Das literarische Kinderbuch: Studien zur Entstehung und Typologie [Reprint 2015 ed.] 9783110844627, 9783110084740


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German Pages 473 [476] Year 1981

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Table of contents :
Einleitung
A. Grundlagen
I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit zwischen Mythos und Realität
1. Zur Geschichte der Kindheit
2. Der Mythos von Kind und Kindheit
3. Der Mythos von ,Kind und Volk‘
4. Der ,kindliche‘ Dichter
II. Grundzüge der Entstehung und Typologie
1. Exempel und Utopie: Die literarischen Kindererzieher
a) Die Ausbildung des Typus
b) Die Variationen des Typus
2. Mythos und Artistik: Die Kinderliteratur des verlorenen Paradieses
a) Stilisierung der ,Volkspoesie‘: Kindermärchen und Kinderlied
b) Spiel und Artistik
c) Der ,private‘ Mythos
B. Das Typische und das Individuelle: vier exemplarische Analysen
I. Der ästhetische Erzieher: Christian Felix Weiße oder die bürgerliche Utopie
1. Natur, Vernunft, Erziehung und das Paradies auf Erden
2. Von der Notwendigkeit, den Geschmack zu bilden: Weißes Ästhetik
3. Die Rolle der Kinderliteratur in der bürgerlichen Gesellschaft: Weißes Selbstverständnis und Dichtertum
4. Entstehung und Rezeption der Kinderbücher Weißes
a) Entstehung
b) Publikum
c) Verbreitung
d) Die intendierte Rezeption
5. Zum Stilproblem der Kinderbücher: Herablassung und naive Schreibart
6. Die Genres in Weißes Kinderbüchern oder: Schafft ein Arkadien euch früh in euren Seelen
a) Dialog, Gespräch und sokratische Lehrart
b) Die kleineren Gattungen im „Kinderfreund“: Fabel, Rätsel, moralische Beispielerzählung
c) Die Kinderlieder Weißes
d) Die moralische Anstalt für Kinder
II. Der naive Improvisator: Franz von Pocci oder die Befreiung im Spiel
1. Restauration und Unsterblichkeitsglaube
2. Der Volksschriftsteller
3. Improvisation
4. Die Werke für Kinder
a) Die Publikationsformen
b) Die Gattungen
5. Die Kasperlkomödien
III. Der mißverstandene Satiriker: Wilhelm Busch oder der Mythos ohne Hoffnung
1. Die Dörfer der Kindheit
2. Flucht in die alte Welt
3. Nürnberger Tand
4. Die Kinderbücher
a) Die parodierte und die akzeptierte Tradition
b) Das neue Genre oder: die wirklichen Kinderbücher
c) Das Scheitern der späten Kinderbücher und die Umkehr: „Plisch und Plum“
d) Büschs Bildergeschichten: Konstanten der Gattung
5. Die skeptische Satire
IV. The Story-Writer: Frances Hodgson Burnett oder der vollkommene Mythos
Little Lord Fauntieroy
The Secret Garden
Literaturverzeichnis
1. Quellen
2. Darstellungen
Register
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Das literarische Kinderbuch: Studien zur Entstehung und Typologie [Reprint 2015 ed.]
 9783110844627, 9783110084740

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Walter Pape Das literarische Kinderbuch

Walter Pape

Das literarische Kinderbuch Studien zur Entstehung und Typologie

W G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1981

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CI P-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Pape, Walter: Das literarische Kinderbuch : Studien zur Entstehung u. Typologie / Walter Pape. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1981. ISBN 3-11-008474-0

Copyright 1981 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. — Printed in Germany - Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

Meiner Frau

N o book is really worth reading at the age of ten which is not equally (and often far more) worth reading at the age of fifty — except, of course, books of information. C. S. Lewis

Inhalt Einleitung

1

Α. Grundlagen

I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit zwischen Mythos und Realität . . . . 1. 2. 3. 4.

Zur Der Der Der

Geschichte der Kindheit Mythos von Kind und Kindheit Mythos von ,Kind und Volk' ,kindliche' Dichter

II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

21

23 24 29 46 49

55

1. Exempel und Utopie: Die literarischen Kindererzieher 57 a) Die Ausbildung des Typus 59 b) Die Variationen des Typus 76 2. Mythos und Artistik: Die Kinderliteratur des verlorenen Paradieses . . 97 a) Stilisierung der ,Volkspoesie': Kindermärchen und Kinderlied . . . 99 b) Spiel und Artistik 111 c) Der ,private' Mythos 122

B. Das Typische und das Individuelle: vier exemplarische Analysen . . . .

127

I. Der ästhetische Erzieher: Christian Felix Weiße oder die bürgerliche Utopie 129 1. Natur, Vernunft, Erziehung und das Paradies auf Erden 131 2. Von der Notwendigkeit, den Geschmack zu bilden: Weißes Ästhetik 138 3. Die Rolle der Kinderliteratur in der bürgerlichen Gesellschaft: Weißes Selbstverständnis und Dichtertum 150

X

Inhalt

4. Entstehung und Rezeption der Kinderbücher Weißes a) Entstehung b) Publikum c) Verbreitung d) Die intendierte Rezeption 5. Zum Stilproblem der Kinderbücher: Herablassung und naive Schreibart 6. Die Genres in Weißes Kinderbüchern oder: Schafft ein Arkadien euch früh in euren Seelen a) Dialog, Gespräch und sokratische Lehrart b) Die kleineren Gattungen im „Kinderfreund": Fabel, Rätsel, moralische Beispielerzählung c) Die Kinderlieder Weißes d) Die moralische Anstalt für Kinder

158 158 162 167 170 174 190 190 201 208 211

II. Der naive Improvisator: Franz von Pocci oder die Befreiung im Spiel . . 237 1. 2. 3. 4.

Restauration und Unsterblichkeitsglaube 241 Der Volksschriftsteller 246 Improvisation 252 Die Werke für Kinder 259 a) Die Publikationsformen 260 b) Die Gattungen 267 Lieder, Gedichte, Verserzählungen (267) — Beispielerzählungen (274) - Genrebilder (275) 5. Die Kasperlkomödien 276

III. Der mißverstandene Satiriker: Wilhelm Busch oder der Mythos ohne Hoffnung 303 1. 2. 3. 4.

Die Dörfer der Kindheit Flucht in die alte Welt Nürnberger Tand Die Kinderbücher a) Die parodierte und die akzeptierte Tradition Die Bilderpossen (328) - Max und Moritz (333) b) Das neue Genre oder: die wirklichen Kinderbücher Fipps der Affe für Kinder (344) — Stippstörchen. Der Fuchs. Die Drachen (350)

307 309 315 326 326 343

Inhalt

XI

c) Das Scheitern der späten Kinderbücher und die Umkehr: „Plisch und Plum" 354 d) Büschs Bildergeschichten: Konstanten der Gattung 358 5. Die skeptische Satire 362

IV. The Story-Writer: Frances Hodgson Burnett oder der vollkommene Mythos 369 Little Lord Fauntieroy The Secret Garden

Literaturverzeichnis 1. Quellen 2. Darstellungen

Register

381 387

395 395 '.415

445

Einleitung D e n Gegenstand der vorliegenden Untersuchung und die damals modischen S c h r i f ten für D a m e n ' bedachte G o e t h e in den X e n i e n von 1796 mit bitterem S p o t t : Immer für Weiber und Kinder! ich dächte, man schriebe für Männer, Und überließe dem Mann Sorge für Frau und für Kind. 1 D i e Invektive war gerecht und ungerecht zugleich. I m K a m p f gegen die Mittelmäßigkeit lag es nahe, auch die zeitgenössische Literatur für Kinder einzubeziehen, w i m m e l t e es doch darunter, wie schon die L e k t ü r e von Rezensionen in Nicolais „Allgemeiner Deutscher Bibliothek"

zeigen kann, von

zusammengestoppelten

A l m a n a c h e n und A n t h o l o g i e n , von hilflosen Erstlingen hungernder H o f m e i s t e r und von müden Spätlingen pedantischer Schulrektoren. Freilich gab es daneben Kinderbücher m i t h ö h e r e m A n s p r u c h . Pauschalurteile, im literarischen K a m p f unvermeidlich, prägen aber auch die G e s c h i c h t e der deutschen Kinderbuchforschung bis in die G e g e n w a r t . D a ferner Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft bisher sogar die bedeutenderen K i n d e r b ü c h e r vernachlässigt haben, sind sie in der Masse der ,trivialen' untergegangen. A u c h die von der Literaturgeschichtsschreibung erfaßte Erwachsenenliteratur macht ja nur einen Bruchteil der literarischen Überlieferung aus. D o c h käme da w o h l niemand auf den G e d a n k e n , die gesamte Literatur deswegen als „Trivialliteratur" zu bezeichnen, worunter man neuerdings die K i n d e r literatur insgesamt subsumiert 2 . D u r c h empirische literarhistorische U n t e r s u c h u n gen — u m einen Ausdruck Friedrich Sengles zu gebrauchen 3 — dem literarischen K i n d e r b u c h in seiner Stellung zur übrigen literarischen Überlieferung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist eine der Aufgaben dieser A r b e i t . 4

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2 3 4

Goethe/Schiller: Xenien 1796 (1893), S. 40, Nr. 357; vgl. auch die Anmerkungen ebenda S. 156—157; dieses Xenion ist „Goethes alleiniges Eigenthum ohne irgend welchen Antheil Schillers" - vgl. ebenda S. 221 und 236. Siehe dazu unten S. 16—17. Sengle: Binsenwahrheiten (1978), S. 657. Zu bisherigen historischen Darstellungen der Kinderliteratur siehe Margarete Dierks: Geschichtsschreibung der Kinder- und Jugendliteratur. - In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 1 (1975), S. 4 4 3 - 4 4 5 , ferner die Hinweise bei A. C . Baumgärtner: Zur Lage der historischen Kinder- und Jugendbuchforschung. — In: Ansätze historischer Kinder- und Jugendbuchforschung (1980), S. 1—9. Als bibliographische Hilfsmittel stehen hierfür zur Verfügung: Wegehaupt: Theoretische Literatur zum Kinder- und Jugendbuch (1972), S. 133—259 sowie Maier/Sahr: Sekundärliteratur zur Kinder- und

2

Einleitung Die zünftige deutsche Kinderbuchforschung hat sich schwer getan bei der Ab-

grenzung ihres Gegenstandes, und sie tut es noch. Im „Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur" 5 findet sich zum Beispiel ein Artikel über Gottfried Keller 6 , nur weil Erwin Ackerknecht den „Grünen Heinrich" einmal ein „pädagogisches Grundbuch" nannte, 1905 die Vereinigten Prüfungsausschüsse mit knapper Mehrheit das „Fähnlein der sieben Aufrechten" vor allem wegen des „goldenen H u m o r s " als „jugendgeeignet" empfahlen und weil Keller einmal den „Schweizerischen Bildungsfreund" im poetischen Teil mit einem Vorwort versah und bearbeitete. Keller, wie Bettina von Arnim, Chamisso, Lessing oder gar Goethe, der, wie der Verfasser des Artikels zugibt, „nie direkt [?] für junge Leser geschrieben hat", sind nur deshalb ins Lexikon geraten, weil Werke von ihnen in Lesebüchern stehen: „im Rahmen der humanistischen bzw. literarischen Bildung" 7 . Wenn man den Begriff der Kinder- und Jugendliteratur so weit dehnt, verliert er literargeschichtlich und literarästhetisch jede Bedeutung. Vom literaturpädagogischen Standpunkt aus gesehen, ist es nachvollziehbar, wenn beispielsweise der seinerzeit (1955) noch Lehrer Jugendbuchtheorie (1979). — Daß die Gesamtdarstellungen von Merget, Göhring, Köster, Prestel, Dyhrenfurth und Hürlimann (siehe Literaturverzeichnis) unzureichend sind, wird überall betont und liegt sicher auch daran, daß niemand unter ihnen speziell literarhistorische Interessen hatte. Vergleichbare englische, amerikanische und französische Darstellungen (Darton, Meigs, Townsend, Trigon — siehe Literaturverzeichnis) sind wesentlich qualifizierter. Die in der DDR entstehende Reihe „Studien zur Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur" (siehe im Literaturverzeichnis unter Altner, Dreher, Ebert, Kuhnert, Egon Schmidt, Joachim Schmidt und Wegehaupt) ist bis auf die Ausnahme des Beitrages von Wegehaupt kein nennenswerter Fortschritt in der Literaturgeschichtsschreibung, da alte Wertungen oder ideologische Voreingenommenheit wirkliche Forschung ersetzen. — Was das von Theodor Brüggemann geleitete Forschungsprojekt „Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur 1750—1850" dem Literaturwissenschaftler wie dem Sozialhistoriker bieten kann, muß die Publikation erweisen; Brüggemanns gleichnamiger Aufsatz (in: Ansätze historischer Kinder- und Jugendbuchforschung [1980], S. 10—42) mit Proben von Hans-Heino Ewers, Dagmar Grenz und Carola Cardi jedenfalls läßt doch ein wenig Skepsis aufkommen: Im geplanten Handbuch, das bei Metzler erscheinen wird, sollen ca. 300 ausgewählte Kinderbücher einzeln vorgestellt und „nach einem einheitlichen Analyseschema" [!] ausgewertet werden. — Den Zugang zu den Quellen erleichtern die unentbehrlichen Kataloge und Bibliographien alter Kinderbücher, vor allem die von Rümann, Seebaß und Wegehaupt (siehe Literaturverzeichnis); weitere nationale und internationale Kataloge von Kinderbüchern sind nachgewiesen bei Wegehaupt: Theoretische Literatur zum Kinder- und Jugendbuch (1972), S. 67—133, im Vorwort von Wegehaupts Bibliographie (1979) sowie laufend seit 1978 in: „Die Schiefertafel. Mitteilungen zur Vorbereitung einer Bibliographie Alter Deutscher Kinderbücher" — Untertitel von Jg. 4 (1981) an: „Zeitschrift für historische Kinderbuchforschung" ; geplant ist in Zusammenarbeit mehrerer Institutionen zunächst eine Bibliographie bis 1850. 5 6 7

Bd. 1 (1975), Bd. 2 (1977), Bd. 3 (1979); geplant ist ein Ergänzungsband mit Register. Von Margarete Dierks - ebenda Bd. 2 (1977), S. 150. Von Harald Riebe - ebenda Bd. 1 (1975), S. 4 5 2 - 4 5 6 , hier S. 453.

Einleitung

3

ausbildende Karl Langosch unter Jugendliteratur einfach alles verstand, was die Jugend überhaupt liest 8 . Seltsam aber ist, daß Elisabeth Frenzel im „Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte" dieselbe Definition anführt 9 . Der „Werther", den man im 18. Jahrhundert unter der Schulbank las, die „Gartenlaube", fromme Traktatliteratur, Kriminalromane, Franz Kafka, Bücher über die Weltraumfahrt oder die Bildzeitung: das alles ist natürlich keine Kinder- und Jugendliteratur, sondern Kinder· und Jugend/e&£«re. Aber auch ein engerer Begriff von Kinderliteratur, wie ihn die Umgangssprache nahelegt, nämlich Literatur, für Kinder verfaßt oder bearbeitet, bietet noch zahllose Probleme. Er ist nämlich im allgemeinen lediglich ein Sammelbegriff „für die gesamte Produktion von Werken für Kinder und Jugendliche [. . .], gleich, ob es sich um belletristische Werke oder um Sach- und Fachschriften, ob es sich um Lektüre für Kinder im Vorschulalter oder für schon schulentlassene, in Lehre und Ausbildung befindliche, bis etwa 16 Jahre alte Jugendliche handelt" 1 0 . Wenn man sich auf die Suche nach „literaturtheoretischen Grundlagen" für einen solchen Begriff macht, kann man natürlich nur Tautologien zutage fördern und verkünden, daß „sprachliche Struktur [. . .] tatsächlich ein elementares Kriterium der gesamten Kinder- und Jugendliteratur" ist 11 . Doch erhoffen sich manche Kinderbuchforscher auf der Grundlage dieses Sammelbegriffs „eine Poetologie der Jugendliteratur" und die Herausarbeitung von „übergreifenden Strukturmerkmalen innerhalb der Jugendliteratur" 12 . Gegenstand unserer Studien aber soll nur ein Teil der für Kinder verfaßten ,Texte' sein: das literarische Kinderbuch, wobei „literarisch" zunächst den Bereich meint, den man im 18. Jahrhundert mit „schöne Literatur" 13 umschrieb. Nicht ins engere Blickfeld kommen folglich alle sogenannten „Sachbücher" oder „populärwissen8 9

10

11 12

13

Karl Langosch: Zur Einführung. — In: Studien zur Jugendliteratur 1 (1955), S. 3. Elisabeth Frenzel: Jugendliteratur. — In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 2. Aufl. Bd. 1 (1958), S. 770-781, hierS. 770. Klaus Doderer: Kinder- und Jugendliteratur. — In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 2 (1977), S. 161 — 165, hier S. 162, dort weitere mögliche Einzeldefinitionen von inferiorer Bedeutung. Brüggemann: Literaturtheoretische Grundlagen (1966), S. 48, Wiederabdruck (1977), S. 26. Baumgärtner: Jugendlektüre in Forschung und Lehre. — In: Baumgärtner: Perspektiven der Jugendlektüre (1969), S. 126-129, hier S. 128-129; ähnlich auch ders.: Gattungen. - In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 1 (1975), S. 4 3 2 - 4 3 3 , hier S. 433. Eine begriffliche Nivellierung der Vielfalt literarischer Texte unter dem Schlagwort „bornierter Begriff der .schönen' Literatur" (Dieter Richter: Vorwort. — In: Richter [Hrsg.]: Das politische Kinderbuch [1973], S. 23) führt zu nichts; der Begriff der .schönen Literatur' ist zwar konventionell, aber gerade deshalb „erleichtert er umweglose Verständigung" — Rolf Grimminger: Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen. Über den notwendigen Zusammenhang von Literatur, Gesellschaft und Staat in der Geschichte des 18. Jahrhunderts. — In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd. 3 (1980), S. 1 5 - 9 9 , hier S. 15.

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Einleitung

schaftlichen Werke", ungeachtet ihrer möglichen literarischen Qualitäten 14 . Freilich überschneiden sich bisweilen die Gebiete wie in Weißes „Kinderfreund". Daß und wie man Kindern Wissen und Fakten in Büchern direkt vermitteln wollte oder will, scheint mir literarhistorisch weniger erstaunlich und interessant als die Frage, warum und in welchen Formen „schöne Literatur", „Belletristik" oder „Dichtung" für Kinder geschrieben wurde. Es ist längst kein Geheimnis mehr, daß auch diese Begriffe bloße Sammelbegriffe und keine Wesensumschreibungen sind: „Wer die Frage nach dem Wesen der Dichtung vorurteilslos stellt, hat mit der Möglichkeit zu rechnen, daß hinter diesem Wort Tatsachen ganz verschiedener Art und Herkunft liegen, die nur gewohnheitsmäßig in einem Atem genannt werden." 1 5 Doch haben wir mit diesen Definitionen und Vorentscheidungen ex negativo noch keine Kriterien, die es uns ermöglichen, den Bereich der Kinderliteratur sinnvoll zu gliedern und das literarische Kinderbuch von der ,Trivialliteratur' zu trennen. Denkbar wäre zunächst eine Typologie des literarischen Kinderbuchs nach Gattungen, von den alten Schulgattungen Epos, Lyrik und Drama bis zu den Zweckformen oder den Auflösungen und Vermischungen tradierter Formen. Daß eine Ordnung nach Gattungen vor enormen Schwierigkeiten steht, zeigen schon die in der Kinderbuchforschung bisher üblichen Unterscheidungen von Tierbuch, Umwelterzählung, Kinderlyrik, Mädchenbuch, phantastischer Erzählung, realistischem Kinderbuch, religiösem oder politischem Kinderbuch usf. 1 6 Man hat zwar erkannt, daß solche Gruppierungen „in systemlogischem Sinne nicht kohärent" sind 17 , hält aber dennoch daran fest und geht sogar so weit, die Kinderliteratur insgesamt als eine „Gattung" 1 8 zu bezeichnen. Für eine Typologie, wie sie hier ansatzweise und in exemplarischen Beispielen versucht werden soll, sind Funktion und Bedeutung einer 14

Vgl. dazu Martin Hussong: Das Sachbuch. — In: Kinder- und Jugendliteratur (1974), S. 368—391 sowie ders.: Sachbuch. — In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 3 (1979), S. 237—242, dort jeweils weiterführende Literatur; heranzuziehen sind auch einige Aufsätze zu diesem Thema in den „Beiträgen zur Kinder- und Jugendliteratur" (H. 49, 1978): u.a. Hansgeorg Meyer: Vom Belehrenden und vom Schönen (S. 25—38); Hans Peter Wetzstein: Verführung zum Lernen (S. 3 9 - 4 4 ) ; Hannes Bosse: Zu zwei theoretischen Aspekten im populärwissenschaftlichen Kinderbuch (S. 45—49). — Siehe auch den Abschnitt „Sachbuch" bei Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 3 2 1 - 3 2 4 sowie: Die deutschsprachige Sachliteratur (1978), hier besonders S. 742 - 766: Horst Künnemann: „Jugendsachbücher".

15

Muschg: Dichtertypen. - In: Muschg: Gestalten und Figuren (1968), S. 7 - 2 7 , hier S. 7. Vgl. auch die wenig überzeugenden Vorschläge des schwedischen Kinderbuch-Forschers Klingberg: Die Gattungen des Kinder- und Jugendbuchs (1967); ähnlich ders.: Kinderund Jugendliteraturforschung (1973), S. 5 3 - 6 4 ; neuerdings hat Hans-Heino Ewers (Gattungen der Kinder- und Jugendliteratur. — In: Schiefertafel 4 [1981], S. 96—127) ein Gattungsschema entworfen, das ganz auf bibliographische Erfassung und Gliederung aller Kinder bûcher von 1750— 1850 ausgerichtet ist.

16

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Gerhard Haas: Einleitung. - In: Kinder- und Jugendliteratur (1974), S. 7 - 2 0 , hierS. 9. So im Untertitel der zitierten Aufsatzsammlung.

Einleitung

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Gattung in der Kinderliteratur — wie auch sonst — erst im konkreten Kontext eines Typus erkennbar. So wird sich im Kapitel über Christian Felix Weiße zeigen, daß Fabel, Exempel, Kinderlied, Gespräch und Kinderschauspiel trotz der Gattungsverschiedenheit durch Weißes verbindliche und verbindende Ästhetik eine Einheit bilden. Im Gegensatz dazu haben Weißes Kinderkomödien und Poccis Kasperlkomödien trotz ihrer Zugehörigkeit zur Gattung Komödie wenig miteinander gemein. Gerade weil es mit einer einfachen Zuordnung der Kinderbücher zu den gängigen Großgattungen nicht getan ist, bildet die Frage nach der Tradition bestimmter Formen — ich verwende mit Absicht den Begriff Sengles 19 — (Exempel, Gespräch, Kinderkomödie, Kasperlkomödie, Bilderbogen, Bildergeschichte usf.), nach ihren Funktionen und ihren spezifischen Ausprägungen einen erheblichen Teil der Untersuchung innerhalb einzelner Kapitel, da nur so althergebrachten Pauschalurteilen der Kinderbuchforschung entgegengearbeitet werden kann; vor allem die Kinderbücher der Aufklärung hat man oft zu Unrecht, ahistorisch urteilend, als ästhetisch mißlungen bezeichnet. Gattungsmonographien sind erst dann sinnvoll, wenn Äußerungen über ,das' Jugendbuch — so noch trotz kritischen Ansatzes A. C. Baumgärtner 2 0 — der Vergangenheit angehören und die Grundzüge der verschiedenen Typen von Kinderliteratur erkannt sind. 21 Der Weg dahin führt am ehesten über einige grundsätzliche Erörterungen möglicher methodischer Fragestellungen und Forschungsinteressen an der Kinderliteratur. .Kinderbuch',,Kinderliteratur' oder Jugendliteratur' sind — auf den ersten Blick — von aller anderen Literatur durch den Bezug zu einem besonderen Lesepublikum getrennt. Das hat dazu geführt, daß bislang das Forschungsinteresse meist vom realen Leser ausging: Pädagogik, Psychologie, Kommunikationswissenschaft, Sozialwissenschaft und Sozialgeschichte sind legitimerweise dafür zuständig 22 . Die 19 20

21

22

Vgl. Sengle: Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre (1969). Baumgartner: Jugendbuch und Literatur. Überlegungen zu einem umstrittenen literarischen Phänomen. - In: Kinder- und Jugendliteratur (1979), S. 9 - 1 9 , hier S. 1 8 - 1 9 . Anregend in dieser Hinsicht ist auch ein Essay Gert Uedings, der nach Abschluß dieses Manuskripts erschien - „Was sich nie und nirgends hat begeben". Überlegungen zu einer Poetik der Kinder- und Jugendliteratur. — In: Ästhetik der Kinderliteratur (1981), S. 18—35; dem Beltz-Verlag, Weinheim, danke ich für die Überlassung der Fahnen zu diesem Sammelband; siehe auch unten S. 74 und 76, Anm. 96 und 108. Grundlegend, aber knapp informiert über Lesestoff, Leser und Leseverhalten, Lesewirkungen, Leseerziehung, Lesekultur in Vergangenheit und Gegenwart das von A. C. Baumgärtner herausgegebene Handbuch „Lesen" (1973); in vielen Einzelfragen von der neueren sozialwissenschaftlichen und -geschichtlichen Forschung freilich heute überholt. — Neuere und ältere literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu Fragen empirischer Rezeption berücksichtigen Kinderbücher freilich überhaupt nicht; dennoch seien hier die einschlägigen Werke genannt: Wichtige, auch ältere Beiträge zur empirischen Rezeptionsforschung finden sich im Sammelband „Sozialgeschichte und Wirkungsästhet i k " (1974); neueren Datums sind die Aufsätze in „Literatur und Leser" (1975), von denen besonders Gunter Grimms „Einführung in die Rezeptionsforschung" hervorzu-

6

Einleitung

zünftige, meist an pädagogischen Hochschulen beheimatete Kinderbuchforschung verfolgte bisher vorwiegend solche Interessen, und literarhistorische und -ästhetische Fragen wurden dadurch meist zur Nebensache 2 3 . D o c h ist natürlich v o m pädagogischen und v o m psychologischen Standpunkt die tatsächliche Rezeption von Kinderbüchern ein Kernproblem. „Jungleserpsychologie" und „Junglesersoziolog i e " mit ihren Fragen nach Leseinteresse, Leseverhalten und Leseerziehung der Kinder in den verschiedenen sozialen und altersspezifischen Ausprägungen 2 4 sind für den Literarhistoriker allerdings sekundär und von rein didaktischem Interesse. W o die unterschiedlichen .Lesealter' jedoch zur Einteilung der Kinderbücher nach A l tersgruppen dienen, handelt es sich meist u m unzulässige Verallgemeinerungen, die immer noch Charlotte Bühlers Trias vom Struwwelpeteralter, Märchenalter und Robinsonalter variieren oder differenzieren 2 5 . Ein Beispiel kann verdeutlichen, wie sehr selbst in neuesten volkskundlichen und psychoanalytischen Arbeiten auf ungeheben ist (S. 11—84); einen systematischen Entwurf bietet Grimm in seiner „Rezeptionsgeschichte" (1977). Ein rein kommunikationstheoretisches „Empirisierungsprogramm" ist Groebens „Rezeptionsforschung als empirische Wissenschaft" (1980); ähnlich sieht Werner Faulstich die „Domänen der Rezeptionsanalyse" (1977) fast nur in „Befragungsuntersuchungen". Bernhard Zimmermann (Literaturrezeption im historischen Prozeß [1977]) ist etwas zu sehr auf das Marasche Modell von Produktion und Konsumtion fixiert, während man im DDR-Band „Gesellschaft. Literatur. Lesen" (1973) wesentlich unorthodoxer verfährt. — Zu den Arbeiten der sozialgeschichtlich orientierten Volkskunde siehe unten S. 8—9, 14—16. Es ist zumindest bedauernswert, daß in den meisten der obengenannten theoretischen und praktischen Untersuchungen z. B. Schendas grundlegende Studie zur Sozialgeschichte populärer Lesestoffe (Volk ohne Buch [1970]) höchstens in Anmerkungen zur Kenntnis genommen wird. — Siehe auch den Forschungsbericht von Reese: Literarische Rezeption (1980). 23

Vgl. z.B. die Einleitung von Gerhard Haas zu: Kinder- und Jugendliteratur (1974), S. 7 - 2 0 , bes. S. 13, wo unter den „vier grundsätzlichen Fragen" für eine neue Ästhetik der Kinderliteratur keine einzige ästhetische auftaucht! — M. Dahrendorf bietet ein Beispiel für den Austausch von Methoden; 1967 war Dichtung für ihn noch „Verwandlung durch Vertiefung" und „Seinsschau" (Dahrendorf: Dichtung und Jugendliteratur. Didaktischer Versuch einer Wesensbestimmung [1967], S. 387—390), ein paar Jahre später erklingt statt des Seins-Geraunes der Soziologen-Jargon — vgl. ders.: Jugendliteratur im gesellschaftlichen, literarischen und pädagogischen Bezugsfeld. — In: Kinder- und Jugendliteratur (1974), S. 21—60, bes. S. 21 ; vgl. auch ders. : Soziologische Aspekte der Kinder- und Jugendliteratur. — In: Jugendliteratur und gesellschaftliche Wirklichkeit (1974), S. 27—52.

24

Einen Uberblick über die Forschungslage mit ihren kaum vereinbaren Ergebnissen findet sich in mehreren Artikeln des Lexikons der Kinder- und Jugendliteratur; dort auch der Nachweis der einschlägigen Literatur. Hier genügt ein Verweis auf die folgenden Artikel: Norbert Groeben: Jungleserpsychologie. - Bd. 2 (1977), S. 112—117; Malte Dahrendorf: Junglesersoziologie. — ebenda S. 117—123; Sigrid Lichtenberger: Lesealter. — ebenda S. 346—349; Martin Hussong: Leseerziehung. — ebenda S. 352—353; Brigitte Scheele: Leseinteresse. — ebenda S. 357—361; Sigrid Lichtenberger: Lese(r)verhalten. — ebenda S. 365—366; siehe ferner den Sammelband: Kind und Jugendlicher als Leser (1980).

25

Bühler: Das Märchen und die Phantasie des Kindes (1918), S. 5 - 7 ; vgl. auch dies.: Das Seelenleben des Jugendlichen (1967), S. 2 0 4 - 2 0 5 .

