte (Film-)Musik, die Geräusche und entsetzten Schreie zur Vorstellungsbildung des Hörers bei. Besonders der Showdown, der wie üblich mit der Vernichtung des Monsters endet, ist akustisch üppig inszeniert und endet, kaum überraschend, in einer gewaltigen Explosion. Ebenso wie Walk of Fame ist auch Auricula zwar als Parodie, aber nicht als negative Abrechnung mit dem Genre gemeint, sondern es schwingt in beiden Fällen etwas von einer Hommage mit. Zudem sind beide Hörspiele nicht nur unterhaltend, sondern im Hinblick auf die Machart und die Produktionsbedingungen von BMovies durchaus informativ. Was die Qualität und den Ruf des Films angeht, auf den er Bezug nimmt, spielt DAVID ZANE MAIROWITZ mit seinem Hörspiel Der Knochen (RBB 2010) sozusagen in einer anderen Liga als Bassenge und Gosejohann. In diesem Stück elaborierter Hörspielkunst geht es um den Knochen aus Stanley Kubricks filmgeschichtlich höchst bedeutendem Werk 2001: Odyssee im Weltraum aus dem Jahr 1968. Obgleich technisch nicht sauber ausgeführt, gilt der Schnitt, in dem aus einem von Menschenaffen als Waffe genutzten Knochen ein Raumschiff wird, als berühmtester Match Cut der Filmgeschichte. Im Hörspiel wird für Fiston (Söhnchen) die Suche nach diesem Knochen, von dem er glaubt, sein Vater besitze ihn oder habe ihn besessen, zu einer Reise zu seinen Ursprüngen. Angeleitet durch einen Freund seines Vaters mit dem Spitznamen Deadline taucht er in das London der wilden Sechziger Jahre ein, wobei ihm die Stimme des Vaters, Le Vieux genannt, ständig dazwischenfunkt. Fiston (gesprochen von Matthias Matschke) hat sich mit seinem Vater, der seinerzeit mit ihm, dem kleinen Sprössling, nach Südfrankreich ausgewandert ist, überworfen. Je länger die Suche dauert, desto deutlicher wird, dass sie zugleich eine Flucht aus einer allzu engen Vater-Sohn-Symbiose ist. Der scheinbar spießige Vater entpuppt sich als Aktivist des Londoner Underground- und Drogenmilieus, der den Kubrick-Knochen angeblich nutzte, um Frauen zu beeindrucken. Fiston erfährt das im Gespräch mit einer früheren Geliebten des Vaters, die heute „Gruselgräfin“ (herrlich überdreht: Leslie Malton) genannt wird, durch eine geschlossene Tür. Er kann kaum glauben, dass Le Vieux Herausgeber eines Untergrund-Magazins war und Eintrittskarten im legendären UFO-Club verkaufte, in den sich freitags ein scheinbar harmloser irischer Pub verwandelte. Bands wie Pink Floyd, Procul Harum und The Smoke traten dort auf – und sind im Hörspiel zu hören.
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Mairowitz, der programmatisch dafür eintritt, im visuellen Zeitalter dem Hörsinn wieder zu seinem Recht zu verhelfen,6 nutzt die Geschichte, um verschiedene akustische Milieus vorzuführen: das heutige London mit O-Tönen von der U-Bahn, von Straßengeräuschen und vom Portobello Market, das damalige „Swinging London“ mit viel verrauschter Underground-Musik, die Küsten des nordenglischen Hartlepool und von Cornwall, wohin Fiston reist. In Hartlepool, so eine BBCNachrichtensprecherin im O-Ton, sei ein Affenknochen gefunden worden, der von dem berühmten gehängten Affen aus napoleonischer Zeit stammen soll, der damals für einen französischen Spion gehalten wurde. Fiston glaubt, es könne sich um den Kubrickschen Knochen handeln, aber später meldet die BBC, es sei nur ein Hirschknochen. Die Geräusche von Wind und Wellen begleiten das Gespräch mit der verrückten Belvedera (gesprochen von Angela Winkler), Fistons Mutter, in einer Höhle. Die einst sehr schöne „Psilocybin-Königin“ ist alt geworden und will von dem Sohn immer noch nichts wissen. Als er sie als Mutter anspricht, unterbricht sie ihn und monologisiert in raumloser Akustik weiter. Vor ihr und ihren Drogenexzessen ist der Vater seinerzeit mit dem kleinen Sohn nach Frankreich geflohen und ist bürgerlich geworden. Die Pointe des Hörspiels besteht darin, dass Fiston am Ende nach New York fliegt und den wirklichen Affendarsteller aus Kubricks Film, Daniel Richter, zu dem Knochen befragt. Der stellt klar, dass es viele Knochen gab und er nicht wisse, welcher in der tatsächlichen Einstellung des Films zu sehen sei. In der Realität ist der Knochen also eine Fiktion, während er in der medial gespeicherten Fiktion ein bestimmbares Objekt zu sein scheint. Mairowitz verbindet die fiktive Geschichte seines Protagonisten Fiston mit dokumentarischem Material (UFO-Club, Hartlepool), zu dem auch das Interview mit Daniel Richter gezählt werden kann, und erschafft dadurch ein Hörbild des Zeithintergrunds von Kubricks filmischem Meisterwerk. Der Film erscheint als Zeugnis der Subkultur der sechziger Jahre. Es ist daran zu erinnern, dass kurz nach dessen Entstehung Leslie Fiedler Science-fiction, neben Western und Pornographie, als eine der aufzuwertenden Künste der Popkultur bezeichnete und den Film A Space Odyssey, mit englischem Autor und amerikanischem Regisseur, als gelungenes Beispiel einer englisch-amerikanischen Kunstkooperation ansah (vgl. Fiedler, 1994, 28). Mairowitz stellt in seinem Hörspiel ebenfalls eine Verbindung zwischen London und New York her, wo sein Protagonist als Synchronisator französischer Zeichentrickfilme verbleibt, was ihm sogar einen Oscar einträgt. Diese Information bekommt man in dem von Ueli Jäggi, der Stimme von Le Vieux, gesprochenen Abspann. An der Stelle, an der ein Hörspiel eigentlich zu Ende ist und in neutraler Form die Rollenbesetzung, der Regisseur und die Sendeanstalt genannt werden, wird hier die Symbiose zwischen den Medienkünsten Film und Hörspiel vollzogen. „Das 6
http://www.srf.ch/kultur/literatur/ein-leuchtturm-im-hoerspielmeer-david-zane-mairowitz
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war’s. Auf der Multiplex-Kinoleinwand steht ‚The End‘. Dann kommt der Abspann, den man halbwegs wahrnimmt, während man sich mit der Masse aus dem Kinosaal bewegt.“ Hierauf stellen alle Sprecher und Sprecherinnen sich selbst vor, und man erfährt in einem hoch ironischen Text, was aus ihren Figuren geworden ist. Dazu erklingt, wie am Ende eines jeden Films, eine passende Musik, in diesem Fall ein psychedelischer Song des genialen, später schwermütigen Pink FloydMusikers Syd Barrett, in dem es zweimal heißt: „Yes, I can tell that you can’t be what you pretend.“ Der Satz kann als Kommentar zu der im Hörspiel erzählten Vater-Sohn-Geschichte aufgefasst werden, auf die wiederum der nicht zu identifizierende Knochen symbolisch verweist.
13.3 E IN E DELWESTERN –
NEU ERZÄHLT
Ein weiterer Filmklassiker aus dem Jahr 1968, Sergio Leones Italowestern Spiel mir das Lied vom Tod, wird in dem Hörspiel Rafael Sanchez erzählt „Spiel mir das Lied vom Tod“ (WDR/ORF/MDR 1998) zur Basis einer vielschichtigen Geschichte zwischen Realität und Fiktion. Die beiden Autoren (Eberhard) PETSCHINKA und der spanisch-schweizerische Schauspieler und damalige Regieassistent RAFAEL SANCHEZ (*1975), der selbst die Hauptrolle spricht, wurden dafür 1999 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. Hans-Ulrich Wagner bezeichnet das Ergebnis dieser Zusammenarbeit als „Hörspielkino“ (Wagner 2001, 181). Den zentralen Kunstgriff des Hörspiels charakterisiert die Jury des Hörspielpreises so: „Der durch Original-Zitate und durch subjektive Schilderungen vergegenwärtigte Film wird zur biographischen Heimat des heranwachsenden Rafael, der an den Mustern des Films seine Phantasien ausbildet und seine eigenen Erfahrungen mit denen der bewunderten Leinwandhelden verschränkt.“ (Zit. nach ebd., 183) Rafaels Großvater ist Vorsitzender des Filmclubs in einem spanischen Dorf. Zweimal im Monat zeigt er den seiner Meinung besten Film des Jahrhunderts in seinem Kino und nimmt jedes Mal den kleinen Enkel mit, der viele Dialoge schon auswendig kennt und mit den Bildern des Films lebt. Seit seinem fünften Lebensjahr hat er den Western ungefähr zweihundertmal gesehen, obwohl die Großmutter anfangs strikt dagegen war. Dem Argument, dieser Film sei nichts für ein Kind, entgegnet der Großvater, schließlich sei es doch „nur Kino“. In einer frühen Szene des Hörspiels wird diese Bagatellisierung des Medialen gegenüber der Realität in Frage gestellt: Der Großvater will vorführen, was „nur Kino“ bedeutet, indem er mit einer Pistole auf die Großmutter zielt und abdrückt. Aber der Enkel hat die Pistole tags zuvor geladen, und es peitscht ein Schuss durch die Küche. Erst später erfährt der Hörer, dass die Großmutter den Vorfall überlebt hat. Die im Folgenden von Rafael in Ich-Form erzählten siebzehn Jahre seines Le-
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bens sind bestimmt durch Schlüsselszenen aus dem Film, die sich ihm eingeprägt haben. Die entsprechenden Teile der Tonspur des Films in der englischen Originalfassung werden samt Filmmusik und Geräuschen an verschiedenen Stellen in das Hörspiel eingeblendet, wobei manche Dialoge auf der Handlungsebene auf Spanisch gesprochen und teilweise vom Erzähler ins Deutsche übersetzt werden. Der im Film erzählte Mythos, der scheinbar ganz auf die US-amerikanische Geschichte bzw. auf den „amerikanischen Traum“ bezogen ist,7 erhält so einen übernationalen Charakter. Die „melancholische Grundstimmung“ des Films (Rauscher 2003, 298) wird auf das Hörspiel übertragen. Die Handlungsmuster ‚Rache‘ und ‚Liebe‘ werden von Rafael aus dem Film auf sein Leben übertragen und verlaufen unglücklich. Seine Jugendliebe Pepita heiratet einen anderen und seine Rolle als Rächer von Pepitas Onkel As, den der skrupellose Paco beim Spiel erschossen hat, bringt ihn ins Gefängnis. Allerdings weiß man erstens nicht mit Sicherheit, was Rafael erfunden hat und was wirklich passiert ist; zum Zweiten rückt die Rollenübernahme aus dem Film das Geschehen in eine ironische Distanz, vergleichbar mit Woody Allens Humphrey-Bogart-Parodie in Play it Again, Sam (1972). Besonders die Szene, in der der Bösewicht Frank (Henry Fonda) Jill (Claudia Cardinale) vergewaltigt oder sie ihn verführt, hat es Rafael angetan. Erst stellt er sich vor, wie seine Pepita mit Paco im Bett liegt, dann mit ihrem tumben Ehemann, wo sie mehrmals die hier nicht zu übersetzenden Worte „folla me“ wiederholt. Als nach dem Tod des Großvaters noch einmal dessen Lieblingsfilm gezeigt wird, verlassen Rafael und Pepita vorzeitig das Kino, was letztlich ein Duell mit ihrem Mann, nach dem Muster des Duells zwischen Fonda und Charles Bronson am Ende des Films, zur Folge hat. Mit dieser Duellszene wird das Hörspiel eröffnet und beschlossen, und es trifft darauf das Gleiche zu, was Stephen King über Leones Western gesagt hat: „In diesem Film sind Schüsse so laut wie Atomexplosionen […].“ (Zit. nach Rauscher, 2003, 300) Ob Rafael das Duell überlebt bleibt unklar. Er hat jedenfalls noch die Gelegenheit, seinem Rivalen die Worte entgegen schleudern, die Pepita beim Liebesakt ausgerufen hat: „Qué toro!“, was jedenfalls als Sieg zu werten ist. Die beiden intermedial auf Filmklassiker bezogenen Hörspiele Der Knochen und Rafael Sanchez erzählt „Spiel mir das Lied vom Tod“ stellen Höhepunkte in 7
Es ist allerdings bemerkenswert, dass der Film einen englischen (Once Upon a Time in the West) und einen italienischen Titel hat (C’era una volta il West) hat, die sich wörtlich entsprechen und vom deutschen Titel signifikant abweichen, indem sie einen Märchenanfang zitieren („Es war einmal“) und damit die Geschichte verallgemeinern. Der deutsche Titel ist eine Erfindung, da der Satz „Spiel mir das Lied vom Tod!“ in der Originalfassung des Films nicht gesagt wird. Im Spanischen gibt es sogar zwei Titel: Hasta que llegó su hora (etwa: Bis seine Stunde kam) in Spanien und eine wörtliche Übersetzung des Originaltitels in Lateinamerika.
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der Entwicklungsgeschichte des noch jungen Pophörspiels dar. Wie die Darstellung gezeigt hat, handelt es sich um wesentlich mehr als um Produkte eines Medienwechsels wie bei Literaturadaptionen. Das Hörvergnügen entsteht zum einen durch das Wiedererkennen inhaltlicher Elemente und akustischer Gestaltungsmittel aus den Filmen, die oft in Gestalt von O-Tönen auftauchen, zum anderen durch die Wahrnehmung, dass im kreativen Spiel mit den Vorbildern etwas Neues entstanden ist, das vor allem zur Medienreflexion anregt. Wir werden damit konfrontiert, wie weit unsere Wahrnehmungen und Selbstbilder bereits durch mediale Vorbilder geprägt sind. Das kann melancholisch machen, ist aber zu ertragen, da uns die Lehre mit Witz und Humor vermittelt wird.
14. Medienkritische Hörspiele
Zahlreiche Hörspiele sind intentional auf Medienkritik ausgerichtet und machen bevorzugt das Radio zum Thema. Es kommt also zur, meist satirischen, Selbstkritik des Mediums im Medium. Vor allem kommerzielle Aspekte neuerer Medienentwicklung, also zum Beispiel die Privatsender mit ihren Bemühungen um Hörerbindung, können zu Angriffspunkten von Satire werden. Allerdings hatte Heinrich Böll schon in den 1950er Jahren mit seiner Erzählung Doktor Murkes gesammeltes Schweigen (mehrfach als Hörspiel inszeniert, herausragend: SWF/SR 1986) ein Stück Radiosatire geschrieben, das sich auf typische Erscheinungen im Betrieb der öffentlichen-rechtlichen Sendeanstalten bezog. Auch Ludwig Harigs OTon-Hörspiel Staatsbegräbnis ist ein klassisches Stück Sprach- und Medienkritik, mit dem der Autor exemplarisch vorführt, was eine Collage zu leisten imstande ist. Angesichts des ernsten Themas riefen die satirischen Züge dieses Hörspiels moralisch begründeten Widerspruch hervor, bei dem allerdings der mediale Rahmen, in den die Inszenierung gestellt ist, nicht beachtet wurde. Es ist aber keineswegs unwichtig, dass es sich bei dem verwendeten Sprachmaterial um öffentliche bzw. veröffentlichte Sprache handelt (vgl. Kap. 3.2). Bekanntlich liegt es im Wesen der Satire, dass einem das Lachen dabei oft im Halse stecken bleibt. Dies trifft in besonderem Maß auf die schrillen und bissigen Stücke von Christoph Schlingensief zu, mit denen die Übersicht über medienkritische Hörspiele eröffnet wird.
14.1 S CHLINGENSIEFS V EXIERBILDER Christoph Schlingensiefs (1960-2010) Hörspiele sind Reflexe seiner Theaterarbeit, deren Ausgangspunkt und Zentrum die Berliner Volksbühne war. Dem ca. 48 Minuten dauernden Hörspiel Rocky Dutschke ’68 (WDR 1997), ausgezeichnet als Hörspiel des Monats Januar 1997 und mit dem Prix Futura, ging eine fast dreistündige Aufführung an der Volksbühne mit Happening-Charakter voraus, die vor dem Haus begann und dann, ohne Gestühl, im Theater weiterging. Beteiligt waren der
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Autor und Regisseur, professionelle und Laienschauspieler. Claudius Seidl schrieb darüber im SPIEGEL: „So ist er selber zum Erreger geworden. Zumindest zum Erreger öffentlichen Ärgernisses.“ (Seidl 1996) Peter Laudenbach nennt das Ereignis in der Berliner Zeitung „übelstes Mitmach-Theater im Stil der 70er Jahre“ (Laudenbach 1996). Schlingensiefs eigener Kommentar lautet: „Meiner Frau und mir geht es wesentlich um die Verweigerung des Gehirns. Bitte versuchen Sie nicht, Zusammenhänge zwischen den Bildern herzustellen“. (Zit. nach ebd.) Auch die taz zeigte sich eher unzufrieden. In seiner Hörspielkritik, die allerdings elf Jahre nach der Produktion bei einer Wiederaufführung erschien, schreibt Andreas Fanizadeh: „Hörenswert ist die Sendung heute deshalb vor allem für Leute, die die Methode der narrativen Brechung und des assoziativen Sprechens nicht kennen oder die wissen wollen, was man vor zehn Jahren auf deutschsprachigen Bühnen für besonders radikal hielt. An der Soundspur des Hörspiels lässt sich überdies nachvollziehen, wie geschickt Schlingensief für die Dramatisierung Klang und (Film-)Musik einzusetzen versteht. Das daraus resultierende ästhetische Vergnügen entschädigt jedoch nicht für 49 Minuten politische Belanglosigkeit.“ (Fanizadeh 2008)
Eine angemessene Beschreibung der überfrachteten Radio-Performance ist kaum möglich. Es gibt weder ein klar identifizierbares Thema noch eine Dramaturgie noch eine strukturierte Akustik. Zwar verweist der Titel auf den Studentenführer Rudi Dutschke, aber es ist eine Vereinfachung, das Hörspiel auf eine Abrechnung mit den Achtundsechzigern zu reduzieren, wie das in manchen Zusammenfassungen und Kritiken geschieht. Fragmente einer Biographie Dutschkes sind in verschiedenen Formen eingestreut, z.B. in Form eines Gesprächs mit seiner Mutter in Luckenwalde beim Kartoffeln Kochen. Es gibt O-Ton Dutschke [10:50] sowie eine Parodie seiner Sprechweise zu hören [26:40-28:25], und der Laienschauspieler Achim von Paczensky gibt an, der Attentäter Bachmann zu sein. Die politische Botschaft der rebellischen Studenten ist hingegen kein Thema. Mehrmals wird die Grenze des Zynismus offensichtlich bewusst überschritten, die Redakteurin für „Gedenken ohne Schmerzen“ in Studio 3, Margret Kleinert, berichtet, dass sie einmal jährlich mit ihrer Familie ins KZ Bergen-Belsen fährt und dort für die Verpflegung sorgt, während ihr Mann die Namen der sechs Millionen im Zweiten Weltkrieg ermordeten Juden vorliest. Ein Sprecher sagt, die Sendung verzögere sich wegen dieser Lesung um drei Tage. Am Ende findet man Kleinert vergast im Studio. Zwischendurch ist sie mehrmals mit der typisch subjektiven Befindlichkeitssprache der siebziger Jahre zu Wort gekommen: „Moment mal, irgendwas stört mich hier, versteh ich nich, komm ich nich mit klar...“ Ein weiteres Thema ist die deutsche Wiedervereinigung, die als „Zug nach Westen“ durch das Getrappel von Stiefeln symbolisiert wird. Zudem hört man eine sich überschlagende Frauenstimme, die stark an die einen Volkspolizisten anschrei-
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ende Frau am Brandenburger Tor erinnert, die durch die Fernsehberichterstattung berühmt geworden ist. Ist es sogar diese Frau selbst, die da spricht? Durch vieles wird der Hörer gezielt verunsichert. Scheinbar versuchen Radiosprecher Ordnung in das Chaos zu bringen, aber vergeblich. Gegen Ende kommentiert sich, nicht zum ersten Mal, das Hörspiel selbst: „Und da das Hörspiel mittlerweile aus dem Ruder läuft, schalten wir um zum Verkehrsfunk.“ [42:29] Es folgt aber die gestotterte Ansage eines Laienschauspielers, der vor einem Geisterfahrer auf der Autobahn warnt. Vielleicht ist die Selbstparodie des Mediums das Hauptthema. Nach siebzehn Minuten erfolgt die Absage: Der erste Teil des Hörspiels sei zu Ende, wegen der großen Nachfrage könne man den zweiten Teil als Mitschnitt erwerben. Es folgt das Telefongespräch eines Rundfunkmanns mit einem Besteller. Aber dann geht das Stück doch kostenlos in die zweite Runde. Ein Flüstergespräch der Laienschauspieler über Intimitäten wird mit offenem Mikro belauscht und live gesendet. Der Tontechniker kann Achim nicht hören und ruft den entnervt Antwortenden bestimmt zehnmal. Am Ende, eine weitere Geschmacklosigkeit, wird Achim in der Rolle des krebskranken Heiner Müller interviewt, wobei tabuisierte Antworten immer häufiger durch Pieptöne kaschiert werden, bis von dem Gespräch nichts mehr übrig bleibt. Eine mögliche Quintessenz des Stücks ist der Satz: „Sophie, das ist doch nur Spaß. Wir sind doch hier im Studio.“ [39:20] Es war also nur ein Medienzirkus, der [ab 47:50] als „Pop Pop Pop-Test“ deklariert wird? Zum großen Show-Spektakel wird das Stück vor allem durch die fast durchgehend teils im Hintergrund, oft auch im Vordergrund gespielte Musik, die von spätromantischen Klängen über Film- und Tanzmusik bis zu Rock und Blues reicht. Am Schluss dominiert Otis Redding mit seinem Welthit Sittin’ on the Dock of the Bay. Der Text dieses Liedes ist so deutungsoffen wie das ganze Hörspiel. Die Haltung des beschäftigungslos am Kai sitzenden Mannes ist entweder resignativ oder ein kontemplatives In-sich-Ruhen. Sich zu unterwerfen ist er jedenfalls nicht bereit: „I can’t do what ten people tell me to do / So I guess I’ll remain the same.“ Es hieße wohl die Interpretation zu weit treiben, wollte man in diesem Text eine Selbstcharakteristik Schlingensiefs erblicken. Aber es ist nicht abwegig, darin eine werkimmanente Antithese, einen Ruhepol innerhalb der hektischen Pop-Inszenierung zu sehen, die in fast jeder HörspielSekunde darauf angelegt ist, das Publikum zu überwältigen. Damit ist auch der Stil der anderen Hörspiele Schlingensiefs beschrieben. Was Schlingensief in Rocky Dutschke ’68 gemacht hat, ist an Intensität kaum zu übertreffen. Dennoch versucht er es im nächsten Hörspiel Lager ohne Grenzen (WDR/DLR 1999), das mit dem Prix Europa des Deutschlandradios ausgezeichnet wurde. Anlass für die Produktion war der Kosovokrieg der NATO gegen Serbien unter Slobodan Milošević. Gemäß seiner Auffassung, die Grenze zwischen Kunst und Leben sei zu verwischen, reiste Schlingensief in die Flüchtlingslager in Maze-
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donien und parodiert dann im Hörspiel die Vor-Ort-Reportagen mit ihrer ScheinAuthentizität, die den Krieg folgenlos in die deutschen Wohnzimmer übermitteln und u.a. durch Tonstörungen, Probleme beim Umschalten und aufgeregte Reporterstimmen beglaubigt werden. Das Stück ist als Benefizsendung des Westdeutschen Rundfunks für Flüchtlinge angelegt, denen die Erlöse einer live inszenierten Spendenaktion zugute kommen sollen. Die Schauspielerin Margit Carstensen bedient die freigeschalteten Telefone, assistiert durch die als „Fassbinder-Schauspielerin“ vorgestellte Irm Hermann, die ab und zu ausruft: „Europa steht auf. Unsere Hilfe ist gefordert.“ Stolz verkündet Carstensen Zwischenergebnisse der Spendenaktion, wobei sie besonders hervorhebt, wie viele Keramikvasen und Saftgläser schon eingegangen sind, und was noch fehlt, z.B. Teewagen, Radiowecker und Ladyshaver. Achim von Paczensky, der im ersten Hörspiel als Heiner Müller über seine Befindlichkeit angesichts der Todesnähe gesprochen hat, tritt diesmal als Peter Handke auf, der sich eine Fortsetzung des Krieges wünscht. Irm Hermann berichtet als Leni Riefenstahl, wie sie in Salzburg ’45 wegen Luftangriffen die Götterdämmerung nicht inszenieren konnte. Und Bernhard Schütz wirft allen vor, sie seinen auf dem „Egotrip“ und hätten vom Krieg keine Ahnung. Ein General der deutschen Truppe kümmert sich um das Wärme-Bedürfnis seiner Soldaten im Feld. Die Beispiele der Zynismen, Geschmacklosigkeiten, Übertreibungen ist damit noch lange nicht zu Ende. Auch die FSK wird lächerlich gemacht, denn weshalb sollte eine Sendung, die „rassistisches, pornographisches und frauenfeindliches Material“ [00:45-00:54] enthält, nur für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet sein? Zunehmend mischen sich in dem Hörspiel Obszönitäten in das exaltierte Stimmengewirr. Eine Frau brüllt mehrmals „Ich bin geil“, bis letztlich Krieg und Geilheit in dem Satz „Krieg macht geil“ verschmelzen. Eine Quintessenz des Hörspiels lässt sich daraus aber ebenso wenig konstruieren wie aus eingestreuten kapitalismuskritischen Phrasen. Die Botschaft, wenn man davon überhaupt sprechen will, liegt im Bereich des Performatorischen, im exaltierten Stimmengebrauch, im Einander-Überschreien, in der ständig präsenten Musik, vorwiegend aus Spielshows und anderen Unterhaltungsformaten, wozu auch die Eurovisions-Melodie gehört, in der assoziativen Hektik der ganzen Inszenierung, die Teil eines popkulturellen Überbietungswettbewerbs zu sein scheint. Dazu gehört auch eine kurze, seriös klingende Passage, in der Margit Carstensen zu elegischer Musik „Literatur gegen den Krieg“ vorträgt. [20:05-20:35] Unter dem Vorbehalt, dass jede Deutung in diesem Fall hypothetisch bleiben muss, lässt sich vermuten, dass es Schlingensief darum geht, ein bürgerliches Kunstverständnis zu unterlaufen und gerade ein solches Publikum ratlos zu machen, das einen „Sinn“ in der Inszenierung sucht oder auf „Erbauung“ im Sinne eines elaborierten Kunstbegriffs aus ist. Pierre Bourdieu entfaltet diesen Kunstbegriff am Beispiel von Kants Kritik der Urteilskraft. Der „reine Geschmack“, heißt es dort, beruhe auf einem „physischen Widerwillen, auf Ekel […] gegenüber allem ‚Leich-
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ten‘, ‚Oberflächlichen‘, ‚Umgänglichen‘ in Musik und Schreibweise […]“ (Bourdieu 1982, 757) Das „Leichte“, unmittelbar Zugängliche unterscheidet Bourdieu von den „aufgeschobenen Vergnügen legitimer Kunst“ (ebd., 758) und bezieht sich auf Kants Differenzierung von „Reflexions-Geschmack“ und „Sinnen-Geschmack“, wobei ersterem die Entscheidung zur Sublimation, letzterem die „Parteinahme für Reduktion oder, wenn man will Erniedrigung“ zugrunde liege (ebd., 767). Die folgenden Formulierungen, die „die Einbildungskraft des Volkes“ charakterisieren sollen, könnten wörtlich auf Schlingensiefs Anti-Kunst bezogen sein: „[…] all die ‚Werte‘ über den Haufen werfend, in den sich die Herrschenden in ihrer ganzen Erhabenheit wiedererkennen und bestätigen, mit dem Rückgriff auf obszöne und skatologische Ausdrücke, negiert sie systematisch den Unterschied, verhöhnt Auszeichnung und Distinktion und setzt, wie im Karneval, die vornehmen Vergnügen der Seele auf die Stufe gemeiner Befriedigungen von Bauch und Geschlecht.“ (Ebd.)
Die Desorientierung des Hörers entsteht auch dadurch, dass er keinerlei Vorstellung davon bekommt, was von dem Gehörten geplant und was improvisiert oder völlig spontan entstanden ist. Es ist die komplette Negation „der Theorie der Schönheit als absoluter Schöpfung des artifex deus“, die Bourdieu der tradierten Ästhetik der Kultur-Elite zuschreibt (ebd., 768). Ein Schöpfer ist weit und breit nicht sichtbar, obwohl er als Autor, Regisseur und mitwirkender Schauspieler genannt wird. Aussagen über das, was er uns (möglicherweise) mitteilen will, müssen hypothetisch bleiben. Es kann sein, dass der Autor durch seine Darstellerin spricht, wenn Irm Hermann zweimal nacheinander sagt: „Ich glaube, was uns allen Sorgen macht, ist das Ende des Pop.“ [14:05] Es kann auch sein, dass es kein plötzlicher Einfall von Margit Carstensen ist, wenn sie ruft: „Ich will den Preis der Kriegsblinden, das ist das einzige Recht, das ich noch habe.“ [31:30] Sollten dies Schlingensiefs Sätze sein, so bekennt er sich damit zur Popkultur, die ihm als Künstler eine maximale Freiheit gewährt und die ihm zudem als durchaus preiswürdig im Sinne des bürgerlichen Kunstbetriebs erscheint. So ist es, nach den Ehrungen für die ersten beiden Hörspiele und damit für den spezifischen, als Innovation der Kunstform gefeierten Schlingensief-Sound, kaum überraschend, dass der Autor für sein nächstes, ebenfalls nach einem Theaterstück entstandenes Hörspiel Rosebud (WDR 2002)1 tatsächlich den Hörspielpreis der Kriegsblinden (2003) erhielt. Rosebud ist vielschichtiger und anspielungsreicher als die Vorläufer. Es ist eine Satire auf den Berliner Politik-, Medien- und Theaterbetrieb, die nicht durchgehend schrill und laut ist, sondern auch ruhige, meditative 1
Dieses Stück ist in der eingangs erwähnten CD-Edition des WDR Lauschangriff. 5 PopHörspiele enthalten.
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Passagen enthält. Den Rahmen bildet wieder das Format einer Radiosendung, in der diverse Störungen nicht vermieden werden können. Sie wird mit Worten eröffnet, die eigentlich nicht hineingehören, sondern vor dem intendierten Beginn gesprochen werden: „Knackt es jetzt oder... nicht? Also dann fang ich mal an.“ Schon redet jemand dazwischen und wird von der Sprecherin abgewehrt: „Was soll das? Ich will nicht, dass das hier vorkommt.“ Bald wird deutlich, dass die Sprecherin Margit Carstensen eine Doppelrolle spielt, nämlich einerseits die der Moderatorin, die durch Zusammenfassungen und Überleitungen ordnungsgemäß durch die Sendung zu führen versucht, andererseits die der Erzählerin, welche die unübersichtliche Handlung vorantreibt und damit die eigenen Bemühungen konterkariert. Am Ende des 5. (CD-)Tracks streckt sie allerdings die Waffen: „Ich versteh nicht mehr. Was ist denn los?“ Schlingensief hat kein Interesse daran, einen Plot stringent zu entwickeln, vielmehr ist er auch diesmal wieder bestrebt, möglichst viel an Groteskem, Verstörendem, Abstoßendem auszustellen, ohne damit Sinnangebote zu verbinden. Die durchgehend beigemischte, mal mehr, mal weniger dominante Musik lässt überwiegend an Filmmusik denken, die Stimmungen musikalisch verstärken soll. In einigen Passagen wird eine Zirkusatmosphäre erzeugt, in anderen, in denen die Figuren einander anschreien oder aufeinander einschlagen, die von Kasperletheater. Geräusche und Stimmen sind karikaturistisch verzerrt wie in den Hörcomics. Kommt zum Beispiel jemand mit dem Auto angefahren, so hört man immer quietschende Reifen und den Knall eines Aufpralls. Das häufig zu hörende Geräusch von Düsenjets hat zwar wenig mit dem Geschehen im Hörspiel, dafür umso mehr mit dessen Entstehungskontext (Ende 2001) zu tun. Das Wort „Berlin“ wird in Reden so unnatürlich intoniert, dass es mehr gesungen als gesprochen wirkt. Parasprachliche Mittel wie Stöhnen, Röcheln und Kreischen werden reichlich verwendet und tragen zum Eindruck des vorherrschenden Irrsinns bei. In „Grußwort und Gebrauchsanweisung“ zum gleichnamigen Theaterstück behauptet Schlingensief, sein Thema sei die sogenannte Penisverholzung (IPP), eine Krankheit unter der, bei hoher Dunkelziffer, mindestens drei Prozent der Männer litten (Schlingensief 2002, 11). Mit darauf folgenden drastischen Formulierungen führt er die liebe Leserin, den lieben Leser, die von ihm eine seriöse Erläuterung seines Stücks sicher nicht erwartet haben, an der Nase herum. Ein Rezensent der Volksbühneninszenierung (Hobel 2001) zeigte sich hingegen davon überzeugt, dass es sich um ein Schlüsselstück handle. Schlingensief parodiere die Gründung der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung durch Frank Schirrmacher, der im Stück als Rosmer mit der erwähnten ominösen Krankheit auftritt. Der Eindruck eines Schlüsselstücks über die Berliner Republik wird verstärkt durch die Namen: Der Bundeskanzler heißt Gerhard, seine Frau Doris, der FDP-Politiker Kroll, der mit Rosmer die Zeitung gründet, heißt mit Vornamen Guido. Aber schon durch die Namen Rosmer und Kroll wird ein weiterer Bezug hergestellt, nämlich der zu Ibsens Gesellschaftsstück Rosmersholm, in dem auch eine Zeitung gegründet werden
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soll, allerdings keine liberale, sondern eine konservative. Hier will Rektor Kroll seinen Schwager, den Pfarrer Johannes Rosmer, für das Projekt eines solchen Blattes gewinnen, holt sich aber eine Abfuhr und wird zum Feind des freisinnigen Pfarrers. Darüber hinaus verweist der Titel Rosebud auf den Filmklassiker Citizen Kane (1941) von Orson Welles, in dem der Schlitten des Zeitungsmagnaten Charles Foster Kane (welcher wiederum nach dem Verleger Randolph Hearst modelliert ist) diesen Namen trägt. Im Hörspiel schluchzt Rosmer beim Anhören einer Sendung mit Theodor W. Adorno im Originalton „Rosebud“. Außer Adorno, der mehrmals eingespielt wird, gibt es noch Ingeborg Bachmann im O-Ton zu hören. Beide bilden einen philosophischen und ästhetischen Kontrapunkt zu Schlingensiefs PopÄsthetik, die im sechsten Track mit der schon bekannten Formel „Pop, Pop, Poptest“ [Tr 6, 06:16] wieder ausdrücklich beschworen wird. Am Ende von Lager ohne Grenzen hatte Margit Carstensen zur Gründung einer terroristischen Vereinigung aufgerufen. Jetzt macht Sophie Rois als Ex-Terroristin und Rosmers Gattin Margit, die Andreas Baader und all die anderen noch persönlich gekannt hat, die gewandelten medialen Repräsentationen des Terrorismus zum Thema. Ihre Aussage, was zu Zeiten der Schleyer-Entführung Cinemascope gewesen sei, das sei heute auf Chipgröße zusammengeschrumpft, nennt Schlingensief in seiner Dankesrede zur Preisverleihung2 seine „persönliche Lieblingsstelle“ in dem Hörspiel. Was er damit meint, erläutert er in den Anmerkungen zum Theaterstück: Nach dem 11. September 2001 weiß man (aber es haben noch nicht alle verstanden), „dass man heutzutage mit einem Jumbojet in ein Hochhaus rasen muss, um Gesellschaftssysteme zu verunsichern“. Vor 25 Jahren habe man dieselbe Verunsicherung noch „mit einem Fahrrad und einer Lichtschranke“ erreicht (Schlingensief 2002, 55). Gemessen an solch monströsen Wirkungsabsichten backen die Zeitungsmacher der Berliner Republik kleine Brötchen: Damit die Zeitung ihre erste große Schlagzeile – und der Reporter Rolli Koberg den Pulitzer-Preis bekommt, wird eine Entführung der Kanzlergattin Doris in einem Öko-Shop am Prenzlauer Berg inszeniert. Das parallel sich entwickelnde, ödipale Züge tragende Familiendrama der Rosmers, mit drogensüchtiger Tochter Susi und einer versuchten Vergewaltigung des Sohnes Gernot durch die Mutter, das früher zum Stoff für Tragödien getaugt hätte, wirkt demgegenüber geradezu läppisch. In seiner Einleitung zur Textausgabe des Theaterstücks Rosebud merkt Carl Hegemann an, dass Schlingensief Lothar Krappmanns Theorem der „balancierenden Ich-Identität“ auf der Bühne sichtbar macht, indem er es künstlerisch überhöht (in: Schlingensief 2002, 12f.). In einer Zeit, die aus den Fugen sei, falle dem Einzelnen die Identitätsbildung immer schwerer. Dies habe zuerst Shakespeare im Hamlet gezeigt, den Schlingensief in Zürich inszenierte. Die Erfahrungen, die er bei dieser Theaterarbeit machte, werden im Hörspiel in einer kurzen, offenbar konflikt2
Die Rede ist auf YouTube zu hören.
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reichen Szene angedeutet. Das Publikum will den Regisseur vertreiben, und zwar am liebsten zurück nach Deutschland, aber der weigert sich zu gehen.3 [Tr 2, 03:1004:00] Die Moderatorin fragt: „Was soll das? Kann man das rausschneiden?“ Man kann es nicht, denn der Leitgedanke des Autors und Regisseurs beim Hörspielmachen, den er in seiner Dankesrede ausspricht, heißt: „Hören soll stören.“ Die „revolutionäre Kraft des Hörspiels als Kunstform“ sieht er darin, dass es dazu anregt, aufgezwungene äußere Bilder durch eigene innere Bilder zu ersetzen. Mehr noch als der Inhalt ist es der Sound der Hörspiele Schlingensiefs, der die Hörer durch eine Vielfalt an akustischen Reizen zur Produktion innerer Bilder herausfordert.
14.2 R ADIO
TILL YOU DROP
Nachdem die Hörspiele von Christoph Schlingensief immer noch an den Formaten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks orientiert waren und zumindest im Kern seriöse Themen und Anliegen enthielten, widmet der Schweizer Schriftsteller MICHAEL STAUFFER (*1972) sein Hörspiel-Projekt Radio till you drop (DRS 2006) den Existenzbedingungen, Funktionsmechanismen und Überlebensstrategien des Privatradios. Die Besonderheit der Produktionsbedingungen bei diesem Hörspiel bestand darin, dass sich nur die Moderatorin Anette Herbst und der ab und zu sich einmischende Redakteur Udo im Studio befanden, während die anderen Schauspieler und Schauspielerinnen von auswärts anriefen. Das neue Sendeformat des fiktiven Senders beruht auf dem Interactive Human Touch Broadcasting und verbindet Werbung, Verkauf und Unterhaltung. Scheinbar sind es die anrufenden Hörerinnen und Hörer, die das Programm gestalten, jedoch tun sie es gelenkt durch die Moderatorin und die diese wiederum dirigierende Redaktion. Es ist die pervertierte Form des „Rundfunks als Kommunikationsapparat“, den einst Brecht imaginierte, satirisch zugespitzt, aber nicht sehr weit von dem entfernt, was als vermeintlich hörernahes Radio heute ausgestrahlt wird. Wichtigstes Prinzip ist die „Durchhörbarkeit“, d. h. das Vermeiden von „Ausschaltimpulsen“ (vgl. Krug 2010, 81f.). In einem auf „Durchhörbarkeit und Dauerhören“ ausgerichteten Radio gelten „Inhalte als ‚Stopset‘, ja als Ausschaltfaktor“ (ebd., 31), was in der Realität des Privatradios zu einem sehr hohen Musikanteil führt. Gemessen daran wird im Sender Radio till you drop viel geredet, allerdings geht es in den Telefongesprächen nicht um Inhalte, sondern um die Kommunikation an sich bzw. um den Schein derselben. Die Hörer sollen sich angesprochen und einbezogen fühlen, Pausen und Verlegenheitslücken werden mit Jingles, Werbung
3
Hegemann schreibt allerdings, dass die Züricher Hamlet-Inszenierung sehr erfolgreich (gewesen) sei.
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und (Pop-)Musik überbrückt. Der Sound-Designer Karl Atteln hat diese so realitätsnah gestaltet, dass ein Hörer, der zufällig eingeschaltet hat und nicht weiß, dass es sich um ein Hörspiel handelt, glauben kann, er höre einen Privatsender. Es sind drei Erkennungs-Jingles, die häufig wiederholt werden: der Sendername, die Frequenz („auf 109,35 FM“) und Eigenwerbung („Dein Sender ohne Ende“). Der Unterschied zur Hörfunkwirklichkeit liegt nur darin, dass Radio till you drop eine Verkaufsshow ist, bei der den Hörern Dinge verkauft werden sollen, die sie gegenwärtig absolut nicht brauchen, z.B. eine „Digital Mint Gun“ gegen Mundgeruch oder ein Schneebesen, der angeblich den Ehemann sexuell erregt. Immer sind es „Hammer-Angebote“ oder „Super-Schnäppchen“, deren Verlockung die Anrufenden scheinbar erliegen, während sie tatsächlich dem sozialen Druck der Moderatorin, den sie über die öffentlich gemachte Telefonleitung ausübt, nicht standhalten. Das Hörspiel besteht aus ausgeschriebenen und improvisierten Szenen. Die Gesprächsthemen zielen auf die Befindlichkeit der anrufenden Hörer („die Stunde der Wahrheit: deine Schoko-Seite“; „dein schönstes Krankheitserlebnis“) oder sie ergeben sich aus Quiz-Spielen, die damit enden, dass jemand entweder in der „LoserGruft“ landet oder einen überflüssigen Preis erhält. Auch in diesem Punkt ist Radio till you drop nah an der Wirklichkeit, denn Quizsendungen haben im deutschen Radio bereits eine Tradition seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (vgl. ebd. 77f.). Groteske, also die Wirklichkeit verzerrende Züge nimmt das Stück dann an, wenn in den Telefongesprächen das Banale mit dem existentiell Ernsten konfrontiert wird. Die plaudernde Moderatorin bekommt es mit einsamen, verklemmten, aggressiven, psychisch gestörten Menschen zu tun, denen sie entweder jedes Wort abringen oder es verharmlosen muss. Meist zieht sie sich mit eingeübten Kommunikationsstrategien (Gegenfrage, Wiederholung des Gesagten) aus der Affäre, ab und zu bleibt ihr aber nur der Ausweg, das Gespräch abzubrechen. Als trotz mehrfacher Wiederholung der Telefonnummer niemand anruft, um eine Krankheitsgeschichte zu erzählen, muss Redakteur Udo jemanden dafür engagieren (Thorsten, genannt Tossy, einen Vielredner). Unter diesen Bedingungen steigen die Spannungen zwischen Anette und Udo, der die Frau im Studio zunächst noch lobt, ihr dann aber mit dem Hinauswurf droht, zu dem es schließlich auch kommt, nachdem sie begonnen hat, die Sendung mit unsinnigen Äußerungen und Lauten zu torpedieren. Nach diesem „Ausrasterchen“ seiner Vorgängerin übernimmt Udo die Moderation. Dass er es besser macht als Anette, ist kaum vorstellbar, wahrscheinlicher ist eine Wiederholung des immer Gleichen. An dieser Stelle ist noch einmal an die frühe Radioparodie Was sollen wir überhaupt senden? von Helmut Heißenbüttel zu erinnern (vgl. Kap. 3.3). Wer die Entwicklung des Mediums Radio in ca. 35 Jahren ermessen will, höre sich beide Stücke nacheinander an. Auch wenn Radio till you drop parodistisch auf den Extremfall verweist, sind zahlreiche Merkmale der zeitgenössischen Radiolandschaft darin zu entdecken. Was die Jahre um 1970 angeht, gilt das Gleiche für Heißenbüttels
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Stück. Es ist die Zeit vor dem Formatradio, die Zeit der sogenannten „Kästchenprogramme“: „Im Radio folgte Musik auf Vortrag, Meldung auf Musik, Erhabenes auf Komisches, ‚Kästchen‘ auf ‚Kästchen‘“ (Krug 2010, 15). Heißenbüttel löst diese Abfolge auf, indem er die Inhalte der „Kästchen“ zerschneidet und vervielfältigt und dann die Schnipsel zunächst horizontal, dann zunehmend auch vertikal collagiert, bis am Ende alles gleichzeitig ertönt: Nachrichten, Hörertelefon, Kinderfunk, Landfunk, Kulturbericht und nicht zuletzt Musik sehr unterschiedlicher Provenienz, ohne Rücksicht auf Grenzen zwischen U und E. Jedoch gibt es einen Ruhepol, der das alte Radio in hohem Maß charakterisierte: das Pausenzeichen. Vermutlich ahnte Heißenbüttel nicht, dass er sich damit als Archivar betätigte, der etwas aufbewahrte, was es schon bald nicht mehr geben sollte. Die Pausenzeichen sind ein Kulturgut, das mittlerweile dem Vergessen anheimfällt (aber durch eifrige Wikipedianer davor bewahrt wird). Sie prägten den Charakter des Radios in Deutschland überdurchschnittlich lange, während in den angelsächsischen Ländern längst der Jingle die sehr kurzen Pausen füllte und für das Erkennen der Sender sorgte. Im Vergleich der beiden Hörspiele steht das Pausenzeichen des NDR, ein Motiv aus der 2. Symphonie von Brahms, dem (künstlichen) Jingle Radio till you drop gegenüber. Es ist ein Kulturwandel, der sich in dieser Gegenüberstellung manifestiert. Aus heutiger Sicht steht das alte Radio für eine nicht mehr zeitgemäß erscheinende Ruhe, die schon damals in der sich wandelnden Medienlandschaft stark bedroht war. Die medientheoretischen Reflexionen, die den zweiten Schwerpunkt in Heißenbüttels Hörspiel bilden, zeigen das an. Die Jingles, die die Pausenzeichen seit der Etablierung der Privatsender ablösten, sind keine Ruhepole mehr, sondern sie treiben voran, heizen an, tragen zusammen mit der Musik und dem munteren Geplauder der Moderatoren zum erhofften, gleichbleibend hohen Stimmungspegel der Hörerschaft bei. Das Radio wird so zum Ausdrucksmittel dessen, was der Philosoph Ralf Konersmann „Unruhekultur“ nennt, „eine Mitmachkultur, die entsprechende Redeund Verhaltensformen einfordert“ (Konersmann 2015, 328). Der bedächtige Sprecher, der sich bei Heißenbüttel nach dem mehrmaligen Ertönen des Pausenzeichens mit den Worten meldet: „Guten Tag, meine Damen und Herren. Hier ist das erste Programm des Norddeutschen Rundfunks“ wäre völlig deplatziert in Sendeformaten, in denen sogar die Nachrichten mit einem Klangbett unterlegt werden, damit niemand auf die Idee kommt, in dieser Zeit abzuschalten. Interessanterweise ist es für Konersmann der „globale[ ] Soundtrack der Populärkultur“, der für uns die Unruhe zur Normalität werden lässt (ebd., 35), und er macht auf Titel der Popmusik aufmerksam, die das Getriebensein ausdrücken (You Gotta Move, Born to Run usw., ebd., 36). Im Jahr 1970 war Popmusik noch in wenige Nischen der Radioprogramme gewissermaßen eingehegt. Heute ist sie fast allgegenwärtig, und die Nischen sind diejenigen Sendeplätze und Programmangebote, die ohne Popmusik
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auskommen und von Minderheiten gehört werden.4 Für die anderen ist es wichtig, die Hörerbindung durch ihren „spezifischen Wellensound“ (Krug 2010, 82) konstant zu halten. Auf diese Situation reagieren listig und mit Witz BERNADETTE LA HENGST und TILL MÜLLER-KLUG (beide *1967), die mit ihrem Hörstück Die Liebespopulistin (WDR 2004) eine Art konstruktives Gegenmodell zum „Radio bis zum Umfallen“ anbieten. Das Hörspiel ist aus einem Theaterstück hervorgegangen, das 2004 im Theater „Hebbel am Ufer“ in Berlin uraufgeführt wurde. Als Radiosatire spiegelt es die sozialpolitischen und ökonomischen Debatten seiner Entstehungszeit wider, in der Deutschland mit seinen fünf Millionen Arbeitslosen als „der kranke Mann Europas“ galt. Was hat Pop zu dieser ernsten Situation zu sagen? Wie kann ein Medium wie das Radio, das auf hohe Einschaltquoten angewiesen ist, wenn es überhaupt etwas bewirken soll, sich dazu verhalten? Nach dem Vorbild des im Fernsehen schon lange üblichen Reality-TV, das durch die Grenzüberschreitung von medialer und Lebenswirklichkeit sowie durch ein Serienkonzept die Zuschauer zu binden versucht, entwickeln La Hengst und Müller-Klug eine fiktive Reality-Radiosendung mit dem Titel BE A POPSTAR POPULIST! Dieses gesungene Motto ist zugleich ein Bestandteil des Jingles der Sendung. Ebenso wie dieser werden ab und zu der Slogan „In dir steckt Millionen mal mehr, als du denkst“ und die Anrufnummer mit der Tonfolge, die den Wählvorgang symbolisieren soll, eingespielt. Dazwischen werden absurde Werbeclips geboten. Soweit gibt es durchaus Gemeinsamkeiten mit Radio till you drop bzw. mit dem gewohnten Sound der Popsender. Das Ganze folgt einer ausgeklügelten Dramaturgie: Eine Moderatorin, die die Höreranrufe entgegennimmt, führt durch die Live-Sendung, deren Ziel darin besteht, frustrierte Arbeitnehmer und Arbeitslose zu erfolgreichen Rednern, das heißt, zu Populisten zu machen. Auf einer zweiten Ebene gibt es einen klassischen dramatischen Konflikt zwischen zwei Populistinnen, die bereits reüssiert haben (denn es handelt sich bereits um die zehnte Folge der Serie), nämlich der Flüsterpopulistin und der Liebespopulistin. Die erste prangert flüsternd die Missstände des ihrer Meinung nach zu freigiebigen Sozialstaats an, die andere erzählt Kindergartenkindern ein systemkritisches Märchen von der „Existenz“ und versucht Sozialhilfeempfängern wieder Hoffnung zu geben, wobei sie optimistisch stimmende Popsongs einsetzt, „denn die Musik, und ganz besonders die Popmusik, ist das ideale populistische Mittel, um überall auf der Welt die Hirne und Herzen zu erreichen.“ [14:3414:43] Die Flüsterpopulistin zitiert aktuelle Presseberichte, um ihre Ansichten zu begründen, z.B. den damals viel beachteten Bericht aus der BILD-Zeitung über den 4
Beachtlich ist der Wandel des Privatsenders Klassik Radio, der den ursprünglich für „EMusik“ stehenden Begriff „Klassik“ immer weiter ausgedehnt hat: auf Filmmusik, Lounge und Ambient Music usw.
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angeblichen Sozialschmarotzer „Florida Rolf“ oder einen SPIEGEL-Bericht über die „Kernschmelze im Energiezentrum der deutschen Wirtschaft“, womit das Abschmelzen des produktiven Kerns gemeint war. Dieser Text wird von elegischen Streicherklängen mit absteigender Melodielinie begleitet. Schließlich, drittens, wird die Sendung durch die EVA-Formel5 strukturiert, die einerseits an die erste Frau aus dem Paradies erinnert, die von der „Mutter der Populistinnen“, der Schlange, verführt wurde, und deren drei Buchstaben, zum anderen, als Kurzwort auf die Stichworte „Eingebung, Vision, Aktion“ verweisen. Jedes dieser Worte steht als Überschrift über einem Teil der Sendung und wird von einem „elektronischen Experten“ mit verfremdeter Stimme erläutert. Dieses Konzept gibt Raum für vielfältige akustische Ereignisse. Unter dem Punkt „Eingebung“ darf der Anrufer Sven sein Gedicht „Geheim-Code Stütze“ vortragen, das an Slam Poetry erinnert.6 Gast im Studio ist die ehemalige Fluglotsin Julia Jettelova, die sich jetzt als „Moment-Trainerin“ betätigt. Sie animiert die Zuhörer, unterstützt durch Entspannungsmusik, sich dem Augenblick hinzugeben und ihn zu genießen. Einen Arbeitslosen fordert sie auf, sich in einem Ledersessel in der Lobby eines Fünf-Sterne-Hotels zu entspannen. Zum Punkt „Vision“ singt die Liebespopulistin ihren Song „Warum nicht“ [28:48-31:42], zweifellos ein Höhepunkt des Hörspiels, den die Gegenspielerin mit der Anmerkung kommentiert, das „poppig, peppige Konzept der Sendung“ verwässere „ihre eigentlichen Botschaften und Anliegen“ [33:06-33:40]. Unter dem Punkt „Aktion“ wird ein Wettbewerb zwischen den beiden Populistinnen angekündigt, der in wechselnden Direktschaltungen live übertragen wird. Die eine demonstriert mit „besorgten Bürgern“ vor dem Sozialamt gegen Sozialmissbrauch, während die andere mit Arbeitslosen und Abgehängten ein Happening im besagten Fünf-Sterne-Hotel, in dem gerade der „Internationale Kongress für Populismusforschung“ stattfindet, organisiert. Es kommt zum Sleep-in in der Lobby, dann zur Verbrüderung mit den Hotelangestellten und den Forschern, bis alle zusammen ein Lied mit dem Refrain „Her mit der Utopie!“ singen. Die vom Erfolg – und von ihrem eindeutigen Sieg über die Flüsterpopulistin – überwältigte Liebespopulistin erwähnt ganz am Ende der Sendung, dass sogar das Fernsehen jetzt von diesem Ereignis berichtet. Der Traum vom Radio als Leitmedium und von der Popkultur als Ausdrucksform einer zukunftsweisenden Gesellschaftskritik hat sich für gut fünfzig Sendeminuten erfüllt. Die Aufforderung zum Weitersingen und -feiern „bis zu den Nachrichten“ verweist allerdings auf die Begrenzung dieses Traums bzw. auf die prosaische Wirklichkeit, die sich u.a. im Programmschema spiegelt.