Einleitung

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sicherter Grundlage Fragwürdiges übernommen wird. So ordnet Max Lüthi aufgrund der Feststellungen Charlotte Bühlers und der aus dem 18. Jahrhundert stammenden, längst überholten Parallelisierung von Ontogenese und Phylogenese 26 das Märchen der menschheitlichen Frühzeit und dem Kinde zu 2 7 ; wir werden später sehen, in welchem Maße das ,Kindermärchen' Ergebnis eines Stilisierungs- und Mythisierungsprozesses ist. Auf Seiten der Psychoanalyse zitiert man, um die These der Verwandtschaft von Mythos, Traum und Märchen zu stützen, gern die mythologischen Märchendeutungen des 19. Jahrhunderts 28 , oder man beruft sich auf längst überholte Ansichten, wonach die Märchen Perraults und die der Grimms zu den zuverlässigsten Aufzeichnungen der mündlichen Tradition gehören 29 ; gerade das Gegenteil ist der Fall. Solange die Urteile über das Verhältnis von Kindesalter und Literatur — hier den Märchen — auf so unsicherem Fundament stehen, verbieten sich für den Literarhistoriker psychologische Kriterien als Grundlage einer vom realen Leser bestimmten Aufteilung des Bereiches der Kinderliteratur. Das Problem der Lesealter ist letztlich eine Frage der pädagogischen Praxis; darauf hat schon vor über zweihundert Jahren Johann Adolf Schlegel anläßlich der Kinderlieder Weißes hingewiesen: Ich brauche wohl kaum zu erinnern, daß nicht alle Lieder allen Kindern gleich angemessen seyn werden. Wie wäre das möglich? Die Fassungskraft der Kinder und ihre kleinen Einsichten sind nicht nur nach ihrem Alter, sondern auch nach ihren natürlichen Fähigkeiten verschieden. Manches Lied wird sich bey dem einen Kinde früher, bey dem andern später brauchen lassen. Es kömmt dabey auf Wahl und Prüfung an. 3 0

Gegen die „Jungleserforschung" sind von Seiten der sozialgeschichtlichen Volkskunde erst jüngst wieder Bedenken wegen erheblicher Mängel in der Konzeption und in der Kategorienbildung erhoben worden. 3 1 Dabei ist diese Leseforschung für die Gegenwart im Prinzip problemlos, denn der reale Leser ist empirisch greifbar. Auch allgemeinere kommunikationstheoretische Fragestellungen haben Eingang in die Kinderbuchforschung gefunden; doch droht besonders hier vielerorts eine dogmatische Isolierung, weil die Methode absolut gesetzt und aus einem legitimen Aspekt sogleich ein vollständige Definition des Gegenstandes hervorgezaubert wird: „Jugendliteratur ist eine leserbezogen konzipierte Literatur, die auf kommerzielle Verwertbarkeit angewiesen und deshalb genötigt ist, gesellschaftliche Werte, wie sie auch die Sozialisation bestimmen, zu repräsentieren." 32 In einem Handbuch für den 26 27 28 29 30

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Siehe unten 3 6 - 3 7 . Lüthi: Das europäische Volksmärchen (1974), S. 9 0 - 9 1 . So noch Bettelheim: Kinder brauchen Märchen (1977), passim. Vgl. Baudouin: Das Seelenleben des Kindes Bd. 3 (1973), S. 85. Schlegel/Batteux: Einschränkung der schönen Künste (3. Aufl. 1770) Th. 2, S. 120 (die Abhandlungen des 2. Teils stammen sämtlich von Schlegel selbst). Behrens u.a.: Planskizzen zu einer Sozialgeschichte des Lesens (1976), S. 17—19. Dahrendorf: Soziologische Aspekte der Kinder-und Jugendliteratur. — In: Jugendliteratur und gesellschaftliche Wirklichkeit (1974), S. 2 7 - 5 2 hier S. 31.

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Deutschunterricht wird das Kinderbuch noch .prägnanter* zu einem „Teilbereich der M a s s e n k o m m u n i k a t i o n " , durch den wie durch andere „Sozialisationsmechan i s m e n " lediglich „Inhalte vermittelt w e r d e n " 3 3 . Ist „ d a s K i n d e r b u c h " also ein „Kommunikationsmittel bei der Sozialisation und Enkulturation von Aufwachsend e n " , „ D u r c h g a n g s l e k t ü r e " , die Kinder darauf vorbereitet, später einmal am „literarischen L e b e n " teilzunehmen? 3 4 N ä h m e man dieses Kinderbuchverständnis ernst, s o wäre der Graben zwischen jeglicher Art Kinderliteratur und der übrigen Literatur unüberbrückbar. Kinderliteratur ist dann f ü r den erwachsenen Leser uninteressant, langweilig, da sie einer überholten Stufe angehört; der erwachsene, sozialisierte Leser darf ja jetzt die andere, die ,richtige' Literatur lesen 3 5 . D a s Interesse am realen Kinderbuchleser der Gegenwart ist legitim und notwendig, aber — so scheint es aufgrund der bisherigen Forschungen — kann zur Kategorienbildung bei literarhistorischer Kinderbuchforschung, um die es hier geht, wie zum unmittelbaren Verständnis der Kinderbücher wenig beitragen. Weit schwieriger gestaltet sich die Erforschung der Rezeption von Kinderbüchern in der Vergangenheit; direkte Q u e l l e n über die kindliche Lektüre vergangener Zeiten sind spärlich. Autobiographien und Briefwechsel verzeichnen meist nur die Titel, die Klagen der Volks- und Kindererzieher über die falsche Lektüre der Kin-

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Wenzel: Kinderbuch (1974), S. 144. So Lingelbach und Oberfeld in ihrer Einleitung „Methodische Probleme der Jugendbuchforschung" zu: Das Jugendbuch als Medium literarischer Kommunikation (1974), S. 1 - 1 4 , hier S. 1. — Ebenfalls vor allem an Fragen der Sozialisation interessiert sind die folgenden Arbeiten: Die heimlichen Erzieher (1974); Kuhn: Tugend und Arbeit. Zur Sozialisation durch Kinder- und Jugendliteratur im 18. Jahrhundert (1975); Kuhn/Merkel: Sentimentalität und Geschäft. Zur Sozialisation durch Kinder- und Jugendliteratur im 19. Jahrhundert (1977); Scheunemann: Erziehungsmittel Kinderbuch (1978). — Besonders die Arbeiten von Kuhn und Merkel sind bisweilen durchaus anregend, zum Widerspruch reizt aber die direkte Vermittlung von (oft ideologisch einseitig dargestellten) literarhistorischen mit sozialen und politischen Fakten. Doch auch für die gesamte „ästhetische, fiktionale Literatur" ist — folgt man einem dieser kommunikationstheoretisch orientierten Ansätze - „der Literaturbegriff der Germanistik" (was das sein soll, wird nicht gesagt) sowieso überholt, da unter dem „neuesten Perspektivenwechsel" Literatur „primär [!] als Funktions- und Wirkungsträger" erscheint — Bettina Hurrelmann: Kinderliteraturforschung als literaturwissenschaftliche Pragmatik. — In: Kinderliteratur und Rezeption (1980), S. 1—51, hier S. 1 und 2. - Kinderliteratur speziell ist danach eine Form sozialen Handelns und als „Handlungspartitur" zu verstehen, wobei die Sprechakttheorie die Interpretationsmethode liefert (vgl. ebenda S. 4 bis 16; jetzt auch Hurrelmann: Uber die Verkümmerung ästhetischen Lernens. — In: Ästhetik der Kinderliteratur [1981], S. 48—62). Vielleicht könnte ein solches Modell auch für die literarhistorische Forschung fruchtbar sein, doch das in diesem Falle vorgestellte „Interpretationsbeispiel .Robinson der Jüngere' " wird weder dem Anspruch der Theorie gerecht, noch bringt es irgendeinen literarhistorischen Erkenntnisgewinn (Hurrelmann: Kinderliteraturforschung als literaturwissenschaftliche Pragmatik. — In: Kinderliteratur und Rezeption [1980], S. 16-29).

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der 36 sagen wenig über die Aufnahme der für Kinder geschaffenen Literatur; öffentliche und private Bibliothekskataloge, Subskribentenlisten 37 , Archivalien wie Zensurakten und Bücherinventare können — so legen bisherige Untersuchungen nahe 38 — der Kinderbuchforschung nur wenige und äußere Daten vermitteln 39 , die über die tatsächliche Rezeption wenig aussagen. Wir werden vor allem im Kapitel über Christian Felix Weiße sehen, welche Grenzen hier der Sozialgeschichte gesetzt sind. Denn die Lücke, „die bei der Untersuchung der Vergangenheit zwischen den faßbaren, archivierten ,äußeren' Faktoren und ihrer sozialpsychischen, verhaltenssteuernden Wirkung klafft" 4 0 , ist besonders für die Kinderliteratur so gut wie nicht zu schließen. Freilich kann uns die empirische Sozialgeschichte des Lesens genauer über die beschränkte Wirkung des literarischen Kinderbuchs belehren; doch beginnen schon im 19. Jahrhundert von der Rezeption her gesehen die Grenzen zwischen literarischem Kinderbuch und ,Trivialliteratur' zu verschwimmen: Der Verleger Bassermann ließ Büschs „Humoristischen Hausschatz" auch durch Kolporteure vertreiben. Hier, wie bei allen ,massenhaft' verbreiteten literarischen Kinderbüchern des späten 19. und des 20. Jahrhunderts, fehlt noch jede sozialgeschichtliche Rezeptionsforschung. Können Pädagogik, Psychologie und Sozialgeschichte zumindest wichtige Ergänzungen zu empirischen literargeschichtlichen Untersuchungen bringen, so begreift sich, folgt man Rainer Warning, die „Rezeptionsästhetik als Uberwinderin traditioneller Formen der Produktions- und Darstellungsästhetik" 41 , obwohl demgegenüber Jauß — auf Kritiken reagierend — zurecht die „Partialität" dieser Methode betont 42 . Sie scheint somit geeignet, gerade für die Kinderliteratur Entscheidendes zur Klassifizierung des Gegenstandes leisten zu können 43 . Wenngleich Jauß hofft, „die Kluft zwischen literarhistorischer und soziologischer Forschung

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Siehe dazu unten S. 60—66 u.ö. Zur Kritik der bisherigen Forschung auf diesem Gebiet: Reinhard Wittmann: Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnisse als lesersoziologische Quellen (1977); siehe dazu auch unten S. 164—165. So spielen z.B. in der Untersuchung von Hildegard Neumann (Der Bücherbesitz der Tübinger Bürger [1955]) Kinderbücher keine Rolle. Zu den genannten Arten historischer Quellen vgl. Schenda: Die Konsumenten populärer Lesestoffe im 19. Jahrhundert. Zur Theorie und Technik ihrer Erforschung. - In: Schenda: Die Lesestoffe der kleinen Leute (1976), S. 3 0 - 4 1 , hier S. 33—36. Behrens u.a.: Planskizzen zu einer Sozialgeschichte des Lesens (1976), S. 4. Warning: Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik. — In: Rezeptionsästhetik (1975), S. 9 - 4 1 , Zitat S. 9. Jauß: Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode. - ebenda S. 353 - 4 0 0 , hier S. 380-394. Für ein solches Vorgehen plädiert z.B. Maria Lypp: Einleitung. — In: Literatur für Kinder (1977), S. 7 - 1 2 .

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durch die rezeptionsästhetische Methode" schließen zu können 44 , ist das Interesse an dem neuen literaturwissenschaftlichen Paradigma bei vielen Sozialhistorikern gering45. Man tut gut daran, innerhalb der Rezeptionsästhetik streng zwischen einem mehr auf den , realen' Leser (Hans Robert Jauß) und einem ausschließlich auf den ,impliziten' Leser (Wolfgang Iser) gerichteten Interesse zu unterscheiden. So ordnet Hannelore Link Jauß' Entwurf mit gewissem Recht der Rezeptionsgeschichte zu 46 , spielt doch in dessen Konzept der von Karl Mannheim übernommene Begriff des „Erwartungshorizonts" eine wichtige Rolle; er umfaßt bestimmte Voraussetzungen, unter denen der reale Leser ein Werk rezipiert47. „Vorverständnis der Gattung", „Form und Thematik zuvor bekannter Werke" und der „Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache" sind die Bestandteile „des objektivierbaren Bezugssystems der Erwartungen"48. Jauß hat inzwischen die „innerliterarische Herkunft" dieses Begriffs und die Notwendigkeit einer sozialgeschichtlichen Differenzierung zwar zugestanden, diese jedoch der Kunstsoziologie aufgetragen, während die Rezeptionsästhetik zu untersuchen habe, „wie sich im Erwartungshorizont einer Lebenspraxis ästhetische Erfahrung in kommunikative Verhaltensmuster umsetzen" könne 49 . Weil Jauß aber dieses Problem als synchronisches Korrelat zur diachronischen Horizontverschmelzung Gadamers sieht 50 , wird deutlich, daß auch nach der Beschränkung auf die Partialität Jauß' Methode gegen einen „historischen Objektivismus" 51 gerichtet ist. Eine Literaturgeschichte der literarischen Rezeption, d.h. der jeweils aufeinanderfolgenden synchronen Verschmelzungen von Erwartungshorizonten, der Rezeptionsereignisse, „setzt den geschichtlichen Prozeß ästhetischer Rezeption und Produktion bis zur Gegenwart des Betrachters als Bedingung der Vermittlung aller formalen Gegensätze oder ,Differenzqualitäten' voraus." 52 Dadurch aber wird das Werk selbst in den Hintergrund gedrängt, entscheidend ist die Erforschung der „sukzessiven Entfaltung eines im Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotentials, das sich dem verstehen-

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Vgl. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft (1970). — In: Rezeptionsästhetik (1975), S. 1 2 6 - 1 6 2 , Zitat S. 149. So würdigt z . B . der Romanist, Volkskundler und Sozialhistoriker Schenda die Rezeptionsästhetik kaum eines Blickes und spricht von der „Exklusivität" des „Philologen-Clans" — Schenda: Die Konsumenten populärer Lesestoffe. — In: Schenda: Die Lesestoffe der kleinen Leute (1976), S. 31. Link: Rezeptionsforschung (1976), S. 4 5 - 4 8 . Vgl. ebenda S. 45. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation (1970). - In: Rezeptionsästhetik (1975), S. 130. Jauß: Racines und Goethes Iphigenie. - Ebenda S. 3 9 2 - 3 9 3 . Ebenda S. 393. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation (1970). - Ebenda S. 128. Ebenda S. 143.

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den Urteil erschließt, sofern es die .Verschmelzung der Horizonte' in der Begegnung mit der Uberlieferung kontrolliert vollzieht." 53 Auf die Aporien eines solchen Vorgehens, vor allem auf die Problematik der Metapher von der Horizontverschmelzung, ist wiederholt hingewiesen worden 54 . Für unsere Vorüberlegungen zu Gegenstand und Methode aber ist, abgesehen von allen prinzipiellen Einwänden, die mit Konzilianz und Intelligenz am besten Hannelore Link dargestellt hat 55 , eines entscheidend: Jauß' Begriff des Erwartungshorizontes setzt einen Leser voraus, „dessen ästhetische Erziehung ihn auf die Höhe des aktuellen dichterischen Schaffens gehoben hat." 5 6 Der kindliche Leser aber kann solche Bedingungen nicht erfüllen, ganz abgesehen davon, daß wir nur ganz sporadische Zeugnisse über die Rezeption von Kinderliteratur vergangener Zeiten haben und den Erwartungshorizont der Kinder überhaupt nicht rekonstruieren können. Eine Rezeptionsgeschickte der Kinderbücher im Sinne von Jauß gar ließe sich kaum schreiben, da viele nur von Zeitgenossen rezipiert wurden. Darüber hinaus ist der Literaturbegriff von Jauß für unsere Zwecke zu eng: Er beschränkt ihn auf „poetische Texte" und schließt von seiner Betrachtung alle „autoritativen Texte" 57 aus: Ein großer Teil der Literatur der Aufklärung, alle didaktischen Formen, ja alle literarischen „Zweckformen" — um den Begriff Sengles zu gebrauchen — fallen somit außerhalb des Interesses dieser Art Rezeptionsästhetik. Ihre „Partialität", die Jauß zugestand, bestätigt sich nicht nur in der Methode selbst, sondern auch hinsichtlich ihrer möglichen Gegenstände. Da also Jauß' Literatur- und Leserbegriff Kinderbücher und lesende Kinder ausschließt, können seine Überlegungen und Begriffe - entgegen seiner Intention — in unserem Zusammenhang höchstens modifiziert in die Untersuchung eingehen. Dasselbe gilt für Wolfgang Isers Entwurf einer Rezeptionsästhetik, der sich dadurch grundlegend von allen bisherigen Fragestellungen unterscheidet, daß er primär .werkimmanent' ausgerichtet ist 58 : Auch hier müssen wir die zentrale Kategorie des ,impliziten' Lesers für unsere Zwecke modifizieren, nicht nur weil sie vor allem auf 53 54

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Ebenda S. 1 3 8 - 1 3 9 . Zuletzt von Eberhard Scheiffele in einer nüchternen und ernüchternden Darstellung der „Wege und Aporien der Rezeptionsästhetik" (1979); wesentlich schärfer geht Wolfgang Wittkowski mit Jauß ins Gericht — Wittkowski: Unbehagen eines Praktikers (1979), besonders S. 24. Link: Rezeptionsforschung (1976), bes. 45—48 u. 124—141. — Vgl. auch die Würdigung von Walter Müller-Seidel: Rezeptionsforschung. Zu einem Buch von Hannelore Link [ 1 9 4 0 - 1 9 7 7 ] und zu ihrem Andenken (1978). Behrens u.a.: Planskizzen zu einer Sozialgeschichte des Lesens (1976), S. 11. Jauß: Racines und Goethes Iphigenie. — In: Rezeptionsästhetik (1975), S. 384. Vgl. auch Link: Rezeptionsforschung (1976), S. 4 4 - 4 5 : In der Rezeptionsästhetik Isers zeige sich das „Nachwirken der werkimmanenten Betrachtungsweise [. . .], welche versucht, den neuen Impuls, der von einem rezeptionsgeschichtlichen Programm ausging, in ihre eigene Fragestellung einzubeziehen [. . .]".

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die Gattung des Romans fixiert ist. Überdies können wir die Probleme nur in gebotener Kürze anreißen. Isers Kernthesen lauten: „Der implizite Leser meint den im Text vorgezeichneten Aktcharakter des Lesens und nicht eine Typologie möglicher Leser." 5 9 Und: „Das Werk ist das Konstituiertsein des Textes im Bewußtsein des Lesers." 60 Die radikale Trennung des literarischen Werkes vom realen Leser — denn das Konzept des impliziten Lesers ist ja ein „transzendentales Modell" 6 1 , eine Komponente der Textstruktur — verbietet eine irgendwie geartete Identifizierung des realen , Kindes als Leser' mit dem impliziten Leser, da das Werk sich erst im Bewußtsein des Lesers konstituiert. Kinderliteratur wendet sich aber an Kinder, und so muß die im Text eingezeichnete .Leserrolle' irgendwie von anderen Leserrollen unterschieden sein. Es scheint, daß wir den Begriff des ,impliziten' Lesers für unsere Arbeit durchaus fruchtbar machen können, wenn wir ihn vom Subjektivismus befreien, den er in Isers Theorie hat, das heißt, wenn wir das Werk nicht mehr nur als Konstitution im Bewußtsein des Lesers verstehen, sondern Autor und Leser wieder in ihre Rechte setzen. Hannelore Link hat ein Konzept entwickelt, das die Rezeptionästhetik an das traditionelle Literaturverständnis anschließt, und ergänzt das theoretische Konstrukt des ,impliziten' Lesers, der textinternen (werkimmanenten) Ebene angehörig, durch den textexternen ,intendierten' Leser 62 , der den Bezug zum Autor, dem unbestreitbaren Urheber des Textes, wiederherstellt. Intendierter und impliziter Leser sind dann identisch, wenn es dem Autor gelungen ist, seine Intention im Werk zu verwirklichen. Diese Unterscheidung ist wichtig, sonst besteht die Gefahr, dem „Intentionalitäts-Trugschluß" zu erliegen und die Absicht des Autors mit der Verwirklichung im Werk gleichzusetzen. 63 Der implizite Leser ist für Link „die im Text enthaltene N o r m für den adäquaten Lesevorgang" 633 . Die entscheidende Änderung gegenüber Iser liegt in der Betonung einer adäquaten Rezeption, die durch den Text bestimmt (normiert) ist. Das Kriterium aber zur Unterscheidung der angemessenen von der unangemessenen Rezeption „liefert einzig die Intention des Autors, deren Rekonstruktion für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Texten" unerläßlich bleibt 64 . Also auch bei einer .leserbezogenen' Literatur wie der Kinderliteratur ist der Autor das „bestimmende Element für den Sinn eines Textes" und das einzige „geeignete Prinzip für die Beurteilung der Richtigkeit einer Interpretation" 65 . Die vorliegende Untersuchung als historische Interpretation und Analyse hat, auch was im Text angelegte Rezep59

Iser: Der implizite Leser (1972), S. 8 - 9 . Iser: Der Akt des Lesens (1976), S. 39. 61 Ebenda S. 66. 62 Dazu auch Wolff: Der intendierte Leser (1971), bes. S. 142-143. 63 Vgl. dazu Hirsch: Prinzipien der Interpretation (1972), S. 2 5 - 3 0 . " » L i n k : Rezeptionsforschung (1976), S. 23. 64 Link: „Appellstruktur der Texte"? (1973), S. 581. 65 Hirsch: Prinzipien der Interpretation (1972), S. 18. 6U

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tionsvorstellungen angeht, als Hauptaufgabe die Rekonstruktion der „an den Entstehungszeitraum fixierten, historischen Textintentionalität" 6 6 und der Autorintention. E . D . Hirsch hat die Einwände gegen die Möglichkeit einer solchen — freilich nie Gewißheit, sondern ,nur' Wahrscheinlichkeit beanspruchenden — Rekonstruktion (radikaler Psychologismus, Historismus, Vorstellung von der semantischen Autonomie) widerlegt, und es genügt, hier auf diese bedeutende, wissenschaftstheoretisch fundierte und auch von der Rezeptionsforschung (Link, Grimm u.a.) anerkannte Untersuchung zu verweisen 67 . Auf dem Umweg über die verschiedenen Fragen der Rezeption, die über eine ,adressatenbezogene' Literatur wie die Kinderliteratur Aufschluß zu geben versprachen, sind wir beim dichterischen Werk und seinem Autor angelangt, freilich mit dem Gewinn der Erkenntnis, daß der Adressat — das Kind — als impliziter oder intendierter Leser im Kinderbuch eine wichtige Rolle spielt. 6 8 In diesen Zusammenhang gehört freilich auch die Wirkungsästhetik, welche vor allem die Literatur der Aufklärung, aber auch Schillers Ästhetik 6 9 bestimmte; wir werden im Kapitel über Weiße, wie noch bei späteren Kinderbüchern die — vor allem stilbildende — Bedeutung solcher Orientierung an der Rhetorik kennenlernen. Doch erschöpft sich bei der Kinderliteratur die Bedeutung der ,Adressatenbezogenheit' nicht im jeweils impliziten oder intendierten Leser. Kind und Kindheit nehmen, wie wir sehen werden, im menschlichen Denken, in der Geschichte menschlicher Weltdeutung und Sinngebung einen solch hervorragenden Platz ein, daß erst von hier aus eine rechte Interpretation der Kinderliteratur möglich wird. Die Auffassung des Autors vom Kind und die Bedeutung, die ihm von der Intention

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Grimm: Rezeptionsgeschichte (1977), S. 50. Besonders hervorzuheben ist die kritische Auseinandersetzung mit Gadamer — Prinzipien der Interpretation (1972), S. 301—320: „Gadamers Theorie der Interpretation". — Wie sehr Hirsch allen Arten von Literatur gerecht wird, zeigt sich, wenn man liest: „Selbst wenn ein Dichter erklärt, der Sinn seines Gedichtes bestehe in dem, was der jeweilige Leser dafür hält, wie es bei einigen modernen Schriftstellern der Fall ist, die zu den Anhängern der heute geläufigen Theorie vom allgemeinen Sinn und der Unwichtigkeit des Autors gehören, selbst dann ist der Sinn des Gedichtes zweifellos nicht einfach ein beliebiger. Selbst in diesem Fall ist es immer noch der Autor, der den Sinn .festlegt'." — ebenda S. 41. Auch Malte Dahrendorf hebt hervor, daß die verschiedenen „Vorstellungen" vom Kinde sich auf die Kinderliteratur und ihre Ästhetik auswirken, zieht aber für seine Arbeit keine Konsequenzen daraus — Dahrendorf: Kinder- und Jugendliteratur im bürgerlichen Zeitalter (1980), S. 11. - Seine Ausführungen über „Praxis und Ästhetik der Kinder- und Jugendliteratur von der Aufklärung bis heute. Ein Uberblick" (ebenda S. 23—71) fallen hinter den bisherigen Stand der Forschung zurück, weil bei der Parforcejagd durch die Geschichte als Trophäen nur pauschale Stichworte, Namensnennungen und Etikette übrigbleiben. Vgl. vor allem Schillers Rezension (1794) von Matthissons Gedichten (Werke Bd. 22, S. 265—283), die als Dokument seiner Ästehtik viel zu wenig beachtet wird.

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des Werkes her beigemessen wird, bestimmen nicht nur die je verschiedene Art der in den Text eingezeichneten Leserrolle, sondern sie sind, so will mir scheinen, der Schlüssel zu einer möglichen typologischen Aufgliederung der Kinderliteratur nach Entstehungsgründen. Daß wir uns dabei nicht nur auf Textinternes beschränken dürfen, sondern poetologischen, historischen, sozialen, ökonomischen oder psychologischen Determinationen der Werke und ihres Autors sowie dem Zusammenhang von ,Produktion' und ,Rezeption' Beachtung schenken müssen, ist eine Grundforderung historisch-genetischer Untersuchungen. So lenkt die Autorintention, bei der es nicht um „dunkle autobiographische Implikationen" geht 7 0 , den Blick vom nicht mehr rekonstruierbaren Bild des Werkes im zeitgenössischen Leser auf das Selbstverständnis des Autors und den historischen Ort seiner Werke. Sein Bild vom Kind und seine Beziehung zu Kindheit und Kindlichkeit, die im Werk auf je verschiedene Weise direkt oder indirekt zum Ausdruck kommen, sind auch heute noch feststellbar. Im folgenden Kapitel über Kind, Kindheit und Kindlichkeit zwischen Mythos und Realität soll die Grundlage für den typologischen Grundriß und für die späteren Einzeldarstellungen geschaffen werden. Da also die Autorintention bestimmen soll, wie der Bereich der Kinderliteratur sich gliedert, ist zu fragen, ob damit auch ein geeignetes Kriterium zur Abgrenzung der „literarischen" von der Masse der „trivialen" Kinderbücher gegeben ist. Erich Kästner hat einmal gefordert: „Die Fachleute sollten, scheint mir, häufiger und energischer aus dem Kreise der Untersuchungen hinaustreten, die sich mit den Jugendschriften und den Kindern und den Kategorien des Lesealters beschäftigen. Auch die sorgfältige analytische Untersuchung derer, welche die Bücher geschrieben haben, könnte der Sache dienen [. . . ] . " 7 1 Ein Verdikt Kästners, das er freilich selbst als überspitzt bezeichnet, über diese Autoren lautet: „Schriftsteller, die nur Jugendbücher schreiben, sind keine Schriftsteller, und Jugendschriftsteller sind sie schon gar nicht." 7 2 Solche Zitate und die Beschränkung auf das „literarische Kinderbuch" — weder Weiße, Pocci, Busch noch Mrs. Burnett haben nur für Kinder geschrieben — könnten nicht nur Volkskundler und Sozialhistoriker zunächst als willkürliche Auswahl ansehen. Zugegeben, viele der Kinderbücher, von denen hier die Rede sein wird, wurden von der Masse der Kinder nicht gelesen. Es sind keint populären Lesestoffe, sie gehören nicht zum „circuit populaire" der Literatur, der 97% der Leser erfaßt, sondern zum „circuit lettré". 7 3 Vertreter der literarischen Volkskunde kri70 71

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Hirsch: Prinzipien der Interpretation (1972), S. 32—33. Kästner: Zur Naturgeschichte des Jugendschriftstellers. Rede zur Verleihung des Hans Christian Andersen-Preises in Luxemburg, 1960. — Gesammelte Schriften für Erwachsene Bd. 8, S. 3 0 7 - 3 1 5 , Zitat S. 314. Kästner: Jugend, Literatur und Jugendliteratur (1953). - Ebenda S. 2 1 3 - 2 2 3 , Zitat S. 216 (im Original kursiv). Escarpit: Y a-t-il des degrés dans la littérature? (1965), S. 8; vgl. auch Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 25.

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tisieren dann auch, daß sich die Kinderbuchforschung meist auf diesen „circuit lettré" beschränkt 74 : „Sie zollt zwar — ähnlich wie die Germanistik insgesamt — ihren Tribut an die Trivialliteratur [. . .], aber eigentlich doch oft nur, damit man sich dann wieder ungeniert der eigentlichen Literatur zuwenden kann." 7 5 Die Vorwürfe sind verständlich, wie das Interesse an der eigentlichen' Literatur legitim ist. Der Volkskundler und Sozialhistoriker Rudolf Schenda aber hat selbst einen prinzipiellen Unterschied zwischen populären Lesestoffen und der übrigen Literatur festgestellt. Zum einen betont er, die ersteren seien nicht ästhetisch, sondern sozialgeschichtlich zu untersuchen, oder wie es an anderer Stelle heißt, das bisher verachtete Material sei „nicht literarisch-ästhetisch, sondern literarisch-gesellschaftlich" zu werten 76 . Ebenso wichtig ist andererseits in unserem Zusammenhang folgende Feststellung, die Schenda mit seiner Untersuchung unter Beweis stellt: Mit dem Objektivationsprozeß der Arbeit im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts [. . .] verbindet sich ein Entsubjektivierungsprozeß der populären Literatur: sie löst sich nach und nach von dem individuell profilierten Autor, von der partikulären, lokal begrenzten Edition, von der persönlichen technischen Vermittlung, von der Kontrollinstanz der kritischen Organe und Institutionen und wird zur Massenliteratur — nicht nur im Sinne der Quantität, sondern in Form von Ballungen, die nur noch in ihrer Gesamtheit faßbar sind : Die Boulevardpresse, Die Kriegsliteratur, Der Kolportageroman, Die Heftchenliteratur, Der Dresdner Lieferungsroman, Die durch die Post beziehbare illustrierte Presse, Das Werk eines Vielschreibers, Die protestantische Traktatliteratur, Das Jugendbuch [. . .]. Die Masse der populären literarischen Fakten besteht nicht mehr aus Einzelleistungen, sondern aus Kollektivleistungen. Diese Entwicklung ist bis spätestens 1910 zum Abschluß gekommen. 7 7

Auch Schenda betont also den fundamentalen Unterschied der Einzelleistung eines individuell profilierten Autors gegenüber der Masse der populären Lesestoffe; um das Verhältnis dieser beiden Literatur, gruppen' geht es auch in der vorliegenden Arbeit, wobei die individuelle Einzelleistung im Zentrum steht, die verschiedenen Moden der Massenliteratur mitunter zur Erklärung von Themen, Stoffen oder Formen sowie zur sozialhistorischen Einordnung der anderen Kinderbücher dienen. Schendas Begriff von Jugendliteratur als populärem Lesestoff basiert also auf der Intention des Autors. Auch die populären Lesestoffe jener Zeit, als der Entindividualisierungsprozeß noch nicht die späteren Ausmaße erreicht hatte, lassen sich schon aufgrund der Intention deutlich von der Literatur unterscheiden, die gemeinhin das Prädikat,Kunst' trägt: Die Massenproduktion der populären Autoren entspringt [. . .] vornehmlich wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Zwang, keinem Furor poeticus und keinem künstlerischen 74 75

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Ebenda S. 7 6 - 77. Bausinger: Das Kinderbuch im literarischen Leben der Gegenwart. — In: Jugendliteratur und gesellschaftliche Wirklichkeit (1974), S. 1 1 - 2 6 , hier S. 15. Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 31 bzw. S. 34. Ebenda S. 39.