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Vgl. das EVA-Prinzip in der Datenverarbeitung: Eingabe, Verarbeitung, Ausgabe.
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Müller-Klug war in der internationalen Spoken-Word- und Poetry-Slam-Szene aktiv. Die Musik des Hörspiels stammt von Bernadette La Hengst, die als Musikerin bekannt wurde.
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Jenseits konventioneller Sendeschemata bewegt sich DANNY BRUDER (*1969) mit seinen Kain-Schwarz-Collagen. Die dritte davon, Kain-Schwarz sieht rot (HR 2011), gibt sich nur durch den Rahmen als Radiosatire zu erkennen. Es meldet sich der Untergrund-DJ Kain Schwarz von „Radio Terror-Ism“ und kündigt „wundervolle Gäste“ an, denen er dann das Wort überlässt, darunter im O-Ton Herbert Marcuse, Ulrike Meinhof, Mitglieder der Black-Panther-Bewegung, TerrorismusBekämpfer Helmut Schmidt und Walter Scheel als Prediger gegen das Böse. Die Collage ist angereichert durch einen wilden Musik-Mix zwischen Rap und Reggae, Hardcore Punk und Extreme Metal, aber auch der Bergkönig aus Peer Gynt und ein Streichersatz von Mozart als liebliche Begleitung und Kontrast zu Kampfgeräuschen sind zu hören. Kain Schwarz tritt nur am Anfang und am Schluss in der Rolle des Moderators auf. Zwischendurch trägt er (gesprochen vom Schauspieler Christoph Bach) als erklärter Terrorist Texte über die Legitimität von Gewaltakten angesichts der terroristischen Machtausübung Weniger über die Vielen vor. Mit einer Schießerei und splitterndem Glas klingt die Sendung aus, die der Moderator flüsternd mit den Worten schließt: „Und nicht vergessen: immer schön konspirativ bleiben.“ Da die satirische Dimension nur in der (hörspielinternen) An- und Absage wahrnehmbar ist, wirkt sie nicht über die ganze Länge des Hörspiels rezeptionssteuernd. Die Collage ist mit ihrer durch die Musik unterstützten kämpferischen Agitprop-Tendenz darauf angelegt, die Hörerschaft zu polarisieren und wohl auch zu provozieren.
14.3 S OUNDPROCESSING „Perfekte Formatierung ermöglicht die genauso perfekte Rationalisierung bei der Programmzusammenstellung. […] Mehr Aufwand muss da fast noch für das ‚Sound-Design‘ aufgewandt werden. […] ‚Soundprocessing‘ etwa sorgt dafür, dass dynamische Unterschiede zwischen Wort und Musik einerseits und innerhalb eines Musiktitels andererseits ausgeglichen werden.“ (Dussel 2004, 283) Mit einem speziellen Aspekt des Soundprocessings, dem ‚Aufpitchen‘ von Stimmen, beschäftigt sich WALTER FILZ (*1959) in seinem im Jahr 2001 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichneten Hörspiel Pitcher (WDR 2000).7 Filz zeigt darüber hinaus, dass natürliche Gegebenheiten der Modellierung von Sounds heute keine Grenzen mehr setzen. Dies wird sowohl verbalisiert als auch durch die Art der Aufnahme hörbar gemacht. Nichts wirkt natürlich, vielmehr erweckt schon ein so einfaches Element einer Geräusch-Atmo wie Vogelgezwitscher hier den Eindruck, als sei es designed, weil es so dicht und konzentriert in der Natur nie vorkommt. Das
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Das Stück ist in der WDR-CD-Edition Lauschangriff enthalten.
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Gleiche gilt auch für die anderen überscharf akzentuierten Geräusche (Schritte, bremsendes Auto, Füllen eines Bierglases, Schlucken usw.). Hauptfigur des Hörspiels ist ein altgedienter Synchronsprecher, der kaum noch Aufträge bekommt, weil seine Stimme „verbraucht, zerredet, kaputt gesprochen“ [Tr 01, 01:30] ist. Gespielt wird diese Rolle von dem ‚echten‘ Synchronsprecher Joachim Kerzel, der weltbekannte Schauspieler wie Jack Nicholson, Dennis Hopper und Dustin Hoffman synchronisierte. In Bezug auf Walter Filz’ Arbeitsweise hebt die Jury des Kriegsblindenpreises in ihrer Begründung hervor: „Er inszeniert also Vorgefundenes, indem er es durch Erfundenes verbindet, und konstruiert so neue Sinnbögen und Zusammenhänge.“ (Zit. nach Wagner 2001, 187) Ob Kerzel zum Zeitpunkt der Aufnahme tatsächlich in der Situation ist, die er beschreibt, bleibt ungewiss, ist aber nicht unmöglich: „Wenn sie dir Kassettenjobs geben, weißt du, dass es bergab geht. Wenn sie dir Hörspieljobs geben, weißt du: Bald kommt gar nichts mehr.“ [Tr 01, 01:50] Kerzel hat diesmal einen Hörspieljob, in dem er sich selbst spielen und sogar mit seinem eigenen Namen vorstellen darf. Filz bringt das Kunststück fertig, aus disparaten O-Ton-Materialien, auf die der Sprecher jeweils fragend oder antwortend reagiert, eine absurde Handlung zu konstruieren. Kerzel bekommt von Vox, dem Boss des „Stimmenkartells“, den Auftrag, im Erzgebirge einen gewissen Pitcher ausfindig und unschädlich zu machen. Der manipuliert nämlich künstlich Stimmen, ohne das Kartell an dem Geschäft zu beteiligen. Das Verfahren beruhe darauf, dass die Stimmhöhe der Probanden durch Nasenoperationen beeinflusst werde. Um hierüber Näheres zu ergründen, soll Kerzel ein Mädchen mit verformter Nase finden, das „Engel“ genannt werde. Sein mission accomplished besteht letztlich darin, dass er selbst von Pitcher operiert wird und mit einer wesentlich höheren Stimme zurückkehrt. Vox, ein erklärter Fan des Babysitter Boogie von Ralf Bendix, ist begeistert. Die O-Töne umfassen Interviews mit dem Plattenproduzenten Helmut Fest, dem Experten für Klanggestaltung Friedrich Blutner, Straßeninterviews, Heimatfunk aus dem Radio, Äußerungen von Bewohnern des Erzgebirges zum dortigen Fremdenverkehr und zur Produktion von Weihnachtsengeln sowie aus regionalem Liedgut. Das Stück erfüllt geradezu idealtypisch Antje Vowinckels Anspruch, dass die Collage eine neue, im Verhältnis zum Ausgangsmaterial kritische Aussage produzieren müsse (vgl. Kap. 10.1). Die Vorführungen des Klangexperten Blutner zur SoundModellierung von Industrieprodukten wie Toastern oder zur Gestaltung des Geräuschs, das beim Füllen eines Bierglases entsteht, erscheinen im gegebenen Kontext wie Übertreibungen aus dem Kabarett, sind aber keineswegs als Scherz gemeint. So entsteht die von Julia Tieke beschriebene Doppelstruktur des Hörspiels: Einerseits sind die O-Töne Bestandteile der fiktiven Handlung, andererseits repräsentieren sie sich immer noch selbst in ihrem dokumentarischen Charakter (vgl. Tieke 2007, 113). Tieke identifiziert noch eine dritte Erzählebene: „[D]as Hörspiel gibt Auskunft darüber, wie der Autor das Stück produziert hat. Die hörbare Monta-
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ge von O-Ton und fiktiver Erzählung, die erkennbare unterschiedliche Ästhetik der Bestandteile, distanziert den Hörer vom Geschehen.“ (Ebd.) Die Hinweise auf die Machart seines Stücks gibt der Autor in der Einleitung und im Abspann, allerdings bemerkt ein aufmerksamer Hörer auch ohne diese Erläuterungen sehr bald, dass in den Dialogen etwas nicht stimmt, dass die Äußerungen der Gesprächspartner Kerzels oftmals vom Erwartbaren abweichen und im neuen Kontext skurril wirken. Der dadurch entstehende Verfremdungseffekt wird aber durch die vom Ich-Erzähler mit seiner markanten Stimme überzeugend vorgetragene und vorangetriebene Geschichte ausbalanciert. Verstärkt wird der Eindruck formaler Geschlossenheit des Hörspiels durch die Musik, zu der Tieke anmerkt: „Die Unterlegung des Dialogs mit Musik als verbindendes Element trägt zusätzlich zu einem relativ flüssigen Höreindruck bei.“ (Ebd., 107) Das musikalische Leitthema, eine Abfolge von Dur-Akkorden, wird anfangs auf dem Klavier gespielt und verwandelt sich dann in einer Synthesizer-Popversion in ein mögliches Klangbett für Sounddesign-Werbung. Die gesungene Version am Schluss des Hörspiels mit der Textzeile „Das ist unser Tag, den ich so gerne mag“ verstärkt diesen Eindruck. In der Mitte des Stücks illustrieren Volkslieder das erzgebirgische Lokalkolorit, dem mit einem FDJ-Pionierlied auch eine DDR-Reminiszenz beigefügt ist. An dieser Stelle gibt es auch einige irritierende Samplings, Wort- und Tonwiederholungen, Hall- und Echoeffekte, wie sie sonst eher aus dem Neuen Hörspiel bekannt sind [z.B. am Ende von Track 04, und in Track 07]. Inhaltlich drücken sie Kerzels Verwirrung über das Erlebte aus, formal bilden sie einen Kontrast zum eher konventionell anmutenden Kontext. Tiekes Fazit lautet: „Filz leistet in Pitcher also durch seinen spezifischen Umgang mit O-Ton-Material eine kritische Reflektion [sic] der Konstruktion von Wirklichkeit im Medium Radio und ermöglicht dem Hörer, diese selbst nachzuvollziehen.“ (Ebd., 113) Worauf richtet sich die kritische Reflexion? Wohl nicht darauf, dass Wirklichkeit im Medium Radio überhaupt konstruiert wird, sondern auf die Art, wie dies geschieht, etwa indem Brüche gekittet und Nuancen, Unterschiede oder sogar Gegensätze zugunsten eines gleichmäßig einschmeichelnden, ‚poppigen‘ Darstellungsmodus eingeebnet und sogar Stimmen technisch „verbessert“ werden. Dadurch, dass das Hörspiel den Rahmen dieses Darstellungsmodus (mit wenigen Ausnahmen) nicht überschreitet, repräsentiert es ihn und weist zugleich als Ganzes zeichenhaft auf ihn hin.
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14.4 S CHNITTSTELLE M ENSCH . E DGAR L IPKIS H ÖRSPIELE Der Autor und Regisseur Edgar Lipki (*1957) nimmt in der deutschen Hörspiellandschaft eine Sonderstellung ein. Obwohl er bereits mehr als dreißig Hörspiele produzierte, darunter viele zusammen mit den Musikern Joker Nies und Ernst Gaida-Hartmann, ging der Preisreigen bislang an ihm vorbei. In Thomas Bräutigams Hörspiel-Lexikon fehlt sein Name; Hans-Jürgen Krug nennt beiläufig „das Pop-Brecht-Hörspiel“ Talking exile (WDR 1998) als Beispiel für das Pop-geprägte Hörspielprogramm der WDR-Jugendwelle 1Live.8 Bislang (2017) fehlt sogar ein Wikipedia-Eintrag zu Lipki. Überspitzt könnte man fragen: Gibt es überhaupt den Hörspielmacher Lipki oder täuscht ‚er‘ ihn nur vor? Eine entsprechende Frage ist auch Jean Baudrillard gestellt worden (vgl. Blask 2002, 39), dem Theoretiker der Simulation, dessen Auffassung von der „Hyperrealität“ Lipki offenbar stark beeinflusst hat. Lipkis Hörspiele verweisen nicht nur auf Simulationen dritter Ordnung im Sinne Baudrillards, also auf „Simulakra“, die dem Simulierten vorangehen, statt umgekehrt – sie sind es selbst. In einer Rezension zu dem Hörspiel Sucking Blood (WDR 2010) macht der Blogger HD Schellnack auf einen Einschnitt in Lipkis Schaffen aufmerksam: „Während seine grandiosen Hörspiele meist sonst einer Art Pattern folgen, einander bei allen Unterschieden so ähnlich sind, als wären sie Elemente eines größeren, übergreifenderen Werks, ist Sucking Blood in fast jeder Hinsicht zunächst völlig anders.“ (Schellnack 2011)9 Das „Pattern“, das Lipkis frühere Hörspiele leicht erkennbar und unverwechselbar macht, besteht aus dem Zusammenspiel von EGitarre und Synthesizer zu langsamem Beat und oft elektronisch verfremdeten Stimmen, die fragmentierte, sich zu Collagen fügende Texte vortragen. Zu Recht spricht Schellnack von der „hypnotische[n], tranceartige[n] Ruhe von Lipkis Arbeiten“. Inhaltliche Zusammenhänge erschließen sich dabei dem Hörer oft schwer, sodass der Eindruck entsteht, Lipki arbeite nach der cut-up-Methode von William Burroughs. Dies gilt schon für die vom Sender verbreiteten Ankündigungstexte der Stücke, die äußerst arm an Verben sind und mit ihrem substantivischen Stakkato gleichzeitig hohes Tempo und Stillstand ausdrücken. Möglicherweise ist für Lipki neben Baudrillard, den er hin und wieder erwähnt, Paul Virilio ein weiteres Vorbild, der einen Essay mit dem Titel „Rasender Stillstand“10 (1992) vorgelegt hat.
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Druckfehler können vorkommen. Aber ist es Zufall, dass Krug im Text Lipski schreibt,
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http://www.hdschellnack.de/tag/horspiel/
im Register gar Lipsik? 10 Der französische Originaltitel lautet allerdings „L’inertie polaire“, was polare Trägheit oder Reglosigkeit bedeutet.
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Ein Stück faszinierender Medienkritik ist das Hörspiel Battle Field Eye (WDR 2001)11, das unter dem Eindruck des Kosovo-Krieges entstanden ist. Es umfasst Blicke auf Schlachtfelder vom „Gefechtsfeld Troja“ bis Belgrad und Sarajewo, dazwischen zitiert es Kleists Penthesilea, Ernst Jüngers Stahlgewitter und Strahlungen, Saint-Exupérys Nachtflug und viele mehr. Es sprechen Leslie Malton in deutscher und englischer Sprache und der Kriegsreporter Friedhelm Brebeck, dessen Stimme vielen Hörern aus zahlreichen Fernsehreportagen von den Krisenherden der Welt bekannt sein dürfte. Der meditative Sound des mit nur wenigen Unterbrechungen durchlaufenden langsamen E-Gitarren-Blues passt zur Monotonie der Stimmen, die Texte von Kampf, Blut und Zerstörung vortragen. Brebeck, der über seine Erfahrungen an diversen Fronten spricht, macht deutlich, dass der Kriegsreporter seine Arbeit ohne die „Fähigkeit zum Verdrängen“ nicht machen könnte. In einer Passage ohne Musikbegleitung [in Track 07, 02:43-02:59] weist er darauf hin, dass der Reporter „zwei Sachen nicht weitergeben“ kann, „berühren und riechen“. Oft sei es aber gerade der Geruch, der die Empfindungen des Berichterstatters bestimme. „Death is a picture, a close up“, sagt hingegen Leslie Malton [Track 01, 03:40 und 02, 01:40]. Die Bilder vom Kriegsgeschehen, die den Medienkonsumenten in ihren Wohnungen vermittelt werden, lassen nichts davon ahnen, dass Schlachtfelder auch smellscapes („Geruchslandschaften“) sind. „Der Leichengeruch als abstoßende Erfahrung an der Schwelle zum Ekel kann […] körperlich und emotional besonders eindringliche und hartnäckige Dissonanzen auslösen [...]“ (Krause 2016, 22). Stellvertretend für die sterilen Bilder vom Krieg steht ein O-Ton, der das Hörspiel leitmotivisch durchzieht und mit dem es endet: Eine Frauenstimme sagt: „We can see a huge orange glow on the horizon. The noise as you can hear speaks for itself. We’ve seen at least one explosion incoming. And we hear a great deal of outgoing anti-aircraftfire from here.“ Dieser Text in Mikrophon-Akustik evoziert die neuen Fernsehbilder vom Krieg, das fahle Flackern von Bombenabwürfen über Städten wie Bagdad oder Belgrad, das beim Betrachter kaum mehr auslöst als den Eindruck von Unwirklichkeit und vielleicht ein Gefühl vagen Unbehagens. Falko Blask verweist darauf, dass Baudrillard in dieser Form der Bildproduktion ein – vielleicht extremes – Beispiel für die „Ersetzung der Realität durch Simulationen“ sieht: „Selbst eine der letzten Bastionen des Realen, nämlich der Krieg, gerät zum Videoclip. Er findet auf Bildschirmen oder elektronischen Zielvorrichtungen statt und unterscheidet sich durch nichts von den Computersimulationen der Vernichtung in den Spielhallen.“ (Blask 2002, 31) Ein Kontrapunkt zu diesem Verweis auf den modernen, scheinbar völlig entpersönlichten Krieg ist ein zweites Leitmotiv des Hörspiels, von Leslie Malton wie aus dem Jenseits gesprochen, das mehrfach zu hörende „Kamerad, woher stammst 11 Auch dieses Hörspiel ist in der Sammlung Lauschangriff des WDR enthalten.
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du...“, bekannt aus Leni Riefenstahls Reichsparteitagsfilm Triumph des Willens (1935). Die Filmszene, in der diese Parole ausgerufen und kollektiv mit „Von der Waterkant“, „Aus Pommernland“ usw. beantwortet wird, zeigt den letzten Abglanz einer heroischen Kriegsauffassung. Zum Schein als Individuum angesprochen, geht der Einzelne im faschistischen Massenaufmarsch unter. Theatralisch soll die Figur vom Kriegshelden mit der Vorstellung vom Volk als geschlossener Willensgemeinschaft verschmolzen werden. Riefenstahl, die die nationalsozialistischen Inszenierungen meisterhaft ins filmische Medium übersetzte, geistert, zusammen mit einer fiktiven Figur, Murnaus Vampir Nosferatu, durch Lipkis Hörspiele. In Massai Hitler (WDR 2005) treten beide gemeinsam auf und und begegnen sich, in ihrer Eigenschaft als Wiedergänger, gewissermaßen auf Augenhöhe. Unausweichlich mischt sich ein Dritter in dieses tête-à-tête. Die fake-Meldung, ein Abgesang der NSPropaganda, er sei „bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend“ gefallen, wird mit Nosferatus Ende verkoppelt. Niemals hätte sie Hitler lieben können, hört man Riefenstahl in ihrem parodistisch wirkenden Englisch in einem Interview sagen. In Sucking Blood, angekündigt als „ein Film aus der Zone später Kapitalakkumulation“, bündelt Lipki seine Wiedergänger-Obsessionen. Alles ist gleichzeitig da, die Zeiten übergreifend mischen sich die Sphären des Alltags, der Kunst, der Politik. Rudi Dutschke ruft (wieder einmal) im O-Ton dazu auf, „an diesem Kampf […] weiterzuarbeiten“ [21:15 und 22:40], ein von Dietmar Mues verlesenes Namens-Paradigma umfasst eine Lebende und vier Tote: Natascha Kampusch, Hannelore Kohl, Christina Söderbaum, Petra Kelly, Andreas Baader [26:00-26:14]. Die Frage, ob es den Tod gibt oder nicht, wird in einem lockeren Ästhetik-Talk (nicht) beantwortet. Die Toten, heißt es, sind Cineasten auf Entzug. Dazu passt Virilios Satz: „Ein Film zu werden, das scheint also unser gemeinsames Schicksal zu sein.“ (Virilio 1992, 46) Leni Riefenstahl ist immer noch da: Die Frage „Kamerad, woher kommst du?“ wird zwar nicht ausdrücklich gestellt, aber die Antworten werden (verfremdet) gegeben: „Ich komme aus Brokdorf, ich aus Buchenwald, ich von der Bavaria.“ [06:07-06:17] Nosferatu, der Blutsauger, ist der heimliche Held dieses Hörspiels; durch die Nennung der Stadt Wismar werden berühmte Szenen aus Murnaus Film evoziert. Es ist ein Stück über Retromania, Vergangenes saugt Gegenwärtiges aus. Mues zitiert Led Zeppelin („It’s been a long time since I rock ’n’ rolled“) und Kathrin Angerer singt Creedence Clearwater Revival („Hey, Tonight“) und anderes. Daneben ist Heimat, deine Sterne präsent, ein Lied, das Weltkriegs-Nostalgikern die Tränen in die Augen treibt. In Gestalt medialer Simulakra sind bei Lipki Lebende und Tote gleichermaßen präsent. Bertolt Brecht in Talking Exile, der Mörder Charles Manson in Manson Revisited (WDR 1999), Kurt Cobain in Cobain (WDR XonRouge 2003), sehr vermittelt Jesus Christus in Corpus Stereo (WDR 2009). Sophie Rois ist hier die
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Schnittstelle Mensch. Wie Christus seinen Leib für den Menschen hingegeben hat, gibt dieser den seinen jetzt für die Maschine hin. Von der Passionsgeschichte bleibt ein verpixeltes Bild vom Abendmahl. Wenn die Frau sagt: „Ich muss mir die Nägel machen. Ich blute“, haben „Nägel“ und „Blut“ doppelte Referenzen. Die mögliche Szenerie, in der der Monolog stattfindet, ist öde: Wind, Küste, Parkplatz. Am Ende sagt eine weibliche GPS-Stimme: „Sie haben ihr Ziel erreicht.“ Die aus der DDR stammende Schauspielerin Astrid Meyerfeldt, die in vielen von Lipkis Hörspielen spricht, tritt sogar als ihre eigene Wiedergängerin auf. In Meyerfeldt Wüsten (WDR 2007) wehrt sie sich dagegen, „der Osten“ zu sein, während sie mit Baudrillards Text (Amerika) ins Death Valley fährt. „Kino zwischen mir und den Worten der Frau auf der Salzfläche.“ [15:35] Plötzlich ist sie sich nicht sicher, ob sie in dem Film Zabriskie Point mitgespielt hat oder nicht. Manches von dem, was sie sagt, wirkt wie ein spontan gesprochener Text mit dem Oberthema Ich-Verlust. „Ich weiß nicht, was ich über mich weiß.“ [19:30] „Ich spiele mich selber, wegen der Verfremdung.“ [23:21] „Das ist, als wenn du in deinem eigenen Film spielst.“ [31:35] Am häufigsten zitiert sie Bob Dylans Vers: „It ain’t me, babe, no no no, it ain’t me, babe.“ Dann lässt sie Ulbricht aufleben: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Der äußerste Westen der USA und der Osten Deutschlands scheinen unmittelbar nebeneinander zu liegen. Zugleich überschneiden sich Gegenwart und Vergangenheit: „German desert. Meine Heimat beginnt im Führerbunker.“ [25:50] Nach diesem Satz trägt Meyerfeldt den Dialog des „Führers“ mit einem Double vor und lacht dabei so herzhaft, dass man glauben möchte, immerhin dieses Lachen sei echt. Aber es ist nichts echt in einem solchen „Ästhetizismus in Anführungszeichen und Reflexionsschleifen“ (Drügh 2017). Nach 2010 werden Lipkis Stücke chaotischer, aggressiver und (noch) rätselhafter. Wer sich daran gewöhnt hatte, sich vom sedierenden Sound der früheren Hörspiele in Trance versetzen zu lassen, wird jetzt aufgerüttelt. Zu Sucking Blood schreibt HD Schellnack: „Im Stroboskopengewitter seiner Worte bist du als Zuhörer seltsam allein und überfordert, so als würdest du zu 280 bpm tanzen sollen, und so löst sich im Rausch der Verwandlung von Worten zu Fetzen der Kontext Hörspiel in etwas ganz Anderes auf…“ Inhaltlich (auch darin ist Schellnack zuzustimmen) bleibt Lipki sich weiterhin treu: „Seine Themen sind alle da, die Manie, der Faschismus, die Deutsche Geschichte, Amerika, Media, Simulacra, der kulturkritische Rundumschlag, aber diesmal ist das Ergebnis ein manisches Musical. Ein Tanz der Vampire, das überreizte Thema endgültig bis zum Bersten überdehnend, so wortreich, so O-Ton-reich wie Lipki selten war, als sei er von den fast homerecordinghaften Schnipseln seiner ersten Hörspiele nun bei dem großen Gestus angekommen.“ (Schellnack 2011)
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Das Hörspiel Feedback Nigger Radio Reservation (WDR 2013) charakterisiert Stefan Fischer in einem Blog als „akustische Raserei“.12 Es stellt Hörerinnen und Hörer vor die Frage, welche historische und aktuelle Bedeutung die Schädel der von der deutschen Kolonialtruppe getöteten Hereros haben, die nach Deutschland gebracht wurden und nun zurückgegeben werden sollen. Ein Reporter platziert in einem solchen Schädel empfindliche Mikrofone, um die aufgenommenen Geräusche mit dem zu koppeln, was in der Eingangshalle einer deutschen Bank zu hören ist [12:57ff.]. Ergebnis: Am Schluss wird das Ende des O-Tons verkündet. [42:00] Zitiert wird Martin Luther King mit seinem Satz „I have a dream“, aber da alle nur noch in Feedback-Schleifen verheddert sind, kann kein Traum mehr entstehen: „Sag mal, weißt du eigentlich, worum es geht, hier? Das sind delierende [sic] Alpträume.“ [10:38ff.] „Körper unser“, „Kapital unser“, „Afrika unser“ – Afrika, heißt es, sei „das letzte Naturschutzgebiet kritischer Theorie“ [10:10]. Wenn ‚Afrika‘, der ‚Neger‘, der ‚Nigger‘ nur noch leere Signifikanten sind, ist eine substantielle Kritik am Rassismus unmöglich bzw. sie bleibt Wunschdenken. Im Hintergrund läuft in einer Schleife der Satz: „I want to acknowledge the violence inflicted by the german colonist powers.“ [32:24ff.] Diese Gewalt wird, was durchaus nicht unproblematisch ist, als Vorlauf zum Holocaust eingeordnet. Ebenso problematisch ist es, ‚Neger‘ und ‚Jude‘ gleichermaßen als Chiffren für „das Andere“, dem von Deutschen Gewalt angetan wurde, zu verwenden.13 Letztlich ist das Hörspiel auch ein Abgesang auf das Radio: „Das ist doch unser Radio. Das ist dein Programm. Gefällt’s dir?“ [33:30] Da das Radio überfordert ist, wenn es eine „akustische Wiedergutmachung“ [44:54] leisten soll, bleibt nur die hilflose Wiederholung einer Beschwörung: „Mama, ich bin kein Nazi.“ [35:38, 41:21 usw.] Mehrfaches Hören des Stücks verstärkt den Eindruck, Lipki habe sich in eine Aporie verstrickt. Der radikale Konstruktivismus kommt an eine Grenze oder läuft sich in den behaupteten Feedbackschleifen tot. Ein Neustart wird mit Techno-Musik versucht, die den gesampelten Sätzen einen Rhythmus gibt, mehr aber auch nicht. Der moralische Impetus, der das Stück befeuert, will nicht zu den medientheoretischen Annahmen passen, die ihm zugrunde liegen.
12 http://www.cult-zeitung.de/2013/09/30/kritik-edgar-lipkis-hoerspiel-feedback-nigger-radio-reservation-auf-wdr-3/ 13 Im Ankündigungstext zum Hörspiel heißt es: „‚Der Neger‘ als Chiffre des radikal Anderen, das der aufgeklärten, postkolonialen Gesellschaft als Verkörperung ihrer eigenen Verdrängungen entgegentritt.“ Und weiter: „Feedback Nigger Radio Reservation umkreist das Schweigen inmitten der hochdynamischen kommunikativen Prozesse unserer Gegenwart. Und die Resonanzlosigkeit der Geschichte, mit deren Aufarbeitung wir permanent befasst sind.“ (ARD Hörspieldatenbank)
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Lipkis bislang letztes Hörspiel, Rashomon Hilti (WDR 2014), schließt mit demselben Sprecher-Ensemble (Astrid Meyerfeldt, Kathrin Angerer, Bernhard Schütz, Fabian Hinrichs) an das Vorgängerstück an. Es geht um den NSU-Prozess, in dem, wie in dem Kurosawa-Film Rashomon (1950), verschiedene Versionen von einem Vorgang erzählt werden. In Lautsprecher-Akustik wird das Stück mit dem Satz „Hier ist die Sprechstelle des deutschen Nationalsozialismus“ eröffnet. Die Popmusik ist ist vor allem durch die Beats und Riffs einer rechten Punkband repräsentiert, deren Sänger, penetrant Virilität demonstrierend, ständig den Refrain „Bewege dein Skrotum“ grölt. Dazu wird ein Tanz der Zeichen veranstaltet, der den Satz „Mutter, das hat doch nichts mit Hitler zu tun“ Lügen straft (oder strafen soll): „Volkskörper“ (dreimal), „Heimatschutz“, „deutsch“, „mythisch“, „tief“; „Lampedusa“, „Sportpalast“, „Oradour“; „der Ausländer“, „Gas“, „Endlösung; „Mein stilles Tal“. Dieses Zeichenparadigma dürfte als Provokation gemeint sein. „Lampedusa“ mit „Oradour“ und „Endlösung“ semantisch in Verbindung zu bringen, ist durchaus gewagt und nicht für jedermann auf der Hand liegend. Die kulturgeschichtliche Bedeutung des Volksliedes Im schönsten Wiesengrunde (1851), aus dem die Worte „mein stilles Tal“ stammen, kann diskutiert werden; sie erschöpft sich jedenfalls nicht in einer bruchlosen Einordnung in die Vorgeschichte des Nationalsozialismus. Ob Lipki immer noch das medientheoretische Konzept der Hyperrealität aufgreift oder den Finger in eine reale deutsche Wunde legen will, bleibt ungewiss. In einer bemerkenswerten Wenn-Dann-Konstruktion verknüpft er verschiedene Filmwelten mit traumatisierenden Ereignissen der jüngeren und jüngsten deutschen Geschichte: „Wenn etwa die RAF Bout de souffle gedreht hat, um die Revolution von 18/19 wiederzuholen […], dann hat die NSU Die Drei von der Tankstelle gecovert, um den Riss ’45 ungeschehen zu machen. ’N Remake. Weil die Sehnsucht nach dem Faschismus verboten wurde, statt ihre Ursache zu lösen. Ein Bildstau, an dessen Ende immer Lilian Harvey kommen muss. Das Wirtschaftswunder. [...]“ [36:22-37:02] Wer hier nach Logik sucht, ist verwirrt. Stehen RAF und NSU, Außer Atem und Die Drei von der Tankstelle sowie 1918/19 und und 1945 jeweils in einer Oppositionsbeziehung? Was hat überhaupt Godards berühmter NouvelleVague-Film mit der Revolution von 1918/19 zu tun, und diese wiederum mit der RAF? Wäre es zu letzterer nicht gekommen, wenn damals die revolutionäre Linke gesiegt hätte? Und weshalb wird der alte Musical-Film Die Drei von der Tankstelle (1930) mit Lilian Harvey, Heinz Rühmann und Oskar Karlweis mit dem „Wirtschaftswunder“ in Verbindung gebracht, wo sich doch allein das Remake von 1955 mit anderer Besetzung (außer Willy Fritsch, der in beiden Filmen mitspielt) darauf beziehen lässt? Die Überschrift zu all dem lautet: „Das Kino als deutscher NichtOrt.“ Daran schließen sich zwei Fragen an: „Warum braucht unser Kino Leichen? Warum können wir aus dem Terror gegen uns immer nur Kino machen?“ [37:4037:48] Setzt man für „Kino“ den allgemeineren Ausdruck „medial erzeugte Wirklichkeit“ ein, so findet man die Antwort in den früheren medienkritischen Hörspie-
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len des Autors, die eindrucksvoll eine zentrale These von Jean Baudrillard illustrieren: „Das genau ist Massenmediatisierung. Nämlich kein Ensemble von Techniken zur Verbreitung von Botschaften, sondern das Aufzwingen von Modellen.“ (Zit. n. Helmes/Köster 2002, 280; Hervorhebung im Text)
15. Popkriminalhörspiele1
In der Popwelt kommt es immer wieder zu mysteriösen Skandalen oder Todesfällen, die selbst dann in den Medien noch diskutiert werden, wenn ihr Geheimnis eigentlich schon aufgeklärt ist. Aus kommerziellem Interesse fördern Medienmacher die „posthume Mythossteigerung“ (vgl. Kap. 4), zu der Geheimnisse um einen frühen Tod beitragen können. Die Hörspielmacher THOMAS DOKTOR (*1967) und CARLA SPIES (*1969) nutzen solche Fälle für ihre Serie Popdetektiv Viktor Berger, die seit 2004 überwiegend vom SWR produziert wurde. Sie stellt den gelungenen Versuch dar, das Krimischema auf das Pophörspiel anzuwenden und dabei mit den Mythen, die die Stars umgeben, eine zwischen Fiktion und Realität angesiedelte Hörspielwelt zu konstruieren. Das Gattungsmuster, das sich hierfür anbietet, ist das der Detektivgeschichte. Der beobachtend und rational vorgehende Detektiv rekonstruiert einen Tathergang und ermittelt am Ende den Täter bzw. die Hintergründe eines Skandals. Interessant wird die Figur des Detektivs vor allem dadurch, dass für seine Arbeit ein „Zusammenspiel von Befolgung und Überschreitung“ charakteristisch ist (Nusser 2009, 175). Allgemein gilt für die literarische Detektiverzählung und ihre Rezeption: „Die Überhöhung der Hauptfigur entspricht dem Bedürfnis der Leser, sich zu orientieren, kommt […] auch dem Bedürfnis des Publikums nach ‚Autoritätsersatz‘ entgegen [...]“ (ebd. 177). Allerdings ist diese
1
Die zahlreichen Hörspieladaptionen von Kriminalromanen, die von der Forschung teilweise der Popliteratur zugerechnet werden, sollen hier nicht thematisiert werden. So beschäftigt sich Moritz Baßler mit den Kriminalromanen von Wolf Haas, die überwiegend vom Österreichischen Rundfunk in Kooperation mit deutschen Sendeanstalten als Hörspiele produziert wurden. Formal und inhaltlich passen in diesen Kontext auch die Adaptionen der Kriminalromane des Country-Musikers KINKY FRIEDMAN (*1945), der sich in seinen Büchern als „Kinkster“ selbst zum Detektiv macht. In Lone Star (WDR 1996) klärt er „für Gott und die Country-Musik“ den Mord an einem Country-Sänger auf, der mit einer Gitarre erschlagen wurde. U.a. erklingt in dem Hörspiel Friedmans berühmter Song Proud To Be An Asshole From El Paso.
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Rolle des Detektivs im Popkriminalhörspiel ironisch gebrochen, weil er letztlich nicht die herrschende Moral wiederherstellt, sondern an der Mythenproduktion um Stars und ihre Images beteiligt ist. Er kann seiner Arbeit nur nachgehen, weil er sich in der Popwelt bestens auskennt, dort geltende Verhaltensregeln beherrscht und ihr Wertesystem teilt.
15.1 ALFRED B EHRENS ZUM D ETEKTIV
MACHT
N OWHERE M AN
Ein Vorbild und erster Prototyp dieser Subgattung ist Alfred Behrens’ Hörspiel mit dem komplizierten Titel Als Nowhere Man den Fall erledigt hatte, legte er ‚Street Fighting Man‘ von den Rolling Stones auf (BR/HR 1972). Zu Beginn wird der Eindruck erweckt, als hätte man es mit einer konventionellen Detektivstory wie in älteren Kriminalromanen oder -hörspielen zu tun. Der Detektiv sitzt in seinem Büro, wartet auf Aufträge und erhält einen Anruf eines Auftraggebers, der sich zunächst nicht zu erkennen gibt, sondern nur verrät, dass es um den Diebstahl zweier AndyWarhol-Gemälde aus seiner Villa geht. Die Erzählerrolle mit dem wie üblich im Präsens gehaltenen Erzähltext ist auf zwei Sprecher und die beiden Stereokanäle verteilt. Atmosphärische Spannung wird durch eine elektronisch erzeugte Klangfigur hergestellt, die auch als Szenentrenner fungiert. Sie wird am Anfang des Hörspieltextes beschrieben: „Musikfläche aus den wiederkehrenden Tönen eines synthetischen Dreiklangs, der im stereophonen Raum von links nach rechts hin- und herwandert.“ (Hörspieltext, zit. nach Schmedes 2002, 130) Bald stellt sich heraus, dass es dem Auftraggeber Kray, Manager einer Band namens Jumping Jack Flash Group, um etwas ganz anderes geht als um Gemäldediebstahl. Der Fall, den Detektiv Nowhere Man zu lösen hat, führt auf die Spur der Gruppe um Tambourine Man, die mit illegalen, aber legitimen Methoden die Macht (nicht nur) der Musikkonzerne anzugreifen versucht. Ziel ist die Umverteilung der gigantischen Finanzmittel, die mit Erzeugnissen der Popkultur umgesetzt werden, auf arme Künstler. Zu ihnen gehörte Nowhere Man selbst, bevor er „rausgeflippt [ist] aus Nowhere Land, ausgestiegen aus den leeren Bildern, den leeren Träumen, zurückgetript in die Realität“ (Hörspieltext, zit. nach ebd.). Die Antithetik des Stücks zeigt sich darin, dass er am Ende Street Fighting Man auflegt, also vom Träumer zum Kämpfer gegen den Kapitalismus geworden ist. Der Titel lässt auch die formale Machart des Stücks erkennen. Popsongs werden laufend eingespielt, um die Handlung voranzutreiben, und zwar sowohl textlich als auch dramaturgisch. So hat Nowhere Man seine Detektei in Penny Lane angesiedelt, was durch das entsprechende Beatles-Stück ausgedrückt wird. Zeitsprünge und Schauplatzwechsel werden durch länger angespielte Musikstücke überbrückt (vgl.
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ebd. 131). Diese spiegeln wiederum die gerade darzustellende Situation wider: Als Nowhere Man in der U-Bahn einen Verfolger abschütteln will, wird dies mit dem Stones-Lied Love in Vain illustriert, in dem die Zeile „When the train come in the station“ vorkommt. Neben Nowhere Man und Tambourine Man treten weitere Figuren aus Popsongs auf, z.B. Sister Morphine, Titelfigur eines Songs von den Rolling Stones. Sie betäubt Gegner mit einem Schlafmittel, das sie ihnen ins Bein spritzt. Die Geliebte von Nowhere Man heißt Lucy in the sky.2 Das eingangs erwähnte, für den Plot von Popkrimis typische Motiv, dass rätselhafte Tode von Stars aufzuklären sind, wird auch von Behrens schon verwendet: Die damals aktuellen Todesfälle der berühmten Siebenundzwanzigjährigen, Brian Jones, Janis Joplin, Jimi Hendrix und Jim Morrison, werden der Gruppe um Tambourine Man angelastet. Sie hätten diese Musiker so lange erpresst, und zwar mit der Drohung, ihr Star-Image zu zerstören, bis sie einen Ausweg nur noch im Suizid gesehen hätten. Der moderne Robin Hood weist diesen Vorwurf als Märchen der Musikindustrie zurück. Geräusche fehlen in dem Hörspiel fast ganz und werden durch Musik ersetzt. Es gibt allerdings eine markante Ausnahme, die zeigt, dass Behrens auch mit Thrillerklischees spielt: Bei einer Verfolgungsjagd in Autos kurz vor dem Showdown wird der Hörer ausgiebig mit Motorengeräuschen, dem Quietschen von Reifen und am Ende dem Knallen von Schüssen bedient. Angesichts manch spektakulärer Effekte, der übertrieben coolen Sprechweise der überwiegend männlichen Sprecher (mit denen Hanna Schygulla als Sister Morphine, was Coolness angeht, durchaus mithalten kann), der ironisch wirkenden Verbindung von Popsongs und Krimihandlung sowie des spielerischen Einsatzes der Stereofonie drängt sich die Frage auf, inwieweit das sozial- und ökonomiekritische Anliegen des Stücks wirklich ernst gemeint ist. Schmedes bejaht diese Frage eindeutig: „Er (Behrens, Anm. G. R.) plädiert für eine Form der Umverteilung, mit der über den Weg einer Demokratisierung von Kunst im Sinne allgemeiner Zugänglichkeit das agitatorische Potential von Kunst am Beispiel der Popmusik ausgenutzt werden soll.“ Das Stück werde „zu einem dialektischen Lehrstück über die Möglichkeiten des Kampfes gegen kapitalistische Monopolfirmen im Gewand eines Krimis [...]“ (Schmedes 2002, 129). Dabei stützt sich Schmedes auch auf eine Äußerung des Autors selbst über die aus seiner Sicht bedenkliche Entpolitisierung der Popmusik Anfang der siebziger Jahre, der er mit seinem Hörspiel etwas entgegensetzen wollte: „In den letzten zwei Jahren hat die Popmusik den langen Marsch nach innen und rückwärts angetreten. Deshalb legt Nowhere Man den ‚Street Fighting Man‘ auf – als Agit-Pop-Song gegen die Musik als privates Fluchtmittel aus der gesellschaftlichen Realität, als Programm2
Diese Konstellation findet man auch schon in Behrens’ Kurzhörspiel Lucy in the sky with diamonds (RIAS 1971).
298 | D AS POPHÖRSPIEL song für eine Popmusik, die politische Einsichten vermittelt und damit auf die Veränderung der Wirklichkeit abzielt. – Gesellschaftskritik wird hier verpackt in ein dramaturgisches Schema, das sich beim Publikum als besonders erfolgreich erwiesen hat: als Krimi – der jedoch seine Handlung nicht aus Schüssen, Schreien und Reifenquietschen aus der konserve [sic] illustriert, sondern sie als Popsongs vorantreibt.“ (Behrens, zit. nach ARD-Hörspieldatenbank)
Behrens verwirklicht seine Absicht auch damit, dass er Anspielungen auf die sogenannte ‚hard-boiled-school‘ des Kriminalromans macht, für die vor allem die Namen Dashiell Hammett und Raymond Chandler stehen.3 In deren Kriminalromanen wird „das Verbrechen in einer unauflöslichen Verfilzung mit Politik und Gesellschaft dargestellt“ (Nusser 2009, 126). Detektiv Nowhere Man steht zwischen den ehrenwerten Verbrechern und dem legal die Fans betrügenden Kray und seinen Leuten und bringt beide Parteien am Ende zusammen. Allerdings gelingt ihm das nur, indem er mit seinem Revolver deren Verhandlungsbereitschaft befördert. Es mag also sein, dass Schmedes recht hat, wenn er schreibt, das Stück entspreche „dem Zeitgeist der siebziger Jahre“ (Schmedes 2002, 129), in denen manche Leute bereits wehmütig auf 1968 zurückblickten.4 Andererseits lässt sich das Stück auch als Versuch rezipieren, so etwas wie ein „Popkriminalhörspiel“5 überhaupt erst hervorzubringen, und zwar aus einer Collage diverser berühmter Popsongs der damals jüngst vergangenen sechziger Jahre.6 Daher lädt das Hörspiel heute vor allem zum nostalgischen Wiedererkennen hervorragender Musikstücke ein, hinter denen die politische Botschaft verblasst.
15.2 P OPDETEKTIV V IKTOR B ERGER UND Y EVGENY M ARLOV Mit ihrer bislang acht Teile umfassenden Serie Popdetektiv Viktor Berger gelingt es CARLA SPIES (*1969) und THOMAS DOKTOR, das Genre des Popkriminalhörspiels fest in der Hörspiellandschaft zu etablieren. Möglich wurde dies durch die Übernahme des in der Kriminalliteratur, ebenso wie im Kriminalfilm und -hörspiel, seit Langem verbreiteten Prinzips der Serialität. Demgegenüber blieb der erste, achtbare
3
In einer Szene stellt sich Nowhere Man ironisch als Philipp Marlowe vor. Sein Auftraggeber sei Raymond Chandler. Auch Dashiell Hammetts Detektiv Sam Spade wird als Nebenfigur erwähnt.
4
„1968! war ein verdammt gutes Jahr“, heißt es im Hörspiel.
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Bezeichnung des Stücks in der von Hanna Schygulla gesprochenen Ansage.
6
Der Schwerpunkt liegt klar bei den Beatles und den Rolling Stones.
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Versuch auf diesem Gebiet von Alfred Behrens eine Einzelerscheinung. Mit dem ca. 30minütigen Hörspiel Der Bluter von Klagenfurt (SWR 2004) wurde die Serie eröffnet. Schon in diesem ersten Teil wird deutlich, dass das Unternehmen auf mehrere Folgen angelegt ist. Es gibt eine Erkennungsmelodie, ein wiederkehrendes Geräusch, ein aufflammendes Streichholz, mit dem eine Zigarette oder gar – Gipfel der Klischees – eine Pfeife angezündet wird, und einen Eröffnungstext, in dem Viktor Berger erzählt, „wie alles anfing“, also wie er zum Popdetektiv wurde. Der Anfang wird zwanzig Jahre zurückdatiert und in den Bereich des Zufälligen gerückt. 1982 sei Nenas Stirnband verschwunden, ohne das sie nicht aufgetreten wäre. Berger fand heraus, dass „die Jungs von Extrabreit“ es als Keilriemen für ihren Tourbus zweckentfremdet hätten. Von da an sei er mit zunehmend spektakulären Fällen aus der Popwelt betraut worden und habe seinen Ruf als Popdetektiv gefestigt. Die Besonderheit der Figur besteht darin, dass sie, anders als viele bekannte Detektive,7 nicht Verbrechen aufklärt, um die Welt ein Stück sicherer zu machen, sondern um die Neugier und Sensationslust der „Star-Nutzer“ (Katrin Keller, s.o.) zu befriedigen. In dieser Hinsicht eher untypisch ist der erste Fall, in dem gleichwohl die Sprache, Mentalität und Vorgehensweise des als Ich-Erzähler auftretenden Viktor Berger bereits entfaltet werden. Aufgrund eines anonymen Hinweises schickt ihn 1983 ein Auftraggeber nach Klagenfurt zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, der in dem Jahr zum ersten Mal im Fernsehen übertragen wird. Als er in seinem Hotel ankommt, beobachtet er in der Lobby einen Punk im Gespräch mit zwei älteren Männern. Den einen, der im O-Ton zu hören ist, identifiziert der Hörer, sofern er sich im Literaturbetrieb auskennt, sofort als Marcel Reich-Ranicki. Später wird sich herausstellen, dass es sich bei dem blondierten Punk um Rainald Goetz und bei dem anderen Mann um Siegfried Unseld, den Chef des Suhrkamp-Verlags, handelt. In den folgenden Tagen langweilt sich Berger, dem schöne Literatur überaus fremd ist, bei den Lesungen im Sendesaal. Das einzig Auffällige ist ein Erste-Hilfe-Kasten, den er am zweiten Abend unter einem Jurorenpult findet. Am dritten Tag findet die Lesung des Punks statt, von der längere Passagen im O-Ton in das Hörspiel einmontiert sind. Plötzlich ist Berger begeistert, denn mit dieser Sprache kann er etwas anfangen: „Wow, der reinste Splatter, ganz nach meinem Geschmack.“ [15:03] Der „Text-Pogo“ erinnert ihn an seinerzeit angesagte Underground-Clubs wie das Berliner „SO 36“, das Hamburger „Nachtcafé“ oder den „Ratinger Hof“ in Düsseldorf. Noch interessanter wird es, als Goetz sich mit einer Rasierklinge die Stirn aufschlitzt und bei tropfendem Blut ungerührt weiterliest, während im Saal jemandem 7
Nusser fasst die Entwicklung der Heftroman-Detektive von Nick Carter bis Jerry Cotton so zusammen: „Die Sehnsucht nach einem Identifikationsobjekt mit Durchsetzungsvermögen ist hinter dem Wunsch, in Sicherheit leben zu können, zurückgetreten.“ (Nusser 2009, 115)
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schlecht wird. Berger fühlt sich an einen Auftritt der Stooges aus dem Jahr 1969 erinnert, bei dem Iggy Pop sich die Brust aufschlitzte, sowie an Skandale der Sex Pistols. Musik von beiden Gruppen wird eingeblendet und signalisiert, dass der Popdetektiv jetzt in seinem Element ist. Dass der eher konservative Reich-Ranicki, der Goetz eingeladen hat, dessen Text uneingeschränkt lobt, überrascht nicht nur Berger. Er deckt auf, dass es sich um einen von langer Hand zwischen dem ChefKritiker, Unseld und Goetz verabredeten Werbe-Gag handelt, der sowohl dem Autor als auch dem in Schwierigkeiten steckenden Verleger nützen soll. Bergers Auftraggeber hält diese Erkenntis jedoch für wenig sensationell, da der Kunstbetrieb ohne Werbung nicht funktionieren würde. Dass Goetz den Bachmann-Preis nicht bekommt, schadet ihm überhaupt nicht. Das eigentliche Verbrechen klärt Berger nicht auf: Ein frustrierter, nicht zum Wettbewerb eingeladener Autor hat das Preisgeld der Siegerin Friedrike Roth in „Blüten“ umgetauscht. Aber Berger ist von dem einen Fehlschlag nicht beeindruckt, lässt sich vielmehr eine Flasche Whisky auf's Zimmer kommen und kündigt den nächsten Fall an, den angeblichen Selbstmord des Nirvana-Sängers Kurt Cobain. Das Hörspiel Dead men don’t pull triggers (SWR 2006) ist dasjenige mit dem wohl raffiniertesten Plot der an Überraschungen reichen Serie. Wie in allen vom SWR produzierten Viktor-Berger-Stücken spricht Martin Engler die Rolle des Detektivs und sorgt, neben den erwähnten sich wiederholenden Elementen am Anfang, mit seiner Stimme und Sprechweise für Wiedererkennbarkeit.8 Von einem befreundeteten Detektiv namens Tom, der mit einem Fall überfordert ist, wird Berger in die USA gerufen. Sie sollen im Auftrag einer Mrs. Love den aus einer DrogenEntzugsklinik verschwundenen Musiker und Junkie Kurt Cobain suchen. Im Unterschied zum ersten Stück, das formal ein Monolog-Hörspiel mit viel O-Ton und sparsamen Geräuschen darstellt, ist diese Folge durch einen Wechsel von Monolog und dialogischen Szenen abwechslungsreicher. Seiner Neigung entsprechend übernimmt es Viktor Berger, in diversen verrufenen Szenelokalen zu recherchieren, während sein Freund Tom Schreibtischarbeit erledigen muss. Nachdem Berger den Grunge-Musiker als erster tot in seinem Blut gefunden hat, macht er sich schleunigst aus dem Staub. Beim Gespräch mit Tom hört man im Hintergrund die Original-Radiomeldung über den Tod des Popidols. Wie in Detektiverzählungen oft üblich wird die Spannung „durch das gezielte Legen falscher Fährten“ (Nusser 2009, 34) erhöht. Zunächst sieht es so aus, als habe Courtney Love sich mit Hilfe eines Auftragskillers von ihrem Ehemann befreien wollen. Ein gewisser Al Duce, dem Berger auf die Spur kommt, belehrt den Popdetektiv mit einem Faustschlag, dass er es nicht war. So kann der Held beweisen, dass 8
Eine Ausnahme bildet das 2007 vom Deutschlandradio produzierte, wie Folge 1 im Milieu des Klagenfurter Bachmann-Wettbewerbs spielende Hörspiel Literatur letal mit Tonio Arango in der Hauptrolle. Mit gut 54 Minuten ist dieses Hörspiel länger als die anderen.