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Einleitung Plan. Populäre Lesestoffe sind auch aus diesem Grunde als ökonomische und soziale Produkte zu werten — ästhetische Kategorien sind in diesem Produktionsfeld fehl am Platze. 7 8

Freilich gibt es da Übergänge, und solch strenge Scheidungen sind in der Praxis nicht immer durchführbar. Auf jeden Fall ist der Begriff der populären Lesestoffe dem etwas unglücklichen, weil pauschal wertenden Begriff der ,Trivialliteratur' vorzuziehen. Schenda hat kritisch die Methoden der üblichen literaturwissenschaftlichen Trivialliteratur-Forschung mit denen der Sozialgeschichte konfrontiert und stellt zurecht fest, daß die neuen Wege auf diesem Gebiet erst noch zu entdecken sind 79 . So hat man auch biographische Forschungen bei Verfassern von ,Trivialliteratur' gefordert, weil nur so deren Selbstverständnis und Intention richtig erfaßt werden können 8 0 . Die meisten der Autoren von populären Lesestoffen für Kinder haben keine künstlerischen Ambitionen. Aber auch die übrigen ,Trivialschriftsteller' zielen selten auf „bedeutende Schöpfungen" 81 , wie Bausinger glaubt. Schenda hat zahllose Beispiele dafür geliefert; und z.B. die von der Literaturkritik so oft angegriffene Hedwig Courths-Mahler betonte ausdrücklich, daß sie und ihre Mitstreiter nicht unter falschem literarischen Ehrgeiz litten 82 . Lediglich weil die überwiegende Zahl der deutschen Kinderbücher zur Gruppe der populären Lesestoffe gehört, ist es möglich, immer wieder von einem Zurückbleiben dieser Literatur hinter der übrigen literarischen Entwicklung zu sprechen 83 . Hinzu kommt, daß bestimmte literarische Formen, vor allem didaktische — Sengle rechnet die Didaktik zu den Urphänomenen 8 4 —, nur dann literarisch verspätet zu sein scheinen, wenn man von der falschen Voraussetzung ausgeht, daß die Ästhetik seit der Klassik sich immer mehr auf eine .autonome Kunst', auf die poésie pure hinentwickele. Die historische Interpretation der Ästhetik durch Hegel hat, wie Sengle betont, das Verständnis für viele literarische Formen erschwert, ja eine gerechte Bewertung verhindert: „Wenn die parabolischen Formen nur Entwicklungsstufen der .klassischen Dichtung' bilden konnten, so lag es sehr nahe, sie überhaupt als hoffnungslos veraltet, als unseres .Bewußtseins' nicht mehr würdig zu betrachten und höchstens noch als Kinder- und Volksgattungen gelten zu lassen." 85 Neuerdings ist man sogar so weit gegangen, die Kinderliteratur pauschal ganz einfach der ,Trivial78 79

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Ebenda S. 155-156. Ebenda S. 22—26; einer der wichtigsten Sammelbände zum Thema .Trivial'-Kunst ist immer noch: Das Triviale in Literatur, Musik und bildender Kunst (1972). — Vgl. jetzt auch die Arbeit von Fetzer: Wertungsprobleme in der Trivialliteraturforschung (1980). Bausinger: Wege zur Erforschung der trivialen Literatur. — In: Studien zur Trivialliteratur (1968), S. 1 - 3 3 , Zitat S. 28. Ebenda S. 2 8 - 2 9 . Vgl. Krieg: Unser Weg ging hinauf (1954), S. 1 9 - 2 0 . Seit Göhring: Die Anfänge der deutschen Jugendliteratur im 18. Jahrhundert (1904/1967), S. 49 immer wiederholt. Sengle: Biedermeierzeit Bd. 2 (1972), S. 96. Ebenda S. 123.

Einleitung

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literatur' zuzuschlagen und „strukturelle Verwandtschaft" zu konstatieren. Denn — so wird argumentiert — bei beiden spielen auch außerästhetische Intentionen und ihr „gesamtes soziales Motivationsgefüge" eine Rolle 8 6 . Mit dem gleichen Recht könnte man jede Literatur als Trivialliteratur bezeichnen. Daß die Kinderliteratur in Deutschland vor allem während des 19. Jahrhunderts bis auf wenige Ausnahmen, unter denen Busch und Pocci hervorragen, selten den Aufschwung zur Hochliteratur geschafft hat, liegt zweifellos auch an der Trennung von Volks- und Hochliteratur seit dem 17. Jahrhundert 87 . Die Nähe von Volks- und Kinderliteratur in Theorie und Praxis — bereits bei der Untersuchung des Mythos' vom Kind wird davon zu sprechen sein — 8 8 hat dazu geführt, daß auch die Kinderliteratur aufs Ganze gesehen in Gegensatz zur Dichtung der Gebildeten trat 8 9 . Die Romantik mit ihrem Preis der Kindlichkeit und ihrem Mythos von der Volkspoesie hat durch die Mythisierung die Kluft noch vertieft 90 . Die anerkannt großen Kinderbücher sind fast alle englischsprachig. In Deutschland hat es aus den genannten Gründen immer das gegeben, was man treffend die „leere Mitte unserer Prosadichtung" genannt hat. Diese Mitte füllt auch heute noch in der Erwachsenenliteratur der angelsächsische Roman aus 9 1 ; die Trennung von volkstümlicher Literatur und Hochliteratur war in England nie so groß wie in Deutschland. Bei den Abenteuerromanen und anderen Erzählungen für Kinder braucht man nur an Louisa May Aleott, Frances Hodgson Burnett, Rudyard Kipling, Mark Twain oder Robert Louis Stevenson zu denken. Vor allem aber hat das Werk zweier Dichter des 19. Jahrhunderts in England nicht nur die Nonsense-Tradition, sondern zugleich eine neue Tradition von Kinderbüchern geschaffen: das

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Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 24. — Vgl. ähnlich Malte Dahrendorf/Albert Klein: Trivialliteratur. — In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 3 (1979), S. 563 - 567, hier S. 565. Vgl. Max L. Baeumer: Gesellschaftliche Aspekte der .Volks'-Literatur im 15. und 16. Jahrhundert. - In: Popularität und Trivialität (1974), S. 7 - 5 0 , hier S. 39. - Schon Gervinus hat auf den damaligen Rückzug der Dichtung aus dem Volke unter die Gelehrten hingewiesen — Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung (4. Aufl. 1853) Bd. 3, S. 3 - 5 . Siehe unten S. 46—49. Für das Theater konstatiert Hinck (Das deutsche Lustspiel [1965], S. 61) dasselbe: „Strenger auch als in Frankreich scheiden sich in Deutschland die Tendenzen eines volkstümlichen und eines von gebildeten Autoren belieferten Theaters [. . . ] . " Siehe dazu unten S. 99—111. — Auch die französische Kinderliteratur litt und leidet unter mangelnder Anerkennung. Der Vater von André Gide wie der Großvater Sartres betrachteten sie als „inéptie" (Vérot: Tendances actuelles de la littérature pour la jeunesse [1975], S. 18). Noch 1954 klagte der Kinderbuchautor René Guillot über die allgemeine Geringschätzung, aber auch über das niedrige Niveau der Kinderbuchautoren (vgl. ebenda). Bausinger: Wege zur Erforschung der trivialen Literatur. — In: Studien zur Trivialliteratur (1968), S. 10; der Begriff der „leeren Mitte" stammt von Gerhard Fritsch.

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Einleitung

Werk E d w a r d Lears und Lewis Carrolls; Kenneth Grahame, H u g h L o f t i n g , A . A . Milne, C . S . L e w i s , J . R . R . Tolkien, u m nur die Wichtigsten zu nennen, setzen die Tradition fort. N u r in England oder Amerika kann man deshalb hören, daß Kinderbücher es wert sind, auch von Erwachsenen gelesen zu werden: „ I discovered early in reading to m y children that if a book was not g o o d enough f o r me, it was not g o o d enough f o r t h e m ; a b o o k that patronized an adult, patronized a c h i l d . " 9 2 U n d alle Theorien von Kinderliteratur als „ D u r c h g a n g s l e k t ü r e " souverän beiseite schiebend stellt C . S . Lewis fest: It is usual to speak in a playfully apologetic tone about one's adult enjoyment of what are called 'children's books'. I think the convention is a silly one. No book is really worth reading at the age of ten which is not equally (and often far more) worth reading at the age of fifty — except, of course, books of information. 93 Letztlich ist das die einzig richtige Haltung; H e r m a n n Bausinger nennt den „Verrat künstlerischer Maßstäbe und die unter dem quantitativen D r u c k erfolgende A u f wertung der trivialen Literatur" unangemessen 9 4 . D o c h darf auch der Literaturwissenschaftler die populären Lesestoffe nicht einfach ignorieren, wenn er Z u s a m menhänge und Traditionen erkennen und werten will. Gerade weil die M a s s e der Leser zu keiner Zeit „ d i e großen Dichter der N a t i o n lesen w o l l t e " 9 5 , ist es interessant und aufschlußreich zu sehen, wann und w a r u m sich zumindest über den D u r c h schnitt herausragende dichterische Persönlichkeiten einem Bereich zuwenden, der in Deutschland schon immer als eigentlich nicht zur Dichtung gehörig betrachtet wurde. F ü r die A u s w a h l des Gegenstandes dieser Arbeit ergab sich die N o t w e n d i g k e i t , zunächst in einem Uberblick die „ G r u n d z ü g e der Entstehung und T y p o l o g i e " von Kinderbüchern zu umreißen. E s versteht sich, daß nicht alle T y p e n vorgestellt werden können. D i e Bedeutung der Kunst- und Volksmärchen als Kinderliteratur z. B . hätte eine eigene Monographie erfordert; so blieb es hier bei der Skizzierung von Grundlinien. D a s gleiche gilt in verstärktem Maße vom Abenteuerroman f ü r Kinder in seinen diversen typologischen Ausprägungen, der in allem so grundverschieden von den anderen Arten des literarischen Kinderbuchs ist, daß er hier ganz ausgeschlossen wurde. D i e Anzahl der ausführlich diskutierten Kinderbuchautoren und ihrer Werke w u r d e bewußt beschränkt, da eine detaillierte Untersuchung sinnvoller erschien als ein vollständigerer Katalog in Kurzfassung. A u c h die englische Kinderliteratur w u r d e nicht in dem Maße berücksichtigt wie ursprünglich geplant. Ein ausführliches

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Arksey: Junior Books for Senior People (1975), S. 512. Lewis: On Stories. - In: Lewis: Of Other Worlds (1966), S. 3 - 2 1 , hier S. 15. Bausinger: Wege zur Erforschung der trivialen Literatur. — In: Studien zur Trivialliteratur (1968), S. 12. Schenda: Kunstliteratur und populäre Lesestoffe (1970), S. 91.

Einleitung

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Kapitel im zweiten Teil der Arbeit ist nur Frances Hodgson Burnett und ihren Kinderbüchern gewidmet, einmal weil diese mit ihrem Mythos vom Kind eine Art Kulminationspunkt der bisherigen Traditionen bilden, zum anderen weil das erzählende Kinderbuch im Deutschland des 19. Jahrhunderts keine Werke von einigem Rang aufzuweisen hat.

Α. GRUNDLAGEN

I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit zwischen Mythos und Realität Eine der eigenartigsten Folgerungen des rezeptionsästhetischen Ansatzes ist die Behauptung, daß bei der Literatur für Kinder die „Unmündigkeit des Rezipienten [. . .] sich auf das literarische Produkt" übertrage 1 . Der gebannte Blick auf die „Adressatengebundenheit" lenkt oft von den unterschiedlichen Arten dieser Literatur ab und verschleiert deren eigentlichen Charakter. Gleichwohl sind Kind, Kindheit, Kindlichkeit und alles, was damit zusammenhängt, von Bedeutung für die Kinderliteratur. Kindheit und Kind sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft jedes Menschen 2 . Die reale Kindheit ist dem völlig bewußten und reflektierten Erleben verschlossen; sie ist nur zugänglich durch Erinnerung, Berichte über die eigene Kindheit oder Beobachtung der Kindheit anderer. Viel mehr als zwischen andere Bereiche der Wirklichkeit und den Menschen stellen sich zwischen ihn und das reale Kind die Sprache und ihre Bilder, die Ideologien und der Mythos. Als verklärte oder quälende Erinnerung ist er einer der wenigen privaten Mythen jedes Menschen: Horazens „laudator temporis acti se iuvene" (Ars poetica V. 173) klingt bei Schiller nach: „[. . .] jeder einzelne Mensch hat sein Paradies, sein goldnes Alter, dessen er sich, je nachdem er mehr oder weniger poetisches in seiner Natur hat, mit mehr oder weniger Begeisterung erinnert." 3 Als Gegensatz zur Realität versteht auch Carl Spitteier dieses Paradies der Kindheit: „Es gibt, von innen her gefühlt, gar keine Kinder, das ,Kind' ist eine Erdichtung der Erwachsenen". 4 Der private Mythos der Kindheit ist nur Teil eines großen Kind- und Kindheitsmythos mit den verschiedensten historischen und typischen Ausprägungen. Dieser Mythos und das — meist doch nur vermeintlich — reale Kind markieren gleichsam die äußersten Bezugspunkte der

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Maria Lypp: Einleitung. — In: Literatur für Kinder (1977), S. 7—12, hier S. 8. Zur Bedeutung der Kindheit vgl. auch Chombart de Lauwe: Un monde autre: l'enfance (1971), S. 7: „Les représentations de l'enfant pourraient constituer un excellent test projectif du système de valeurs et des aspirations d'une société. Elles caractérisent autant ceux qui les expriment et surtout qui les créent que ceux qui sont désignés. Cette constatation est valable pour la représentation de tout objet, mais celle de l'enfant a l'avantage de concerner le passé de chacun, son futur dans sa descendance, et l'avenir de chaque groupe humain; elle intéresse donc les individus et les sociétés sans exception." Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). - Werke Bd. 20, S. 468. Spitteier: Meine frühesten Erlebnisse (1914). — Gesammelte Werke Bd. 6, S. 17.

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

Kinderliteratur, wobei die Beziehungen von direkter Verkörperung des Mythos in der Dichtung bis zur didaktischen Wendung an das .reale' Kind reichen. Aber auch hier prägt immer ein bestimmtes Kinder^i'W die Didaxe. Archaisches und Utopisches, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft umfassend, dient dieser Mythos den unterschiedlichsten Philosophien und Ideologien. Auch in der Poetik, vornehmlich der „Produktionspoetik", spielt er eine hervorragende Rolle. Baudelaire sah wie viele andere vor und nach ihm in der Kindheit des Künstlers die Ursprünge der Kunst 5 , Grillparzer war überzeugt: „Die Jugendeindrücke wird man nicht los" 6 , und Eugène Ionesco, von dem es auch Kinderbücher gibt, nannte als einen der Hauptgründe seines Schreibens, daß er das Wunderbare seiner Kindheit „jenseits des Alltäglichen wiederzufinden" hoffe 7 . Diese drei Äußerungen, denen zahlreiche von anderen Dichtern an die Seite gestellt werden könnten, zeigen andeutungsweise den Übergang von der realen Kindheit über die Eindrücke davon bis zum Versuch der dichterischen Wiedergeburt. Oft sind dabei vermeintliche Wirklichkeit, Bild und Wunschvorstellung bis zur Unauflöslichkeit miteinander verbunden. Hinzu kommt, daß die reale Kindheit historische Wandlungen durchgemacht hat, die uns aber wiederum fast nur noch in indirekten Schilderungen oder erst zu deutenden historischen Fakten zugänglich sind; auch dürfen nationale Unterschiede nicht übersehen werden 8 . Im folgenden soll versucht werden, dem eigenartigen Zusammenhang von wirklicher und mythisierter Kindheit auf die Spur zu kommen, über den sich auch Tolstoi wunderte: „Seltsam, daß ich als Kind mich mühte, einem Großen ähnlich zu sein, aber seit ich es nicht mehr bin, häufig gewünscht habe, einem Kinde zu gleichen." 9

1. Zur Geschichte der Kindheit Der Gefahr, statt über Kinderbücher nur über Kinderleben der Vergangenheit oder Gegenwart zu schreiben10, erliegen sehr viele Literarhistoriker, weil sie Literatur und Realität allzu schnell und direkt vermitteln, weil sie in jener oft weiter nichts als Quellenmaterial sehen und eine Art Abbildcharakter der Literatur zumindest unausgesprochen voraussetzen. Kennzeichnend für diese unzulässige Verwirrung ist 5

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Baudelaire: Les Paradis artificiels (1860). — Œuvres, S. 530—532: „ L e Génie Enfant", hier S. 532. Grillparzer: Biographisches. — Werke T. 14, S. 152. Ionesco: Warum ich schreibe! (1977), S. 421. Vgl. dazu vor allem Hagen: Kinder, wie sie im Buche stehen (1967); Materialauswahl und Urteile sind allerdings einseitig. Tolstoi: Lebensstufen. Bd. 1: Kindheit, Knabenalter. — Sämtliche Werke III. Serie, Bd. 1, S. 116. Davor warnt auch William Sloane: Children's Books in England 8c America in the Seventeenth Century (1955), S. V I I - V i l i .

1. Zur Geschichte der Kindheit

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beispielsweise Marie-Luise Könnekers Anthologie „Kinderschaukel" (1976), die sich im Untertitel „Ein Lesebuch zur Geschichte der Kindheit in Deutschland" nennt: Die Sammlung enthält nur Texte von Schriftstellern und Pädagogen und bietet höchstens einen Ausschnitt aus der Geschichte des Kinderbildes und der Kinderliteratur. Lloyd de Mäuse, der als einer der wenigen seine Untersuchung der Geschichte der Kindheit auf eine breite und kritisch gedeutete Quellenbasis stellt, konnte jüngst die Probleme solcher Geschichtsschreibung zusammenfassen und trotz einer umfangreichen, ja fast modischen Beschäftigung mit Kind und Kindheit zu Recht behaupten, daß die Untersuchung der Geschichte der Kindheit gerade erst beginnt, denn in den meisten jener Arbeiten werden die die Kindheit betreffenden Tatsachen stark verzerrt. Offizielle Biographen verfahren am schlimmsten. Die Kindheit wird bei ihnen im allgemeinen idealisiert, und nur wenige Biographen geben irgendeine brauchbare Information über die ersten Lebensjahre der von ihnen behandelten Personen. Die Geschichtssoziologen entwickeln Theorien zur Erklärung von Wandlungen in der Kindheit, ohne sich mit der Untersuchung auch nur einer einzigen Familie — sei es in der Vergangenheit oder in der Gegenwart — zu befassen. Die Literarhistoriker verwechseln Bücher mit dem Leben und konstruieren ein fiktives Bild von der Kindheit [. . .]. Der Sozialhistoriker schließlich, dessen Aufgabe darin besteht, die realen sozialen Bedingungen vergangener Zeiten darzustellen, sperrt sich am energischsten gegen die Tatsachen, auf die er stößt. 11 Der Mythos vom Kind wirkt mächtig in alle diese Gebiete hinein. Allzuoft hat man als Quellen vor allem theologische, philosophische oder pädagogische Texte, Biographien und Autobiographien, Dichtung und bildende Kunst herangezogen, ohne diese in ihrem Kontext, in ihrem vielfach gebrochenen und schillernden Verhältnis zur Realität zu würdigen. Das sind ähnliche, fast unlösbare Probleme, wie sie sich auch der Rezeptionsästhetik stellen. So ist es ein Kurzschluß, wenn Philippe Ariès beispielsweise aus der Ikonographie des Mittelalters, welche die Kinder als MiniaturErwachsene darstellte 12 , darauf schließt, daß das Mittelalter Kindheit nicht gekannt habe 1 3 . Ariès' Buch, das der Gefahr, die Quellen .wörtlich' zu nehmen, oft nicht entgeht, ist aber zu einer Art „Heiligen Schrift" 1 4 nicht nur für manche Historiker

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de Mäuse: Evolution der Kindheit. — In: Hört ihr die Kinder weinen (1977; amerikanische Erstausgabe u.d.T. „The History of Childhood", 1974), S. 12—111, hier S. 16. Vgl. die Einwände dagegen ebenda S. 18. Ariès: Geschichte der Kindheit (1975; Erstausgabe 1960), S. 9 2 - 1 1 1 . - Hier hat Ariès Mythos und Realität verwechselt. Die „Unkindlichkeit" z.B. in mittelalterlichen bildlichen oder poetischen Darstellungen der Kindheit Jesu (vgl. auch Ursula Gray: Das Bild des Kindes im Spiegel der altdeutschen Dichtung und Literatur [1974], S. 12) beruht auf den Attributen des göttlichen Kindes. Auch an den im Mittelalter besonders lebendigen Topos vom puer senex ist hier zu erinnern; Heilsbringer waren oft pueri senes (vgl. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1954], S. 108—112.) Siehe dazu unten S. 33—34. Vgl. de Mäuse: Evolution der Kindheit. - In: Hört ihr die Kinder weinen (1977), S. 18.

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

geworden. Seine zentrale These vom fehlenden A b s t a n d , den grundsätzlich gemeinsamen Lebensbereichen v o n Erwachsenen u n d Kindern in der Gesellschaft bis z u m 16./17. Jahrhundert w u r d e nur allzu gern von Kritikern der bürgerlichen Gesellschaft a u f g e n o m m e n : Es ist überaus bemerkenswert, daß die alte Spielgemeinschaft zwischen Kindern und Erwachsenen zur gleichen Zeit auseinandergebrochen ist wie die zwischen Volk und Bourgeoisie. Aufgrund dieses Zusammentreffens können wir nunmehr umrißhaft eine Beziehung zwischen der Einstellung zur Kindheit und dem Sinn für Klassenunterschiede erkennen. 15 Familie und Schulen hätten das einstmals freie Kind „ m i t vereinten Kräften aus der Gesellschaft der Erwachsenen herausgerissen." 1 6 Deren Besorgnis habe dem K i n d seit dem 18. Jahrhundert „ d i e Zuchtrute, das Gefängnis, all die Strafen beschert, die den Verurteilten der niedrigsten Stände vorbehalten w a r e n . " 1 7 Ariès sagt nirgends genau, auf welche Stände oder Klassen sich seine Einlassungen zur Geschichte der Kindheit beziehen; es sind jedoch meist die Oberschichten, wie seine Quellen nahelegen. G e g e n Ende seiner Arbeit betont er sogar, daß sich in den unteren Volksklassen die alten Verhältnisse o f t bis in die Gegenwart erhalten haben. 1 8 D a s unterdrückte Volk und die unterdrückten Kinder als A u s d r u c k desselben Klassenbewußtseins — zu dieser bestechend einfachen Gleichung verfälscht, findet man Ariès oft und begierig zitiert 1 9 . Einwände werden beiseite geschoben: Man dürfe ihm keine Pauschalisierung vorwerfen, das wäre pedantisch, „Einzeluntersuchungen sind nachz u a r b e i t e n " 2 0 . Die Theorie ist da, nun müssen die Details nachgeliefert werden. Die o f t unvorstellbare Unterdrückung und A u s b e u t u n g von Kindern entsteht nicht zusammen mit modernen Klassengegensätzen nach dem Zerfall der traditionalen Gesellschaft. D i e moderne (Klein-)Familie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hat aufs G a n z e gesehen die Freiheit des Kindes weder beschränkt noch die Bestrafung verschärft. 2 1 D i e Situation der Kinder in der alten großen Haushaltsfamilie war wesentlich schlechter. V o m H a u s her gesehen waren sie den Dienstboten gleichgeordnet — eine Vorstellung, die sich über die deutsche „Hausväterliteratur" bis zu Aristoteles zurückverfolgen läßt; bei ihm herrscht der Hausvater über seine Frau, die Kinder u n d Sklaven als den drei beseelten Teilgemeinschaften der O i k i a : „ E r ist als Mann seiner Frau, als Älterer und Vollendeterer dem Kind und als Freier

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Ariès: Geschichte der Kindheit (1975, Erstausgabe 1960), S. 173-174. Ebenda S. 562. Ebenda. Ebenda S. 555. z.B. bei Eischenbroich: Kinder werden nicht geboren (1977) und Firestone: Frauenbefreiung und sexuelle Revolution (1975), S. 71-99: Kap. 4 „Nieder mit der Kindheit!". Eischenbroich: Kinder werden nicht geboren (1977), S. 55. de Mäuse: Evolution der Kindheit. — In: Hört ihr die Kinder weinen (1977), S. 18.

1. Zur Geschichte der Kindheit

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dem Sklaven ü b e r l e g e n . " 2 2 Kinder hatten ihren W e r t als N a c h k o m m e n und Arbeitskraft. Die Unterdrückung der Kinder ist älter als die Kluft zwischen Volk und B o u r geoisie. D e Mäuse hat die Evolution der Kindheit in großen Zügen nachgezeichnet 2 3 . Die Geschichte der Kindheit steht danach in scharfem Gegensatz zu ihrem M y t h o s ; sie ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell mißbraucht wurden. 24 In der griechischen Antike, der gemeinhin große Liebe zum Kind bescheinigt w i r d 2 5 , war Kindermord an der Tagesordnung. Kinder landeten auf Misthaufen, in Jauchegräben, wurden in Krüge e i n g e m a c h t ' , um dort zu verhungern, u s f . 2 6 V o r allem waren Mädchen betroffen, da zu gewissen Zeiten nie mehr als eine Tochter aufgezogen w u r d e 2 7 . Polybios macht gar die Tötung von legitimen Kindern für den Bevölkerungsschwund Griechenlands verantwortlich 2 8 . W a s jedoch die illegitimen Kinder angeht, so waren noch Ende des 19. Jahrhunderts tote Säuglinge in den Straßen Londons kein ungewöhnlicher A n b l i c k 2 9 . Kinder wurden und werden geprügelt; Ludwig X I I I . , Ariès' Musterbeispiel für ein ins Erwachsenenleben integriertes — und demnach glückliches Kind —, wurde vom zweiten Lebensjahr an jeden Morgen ausgepeitscht. Später noch hatte der König nachts deswegen Alpträume 3 0 . A m längsten hielt und hält sich die Prügelstrafe für Kinder in Deutschland; 1964 billigten 8 0 % der Eltern das Schlagen der Kinder, 3 5 % mit dem R o h r s t o c k 3 1 .

Hoffmann: Die ,Hausväterliteratur' (1959), S. 12; vgl. auch Möller: Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert (1969), S. 10. 2 3 Vgl. auch die Literaturübersicht Giehler/Lüscher: Die Soziologie des Kindes in historischer Sicht (1975); die wichtigste Literatur ist jetzt erschlossen in Herrmann/Renftle/ Roth: Bibliographie zur Geschichte der Kindheit, Jugend und Familie (1980). — Siehe auch das material- und bilderreiche Buch von Weber-Kellermann: Die Kindheit. Kleidung und Wohnen. Arbeit und Spiel (1979). 2 4 de Mäuse: Evolution der Kindheit. — In: Hört ihr die Kinder weinen (1977), S. 12. 2 5 Mühlbauer: Kind. — In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 4 (1976), Sp. 8 2 7 - 8 3 4 , hier Sp. 827. 2 6 de Mäuse: Evolution der Kindheit. — In: Hört ihr die Kinder weinen (1977), S. 46. 2 7 Ebenda S. 47. 2 8 Ebenda. 2» Ebenda S. 5 1 - 5 2 . 3 0 Ebenda S. 68. 3 1 Ebenda S. 70; vgl. auch: Gewalt gegen Kinder. Kindesmißhandlungen und ihre Ursachen (1975) mit reichem statistischen Material, internationalen Diskussionsbeiträgen und ausführlicher Bibliographie. 22

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

Den Reformen der Spätaufklärung, in vielem durchaus nicht kinderfreundlich 32 , folgte in der Praxis für den Großteil der Kinder wenig Besserung. Die ökonomische Wandlung, besonders die zunehmende Industrialisierung, brachte nun in den untersten Schichten das unvorstellbare Elend der Kinderarbeit in Fabriken 33 . Dabei muß man sich vergegenwärtigen, daß die Industriearbeit von Kindern ursprünglich eine Erfindung der aufgeklärten Menschenfreunde war, kam sie doch in philanthropischen Waisenhäusern auf 34 . Freilich waren die Kinder auch in der bürgerlichen und bäuerlichen Haushaltsfamilie als Arbeitskraft eingespannt, aber erst die Industrialisierung riß das Kind aus dem relativ sinnvollen Arbeitsplatz in der Familie heraus und entfremdete es sowohl der Familie als auch der Arbeit. Noch 1922 hinterließ die „Barbarei der Kinderarbeit" „ein verwüstetes Kinderland" 3 5 . Dabei ist unausgesprochen der Mythos von der Kindheit als Paradies das Gegenbild. Rühle hat dann auch den hellsten Kindheitsmythos und die schwärzeste Realität wirkungsvoll kontrastiert: „In der christlichen Mythe knien die Frommen vor dem Kindlein im Staube, es anzubeten und mit den Ehren eines himmlischen Königtums zu überschütten. In der Wirklichkeit dieses Lebens tritt die christliche Gesellschaft der Armen Kind, das in Ställen geboren wird und in Krippen gebettet liegt, mit Füßen, reißt ihm die Mutter fort und gibt es rücksichtslos allen Zufälligkeiten, Nöten und Gefahren preis." 3 6 Diese Worte des Sozialisten Rühle lenken freilich den Blick ausschließlich auf eine einzige, wenn auch die größte soziale Schicht. Bürgerliche oder adlige Kinder kannten zwar solche unmittelbaren existentiellen Bedrohungen nicht, doch gilt auch hier, daß es für die meisten ein Paradies der Kindheit in Wirklichkeit nie gegeben hat. So hebt Ferdinand Oeter hervor, daß die „unmenschliche Strenge und Härte" der Väter den Kindern gegenüber im 18. und 19. Jahrhundert „gar nicht außergewöhnlich, sondern weit eher zeitgemäß" war, und er verweist auf die Memoirenliteratur, als Beispiele nennt er die Kindheit Basedows, Schillers, Fichtes und Beethovens 37 . Eine amerikanische Untersuchung von 250 Autobiographien kam 1909 32 33 34

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Siehe unten S. 3 7 - 3 8 und 133-137. Vgl. Kuczynski: Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland (1958). Flitner/Hornstein: Kindheit und Jugendalter in geschichtlicher Betrachtung (1964), S. 329. — Vgl. vor allem Salzmann: Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde Bd. 5 (1782), S. 7 7 - 1 3 8 : Das dessauische Arbeitshaus. Rühle: Das proletarische Kind (1922), S. 270-295, Zitat S. 295. Ebenda S. 158; Ralf Dahrendorf faßt — zweifellos überspitzt - noch 1965 die Situation der Kinder in Deutschland in dasselbe Bild, wenn er „die heilige Familie und die tödliche Hausgeburt" nebeneinanderstellt — Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland (1965), S. 394. — Zum Kinderelend unseres Jahrhunderts, vor allem in der heutigen sogenannten „Dritten Welt", siehe die erschütternde Dokumentation von Peter Townsend: U n d wer rettet die Kinder (1980). Oeter: Die Familie als soziale Funktionseinheit. - In: Familie und Gesellschaft (1966), S. 1 - 2 1 , hier S. 8 - 9 .

2. Der Mythos von Kind und Kindheit

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sogar zu dem Ergebnis, daß es keine glücklichen Erinnerungen an die Kindheit gebe 3 8 ; auch in deutschen Autobiographien, so können wir ergänzen, sind glückliche Kindheiten die Ausnahme 3 9 . Gerade große Verherrlicher von Kindheit und Kindlichkeit scheinen in ihrer Kindheit gelitten zu haben, wie das Beispiel Brentanos zeigt 4 0 . U n d so verwundert es nicht, wenn Chombart de Lauwe in ihrer minuziösen Untersuchung von französischen Autobiographien und Romanen von 1850 bis zur Gegenwart ganz allgemein feststellt, daß auch als glücklich geschilderte Kindheiten nicht glücklich gewesen zu sein brauchen; diese Notwendigkeit „d'avoir vécu une enfance heureuse" 4 1 und die daraus erwachsenden Stilisierungen und Mythisierungen aber gehören bereits zum Mythos der Kindheit.