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er auch hart im Nehmen ist. Zwar hat sich der Suchauftrag erledigt, aber die beiden Detektive arbeiten auf eigene Rechnung weiter, weil Berger spürt, dass an der Selbstmordversion etwas nicht stimmen kann. Tatsächlich findet Tom heraus, dass der Öffentlichkeit verschwiegen wird, dass Cobain sich mit der Menge Heroin, die er in seinem Blut hatte, nicht hätte erschießen können: „Dead men don’t pull triggers.“ In Cobains Tagebuch stoßen Tom und Viktor mehrfach auf das Kürzel D.M., das sie zunächst für die Initialen einer Frau halten. Die Lösung verbirgt sich im Spülkasten von Cobains Toilette: Es handelt sich um die Dreamachine, eine tatsächlich von den Beatniks erfundene „Flicker-Maschine“, die unter anderem von William Burroughs genutzt wurde, weil sie angeblich halluzinogen wirkte. Im Hörspiel wird die Wirkung dahingehend übertrieben, dass die Maschine revolutionäre Träume hervorbringt und damit der US-Regierung als so gefährlich erschien, dass sie den Besitzer Kurt Cobain von der CIA umbringen ließ. Viktor Berger muss dessen Haus fluchtartig verlassen, als es von einem CIA-Trupp gestürmt wird. Die Dreamachine und einige Platten des Musikers nimmt er mit. Zu Hause stellt er fest, dass auf dem berühmten Stück Rape Me, wenn man es rückwärts laufen lässt, der Satz „CIA killed me“ zu hören ist. Damit ist der Mythen-Cocktail perfekt, den Spies und Doktor mit diesem Stück mixen. Die Nachricht vom angeblich geheimnisumwitterten Tod eine berühmten Popmusikers, die Dreamachine der Beatniks und die in einem Song versteckte Botschaft, die erst hörbar wird, wenn man die Platte rückwärts laufen lässt, verweisen alle auf bekannte oder jedenfalls leicht zu recherchierende Referenzpunkte. Wer an Verschwörungstheorien glaubt, könnte deshalb versucht sein, die ganze Geschichte für wahr zu halten. Die Viktor-BergerPopkrimis sind nicht nur unterhaltsame Kriminalhörspiele, sondern auch Satiren auf solche im Pop-Universum verbreitete Verschwörungstheorien.9 So gab es reichlich Stoff für weitere Folgen der Serie. In Dead or alive (SWR 2007) klärt Viktor Berger 1995 das Verschwinden von Richey James Edwards, des Gitarristen der britischen Band Manic Street Preachers auf, das bis heute ein Mysterium geblieben ist. Er findet heraus, dass sich Richey, um einer Stalkerin zu entkommen, einer Gesichtsoperation unterzogen und ein neues Leben angefangen hat. Als Hinweis hat er in seiner Wohnung Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung aufgeschlagen liegen lassen. Literaturverächter Berger kann damit zunächst nichts anfangen und versteht erst später das an die Nachwelt gegebene Zeichen.10 In Hangman (SWR 2007) ist dem Popdetektiv sehr bald klar, dass sich Michael Hutchence, der Sänger der australischen Rockband INXS, in seinem Hotelzimmer nicht selbst erhängt hat, sondern dass er ermordet worden ist. Der Umweg zur Lö9
Erinnert sei nur an die sehr wirkmächtige, auf den Beatle Paul McCartney bezogene Paulis-dead-Legende.
10 Hingegen mag sich der Literaturkenner an die aufgeschlagene Emilia Galotti (von Lessing) in Goethes Werther erinnert fühlen.
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sung des Falls führt über Bob Geldof, den früheren Ehemann von Hutchence’ Freundin Paula Yates. Die in der Klatschpresse nachzulesenden komplizierten Beziehungen der Stars, einschließlich der exotischen Namen der daraus hervorgegangenen Kinder, werden getreulich wiedergegeben und mit einem fiktiven Ergebnis verknüpft, das sich leider nicht mehr verifizieren lässt. Denn bevor Hutchence zum Beweis hätte obduziert werden können, ist er schon eingeäschert worden. Nebenbei erlebt Berger beinahe ein Abenteuer mit der Sängerin Kylie Minogue, steht sich aber mit seinem zu hohen Whiskykonsum selbst im Weg. In Under Heavy Metal (SWR 2007) klärt Viktor Berger (1986) den Mord an dem schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme auf und wird deswegen beinahe Opfer eines Anschlags. Ihm entgeht er nur, weil er wegen seiner Abneigung gegen seichten Schwedenpop kurz anhält, um das Autoradio aus dem Fenster zu werfen. Inzwischen gerät der Bus der Band Metallica auf der mit Eis und Öl präparierten Straße ins Schleudern, wobei der Bassist Cliff Burton ums Leben kommt. In den bisher zuletzt produzierten Folgen (2pac 4ever, SWR 2010, Into the Light, SWR 2011) klärt Berger auf, was hinter dem Anschlag auf den Rapper Tupac Shakur (1996) und dem tödlichen Unfall des Austropoppers Falco (1998) steckt. Von Folge zu Folge wird das Profil des Popdetektivs geschärft. In Umrissen entspricht es dem gängigen Bild des Detektivs, wie Nusser es beschreibt: „Exzentrik und Isolation (Außenseitertum) sind die typischen Merkmale der Gestalt des Detektivs: Aus der Norm fallende Angewohnheiten (z.B. Verdunkelung der Zimmer, Rauschgiftgenuss, künstlerische Neigungen) verfremden ihn und umgeben ihn mit der Aura des Außergewöhnlichen, die ihn aus der Monotonie des Alltäglichen heraushebt.“ (Nusser 2009, 42) Carla Spies synchronisiert dieses Außergewöhnliche mit Klischees aus der Welt der Popstars. Berger hat in dieser Welt nicht nur die persönlichen Beziehungen, die er für seine Arbeit braucht, sondern er gleicht sich auch der Lebensweise seiner Bezugspersonen bis zu einem gewissen Grad an. Von harten Drogen hält er sich allerdings fern und bevorzugt den Whisky. Er erscheint als ein etwas verlebter Genussmensch (zu dem Martin Englers angeraute Stimme gut passt), aber nicht als Problemfigur. Und er bestätigt mit seiner Vorliebe für die Subkultur die Grenzziehung zwischen Sub und Main einerseits sowie zwischen Pop und bildungsbürgerlicher Hochkultur andererseits. Mit Schlagern kann er ebenso wenig anfangen wie mit kanonisierten Werken der Literatur und klassischer Musik. Carla Spies und Thomas Doktor haben mit Viktor Berger den Idealtypus des Popdetektivs geschaffen, der neben den Fällen im Popgeschäft auch andere heiße Eisen anfasst. Zu nennen sind beispielsweise das tragische Ende von Prinzessin Diana (Einleitung zu Hangman) und die Ermordung Olof Palmes (s.o.). Mit solcherart bis heute mysteriös gebliebenen Vorkommnissen beschäftigt sich auch der Moskauer Detektiv Yevgeny Marlov, dem DAVID ZANE MAIROWITZ bereits zehn Hörspiele gewidmet hat. Sie wurden seit 2006 vom WDR produziert, und zwar alle mit Udo
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Schenk in der Rolle des Detektivs. Obwohl er sich in anderen Zeiten und Räumen, nämlich der Sowjetunion zwischen 1934 und 1990 bewegt, ist Marlov, dessen Name nicht zufällig an Raymond Chandlers Philip Marlowe erinnert, Berger in manchem verwandt. So wie Berger den Whisky schätzt, hat Marlov eine Vorliebe für armenischen Cognac. Sprachlich demonstriert er die gleiche Abgeklärtheit und Schlagfertigkeit wie jener. Dass beide nicht altern, haben sie mit anderen Seriendetektiven wie etwa James Bond gemeinsam. Wenn Berger erzählt, „wie alles anfing“, ist es immer ungefähr zwanzig Jahre her, obwohl es am Ende mindestens dreißig Jahre sein müssten. Marlovs erster Fall, den er noch als sowjetischer Geheimpolizist bearbeitet, ist die Ermordung des KP-Sekretärs Kirow im Jahr 1934 (I killed Kirov, WDR 2006). Weil Marlov darüber zu viel herausfindet, wird er aus dem Staatsdienst verstoßen, in den GULAG geschickt und kann erst im Zuge der Entstalinisierung unter Chruschtschow wieder tätig werden. Er ist dann in Staatsaktionen wie die Ermordung des afghanischen Präsidenten Hafizullah Amin im Zuge der sowjetischen Invasion 1979 verwickelt (Inschallah, Marlov, WDR 2015). Unter anderem ist er in Rumänien, Afghanistan, der Türkei, zumeist aber in verschiedenen Teilen der Sowjetunion unterwegs. Die Musik zu den Hörspielen ist an der Folklore dieser Länder orientiert und mutet daher meist orientalisch an. So entsteht aus brisanten politischen Themen sowie pointenreichen Dialogen und Erzählmonologen des Detektivs ein Genremix aus Politthriller und Schwarzer Krimikomödie. Geschickt bewältigt Mairowitz den Balanceakt, der die Voraussetzung für gelungenen Schwarzen Humor ist. „Indem Schwarzer Humor sich auf unsere existentiellen Ängste richtet, lässt er sich auf etwas Gewichtiges ein, das er im Spiel ungewichtig zu machen sucht, ohne dass ihm dies gelingen kann.“ (Nusser 2009, 156) Oft wird Marlov zum Opfer undurchsichtiger Machenschaften und gerät in Lebensgefahr. Aber das Erschrecken des Rezipienten wird erstens dadurch gemildert, dass der Detektiv stets mit witzigen Repliken auf die Drohungen seiner Widersacher reagiert. Zweitens wählt der Autor oft die Möglichkeit, „das Verbrechen so absurd zu gestalten, […] dass sich Beunruhigung und Belustigung als gleichzeitige Reaktionen des Rezipienten von selbst einstellen“. (Ebd., 156f.) Die für Thriller typischen, akustisch üppig illustrierten Kampfszenen (vgl. ebd., 53) tragen zu dem abwechslungsreichen Hörerlebnis bei, um das es Mairowitz in allen seinen Hörspielen geht.
15.3 D ER LETZTE H IPPIE Der Musiker, Autor, Funk- und Fernsehredakteur VOLKER PRÄKELT (*1956) schrieb bislang vier Pophörspiele, die zwischen 2009 und 2015 vom NDR produziert wurden, darunter eines über das Pink-Floyd-Album The Dark Side Of The
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Moon (2013). Das erste dieser Hörspiele, Der letzte Hippie (NDR 2009), heißt im Untertitel A Musical Pulp Fiction und ist mit den frühen Versuchen von Alfred Behrens vergleichbar, Pophörspiele zu schaffen, die zu einem wesentlichen Teil auf Popmusik beruhen und aus ihr hervorgehen. In diesem Popkrimi wird der Radio-DJ Lenny, auch „der letzte Hippie“ genannt, zum Detektiv, der mehrere Morde aufzuklären versucht. Die Toten waren Mitglieder einer kurzlebigen Deutschrock-Gruppe namens COSMIC GODS, deren Sänger Jona Engel bereits 1969 angeblich bei einem Unfall ums Leben kam. Die Idee zu dem vielschichtigen Hörspiel dürfte anlässlich des 40jährigen Jubiläums des Woodstock-Festivals entstanden sein. Das Hörspiel beginnt und endet in einem Berliner Taxi. Der Taxifahrer hört immer die Sendung des „letzten Hippies“ Lenny Wolf, der als Moderator bei Radio Gaga die jeweils zu seiner Stimmung passenden alten Platten auflegt und poetisch kommentiert. Dazwischen holen Werbespots die Zuhörer in die prosaische Gegenwart zurück. Der Sender verbreitet nicht nur Werbung für „Spreegurken“, sondern auch für die Uraufführung des Musicals „Moses“, das Erstlings- und Lebenswerk des Musikproduzenten Sir Warren S. Noble. Die Noten hat er einst dem Sänger der COSMIC GODS, an dessen Tod Lenny eine verdrängte Mitschuld trägt, gestohlen. Die Morde sind Teile der späten Rache eines Mannes im Rollstuhl, der seit jenen Ereignissen querschnittgelähmt ist. Nach einem Song der Steve Miller Band nennt er sich „Joker“. Um das alles herauszufinden, macht Lenny eine Reise an die Schauplätze der Vergangenheit, nach Woodstock und nach New York, wo er im von Leonard Cohen besungenen „Chelsea Hotel“ landet. In dem gesamten, 70 Minuten dauernden Stück sind Popsongs mit den Motiven, Figuren und Schauplätzen verbunden und treiben letztlich die Handlung voran. Symbolisch für Lennys Trauma und verdrängte Schuld steht Jimi Hendrix’ Stück „Purple Haze“, das der DJ in seiner Radioshow nie auflegte und mit dem der Joker die Sendung eröffnet, die Lennys letzte sein soll. Sie wird live aus Brooklyn nach Berlin übertragen und direkt gesendet. Lenny soll sterben, weil er damals, von Psycho-Pillen benebelt, das Drama nicht wahrgenommen hat. Die Anklage, die der seither für sein Leben gezeichnete Joker schreiend vorbringt, lautet: „Ein Scheiß Hippie steht auf, fährt sich durch die Haare und verpisst sich.“ [1:04:15] Aber der Anschlag auf Lennys Leben misslingt. Am Ende sitzt der letzte Hippie wieder in seinem Studio, legt eine Platte auf, die sich auf seine Liebesaffäre während seines USA-Trips beziehen soll, und kommentiert sie auf seine Weise: „American Woman“ von der Gruppe Guess Who, „ein Song wie ein Sandsturm aus dem Mesozoikum der Popmusik. Verse wie in Stein gemeißelt. Ein guter Song sollte aus einem Gitarrenriff bestehen – und drei Worten: Good bye, american woman“ [1:07:04ff.] Das Hörspiel ist ein Genremix aus Popkriminalhörspiel und Zeitbild. Teils nostalgisch verklärend, teils kritisch zeigt es die Bedeutung der Popmusik für das Leben vieler Zeitgenossen. Popsongs enthalten Angebote zur Identitätsbildung für die Fans, aber das Geschäft mit ihnen kann zerstörerisch wirken, nicht zuletzt auf die
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Stars. Lenny hat ein Buch darüber geschrieben: „The Great Gig in the Sky. Skurrile Todesfälle von Rockstars“. Die Ära der Hippies erscheint vielen als der gelebte Traum von Freiheit und Selbstverwirklichung, aber als Schattenseiten schlagen Verantwortungs- und Bedenkenlosigkeit zu Buch. Die Grundstimmung von Präkelts Hörspiel ist eher melancholisch als enthusiastisch. Formal ist das Stück moderner als die Geschichten der Popdetektive. Es fehlt der verbindende Erzählfluss eines Ich-Erzählers, stattdessen bestimmen harte Schnitte und schnelle Szenenwechsel die Dramaturgie. Hörspielästhetisch interessant ist das Stück durch den Wechsel zwischen Szene, Radiosendung und viel Musik, die manchmal in knisternder Vinyl- oder verrauschter Kassettenrekorder-Akustik eingespielt wird. Offenbar eigens für das Hörspiel komponiert und aufgenommen wurde ein Rocktitel der COSMIC GODS mit Benedikt Greiner als Sänger.
16. Sprach- und medienexperimentelle Hörspiele
In den Schlussabschnitten seiner „Kleine[n] Geschichte des Hörspiels“ stellt HansJürgen Krug fest, dass im Zeitalter der Digitalisierung eine zunehmende Entgrenzung der Hörspiellandschaft zu beobachten sei. Überschritten werden Grenzen zu anderen Medien (z.B. audiovisuellen) und Kunstgattungen (z.B. zur Musik oder zum Theater). Die Initialzündung zu dieser Entwicklung scheint Krug allerdings schon lange vor der nicht nur die akustische Kunst revolutionierenden Digitalisierung zu sehen: „Spätestens seit Heißenbüttel ist vermeintlich alles möglich, alles erlaubt und auch alles Mögliche im Programm.“ (Krug 2008, 168) Die Frage, was überhaupt gesendet werden solle, wird in Heißenbüttels Hörspiel von 1970 (vgl. Kap. 3.3, 14.2) nicht beantwortet, sondern von dem, was täglich gesendet wird, übertönt. Seitdem sind die Verhältnisse durch das Privatradio, das der Formatierung auch der öffentlich-rechtlichen Programme einen Schub gab, übersichtlicher geworden. Sogar Kulturprogramme bedienen tagsüber das Bedürfnis nach „Durchhörbarkeit“, indem sie z.B. klassische Musik in Häppchen senden. Vor allem abends, am Wochenende auch tagsüber, halten sie Sendeplätze für Hörspiele, Features sowie anspruchsvolle Musiksendungen vor und bedienen damit Interessen von Minderheiten (vgl. Krug 2010, 86). Für Hörspielmacher ist die Freiheit seither nahezu grenzenlos geworden. Vermutlich waren viele Freunde des traditionellen Hörspiels irritiert, als seit den 1960er Jahren Klang- und Sprachexperimente, Collagen, halbdokumentarische Stücke als Hörspiele gesendet wurden. Inzwischen hat man sich daran gewöhnt, dass die Bezeichnung „Originalhörspiel“ ein Sammelbegriff für vielerlei Formen akustischer Kunst ist und auch exzentrische, verstörende Soundexperimente umfassen kann. Um solche Experimentalstücke, soweit sie popkulturelle Einflüsse und Gestaltungsmittel aufweisen, geht es im folgenden, letzten Kapitel des Versuchs einer Definition und Typologie des Pophörspiels.
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16.1 S PRECHAKTVARIANTEN UND S TILÜBUNGEN Am Anfang seiner Karriere trat PETER HANDKE (*1942) wie ein Popstar auf und ließ sich als junger Wilder feiern oder beschimpfen, der nicht nur die etablierten Vertreterinnen und Vertreter des bundesdeutschen Literaturbetriebs bei der letzten Tagung der Gruppe 47 in Princeton, sondern auch bildungsorientierte Theaterbesucher alt aussehen ließ. Sehenswert ist bis heute, wie er 1966 nach der Uraufführung seines von Claus Peymann im Frankfurter Theater am Turm inszenierten Sprechstücks Publikumsbeschimpfung lächelnd auf die Bühne kam und zusammen mit den vier Schauspielern das Publikum sowohl zu Ovationen als auch zu Buh-Rufen anstachelte. Sein Habitus wirkte wie eine kalkulierte Mischung aus Beatles (Frisur) und Max Frisch (schwarze Brille). Handkes Provokationen passten in die Zeit und schufen eine Grundlage für seinen die Zeiten überdauernden Ruhm. Seine frühen Prosatexte, Theaterstücke und Hörspiele ließen allerdings keine spektakulären Verkaufserfolge, Besucherzahlen und Einschaltquoten erwarten. Auf Handkes Romanerstling Die Hornissen (1966) reagierte die professionelle Literaturkritik sehr reserviert bis ablehnend (vgl. die Übersicht bei Mixner 1977, 1f.). Der Roman hat weder einen Plot noch ‚blutvolle‘ Figuren. Es gibt keinen Erzähler, der eine Geschichte erzählt, vielmehr muss der Leser sich seinen Roman selbst konstruieren. Das wird ihm durch Sprachreflexionen, übergenaue Beschreibungen und die schwer durchschaubare Selbstreferentialität des Textes erschwert. Zu Beginn seines Essays über Peter Handke vertritt Peter Pütz die These, es sei ein Missverständnis, „Handkes Texte auf Sprachkritik zu fixieren; denn seine Kritik zielt viel weiter als auf Sprache und richtet sich grundsätzlich gegen das, was ihm durch das Mißverständnis widerfährt, nämlich gegen die individualitätsbedrohende Fixierung“ (Pütz 1982, 10). Handke arbeitet sich in seinen frühen Texten nicht nur an sprachlichen Schablonen, sondern auch an einengenden Gattungsschemata ab, unter anderem auch an dem, was man bislang unter einem Hörspiel verstand. Dass er damit nicht allein ist, wird schon durch den Hinweis auf Wondratscheks Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels (vgl. Kap. 8.2) deutlich. Der Satz „ein Hörspiel muss nicht unbedingt ein Hörspiel sein“ stellt, wie gezeigt, nicht das Hörspiel an sich in Frage, sondern nur die traditionelle Vorstellung, die bis dahin vom Hörspiel existierte. Handkes erstes Hörspiel, das aus Kapitel 6 seines Romans Der Hausierer („Die Befragung“) hervorgegangen ist, verstößt zweifach gegen traditionelle Hörerwartungen. Mit seinem Titel Hörspiel (WDR/HR 1968) verweist es nicht auf eine abgebildete Wirklichkeit, sondern nur auf sich selbst. Es eröffnet den Klangraum für eine als Verhör zu interpretierende Sprechsituation mit den Rollen FRAGER, GEFRAGTER/AUSGEFRAGTER, AUSFRAGER A-E. Während aber in einem Verhör der Verhörte am Ende etwas preisgeben soll, was er lieber für sich behalten hät-
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te, endet der Hörspieldialog damit, dass der GEFRAGTE sich dem FRAGER völlig angleicht, indem er dessen Worte wiederholt. Gezeigt wird, dass der Verhörte dem Verhörenden ausgeliefert ist, dass es sich also um eine asymmetrische, komplementäre Kommunikation handelt. Im Hausierer heißt es: „Die Beziehung ist in jedem Fall ein ‚in der Gewalt-Sein‘ dessen, der gefragt werden soll: es muß möglich sein, bei einer Verweigerung der Antwort gegen die Person des Gefragten Folgen zu setzen.“ (Handke 1971, 63) Wer dieses Schema verstanden hat, ist umso mehr irritiert, dass neben den erwartbaren Sprechakten ‚fragen‘, ‚fordern‘ und ‚drohen‘ auch ganz andere vorkommen, wie ‚höflich etwas anbieten‘ („Wieviel Wasser nehmen Sie in den Whisky? […] Nehmen Sie etwas Eis dazu?“, Handke 1970, 89) Gerade dadurch erfüllt der Text eine „meta-poetische Funktion“ (Mixner 1977, 92). Es wird „nicht die Illusion einer Wirklichkeit erzeugt, sondern ein Schema zur Darstellung von Bewußtseinswirklichkeit benutzt“ (ebd.). Wiederum auf der ersten Ebene der Gattung dienen die „Hörspielgeräusche“ dazu, die Aufmerksamkeit der Hörenden darauf zu lenken, dass sie es mit einem Hörspiel zu tun haben. Diesmal unterstützen sie nicht das Entstehen innerer Bilder von einer Szenerie, sondern wirken als die Klangereignisse bzw. Schallphänomene, die sie eben sind – und als nichts anderes. Damit ist hinreichend beschrieben, was Handke „von den russischen Formalisten gelernt hat“ (ebd., 91). Die Lehre, dass sprachliche Elemente einen Eigenwert haben, ergänzt er für das Hörspiel damit, dass dasselbe auch für Geräusche gilt. Dies vorausgesetzt, liegt die Frage sehr nahe, weshalb es nicht auch für Musik gelten solle, die sonst im Hörspiel entweder in dramaturgischer oder in stimmungserzeugender oder, handlungsintern, sozusagen als Requisit eingesetzt wird (vgl. Klippert 2012, 85). Handkes Hörspiel Nr. 2 (WDR/SR/SWF 1970), von dem schon kurz die Rede war (vgl. Kap. 3.3), erweitert das Spektrum der Klangereignisse gegenüber dem ersten Hörspiel um ein Vielfaches. Die Grundsituation ‚Taxifunk‘ bildet dafür einen lockeren Rahmen, keinesfalls ein realistisches Setting. Wie im ersten Hörspiel in Bezug auf die Verhörsituation wird hier die Erwartung bezüglich der Taxifunk-Kommunikation ständig konterkariert, sodass sich die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf die Fülle der Klangereignisse selbst richtet. Popmusik kommt ab und zu vor, dominiert aber nicht den Charakter des Stücks, auch wenn es mit Hey Joe von Jimi Hendrix beginnt und endet. Zu den Kennzeichen des Taxifunks gehören: Sprechen ins Mikrophon, Funksignale, Störungen, Rauschen, kurze Ansagen von Örtlichkeiten, Abfragen von Wagennummern. Schon daraus könnte ein abwechslungsreiches Hörspiel entstehen, jedoch enthält das Hörspiel Nr. 2 viel mehr akustisches Material: katholische Liturgie („Ave Maria, gratia plena“), gesungene Messe („Agnus Dei“), Hollywood-Filmmusik (Sabrina), MaultrommelKlänge, gesprochene Texte mit Echo-Effekt, gesungene Texte auf die Melodie von Yellow Submarine, Harmonien eines Blues, gespielt auf der Bluesharp, chorisches Sprechen, unmotiviertes Lachen, Rauschen ohne Bezug zur Funkkommunikation, Fragmente aus Popsongs. Hinzu kommen rein sprachreflexive Passagen, wie sie
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sich schon im Roman Die Hornissen finden (das Wort „sich verstecken“, Handke 1983, 199), etwa zu dem reflexiven Verb „sich erbrechen“ [07:56] (Text: Handke 1970, 37), Paradigmen wie „Neger, Farbiger, Schwarzer“ usw., schließlich Textsortenmuster, z.B. Sprichwörter oder Witze (die natürlich keine sind, nur so erzählt werden, wie es die Konvention vorsieht: „Oder kennst du den?“, Handke 1970, 43f.). Jahrzehnte nach der Entstehung seiner „formalistischen“ Texte, Theaterstücke und Hörspiele gibt sich Handke im Versuch über die Jukebox (1990) Rechenschaft über sein Verhältnis zur Popmusik. Wahrscheinlich sozialisationsbedingt erschien sie ihm in seiner Jugend als „Un-Musik“ (Handke 1990, 83), zu der er sich aber „schlechten Gewissens“ hingezogen fühlte, wenn sie aus einer Jukebox erklang. Das änderte sich, als, wiederum aus einer solchen Box, Musik der Beatles zu hören war. Handke beschreibt dieses Erlebnis als „Levitation“ (ebd., 88), deren nachhaltige Wirkung für ihn darin bestand, dass er wenig später auch – und bald überwiegend – „unernste“ Platten (mit Popmusik) kaufte. Nimmt man diese, sicherlich aus der Rückschau stilisierte, Darstellung ernst, so erscheint es als nicht selbstverständlich, dass in den intellektuell durchaus anspruchsvollen Hörspielen aus der Frühphase von Handkes Schaffen Popmusik angespielt wird. Im Text zu dem fast ohne Worte auskommenden Geräuschhörspiel Geräusch eines Geräuschs (WDR 1970) macht der Autor sogar eine diskographische Angabe, so als habe er dafür nach etwas Passendem in seiner Plattensammlung gesucht: „Sehr leise wird Musik hörbar: ‚Mourning morning, sad day, --- mourning morning, sad day...‘ aus dem Lied ‚Mourning Sad Morning‘ vom Album Free der FREE, Island records ILPS9104...“ (Handke 1970, 25). Die Popmusik ist in Handkes Hörspielen Bestandteil eines Arsenals von Materialien, die bei den Hörern nicht das Wiedererkennen, sondern Irritation hervorrufen sollen.1 Diese Materialien stehen nicht in semantischen Äquivalenzbeziehungen zueinander, sondern sie sind absichtsvoll disparat. Sogar die Rahmensituationen (Verhör, Taxifunk), die einen Rest von Orientierung geben könnten, werden gewissermaßen perforiert bzw. durchlässig gemacht. Scheinbar bekannte Dinge sollen als fremd erscheinen und damit, gemäß der Intention des Autors, „Anlässe zu einer Reise durchs Bewußtsein“ geben (Handke, zit. nach Mixner 1977, 94). Mixner sieht allerdings die Gefahr, dass das Hörspielpublikum sich gegen diese Erfahrung sperren könnte, falls es den „Bruch mit [s]einer Erwartungshaltung“ nicht toleriert (ebd.). Damit unterliegen diese Stücke den Rezeptionsbedingungen von Werken der literarischen Moderne bzw. künstlerischen Avantgarde und sind nicht als Pophörspiele zu klassifizieren. Gemeinsamkeiten haben sie mit den Neuen Hörspielen von Franz Mon, Paul Pörtner, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker und anderen.
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Dabei geht er deutlich weiter als Wondratschek in seinem Paul (vgl. Kap. 8.2).