2. D e r M y t h o s v o n K i n d u n d K i n d h e i t „ V o m ,Götterwort' zum ,Massentraumbild' " hat Werner Betz seine wortgeschichtliche Skizze von ,Mythos' überschrieben und auf die „ungewöhnliche Polysemie" des Begriffes abgehoben 1 . Es kann hier also nicht darum gehen, auch nur einen Abriß der verschiedenen Mythos-Auffassungen zu geben. Bevor wir uns der Geschichte und Deutung des Kindmythos zuwenden, soll, da es ,die' Definition des Mythos nicht gibt 2 , im Anschluß an traditionelle und moderne Interpretationen unser Mythos-Verständnis umrissen werden. Auch Kerényi will ,Mythos' als eine Art Arbeitsbegriff von der einseitigen „gewaltsamen" Festlegung auf die streng philologische Bedeutung „ .geordnete' Erzählung" frei halten: „Wir können freilich nicht umhin, wenn wir das Wort ,Mythos' in unserer modernen Wissenschaft gebrauchen, ihm eine beschränktere oder erweiterte Bedeutung zu geben, oder ver-

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*Anna Robeson Burr: The Autobiography. A Critical and Comparative Study. Boston 1909 — zit. nach de Mause: Evolution der Kindheit. — In: Hört ihr die Kinder weinen (1977), S. 18. Vgl. Hardach-Pinke/Hardach (Hrsg.): Deutsche Kindheiten (1978), passim. Vgl. Schaubs detaillierte Darlegungen: Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 65, 68, 111 u.ö. Chombart de Lauwe: Un monde autre: l'enfance (1971), S. 221-224, Zitat S. 221 vgl. dazu unten S. 43-44. — Siehe auch Gabriel Laub: Die Kindheit ist ein Märchen. - In: Voß (Hrsg.): Kindheiten (1974), S. 11-15, z.B. S. 12: „,Wie glücklich man doch in diesem Alter ist!' Diesen Satz findet man in den Erinnerungen der Prinzessin Wilhelmine von Preußen. Dabei war die Kindheit der Prinzessin ein einziger Alptraum, voller psychischer und selbst physischer Qualen, mit jenen vergleichbar, die die kleinen Helden von Dickens erlitten haben." In: Mythos und Mythologie irr der Literatur des 19. Jahrhunderts (1979), S. 11-24, Zitat S. 12. Hans Poser: Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Mythos. — In: Philosophie und Mythos (1979), S. V - X I , hier S. VII.

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

schiedene Arten dessen zu unterscheiden, was wir als ,Mythos' bezeichnen." 3 In unserem Zusammenhang meint Mythos einen doppelten Sachverhalt: einmal die traditionellen und tradierten Mythen, zum anderen moderne oder von Dichtern geschaffene Mythen, die nicht unbedingt als dichterische Symbole im Werk zu erscheinen brauchen, sondern — vor allem bei manchen literarischen Kindererziehern — als Schaffensgrund dem Werk vorausliegen können. Solche Ausdehnung des Mythosbegriffes hat ihre Rechtfertigung auch in der Funktionsgleichheit alter und ,neuer' Mythen 4 . Diese sind in unserem konkreten Fall meist Abwandlungen, Umdeutungen oder Neufassungen der alten. So haben alle Mythen eine historische Dimension, die aus dem jeweiligen Kontext erschlossen werden muß. Es ist sicher zu einfach, moderne Mythen pauschal als bedauernswerte Rückkehr zu primitivem Denken, als Einladung zu finsterer und zynischer Manipulation aufzufassen 5 und vernünftige Wesen jeglicher Mythenbildung für unfähig zu erklären 6 . Die Spannung zwischen der Ratio und dem in Bildern sprechenden Mythos besteht für die Neuzeit seit der Aufklärung; Mythenkritiker waren damals wie heute davon überzeugt, „das lumen naturale der aufgeklärten Ratio könne alles auflösen, was in Mythen gesagt oder gemeint ist [. . ,]." 7 Der klassische Philologe Christian Gottlob Heyne sah demgemäß den Ursprung der Mythen in einem dreifachen Mangel früherer Zeiten: „im Mangel an Wissen, an Ausdrucksvermögen und im Mangel an Distanzierung und Bewußtheit" 8 . Doch die romantischen Mythenforscher wendeten diese - vor allem sprachlichen — Mängel ins Positive. Für Creuzer war die „Sprache selbst [. . .] eine fruchtbare Mutter von Göttern und Helden"; in den Mythen sah er den Versuch der Erklärung mißverstandener bildlicher Ausdrücke 9 . Ganz ähnlich 3

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Kerényi: Was ist Mythologie? - In: Eröffnung des Zugangs zum Mythos (1967), S. 212—233, Zitat S. 215; vgl. auch ders.: Wesen und Gegenwärtigkeit des Mythos 1964. — ebenda S. 2 3 4 - 2 5 2 . Vgl. Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (1973), S. 7—8, wo ausdrücklich auf jede Definition des Mythos verzichtet wird. — Zur Unterscheidung der Eigenschaften mythischer Erzählungen von ihren tieferliegenden Funktionen vgl. Hans Poser: Mythos und Vernunft. Zum Mythenverständnis der Aufklärung. — In: Philosophie und Mythos (1979), S. 130—153; Poser verweist ausdrücklich auf Kolakowskis und Eliades „Funktionsbegriff". Vgl. Jost Hermand in: Myth and Reason (1973), S. 99. So Hermand, ebenda S. 175. Hans Poser: Mythos und Vernunft. — In: Philosophie und Mythos (1979), S. 130. — Grundlegend dazu jetzt Heinz Gockel: Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff in Aufklärung und Frühromantik (1981). Betz: Vom ,Götterwort' zum ,Massentraumbild'. — In: Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts (1979), S. 14. Creuzer: Der Mythos in seinem Verhältnis zum Symbol (Auszug aus Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker [1810]). — In: Eröffnung des Zugangs zum Mythos (1967), S. 35—58, hier S. 45. — Kerényi wirft Creuzer sicher zurecht die „Verfehlung des richtigen hermeneutischen Ausgangspunktes" vor — ebenda S. XIV (Vorwort).

2. Der Mythos von Kind und Kindheit

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nannte Schelling die Sprache „verblichene Mythologie" 1 0 . Rationalisten aber mußte gerade solche Mythendeutung in ihrer Ablehnung bestärken; der in diesem Zusammenhang immer wieder zitierte Sprachforscher, Indologe und Begründer der vergleichenden Mythologie Max Müller stellte so als erster eine allgemeine Theorie über das Verhältnis von Sprache und Mythos auf und erklärte, durch die Entdeckung des Sanskrit fasziniert, die Mythen aus Homonymen und dem vergessenen Sinn von Metaphern, sah darin aber im Gegensatz zu den Romantikern eine Trübung der wahren Erkenntnis: Die Mythologie sei „der dunkle Schatten, welchen die Sprache auf den Gedanken wirft" 1 1 , und er zog ein Fazit: „Die Mythologie ist nur ein Dialekt, eine alte Form der Sprache. Sie ist nichts Substantielles, sondern nur etwas Formelhaftes." 1 2 Ohne Max Müller zu nennen, hat Roland Barthes, einer der schärfsten Mythenfeinde der Gegenwart, solche Gedanken durch die moderne Semiologie zu untermauern versucht 13 . Doch mußte er aus demselben Grunde wie die alte Mythenkritik der Aufklärung scheitern: Die Absoluttetzung der Vernunft nimmt selbst Züge des Mythischen an 14 . Denn die Vernunftwahrheiten hängen ja von „einem jeweils akzeptierten zeitlich variablen Horizont des Vernünftigen" ab 1 5 , der sich nicht der Kritik aussetzt. Radikale Mythenkritik, den Versuch völliger Entmythologisierung — nicht nur in bezug auf die Bibel — nannte Jaspers in seiner Auseinandersetzung mit dem Theologen Bultmann bissig „Aufkläricht" 1 6 . Für Jaspers wie für Herder sind mythische Bilder unumgänglich als „Erlebnisweise des Wirklichen" 1 7 . Die romantische Mythendeutung von Görres, Schelling, Grimm bis Bachofen war dann auch von der inneren Wahrheit des Mythos überzeugt 18 und verstand ihn als „sinnbildliche Einkleidung und Gestaltwerdung menschlicher Welt- und Selbstauslegung" 19 . Auch für 10

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Vgl. Cassirer: Sprache und Mythos (1925). — In: Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs (1965), S. 71 — 167, hier S. 146 (das Zitat stammt aus Schellings „Einleitung in die Philosophie der Mythologie"). ''Max Müller: Über Philosophie und Mythologie — zit. nach ebenda S. 76. — Schon Boileau (in „Sur l'équivoque") suchte den Ursprung der Mythen in der Mehrdeutigkeit der Worte - Œuvres complètes (1966), S. 8 7 - 9 9 . Müller: Vergleichende Mythologie. - In: Müller: Essays Bd. 2 (1869), S. 1 - 1 2 7 , Zitat S. 127. Barthes: Mythen des Alltags (1964), bes. S. 8 8 - 1 2 3 . Hans Poser: Mythos und Vernunft. — In: Philosophie und Mythos (1979), S. 150; Poser erwähnt Barthes nicht. Ebenda S. 152. Jaspers: Entmythologisierung (1954), S. 19. Ebenda S. 31. Vgl. die verschiedenen Quellen in: Eröffnung des Zugangs zum Mythos (1967), passim. — Siehe auch Klaus Zieglers Beitrag in: Das Problem der Mythologie. — In: Symphilosophein (1952), S. 2 5 8 - 2 6 6 , bes. S. 260. Klaus Ziegler: Mythos und Dichtung. — In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Bd. 2 (1965), S. 5 6 9 - 5 8 4 , hier S. 571; vgl. auch unten S. 9 9 - 1 1 1 über den romantischen Mythos von der .Volkspoesie'.

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

Nietzsche war der Mythos „das zusammengezogene Weltbild" und die „Abbreviatur der Erscheinung" 20 . In unserem Jahrhundert haben Cassirer 21 , Mircea Eliade, Walter F. Otto, Kerényi, C. G. Jung, Lévi-Strauss und Kolakowski die Resistenz und „Gegenwärtigkeit des Mythos" betont 22 . Seine „Sinngebungs- und Orientierungsfunktion" 23 hat er auch heute noch als notwendige Ergänzung zum unerläßlichen Versuch, die Lebensprobleme rational zu bewältigen. Herrscht Gleichgewicht zwischen Mythos und Vernunft, so verliert die „unheimliche, metaphorische, mythenbildende Kraft" der Sprache 24 ihre von der modernen Sprachkritik beschworene Untauglichkeit als Quelle der Erkenntnis und Medium der Darstellung 25 , und wir erkennen, daß Sprache im Sinne Humboldts positiv als „Arbeit des Geistes" und „bildendes Organ der Gedanken" zu verstehen ist 26 . Unser Mythosbegriff bewegt sich also — und das wird in der nun folgenden Skizze des Mythos von Kind und Kindlichkeit noch deutlicher — zwischen den Polen tradierter Göttersage, Welterklärung — auch in Gestalt des Archetyps —, dichterischem Symbol 2 7 und privater Mythisierung der Realität 28 . Die Beziehung des Mythos zur Realität ist dabei stets doppelt: Aus der — wie auch immer zustandegekommenen — metaphysischen Absolutsetzung einer Aussage über Weltzusammenhänge oder über die menschliche Existenz wird der Mythos, der dann machtvoll auf die Realität zurückwirken kann, bewahrend oder auch revolutionär. Denn im Mythos können sogar große utopische Energien stecken, die auf Veränderung des Bestehenden abzielen. Bei Ernst Bloch ist Kindheit Vorschein der Utopie.

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Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. § 2 3 . - Werke Abt. III, Bd. 1, S. 141. Cassirer versteht Sprache, Mythos, Kunst und Erkenntnis als Symbole, die je eine eigene Welt des Sinnes schaffen und als „ideale Sinngebungen" zu verstehen seien — Cassirer: Sprache und Mythos (1^25). — In: Cassirer: Wesen und Wirken des Symbolbegriffs (1965), S. 79. Vgl. Hans Poser: Mythos und Vernunft. - In: Philosophie und Mythos (1979), S. 130. Hans Poser: Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Mythos. — ebenda S. VII. Mauthner: Kritik der Sprache (3. Aufl. 1923) Bd. 3, S. 622. - Zu Mauthner und Fragen der Sprachkritik seit der Jahrhundertwende siehe Kühn: Gescheiterte Sprachkritik (1975), bes. S. 51 — 101: „Fritz Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache". Vgl. auch ebenda S. 57. Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1836). — Werke Bd. 3, S. 3 6 8 - 7 5 6 , Zitate S. 418 und 426. Emrich hat zurecht betont, daß trotz vorhandener Analogien eine geschichtslose Identifizierung von archaischen Mythen und dichterischen Symbolen unzulässig ist — Emrich: Symbolinterpretation und Mythenforschung (1953/1960), S. 83. Vgl. auch die Bedeutungsübersicht bei Betz: Vom .Götterwort' zum .Massentraumbild'. — In: Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts (1979), S. 24.

2. Der Mythos von Kind und Kindheit

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Für das literarische Kinderbuch bedeutet ,Kind' in den seltensten Fällen das reale Kind, auch dann nicht, wenn das Werk in lebendigem Kontakt mit den Kindern oder sogar für sie entstanden ist 2 9 . Gerade bei der Kinderliteratur und ihrem Verhältnis zum ,Kind' zeigt sich die mythenbildende Kraft der Sprache, zeigt sich, daß im ,Kind' die Welt gedeutet wird. D e r Mythos von Kind und Kindheit tritt im Verlauf der Geschichte in zwei Grundformen auf, dem Mythos vom göttlichen Kind und dem vom Kind als Verkörperung von Ursprung, Natur und Goldenem Zeitalter. Beide Formen sind oft eng miteinander verbunden, vor allem seit Vergils berühmter 4. Ekloge, wo mit dem Erscheinen des heilbringenden göttlichen Knaben auch der Anbruch des Goldenen Zeitalters prophezeit wird. C . G . J u n g 3 0 und Karl Kerényi haben als Beispiel für ihre „Einführung in das Wesen der Mythologie" das Kindmotiv gewählt. Die zahlreichen göttlichen Kinder, die Kerényi vorführt, sind keine Abbilder realer Kinder, sie weisen auf kein biographisches Lebensalter, sondern auf das Wesen des Gottes 3 1 . Jung spricht von dem auffallenden Paradoxon in allen Kindesmythen: Das Kind sei einerseits „übermächtigen Feinden ohnmächtig ausgeliefert und von ständiger Auslöschungsgefahr bedroht", andererseits verfüge es aber über Kräfte, „welche menschliches Maß weit übersteigen." 3 2 Zu den mythischen Kindgöttern gehört auch der Hermesknabe in der 4. homerischen Hymne „ A n Hermes", wo bereits ein Nebenmotiv des Mythos, die Vorstellung vom Dichter als Kind, anklingt: Der Hermesknabe macht aus einer Schildkröte die erste Leier (V. 24—62). Zwar verbietet sich in moderner Zeit eine unmittelbare Identifizierung neuer Gestaltungen mit dem alten Mythos 3 3 , doch kommt es nicht von ungefähr, wenn Goethe beispielsweise als Symbol des Genius der Poesie durchweg Kinder wählt, die zudem noch viele Attribute des göttlichen Kindes haben (über- oder unnatürliche Geburt, Doppelgeschlechlichkeit usf.): Mignon, Knabe Lenker, Euphorion, Homunculus, der Kind-Genius in der Fortsetzung der „Zauberflöte". 3 4

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Siehe unten S. 122—126: Der .private' Mythos. Zu den psychoanalytischen Deutungsversuchen und zu den Fragen von Archetypen siehe unten S. 4 2 - 4 5 . Jung/Kerényi: Einführung in das Wesen der Mythologie (1951), S. 42; bei der Diskussion der Kindlichkeit Goethes unterscheidet Wilhelm Emrich ähnlich zwischen Kindheit als biographischer und als ontologischer Realität — Emrich: Symbolik von Faust II (1964), S. 103. Jung/Kerényi: Einführung in das Wesen der Mythologie (1951), S. 132. Diesen Fehler macht Dornheim: Goethes „Mignon" und Thomas Manns „Echo". Zwei Formen des „göttlichen Kindes" im deutschen Roman (1952); doch liegt den meisten Literaturwissenschaftlern, die auf Ergebnisse der Psychoanalyse und Mythenforschung zurückgreifen, solches Vorgehen fern; vgl. auch die Kritik bei Emrich: Symbolinterpretation und Mythenforschung (1953/1960), S. 6 8 - 7 0 . Ebenda S. 71-74.

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

Wichtig auch für die Kinderliteratur sind alle kindlichen Heilsbringer, besonders die Gestalt des Jesukindes. Seine bildliche Darstellung ist nicht nur Vôrfahre aller kleinen Kinder in der bildenden Kunst, es spielt überdies als kindliche Identifikationsfigur im Bilderbuch des 19. Jahrhunderts (z.B. bei Pocci) eine bedeutende Rolle. Spuren der göttlichen Kinder finden sich aber auch in Volkserzählungen, Kerényi selbst weist auf den Märchentypus vom „Starken Hans" (AaTh 650A) hin 35 . In indischen, mongolischen, aber auch in europäischen Erzählungen sind Kinder von wunderbarer Weisheit nicht ungewöhnlich; als kluge Rätsellöser werden sie mit Problemen fertig, die erwachsene Weise nicht lösen können 36 . Auch die Zwerge, kleine aber mächtige Wesen, sind mit den Kindgottheiten verwandt 37 , ebenso wie der Däumling in beiden Märchentypen „Däumling und Menschenfresser" (AaTh 327B) und „Däumling" (AaTh 700). Man hat sogar versucht, den Däumling (in AaTh 700) direkt auf den Hermesknaben der homerischen Hymne zurückzuführen 38 . Auch sonstige Tricksterhelden sind fast immer äußerlich schwach und zwergenhaft 39 . Verständlicherweise sind solche Märchentypen meist als Märchen für Kinder betrachtet worden. Von hier führt auch eine Linie zu den kindlichen Helden der Abenteuerromane von Marryats „Peter Simple" bis zu Stevensons „Treasure Island" oder den völlig trivialisierten Figuren bei Enid Blyton. Ja, selbst bei Tick, Trick und Track von Walt Disney lassen sich noch einige Analogien zum Mythos des göttlichen Kindes entdecken, von der überlegenen Klugheit bis zum Waisenschicksal; warum die drei Enten elternlos sind, wird nicht gesagt: Auch das gehört zum travestierten Mythos. Die zweite Grundform des Mythos tritt im 18. Jahrhundert verstärkt auf, als die alte Gesellschaftsordnung im Begriff war zu zerfallen. In verschiedener Gestalt wird der Mythos vom Goldenen Zeitalter mit dem Kindmythos verbunden und mit neuem Inhalt gefüllt. Zwar spielt er im Fürstenpreis zur Zeit Ludwigs X I V . und auch in bezug auf Friedrich II. eine gewisse Rolle 4 0 , aber die eigentliche Bedeutung erreicht der Mythos erst in einer ganz spezifischen Prägung. Kindheit als Ursprung jedes Menschen, als Harmonie mit sich selbst und der ihn umgebenden Welt wird mit dem Goldenen Zeitalter in eins gesetzt: „Alle Völker, die eine Geschichte haben, haben

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Jung/Kerényi: Einführung in dai Wesen der Mythologie (1951), S. 51. - AaTh = Aarne/ Thompson: The Types of Folktale (1973). Clouston: Popular Tales and Fictions Bd. 2 (1887), S. 1 2 - 1 3 ; bes. aber de Vries: Die Märchen von klugen Rätsellösern (1928), S. 4 0 6 - 427. von Beit: Symbolik des Märchens Bd. 1 (1956), S. 363. Vgl. Pape: Däumling (AaTh 700). - In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 3, Lfg. 2 / 3 (1980), Sp. 3 4 9 - 3 6 0 , hier Sp. 354. von Beit: Symbolik des Märchens Bd. 2 (1960), S. 503. Vgl. Veit: Studien zur Geschichte des Topos von der goldenen Zeit (1961), S. 159—162.

2. Der Mythos von Kind und Kindheit

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ein Paradies, einen Stand der Unschuld, ein goldnes Alter; [. . ,]." 4 1 Dieses erscheint entweder in der Vergangenheit als Kindheit der Menschheit, in der Gegenwart als Vorbild in den Naturvölkern, die noch keine Geschichte haben, oder in der Z u k u n f t als wiederzugewinnende zweite, höhere Kindheit. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde von vielen, nicht erst am Vorabend der Französischen Revolution, als eine Art Spät- und Endzeit empfunden 4 2 . Hemsterhuis versuchte 1787 in „Alexis ou de l'âge d ' o r " die Möglichkeit der Wiederkehr eines Goldenen Zeitalters zu beweisen 4 3 ; vor allem Novalis' und Hölderlins Denken stand im Zeichen solcher Heilserwartung. Nach Kant entspricht der philosophische Chiliasmus „dem in der Auseinandersetzung mit Rousseau proklamierten Idealziel der Geschichte" 4 4 . Herder teilt die Geschichte der Menschheit in Lebensalter ein und nennt das 18. Jahrhundert das Greisenalter der Menschheit; in den patriarchalischen Zuständen der orientalischen Völker sieht er das „goldne Zeitalter der Kindlichen Menschheit". 4 5 Jean Pauls Charakterisierung der Kinder als „kleine Morgenländer" 4 6 hat sicher hier ihren Ursprung. Der Kristallisationspunkt all dieser Vorstellungen ist Rousseau. Er begründete mit dem „Mythos vom U r s p r u n g " , wo der Wilde und das Kind die N a t u r vertreten, einen „ i m G r u n d religiösen Begriff, der sich in sozialer, politischer, pädagogischer Verhüllung präsentierte." 4 7 Was sein Kinderbild angeht, so hat es zweifellos Vorläufer, ist aber doch das wirkungsmächtigste. Man sieht — besonders auf pädagogischer Seite — in Rousseau den „Entdecker der Kindheit, ihrer Eigenart und ihres Eigenrechtes" 4 8 . U n d doch ist gerade sein Kinderbild Mythos und Wunschbild. Im „Emile" entwarf er das Gegenbild seiner eigenen unglücklichen Kindheit 4 9 : „ V o r dem dunklen Hintergrund der eigenen Kindheit träumte er von einem verlorenen Paradies, das er nie besessen [ . . . ] . " 5 0 Man hat auf die psychologischen Hintergründe hingewiesen, auf das Schuldbewußtsein, das der Tod der Mutter bei seiner Geburt in ihm erweckt hatte und das — so müssen wir ergänzen — noch gesteigert wurde durch die Preisgabe seiner eigenen K i n d e r s l , durch die offensichtliche praktische

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Siehe besonders Schillers Ausführungen in „Uber naive und sentimentalische Dichtung" (1795/96). - Werke Bd. 20, S. 468. 42 Vgl. dazu auch Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 6 - 8 . 43 Petersen: Das goldene Zeitalter bei den deutschen Romantikern (1926), S. 119. 44 Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis (1965), S. 185. 45 Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774). — Sämmtliche Werke Bd. 5, S. 481, im Original gesperrt; vgl. dazu auch Salmony: Die Philosophie des jungen Herder (1949), S. 235. 46 Jean Paul: Levana (1813). - Werke Bd. 5, S. 815 (§ 125). 47 Muschg: Tragische Literaturgeschichte (4. Aufl. 1969), S. 42. 48 Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen (1959), S. 269. 49 Vgl. ebenda S. 192-193. 50 Ueding: Verstoßen in ein fremdes Land (1977), S. 346. 51 Vgl. dazu auch Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen (1959), S. 82-83.

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

Unfähigkeit, vielleicht auch durch Angst vor dem wirklichen Kind. Nur wer als Erwachsener eine so intensive, aber gebrochene Beziehung zu Kindern hatte, konnte einen derartigen Mythos schaffen, der die Sehnsüchte eines ganzen Zeitalters ausdrückt. Muschg meint sogar, daß Rousseau überhaupt keinen Zugang zur Realität hatte; er spricht von dessen „kindisch verzerrtem Schreckbild der Welt" 5 2 . Rousseaus Konstruktion eines Naturmenschen und dessen Parallelisierung zum Kind war als Rekonstruktion der realen Geschichte gedacht. 53 Seitdem ist aus der Anthropologie das Problem von Phylogenese und Ontogenese nicht mehr wegzudenken, selbst bis in die psychologische Begründung der Lesealter (Märchenalter) lassen sich die Spuren verfolgen. Den populärsten Ausdruck hat diese Vorstellung dann 1895 bei Gustave Le Bon gefunden, der Masse, Wilde und Kinder gleichsetzt: Verschiedene besondere Eigenschaften der Massen, wie Triebhaftigkeit (impulsivité), Reizbarkeit (irritabilité), Unfähigkeit zum logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist, Uberschwang der Gefühle (exagération des sentiments) und noch andere sind bei Wesen einer niedrigeren Entwicklungsstufe, wie beim Wilden und beim Kinde, ebenfalls zu beobachten. 5 4

Auch für Freud, der sich auf Le Bon beruft, und für C. G. Jung steht fest, daß „jedes Individuum in seiner Kindheit die ganze Entwicklung der Menschheit irgendwie abgekürzt wiederholt" 5 5 . An anderer Stelle heißt es: Wir haben gesagt: Im Traume und in der Neurose finden wir das K i n d wieder mit den Eigentümlichkeiten seiner Denkweisen und seines Affektlebens. Wir werden ergänzen: auch den w i l d e n , den p r i m i t i v e n Menschen, wie er sich uns im Lichte der Altertumswissenschaft und'der Völkerforschung zeigt. 5 6

In der Kinder-Psychoanalyse haben sich diese Gedanken bis in die Gegenwart gehalten; wir finden sie z . B . noch bei Charles Baudouin 57 oder beim Praktiker Hans Zulliger 58 . Der Mythos der Kindheit konnte deshalb eine solche Macht gewinnen, weil er auch Auskunft über den Ursprung des Menschen zu geben versprach. Sogar Norbert Elias steht noch im Banne solchen mythischen Denkens. Er versteht das Problem von Phylogenese und Ontogenese sozialgenetisch als Ausdruck des Zivilisationsprozesses. Danach vergrößert sich der Abstand zwischen Verhalten und Psyche der Kinder und der Erwachsenen im Laufe der Zeit; hierin sieht er „den Schlüssel zu der Frage, weshalb uns manche Völker oder Völkergruppen als ,jünger' 52 53 54

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Muschg: Tragische Literaturgeschichte (4. Aufl. 1969), S. 300. Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen (1959), S. 450. Le Bon: Psychologie der Massen (1964; E A 1895), S. 19. Freud: Archaische Züge und Infantilismus des Traumes. — Gesammelte Werke Bd. 11, S. 203. Ders.: Psychologische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia. - Ebenda Bd. 8, S. 320. Baudouin: Das Seelenleben des Kindes Bd. 3 (1973), S. 14. Zulliger: Einführung in die Kinderseelenkunde (1967), S. 49 und 58.

2. Der Mythos von Kind und Kindheit

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oder auch als ,kindlicher', andere als ,älter' oder ,erwachsener' erscheinen; was wir auf diese Weise auszudrücken suchen, sind Unterschiede in der A r t und Stufe des Zivilisationsprozesses, den diese Gesellschaften durchlaufen haben." 5 9 Das ist aber lediglich eine vereinfachende Umschreibung der „mythischen" Parallelisierung von Ontogenese und Phylogenese. V o r allem durch Lévi-Strauss sind diese Vorstellungen endgültig als falsch erwiesen; das ,wilde Denken' arbeitet durchaus mit Vernunft, der Wilde besitzt komplexe Kenntnisse und ist der Analyse und Beweisführung fähig 60 . Im 18. Jahrhundert aber hatte der Mythos vom Ursprung der Menschheit, wenn er auch als Rekonstruktion der realen Geschichte gedacht war, seinen letzten Sinn nicht in der Enthüllung der tatsächlichen Verhältnisse der , Wilden' oder der menschlichen Vergangenheit, sondern im Idealzie/ der Geschichte. Beispielhaft und am einflußreichsten war die Formulierung des Dominikanerpaters Jean-Baptiste Du Tertre von 1654, die vielen Intellektuellen des 18. Jahrhunderts geläufig war und in der schon alle Vorzüge des verlorenen Naturzustandes angesprochen waren 6 1 . Du Tertre wollte [. . .] zeigen, daß die Wilden, welche diese Inseln bewohnen, zu Völkern gehören, welche die zufriedensten, glücklichsten, tugendhaftesten, geselligsten, wohlgestaltetsten, von Krankheiten am wenigsten heimgesuchten der ganzen Erde sind. Denn diese Indianer leben, wie die Natur sie geschaffen hat, das heißt in großer Einfachheit und natürlicher Naivität; alle sind sich gleich, Eltern und Kinder begegnen sich ohne Unterwürfigkeit. [. . .] Sie kennen keinerlei autoritäre Ordnung (police), sondern leben alle in völliger Freiheit [. . . ] . « Rousseau übernahm die Forderung nach einem natürlichen Verhältnis von Kindern und Eltern. Die deutsche Aufklärungspädagogik setzte sich davon bewußt ab. Basedow war lediglich in kirchlichen und Religionsfragen, in gewissen praktischen Erziehungsmethoden fortschrittlich; in seinem „Methodenbuch" forderte er: Wenigstens an jedem Tag einmal muß eine Verbeugung oder irgendeine Zeremonie, welche ihre ganze A b h ä n g i g k e i t von den Eltern und Aufsehern anzeigt, die Kinder lebhaft derselben erinnern; [. . .]. Laßt euch nicht von einem sonst weisen R o u s s e a u bereden, daß ein solches Zeremoniell unbedeutend und widernatürlich sei. Was kann natürlicher sein, als daß die Jugend von ihren Eltern und Aufsehern abhängen und dieses Verhältnisses oft er59

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Elias: Über den Prozeß der Zivilisation (1969) Bd. 1, S. LXXIV; im übrigen übernimmt Elias auch von Freud die Vorstellung einer Verwandtschaft der Affekt- und Bewußtseinsstruktur des Kindes, der unzivilisierten Völker und des Unterbewußten (vgl. ebenda S. LXXV). Lévi-Strauss: Das wilde Denken (1973), S. 289. Auch in der Entwicklungspsychologie wird dieser Ansatz heute kaum noch verfolgt; vgl. Nickel: Entwicklungspsychologie (1972), S. 2 2 - 3 3 . Vgl. Bitterli: Die .Wilden' und die .Zivilisierten' (1976), S. 381. *Du Tertre: Histoire générale des Isles de Christophe de la Guadeloupe, de la Martinique et autres dans l'Amérique. Paris 1654, S. 379 — zitiert nach Bitterli: Die .Wilden' und die .Zivilisierten' (1976), S. 380-381.