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Viel später greift FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS (*1943) mit seinem vergnüglichen Hörspiel Die Minute mit Paul McCartney (RB/WDR 2006) auf ein anderes Vorbild zurück. Der Text erinnert an die Exercices de style (1947) des französischen Dichters und Sprachexperimentators Raymond Queneau. In diesem Werk, das von Ludwig Harig und Eugen Helmlé ins Deutsche übersetzt wurde, wird eine alltägliche Geschichte im ‚Autobus S‘ 99mal auf verschiedene Weise erzählt.2 F.C. Delius erzählt 25mal eine Geschichte, die sich angeblich am 3. März 1967 im Londoner Regent’s Park zugetragen hat.3 Zwei deutsche Studenten seien in den Park gegangen, um Fußball zu spielen, als ein größerer Hund herbei gesprungen sei und nach dem Ball geschnappt habe. Der Herr dieses Hundes sei Paul McCartney gewesen, der die beiden Deutschen mit dem Satz beruhigt habe: „Don’t be afraid, she’s a coward.“ Als der Musiker weiterging, sei ihm eine Gruppe junger Mädchen gefolgt, die ein Autogramm, Küsse und Verabredungen von ihm wollten. Die Deutschen, des Englischen nicht vollends mächtig, hätten zu Hause im Wörterbuch das Wort „coward“ aufgesucht und bei der Gelegenheit eine neue Vokabel gelernt. Diese Geschichte variiert Delius stilistisch, grammatisch sowie in Hinsicht auf Textsorten, Sprecherrollen und Intonationsvarianten. In den „Memo-Arien“ aus dem Jahr 2005 werden abwechselnd männliche und weibliche Stimmen eingesetzt. Stilistisch werden alle möglichen Funktionsstile durchprobiert: Alltagsrede (in Augenzeugenberichten), Sachstil (z.B. in Pressemeldungen), wissenschaftlicher Fachstil (es kommen ein „Beatleloge“ und ein Psychologe zu Wort), hoher poetischer Stil (mehrmals setzt ein Poet mit den Worten „Oh du...“ zu einem Hymnus an, wobei er höchstes Pathos in seine Stimme legt). Grammatisch wird die Geschichte u.a. in Negationen, in Superlativen und, hypothetisch, im Konjunktiv II erzählt. Eine Variante, von einer Frau sehr schnell gesprochen, besteht fast ausschließlich aus Wörtern mit dem Anlaut P. Zu den Sprecherrollen gehören nicht nur die an der Geschichte beteiligten Personen sowie weitere Augenzeugen, darunter ein Hundehasser und ein pensionierter Navy-Offizier, der davon überzeugt ist, John Lennon gesehen zu haben, sondern auch der durch ein Spiel nur zweier Personen unterforderte Ball und die empörte Hündin, die nicht als „coward“ beschimpft werden möchte. Am Ende kommt Paul McCartney mit einer eigenen Version in Form einer Gegendarstellung zu Wort. Vor allem bleibt aber von ihm der denkwürdige Satz über seine Hündin, der in die Popgeschichte eingehen soll. Vielleicht in Anlehnung an Handkes Hörspiel (Nr. 1) wird die Geschichte einmal in Form eines Verhörs mit anschließendem richterlichen Urteil erzählt. Zu den Textsorten gehören das Mär2
Die Stilübungen wurden 1957 von Radio Saarbrücken (= Saarländischer Rundfunk) als
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In der Buchausgabe (Delius 2008) sind es sogar 66 Variationen, darunter auch lyrische
Hörspiel produziert. Formen wie Rap, Sonett, Haiku und das „Fragment eines unbekannten Beatles-Songs von 1967“ (S. 30).
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chen, der Agententhriller, der Reiseführer, die gepflegte britische Gesellschaftserzählung. So ist das Stück nicht nur ein witziges Sprachspiel, sondern zugleich eine Literatursatire und ein Satire auf die damals grassierende Beatlemania. Letztere gelingt auch durch die Musik, die, von wenigen Hintergrundgeräuschen abgesehen, als zweites wesentliches Klangelement im gesamten Hörspiel präsent ist. Sie hat keine „dienende Funktion“ (vgl. Klippert 2012, 84), sondern entwickelt dadurch, dass sie selbst satirische Qualitäten annimmt, ein Eigenleben. Zur fraglichen Zeit arbeiteten die Beatles an ihrem Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band in den nahen Abbey Road Studios. Die Musik dieses Albums, mit den auf das Konzept verweisenden, bekannten Publikums- und Orchestergeräuschen und dem lang verhallenden Akkord in der Reprise, bildet in kurzen O-TonEinspielungen den Anfang und den Schluss des Hörspiels. Auch zwischendurch ist hin und wieder sekundenlang O-Ton vom Beatles-Album zu hören. Meist aber wird die Musik von drei Musikern interpretiert und verfremdet, die mit ihren Instrumenten Klarinette, Euphonium4 und Gitarre sowie Drehorgel einen eigenen Sound beisteuern. Dabei musizieren sie durchaus im Geist der Beatles, die auf ihrem Konzeptalbum für die damalige Popmusik untypische Instrumente verwendeten, darunter auch die Klarinette in dem Stück When I’m Sixty-Four. Im Zentrum des Hörspiels stehen das Titelstück und das scheinbar optimistische, tatsächlich eher pervertierte Liebeslied Getting Better, für das die Aufnahmen am 9. März begannen, also wenige Tage nach dem Märztag, an dem die Szene spielt. Im Text dieses Liedes beweisen die Beatles ihren schrägen Humor, indem sie das „getting better“ einen Mann singen lassen, der zuvor seine Frau misshandelt und von den Dingen, die sie liebte, gewaltsam abgehalten hat. Es geht also aufwärts, weil es schlimmer nicht mehr kommen konnte. In dem Orpheus-Märchen nimmt Delius das Thema auf: Die beiden Männer haben „niemals mehr wie einst auf wehrloses Leder getreten“ [37:08] und Orpheus komponierte daraufhin das Lied Getting Better. An dieser Stelle wird das BeatlesStück im O-Ton eingespielt, während die drei Musiker sonst oft nur die bekannten Harmonien aus dem Album anklingen lassen, Melodien fragmentieren oder durch die Spielweise ihrer Instrumente verfremden. Im Verein mit dem Komponisten Michael Riessler und der Regisseurin Christiane Ohaus5 gelingt dem Autor Delius das Kunststück, den Humor der Beatles und die Ideen, die ihr Konzeptalbum zu einem
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Dabei handelt es sich um ein tiefes Blechblasinstrument. Ohaus ist die Regisseurin einer großen Anzahl von Hörspielen, darunter auch von dem in Kap. 9.2 besprochenen Hörspiel Hello, I’m Glen Sherley von Ludwig Fels, das im selben Jahr produziert wurde wie das Stück von Delius. Ohaus und Riessler konzipierten auch das Hörspiel Das rote Gras (DLR/NDR 2004) nach dem Roman L’herbe rouge von Boris Vian.
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der originellsten der Popgeschichte machen, kongenial in ein sprachexperimentelles Hörspiel in der Nachfolge Raymond Queneaus zu übertragen. Die Minute mit Paul McCartney kann deshalb zu den herausragenden Pophörspielen gezählt werden.
16.2 K LANGLANDSCHAFTEN
UND
B ILDOBERFLÄCHEN
Für fortgeschrittene Hörerinnen und Hörer eröffnet sich ein weites, inzwischen unübersichtliches Feld von Klang-, Sound-, Medienexperimenten, Audio Art und Soundscapes – von Hörstücken also, die sich eigentlich jeder Klassifikation entziehen, aber immer noch Sendeplätze für Hörspiele besetzen. An den Produktionen sind Schriftsteller, Musiker, Performance-Künstler, Regisseure und Techniker beteiligt. Häufig verwenden sie Originaltonmaterial aus den Bereichen der Pop-Art, Popmusik oder Popliteratur, das auf unterschiedliche Weise und in sehr verschiedenen Situationen gewonnen wurde: Beispielhaft zu nennen sind Interviews, Außenaufnahmen; Dokumentationen von Happenings, Bühnenaufführungen, Konzerten; Tonmaterial aus Radio- und Fernsehsendungen usw. Die elektronische Verfremdung dieses Materials durch Hall, Verzerrung, Echo, Overdubbing, Scratching, Sampling, Pitching usw. bestimmt bei vielen dieser Stücke den Höreindruck. Akustische Archivalien werden verfremdet und offenbaren einen bislang unentdeckten Sinn oder überraschende Stimmungswerte, die auch durch den Klang der Tonträger entstehen und durch beigemischte Musik verstärkt werden können. In manchen dieser Hörstücke sind die Wortanteile gering, so dass im Sinne Friedrich Knillis von „Schallspielen“ gesprochen werden kann. Wer mehrere solcher Stücke nacheinander hört, bewegt sich durch ein akustisches Museum der underground-Kunst bzw. des „subversiv-experimentellen“ Avant-Pop. Die diesen Hörspielen zugrunde liegenden Konzepte lassen sich eher intuitiv erfassen, als dass sie kognitiv zu erschließen wären. Manchmal verhält es sich aber auch so, dass der vom Rezipienten gesuchte Sinn gerade in der Demonstration von dessen Abwesenheit liegt. Das zeigt z.B. die hin und wieder im O-Ton zitierte Performance Ja, Ja, Ja, Ja, Ja, Nee, Nee, Nee, Nee, Nee von Joseph Beuys aus dem Jahr 1968. Über eine Stunde lang spricht der Künstler diese Worte in verschiedenen Intonationen, teils auch lachend, wobei die Tonbandaufnahme auch zufällige Geräusche enthält, die von einem dabei anwesenden Publikum stammen. Ein früher Versuch, einen Ort akustisch erfahrbar zu machen, also ein Soundscape (das damals noch nicht so hieß) zu erstellen, ist HUBERT FICHTEs (1935-1986) fast zwei Stunden langes Dokumentarstück Djemma el Fna – Der Platz der Gehenkten (SWF/NDR 1971). Der Ort ist symbolisch für das Lebensgefühl der Achtundsechziger. Viele Hippies unternahmen Trips nach Marokko und strandeten entweder in Tanger, der Stadt der Beatniks, oder zogen weiter nach Marrakesch, wo
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der „Platz der Gehenkten“ ein unausweichlicher Treffpunkt war. Fichte lässt auf dem Platz ein Tonband laufen, mit dem er die über den Tag wechselnden Geräusche, Stimmen, Gesänge und Instrumentalmusik aufnimmt. Ob das Material durch Schnitt und Montage verdichtet wurde, erschließt sich dem Hörenden nicht. Diese Tonspur läuft die ganze Zeit als Hintergrund mit, während im Vordergrund fünf sehr ähnlich klingende Männerstimmen das beschreiben, was auf dem Platz zu beobachten ist. Darüber hinaus geben sie Erzählungen von Einheimischen wieder, erläutern deren Sitten und Gebräuche oder lesen Suren aus dem Koran vor. Da die Sprecher das Präsens verwenden und der Platz akustisch stets präsent ist, wird der Hörer zum Mit-Beobachter, aber wegen des durchweg sachlich distanzierten Tons nicht zum Mit-Erlebenden. Zwar kommen in dem Hörspiel auch Hippies vor, aber deren Lebensgefühl überträgt sich nicht auf den Hörer, anders etwa als in Hadayatullah Hübschs Hörspiel Keine Zeit für Trips (vgl. Kap. 8.7), das in Teilen auch in Marokko spielt. „Der mehr dokumentarische als erlebende Fichte“ (Penzel/Waibel 2004, 100)6 gilt vor allem wegen seiner unkonventionellen Lebensweise und wegen seines Romans Die Palette (1968), in dem er das damals so genannte Gammler-Milieu in einem Hamburger Lokal genauestens beschrieb, als früher Popliterat. Legendär ist seine Lesung im Hamburger „Star-Club“ aus diesem Roman. Fichtes protokollarische, vom Anspruch her ethnographische Schreibweise wurde bewundert, aber unter ästhetischen Gesichtspunkten auch kritisiert. So schrieb Reinhard Baumgart 1968 im SPIEGEL: „Wozu also dieser effektvolle Aufwand an Kenntnissen und Arrangement? Wie uns der allgemeinverbindliche Appell dieser Spezialstudie verkauft werden soll, ahnte ich: als Herausforderung der spätbürgerlichen Gesellschaft natürlich.“ (Baumgart 1968, 113) Wenn Baumgart den „eigene[n] Standpunkt“ des Erzählers vermisst, so kann eben dies auch als Stärke des Romans gesehen werden: Dem genauen Blick des Erzählers, der in der Stellung eines beteiligten Beobachters auftritt, entspricht die filmische, in „Takes“ zersplitterte Schreibweise, die für die äußere Textgestalt charakteristisch ist. Der Erzähler im Hörspiel, der sich nur an wenigen Stellen zu erkennen gibt, hat nicht nur einen genauen Blick, sondern er kann auch gut zuhören. Ihm fehlt die Selbstbezogenheit der Hippies, deren Treiben die Einheimischen gleichmütig hinnehmen, wobei deren Unsauberkeit sie befremdet [01:10:34]. Mit dem Lautspiel „Hippie, Sippie, Tippie“ machen sie sich über sie lustig. Interessanter für sie sind die anderen Touristen, weil sie für ihr Überleben wichtig sind. Mit ihnen machen sie Geschäfte, nehmen ihnen für Fotos und Gaukelspiele Geld ab, bestehlen sie oder bekommen von ihnen Almosen. Annähernd ohne Wertung, ein Unbehagen über das Wohlstandsgefälle nur andeutend, registriert der 6
In dieser Arbeitsweise sehen die Jörg-Fauser-Biographen Penzel und Waibel den wesentlichen Unterschied zwischen dem älteren Fichte und dem das unmittelbare Erleben in Literatur umsetzenden Fauser.
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Beobachter all diese Vorgänge. Mit der Zeit verändert der Platz die Gefühle des Erzählers, der sich im Februar/März 1970 sechs Wochen in Marrakesch aufhält. Während er am Anfang sagt: „Ich fühle mich glücklich auf der Djemma el Fna […] nicht im Sinne des Eintreffens eines Ideals […] aber in einem niederen, vegetativen Sinne“ [17:58ff.], stellt er gegen Ende fest: „Der Platz Djemma el Fna macht mich krank. Ich erkenne nur noch das Abstoßende [1:31:55]. „Ich sehne mich nach dem sozialen Wohnungsbau.“ [1:33:35] Fichtes ins Hörspiel übertragene ethnographische Feldforschung, die zugleich eine Erforschung des eigenen Ichs ist, dürfte in dieser Form einmalig bleiben. Andere Möglichkeiten, einen Ort, in diesem Fall die Stadt Istanbul, über seine Akustik erlebbar zu machen, erproben ANDREAS AMMER und der Musiker SAAM SCHLAMMINGER (*1966) mit ihrem Hörstück Sehe dich Istanbul, meine Augen geschlossen. Electric Field Recordings (BR 2008). Die vorweg gemachten Tonaufnahmen in den Straßen und Lokalen Istanbuls werden in einer musikalischen Tonspur des Hörspiels stilisiert und ästhetisiert. Als Originaltöne erkennbar sind die Möwen am Bosporus, hin und wieder Geräusche aus Cafés und Straßenlärm (Autohupen), die Erzählungen von Bewohnern der Stadt und einige türkische Gesangsstücke. Saam Schlamminger versucht mit seinen Kompositionen den Sound der Großstadt wiederzugeben, der dem Text unterlegt ist. Mehrmals erklingt die Musik, eine Art meditativer Elektro-Pop mit orientalischem Einschlag, auch minutenlang allein. Der das Hörspiel beherrschende Text ist eine von dem Schriftsteller Feridun Zaimoglu mit Unterbrechungen erzählte Liebesgeschichte, die er als Siebzehnjähriger in Istanbul erlebte. Die Art, wie Zaimoglu diese Geschichte, manchmal sich korrigierend, vorträgt, lässt auf ein spontanes Sich-Erinnern, also auf einen nicht vorformulierten Text schließen. Der Titel des Hörspiels ist der Refrain eines berühmten sechsstrophigen Gedichts an und über Istanbul des Dichters Orhan Veli aus dem Jahr 1941, das im Hörspiel vorgetragen wird [37:55-40:00]. Dazu passend ist Ammers und Schlammingers Hörspiel weniger eine Erforschung der Atmosphäre und Lebensbedingungen Istanbuls als vielmehr eine Liebeserklärung an diese Stadt. Dieses Hörspiel ist ein Teil des umfangreichen experimentellen Hörspielwerks von Andreas Ammer, der in Zusammenarbeit mit Musikern die Grenzen der Kunstform immer wieder zu erweitern versucht. Seine auf klassischer Literatur basierenden Hörspiele wurden bereits ausführlich dargestellt (vgl. Kap. 10.2 und 10.3). Ein frühes Beispiel für seine Arbeitsweise sind die Benjamin-Loops (BR 1992), die mit O-Tönen und rockiger Musik Walter Benjamins letzte Reise rekonstruieren. Gegen Ende des Stücks hört man zu dem wiederholten provokanten Ausruf „Vergesst Benjamin!“ einen Loop aus dem Anfangsriff von Jimi Hendrix’ Purple Haze. Für Diskussionen wegen womöglich verletzter Pietät sorgte das 2002 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnete Stück Crashing Aeroplanes (Fasten
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your seat belts) (WDR/DLR 2001), dessen Originalton-Material den Cockpit Voice Recordern abstürzender Flugzeuge entnommen ist. Interpretiert wurde das Stück als Requiem, Memento Mori und Gegenentwurf zu Brechts optimistischer Kantate Der Lindberghflug (Berliner Funkstunde 1929; auch unter dem Titel Der Ozeanflug bekannt). Zum im Wortsinn un-erhörten Erlebnis wird die Begegnung mit moderner Literatur, wenn in LiMo on tape – Moderne zum Mitnehmen (SWR 2011) Ammer und FM Einheit die im Marbacher Literaturarchiv dokumentierte deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts musikalisch aufbereiten. Alte, teils verrauschte und knisternde OTöne werden kombiniert mit Expertengesprächen und neu aufgenommenen Lesungen durch Schauspieler, denen rhythmischer Chorgesang, Pizzicati und treibende Beats beigemischt sind. Andreas Ammer tritt selbst als Archivbesucher auf und spricht mit Fachleuten. Das dabei entstehende Material wird mitunter gesampelt und für Techno-Tracks verwendet. Dialogisch die Zeiten überspannend, wird Literaturkritik, etwa an dem völkischen Dichter Hans Grimm, eingeflochten. Ausgiebig bedient wird die Lust des Literaturkenners am Wiedererkennen, z.B. des klar und scharf artikulierenden Arno Schmidt oder der Stimmen von Martin Heidegger, Hölderlin zitierend, oder von Peter Handke, den Autoren der Gruppe 47 „Beschreibungsimpotenz“ vorwerfend. Daneben gibt es unerwartete Archivalien zu hören: Mit F. C. Delius führt Ammer ein Telefongespräch über die bei der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ in Mogadischu entstandene Tonbandaufnahme, die der Autor für sein Werk Mogadischu Fensterplatz (1987) verwendete. In ihrem neuesten Werk Sie sprechen mit der Stasi (WDR 2017, Hörspiel des Monats April 2017) porträtieren Ammer und Einheit die DDR aus Tonbandaufzeichnungen, die von Anrufen bei der Stasi und von Verhören erhalten sind. Häufig sind die als „Teilnehmer“ angesprochenen Anrufer Denunzianten. Manche machen ausdrücklich „Telefonterror“, schimpfen auf die „sogenannte Mauer“ und werden entweder förmlich abgefertigt oder einfach abgehängt. Als das Fernamt in Frankfurt am Main einen Anrufer aus Kanada an jemanden vermitteln will, der Englisch oder Französisch spricht, ist der „Offizier vom Dienst“ ratlos. So weltoffen und polyglott ist man bei der Staatssicherheit nicht. Zum Schluss dokumentieren Stasi-Leute ihren eigenen Untergang, indem sie die Parolen der Demonstranten vom November 1989 ins Mikrophon vorlesen. Die Telefonhörer-Akustik und die sparsam eingesetzte Musik, Töne einer gestopften Trompete oder wabernde elektronische Klänge, verstärken die melancholische, triste Stimmung, die das Hörspiel aufkommen lässt. Bunter geht es in den Pop-Dokumentationen zu, die das anarchische Schaffen von Künstlern ins Hörspiel übersetzen. OLIVER AUGST (*1962), Komponist, Sänger und Autor einer Reihe von Pophörspielen, beschäftigt sich in „THE WHOLE WORLD IS WATCHING: WEATHERMAN 69“: As told by Raymond Pettibon (HR 2008) mit
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dem im Titel genannten Kunstbuch im Pop-Art-Stil des US-amerikanischen Untergrundkünstlers RAYMOND PETTIBON (*1957). Dies geschah unter besonderen Produktionsbedingungen, wie der Ankündigung in der ARD-Hörspieldatenbank zu entnehmen ist: „Die vom hr2-Hörspiel initiierte Bühnenfassung ermöglichte lange, im Hörspielstudio nicht realisierbare Probenzeiten. Das Ergebnis und die Energie der Live-Aufführung wurde dann in einem getrennt-kanaligen Mehrspurmitschnitt aufgezeichnet, der als Material in einer Studioüberarbeitung ein neues, auch strukturell neues Stück (z.B. mit Nachaufnahmen der deutschen Stimme von Michaela Ehinger, Einfügung von O-Ton Tapes) für 2 Stereolautsprecher überführt wurde. Diese Versuchsanordnung, die mit dem offenen Materialbegriff der Produktion korrespondiert, erprobt zugleich, dass Live-Hörspiel vielleicht mehr sein kann als ein nur mischtechnisch ausgebesserter Live-Mitschnitt.“
An der Produktion beteiligt waren, neben Augst, Pettibon selbst, Schorsch Kamerun, der japanische Noise-Musiker und Multi-Instrumentalist Keiji Haino sowie einige Schauspielerinnen und Schauspieler. Die Themen des als Musical angekündigten Hörspiels sind Revolution, Drogen und Sex. Anarchistische, zur Gewalt gegen die Herrschenden und den Staat aufrufende Kommuniqués und Ansprachen auf Englisch und Deutsch, die in verschiedenen Akustiken, von Megaphon- bis StudioQualität, vorgetragen werden, wechseln mit Jazzrock, Freejazz, Noise-, Schlagzeug- und Mundharmonika-Passagen. Musikalisches Leitmotiv ist eine sich wiederholende, schnelle Bassfigur, die am Anfang und später immer wieder gespielt wird. Sprachliches Leitmotiv ist das Wort „resist“ mit diversen adverbialen Attributen: resist beautifully, spiritually, actively, lovingly usw. Klatschen, Schreien, Röcheln, Würgen, Flüstern, elektronische Geräusch-Verzerrungen und Übersteuerungen strapazieren das Gehör und sorgen für Spannung, Vergnügen und ständige Überraschungen. Den revolutionäre Reden haltenden Pettibon feuert das Publikum mit Lachen, Rufen und rhythmischem Klatschen an. In der Mitte des Hörspiels wird die Geschichte der amerikanischen Anarchistengruppe Weatherman ’69 erzählt, die ihren Namen einer Textzeile von Bob Dylan verdankt: „You don’t need a weatherman to know which way the wind blows.“ [28:59] Aus der Distanz von 20 (Erscheinen des Comic-Buchs) bzw. 40 Jahren (Hörspiel-Produktion) wird die subversive Haltung selbst mit Witz unterminiert. Die Revolution erscheint in manchen Sprüchen als lustvoller Ego-Trip: „Marx hat’s mir echt besorgt. […] Es war wie Acid.“ [21:17] „Siehst du, was der Kapitalismus mit uns macht: Jede Zahnbürste ist unterschiedlich.“ [45:15] Nach der Melodie von I’m Dreaming of a White Christmas singt jemand falsch und betont dilettantisch: „I’m dreaming of a white riot.“ [04:27ff.] Pettibon befeuert mit seinen Plakaten (für Black Flag), Plattencovers (Sonic Youth) und Comic-Büchern einen Post-Pop-Diskurs, den Markus Casper ab den 1980er
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Jahren beobachtet: Wie kann Pop noch subversive Qualitäten bewahren, wenn (fast) alles Pop ist? (Vgl. Casper 2011, 171) In der Hörspiel-Nische wird der subversive Pop aktualisiert, neu konturiert, jedenfalls mehr als konserviert. Sein Hörstück shashlyk for paik (BR 2007) widmet ULRICH BASSENGE dem 2006 verstorbenen koreanischen Komponisten und Medienkünstler Nam June Paik. Der Titel erinnert an Paiks Installation „SchallplattenSchaschlik“, deren Prinzip Bassenge formal aufnimmt: Sein akustisches Schaschlik umfasst zehn Teile, die von elektronisch verfremdeten Stimmen angesagt werden und irritierende Instruktionen an die Radiohörer enthalten („Vier. Hör das Radio sehr leise. Fünfmal wiederholen.“). O-Töne, vor allem Ausschnitte aus Interviews mit dem humorvollen, meist deutsch sprechenden Paik, und von Publikumsreaktionen auf Paiks Installationen, vor allem Lachen, werden garniert mit Scratches, galaktischem Rauschen, Gekreisch. Dabei wird auch an gemeinsame Kunstaktionen mit Joseph Beuys erinnert, dessen „Ja ja“-Performance eingespielt [22:08] und von Paik nachgesprochen wird. Letztlich werden Paiks programmatische Äußerungen in einer Art Computermusik, in der verschiedene Stilrichtungen von Rock bis zu moderner Klassik anklingen, geschreddert. So wie Paik das Fernsehen und später den Video-Bildschirm zu Kunstobjekten machte, so geschieht es in diesem Hörspiel mit dem Radio: Die verfremdeten Ansagen fordern zum alternativen Gebrauch des Geräts auf. Ansage neun lautet: „Schalte das Radio aus“ und widerspricht damit vehement dem Durchhör-Imperativ. Nach der Absage des Hörspiels ergeht unerwartet noch eine Aufforderung an die Hörer: „Zehn. Zerstör das Radiogerät und hör diesem Programm mit einem anderen Radiogerät zu.“ Mehrere Hörspiele beschäftigen sich mit dem Pop-Art-Künstler Andy Warhol und seiner Umgebung.7 Radikal experimentell und absolut kompromisslos in Hinsicht 7
Darunter das halbdokumentarische Stück Onz Loh. Die Frau, die auf Andy Warhol schoss (SRF 2012) von PETER MORITZ PICKSHAUS (*1955) über die feministische Schriftstellerin und Warhol-Attentäterin Valerie Solanas. Zwischen Spielszenen kommentiert Pickshaus das Leben dieser begabten Frau und die Tat, der sie tragischerweise ihre Bekanntheit vor allem verdankt. Dem Autor gelingt das Kunststück, aus dem Porträt der Attentäterin ein Doppelporträt der Täterin und ihres Opfers zu entwickeln, wobei das Verhältnis stets zu kippen droht, sodass der Getroffene selbst nicht frei von Anklagepunkten bleibt. Dieser Balanceakt gelingt überwiegend mit den Mitteln des traditionellen Hörspiels, zu denen maßgeblich die Kunst des Sprecher-Ensembles gehört. – Humorvoll und hintersinnig präsentieren Musiker und Schauspieler des Wiener Burgtheaters den Künstler in ihrem als Hörspiel aufgenommenen Bühnenspiel Nothing / Special. Eine Lebensberatungsshow in 6 Kapiteln (DLR/Burgtheater 2001). Als Autoren werden Andy Warhol, Lou Reed und John Cage angegeben, aus deren Texten und anderem Material die Collage zu-
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auf traditionelle Hörerwartungen, seien sie auf Musik oder auf Hörspiele gerichtet, geht der englische Multimediakünstler und Sounddesigner ROBIN RIMBAUD (*1964), der sich programmatisch SCANNER nennt, bei seinem Versuch vor, die Kunstdoktrin von Andy Warhol akustisch aufzubereiten. In seinem Hörstück Warhol’s Surfaces (BR / intermedium records 2003) geht er von Warhol’s Satz aus: „If you want to know all about Andy Warhol, just look at the surface: of my paintings and films and me, and there I am. There’s nothing behind it.“ (Zit. nach dem Ankündigungstext in: ARD-Hörspieldatenbank) Bei den für das Stück verwendeten Original-Äußerungen Warhols interessieren Scanner offenbar weniger ihre Inhalte als vielmehr die Art, in der sie ausgesprochen werden, also Sprechtempo, Artikulation, Intonation, Pausen. Demnach hat Warhol kein Programm, sondern ist Programm. Zu den Oberflächen (surfaces) gehört auch die Klanglandschaft, in der die Äußerungen entstehen, etwa der Verkehrslärm der Großstadt, der minutenlang zu hören ist. Vervielfältigte, zum Teil sehr kurze Samples („amm“, „and-a“, „a-yes“) entwickeln zusammen mit synthetischen Tönen und Rhythmen ein klangliches Eigenleben, in dem sie als sprachliche oder parasprachliche Äußerungen kaum noch zu erkennen sind. Daraus können sich wiederum kryptische Sätze entwickeln, die mehr und mehr in den Vordergrund treten und oft wiederholt werden, allerdings ohne dass klar würde, ob sie wirklich so gesprochen worden sind: „I mean, you keep turning your down, it just never stops.“ [30:00-32:54] Manche SprachFragmente erinnern wegen ihrer akustischen Eigenschaften an Botschaften von Astronauten, die aus Raumkapseln die Erde erreichen. Am Ende ist es offenbar Rimbaud selbst, der die Imagination des Hörers mit einem impressionistischen Text anregt, den er zu rhythmisierter, in Trance versetzender Computermusik spricht. Schließlich steigt er mit der Aufzählung von Markennamen (Campbell’s Soup), Werbesprüchen und Kultfiguren des Pop wie Superman, Popeye, Hedy Lamarr wieder zu Warhol’s Oberflächen auf. Als Soundpainting nach William Turner wird das Hörspiel „... or the Loves of Painting and Music“ (DLR 2007) von NADJA SCHÖNING (*1975) angekündigt. Dieser Versuch, Licht und Farben aus Turners Malerei in Klänge zu übersetzen, wobei auch die Möglichkeiten der Studiotechnik genutzt werden, Raumeindrücke zu erzeugen, ist ein Sprach- und Medienexperiment zugleich. Durch Zitation von gereihten Sprachpartikeln aus Turners Verse Book durch den englischen Schauspieler Nigel Charnock werden der Klang und die Bedeutung englischer Wörter dazu genutzt, die aus Geräuschen und Musik komponierten Klanglandschaften zu ergänzen und zu unterstützen. Der Landschaftseindruck entsteht durch intensive Naturlaute wie sammengesetzt ist. Live (und schräg) gespielte Musik von Lou Reed und Velvet Underground macht das Stück zum Musical.