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit innert werden muß. [. . .] Um aller der Ursachen willen wünsche ich, daß wir uns gewissen Regeln der Erziehung des vorigen Jahrhunderts wiederum etwas nähern möchten.63

Rousseaus Bild vom Naturmenschen weicht in einem Punkt entschieden von D u Tertre ab. Es ergibt sich aus seiner Auffassung der Gesellschaft und wird durch keinerlei Reiseberichte der Zeit gestützt: Sein Naturmensch ist allein. Für ihn ist der Mensch dasjenige Wesen, das am wenigsten zum geselligen Leben geeignet ist 6 4 , nur seine Schwäche macht ihn gesellig. Dieselben Züge überträgt er auf sein Kinderbild. Das Kind lebt bei Rousseau sein Leben für sich 6 5 . Verdorben werden Naturmensch und Kind nur durch die Gesellschaft und die Erziehung — auch hier sollten die deutschen Pädagogen der Aufklärung eine absolute Gegenposition beziehen. Bei Rousseau — wie latent schon bei Du Tertre — enthält der vorbildliche archaische Naturzustand 6 6 auch die Utopie eines wieder zu erstrebenden gesellschaftlichen Zustandes. Utopien, Robinsonaden und phantastische Reiseerzählungen der Aufklärung sind auf diesem Hintergrund zu verstehen. Daß der Weltreisende Georg Forster, der aus eigener Anschauung die ,Wilden' wesentlich realistischer sah 6 7 , später zum Revolutionär wurde und mit einer Landkarte von Indien in den Händen in seinem Pariser Revolutionsquartier starb, ist ein Symbol für den in der Realität dieser Zeit zum Scheitern verurteilten Mythos. Später konzentrierten sich die Inhalte des Mythos immer mehr auf das Kind, so beispielhaft für die Epoche bei Schiller, der die „ N a t u r w i d r i g k e i t unsrer Verhältnisse, Zustände und Sitten" ganz im Sinne Rousseaus anklagt und feststellt: „Unsre Kindheit ist die einzige unverstümmelte Natur, die wir in dei* kultivirten Menschheit noch antreffen, daher es kein Wunder ist, wenn uns jede Fußstapfe der Natur außer uns auf unsre Kindheit zurückführt." 6 8 Schiller erkannte aber auch ganz klar, daß diese Absolutsetzung des Kindes und der Kindheit mit der Realität nicht mehr viel zu tun hat, sondern als erst zu erfüllendes Ideal zum Mythos geworden ist. Ganz so wie Jung später den Mythos allgemein umschreiben sollte — „Alles, was der Mensch sollte, in positivem oder negativem Sinne, und was er noch nicht kann, lebt als mythologische Gestalt und Antizipation neben seinem Bewußtsein" 6 9 —, heißt es bei Schiller:

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Basedow: Methodenbuch (1913, EA 1771), S. 48, Hervorhebung am Schluß des Zitates von mir. Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen (1959), S. 116. Ebenda S. 282. Noch Jean Paul vergleicht Otaheiti (= Tahiti) mit Arkadien — siehe Petersen: Das goldene Zeitalter bei den deutschen Romantikern (1926), S. 167. Vgl. Forster: Sämtliche Schriften Bd. 4, S. 170-193 über die Wirkungsgeschichte von dessen „Reise um die Welt" (1778/80); dort S. 183 — 184 auch der Hinweis auf Porsters Kritik an Rousseau. Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). - Werke Bd. 20, S: 430. Jung/Kerényi: Einführung in das Wesen der Mythologie (1951), S. 131.

2. Der Mythos von Kind und Kindheit

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In dem Kinde ist die A n l a g e u n d B e s t i m m u n g , in uns ist die Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt. Das Kind ist uns daher eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen, und es ist also keineswegs die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken, es ist ganz im Gegentheil die Vorstellung seiner reinen und freyen Kraft, seiner Integrität, seiner Unendlichkeit, was uns rührt. Dem Menschen von Sittlichkeit und Empfindung wird ein Kind deswegen ein h e i l i g e r Gegenstand seyn, ein Gegenstand nehmlich der durch die Größe einer Idee jede Größe der Erfahrung vernichtet [. . .]. 7 0

Auch Jung unterstreicht diesen Aspekt des Kindheitsmythos: „Das Kind ist potentielle Zukunft." 7 1 Andere Psychologen aber erliegen dem Mythos und nehmen ihn und seine Folgeerscheinungen vor allem in der Literatur für reale psychologische Wandlungen. Hans Heinrich Muchow konstruiert in der deutschen Geschichte einen tatsächlichen Wandel der Jugend, der immer dann eintrete, „wenn die Ordnungen nicht mehr unbedingt gültig sind, d.h. wenn sich Gesellschaft und (oder) Kultur in einer tiefgehenden Krise befinden." 7 2 Es ist kein tatsächlicher Wandel des Menschen, der nach Muchow um 1770/90, um 1900 und dann wieder seit 1950 stattfindet, sondern in diesen Zeiten der verstärkten politischen und geistigen Krise erwacht der Mythos vom Kinde, die Verherrlichung von Kindheit und Jugend als Zukunft, zu verstärktem Leben 7 3 . Das erklärt auch das Ideal der Kindlichkeit, das um diese Zeiten immer wieder in der Literatur auftaucht 74 . Nicht umsonst stammen alle Belege, die Muchow für seine These anführt, aus der Literatur oder der literarisch geprägten Oberschicht. Für die Kinderliteratur wurde im 18. Jahrhundert der Mythos der Kindheit zunächst in einer Form wirksam, die zwar an Rousseaus Gedanken anknüpfte, sie aber verkehrte. Eine Vielzahl von Pädagogen und Schriftstellern warf sich mit Vehemenz darauf, die „potentielle Zukunft" des Bürgertums moralisch, politisch und literarisch zu erziehen. Es wird sich zeigen, wie wenig diesen Kinderschriftstellern das Kind wirklich im Schillerschen Sinne Vergegenwärtigung eines Ideals war, sondern nur Gefäß für Vorstellungen von ihrer eigenen bürgerlichen Zukunft. Die pädagogische Verhüllung des Kindheitsmythos erstickte das Kind im Mythos und in der Realität; was übrig blieb, war der Mythos vom Bürger und seiner Zukunft. Lediglich bei Christian Felix Weiße sind die anderen Aspekte des Mythos noch deutlich 75 ; das ist auch ein Grund, warum er sich aus der Masse der damaligen Kinderbuchautoren heraushebt. Man glaubte, eine alles umfassende physische, moralische und wissen70 71 72 73

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Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). - Werke Bd. 20, S. 416. Jung/Kerényi: Einführung in das Wesen der Mythologie (1951), S. 124. Muchow: Jugend und Zeitgeist (1962), S. 25. Siehe auch die Kritik an Muchow bei Flitner/Hornstein: Kindheit und Jugendalter in geschichtlicher Betrachtung (1964), S. 313: Jugend werde bei Muchow zur mythischen Kraft! Vgl. Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 1 - 1 1 . Siehe dazu unten S. 1 2 9 - 2 3 5 , bes. S. 1 4 8 - 1 4 9 , 2 1 0 - 2 1 1 , 2 3 0 - 2 3 3 .

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

schaftliche Erziehung könne die Selbstentfremdung des Menschen aufheben und eine neue, vollkommene Einheit mit sich selbst und anderen begründen76. Die heftige Reaktion vieler Romantiker auf die Pädagogik und Kinderliteratur der Spätaufklärung entstammt der Erkenntnis, daß ihr furor paedagogicus, der auf die Herstellung einer allgemeinen Glückseligkeit gerichtet war, das tatsächliche oder vermeintliche Paradies der Kinder zerstöre. Schon Herder, dem wie Schiller die Seele des Kindes heilig war 77 , verurteilte den Hauptvertreter der philanthropistischen Aufklärungspädagogik, Basedow, den „Pontifex Maximus zu Deßau", und wollte ihm „keine Kälber zu erziehen geben, geschweig Menschen." 78 Waren Kind und Kindmythos für die meisten aufklärerischen Pädagogen zum Vorschein ihrer eigenen bürgerlichen Utopien geworden, so wurde z.B. in der romantischen Pädagogik eines Fröbel das Kind zum Maßstab der Menschlichkeit des Erwachsenen79. Seine „Metaphysik der Kindlichkeit" 80 ist Teil der grenzenlosen Wertschätzung der Kindheit in der Romantik als „idealer Seinsstufe schlechthin" 81 . Der Einfluß Schillers ist unverkennbar, aber auch Rousseau spiegelt sich hier deutlicher und vor allem treuer als in der Aufklärung. In der Romantik repräsentierte das Kind das goldene Zeitalter82; Novalis notierte: „Wo Kinder sind, da ist ein goldnes Zeitalter." 83 Der alte heidnische Mythos vom göttlichen Kind, den Novalis kannte 84 , verband sich in der Romantik mit dem christlichen und mit dem christlichen Ideal der Kindlichkeit, das freilich auch schon vor der Romantik in ursprünglicher oder säkularisierter Form eine Rolle spielte85. Neben Novalis war es vor allem Hölderlin, der an Schiller und Rousseau anknüpfend das Kind zum Symbol der Freiheit, des Friedens und der Einheit mit sich selbst machte: Da ich noch ein stilles Kind war und von dem allem, was uns umgibt, nichts wußte, war ich da nicht mehr, als jetzt, nach all den Mühen des Herzens und all dem Sinnen und Ringen?

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Vgl. Campe: Pädagogische Unterhandlungen [wohl] I, 1777, Nr. 400, S. 24 - zitiert nach Ballauf/Schaller: Pädagogik Bd. 2 (1970), S. 344; hinter diesen Gedanken steht auch Leibniz - vgl. ebenda S. 342. Herder: Palmblätter-Vorrede (1786). - Sämmtliche Werke Bd. 16, S. 590. Brief Nr. 259 vom 24. 8. 1776 an J . G . Hamann - Herder: Briefe Bd. 3, S. 2 9 3 - 2 9 4 . Ballauf/Schaller: Pädagogik Bd. 3 (1973), S. 120. Ebenda S. 119. Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 102. Vgl. dazu ausführlich Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis (1965), S. 362—371: „Die Gestalt des ,Kindes' als Repräsentation des goldenen Zeitalters", ferner Heiner: Das „Goldene Zeitalter" in der deutschen Romantik (1972) und Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 1 0 2 - 1 0 6 . Novalis: Blüthenstaub. Nr. 97. - Schriften Bd. 2, S. 457. Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters (1965), S. 363; vgl. auch die Ubersetzung der 4. Ekloge Vergib durch Novalis (Schriften Bd. 1, S. 554, auf 1789/90 datiert!). Vgl. Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 4 - 6 .

2. Der Mythos von Kind und Kindheit

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Ja! ein göttlich Wesen ist das Kind, solang es nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht ist. Es ist ganz, was es ist, und darum ist es so schön. Der Zwang des Gesetzes und des Schicksals betastet es nicht; im Kind ist die Freiheit allein. In ihm ist Frieden; es ist noch mit sich selber nicht zerfallen. Reichtum ist in ihm; es kennt sein Herz, die Dürftigkeit des Lebens nicht. Es ist unsterblich, denn es weiß vom Tode nichts. 8 6

In dieser Form hat der romantische Mythos von Kind und Kindheit 87 weit mehr als die vereinzelten unheimlichen Kinder 88 den Kindmythos der Folgezeit geprägt. Kindlichkeit wird sogar zur erstrebenswerten Eigenschaft des Erwachsenen und zu „dem beliebtesten Lobschema der Zeit, zu dem panegyrischen T o p o s " 8 9 . Man pries die Kindlichkeit an anderen oder man strebte selbst danach, da sie das vollkommene, noch nicht mit sich selbst zerfallene Menschsein auszumachen und gegen die gesellschaftlichen und politischen Zwänge zumindest die innere Freiheit des Menschen zu gewährleisten schien. Vor einer allzu schnellen Vermittlung dieses Topos der Kindlichkeit mit der Realität sollte man sich jedoch hüten. So findet sich am Schluß einer klugen und minuziösen Untersuchung der Darstellung des Kindes in der französischen Literatur von 1850 bis zur Gegenwart die Feststellung, daß jede, auch die realistischste autobiographische Kindheitsdarstellung symbolisch sei, daß der Mythos des Kindes Befreiung von den Fesseln der Gesellschaft und von der Angst vor der Zeitlichkeit upd vor dem Tode bedeute 90 . Doch wird vom Problem der Kindlichkeit des Erwachsenen noch im Zusammenhang mit der Frage des „Dichters als Kind" zu reden sein, scheint es doch, als sei dieser Dichtertyp prädestiniert zum Kinderbuchautor. Alle großen Verherrlicher des Kindes, Schiller, Novalis, Hölderlin, haben aber nie für Kinder geschrieben; nichts zeigt deutlicher als diese Tatsache, .wie wenig diese Form des Mythos mit der Realität zu tun hat. Auch Brentano, der seine K i n d lichkeit' bewußt lebte 91 , hat keine Literatur für Kinder geschrieben, wenn man von seinen Bearbeitungen der „Kinderlieder" in „Des Knaben Wunderhorn" absieht 92 .

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Hölderlin: Hyperion. - Sämtliche Werke und Briefe Bd. 1, S. 584. Detailliert bei Kind: Das Kind in der Ideologie und Dichtung der deutschen Romantik (1936); eine knappe, aber ausgezeichnete Zusammenfassung bei Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 6 - 1 5 . Ueding: Verstoßen in ein fremdes Land (1977), S. 3 4 9 - 3 5 2 forciert die Abhängigkeit des Kinderbildes von historischen Daten. Wenn er behauptet, daß in der Romantik die „Darstellung des unheimlichen Kindes" beginne und dabei u.a. auf den Titel von E . T . A . Hoffmanns „Das fremde Kind" verweist, so beruht das auf einem offensichtlichen Mißverständnis. Auch hinsichtlich der Forschung zum Thema Kind und Romantik ist ihm Schaubs grundlegende Arbeit zu Brentanos Kindlichkeit entgangen. Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 7. Chombart de Lauwe: Un monde autre: l'enfance (1971), S. 422. Vgl. Schaub: Le Génie Enfant (1973), bes. S. 2 7 - 1 5 5 . Siehe dazu unten S. 1 0 8 - 1 1 1 .

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

Die große Krisehzeit nach der letzten Jahrhundertwende war schließlich auch in der Dichtung das Zeitalter des Kindes und übertraf hierin die Romantik weit 93 . Die Forschungen der Psychoanalyse wie der Pädagogik haben dazu beigetragen. Nach einem Buch der schwedischen Pädagogin Ellen Key wurde das neue Jahrhundert dann auch benannt: „Barnets árhundrade" — „Jahrhundert des Kindes". 9 4 Bis weit über den Dadaismus hinaus beherrschten der Topos vom Dichter als Kind 9 5 , beherrschten Kind und Kindheit als Thema die Literatur. Es sei hier nur an Hauptmanns „Hanneies Himmelfahrt" (1894/96), Rilkes „Geschichten vom lieben Gott" (1900/04), Thomas Manns Idylle „Gesang vom Kindchen" (1919) erinnert. Befriedigende literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema stehen noch aus. 96 Auch wandten sich Dichter von Rang der Kinderliteratur zu. Richard Dehmel, der wie seine Frau Paula selbst für Kinder schrieb, scharte für seine Anthologie „Der Buntscheck. Ein Sammelbuch herzhafter Kunst für Ohr und Auge deutscher Kinder" (1904) viele damals berühmte Autoren um sich: Friedrich Kayßler, Paul Scheerbart, Gustav Falke, Peter Hille, Alfred Mombert, Robert Walser u. a. Die zahlreichen heutigen Anthologien nach dem Muster „Dichter erzählen Kindern" (1966) 97 schließen sich direkt an dieses Vorbild an, obwohl sie buchkünstlerisch weit zurückbleiben. Der Beitrag der Psychoanalyse jedoch erschien geeignet, das Kinderbild zu entmythologisieren. Die Entdeckung der kindlichen Sexualität, einer „morallosen Kindheitsperiode" 98 , die Freud „polymorph pervers" 99 nannte, und der kindlichen Grausamkeit als normale Eigenschaften jedes Kindes schienen das Bild von kindlicher Unschuld endgültig zu zerstören. Richtig verstanden werden von solchen Feststellungen aber die Reinheit und Ursprünglichkeit der Kinder gar nicht betroffen, da ihre ,Untaten' ihnen ja nicht bewußt sind. Man darf Reinheit und Ursprünglichkeit nicht mit gesellschaftlichen Normen verwechseln. Freud wußte deshalb auch: „Wir heißen das Kind aber darum nicht,schlecht', wir heißen es ,schlimm'; es ist unverantwortlich für seine bösen Taten vor unserem Urteil wie vor dem Strafgesetz." 100 93 94

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Liede: Dichtung als Spiel (1963) Bd. 1, S. 325. Erste Ausgabe 1900; erste deutsche Ausgabe 1902; vgl. dazu und zur Herkunft des Titels Söntgerath: Pädagogik und Dichtung (1967), S. 23. Vgl. Liede: Dichtung als Spiel (1963) Bd. 1, S. 326; ferner Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 3, 15—16; Kühn: Hugo Ball und die Rechtfertigung von Kunst und Künstlertum (1978), S. 1 1 7 - 1 2 2 ; siehe unten S. 4 9 - 5 4 . Mehr pädagogisch ausgerichtet sind Söntgerath: Pädagogik und Dichtung (1967) und Beinlich: Kindheit und Kindesseele in der deutschen Dichtung um 1900 (1937); ein brauchbarer Literaturüberblick bei Karst/Overbeck/Tabbert: Kindheit in der modernen Literatur (1976). Middelhauve (Hrsg.): Dichter erzählen Kindern (1966). Freud: Traumdeutung. — Gesammelte Werke Bd. 2/3, S. 256. Freud: Archaische Züge und Infantilismus des Traumes. — ebenda Bd. 11, S. 213. Freud: Traumdeutung. - ebenda Bd. 2/3, S. 256.

2. Der Mythos von Kind und Kindheit

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Trotz dieses ,Realismus' wurde der Mythos des Kindes und der Kindheit durch die Psychoanalyse nicht zerstört, sondern er erhielt durch Freud auf der einen und C . G . Jung und seine Schule auf der anderen Seite jetzt erst eine Deutung, die — was man auch dagegen vorbringen mag — gegenüber der rationalistischen Mythenskepsis den Vorzug hat, die Mythen aus menschlichen Grundbefindlichkeiten einleuchtend zu erklären 1 0 1 ; einige Ansätze dazu, gerade auch für den Kindmythos, waren zumindest seit der Romantik vorgeprägt. Auch greifen Freud und andere aus der Frühzeit der Psychoanalyse immer wieder auf Dichtungen als Beleg- und Beweismaterial zurück und schätzen die Dichter als intime Kenner des menschlichen Seelenlebens 1 0 2 . Freud zufolge ist die „Psychoanalyse [. . .] genötigt worden, das Seelenleben des Erwachsenen aus dem des Kindes abzuleiten, Ernst zu machen mit dem Satze: das Kind ist der Vater des Mannes". Denn die Kindheitsjähre sind oft bestimmend für die „ganze spätere Richtung eines M e n s c h e n " 1 0 3 . Die Richtigkeit dieser Feststellung ist inzwischen kaum mehr umstritten; nur hat gerade die anerkannte immense Bedeutung der Kindheit für den Menschen die verschiedenen Formen des Mythos gestärkt. Eine Erklärung der Macht dieses Mythos, vor allem der Vorstellung von Kindheit als Paradies und glücklicher Zeit, die sich wider alle Erfahrungen behauptet, läßt sich plausibel nur im Anschluß an Freud und Jung finden. Denn auch dort, wo das Kind als leidend und unterdrückt, revoltierend oder böse geschildert wird, bleiben immer das eigentlich geforderte Glück oder die Reinheit der Kindheit Bezugspunkt und sind somit im negativen Bild implizit enthalten 1 0 4 . Kindheit sollte Paradies sein, oder wie Chombart de Lauwe es ausdrückt: „L'état initial heureux semble plus qu'une aspiration, une sorte de nécessité vitale." 1 0 5 Zur Erklärung dafür verweist sie auf die verschiedenen psychoanalytischen Richtungen; dort ist vom „bonheur intrautérin" die Rede sowie von der darauffolgenden Zeit der Kindheit, in der sich das Ich noch nicht von der es umgebenden Welt getrennt hat. Auch die autobiographischen Kindheitsschilderungen seien metaphorischer Ausdruck dieser Suche nach dem verlorenen Glück, der verlorenen Einheit von Ich und Welt. Manche Kinderbücher haben denselben Ursprung; selbst noch bei Busch ist er, freilich vielfach gebrochen und ironisiert, spürbar. Den ganzen Komplex von Kindheitsparadies und Paradies der Wilden und der Urzeit hat Erich Neumann 1 0 6 in diesem Sinne als „Archetyp der paradiesischen 101

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Vgl. ähnlich auch Emrich: Symbolinterpretation und Mythenforschung (1953/1960), S. 85. Vgl. auch Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 23. Freud: Das Interesse an der Psychoanalyse. — Gesammelte Werke Bd. 8, S. 412. Vgl. Chombart de Lauwe: Un monde autre: l'enfance (1971), S. 220. Ebenda; vgl. auch ebenda S. 15—16. Den Hinweis auf Neumann verdanke ich der Arbeit von Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 9 5 - 9 6 ; 104.

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

Ganzheit" gedeutet; dieser wird für das Ich zum „Symbol eines unersetzlichen Verlustes" und deshalb als kollektive Projektion „phylogenetisch an den Beginn der Menschheitsgeschichte gesetzt als Paradies des Anfangs, ontogenetisch auf den Beginn des Einzellebens projiziert als Paradies der Kindheit". Neumann durchschaut den Mythos von Kindheit und paradiesischem Naturvolk als Projektion, er weiß, daß Rousseaus Naturzustand ebenso wie die Vorstellungen von der Kindheit Mythen sind, die aber gegen die Realität als Wahrheit bestehen bleiben 107 , als Wahrheiten deshalb, weil sie Projektionen einer tatsächlich' gewesenen Vollkommenheit in einer bestimmten seelischen Frühzeit jedes Menschen sind 108 . Diese Erklärung ist letztlich nicht beweisbar, aber sie ist einleuchtend. Ernst Bloch, hier wie so oft Eklektiker und der Tradition stark verhaftet, kann man gewiß keinen restaurativen Irrationalismus vorwerfen; er hat die utopische Funktion einiger Archetypen herausgestellt und versteht sie als Realchiffren oder Realsymbole 109 , die auch er psychologisch als „Verdichtungskategorien, vorzüglich im Bereich poetisch-abbildlicher Phantasie" oder gar als Kategorien der Phantasie „aus der Zeit eines mythischen Bewußtseins" versteht 110 . Gerade der Mythos von Kind und Kindheit, sei es in der Gestalt des göttlichen Kindes, des Paradieses oder Naturzustandes des Kindes und der Völker enthält, wie schon Jung wußte, potentielle Zukunft 111 , oder, wie Bloch es ausdrückt: „ein Unausgearbeitetes, relativ Unabgelaufenes, Unabgegoltenes" 112 , das die utopische Behandlung der Archetypen ermöglicht. Und so ist nach Bloch auch der Marxismus Erbe der „Ur-Intention: des Goldenen Zeitalters"; er nehme „das Märchen ernst, den Traum vom Goldenen Zeitalter praktisch" 113 . Mythos und Archetyp der Kindheit sind nicht Verzerrung der Wirklichkeit, wie Mythenskeptiker sie deuten würden 114 , sondern gehören im Gegenteil gerade wegen der Art ihrer Entstehung im mythischen Bewußtsein, der steten Erneuerung durch die dichterische Phantasie und deswegen, weil sie nicht nur Vergangenheit, sondern auch Zukunft enthalten, „einer Wahrheit zu, einer hüllenhaften Abbildung utopischer Tendenzinhalte im Wirklichen"115. Den Mythos vom göttlichen Kind als mythologische Projektion mit eben dieser Tendenz hat C. G. Jung unübertroffen beschrieben, zweifellos fußt auch Bloch auf ihm: 107 108 109

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Neumann: Kulturentwicklung und Religion (1953), S. 144. Ebenda S. 143. Bloch: Prinzip Hoffnung. — Gesamtausgabe Bd. 5, 1, S. 188; der Abschnitt ist überschrieben: „Begegnung der utopischen Funktion mit Archetypen". Ebenda S. 184 und 181; die Aversion mancher Literaturwissenschaftler gegen diesen Begriff ist unbegründet. Jung/Kerényi: Einführung in das Wesen der Mythologie (1951), S. 124. Bloch: Prinzip Hoffnung. — Gesamtausgabe Bd. 5, 1, S. 185. Ebenda Bd. 5 , 2 , S. 1621. Siehe oben S. 30. Bloch: Prinzip Hoffnung. — Gesamtausgabe Bd. 5 , 1 , S. 186.

2. Der Mythos von Kind und Kindheit

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Das rings von psychischen Mächten beschützte, getragene oder bedrohte und betrogene Bewußtsein ist Urerfahrung der Menschheit. Diese Erfahrung hat sich projiziert im Archetypus des Kindes, welches die Ganzheit des Menschen ausdrückt. Es ist das Verlassene und Ausgelieferte, und zugleich das Göttlich-Mächtige, der unansehnliche, zweifelhafte Anfang und das triumphierende Ende. Das „ewige Kind" im Menschen ist eine unbeschreibliche Erfahrung, eine Unangepaßtheit, ein Nachteil und eine göttliche Prärogative, ein Imponderabile, das den letzten W e n und Unwert einer Persönlichkeit ausmacht. 116 Der Faszination solcher „immer noch Betroffenheit erregender Archetypen" 1 1 7 kann man sich auch dann kaum entziehen, wenn man Jung skeptisch gegenüber steht; und so setzt auch der Schluß von Blochs „Prinzip Hoffnung" der Hoffnungsarmut der Gegenwart noch einmal den Mythos der Kindheit entgegen: Wenn der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet habe, „so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat." 1 1 8 Vergangenes und zukünftiges Arkadien, rückwärtsgewandte Sehnsucht und vorausweisende Hoffnung, diese zwei Seiten des Kind-Mythos prägen vielfach die Kinderbücher der „literarischen Kindererzieher" 1 1 9 wie die anderer Kinderbuchautoren. Nur vom Werk aus ist es nicht immer leicht zu entscheiden, ob zum Beispiel in der Rückwendung zur Kindheit, die sich oft mit der Sehnsucht nach patriarchalischer Geborgenheit verbindet, nicht auch Utopisches verborgen ist. Christoph von Schmids Kindererzählungen sind, wie sich zeigen wird, nicht reaktionäre Beschwichtigungsliteratur, sondern, leidvoll errungene christliche Utopie. Utopie, so wie hier der Begriff verwendet wird, meint natürlich nicht die , Gattung' der Staatsutopie, sondern den literarischen Entwurf einer in der Realität (noch) nicht existierenden, aber zu verwirklichenden Gegenwelt 1 2 0 .

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Jung/Kerényi: Einführung in das Wesen der Mythologie (1951), S. 144. Bloch: Prinzip Hoffnung. — Gesamtausgabe Bd. 5,1, S. 181. Ebenda Bd. 5,2, S. 1628. Siehe unten S. 5 7 - 9 7 . Ohne Bezug auf den Mythos der Kindheit wurden kürzlich in einem von Gert Ueding herausgegebenen Sammelband verschiedene Arbeiten unter dem Titel „Literatur ist Utopie" vereinigt. Der Utopiebegriff deckt sich mit dem hier verwendeten, nicht aber der Literaturbegriff: „Literatur ist Utopie in dem gewiß sehr weiten Verstände, daß sie nicht identisch mit der Realität ist, die uns als Natur und Gesellschaft gegenübertritt. Sie ist Utopie in dem sehr viel präziseren Sinne, daß ihre Beziehung zu dieser Realität wie die der Erfüllung zum Mangel ist." (Ueding: Literatur ist Utopie. — In: Literatur ist Utopie [1978], S. 7—14, hier S. 7). — Siehe dazu auch die auf Uedings Anregungen zurückgehende Arbeit von Hermann Wiegmann: Utopie als Kategorie der Ästhetik (1980).

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

3. Der Mythos von ,Kind und Volk' Die Parallelisierung von Naturmensch und Kind, von Völkerkindheit und persönlicher Kindheit legt auch gewisse Gemeinsamkeiten von Kind und „ V o l k " nahe. Schon Herder übertrug im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Volkspoesie 1 den Mythos vom Wilden als dem Menschen im natürlichen unverdorbenen Zustand auf das „Volk". Sinnliche Festigkeit im Ausdruck wie bei den Wilden findet er nur noch bei „unverdorbnen Kindern, Frauenzimmern 2 , Leuten Von gutem Naturverstande, mehr durch Thätigkeit, als Spekulation gebildet" 3 , und er nennt den „besten, grösten Theil der Menschheit": „ K i n d e r und V o l k " 4 . Die Vorstellungen von Kind und Volk, die von der Spätaufklärung bis weit ins 19. Jahrhundert Gemeingut waren und einmal mehr die Kontinuität und den Zusammenhang von Aufklärung, Sturm und Drang, Romantik und der folgenden Zeit zeigen, umreißt beispielhaft Goethe in seinem — nie ausgeführten — Volksbuchplan von 1808: „Unter Volk verstehen wir gewöhnlich eine ungebildete bildungsfähige M e n g e , ganze Nationen, insofern sie auf den ersten Stufen der Cultur stehen, oder Theile cultivirter Nationen, die untern Volks-Classen, Kinder." 5 Deutlich sind die Anklänge an Herders vieldeutige Verwendung des Volksbegriffes 6 ; Goethe gibt keine Beschreibung der tatsächlichen sozialen Unterschichten, sondern das Bild, das sich die gebildete Oberschicht vom Volke schuf. Die Nationen auf den ersten Stufen der Kultur: das sind die Naturmenschen Rousseaus, die mit den erwachsenen Mitgliedern der Unterschicht und den Kindern allgemein in eins gesetzt wurden. Bereits Schiller sprach 1791 in der Rezension von Bürgers Gedichten, wo es auch um das Problem der Volksdichtung ging, vom „Kinderverstand des Volks" 7 . Halten wir diese Gleichsetzung von Volk und Kind gegen das oben beschriebene Verständnis vom Kind als Vergegenwärtigung eines Ideals und potentielle Zukunft, so wird deutlich, was das „Volk" für bestimmte Kreise des Bürgertums — freilich nicht für die Philanthropen — im 18. und 19. Jahrhundert sein konnte. Als bil-

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Siehe dazu unten S. 102-104. In seiner Studie „The Cult of Childhood" (1969) stellt George Boas in der Tradition des Kultes (oder Mythos in unserem Sinne) fest, daß man auf der Suche nach dem „ U r menschen" im Sinne des Naiven, des „Noble Savage" im Laufe der Geschichte der Frau, dem Kind, dem bäuerlichen Volk, später dann dem Irrationalen oder Neurotiker und dem kollektiven Unbewußten ähnliche Eigenschaften zugeschrieben habe (S. 8). Herder: Auszüge aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker (1773). - Sämmtliche Werke Bd. 5, S. 182. Herder: Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774). - ebenda Bd. 6, S. 294. Goethe: Vorarbeiten zu einem Deutschen Volksbuche. 1. Lyrisches Volksbuch. - Werke Abt. I, Bd. 42,2, S. 413-417, Zitat S. 414; vgl. dazu Kreutzer: Der Mythos vom Volksbuch (1977), S. 6 0 - 6 5 . Vgl. ebenda S. 51. Schiller: Uber Bürgers Gedichte (1791). - Werke Bd. 22, S. 248.

3. Der Mythos von ,Kind und Volk'

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dungsfähige Menge wurde es zusammen mit den Kindern zu Trägern der Hoffnung. Wie Herder sieht noch der Volksschriftsteller Ludwig Aurbacher (1784—1847) im Volk die „größte, ehrwürdigste classe" 8 , im „gemeinen Mann die ursprüngliche N a t u r " 9 ; und für den Salon-Volksschriftsteller Berthold Auerbach ist Schillers Ideal eines Volksdichters immer noch maßgebend 1 0 , obwohl er bereits besser als andere Zeitgenossen zwischen Kind und Volk zu unterscheiden weiß. Es ist ein Irrtum, wenn heute hie und da im Anschluß an gewisse Wunschvorstellungen behauptet wird, im 18. Jahrhundert meine ,Volk' grundsätzlich „eine historische, sozial und national fest umrissene G r ö ß e " 1 1 . Auch und gerade die demokratischen' Vorstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts stützen sich meist auf einen mythischen Volksbegriff — ähnlich wird dann ja fast bruchlos daraus der Mythos der Arbeiterklasse. Die Gleichsetzung von Kind und Volk als ursprüngliche Natur wird von Anfang an überlagert, vermischt, durchdrungen, vielleicht zum Teil erst ermöglicht durch das reale patriarchalische Abhängigkeitsverhältnis der Bauern von ihrem Herrn, oder allgemeiner durch die „auffassung von der kindschaft der unterthanen dem angestammten fürsten" 1 2 gegenüber. Für die Bauern brachte dieses „Kindheitsverhältnis" auch alle Formen realer kindlicher Abhängigkeit mit sich in „Anrede, Züchtigungen, Moralvorschriften und wirtschaftlicher Unselbständigkeit" 1 3 . Die „Kindlichkeit" des Volkes konnte so auch eine durchaus negative Bedeutung haben. Daß sich in der gebildeten Oberschicht diese realen Verhältnisse wieder mit mythisierten Vorstellungen mischten, zeigt besonders deutlich Herder* der die patriarchalischen Zustände der orientalischen Völker verklärte 1 4 . Bei der Kinder- und Volksliteratur seit der Spätaufklärung spielen diese Verquickungen eine bedeutende Rolle 1 5 . Daß der Mythos vom Kind in vielen europäischen Ländern ähnliche Gestalt hat, zeigte nicht nur Rousseau; für Frankreich hat das vorbildlich Chombart de Lauwe für die Zeit seit 1850 erwiesen, und George Boas bezieht neben Europa auch noch die Vereinigten Staaten in seine Geschichte des Kultes der Kindheit ein. D a häufig in der Rezeption durch Nachbarländer Vorstellungen und Ideen schärfer und konzentrierter erscheinen, kann uns das Werk eines Franzosen als vorläufige Zusammenfassung auch des deutschen Kindmythos gelten. 8

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Vgl. Hans-Jörg Uther: Ludwig Aurbacher. - In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 1 (1977), Sp. 1026-1030, hier: Sp. 1029, ohne Hinweis auf Herder. Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Teil 2. - München 1829, S. 176-177. Auerbach: Schrift und Volk (1846), S. 113-126. Jäger: Naivität (1975), S. 103. Grimm: Deutsches Wörterbuch Bd. 5, Sp. 720 („Kind"). Weber-Kellermann: Die deutsche Familie (3. Aufl. 1977), S. 40. Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) — Sämmtliche Werke Bd. 5, S. 481; daß Herders Volksbegriff „radikal-demokratisch" sei (Jäger: Naivität [1975], S. 127), widerlegt wohl nicht nur dieses Zitat. Siehe unten S. 62 - 63, 99-111.

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

In Frankreich spielte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine neue geistige Entdeckung Deutschlands ab. Beteiligt daran war auch ein großer französischer Historiker, Jules Michelet, von dem Werner Kaegi meint, daß wenige Franzosen Deutschland so leidenschaftlich geliebt hätten wie er 1 6 , den man aber in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung kaum zur Kenntnis genommen hat. Michelet stand im Banne der deutschen Romantik, er plante eine französische Enzyklopädie der Volkslieder analog zu Herders Bemühungen und zum „Knaben Wunderhorn". Bei ihm finden sich alle Aspekte des Mythos vereinigt: in seinem Werk „Le Peuple" von 1846, das im selben Jahr auch in deutscher Übersetzung erschien. Michelet kennt die Realität seiner Zeit, und er beschreibt sie; das Elend der „barbares, sauvages, enfants" und des größten Teils des Volkes werde nicht zur Kenntnis genommen: „L'homme d'Afrique meurt de faim sur son silo dévasté, il meurt et ne se plaint pas. L'homme d'Europe travaille à mort, finit dans un hôpital, sans que personne l'ait su. L'enfant, même l'enfant riche, languit et ne peut se plaindre [. . . ] . " 1 7 Die Indianer Nordamerikas und die Bauern Schottlands gehen unter, die Kinder werden durch Erziehung gemartert, geknebelt, erstickt. Das Vorurteil, daß der Mensch von Natur aus schlecht sei, hat den Kindern die Hölle der Erziehung gebracht 18 . — Diese Unterdrückten, Volk und Kind, überhöht nun Michelet in einem Maße, daß sie als die einzig möglichen Heilbringer, die einzigen Erlöser erscheinen, durch die eine „Cité du droit" möglich werde. Beim Volk und beim Kind findet er noch den natürlichen Instinkt, das direkte Erfassen der Dinge, natürliche Unmittelbarkeit, sie sehen jedes Ding ganz, konkret, wie das Leben es darbietet 19 . Da man aber „das Volk im höchsten Sinne" („en sa plus haute idée" 2 0 ) schwerlich im tatsächlichen Volk findet, ist das Kind sein eigentlicher Repräsentant: „L'enfant est l'interprète du peuple. Que dis-je? il est le peuple même, dans sa vérité native, avant qu'il ne soit déformé, le peuple sans vulgarité, sans rudesse, sans envie, n'inspirant ni défiance, ni répulsion." 2 1 Kind und Volk leben in glücklicher Unkenntnis aller leeren Konventionen; und direkt an den Leser gewandt behauptet Michelet: „Votre fils, comme le paysan de Bretagne et des Pyrénées, parle à chaque instant la langue de la Bible ou de l'Iliade." 2 2 Wir erkennen alle Züge des Kindmythos wieder, wie er am komplexesten in der Romantik ausgeprägt war; Michelet stellt aber auch die geheime Verwandtschaft des Genies mit den Einfachen (Kindern,

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Kaegi: Michelet und Deutschland (1936), S. 18. — Zu Michelet siehe jetzt auch das eigenwillig und anregend Textauszüge und Kommentar mischende Buch von Barthes : Michelet (1980). Michelet: Le Peuple (1846), S. 265. Ebenda S. 2 6 2 - 2 6 3 . Ebenda S. 208. Ebenda S. 248. Ebenda S. 210. Ebenda S. 211.

4. Der ,kindliche' Dichter

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Volk, Wilden) heraus. Das Genie ist „le simple par exellence, l'enfant des enfants, il est le peuple plus que n'est le peuple m ê m e . " 2 3 Das Genie, das sich die kindliche Hoffnung bewahrt, vereinigt in sich die Reflexion der Zivilisierten mit dem kindlichen unmittelbaren Erfassen der Dinge: „Ii est en quelque sorte homme et femme, enfant et mûr, barbare et civilisé, peuple et aristocratie." 2 4 Alles ist in ihm ausgewogen, und so ist das Genie der Mensch par exellence, der einzig wahre Mensch. Derselbe Ausgleich muß nach Michelet auch in der Gesellschaft stattfinden, die kultivierten und reflektierenden Klassen müssen sich der „hommes d'instinct" annehmen, um so die Gegensätze zu überwinden, die Gesellschaft harmonischer und produktiver zu gestalten 25 . Volk und Kinder sind für Michelet der Lebensquell und der Schatz ewiger Jugend, der die kultivierten Klassen verjüngen kann 2 6 . So systematisch, so bestimmt, so ausführlich hat in Deutschland niemand den Mythos geschildert, so konkret hat ihn niemand in einem theoretischen Werk auf die Veränderung der Gesellschaft bezogen. Und doch greift Michelet hier auf Traditionen zurück, faßt er die Metamorphosen des Mythos zusammen, um seinen Mythos vom kindlichen Volk zu schaffen. Kind und Volk sind göttlich — Michelet nennt das Kind „petit dieu" 2 7 , Bruder Jesu 2 8 und spricht ihm die Gabe der Prophetie zu 2 9 . Kind und Volk als Hoffnung und Zukunft, als Genie: der Kreis ist abgeschritten. Und auch die Frage nach der , Wahrheit' des Mythos wird mit dem Blick auf Michelet leichter zu beantworten sein, da er stets Realität und die „plus haute idée" in Zusammenhang bringt und diese als Forderung aus der Realität ableitet. Rückwärtsgewandter Preis der unentzweiten Vergangenheit treffen sich mit utopischer Hoffnung auf die Kraft von Volk und Kindern.

4. D e r , kindliche' D i c h t e r Zum großen Komplex des Kindmythos gehören auch die Vorstellungen vom Kind als Künstler, vom Dichter als Kind oder vom kindlichen Dichter. Auf den ersten Blick scheint es einleuchtend, daß ein Kinderschriftsteller auch in gewissem Grade kindlich ist, „daß er jene ,höhere Kindlichkeit' besitzt, die man Naivität nennt" 1 . Mit anderem Akzent als hier James Krüss hat der bedeutende Bilderbuchautor Leo Ebenda S. 247. Ebenda S. 251. - Zu dieser Vorstellung detailliert Barthes: Michelet (1980), S. 195-206: „Das Uber-Geschlecht". Michelet: Le Peuple (1846), S. 257-258. Ebenda S. 261. Ebenda S. 213. Ebenda S. 260. Ebenda S. 243.

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Krüss: Vorläufige .Lebensgeschichte eines Geschichtenerzählers (1965), S. 14.

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

Lionni sein Schaffen charakterisiert: „The fact is that I really don't make books for children at all. I make them for that part of us, of myself and of my friends, which has never changed, which is still child." 2 Die Vorstellung vom Dichter als Kind ist alt, aber erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Mythos vom Kind und der neuen Genielehre wird der Gedanke allgemeiner. Jules Michelet nannte ja, die bisherige Tradition zusammenfassend, das Genie „l'enfant des enfants". Bei Herder wie bei Schiller oder den Romantikern steht, wie wir gesehen haben, dahinter der Mythos vom göttlichen Kind und vom Goldenen Zeitalter. Schiller beispielsweise meint mit dem „kindlichen Charakter, den das Genie in seinen Werken abdrückt" 3 , das „stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Daseyn nach eignen Gesetzen, die innere Nothwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst" 4 , meint den Zustand der „Natur" vor der modernen Selbstentfremdung. Genie und Kind sind die „Vergegenwärtigung" dieses Ideals s . Den symbolisch-mythischen Zusammenhang betont auch Tieck, wenn er die Kinder „Propheten einer schönen Zukunft" nennt, die „unerklärlich aus der längst entflohenen goldenen Zeit zurückgekommen sind" und „uns in verklärter Sprache predigen, die wir nicht verstehn." 6 Auch Novalis spricht vom „Geist der Wahrsagung", der das Kind „fast sichtbar" begleite 7 , eine Vorstellung, die Michelet dann wieder aufnahm. Darin drückt sich nicht nur das romantische Selbstverständnis vom Dichter als „Propheten, Wahrsager und Seher" 8 aus, sondern, was bislang übersehen wurde, der mit dem Mythos vom göttlichen Kind verwandte verbreitete Volksglaube, wonach Kinder mit überirdischen Mächten besonders eng verbunden und mit außergewöhnlichen Kräften begabt sind: „Vielfach gilt das Kind, zumal bis zum 7. Jahre, ohnehin als w a h r s a g e und z a u b e r k r ä f t i g [. . , ] " 9 . Das Kind wird hier eindeutig zum Träger mythischer Projektionen, zum Träger von Kräften, die es in der Realität nicht hat. Verbreiteter aber und seit Freud beinahe Allgemeingut ist ein davon völlig verschiedener Begriff der dichterischen Kindlichkeit, nämlich der Vergleich der Phanta-

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Lionni: My Books for Children (1964), S. 142. Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). - Werke Bd. 20, S. 424. Ebenda S. 414. Ebenda S. 416. Tieck: Über die Kinderfiguren auf den Raffaelschen Bildern (1799). — In: Wackenroder: Phantasien über die Kunst - Werke und Briefe, S. 1 7 8 - 1 7 9 . Zit. nach Kind: Das Kind in der Ideologie und der Dichtung der deutschen Romantik (1936), S. 37. Ebenda. - Vgl. z . B . Novalis: Fragmente und Studien 1 7 9 9 - 1 8 0 0 . N r . 671 - Schriften Bd. 3, S. 686: „Der Sinn für Pfoesie] hat nahe Verwandtschaft mit dem Sinn der Weissagung und dem religiösen, dem Sehersinn überhaupt." Bernhard Kummer: Kind. — In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens Bd. 4, Sp. 1 3 1 0 - 1 3 4 1 , Zitate S. 1333 und 1335.

4. Der .kindliche' Dichter

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siewelt des Dichters mit der Spielwelt des Kindes10 sowie die daraus gefolgerte enge Verbindung von Kunst und Kindlichkeit. Dagegen ist zunächst zu halten, daß Phantasie als allgemeine menschliche Eigenschaft noch nichts spezifisch Dichterisches ist: „Was den Dichter ausmacht, ist erst das Vermögen, seine Vision im Wort zu sagen." 11 Das wird bei solchen Vergleichen allzu schnell vergessen. Dennoch gibt es zahlreiche Stimmen von Dichtern, die Kinderspiel und Kunst gleichsetzen; schon Nietzsche hatte das Spiel des Künstlers mit dem des Kindes verglichen12. Bezeichnenderweise tritt die Umkehrung des Vergleichs, nach dem jedes Kind Künstler sei, vor allem in Autobiographien oder in autobiographisch akzentuiertem Zusammenhang auf. So behauptet Eichendorff, sein Verhältnis zur Kindheit mythisierend: „Alle Kinder aber sind geborene Poeten [. . ,]." 1 3 Und bei Gerhart Hauptmann kann man lesen: „Aus dem Spieltrieb erwächst die Kunst. Der Knabe vom vierten, wenn er das Schaukelpferd hinter sich gelassen hat, bis zum achten, neunten Jahr ist ein Universalkünstler."14 Diese Vorstellung ist so verbreitet, daß auch der spanische Dichter Jorge Guillén behaupten kann: „Zwischen zwei und drei Jahren und zwischen sechs und sieben sind wir alle Dichter." 15 Was Guillén dann aber über den Umgang des Dichters mit der Sprache sagt, trifft höchstens eine Art des Sprachspiels·. „Das Kind, das im Dichter lebt — und beide sind eins — setzt diese Wörter in willkürlichen Kombinationen zusammen [. . .], als ob es am Strand mit Steinen und Muscheln spielte." 16 Gegen solche Mythisierung des kindlichen Spiels und gegen die grundsätzliche Identifizierung von künstlerischem und kindlichem Spiel sprechen sehr einfache Beobachtungen. Denn in diesem Zusammenhang haben wir es nicht mehr mit dem Mythos als Weltdeutung zu tun, sondern mit einer literarischen Kategorie, die sich anders als der Mythos direkt an der Realität überprüfen lassen muß. Die angebliche Verwandtschaft von Künstler und Kind bricht, sobald sie nicht mehr als mythischsymbolische Selbstcharakteristik des Dichters verstanden wird, dann endgültig zusammen, wenn man mit der Aussage ernst macht, daß jedes Kind Künstler sei. Es gibt tatsächlich nur verschwindend wenig ,künsderische' Arbeiten von Kindern, und diese sind fast immer Nachahmungen und ohne Vorbilder, ohne den kulturellen

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Dazu vor allem Freud: Der Dichter und das Phantasieren (1908). — Gesammelte Werke Bd. 7, S. 2 1 3 - 2 2 3 , bes. S. 214; vgl. auch Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 2 0 - 2 1 . Muschg: Die dichterische Phantasie (1969), S. 59. Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. § 7. — Werke Abt. III, Bd. 2, S. 324-325. Eichendorff: Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts (1851). - Sämtliche Werke, Bd. 8,2, S. 194. Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (1937). — Sämtliche Werke Bd. 7, S. 451 bis 1082, Zitat S. 463. Guillén: Mein Freund Federico García Lorca (1965), S. 10. Ebenda S. 12; Hinweis auf Guillén bei Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 16.

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

Rahmen nicht denkbar. Sobald man unseren Kulturpreis verläßt, ändert sich dann auch das Bild. In einer neueren Untersuchung über die „Kindheit in China" wird mit Erstaunen „das völlige Fehlen von künstlerischen Arbeiten der Kinder" festgestellt; der Grund dafür liegt in der Erziehung: Die Kinder dort sind nie m i t , K u n s t ' in Berührung gekommen, Bücher kannten sie gar nicht 1 7 . Goethe, der als Symbol für den Genius of Kindergestalten wählte 1 8 , war, wo es um die Analyse der dichterischen Hervorbringung ging, realistischer als die romantischen Zeitgenossen. In seinen Ausführungen „Uber den Dilettantismus" gibt es eine Notiz über Spiel und Nachahmungstrieb bei Kindern und den Vergleich mit künstlerischen Produkten ähnlicher Art. E r umschreibt damit exakt den weitaus größten Teil der ,Kinder-Kunst': Nachahmungstrieb deutet gar nicht auf angebornes Genie zu dieser Sache. Erfahrung an Kindern. Sie werden durch alles in die Augen fallende Thätige gereizt. Soldaten, Schauspieler, Seiltänzer. Sie nehmen sich ein unerreichbares Ziel vor, das sie durch geübte und verständige Alte haben erreichen sehen. Ihre Mittel werden Zweck. Kinderzweck. Bloßes Spiel. Gelegenheit ihre Leidenschaft zu üben. Wie sehr ihnen die Dilettanten gleichen.19 Dennoch gibt es zweifellos bestimmte kindliche Eigenschaften, die — in qualitativ modifizierter Gestalt — auch bei manchen Erwachsenen anzutreffen sind. C . S . Lewis hat, ohne auf den Dichter Bezug zu nehmen, .schlechte' und ,gute' Kindlichkeit einander gegenübergestellt: Je eher wir aufhören, so unbeständig, so prahlerisch, so eifersüchtig, so grausam, so unwissend, so leicht erschreckt zu sein, wie die meisten Kinder es sind, desto besser für uns und für unsere Nachbarn. Aber welcher vernünftige Mensch möchte nicht, wenn er könnte, jene unermüdliche Wißbegier, jene Intensität der Vorstellungskraft, jene Leichtigkeit, Unglauben zu überwinden, jenen unverdorbenen Appetit, jene Bereitschaft zum Staunen, zum Mitleid, zum Bewundern bewahren?20 Kindlichkeit als mögliche Eigenschaft bestimmter, nicht aller Menschen, bestimmter ,Dichtertypen', nicht des Dichters schlechthin — das ist die einzig sinnvolle Verwendung dieser Kategorie. Gerhard Schaub aber, der zahlreiche Belege zur Vorstellung vom Dichter als Kind von Kallimachos bis zur Gegenwart zusammengetragen hat 2 1 , ohne dabei die Verschiedenheit zu betonen oder die Kontexte genauer 17 18 19 20 21

Kindheit in China (1976), S. 99-101. Siehe oben S. 33. Goethe: Über den Dilettantismus (1799). - Werke Abt. I, Bd. 47, S. 323. Lewis: Uber das Lesen (1966), S. 69 (Hervorhebung von mir). Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 11-17.

4. Der .kindliche' Dichter

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zu berücksichtigen, ist so weit gegangen, Kindlichkeit als „notwendige Bedingung jeden Dichters und allen Dichtens" zu bezeichnen22. Eine seiner wissenschaftlichen Hauptstützen ist der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, der von der lebenslangen Kindlichkeit oder Jugendlichkeit jedes Menschen spricht. Schaub folgert: „Wenn schon der Durchschnittsmensch dasjenige Wesen ist, das weit über seine eigentliche Kindheit hinaus bis an die Schwelle des Greisenalters kindlich, d. h. neugierig und aufgeweckt bleibt, um wieviel mehr muß dann erst der Künstler, dieser nach alter Übereinkunft immer neugierige, verspielte, eigentlich nur gesteigerte, potenzierte Mensch, Kind sein und bleiben." 23 Diese Folgerung beruht jedoch auf einer falschen Voraussetzung. Lorenz spricht von der lebenslangen Kindlichkeit des Menschen als „aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt" nur im Vergleich mit Tieren, bei denen sich dieses Verhalten „auf ein eng begrenztes Stadium der Jugendentwicklung beschränkt" 24 . Der Mensch ist nach Lorenz also kindlich nur in bezug auf die Tiere — damit aber entfällt diese Kategorie der Kindlichkeit für eine sinnvolle Diskussion im menschlichen oder dichterischen Bereich, wo sie ja keinerlei Unterscheidungsfunktion mehr hat. Was also bleibt übrig von der Kindlichkeit des Dichters als literarischer Kategorie? Es lassen sich, so scheint mir, drei Arten unterscheiden. Am seltensten ist die tatsächliche unreflektierte Kindlichkeit oder Naivität eines Dichters. Dieser Dichtertyp nähert sich meist dem des „Naturdichters", wie Goethe diesen Typ nannte25. Am treffendsten hat David Friedrich Strauß — am Beispiel Schubarts — den Naturdichter beschrieben: Dieser ist aber für's Erste immer nur der Dichter der vereinzelten Hervorbringung, der heute den, morgen jenen poetischen Einfalt hat und auf's Papier wirft; zur Ausführung einer größeren Schöpfung aber, welche stetiges Fortarbeiten an demselben Thema verlangt, niemals kommt. Denn die Stimmung des Augenblicks, welche die Muse des Naturdichters ist, bleibt sich nicht lange gleich [. . .]. 2 6

Der Naturdichter kann seiner subjektiven Stimmung nicht Meister werden27, er ist der Dichter der subjektiven Naivität. Der häufigere Typ des kindlichen Dichters aber dürfte jener sein, der seine Kindlichkeit — in welcher Form auch immer — bewußt und reflektiert lebt, bestimmte kindliche Eigenschaften bewahrt oder neu belebt. Grundlage dafür ist fast immer eine Mythisierung der eigenen Kindheit. Was Schaub an Brentano beschreibt, ist 22 23 24 25

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Ebenda S. 19. Ebenda S. 1 9 - 2 0 . Lorenz: Über tierisches und menschliches Verhalten (1965) Bd. 2, S. 198. Vgl. u.a. Goethe: Der deutsche Gil Blas. Vorwort (1822). - Werke Abt. Ì, Bd. 4 2 , 1 , S. 88—99; ders.: Deutscher Naturdichter [Uber Anton Fürnstein] (1823). - Ebenda Abt. I, Bd. 4 1 , 2 , S. 4 8 - 5 1 . Schubart's Leben. Hrsg. von D . F . Strauß (1878) Bd. 2, S. 3 0 6 - 3 0 7 . Ebenda S. 307.

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I. Kind, Kindheit und Kindlichkeit

nichts anderes, und entgegen seinen psychologischen und anthropologischen Einlassungen führt er einmal aus, daß Kindheit für Brentano „in die Gegenwart herübergeretteter Besitz, aktualisierte, bewahrte oder wiedergefundene, in jedem Fall lebendige Vergangenheit" sei28. Diese Kindlichkeit aber ist keine ursprüngliche: Kindlichkeit wird für den Dichter selbst zum Mythos. Die dritte Art von , Kindlichkeit' schließlich betrifft die sprachliche Seite der dichterischen Werke. Der ,Kinderstil' — wie man im 18. Jahrhundert sagte29 — , der naive Ton, der ganz verschiedene Formen haben kann, oder bestimmte Sprachspiele — nicht alle Sprachspiele sind kindlich!30 —, all das kann die Werke der oben beschriebenen Typen von kindlichen Dichtern prägen. Die sprachlichen Mittel allein aber sagen noch nichts über die Art der Kindlichkeit eines Dichters; sie können auch lediglich ein ,Τοη' unter anderen sein, deren sich der Autor bedient. Weiße ist ein Beispiel dafür, wie sehr der naive Ton im 18. Jahrhundert und weit darüber hinaus eine letztlich .erlernbare' Stilhaltung war. Noch der Volksschriftsteller Ludwig Aurbacher nannte in seiner „Stylistik" das Naive „eine Nachahmung des KindlichEinfältigen" 31 . Auch Kinderbuchautoren besitzen meist nicht jene ,höhere Kindlichkeit', von der eingangs die Rede war. Der Fortgang der Untersuchung wird zeigen, daß die wenigsten von ihnen ,kindlich* sind. Was aber alle verbindet, ist das je verschiedene Verhältnis zum großen Komplex des Mythos von Kind und Kindheit.

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Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 101. Siehe dazu unten S. 174-189. Vgl. Liede: Dichtung als Spiel (1963) Bd. 1, S. 25-26; Liede hat zurecht betont, , Spiel* weit mehr als nur das kindliche Spiel umfaßt; er hat an Formen gesellschaftlichen, gelehrten und magischen Spiels, an das Spiel der Zerstörung, „Spiel mit dem Entsetzen und mit der Freude an der Macht des Menschen über Dinge" erinnert (S. 26). Aurbacher: Grundlinien der Stylistik (1822), S. 92.

daß des das die

II. Grundzüge der Entstehung und Typologie Die verschiedenen Arten der Kinderliteratur und Kinderbuchautoren, ihr oft gegensätzlicher Charakter lassen sich nur vor dem Hintergrund der Traditionen der Kinderlektüre und der Vorläufer des literarischen Kinderbuchs verstehen. Denn hier wie überall in historischen Wissenschaften gilt Herders Diktum: „[. . .] in dem U r s p r u n g eines Phänomenon [liegt] aller Schatz von Erläuterung, durch welche die Erklärung desselben G e n e t i s c h w i r d . " 1 A m entschiedensten hat bisher immer wieder Horst Kunze darauf insistiert, daß „die Kinderliteratur in Deutschland erst im 18. Jahrhundert und mit Campe beginnt" 2 . Es wird sich bei der Betrachtung von Werk und Poetik Weißes zeigen, wie wenig Campe selbst sein Werk als ,literarisch', belletristisch' verstand. Dennoch gilt bei den Kinderbuchforschern Campe so gut wie unangefochten als „kennzeichnendster Jugendschriftsteller" der Zeit, wie man auch daran festhält, daß es erst im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts „ z u r Herausbildung einer eigenständigen Jugendliteratur k a m " . 3 Vorher habe es — vereinfacht — zwei „Stufen" f ü r die Teilnahme der Kinder am literarischen Leben gegeben, die freilich auch weiter bestanden: die Anteilnahme an der mündlichen oder schriftlichen , Literatur' der Erwachsenen und die Empfehlung bestimmter Lesestoffe als Jugendlektüre 4 . Baumgärtner, den wir hier zitieren, faßt damit knapp das zusammen, was man als kleinsten gemeinsamen Nenner der bisherigen historischen Kinderbuchforschung bezeichnen könnte. Baumgärtner nennt vier Gründe f ü r die „Herausbildung" der Kinderliteratur: einen „Alphabetisierungsschub", der nach der Einführung der allgemeinen Schulpflicht erst das potentielle Publikum geschaffen habe, das „auch gesellschaftlich zu interpretierende ungeheure pädagogische Interesse des zeitgenössischen Bürgertums", die .Leserevolution', die das intensive Lesen durch das extensive ablöst, sowie die Entdeckung der Kindheit. 5 Das stimmt zwar alles ein wenig, aber nicht ganz. Von der angeblichen ,Entdeckung der Kindheit' war oben bereits die Rede; nach Engelsing vollzog sich der Wandel von der intensiven zur extensiven

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Herder: Fragmente (1768). - Sämmtliche Werke Bd. 2, S. 62. Kunze: Schatzbehalter (1965), S. 25. Baumgärtner: Jugendbuch und Literatur. — In: Kinder- und Jugendliteratur (1979), S. 9 - 1 9 , hier S. 12. Ebenda S. 10-12. Ebenda S. 12-13.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

Lektüre erst am Ende des 18. Jahrhunderts 6 , das pädagogische Interesse wird im folgenden etwas anders erklärt und gedeutet werden, Alphabetisierung und allgemeine Schulpflicht schließlich, die eigentlich erst im 19. Jahrhundert Fortschritte machten, betrafen Schichten, an die sich die neue Kinderliteratur überhaupt nicht wandte. Und überdies: Was da in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts .entstand', war nur ein Typ von Kinderliteratur. Die „Vorstufen und Vorläufer der deutschen Kinder- und Jugendliteratur bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts" hat Heinz Wegehaupt jüngst in einer ersten exemplarischen Ubersicht zusammengestellt7. Sie hat keine überraschenden Ergebnisse gezeitigt, ihr Wert liegt jedoch in oft erstmaligen bibliographischen Nachweisen und der Autopsie vieler Titel, wenn auch eine detaillierte Analyse einzelne Werke erst in den gebührenden Kontext stellen muß. Soviel jedoch darf man sagen, ohne daß künftige Detailuntersuchungen, wie wir sie für englische und amerikanische „Children's Books" des 17. Jahrhunderts bereits besitzen 8 , wesentliche Korrekturen bringen dürften: Kinder kamen bis weit in das 18. Jahrhundert mit drei verschiedenen Arten gedruckter Literatur in Berührung: 1. mit nahezu ausschließlich von Theologen stammenden Lehrbüchern (ABC-Büchern, Katechismen, Biblischen Historien, Exempelbüchern, Zucht- und Sittenbüchern, Bildwerken), 2. mit bestimmten Werken der, normalen' Literatur, 3. mit populären Lesestoffen weltlicher oder geistlicher Art, von denen die sogenannten Volksbücher 9 , die Bilderbogen, Einblattdrucke stellvertretend genannt seien 10 ; auch das Puppenspiel gehört hierher, zumal wir ,Lesen' für diese und spätere Zeiten stets auch als ,Vorlesen' verstehen müssen. Bei der gedruckten Literatur — außer bei den einfachsten Formen populärer Lesestoffe — muß stets berücksichtigt werden, daß sie bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts meist nur die gebildete Oberschicht erreichten 11 . Daneben stehen zwei breite Ströme mündlicher ,Literatur', die Predigt und die Folklore in der Gestalt von Kinderlied, Kinderreim, Märchen, Schwank und Sage, die jedoch als mündliche Erzählungen zu keiner Zeit Kinder als spezielle Adressaten hatten 12 . Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts haben sich dann drei Gruppen herausgebildet, die freilich bei aller Verschiedenheit nicht nur aufeinander bezogen sind, sondern auch bisweilen Gemeinsamkeiten haben: Formen mit dem Ziel literarischer Volks- und Kindererziehung, Formen in der Tradition volkstümlicher Literatur' oder solche, die diese Formen nachahmen oder auf irgendeine Weise parodieren, sowie Bearbeitungen von bestimmten Werken der ,Hochliteratur' für Kinder. Mit 6 7 8 9 10 11 12

Vgl. Engelsing: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit (1969), S. 1548. So der Titel der 1977 erschienenen Arbeit. Vgl. Sloane: Children's Books in England & America in the Seventeenth Century (1955). Vgl. dazu Kreutzers kritische Studie: Der Mythos vom Volksbuch (1977). Zur „religiösen Volksliteratur" vgl. Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 3 1 5 - 3 2 1 . Vgl. dazu im Kapitel über Ch. F. Weiße unten S. 1 6 2 - 1 7 0 . Siehe dazu unten S. 9 9 - 1 1 1 .

1. Die literarischen Kindererzieher

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anderem Akzent wurden in der Forschung bisher meist als , Quellen' der Kinderliteratur genannt: speziell für Kinder geschriebene Texte, aus der Erwachsenenliteratur übernommene Werke und Volksliteratur 13 . Hier soll versucht werden, schärfer zu sondern und den Prozeß der Entstehung zu umreißen, wobei den literarischen Kindererziehern und ihren Werken als der in Deutschland traditionsreichsten Gruppe intentionaler Kinderliteratur mehr Raum als den übrigen gewidmet wird, die Gruppe der Bearbeitungen aber ausgespart bleibt.