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Wasserrauschen, fallende Tropfen, Tierstimmen bzw. von Menschen gemachte Geräusche, etwa Glockenläuten oder das Zischen von abgelassenem Dampf, die zunächst naturalistisch da sind, dann verfremdet und zum Material für eine musikalische Komposition werden, die am besten mit den Worten aus dem Text „floating notes“ [48:30] beschrieben ist. Der Eindruck des Fließenden, Verwehenden herrscht vor, es gibt aber auch dramatische Abschnitte, mit denen Gewitterstimmung erzeugt wird. Charnock liest dann schneller, seine Stimme geht in Schreien über, bis nach einer Pause wieder Ruhe eintritt. Hinein verwoben und durch die elektronische Verfremdung hindurch erkennbar sind Stücke der populären Klassik wie Händels Arie Lascia ch’io pianga [30:5331:45] und Jacques Offenbachs Barcarolle [47:35]. In seinen zusammen mit dem Hörspiel gesendeten Erläuterungen macht Klaus Schöning darauf aufmerksam, dass William Turner sein skizzenhaftes Verse Book führte, weil ihm ein „intermedialer Dialog von Poesie und Malerei“ wichtig war. Das Hörspiel erweitert diesen Dialog zum Trialog, indem es synästhetische Wahrnehmungen der Aufnahme durch das Ohr zugänglich macht. Mancher, der das hört, wird von Musik nicht sprechen wollen. Neue Bezeichnungen wie Audio Art oder Ars Acustica zeigen letztlich nur die Unmöglichkeit oder Überflüssigkeit von Grenzziehungen zwischen den Künsten und Gattungen. Als dialektisches Gegenstück zu Schönings Klanggemälde kann man das Hörstück Electric Ladyland (BR2016) von MICHAELA MELIÁN (*1956) rezipieren. Beide Künstlerinnen beziehen sich auf die Romantik. Während bei Schöning Schlegels und Novalis’ Idee einer „progressiven Universalpoesie“ aufscheint, ist es bei Melián die Schreckensvision einer rundum vermessenen Welt, einer Welt der „Zahlen und Figuren“ (Novalis). Die Künstlerin, einst Mitbegründerin der Punkband F.S.K. und Autorin mehrerer preisgekrönter Hörspiele,8 orientiert sich am 2. Akt der Oper Hoffmanns Erzählungen von Jacques Offenbach. Dessen Titel Olympia verweist auf die „leblose Puppe“ gleichen Namens in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann. Im weiteren Verlauf des Hörspiels werden dieser Figur der Golem und der Cyborg an die Seite gestellt. Das mechanische Funktionieren dieser Puppe, z.B. beim Walzertanz, stellt Melián musikalisch in einer Art Spieldosenmusik dar, ergänzt durch deutsche und englische Texte, die performatorische Akte rein technisch interpretieren und auf ihre Funktionsmechanismen reduzieren. Die sehr langsame, stockende Musik, die u.a. von einem Kinderchor gesungen wird, und die immer wieder vorgelesenen Buchstabenreihen sowie die Zelebration von Einzeltönen verstärken den Eindruck des Unverbundenen, Programmierten. Uneindeutig ist der (mögliche) Bezug zu Jimi Hendrix’ Song Have You Ever Been (To Electric Lady8
Darunter die Reihe Memory Loops - 300 Tonspuren zu Orten des NS-Terrors in München 1933-1945 (BR 2010).
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land) und der Textzeile „Good and evil lay side by side while electric love penetrates the sky“.9 Das Hörspiel wurde im Rahmen einer Museumsausstellung, in der die Musik in einer technisch aufwendigen 16-Kanal-Klanginstallation durchwandert werden konnte, vom Bayerischen Rundfunk urgesendet. Den Schlusspunkt zu diesem – notwendig unvollständigen – Überblick über neueste Hörspielexperimente könnten die beiden Hörspielmacher WITTMANN/ZEITBLOM10 setzen, deren Feature Black Noise (WDR 2016) die mögliche zerstörerische Wirkung von Infraschall in einer Sonic Warfare dokumentieren. Das Vorhaben erwies sich als technisch undurchführbar, überlebte aber als von William S. Burroughs in die Welt gesetzter Mythos, den David Bowie in einem Interview popularisierte [11:30-12:50]. Dafür gab es in Form der „Muzak“ gut kalkulierbare Einsatzmöglichkeiten synthetischer Sounds zur Förderung des Produktions- und Konsumklimas. Und bisher ungeahnte Möglichkeiten eröffnen Audio Spotlights, also gerichtete Sounds, mit denen der Hörsinn manipulierbar wird. Mit ihnen holt die Soundtechnik die dystopische Science Fiction eines Philip K. Dick ein. Ein besserer Schlusspunkt für eine Typologie des Pophörspiels ist ein dem Idealtypus nahe kommendes Stück, das den Gegensatz von Dystopie und Utopie in einer Art fröhlicher Anarchie überwindet. Gemeint sind die atlantis tapes (DLR/RBB 2007) von KLAUS BUHLERT (*1950), einem erfahrenen Hörspielregisseur und -autor, der wie kaum ein anderer sein Metier beherrscht.11 Die Tonbänder, so die Fiktion, die den Weltuntergang überdauern werden, lagern in einer weißen Kiste, auf der zwei an Becketts Landstreicher Wladimir und Estragon erinnernde Gestalten namens Smokey und Dusty sitzen. Da diese Bänder, wie sich von selbst versteht, sehr viel mit dem Radio zu tun haben, beginnt das Hörspiel mit einem Zeitzeichen. Dann folgt, überraschend, ein längerer O-Ton-Ausschnitt aus Joseph Beuys’ bereits mehrfach erwähnter, legendärer „Ja Ja Ja Nee Nee Nee“Performance, die später von Smokey und Dusty mit verteilten Rollen nachgesprochen und zu einem Disco-Beat gesungen wird. Komplementärfiguren zu den beiden 9
Die Beschreibung des Hörspiels in HörDat endet mit dieser Zeile, während sie in der ARD-Hörspieldatenbank fehlt. Hendrix’ Text ist zweideutig: Beschreibt er eine Dystopie oder eine Utopie?
10 Das sind der Schauspieler und Regisseur CHRISTIAN WITTMANN (*1967) und der Musiker und Komponist GEORG ZEITBLOM (*1962), die zusammen mehrere Hörspiele produzierten, darunter BeatTheater 2011 (DLR 2011), in dem sie untersuchen, ob es ein Beatgefühl des 21. Jahrhunderts gibt. Außerdem inszenierten sie William S. Burroughs’ Roman Die letzten Worte von Dutch Schultz als Hörspiel (WDR 2013). 11 Unter anderem verantwortet er die vielstündigen Produktionen Der Mann ohne Eigenschaften, Ulysses, Die Schlafwandler und Das Schloss.
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traurigen Clowns sind Beuys aus dem Westen und Heiner Müller aus dem Osten, von denen es heißt, sie seien sich im wirklichen Leben nie begegnet. Die Tapes inszenieren eine künstlerische Begegnung zwischen ihnen. Zitiert wird aus Müllers Tagebuch einer Reise über die Mauer in den Westen. Beuys’ Kunstprojekt „Der Kojote“ in New York [18:30-20:30] wird zum Anlass für eine Reflexion über den Umgang des Schauspielers mit dem Text. Der, so heißt es, müsse für den Schauspieler so sein wie für Beuys der Kojote: unberechenbar. Hierauf zitiert Smokey/ Müller aus der Hamletmaschine: „Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen.“ [21:30] Die Reise nach Atlantis wird in vorgelesenen Abschnitten aus Nova Atlantis (1627) von Francis Bacon geschildert, ergänzt durch Donovans berühmten Song mit dem Refrain „Way down below the ocean where I wanna be she may be.“ [33:55] Doch Atlantis ist in dem Hörspiel kein sagenhaftes untergegangenes Land, sondern die letzte unauffindbare Off-Shore-Radiostation. Im Stil eines Beatsenders mit Disco-Jingle sendet „Radio Atlantis“ trotz angekündigtem Weltuntergang weiter. Der Piratensender hat offenbar Radio DDR schon überlebt, dessen aufgezeichnete Senderansage ab und zu noch zu hören ist. Vor allem einen Hit scheint der DJ zu bevorzugen, und das ist Gimme Gimme Good Lovin’ von der Gruppe Crazy Elephant. Als Endlosschleife wird davon aber immer nur der Anfang gespielt, sodass Wiedererkennen und Raten, um welchen längst verflossenen Hit es sich dabei handelt, beim zuhörenden Publikum eins sind. Souverän spielt Buhlert mit den erzählerischen Möglichkeiten und gattungsspezifischen Mitteln des (Pop-)Hörspiels. Die Erzählebenen wechseln so oft und unvermittelt, dass beim Hören leicht die Orientierung verloren geht, was vermutlich beabsichtigt ist. Bei der Auswahl des Materials wird ein weiteres Mal die Kluft zwischen high und low geschlossen, und es wird die Grenze, die selbst der AvantPop noch nicht ganz beseitigen konnte, konsequent ignoriert. Nach dem Abschaltgeräusch des Tonbandgeräts genießen Smokey und Dusty – oder sind es Beuys und Müller? – die Ruhe, rauchen eine Zigarre und nehmen sich vor zu überleben. Denn: „Nach dem Sturm ist vor dem Sturm.“ Und es wird immer jemanden geben, der weiter sendet, und jemand anderen, der das Radio wieder einschaltet.
17. Schlussbetrachtung und Ausblick
Das Schreiben über Hörspiele verläuft anders als das Schreiben über literarische Texte. Die vorliegende Darstellung ist überwiegend aus dem Hören entstanden. Nur in einigen Fällen wurden Textvorlagen hinzugezogen. Die meisten Hörspiele mussten mindestens zweimal gehört werden, bevor es möglich wurde, darüber zu schreiben. Manchmal gelang das Schreiben aber auch während des Hörvorgangs, wobei die Herausforderung oft darin bestand, ein angemessenes Vokabular zu finden und weiterzuentwickeln. Die wissenschaftliche Terminologie für die Hörspielanalyse stellen grundlegende Werke wie „Elemente des Hörspiels“ von Werner Klippert, „Hörspielforschung“ von Karl Ladler und „Medientext Hörspiel“ von Götz Schmedes zur Verfügung. „Hörspielhören bedeutet […] einen entscheidenden individuellen Strategiewechsel in der sinnlichen Repräsentation von Wirklichkeit“, schreibt Manfred Mixner (Mixner 1991, 51). Er meint damit vor allem, dass das „kollektive Primat“ des Gesichtssinns zurückgedrängt wird. Der Wissenschaftler, der sich mit Hörspielen beschäftigt, muss ebenfalls einen Strategiewechsel vollziehen, zumindest wenn er es gewohnt ist, Texte zu analysieren und zu interpretieren. Neben narrationsspezifischen Aspekten gilt es medienspezifische Erscheinungen zu berücksichtigen, die mit der Technik der Hörspielproduktion zu tun haben. Der technische Apparat bringt eigene Zeichensysteme hervor, die nicht selten über die Sprachzeichen dominieren und die besondere ästhetische Qualität dieser Kunstform ausmachen. Wenn Paul Plamper schreibt, Hörspiel habe „per se wenig mit Überwältigung zu tun“ (in: Maske und Kothurn 3/2012, 89), so gilt das nur unter der Voraussetzung, dass man die audiovisuellen Medien zum Maßstab macht. Wer sich auf den „Strategiewechsel“ einlässt, wer bereit ist zu hören, der wird oft davon überwältigt sein, was im Hörspiel alles möglich ist, welche Schönheit und Vielfalt sich ihm eröffnet. Die Ausgangsfrage lautete: Wie hat sich eine Kunstform, die ihre Existenz der Entstehung des Mediums Radio in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verdankt, in einer Zeit der allgegenwärtigen Popkultur – und insbesondere der Popmusik im Radio – verändert? Sind die bisherigen Formbeschreibungen des Hör-
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spiels noch ausreichend, oder ist es an der Zeit, eine neue Bezeichnung für ein umfassendes Korpus von Hörspielen zu definieren? Und ist dieses Korpus so groß und vielfältig, dass es angebracht erscheint, es typologisch zu gliedern? Die nicht sehr breite, aber durchaus vorhandene Hörspielforschung lieferte dazu bislang nur verstreute Ansätze und keinerlei systematischen bzw. systematisierenden Entwurf. Ein Grund dafür mag darin zu suchen sein, dass das Vorhaben ohne Einbeziehung des mittlerweile komplexen, verästelten und teils auch kontroversen Popdiskurses nicht gelingen kann. Dabei geht es nicht nur um die Beschreibung dessen, was ‚Pop‘ eigentlich ist, und um das Problem, ‚Pop‘ zu definieren, sondern auch um kulturkritische und politische Positionen zur Popkultur. Der Behauptung, die Popkultur sei in Bezug auf bestehende politische und kulturelle Normen, womöglich sogar in Bezug auf ökonomische Funktionsweisen moderner Gesellschaften subversiv oder habe zumindest ein subversives Potential, ist von manchen Theoretikern heftig widersprochen worden. Bei denjenigen, die dieses Potential nicht grundsätzlich bestreiten, hat sich weitgehend die Auffassung durchgesetzt, dass es eine von den Marktkräften befeuerte Tendenz gibt, das ehemals dem kulturellen Untergrund zugerechnete Subversive in den Mainstream aufzunehmen und damit massentauglich (und ökonomischer Ausbeutung zugänglich) zu machen. Beim Hörspiel, dieser Nischenkunst, liegen die Verhältnisse anders. Ein Anreiz, Hörspiele zu schreiben, lag und liegt vielleicht immer noch für viele Autorinnen und Autoren darin, dass man damit relativ sicher Geld verdienen konnte. Selbst ein so umstrittener Autor wie Jörg Fauser, der sein Selbstverständnis maßgeblich aus der Kultur der Beatniks bezog und höchst nonkonformistisch lebte, entschloss sich zum Verfassen von Hörspielen zunächst aus finanziellen Erwägungen (vgl. Penzel/ Waibel 2004, 96). Dass die Kunst nach Brot gehe, ist seit Lessing ein Gemeinplatz, der glücklicherweise dem Befund nicht im Wege steht, dass die ästhetische Qualität der Kunstwerke nicht notwendig darunter leiden muss. Künstler mit guten Kontakten zu öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten durften auf einen großen Freiraum bei der Umsetzung ihrer Ideen hoffen. Der Überblick über die Hörspielproduktion der vergangenen Jahrzehnte, zeigt, dass das Hörspiel, frei nach Tucholskys auf die Satire gemünztem Diktum, alles darf. Der große Spiel-Raum, dessen sich Hörspielmacher erfreuen, erschwert die wissenschaftliche Klassifikation, macht sie aber nicht gänzlich unmöglich. Mit der vorliegenden Typologie des Pophörspiels wird ein Vorschlag unterbreitet, der sicherlich anfechtbar und keineswegs über Kritik erhaben ist. Er kann aber beanspruchen, ein Ordnungs- und Orientierungsrahmen für die Einordnung neuer und nicht mehr ganz so neuer Hörspielproduktionen zu sein. Und er dient der Inventarisierung dieser Produktionen, ohne dass er, wie bereits mehrfach angemerkt, vollständig und abgeschlossen sein könnte. Denn dazu ist die gegenwärtige Hörspiellandschaft, auch wenn man nur solche Produktionen in den Blick nimmt, die Einflüsse der Popkultur aufweisen, zu vielfältig und letztlich unübersichtlich. Vor allem ist zu berücksichtigen, dass die Grenzen
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des Hörspiels längst nicht mehr so klar zu ziehen sind wie einst in seiner Blütezeit, den 1950er Jahren, wobei eine Tendenz zu fließenden Grenzen, vor allem zum Feature, bereits um 1930 zu beobachten war. Bei vielem, was heute immer noch unter der Bezeichnung ‚Hörspiel‘ firmiert, handelt es sich im weitesten Sinn um Ars Acustica, um akustische Kunst, die im medialen Raum nicht isoliert ist, sondern vielfältige intermediale Bezüge zu anderen Kunstformen aufweist. Dies gilt für Formen und Inhalte ebenso wie für die Aufführungspraxis. Vor allem das letzte Teilkapitel der vorliegenden Untersuchung sollte dies deutlich machen. Bekannte Künstler wie Christoph Schlingensief oder Paul Plamper betonen den Aspekt, dass es sich beim Hörspiel, mehr als bei den Bildkünsten, um eine in besonderem Maß aktivierende Kunst handelt. Fantasie und Vorstellungsvermögen werden nicht bedient oder bestätigt („Genau so habe ich mir das vorgestellt“), sondern angeregt. Die intermedialen Bezüge, die mit Pophörspielen hergestellt werden, fordern das hörende Publikum auf, nach passenden inneren Bildern zum Gehörten zu suchen, sie anders einzuordnen als bisher oder neue zu entwickeln. Wie reagiert man auf die Akustikspur trivialer Gewaltfilme, wenn man ohne Bilder und in einer ungewohnten Collage mit ihr konfrontiert wird? Was lösen ein isoliertes, in einem neuen Kontext verwendetes Riff oder ein Beat aus einem trivialen Popsong aus, die man wiedererkennt, ohne genau sagen zu können, worum es sich handelt? Eine allgemeine Antwort wird es auf diese Fragen nicht geben, aber potentiell werden gewohnte Wahrnehmungs- und Denkschablonen zumindest für einen Augenblick unbrauchbar. Das mag dem einen als wenig erscheinen, während der andere hier schon eine politische Wirkung erblickt. Dass eine Häufung solcher Erlebnisse zu einem Umdenken im Sinne einer Erziehung zur Humanität führt, ist eine Hoffnung, die spätestens seit der Aufklärung mit jeder anspruchsvollen Kunst verbunden ist. Mit einigem Recht bestimmte Moritz Baßler die Popliteratur als „Literatur der zweiten Worte“ in einer „diskursiv geordneten Welt“. Das Pophörspiel kann man dementsprechend als Hörkunst der zweiten Worte und Töne bestimmen. Kritisches Potential hat es dadurch, dass es Bekanntes aus gewohnten Kontexten herauslöst, in neue Zusammenhänge stellt und ihm dadurch neue Bedeutung gibt oder zur Neubewertung herausfordert. Das ist es, was Uwe Ebbinghaus in seiner eingangs zitierten positiven Besprechung der CD-Edition Lauschangriff meint: Nicht „Affirmation des Lebensweltlich-Banalen“, sondern „intelligent-witzige Unterminierung der Spaßgesellschaft“ ist das, was viele Pophörspiele leisten. Seit der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Gattung gibt es aber auch durchaus ernste Varianten, die existentielle, politische oder auf die Medienentwicklung zielende Themen aufgreifen. Diese Untersuchung vermag hoffentlich zu zeigen, dass zumindest das Hörspiel von der kurz nach dem Jahr 2000 diskutierten Krise des Pop unberührt geblieben ist. Ob die Popliteratur am Ende ist, kann hier nicht diskutiert werden, ist aber wegen der das Lebensgefühl vieler Zeitgenossen prägenden Popkultur eher unwahrscheinlich. Das Pophörspiel ist definitiv nicht am Ende. Das gilt schon deswegen,
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da die Leitkunst des Pop, die Popmusik, mittlerweile die Hörgewohnheiten der allermeisten Zeitgenossen geprägt hat und aus unserem akustischen Universum nicht mehr wegzudenken ist. Und damit ist sie auch ein Teil des Hörspiel-Universums geworden.