1. Exempel und Utopie: Die literarischen Kindererzieher Für die Kinderbuchforschung hat die inhaltlich-tendenzielle Verschiedenheit der Werke kirchlicher und weltlicher Kinderbücher Traditionslinien und typologische Verwandtschaften, von denen gleich auführlich die Rede sein soll, bislang verdeckt. Die Werke der literarischen Kindererzieher stehen, wie die folgenden Beispiele, Weißes Kinderbücher, aber auch noch einzelne Werke Poccis zeigen werden, im Spannungsfeld zwischen fast .reiner' Didaxe, die oft jedem ästhetischen Eigenwert skeptisch gegenübersteht, und Formen, wo moralische oder ästhetische Erziehung im literarischen Kunstwerk mitaufgehoben sind. Doch hat, und das sei vorausgeschickt, die lehrhafte Kinderliteratur so gut wie nichts mit der Tradition des „Lehrgedichts" zu tun 1 , wenn sie auch durch die Poetik und Rhetorik der Aufklärung mitgeprägt ist 2 . Was beide trennt, sind Formen, Inhalte, Anspruch und intendiertes Publikum 3 . Den Werken der verschiedenen literarischen Kindererzieher ist das „Parabolische, Allegorische, Exemplarische" gemeinsam, das „der Didaktik von alters her zugeordnet" ist und in den verschiedensten Gattungen wirksam sein kann 4 . Ganz ähnlich betont Werner Richter die Unabhängigkeit des Didaktischen von besonderen Gattungen 5 ; der Didaktiker, besonders der literarische Kindererzieher benutzt zu seinen Zwecken, was ihm als Gattung jeweils am geeignetsten erscheint. Auch Bausinger hebt hervor, daß beispielsweise jede Erzählform, auch das Märchen, didaktische Elemente aufnehmen kann 6 . Friedrich Sengle hat solche Formen „li13

Zuletzt z.B. Klaus Doderer: Kinder- und Jugendliteratur. - In: Lexikon der Kinderund Jugendliteratur Bd. 2 (1977), S. 1 6 1 - 1 6 5 , hier S. 163.

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Deshalb darf hier z.B. auf die Ausführungen Hegels zum Lehrgedicht verzichtet werden; vgl. Sengle: Biedermeierzeit Bd. 2 (1972), S. 9 3 - 9 4 . Siehe unten im Weiße-Kapitel S. 129—235, passim. Vgl. ausführlich Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung (1974), S. 2 0 - 8 4 . Sengle: Biedermeierzeit Bd. 2 (1972), S. 123. Richter: Lehrhafte Dichtung. — In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Bd. 2 (1965), S. 3 1 - 3 9 , hier S. 34. Bausinger: Formen der „Volkspoesie" (1980), S. 212—213.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

terarische Zweckformen" genannt und auf die Wiederbelebung der Rhetorik in diesem Zusammenhang hingewiesen 7 . Das erinnert — abgesehen vom literarischen „Trinitätsdogma", dem Sengle, wie z.B. bereits vor fünfzig Jahren Günther Müller 8 , kritisch gegenübersteht 9 — an Goethes Umschreibung solcher Literatur: „Die didaktische oder schulmeisterliche Poesie ist und bleibt ein Mittelgeschöpf zwischen Poesie und Rhetorik; deßhalb sie sich denn bald der einen bald der andern nähert, auch mehr oder weniger dichterischen Werth haben kann [. . .]." 1 0 Bei der folgenden historisch orientierten Darstellung der „Ausbildung des Typus" des literarischen Kindererziehers soll vor allem auf das Exempel abgehoben werden, das freilich mal der Legende, mal der Parabel, dann wieder der historischen' Beispielerzählung oder der Fabel nahestehen kann. Kommt es im vorliegenden Zusammenhang auf die Funktion des Exempels an, so wird in den entsprechenden Einzelanalysen des zweiten Teils der Arbeit den spezielleren Fragen nachzugehen sein. Auch die politisch agitierenden Kinderbuchautoren gehören zum Typ des literarischen Kindererziehers; doch ist gerade diese Art didaktischer Kinderliteratur bis auf wenige Ausnahmen kaum mehr als ,literarisch' schlechte Begleitmusik zu konkreten politischen Ereignissen. Weithin Massenliteratur ohne individuelle Leistungen, gehört sie als populärer Lesestoff auch meist mehr zur Sozialgeschichte als in literarhistorische Zusammenhänge 11 . Das gilt beispielsweise für jene Kinderbücher vor und während des Ersten Weltkrieges, die Gott, Kaiser und Vaterland hochhielten 12 , das gilt für die auch ästhetisch grauenvollen nationalsozialistischen Kinderbücher 13 , und das gilt — bis auf bedeutende Ausnahmen 14 — auch für Kinderliteratur kommunistischer Prägung. Alle möglichen Differenzierungen des literarischen Kindererziehers können in diesen Vorstudien nicht umrissen werden; doch scheinen mir aufgrund des gesichteten Materials die gewählten Beispiele wesentlich und repräsentativ.

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Sengle: Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre (1969), S. 17—18. Müller: Bemerkungen zur Gattungspoetik (1928/29), S. 147. Sengle: Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre (1969), S. 12—16. Goethe: Über das Lehrgedicht (1827). - Werke Abt. I, Bd. 4 1 , 2 , S. 2 2 5 - 2 2 7 , Zitat S. 225. Vgl. oben S. 1 4 - 1 7 . Siehe Schenda: Schundliteratur und Kriegsliteratur. Ein kritischer Forschungsbericht der Jugendlesestoffe im Wilhelminischen Zeitalter. - In: Schenda: Die Lesestoffe der kleinen Leute (1976), S. 78—104; ferner Christadler: Kriegserziehung im Jugendbuch. Literarische Mobilmachung in Deutschland und Frankreich vor 1914 (1978). Aley: Jugendliteratur im Dritten Reich (1967); sowie ders.: Das Bilderbuch im Dritten Reich. - In: Das Bilderbuch (1973), S. 3 2 3 - 3 5 6 . Siehe dazu unten S. 82—96 in diesem Kapitel.

1. Die literarischen Kindererzieher

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a) Die Ausbildung des Typus Die Erziehung war bis weit ins 18. Jahrhundert ausschließlich Sache der Kirche und der Geistlichkeit, aus deren Reihen ja auch die meisten Pädagogen kamen; John Locke war eine der großen Ausnahmen. Aber auch fast alle lehrhaften Bücher für Kinder jener Zeit stammten von Theologen 1 . Dieser Tatsache wird in der Kinderbuchforschung kaum besondere Beachtung geschenkt, obwohl sie von zentraler Bedeutung ist. Selbst die ABC-Bücher und Fibeln enthielten bis 1750 in der Regel nur Katechismus- und Bibelstoffe 2 . So war es ζ. B. für Johannes Agricola als Pfarrer in Eisleben und Rektor der dortigen Schule selbstverständlich, daß „Kinderbüchlein" und Katechismus3 ein und dasselbe waren: Sein lateinisches „Kinderbüchlein" gab er 1528 übersetzt und gekürzt als „Hundert und LVI gemeyner Fragstücke / für die jungen kinder in der Teudtschen Meydeleyn schule zü Eyßlebn" heraus. Und er entschuldigte sich in der Vorrede, daß er „der jugent mit nerrischen kindischen fragen vñ einfalt" diene, und nannte sein Büchlein „kinderspil und narrenwerck" 4 . Im heutigen Verstände aber ist es trockenstes Katechisieren. Die bebilderten ABC-Bücher aber dürfen als frühe Vorläufer des literarischen Kinderbuchs gelten. Besonders gegen Ende der Herrschaft des geistlichen Kinderbuches kommen die verbreiteten, meist unsinnigen Fibelverse auf. So kann man um 1750 in Fibeln lesen: Die Ziege kann wol Zucker lecken, Das Zeisgen zwischen Zwibeln

hecken.5

oder: Ein Tisch wird leichter fortbewegt, Wenn man ihn auf eine Trage legt. 6

Auch England kennt um diese Zeit ähnliche Verse, sogenannte „rhyming alphabets", die dort allerdings viel populärer geworden sind und heute noch zum Bestand der Kinderliteratur gehören, wie „A was an apple-pie" (besonders wegen der Illu-

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Das bestätigt ein Blick in Wegehaupts Auswahl-Bibliographie der Kinderliteratur und ihrer Vorläufer von 1474—1767 — in: Wegehaupt: Vorstufen und Vorläufer (1977), S. 109-119. Ebenda S. 66. — Zum ABC-Buch vgl. auch Theodor Brüggemann: ABC-Buch. — In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 1 (1975), S. 1 — 7. Literatur zum Katechismus: Wegehaupt: Vorstufen und Vorläufer (1977), S. 84—86; Weidemann: Katechismus. — In: Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens. Bd. 3 (1880), S. 9 5 9 - 9 6 9 ; Reu: Luthers kleiner Katechismus (1929). Agricola: 156 Fragstücke (1528). *Klamer Karl Friedrich Bienrod: Fibel. — Wernigerode 1748 — zitiert nach Wegehaupt: Vorstufen und Vorläufer (1977), S. 69. "Aabcd. — Leipzig: Dürr [um 1750] - zitiert nach ebenda. Vgl. auch Böhme (Hrsg.): Kinderlied und Kinderspiel (1897) 1. Teil, Nr. 1 4 2 9 - 1 4 6 0 , bes. 1460, S. 2 9 2 - 2 9 6 .

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I I . Grundzüge der Entstehung und Typologie

strationen Kate Greenaways) oder „A was an archer, who shot at a frog" 7 . Die Fibelverse lösen sich hier aus dem Ernst der Didaxe; das erste der beiden zitierten deutschen Fibelbücher besteht noch fast zur Hälfte aus religiösem Text. Ähnliche Tendenzen werden sich auch bei den mehr literarischen geistlichen Erziehungsbüchern des 18. Jahrhunderts zeigen. Fibel und Katechismus waren zweckgebundene Lehrbücher; das Lese- oder Vorlesebedürfnis aber konnten sie — wo es vorhanden war — nicht stillen. Der Kirche mußte es angelegen sein, daß auch die übrige Lektüre die vorgeschriebenen Bahnen nicht verließ. Es entstand eine klerikale lehrhafte Literatur, die sich auch an das Volk und die Kinder wandte. Und so beginnen bereits im Mittelalter die klerikalen Erzieher mit der Schaffung dessen, was Schenda mit „Ideologie von der schlechten' Lektüre" umschrieben hat8. Dies ist die Grundlage aller Literatur, die lehrhaft ist und die tatsächliche — oder vermeintliche — bisherige Lektüre durch eine neue ersetzen will. Schenda hat ein breites Panorama solcher Urteile aufgefächert; hier sollen vor allem Ergänzungen nachgetragen werden, die im Zusammenhang mit der Kinderlektüre und der Kinderliteratur von Interesse sind. Sicher kein Buch für Kinder — auch wenn alles in ein Lehrgespräch zwischen Vater und Kind eingebettet ist —, sondern ein allgemeines Lehr- und Erbauungsbuch in der Gestalt von Exempeln zu den zehn Geboten ist „Der Seele Trost", 1474 erstmals gedruckt, aber hundert Jahre zuvor bereits in Handschriften verbreitet9. Hier findet sich bereits die typische Wendung gegen weltliche Literatur: „Uele lude syn, de lesen wertlike boke vnde hören dar na vnde vorlesen al ere arbeyt, wente se ne vinden dar nicht der seien trost. Ichteswelke lude leset boke van Persevalen vnde van Tristam vnde hern Didericke van den Berne vnde van den olden hunen, de der werlde denden vnde nicht gode." 10 Nicht erst durch die barocke Predigt11 gelangt das Verdammungsurteil weltlicher Erzählungen und die Aufforderung zum Lesen oder Erzählen geistlicher Exempel ins Volk, sondern bereits der wortgewaltige Straßburger Prediger Johann Geiler von Kaysersberg fordert in seinem posthum erschienenen Traktat „Christlich bilgerschafft" (1512), wohl auch in seinen Predigten: „Solche ding, historien und geschichten der heiligen solten ir hußlüt üwern gesinde erzalen, kindern, knecht und megt, an stat böser wüster merlin, schamperer lieder 7

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Iona and Peter Opie (Hrsg.): Oxford Dictionary of Nursery Rhymes (1975), S. 47—48; weitere Beispiele ebenda S. 48 — 52. Die unsinnigen ABC-Verse haben bereits hier ihren Ursprung, nicht erst hundert Jahre später bei Lear, wie Theodor Brüggemann glaubt: A B C - B u c h . - In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 1 (1975), S. 5. Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 9 3 - 1 0 7 (Hervorhebung von mir); Schenda spricht auch vom „Mythos" der schlechten Lektüre, doch entleert sich der Mythosbegriff zu sehr, wenn man ihn für jede tradierte ,falsche' Vorstellung verwendet. Vgl. Der große Seelentrost. Ein niederdeutsches Erbauungsbuch des 14. Jahrhunderts hrsg. von Margarete Schmitt (1959). Ebenda S. 1 (Abschnitt: „Uber weltliche Bücher"). So Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 94.

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und derglichen." 12 Wir dürfen uns also den klerikalen Kampf gegen mündliche Folklore und gegen .schlechte' Unterhaltungsliteratur als stetigen Gegenstand von Predigt und Erziehungsliteratur seit dem 14./15. Jahrhundert vorstellen. 13 Der Magdeburger Prediger und Schulrektor Georg Rollenhagen wünscht seinen „Froschmeuseler" (1595), die satirische Aktualisierung und Didaktisierung der antiken „Batrachomyomachia", der deutschen Jugend in die Hand zu geben und hofft: „es solt etwas mehr nutz schaffen / denn unser weitberümbter Eulenspiegel / oder auch andere schandbücher / der Pfaff von Kalemberg / Kaziporus / Rollwagen / etc." 1 4 Freilich, auch Rollenhagen hat kein Buch nur für Kinder geschrieben, aber als protestantischer Volkserzieher ist er ebenso Vorläufer wie die barocken Prediger des nächsten Jahrhunderts. Einer der bedeutendsten unter ihnen, der Jesuit Wolfgang Rauscher, zieht in einer 1689 gedruckten Predigtsammlung über diese schlechten Bücher her: In die Zahl böser verbottner Bücher gehören erstlich etliche Chartecken, welche lustige Fabeln, artliche Schwenck, beynebens aber auch grobe unflättige Zotten und Possen in sich begreiffen, so der Erbarkeit und gutten Sitten nachtheilig seynd: warzu ungehoblete Leuth lachen, ein ehrliches Gemiith aber zöhrnet und schamrot wird. In diser unsauberen Materi hat der so genannte Eulenspiegel leichtlich das prae [. . .].

Rauscher nennt ferner u. a. das Rollwagen-Büchlein und „Wünschhüttlein Fortunati" 1 5 ; die inkriminierten Titel sind seit 100 Jahren dieselben. Von den anderen unwürdigen Büchern interessiert eine Gruppe besonders, da Rauscher hier vor allem auch junge Leser vermutet. Sie handeln von der „Liebs-Kunst" und „stecken voller Träume, Schiffahrten, Jagden, Schäfereien, Fischereien, Turniere und Ritterspiele; sie werden in Heftchen verkauft und entzünden die sündhafte Phantasie jugendlicher Leser." 1 6 Diese Heftchen hatten zweifellos die gleiche Funktion als Kinderlektüre wie spätere ebenfalls nicht speziell für sie gedachte Abenteuerromane. 12

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Zitiert nach Bolte/Polivka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen Bd. 4, S. 56. Diese Gedanken fanden Eingang in die Renaissance-Pädagogik; Johann Ludwig Vives behandelt in seinem Werk „De institutione feminae christianae" (1523) die Frage „Qui non legendi scriptores, qui legendi" (vgl. dazu und zu weiteren Einzelheiten Schenda: Volk ohne Buch [1970], S. 9 3 - 9 4 ) . Und 150 Jahre später äußert sich Comenius zur Kinderlektüre: „Es sollen nur wenige Bücher sein. Soll die Welt von der Flut der Bücher befreit werden, muß es gleich am Anfang geschehen. Soll die Welt in die Bücher Gottes eingeweiht werden, muß man bald damit beginnen. [. . .] Das Pensum soll so groß sein, daß die ganze Zeit des Knabenalters damit ausgefüllt ist und kein Raum bleibt für Törichtes und Schlechtes." (Comenius: Pampaedia [1965], S. 287) Was bei diesen Worten erstaunt, ist die Klage über die „Flut der Bücher", die wir sonst erst aus den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts kennen. Comenius zeigt einmal mehr, wie sehr bei Fragen der Lektüre Topoi an die Stelle von Argumenten treten. Zitiert nach Wegehaupt: Vorstufen und Vorläufer (1977), S. 40. Zitiert nach Moser-Rath (Hrsg.): Predigtmärlein (1964), S. 76. Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 94.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

N u n zeichneten sich aber, wie man nach diesen Verdammungsurteilen meinen könnte, Barockpredigt und die entsprechenden Predigtsammlungen des 17. Jahrhunderts, die „als erbaulicher Lesestoff in Haus und Familie" die „bösen verbottenen Bücher" ersetzen sollten 17 , durchaus nicht durch Trockenheit aus. Die zentrale Rolle spielte dort das Exempel, dessen vielgestaltige Tradition in allen historischen Epochen von der Antike bis zur Gegenwart erst teilweise von der Forschung gewürdigt worden ist 18 . Eine bedeutende Rolle spielte es bereits in der antiken Rhetorik; Quintilian riet dem Redner, möglichst viele Exempel zur Verfügung zu haben 19 , und die Rhetorik diente zur römischen Kaiserzeit schon „der Jugenderziehung schlechthin" 2 0 . Und seit dem Mittelalter gibt es zahllose Exempelsammlungen; für das 12./13. Jahrhundert kann man von einer fast besessenen Sammelwut sprechen 21 , sogar Ciceros Werke wurden in Klosterbüchereien als Exempelsammlung katalogisiert 22 . Zwar überwogen in der Barockpredigt zahlenmäßig „Exempel mit religiös belehrender Tendenz, Legenden und Mirakelberichte" 23 , doch die als barocke „Predigtmärlein" bekannt gewordenen Exempel in der Form von lustigen Fabeln, Schwänken und Märchen waren geeignet, tatsächlich auch bei Kindern die populären Lesestoffe und auch die mündliche Folklore, wo nicht zu ersetzen, so doch mit ihnen zu konkurrieren. Denn die Barockprediger sind sogar zu Trägern von Volksüberlieferungen geworden. Man ging oft nur noch zur Kirche, um die Märlein zu hören 2 4 , deren volkstümlicher Ton schon ein wirksamer Kontrast zu dem im 18. Jahrhundert scharf kritisierten barocken Schwulst war 25 . Die Prediger kannten ihre Wirkung, sie wußten, daß sich die Zuhörer die Geschichten zum Weitererzählen merkten oder gar notierten; so fragte ein Pater (1691): „Vielleicht [sollte ich] den Schluß machen mit einer curiosen Lust-vollen Predig [!], daß von denen Fabien die Kinder auff der Gassen noch in viele Jahr zu reden wüsten?" 2 6 Manche dieser „Fabien" waren also auch und vielleicht sogar vornehmlich auf Kinder als Publikum berechnet 27 . Diese mündliche Kinderliteratur fand sehr bald Eingang in die großen 17 18

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Moser-Rath (Hrsg.): Predigtmärlein (1964), S. 11. Vgl. Schendas Bericht: Stand und Aufgaben der Exemplaforschung (1969). — Siehe auch Bausinger: Exemplum und Beispiel (1968). Stierle: Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte (1973), S. 358. Fuhrmann: Das Exempel in der antiken Rhetorik (1973), S. 451. Stierle: Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte (1973), S. 359. Vgl. auch Curtius: Europäische Literatur (1954), S. 67— 70. Koselleck: Historia Magistra Vitae (1967), S. 198. - Für diese Zeit steht uns Tubachs „Index Exemplorum" (1969) zur Verfügung. Moser-Rath (Hrsg.): Predigtmärlein (1964), S. 45. Ebenda S. 27. Vgl. ebenda S. 3 6 - 3 7 . Ebenda S. 8 7 - 8 8 . Diese Vermutung auch ebenda S. 58.

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Predigtbücher des 17. Jahrhunderts, die, zunächst nur als Mustersammlungen gedacht, bisweilen auch schon als Hausbuch dienten. Erst gegen Ende des Jahrhunderts finden sich dann ausdrücklich als Volks- und Kinder(vor)lesestoff bezeichnete Kompendien; bis weit ins 19. Jahrhundert galt im süddeutschen Raum Martin von Cochem als der Volksschriftsteller schlechthin 28 . Was dieser in der Vorrede zum ersten Band seines „Außerlesenen History-Buches oder Ausführliche, anmüthige und bewegliche Beschreibung Geistlicher Geschichten und Historien" (1687) an Vorstellungen über die Rezeption seiner Exempelsammlung gab, unterscheidet sich nur wenig von der bekannten mündlichen Märchenerzählsituation oder von dem, wie sich die Kinderbuchautoren der Aufklärung die Aufnahme ihrer moralischen Beispielerzählungen dachten 2 9 : Wie viele fromme Vätter und Mütter seynd, welche, wan sie ein schönes Exempel-Buch in ihren Häusern hätten, wurden an Sonn- und Feyrtägen, wie auch in den langen WintersNächten zu Abends ihren Kindern und Gesind auß einem solchen Buch ein oder andere History fürlesen, und dadurch nicht allein geistlichen, sondern auch zeitlichen Nutzen gewinnen; weil nemlich das junge Bürschlein nicht allein unterdessen von unnutzem Schwatzen und Singen abgehalten, sondern auch von dem Schlaffen und Faulentzen ermuntert und zum Spinnen, Nähen, Stricken und dergleichen Arbeiten durch Anhörung der Exemplen wurden angefrischt werden. Und wan dan eine History abgelesen worden, so wurden selbige Haußgenossen und Zuhörer von selbiger so viel wissen zu reden, zu fragen, zu glossieren, zu erklären, zu loben und zu tadlen, daß sie durch dieses Gespräch zu nutzlichen Reden angeführt und in ihrem Hand-Gewerb desto unverdrossener seyn wurden [. . . ] . » Der Weg vom Hausbuch zum Kinderbuch ist nie sehr weit, und so lag es auf der Hand, auch direkt für Kinder Exempelbücher zu verfassen. Der öhninger Chorherr Dominicus Wenz (1699—1755) veranschaulicht mit den verschiedenen Ausgaben seiner Exempelbücher für Kinder gut diese Entwicklung 3 1 . E r begann mit einer „Beicht- und Communion-Kinder-Lehr" (2. Aufl. 1724), die nach den Katechisationen Exempel „von frommen, und ungerathnen Kindern" brachte 3 2 . Wenig 28 29 30

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Moser-Rath: „Schertz und Ernst beysammen" (1965), S. 41—42. Vgl. dazu unten S. 170-174. Zitiert nach Moser-Rath: „Schertz und Ernst beysammen" (1965), S. 41; Hervorhebung im Zitat von mir. Zu Wenz siehe ausführlich Schenda: Dominicus Wenz, ein öhninger Erzähler des 18. Jahrhunderts. — In: Dorf und Stift öhningen (1966), S. 232—240; Schenda rätselt über die Lebensdaten von Wenz. Der im zitierten Sammelband vorangehende Aufsatz von Friedrich Thöne bringt sie (Kunstgeschichte der ehemaligen Augustinerprobstei öhningen und der Burgen Oberstaad und Kattenhorn — ebenda S. 211—231, Daten von Wenz S. 222-223). - Wegehaupt: Vorstufen und Vorläufer (1977) kennt Wenz nicht; bei ihm S. 90 und Bibl. Nr. 105 und 128 zwei vielleicht vergleichbare geistliche Exempelbücher für Kinder von 1709 bzw. 1743. , Zitiert nach Schenda: Wenz (1966), S. 233; mir nicht zugänglich; Schenda nennt ein Exemplar der Stadtbibliothek Schaffhausen (Sign. ZC 1145). Die erste Auflage ist nicht bekannt.

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I I . Grundzüge der Entstehung und Typologie

später veröffentlichte er ein reines Exempelbuch ohne die Beicht- und Communionsfragen, von dem auch erst die zweite Auflage von 1734 auf uns gekommen ist: „Christlicher Jugend Nutzlicher Zeitvertreib / Das ist: Lehr-reiches / Exempel-Buch / von Theils frommen / theils ungerathenen; theils auch gebesserten Kinderen" 3 3 . Dieses Buch ist zweifellos ein Kinderbuch, freilich ein geistliches. In der Vorrede wendet sich Wenz „An die Elteren": Liebe Elteren! Eueren Kinderen zu lieb hab ich gegenwärtige Exempel zusammen getragen / wohl wissend / daß ihnen nichts angenehmers / als wann sie ein Exempel hören; oder selbst ablesen können. Wo ich aber zugleich auff den Nutzen gesehen; und deßwegen nach einem jeden Exempel einen kurtzen Spruch gesetzt / der ihnen an statt eines Stachels dienen soll / dem Exempel frommer Kinder nachzufolgen; ab jenem aber der Ungerathenen ein Abscheuen zu bekommen. Ligt jetzt nur an dem / daß ihr ihnen dieses Buch verschaffet. 34

Christian Wolff hatte, gleichzeitig und fast mit denselben Worten wie Wenz und in der Nachfolge aller großen Pädagogen, empfohlen, „den Kindern, bey sich zeigendem Gebrauche der Vernunfft, durch Exempel und Fabeln die Tugenden und Laster vorzustellen, damit sie beyde nicht allein kennen lernen, sondern auch einen Trieb zu jenen, und einen Abscheu vor diesen bekommen." 3 5 Bei allem Ernst dieser geistlichen Exempel trennen sie doch Welten von den englischen und amerikanischen puritanischen Exempelbüchern in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Das Paradebeispiel ist James Janeways geistliches Exempelbuch (1671), das 1738—1746 auch ins Deutsche 36 übersetzt wurde und in dem das glückliche und frohe Sterben der Kinder gepriesen wird; denn im Himmel „they shall never be beat [!] any more, they shall never be sick, or in pain any more" 3 7 . Der öhninger Chorherr Wenz aber war mit dem Ernst seiner bisherigen Exempel wohl nicht so recht zufrieden und ließ deshalb 1738 eine Reihe wirklich kurzweiliger und lustiger Exempel folgen als „Catholischer Jugend Ehrliche Kurtzweil, Bestehend in Erzehlung Theils lehrreicher Fabien, Theils Curieuser Begebenheiten" 38 . Alle diese Bände vereinigt und erweitert Wenz in seinem großen „Exempel-Buch" (1757) 3 9 , das er ebenfalls der katholischen 33

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Vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis; benutztes Exemplar: Staatl. Bibliothek Regensburg Sign.: Asc 471. Ebenda S. 4 - 5 . Wolff: Verniinfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen (4. Aufl. 1734). - Gesammelte Werke Abt. I, Bd. 5, S. 77 (§ 103). - Siehe auch neuerdings Harth: Christian Wolffs Begründung des Exempel- und Fabelgebrauchs im Rahmen der Praktischen Philosophie (1978). - Vgl. auch bei Martens: Die Botschaft der Tugend (1968), S. 519—520 einige Hinweise zu den Exempeln der Moralischen Wochenschriften. Vgl. Wegehaupt: Vorstufen und Vorläufer (1977), S. 90 und Bibl. ebenda N r . 125. Zitiert nach Darton: Children's Books in England (1970; E A 1932), S. 54; Übersicht über die „Good Godly B o o k s " der Puritaner siehe ebenda S. 53—69; vgl. auch Sloane: Children's Books in England & America in the Seventeenth Century (1955), S. 3—27. Vgl. Schenda: Wenz (1966), S. 237; vollständiger Titel siehe dort. Vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis; benutztes Exemplar: Bayr. Staatsbibliothek. München 4° Asc 1196.

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Jugend, aber ebenso den Erwachsenen zum nützlichen Zeitvertreib als „Haus- und Les-Buch" widmet. Diese Exempel in ihrer oft abenteuerlichen, grellen, wunderreichen Gestalt 40 konnten sehr wohl mit den populären Lesestoffen, den alten Volksbüchern oder mit neueren Abenteuerromanen konkurrieren; was aber im Zusammenhang mit der Kinderliteratur wichtig ist: Wenz hat auch 34 Fabeln aufgenommen, von denen 20 bereits im geistlichen Kinderbuch „Catholischer Jugend Ehrliche Kurtzweil" stehen; keines der Exempel und keine der Fabeln stammt von Wenz selbst, er hat überall die Quelle angegeben. Von den Fabeln sind neun vom bayrischen Jesuitenprediger Wolfgang Rauscher übernommen, sehr viele von anderen ebenfalls meist jesuitischen Geistlichen, fünf Fabeln aus dem Aesop, darunter die weitverbreitete von der „Feldmaus und der Stadtmaus". Bereits 1723 erschien eine Ausgabe aesopischer Fabeln „nach dem Begriff der lieben Jugend eingerichtet" 41 . Die Fabel ist neben dem Exempel die didaktische Gattung der Kinderliteratur; seit jeher Kinderlektüre und von allen großen Pädagogen empfohlen — auch von Comenius und Locke — entspricht sie wie das Exempel durch Eindringlichkeit und Beweiskraft jeder lehrhaften Absicht, der des barocken Predigers wie der des Aufklärers. Als die Schulunterrichtsgattung par excellence, von den mittelalterlichen Klosterschulen bis zur Gegenwart, ist ihr reichlich Beachtung geschenkt worden, so daß hier auf die einschlägigen Untersuchungen verwiesen werden darf 42 , zumal im Weiße-Kapitel der poetologische Rahmen auch für diese Gattung der Kinderliteratur gegeben wird. Wenz ist kein genialer Außenseiter, sondern ein braver Kompilator wie die Masse der späteren weltlichen Kinderbuchautoren auch. Gerade das macht sein Werk repräsentativ. Er nimmt auch die ,Ideologie der schlechten Lektüre' wieder auf; die kurzweiligen Exempel entschuldigt er mit dem Hinweis, daß alles, Ernst und Scherz, seine Zeit habe; auch sehe er in ihnen ein wirksames Gegenmittel gegen schlechte Lektüre. Den gleichen Warnungen vor den Gefahren einer mit verführerischen Bildern angefüllten Einbildungskraft wie hier in der Vorrede zum „Exempel-Buch" (1757) werden wir bald wieder begegnen: Demnach wann ein Buch handlet von Liebs Händeln, (als da seynd die sogenannte Romans) wann darinn erzählt werden unzüchtige Possen; O wie begierig ist die Jugend darnach! wie schädlich ist ihr aber ein solches Buch? Wie manche unschuldige Seel ist schon dardurch 40 41

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Vgl. die Charakterisierung bei Schenda: Wenz (1966), S. 238. Wegehaupt: Vorstufen und Vorläufer (1977), S. 3 6 - 3 7 , Bibl. ebenda N r . 112: *Esopi. Leben und auserlesene Fabeln mit deutlichen Erklärungen, nutzlichen Tugend-Lehren, und hierzu dienlichen säubern Kupfern. Alles nach dem Begriff der lieben Jugend eingerichtet. - Nürnberg: Monath 1723, weitere Aufl. 1731, 1738, 1760. - Vgl. auch Stoppe: Neue Fabeln oder Moralische Gedichte, der Jugend zu einem nützlichen Zeitvertreibe aufgesetzt (1740). Vgl. Leibfried: Fabel (2. Aufl. 1973); ferner: Leibfried/Werle: Texte zur Theorie der Fabel (1978); Wegehaupt: Vorstufen und Vorläufer (1977), S. 3 2 - 3 9 ; Hans Eich: Fabel. - In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 1 (1975), S. 3 6 5 - 3 6 8 .

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie verführt worden wo nicht gleich im Anfang, wenigst mit heranruckenden Jahren? Dann da melden sich nachgehends wiederum an jene Bildnussen, und Gestalten der Liebs-Händlen, unzüchtiger Possen, so man vor diesem gelesen, und mithin in der Gedächtnuß zuruck geblieben: mit diesen aber wird die Einbildungs-Kraft angefüllt, die Sinnlichkeit bewegt, das Gemüth angefochten, und gleichsam angeflammet; also daß man jetzt erst lernet, was man vor diesem nicht besorget hat. Mithin suchet man durch die theils lehrreiche Fabeln, theils curieuse Begebenheiten den Schaden der Kinder der ihnen aus dem Lesen der LiebsBüchern erwachsen könte, zu verhindern und abzuwenden.