18. Anhang
18.1 ABKÜRZUNGEN DER S ENDEANSTALTEN BBC: BR: DLF: DLR: DRS: HR: MDR: NDR: NWDR: ORB: ORF: RB: RBB: RIAS: SDR: SFB: SR: SRF: SÜRAG: SWF: SWR: WDR:
British Broadcasting Corporation Bayerischer Rundfunk Deutschlandfunk Deutschlandradio Schweizer Radio (Radio der deutschen und rätoromanischen Schweiz) Hessischer Rundfunk Mitteldeutscher Rundfunk Norddeutscher Rundfunk Nordwestdeutscher Rundfunk (bis 1955, dann NDR, WDR) Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg (bis 2003, dann RBB) Österreichischer Rundfunk Radio Bremen Radio Berlin Brandenburg RIAS Berlin (= Rundfunk im amerikanischen Sektor, bis 1993) Süddeutscher Rundfunk (bis 1998, dann SWR) Sender Freies Berlin (bis 2003, dann RBB) Saarländischer Rundfunk Schweizer Radio und Fernsehen Süddeutsche Rundfunk A.G. (1924-1933) Südwestfunk (bis 1998, dann SWR) Südwestrundfunk Westdeutscher Rundfunk
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Buddenbroichs oder Die Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg (WDR 2011) 204, 206 Bunker (WDR 2010) 52, 145 Café Nirwana (WDR 1974) 71 CANtales (WDR 2003) 147, 148 Captain Berlin versus Dracula (WDR 2006) 250 Category 5: Wie ich Fats Domino aus dem Hurrikan Katrina rettete (SRF 2012) 136 Chatroomdreams (SRF 2013) 163 Cobain (WDR XonRouge 2003) 290 Cobains Asche (SWR 2004) 153 Cookie Mueller (WDR 2013) 154 Corpus Stereo (WDR 2009) 290 Crashing Aeroplanes (Fasten your seat belts) (WDR/DLR 2001) 196, 315 Cut Up Burroughs (BR 1989) 90, 206 Dann sind wir Helden (WDR 2011) 135 Darkside (BBC 2013) 223, 226 Das Erlebnis einer fremden Kultur (SWF 1969) 109 das gras wies wächst (SR/BR/WDR 1969) 106 Das große Identifikationsspiel (BR/RIAS 1973) 118, 121 Das Kraftwerk (WDR 1973) 30 Das Unternehmen der Wega (BR/SDR/NDR 1954) 121 Dead men don’t pull triggers. Viktor Berger und die Leiche von Kurt Cobain (SWR 2006) 154, 300 Dead or alive. Viktor Berger und der verschwundene Gitarrist (SWR 2007) 301 Der Mann im Fahrstuhl (HR 1989) 174, 177 Der 29. Januar 1947 (NWDR 1947) 29, 65 Der Bluter von Klagenfurt (SWR 2004) 299 Der Knochen (RBB 2010) 267, 270 Der Lindberghflug (Berliner Funkstunde 1929) 316 Der letzte Hippie (NDR 2009) 303 Der Ruf (Reichsrundfunkggesellschaft 1932) 86 Der Tierplanet (WDR 1972) 90, 92, 93-95, 101 Der Tod der Nilpferde (SR 1977) 71 Der Tod des James Dean (BR 1997) 43 Der Tod des James Dean (SWF/HR/RB 1959) 29, 54, 65, 66, 69, 83 Deutsche Krieger 1 und 2: Kaiser Wilhelm Overdrive (BR 1991) 212 Die Befreiung des Prometheus (HR/SWF 1985) 174-177, 192 Die drei ??? (EUROPA) 19, 252
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Die Falle oder Die Studenten sind nicht an allem schuld (SDR/SR/WDR 1968) 54, 63, 127 Die Hamletmaschine (Funkhaus Berlin 1990) 193, 195, 196, 322 Die himbeerfarbene Glühbirne (WDR 2007) 101 Die letzten Worte von Dutch Schultz (WDR 2013) 321 Die Liebespopulistin (WDR 2004) 283 Die Minute mit Paul McCartney (RB/WDR 2006) 311, 313 Die wundersame Geschichte eines Ostrockers (DLF 2007) 54, 133 Dies ist kein Liebeslied! Bekenntnisse eines Pop-Besessenen (DRS 2003) 54, 131 Djemma el Fna – Der Platz der Gehenkten (SWF/NDR 1971) 313 Doktor Murkes gesammeltes Schweigen (SWF/SR 1986) 273 Dschubi Dubi (HR/WDR 1977) 32 Ein Menschenbild, das in der Summe null ergibt (WDR 2006) 162 Einschlafgeschichten für Männer aus der Sammlung Jacques Palminger (WDR 2002) 166 Electric Ladyland (BR2016) 320 Fame – Berühmt (RIAS 1980) 140 Feedback Nigger Radio Reservation (WDR 2013) 291, 292 Fleisch ist mein Gemüse (WDR/NDR 2005) 78, 134 flugbegleiter (BR 2004) 227, 231, 235 Freud’s Baby (BR 1999) 229 229-231 Friedrich Miles von Schiller Davis (SWR 2005) 211 Fünf Mann Menschen (SFW 1968) 35, 36, 57, 106, 198, 260 George: The fool on the hill (RIAS 1974) 144 Geräusch eines Geräuschs (WDR 1970) 310 H2OdH (WDR/SR 2004) 187 Hallo! Hier Welle Erdball (Schlesische Funkstunde 1928) 114 Hangman. Viktor Berger und der tote Michael Hutchence (SWR 2007) 301 Häuser (WDR/SDR/SWF 1969) 106 He, Mädel, jetzt heul doch nicht! – Wie Rita Marley zur Queen von Trenchtown wurde (SWR 2006) 138, 149 Heart Beat. My Life with Jack and Neal (WDR 2006) 72 Hello, I’m Glen Sherley (RB 2006) 149, 155, 312 Herhören, hier spricht Jesus Hackenberger! (MDR 1951) 79 Hofmanns Elixier (RBB 2005) 155 Hörspiel (WDR/HR 1968) 34, 106, 308 Hörspiel Nr.2 (WDR/SR/SWF 1970) 37, 50, 309
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Hotel California (RBB 2010) 169 Hundert nackte Kängurus (WDR 2010) 155 Hunderttausend Lo-Fi-Lieder (EIG i.A. SWR) 220 Hunter – Aus dem Leben eines Outlaws (WDR 2007 145) I killed Kirov (WDR 2006) 303 Inschallah, Marlov (WDR 2015) 303 Into the Light. Viktor Berger und Falcos letzte Fahrt (SWR 2011) 302 Irenes Mercedes (SWR 2008) 221, 222 Jackie (BR 2003) 260 John Lennon, Du mußt sterben (SWF 1971) 41, 118 John: I am the Walrus (RIAS 1974) 143 Kain-Schwarz sieht rot (HR 2011) 285 Kaputt (EIG 1970) 55, 86, 116, 117 Keine Zeit für Trips (SR 1972) 122, 123, 126, 127, 314 Kiss Flowers, Eat Babies (EIG 2012) 149 Klamms Krieg (MDR 2001) 80 Krieg (SWF 1989/1991) 158 L.A. Blues (WDR 2013) 61, 169 Lager ohne Grenzen (WDR/DLR 1999) 200, 275, 279 Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nord-Amerika (SWF/HR/NDR/WDR 1986/87) 75 LiMo on tape – Moderne zum Mitnehmen (SWR 2011) 316 Literatur letal (DLR 2007) 300 Lone Star (WDR 1996) 295 Lookalikes (BR 2011) 235 loslabern (BR 2010) 159 Lost & Found. Das Paradies (BR 2004) 201 Lucy in the Sky (RIAS/SR 1971) 118 LUIS / footage (WDR 2011) 164 MAeLSTROMSÜDPOL (EIG 1987) 177, 190 Malmgreen (SÜRAG 1929) 26, 27 Manson Revisited (WDR 1999) 290 Maschine Nr. 9 (BR/HR/NDR 1973) 101-104 Massai Hitler (WDR 2005) 290 Meyerfeldt Wüsten (WDR 2007) 291 Mingering Mike (WDR 2008) 154
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Moment, das wird Sie interessieren! (WDR 2008) 168 Moondog Rising (WDR 2010) 154 Mörderisch gute Hits (RBB 2011) 221 Mutter Tourette und ihre Kinder (WDR 2006) 165 My American Dream (SFB/ORB 1998) 169 Nico – Sphinx aus Eis (HR/SWR 2003) 151 Norwegian Wood (SWF 1967) 213, 215 Not To Touch The Earth (WDR 2011) 145 Oder die glücklose Landung (SWF 2000) 187 Ohrbrücke / Earbridge Köln San Francisco (WDR 1987) 198 ONE TWO TWO (WDR 1969) 32, 33, 43, 63, 106, 108, 110, 115 Onz Loh. Die Frau, die auf Andy Warhol schoss (SRF 2012) 318 Operation Baader Heino Komplex (WDR 2009) 246 Operation Endstation (WDR 2011) 246 Operation Nation (WDR 2008) 57, 244, 245 Orphée Mécanique (BR 2012) 256, 257 Orpheus’ Psykotron (BR 2006) 255, 257 Pannonica / Die Jazzmusiker und ihre drei Wünsche (SWR 2008) 73 Paradise Garage (WDR 2006) 154 Party Zone (SFB/HR 1994) 168 Patty Hearst – Princess and Terrorist (BR 2007) 137 Paul oder Die Zerstörung eines Hörbeispiels (WDR/BR/HR/SR 1969) 34, 35, 43, 50, 57, 96, 105, 308 Paul: Baby you’re a rich man (RIAS 1974) 143 Phil Perfect erzählt: Legenden des Rock ’n’ Roll (WDR 1994-96) 41, 57, 241 Pimp My Aufsatz (SWR 2007) 167 Pitcher (WDR 2000) 285, 287 Preislied (BR/NDR 1971) 30, 63, 104, 113 Pressures of the Unspeakable (SWR 1998) 198 Radio Dramat Mixe ’05 (WDR 2005) 217-219 Radio Inferno (BR 1993) 195, 196, 198, 199, 201 Radio till you drop (DRS 2006) 9, 54, 280-282, 284 Radioselbst (WDR 1979) 32, 34 Rafael Sanchez erzählt „Spiel mir das Lied vom Tod“ (WDR/ORF/MDR 1998) 163, 269, 270 Rashomon Hilti (WDR 2014) 292 Ringo: A Hard Day’s Night (RIAS 1974) 145
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Rocky Dutschke ’68 (WDR 1997) 247, 274, 275 Romanze (SR 1979) 72 Rosebud (WDR 2002) 200, 247, 277, 279 rund oder oval (RIAS 1971) 33 Sacht bescheid, denn com...ic! Kantomias rettet die Welt (EIG i. A. DLR/SWR 2004) 247, 248 Santo Subito (MDR/ORF 2007) 54 Sartana – noch warm und schon Sand drauf (WDR 2016) 252 Schallspiel-Studie (BR 1964) 35, 198 Schwierigkeiten beim Umschalten (HR 1978) 32 Sehe dich Istanbul, meine Augen geschlossen (BR 2008) 315 Sense (SWF 1992) 151 shashlyk for paik (BR 2007) 318 Sie sprechen mit der Stasi (WDR 2017) 316 Soundtrack (WDR 1975) 263 Staatsbegräbnis 1 (SR/WDR 1969) 30-32, 63, 106, 115, 273 Staatsbegräbnis 2 (SR/WDR 1972) 31 Stripped. Ein Leben in Kontoauszügen (WDR 2004) 63, 166 Sucking Blood (WDR 2010) 288, 290, 291 Talking exile (WDR 1998) 288, 290 The Dark Side Of The Moon (NDR 2013) 303 Tod eines Praktikanten (DLR 2007) 160 Today your love, tomorrow the world (WDR 2011) 148 Tomboy (BR 1998) 229, 230 TOP HIT leicht gemacht (WDR/NDR 2002) 54, 215 übersetzungen / translations (BR 2007) 227 Under Heavy Metal. Viktor Berger und die Leiche unter dem Bus (SWR 2007) 302 Untergang eines Tauchers (SDR 1973) 260-262, 265 Verkommenes Ufer (HR 1984) 177, 198 Waldeinsamskype (DLF 2009) 209, 210 Walk of Fame (WDR 2007) 57, 265, 267 Warhol’s Surfaces (BR / intermedium records 2003) 319 Was sollen wir überhaupt senden? (SDR/SFB 1970) 9, 37, 55, 281 Weekend (Berliner Funkstunde 1929) 27 wenn die sonne sinkt, ist für manche auch noch büroschluß! (SDR/BR 1972) 260 Wie wir den Free Jazz erfunden haben (guanako 2005) 77
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Wo ist Wotan? oder Das Schnäppchen (SWR 2008) 56 Wolokolamsker Chaussee I-II (DDR 1986/87) 180 Wolokolamsker Chaussee I-V (SWF/BR 1989) 180, 183, 184, 187, 188, 198 WORK (BR 2009) 234, 235 Working Class Hero (SWR 2009) 40, 54, 221 Zurück zum Beton (WDR 2012) 131
Personenregister Adenauer, Konrad 30, 31, 111 Adorno, Theodor W. 16, 17, 44, 51, 74, 104, 279 Ahrem, Regine 155 Albers, Hans 251 Alizée (Sängerin) 161 Ammer, Andreas 20, 50, 54, 195203, 211, 212, 222, 226, 253, 315, 316 Anders, Günther 263, 264 Angerer, Kathrin 155, 248, 290, 293 Anka, Paul 110 Aristoteles 77 Augst, Oliver 316, 317 Baader, Andreas 246 279, 290 Bach, Johann Sebastian 37, 67, 109, 110, 144 Ball, Hugo 38, 51 Baltus, Gerd 261 Bardot, Brigitte 263 Barrett, Syd 223, 269 Barthes, Roland 243, 248, 251 Bassenge, Ulrich 265-267, 318 Baudrillard, Jean 288, 289, 291, 294 Beck (Musiker) 220 Becker, Rolf 77, 79 Beckett, Samuel 213, 214, 321 Beethoven, Ludwig van 42, 45, 261 Behr, Hans-Georg 111-115, 128 Breth, Andrea 160
Behrens, Alfred 15, 40, 41, 54, 117, 118, 120-122, 128, 296-298, 304 Beiderbecke, Bix 74-76 Bek, Alexander 181 Benjamin, Walter 19, 38, 45, 108, 264, 315 Bennent, David 190, 191 Best, George 121, 122 Beuys, Joseph 205, 313, 318, 321, 322 Bhabha, Homi K. 229 Birkin, Jane 114 Bischoff, Friedrich 38, 114 Blake, William 152 Bloom, Orlando 160 Bogart, Humphrey 121, 122, 144, 270 Bohrer, Karl Heinz 30 Boulez, Pierre 18 Bourdieu, Pierre 18-20, 203, 276, 277 Bowie, David 131, 165, 321 Brahms, Johannes 42, 282 Brand, Matthias 56 Brandt, Rainer 252 Brebeck, Friedhelm 289 Brecht, Bertolt 28, 37, 38, 49, 104, 116, 162, 165, 182, 239, 264, 280, 288, 290, 316 Breckwoldt, Marion 260
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Brinkmann, Rolf Dieter 21, 43, 54, 56, 57, 86-98, 100, 101, 105, 206, 259 Bronson, Charles 270 Brötzmann, Peter 79, 190 Brückner, Christian 72, 76, 95, 121, 143, 159, 263 Bruder, Danny 285 Buhlert, Klaus 321, 322 Buhre, Traugott 256 Burroughs, William S. 57, 70-72, 90, 103, 115, 117, 197, 206208, 288, 301, 321 Bush, George W. 246 Buttgereit, Jörg 250, 265 Buzzati, Dino 253-257 Byron, George Gordon (Lord) 152 Cage, John 197, 318 Cailloux, Bernd 55 Cale, J.J. 266 Camus, Marcel 254 Capote, Truman 266 Cardinale, Claudia 270 Carstensen, Margit 276, 277, 279, 282 Cash, Johnny 51, 149-151 Cassady, Carolyn 73 Celan, Paul 152 Chandler, Raymond 121, 298, 303 Cheney, Dick 245 Cherry, Don 117 Chlebnikov, Viktor 38 Chotjewitz, Peter O. 54, 63, 104, 115, 127 Clueso (Thomas Hübner) 218 Cochran, Eddie 66, 242 Cohen, Leonard 304 Copperfield, David 245 Corman, Roger 266 Cummings, E. E. 67
Davis, Miles 54, 66, 69, 74, 77, 211 Dean, James 41, 43, 52, 54, 65-69, 83, 144 Degen, Michael 72 Delerue, Georges 160 Delius, F. C. 311, 312, 316 Devlin, Peta 252 Dick, Philip K. 321 Diederichsen, Diedrich 20, 69, 129, 132, 133, 169, 257 Djebate, Boubakar 187 Doktor, Thomas 154, 295, 298, 301, 302 Domino, Fats 51, 136, 137 Dos Passos, John 67, 68, 70 Dostojewski, Fjodor 193 Duchamps, Marcel 197 Düben, Otto 260 Dutschke, Rudi 55, 127, 247, 273275, 290 Duwner, Gerd 263 Eggebrecht, Axel 65 Einheit FM 20, 50, 54, 195, 198203, 211, 212, 222, 226, 316 Eliot, T.S. 190-192 Ende, Michael 249 Engler, Martin 300, 302 Epstein, Brian 144 Esser, Michael 168 Farin, Michael 57, 154 Fassbinder, Rainer Werner 119, 276 Faulkner, William 152, 190, 192 Fauser, Jörg 70-72, 124, 314, 324 Fels, Ludwig 149, 150, 312 Felsenheimer, Bela B 251, 252 Fichte, Hubert 138, 313-315 Fiedler, Leslie 16, 38, 97, 99, 204, 210, 253, 264, 268 Filz, Walter 285-287
P ERSONENREGISTER
Flesch, Hans 9 FlowinImmO 218 Fonda, Henry 270 Foucault, Michel 130, 229 Francis, Connie 110 Friedman, Kinky 295 Friedrichs, Hanns Joachim 199-201 Frith, Fred 177, 179 Gainsbourg, Serge 114, 236 Garbers, Gerhard 256 Gasser, Christian 54, 131, 248 Gillespie, Dizzy 66 Gillich, Rita 265 Ginsberg, Allen 66, 67, 69-71, 206 Glasmeier, Michael 55, 86, 115-117 Godard, Jean Luc 100, 234, 293 Goebbels, Heiner 20, 45, 50, 54, 56, 58, 173-181, 183-198, 226, 229 Goethe, Johann W. 9, 47, 301 Goetz, Rainald 158-160, 163, 171, 299, 300 Goldwater, Barry 110 Gosejohann, Simon 57, 244 Gosejohann, Thilo 18, 57, 244, 246, 265-267 Greiner, Benedikt 305 Greiner, David 200 Grimm, Hans 316 Groß, Martina 147 Haas, Wolf 48, 295 Hacke, Alexander 199-202 Hagelüken, Andreas 147 Hagen, Jens 30 Haino, Keiji 317 Haley, Bill 66, 107 half past selber schuld (Duo) 249 Hallwachs, Hans Peter 150 Hammett, Dashiell 121, 298 Händel, Georg Friedrich 200, 320
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Handke, Peter 21, 34, 37, 40, 48, 49 50, 55, 99, 106, 119 276, 308312 Harfouch, Corinna 152 Harig, Ludwig 30, 31, 32, 63, 106, 115, 273, 311 Harrison, George 142, 143, 144 Harvey, Lilian 293 Hayward, Charles 177 Heidegger, Martin 158, 316 Heino 246 Heintje (Hendrik Simons) 110 Heißenbüttel, Helmut 9, 34, 37, 40, 55, 281, 282, 307 Hearst, Patty 137, 138 Hensel, Kai 80 Henry, Pierre 115 Hermann, Irm 276, 277 Herzberg, André 54, 133, 134 Hesse, Hermann 102, 103 Hey, Richard 239 Hitler, Adolf 71, 104, 107, 152, 181, 212, 250, 251, 290, 293 Hoffmann, E.T.A. 320 Hoffmann, Gert Günther 263 Hoffmann, Jutta 163 Hofmann, Albert 52, 57, 155 Hofmannsthal, Hugo von 87 Hölderlin, Friedrich 193, 316 Holiday, Billie 72, 73, 163 Horkheimer, Max 16, 17, 51 Hostnig, Heinz 37 Houellebecq, Michel 164 Hussein, Saddam 57, 245 Ibsen, Henrik 278 Illies, Florian 56 Ingrassia, Anthony J. 140, 141 Irlinger, Steffen 154 Isou, Isidor 38
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Jacobi, Ernst 80 Jagger, Mick 119, 266 Jäggi, Ueli 268 Jahnn, Hans Henny 86 Jandl, Ernst 11, 35, 36, 60, 61, 106, 198, 260, 310 Jelinek, Elfriede 260, 262, 263, 265 Jones, Tom 132 Joyce, James 37, 197 Jünger, Ernst 288
Kolb, Richard 23 König, Veit 148, 149 Kowald, Peter 79 Kracht, Christian 46, 48, 49, 56 Kriwet, Ferdinand 32, 33, 43, 54, 63, 101, 103, 105-111, 116, 264 Krogmann, Hans Gerd 30 Kubin, Felix 20, 255, 256 Kubrick, Stanley 57, 267, 268, Kurosawa, Akira 293
Kafka, Franz 177, 178, 184, 249, 254, 301 Kagel, Mauricio 36, 60, 106, 198, 262-264 Kaiser, Georg 183 Kamerun, Schorsch 54, 161-163, 171, 317 Kaminski, Stefan 252 Kandinsky, Wassily 37 Kant, Immanuel 77, 162, 276, 277 Kantate, P.R. 247 Kapfer, Herbert 9, 15, 16, 29, 39-41, 69, 264 Karlweis, Oskar 293 Karsunke, Yaak 63, 127 Kasack, Hermann 86 Käßmann, Margot 246 Kennedy, Jacqueline 260 Kerouac, Jack 67, 69-71, 73, 169, 206 Kerzel, Joachim 286 Kiesinger, Kurt Georg 31, 99 King, Martin Luther 292 King, Stephen 270 Kleist, Heinrich von 175, 185, 288 Kleinau, Willy A. 80 Klippert, Werner 10, 12, 35 59, 6063, 126, 309, 312, 323 Klotz, Almut 233 Knilli, Friedrich 11, 24, 25, 40, 102, 313
La Hengst, Bernadette 233, 283, 284 LaMotta, Jake 52, 67, 68 Lehmann, Manfred 247 Lennon, John 39, 41, 44, 118, 119, 122, 143, 214, 221, 243, 311 Leonard, Margot 263 Lessing, Gotthold Ephraim 177, 301, 324 Levan, Larry 154 Lewis, George 177 Lipki, Edgar 55, 287, 288, 290-293 Lotter, Wolf 166-168 Love, Courtney 153, 154, 300 Lovecraft, H.P. 152 Lowry, Malcolm 152 Lowry, Robert 68 Luhmann, Niklas 167, 259 Mallarmé, Stéphane 38, 108 Malle, Louis 66, 69 Malton, Leslie 267, 288, 289 Manchen, Klaus 180 Mand, Andreas 48 Mann, Thomas 204, 205 Marcuse, Herbert 48, 285 Marley, Bob 51, 54, 138, 149 Matschke, Matthias 219, 248, 267 Mauthner, Fritz 87 Mayröcker, Friederike 11, 35, 36, 40, 60, 61, 106, 198, 260, 310
P ERSONENREGISTER
McCartney, Paul 119, 143, 214, 301, 311, 313 Meinecke, Thomas 50, 54, 154, 227-237 Meinhof, Ulrike 152, 285 Melián, Michaela 320 Mercury, Freddie 161 Merkel, Angela 160 Metheny, Pat 74 Meyerfeldt, Astrid 216, 291, 292 Michel, Karl Markus 30 Miller, Arthur 141, 161 Miller, Steve 304 Minton, Phil 198-201 Möller, Christian 147 Mon, Franz 25, 34, 38, 101, 106, 108, 110, 159, 310 Mondrian, Piet 37 Monroe, Marilyn 100, 140, 141, 142, 263 Monteverdi, Claudio 109 Moondog (Louis Th. Hardin) 154 Moufang, David (Move D) 50, 154, 227, 232, 234, 235, 237 Moreau, Jeanne 67 Moser, Hans (Produzent) 161 Mozart, Wolfgang Amadeus 197, 203, 226, 261, 285 Mueller, „Cookie“ 154 Mues, Dietmar 165, 290 Müller, Heiner 45, 58, 173-196, 226, 275, 276, 322 Müller-Klug, Till 283 160 Murnau, Friedrich Wilhelm 290 Neumeister, Andreas 138 Nietzsche, Friedrich 129, 152, 225 Novalis 320 Offenbach, Jacques 32 320 Ohaus, Christiane 312
| 353
Ohm, Robert 247 Onassis, Aristoteles 100 Ono, Yoko 118, 143, 144 Page, Jimmy 86, 186 Paik, Nam June 318 Palminger, Jacques 165-167 Pannonica de Koenigswarter 77 Parker, Charlie 66, 71, 72, 77 Peel, John 196-199 Peirce, Charles Sanders 37 Peschel, Milan 170, 216-218 Peters, Caroline 219 Peterson, Dickie 149 Petschinka, Eberhard 54, 163, 164, 171, 269 Pettibon, Raymond 316, 317 Peymann, Claus 308 Phonofix (Duo) 220 Picasso, Pablo, 37 Piechot, Herbert 9 Plamper, Paul 54, 187, 215-219, 247, 323, 325 Ponnier, Matthias 72 Pop, Iggy 131, 147 Pollesch, René 160, 161, 163 Pörtner, Paul 35, 36, 110, 198, 310 Präkelt, Volker 223, 303, 305 Presley, Elvis 66, 280 Quatro, Suzie 132 Queneau, Raymond 311, 313 Quinn, Freddy 115 Rausch, Jochen 135, 136 Rauschtenberger, Dietrich 77-79 Reed, Lou 151, 207, 318, 319 Reich, Wilhelm 52, 93 Reich-Ranicki, Marcel 299, 300 Reiser, Rio 219 Richter, Daniel 268
354 | D AS POPHÖRSPIEL
Riefenstahl, Leni 276, 289, 290 Rimbaud, Arthur 71 Rimbaud, Robin (Scanner) 319 Rimini Protokoll 209 Robinson, „Sugar“ Ray 52, 67 Rodach, Michael 155 Roehler, Oskar 130, 131, 164 Rohrbeck, Oliver 252 Rois, Sophie 153, 205, 279, 290 Rothenburg, Ned 177 Rüger, Günter 202 Rühm, Gerhard 33, 38, 110 Rühmann, Heinz 293 Ruetz, Michael 85 Ruttmann, Walter 27, 38, 264 Saint-Exupéry, Antoine de 288 Salinger, Jerome David. 47 Sarraute, Natalie 38 Saussure, Ferdinand de 37 Schäfer, Barbara 43, 69 Schäfer, Walter Erich 26, 27 Schaeffer, Pierre 264 Scharang, Michael 28, 46, 54, 104 Scheel, Walter 285 Schell, Maria 160 Schenk, Udo 251, 302 Schiller, Friedrich 53, 211, 212 Schlamminger, Saam 315 Schleiff, Tanja 265 Schlingensief, Christoph 20, 54, 200, 247, 273-280, 325 Schmid, Hans 154 Schmidt, Arno 316 Schmidt, Helmut 246, 285 Schnabel, Ernst 27, 29, 65, 73 Schneider TM 219 Scholz, Christian 169 Schönberg, Arnold 38 Schöning, Klaus 28, 33, 39, 60, 104, 106, 108, 239, 263 320
Schöning, Nadja 319 Schostakowitsch, Dmitri 180, 181, 184 Schütz, Bernhard 146, 276, 292 Schwarzenegger, Arnold 245 Schweickert, Walter Karl 79 Schwitters, Kurt 38, 264 Schwitzke, Heinz 10, 26, 27, 35, 36, 116 Schygulla, Hanna 297, 298 Seffcheque, Xaõ 131 Seghers, Anna 183 Serotonin (Duo) 40, 204, 221, 222 Shakespeare, William 185, 193, 223, 279 Sherley, Glen 149-151, 155, 312 Soraya 100 Spies, Carla 154, 246, 295, 298, 301, 302 Spreckels, Bunker 52, 145-147 Starr, Ringo 102, 142, 143, 145 Stauffer, Michael 9, 54, 280 Steczyk, Craig 147 Stockhausen, Karlheinz 108, 158 Strauß, Botho 48 Strauß, Franz Josef 99, 106, 111 Stuckrad-Barre, Benjamin von 48, 49, 87 Szondi, Peter 34 Tauch, Heike 72 Taylor, Cecil 78 Thompson, Hunter S. 52, 145, 146 Tillmans, Wolfgang 160 Turner, William 319 Ulbricht, Walter 31, 291 Ulmer, James „Blood“ 202 Veli, Orhan 315 Vian, Boris 312
P ERSONENREGISTER
Vicious, Sid 147 Virilio, Paul 288, 290 Wallraff, Günter 28, 30, 54, 104 Warhol, Andy 52, 57, 118, 121, 138, 151, 254, 266, 296, 318, 319 Waters, Monty 77 Weaver, Sigourney 160, 161 Welles, Orson 160, 279 Wickert, Erwin 23, 25 Winkler, Angela 268 Wittmann, Christian 321 Wohmann, Gabriele 213-215
| 355
Wolf, Ror 11, 32, 75, 76 Wondratschek, Wolf 21, 34, 35, 43, 46, 54, 55, 57, 96-105, 308 Worthmann, Sabine 150 Wühr, Paul 28, 30, 54, 63, 104, 113 Zaimoglu, Feridun 56, 315 Zapatka, Christoph 150 Zappa, Frank 17, 18, 107, 109-111, 266 Zeitblom, Georg 154, 321 Zoller, Attila 79 Zuckmayer, Carl 58
Medienwissenschaft Florian Sprenger, Christoph Engemann (Hg.)
Internet der Dinge Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt 2015, 400 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3046-6 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3046-0 EPUB: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3046-6
Gundolf S. Freyermuth
Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 S., kart. 17,99 E (DE), 978-3-8376-2982-8 E-Book PDF: 15,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2982-2
Gundolf S. Freyermuth
Games | Game Design | Game Studies An Introduction (With Contributions by André Czauderna, Nathalie Pozzi and Eric Zimmerman) 2015, 296 p., pb. 19,99 E (DE), 978-3-8376-2983-5 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2983-9
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Medienwissenschaft Thilo Hagendorff
Das Ende der Informationskontrolle Zur Nutzung digitaler Medien jenseits von Privatheit und Datenschutz Januar 2017, 264 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3777-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3777-3
Carolin Wiedemann
Kritische Kollektivität im Netz Anonymous, Facebook und die Kraft der Affizierung in der Kontrollgesellschaft 2016, 280 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3403-7 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3403-1
Ramón Reichert, Annika Richterich, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Karin Wenz (eds.)
Digital Culture & Society (DCS) Vol. 2, Issue 2/2016 — Politics of Big Data 2016, 154 p., pb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3211-8 E-Book PDF: 29,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3211-2
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