öhningen, wo Wenz wirkte, liegt im äußersten Süden Deutschlands, am westlichen Zipfel des Bodensees. Die Tradition der süddeutsch-bayerischen Barockpredigt, in der er steht, hat keinen Einfluß auf die ,schöne Literatur' des 18. Jahrhunderts gehabt; so wußten Lessing oder Geliert sicher nichts von der Rolle der Fabel in der Barockpredigt, diese „literarisch-lehrhafte Wiederbelebung" vollzog sich auf ganz anderer Ebene 43 . In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ergoß sich dann auch der aufklärerische Spott über die Predigtmärlein; nicht nur daß Nicolai in ihnen „einen Beweis für den kindischen Aberglauben im geistig so rückständigen Bayern" 4 4 sah — wobei er allerdings irrtümlich Parodien für Originale hielt —, zu Anfang des 19. Jahrhunderts begann man im Zuge der Säkularisierung der Klöster mit der systematischen Vernichtung der barocken Predigtwerke 4 5 . Und noch 1803 klagt das Münchener Tageblatt, daß geistliche Fabelbücher — sie müssen inhaltlich ähnlich dem Wenzschen gewesen sein — als Hauspostille gelesen und den Kindern als Schullektüre vorgesetzt würden 4 6 . Was also hat eine geistliche Kinderliteratur, die sich aus den Exempeln der Barockpredigt speiste, mit der Kinderliteratur der Aufklärung zu tun? Im Sinne der üblichen literarischen „Einflüsse" sicher wenig, zumal was den Stoff betrifft. Keiner der durchweg mittel- oder norddeutschen Kinderbuchautoren, keiner der Pädagogen der Aufklärung wird z. B. Wenz gekannt haben. Aber es gab andererseits auch eine Tradition der Predigtmärlein im Protestantischen, freilich weniger ausgeprägt und durch die Reformation nach und nach unterdrückt 4 7 sowie offenbar ohne entsprechende geistliche Kinderbücher 48 . Eine Art direktes Bindeglied zwischen den geistlichen Exempel-Büchern für Kinder aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu den späteren weltlichen ist das Buch eines französischen Jesuiten, des

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Moser-Rath (Hrsg.): Predigtmärlein (1964), S. 56. Ebenda S. 80. Ebenda S. 8 2 - 84. Ebenda S. 7 9 - 80. Vgl. Neumeister: Geistlichkeit und Literatur (1931), S. 1 9 3 - 1 9 4 ; ferner Wolf: Das Predigtexempel im frühen Protestantismus (1960) sowie neuerdings Rehermann: Das Predigtexempel bei den protestantischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts (1977), S. 115: Die Diktion der süddeutschen katholischen Prediger sei „volksnaher und lebendiger" gewesen. Moser-Rath (Hrsg.): Predigtmärlein (1964), S. 86.

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Abtes Joseph Reyre (1735—1812). Inhaltlich unterscheiden sich seine Exempel und Fabeln wenig von denen seiner Vorgänger; was sie hervorhebt, ist der schlagende Titel der Sammlung. 1763 als „L'Ami des Enfans" erschienen 49 , kam 1770 in Zürich eine Ubersetzung als „Der Kinder-Freund, mit Fabeln" heraus so , wobei die Fabeln fast immer Exempel sind. Wie wenig später Weiße sagte der Abt von sich, daß er um der größeren Wirkung willen den Charakter und die Person eines Freundes angenommen habe (Vorrede), und ganz wie für die weltlichen Kinderbuchautoren sind die Kinder für ihn „die Hoffnung der Welt" 5 1 . Die Verbindung zwischen solchen geistlichen und den späteren weltlichen Kinderbüchern zeigt zunächst die Bedeutung des Exempels. Denn auch für viele Kinderbuchautoren der Spätaufklärung und bis weit ins 19. Jahrhundert galten Beispielerzählungen als das Nonplusultra der Kinderliteratur; wir werden bei Ch. F. Weiße wie bei Pocci konkrete Beispiele kennenlernen, bei Busch noch Spuren finden, freilich in der Parodie. Ein Rezensent der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek" schrieb 1780: „Unter allem dem, was bisher zur Leetür für Kinder und Jünglinge geschrieben worden ist, haben uns simple Erzählungen nachahmungswürdiger Handlungen, immer das zwekmäßigste und nützlichste zu seyn geschienen: denn gute Beyspiele verfehlen nie ihren Eindruk auf das Herz eines jungen Lesers." 5 2 Derselben Meinung sind die meisten zeitgenössischen Pädagogen wie Basedow 53 oder Trapp 5 4 . Auch der erste Band von Christian Gotthilf Salzmanns Kinderbuch „Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde" (1778) besteht wie das Wenzsche Exempelbuch nur aus Beispielerzählungen; in der Vorrede klingt es exakt wie bei diesem: „Es ist nichts schicklicher, ihnen [den Kindern] Religion und Frömmigkeit beyzubringen, und ihnen ihre Fehler abzugewöhnen, als lehrreiche Histörchen." 5 5 Und noch 1792 erläutert Weiße den Sinn seines fiktiven „Briefwechsels der Familie des Kinderfreundes" so: „Seht es in diesem Falle als ein Exempelbuch an, wovon die Ab-

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""Avignon 1763; benutztes Exemplar: Paris 1765 ( U B Rostock: H . a - 3 1 0 2 ) . - Zu Reyre vgl. Michaud: Biographie universelle ancienne et moderne. Nouvelle éd. Bd. 35 (ca. 1856), S. 546—547; der „Ami des Enfans" erschien 1786 erweitert unter dem Titel „ L e Mentor des Enfans" (Exemplar im Besitz des Verf.); eine 14. Aufl. kam noch 1821 heraus. 1786 schrieb Reyre eine * „Ecole des jeunes Demoiselles" (6. Aufl. 1813) und 1803 noch einen "'„Fabuliste des enfants et des adolescents" (4. Aufl. 1812).

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An deutschen Bibliotheken nicht vorhanden; benutzt wurde das Exemplar der Stadtbibliothek Zürich, Sign. VII. 277. Reyre: Der Kinder-Freund (1770); im einleitenden Gedicht „Erinnerung an die Kinder". Rez. (von Walch) von: ^Sammlung vorzüglich schöner Handlungen zur Bildung des Herzens in der Jugend. - Altenburg: Richter 1779. — In: Allg. Deutsche Bibliothek Bd. 42, 2. St. (1780), S. 591. Basedow: Elementarwerk (1774) Bd. 2, S. 280; ders.: Methodenbuch (1913; E A 1771), S. 30 und 84. Trapp: Versuch einer Pädagogik (1780), S. 99. Salzmann: Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde Bd. 1 (1778), S. V I I .

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I I . Grundzüge der Entstehung und Typologie

sieht war, euch Muster darzustellen, wie eure Aeltern und Freunde wünschen könnten, daß Ihr, so bald euch die Fürsehung in ähnliche Lagen versetzte, [euch] betragen möchtet!" 5 6 Der Zusammenhang ist unverkennbar, wenn ihm auch bisher noch niemand Beachtung schenkte: Von den geistlichen Exempelbüchern eines Wenz, eines Reyre und anderer führt typologisch ein direkter Weg zum weltlichen literarischen Kinderbuch. Und die bevorzugte Gattung bleibt bei allen literarischen Kindererziehern das Exempel als Vorgriff auf den Ausgang einer noch offenen Situation 57 , als „Appell für die Zukunft" und „Utopie ,in kleinen Dosen' " , wie Peter Assion ganz in unserem Sinn die Funktion des Exempels umschrieben hat 58 . Die Kinderbuchautoren und Pädagogen der Aufklärung übernahmen die Aufgabe, die bisher den Geistlichen vorbehalten war, und mit der Aufgabe oft mehr als nur die rhetorische Technik. Auch die weltliche Kinderliteratur ist — u.a. — Ergebnis des großen Prozesses der Säkularisierung im 18. Jahrhundert.59 Ältere wie neuere Forschungen zur Aufklärung bestätigen, „daß in der Aufklärung ein neuer Typus des Schriftstellers aufkam, der sich als legitimen Erben des Klerus betrachtete." 60 Allerdings: auch die Kanzel und der aufgeklärte Klerus spielten weiterhin eine bedeutende Rolle, die erst neuerdings wieder ins Blickfeld gerät 6 1 ; wenn man dies und die Tatsache berücksichtigt, daß der neue Typus den alten nicht verdrängte, gilt Muschgs Feststellung: Es war der literarische Volkserzieher und Moralist, der viele seit Jahrhunderten von der Kanzel besorgte Aufgaben übernahm: die sittliche Hebung der Laien, die philosophische und erbauliche Unterweisung aller Volksklassen, die Verbreitung der Wahrheit über Gott 56

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Weiße: Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes Th. 12 (1792), S. 316. — Siehe dazu auch unten S. 202 - 2 0 8 . So die Definition bei Stierle: Geschichte als Exemplum — Exemplum als Geschichte (1973), S. 357. Assion: Das Exempel als agitatorische Gattung (1978), S. 232 und 238. In der bisherigen Kinderbuchforschung ist das nie registriert worden, höchstens am Rande und nur in bezug auf die Art der häuslichen Lektüre wie bei Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 2 1 6 - 2 2 4 und 257. - Der Artikel „Aufklärung" von Margarete Dierks im Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 1 (1975), S. 77—80 erwähnt Fragen der Religion überhaupt nicht. — Zur Problematik der Säkularisation siehe Schöffler: Protestantismus und Literatur. Neue Wege zur englischen Literatur im 18. Jahrhundert (1958; E A 1922), dessen Ergebnisse für die deutsche Literatur aber nur sehr bedingt oder gar nicht zutreffen; ferner Haferkorn: Zur Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz (1974). Muschg: Tragische Literaturgeschichte (4. Aufl. 1969), S. 296. Vgl. z . B . Schenda: Georg Jakob Schäblen und seine volkspädagogischen Bemühungen in Oeningen (1969); Schäblen (1743—1802) war einer der ersten Volkspädagogen und gab selbst ein Kinderbuch heraus: "'Etwas zum Christgeschenk für Kinder. — Oeningen: beim wohlfeilen Bücherinstitut 1779. Als Inhalt nennt Schenda (ebenda S. 48): Lieder, Erzählungen, Denksprüche, eine Predigt, ein erbauliches Gespräch, als Quellen neben eigenem: Matthias Claudius, Johann Heinrich Martin Ernesti, Johann Peter Miller. — Vgl. ferner: Schütz: Die Kanzel als Katheder der Aufklärung (1974).

1. Die literarischen Kindererzieher

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und die Welt, die Anleitung zur Erkenntnis der ewigen Gesetze, auf denen das Universum ruht. 6 2

Für die Kinderbuchautoren und Pädagogen der Aufklärung aber ist entscheidend, daß sie fast ausnahmslos protestantische Theologen waren, die meist nur eine Zeitlang Pfarr- bzw. Predigerstellen bekleideten. Das heißt: sie lebten selbst die Säkularisierung. Einige Beispiele sollen umreißen, was das bedeuten konnte. Joachim Heinrich Campe (1746—1818) hatte Theologie studiert und war zunächst Feldprediger in Potsdam; Christian Gotthilf Salzmanns (1744—1811) Vater war Pfarrer, er selbst studierte ebenfalls Theologie, wurde Pfarrer und Schulaufseher in Erfurt, ging nach Konflikten mit der Orthodoxie 1781 als Religionslehrer ans Dessauer Philanthropin und gründete 1784 seine eigene Erziehungsanstalt Schnepfenthal; Peter Villaume (1746—1826), einer der führenden Theoretiker, war ebenfalls zuerst Theologe und Prediger. 63 Campe und Salzmann gehörten auch zu den bekanntesten Kinderbuchautoren der Zeit. Johann Bernhard Basedow (1724—1790), der Sohn eines Calvinisten, der geniale Scharlatan 64 und Begründer des Dessauer Philanthropins, hatte auf dem Gymnasium Reimarus zum Lehrer, studierte in Leipzig Theologie, machte aber kein Examen. Er geriet in Streit mit der Kirche, aus der er schließlich ausgeschlossen wurde. Die Prediger hetzten von der Kanzel das Volk gegen ihn auf, man verweigerte ihm und seinen Freunden das Abendmahl, seine Schriften sollten — wie die Rousseaus — verbrannt werden 65 . Goethe schildert den entlaufenen Theologen und höhnischen Propheten anschaulich; bei allem persönlich Abstoßenden, bei aller Verworrenheit seiner Absichten, muß er faszinierend gewesen sein, ein Urbild des falschen Propheten. Basedow fühlte, so berichtet Goethe, den unruhigsten Kitzel alles zu verneunen, und sowohl die Glaubenslehren als die äußerlichen kirchlichen Handlungen nach eignen einmal gefaßten Grillen umzumodeln. Am unbarmherzigsten jedoch, und am unvorsichtigsten verfuhr er mit denjenigen Vorstellungen, die sich nicht unmittelbar aus der Bibel, sondern von ihrer Auslegung herschreiben, mit jenen Ausdrücken, philosophischen Kunstworten, oder sinnlichen Gleichnissen, womit die Kirchenväter und Concillen sich das Unaussprechliche zu verdeutlichen, oder die Ketzer zu bestreiten gesucht haben. Auf eine harte und unverantwortliche Weise erklärte er sich vor

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Muschg: Tragische Literaturgeschichte (4. Aufl. 1969), S. 296. Siehe die Artikel von Hans-Heino Ewers über Salzmann und Villaume in: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 3 (1979), S. 2 5 0 - 2 5 4 bzw. 7 1 4 - 7 1 6 . - Eine Ubersicht über fast 400 zeitgenössische Pädagogen und Kinderbuchautoren bietet Baur: Charakteristik der Erziehungsschriftsteller Deutschlands (1790). Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung (4. Aufl. 1853) Bd. 5, S. 310 nennt Basedow mit Recht „einen unserer vagirenden Originalcharaktere, unserer Projektmacher und Charlatane". — Zu Basedow vgl. auch Reble: Leben und Werk J . B. Basedows. — In: Basedow: Ausgewählte Schriften (1966), S. 2 5 3 - 2 6 4 . Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung (4. Aufl. 1853) Bd. 5, S. 311; zu Basedows Religionsbegriff vgl. Meiers: Der Religionsunterricht bei Basedow (1969).

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie jedermann als den abgesagtesten Feind der Dreieinigkeit, und konnte gar nicht fertig werden, gegen dieß allgemein zugestandene Geheimniß zu argumentieren. 66

Eine große Gesellschaft in Nassau erwartete eine pädagogische Unterhaltung von ihm und bekam eine Lektion in aufgeklärter Religion Basedowscher Denkart: „in seinem Sinne höchst religiös, nach Uberzeugung der Gesellschaft höchst lästerlich." 67 Basedow, zwanzig Jahre älter als seine pädagogischen Mitstreiter, ist Sinnbild der säkularisierten Theologie oder Pädagogik. An keinem zeigt sich deutlicher, daß Aufklärung und Säkularisation nicht gegen Theologie oder Religion gerichtet waren, sondern sie verändern wollten im Lichte der Natur und Vernunft 68 . In seinem „Elementarwerk" (1774) preist Basedow die „natürliche Religion" 6 9 und betont, daß Deisten, Juden, Christen und Mohammedaner in diesen Grundsätzen übereinstimmten 70 , daß das „Elementarwerk" für „keine Kirchengemeinschaft ketzerisch, sondern in catholischen, griechischen, protestantischen, jüdischen und naturalistischen [ = deistischen] Familien und Stiftungen brauchbar" sei 71 . Doch Basedow wäre nicht Basedow, wenn er sich darauf beschränken würde. So formuliert er z . B . ein neues Glaubensbekenntnis 72 und ersetzt die zehn Gebote durch 27 „Notwendigste Sittenlehren, als Gebote Gottes", in denen Basedow Gott reden läßt. Und so verkündet Gott durch seinen Propheten Basedow: Du sollst meinen Namen nicht mißbrauchen, und wenn ich dich nicht als einen Propheten gesandt habe, durch keine erdichtete Offenbarungen und Wunderwerke, Menschen nach deinem Sinne zu belehren suchen. 73

Auch entwirft er neue häusliche Kulthandlungen; er schildert sie im Abschnitt „An Kinderfreunde. Von häuslichen Religionsübungen" 74 als Utopie in einem Lande „Alethinien" (gr. άληθινός = wahr). Grundlage dafür ist nicht — wie mancher sozialgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaftler vermuten würde — die Familie, sondern das „Haus", im Sinne des „ganzen Hauses", jener Form häuslichen Zusammenlebens, die weit mehr, als man gemeinhin annimmt, in der Form noch das Familienleben des 18. Jahrhunderts bestimmt 75 . Der Hausvater ist der Liturg des 66

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Goethe: Dichtung und Wahrheit. 14. Buch. - Werke Abt. I, Bd. 28, S. 274; über Basedow insgesamt S. 271—281. Ebenda S. 278. Vgl. Schütz: Die Kanzel als Katheder der Aufklärung (1974), S. 139: um 1770 glaubte z.B. David Hume nicht an das Vorhandensein von Atheisten überhaupt; siehe auch Pütz: Aufklärung (1978), S. 5 7 - 7 9 (mit Literatur). Basedow: Elementarwerk (1774) Bd. 2, S. 230. Ebenda S. 231. Ebenda Bd. 1, S. IV (Vorrede). Ebenda Bd. 2, S. 121. Ebenda S. 1 2 3 - 1 2 7 , Zitat S. 127. Ebenda S. 1 1 3 - 1 2 1 . Vgl. Engelsing: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten (1973), S. 227 u. 256, dort über die Geltung der Ökonomik der Hausherrschaft bis ins 19. Jahrhundert.

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Hauses; die neue Liturgie wird genau beschrieben ebenso wie eine Betkammer im Hause, die einzig zu diesem Zweck geheiligt ist. Dieser Entwurf ist ein einzigartiges Dokument dafür, wie sehr Basedow sich als Propheten und Organisator der neuen natürlichen Religion sah. Kein Wunder, daß die Dessauer Bürger die Philanthropisten für Leute hielten, die eine neue Religion einführen wollten 76 . Nichts kann die Bedeutung von Aufklärung und Säkularisation besser verdeutlichen als eine der Vorschriften für die Ausstattung der Betkammer bei Basedow: „An der Seite dieser Lade [mit dem Gesetzbuch Gottes] brennen zwey Kerzen, die beyden Erkenntnissarten der Religion, durch fremde Belehrung und durch eigne Einsicht zu bedeuten." 77 Gervinus sah als eigentliche Leistung Basedows die „Befreiung der Schule von dem Einflüsse der Geistlichen", freilich ein mittelbareres Ergebnis als die heute zu Unrecht gepriesenen didaktischen Leistungen Basedows 78 , der ja als Lehrer völlig versagte, der im Philanthropin nur große Reden schwang, oft von seinen Schülern betrunken aufgefunden wurde und sich mit Christian Hinrich Wolke, der eigentlichen Seele seines Philanthropins, wegen angeblich unterschlagenen Geldes jahrelang stritt, öffentlich prügelte 79 , bis schließlich im Institut völlige Anarchie ausbrach und der Fürst, der Basedow berufen hatte, mit Tränen in den Augen die Pädagogen anflehte, sich zu vertragen 80 . Das Schlagwort für die Erziehung war „moralische und dennoch unkirchliche Verbesserung" 81 . Im Bewußtsein der Zeitgenossen waren moralisch und unkirchlich noch weithin Gegensätze; Trapp widmete in seinem „Versuch einer Pädagogik" ein ganzes Kapitel der Frage, ob das Studium der Theologie für künftige Erzieher von Nutzen sei, und er kam schließlich dazu, auch der theologischen Moral den Nutzen abzusprechen, da sie die menschliche Natur verschleiere82. Wenn die Theologie nach Meinung der Aufklärer in der Erziehung ausgedient hatte und gegen die kirchlichdogmatische eine natürlich-vernünftige gesetzt wurde, so waren auch die kirchlichen Lehr- und Lesebücher veraltet. Wir haben gesehen, daß sogar Fibel und ABC-Buch 76

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Pinloche: Geschichte des Philanthropinismus (1914), S. 132 (nach den Erinnerungen Carl Spaziers). Basedow: Elementarwerk (1774) Bd. 2, S. 118. Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung (4. Aufl. 1853) Bd. 5, S. 309; vgl. z.B. Margarete Dierks: Basedow. — In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 1 (1975), S. 109-112, bes. 110-111. Vgl. dazu die ausführliche zeitgenössische .Dokumentation' von Reiche: Getreue Darstellung der Umstände, unter welchen Herr J . B. Basedow [. . .] Schläge bekommen und seinen Rock verloren [. . .] (1783). Vgl. im einzelnen dazu Pinloche: Geschichte des Philanthropinismus (1914), S. 125 — 147 (Quelle sind wieder die Erinnerungen Carl Spaziers). So im Titel von Basedows *Vierteljaehrigen Unterhandlungen mit Menschenfreunden ueber moralische und dennoch unkirchliche Verbesserungen der Erziehung und Studien - zit. nach Ballauf/Schaller: Pädagogik Bd. 2 (1970), S. 346. Trapp: Versuch einer Pädagogik (1780), S. 449—479, bes. S. 472. — Zu Trapp siehe auch unten S. 135.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

bis weit ins 18. Jahrhundert noch religiöse Texte enthielten; nicht von ungefähr nannte man die nicht-geistlichen meist „Neues A B C - B u c h " — so auch Christian Felix Weiße. Ohne den Mythos des Kindes als potentieller Zukunft, der in dieser Zeit des entstehenden Bürgertums die Hoffnungen des Zeitalters umschloß, ohne die Ausweitung des Büchermarktes und das Vertrauen, das man in die Wirkung der Literatur setzte, ohne den Erziehungsoptimismus wäre diese neue Literatur für Kinder sicher nicht entstanden. Aber ohne die enge Verbindung mit der theologisch-kirchlichen Tradition, die ja quasi ex negativo bestand, und ohne die starke Bindung an die um 1770 ins Kreuzfeuer der Kritik geratende Poetik der Aufklärung — wir werden im Weiße-Kapitel diese Frage noch näher angehen — hätte die Kinderliteratur anders ausgesehen. Wie die geistlichen Erbauungsbücher oder die geistlichen Kinderbücher des Dominicus Wenz entstand die neue ,weltliche' Kinderliteratur als Abwehr gegen die — tatsächliche oder vermeintliche — Lektüre der Kinder. In der Zielsetzung stimmt sie mit den aufklärerischen Volksschriften überein, die „die bis dahin im Volk gelesene Literatur, die belehrende und unterhaltende", ersetzen und verdrängen sollten 83 . Auch die indentierte und tatsächliche Rezeption von geistlich unterhaltenden Exempeln und späterer weltlicher Kinderliteratur, wie wir sie oben im Vergleich Wenz-Salzmann festgehalten haben und noch bei Weiße näher kennenlernen werden, ähneln sich mehr, als daß sie sich unterscheiden. Die Kinderbuchautoren und Pädagogen greifen die Ideologie von der schlechten Lektüre nur allzu gern auf. Man hat in Unkenntnis dieser Tradition darin lediglich pietistischen Einfluß erkennen wollen; aber die „pietistische Kritik der ,Künste'" 8 4 ist nur Teil dieser Tradition von der Ideologie der schlechten Lektüre. Daß man die bisherige geistliche Lektüre ergänzen, wo nicht ersetzen wollte, sprach man selten direkt aus; das verstand sich von selbst. Hatte doch bereits Madame Leprince de Beaumont den geschichtlichen Teil ihres „Neuen Mentors, oder Unterweisungen für die Kinder" als „historischen Katechismus" bezeichnet 85 . Die angeblich schlechte Lektüre aber, die die Aufklärungsschriftsteller verdammten, ist die gleiche, gegen die sich der Zorn früherer pädagogisch orientierter Kleriker beider Lager richtete: populäre Lesestoffe, Volksbücher und auch mündliche Folklore auf der einen Seite. Letztere fiel entweder unter das Verdikt der Albernheit, Ungezogenheit und Abgeschmacktheit, wenn es sich um volkstümliche Kinderlieder handelte, oder unter das Verdikt des Aberglaubens 86 , der Ungereimtheit oder Phantastik, wenn Sagen, Märchen oder Schwänke betroffen waren, die man terminolo-

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Weissen: Das mildheimische Liederbuch (1966), S. 10. So der Titel der Kölner Dissertation von Wolfgang Schmitt ( 1 9 5 8 ) ; auch Martens: Lektüre bei Geliert (1967) hebt nur auf diese Tradition ab. Leprince: Der neue Mentor (1773; frz. E A 1772) Th. 1, Vorbericht der Verfasserin. Dazu allgemein Bausinger: Aufklärung und Aberglaube (1963).

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gisch n o c h kaum t r e n n t e 8 7 ; auch V o l k s b ü c h e r wurden entweder als gedruckte M ä r c h e n dazugezählt oder mit gleichen Urteilen bedacht. Hildegard B e y e r hat in ihrer U n t e r s u c h u n g Material dazu vom 16. —19. Jahrhundert gesammelt 8 8 . Als Lesepublikum dürfen wir uns schon für das 16. Jahrhundert auch Kinder vorstellen 8 9 . A u f der anderen Seite der Skala der schlechten L e k t ü r e standen — wie es schon der C h o r h e r r W e n z ausdrückte — „die sogenannte R o m a n s " mit ihren „ L i e b s H ä n d e l n " ; den B a r o c k r o m a n verdammten ja auch die Moralischen W o c h e n s c h r i f t e n der ersten Jahrhunderthälfte 9 0 . Ein H a u p t v o r w u r f war, daß sie die Phantasie

reiz-

ten. H i e r i n liegt der gemeinsame Ansatzpunkt zur Kritik an F o l k l o r e und modernen R o m a n e n . D e n n die Spätaufklärer hatten freilich weniger die R o m a n e des B a r o c k als die empfindsamen

R o m a n e im Visier, o b w o h l der Begriff , R o m a n ' im 18. J a h r -

hundert n o c h weitgehend ,Märchen' miteinschloß, so daß je nach Q u e l l e und Z e u g nis genau zu unterscheiden i s t 9 1 . Aufklärungstheologen und -pädagogen wie C a m p e nahmen die von den Moralischen W o c h e n s c h r i f t e n mitvorbereitete Säkularisierung der Romangegnerschaft nur allzu gern auf; im Kreise der Philanthropen wurde das P r o b l e m der Empfindsamkeit und Phantasie so auch am ausgiebigsten diskutiert 9 2 . D i e gelehrte Diskussion, die Unterscheidung von natürlicher oder wahrer E m p f i n d samkeit und erkünstelter Empfindelei, w o b e i vor allem C a m p e oft zitierter G e währsmann ist 9 3 , verdecken, was auch in der neueren E m p f i n d s a m k e i t s - F o r s c h u n g von J ä g e r , Sauder und D o k t o r zu kurz k o m m t : die Angst vor nicht kontrollierbaren, rationaler Belehrung und Erklärung sich entziehenden Kräften. Sogar K a n t unterschied die willkürliche Einbildungskraft von der unwillkürlichen, der Phantasie, die letztlich ins Irrenhaus führen m ü s s e 9 4 . D a m i t verband sich, da Phantasie,

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Vgl. dazu z.B. Nossag: Volksmärchen und Volksmärcheninteresse im 18. Jahrhundert (1931), S. 6 - 7 . Beyer: Die deutschen Volksbücher und ihr Lesepublikum (1962), passim, bes. S. 27—53 (16. Jahrhundert), 7 3 - 9 9 (17. Jahrhundert), 1 0 0 - 1 3 1 (18. und 19. Jahrhundert). Vgl. ebenda S. 36. Martens: Die Botschaft der Tugend (1968), S. 4 9 2 - 5 0 8 . Vgl. Bausinger: Aufklärung. — In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 1 (1977), Sp. 972 - 9 8 3 , hier Sp. 978. Das bestätigt Doktor: Kritik der Empfindsamkeit (1975), S. 442; vgl. ebenda S. 442 - 456: „Die philanthropische Diskussion (Campe)". Vgl. Campe: Von der nöthigen Sorge für die Erhaltung des Gleichgewichts unter den menschlichen Kräften. Besondere Warnung vor dem Modefehler die Empfindsamkeit zu überspannen (1785); wichtig in unserem Zusammenhang ist diese und eine weitere Abhandlung Campes in der „Allgemeinen Revision": Ueber die große Schädlichkeit einer allzufrühen Ausbildung der Kinder (1786). Dazu ausführlich Sauder: Empfindsamkeit Bd. 1 (1974), S. 1 5 4 - 1 7 6 ; jetzt auch in Bd. 3 (1980) die exemplarischen Dokumente empfindsamer Texte u.a. aus Pädagogik, Popularphilosophie, Seelenkunde, Ästhetik und Dichtung. Ferner Jäger: Empfindsamkeit und Roman (1969) bes. S. 21—25 (Campe), S. 47—53 (Philanthropismus). Nach Sauder: Empfindsamkeit Bd. 1 (1974), S. 163.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

Empfindsamkeit und Genieseuche schlagwortartig die zeitgenössische Dichtung der Modernsten umrissen, eine Ablehnung der neuen D i c h t u n g 9 5 . Auf C a m p e geht jene noch heute bei vielen Kinderbuchforschern herrschende verhängnisvolle D i c h o t o mie von Realität und Phantasie, die angebliche Unvereinbarkeit beider zurück. W i e differenziert man das Verhältnis von Phantasie und Realismus im Kinderbuch sehen muß, hat erst die jüngste literaturwissenschaftliche Kinderbuchforschung dargelegt 9 6 . Zünftige Kinderbuchforscher sind heute in dieser Hinsicht freilich ein wenig über C a m p e hinausgekommen; bei aller Gefahr, die die Phantasie birgt, ist sie unbezahlbar als „Bereicherung und Erweiterung unseres inneren L e b e n s " . Das aber ist das einzige Zugeständnis, das manche Pädagogen 2 0 0 Jahre nach Campe machen. I m Grunde tönt es noch ganz wie damals, wenn man davor warnt, die Gefahren der Phantasie zu bagatellisieren, und nur T o n und Diktion sind verschieden: Wer sich rückhaltlos einem regen Phantasieleben hingibt, der läuft Gefahr, den Kontakt mit der alltäglichen Wirklichkeit zu verlieren, wenigstens zeitweilig. In extremen Fällen kann das zu schizophrenen Zuständen führen. Wo die Tätigkeit einer ausschweifenden Phantasie die Tatsachen des gewöhnlichen Lebens und seine Anforderungen vergessen läßt, da stehen wir vor einem pathologischen Zustand geistiger Verwirrung. Solche Gefahr droht vor allem dem schöpferischen Geist, dem Dichter oder Schriftsteller; die Phantasie ist gewissermaßen sein Werkzeug, dessen Gebrauch ein Berufsrisiko mit sich bringt. Es mag auch sein, daß manche seiner Leser in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn sie besonders dazu prädisponiert sind: man denkt etwa an die Selbstmordwelle nach dem Erscheinen von Goethes „Werther". 9 7 H i e r finden wir alle Klischees beisammen, bereichert um das von der Verwandtschaft von Schizophrenie und Dichtertum, freilich mit so viel unfreiwilliger K o m i k getränkt, daß es schwerfällt, alles ernst zu nehmen. .Falscher' Gebrauch der Phantasie als Berufsrisiko: Die Angst ist geblieben, aber man ist mutiger geworden. Bereits C a m p e akzeptierte für Kinder letztlich nur solche Literatur, die mit den bürgerlichen Geschäften nicht in Widerspruch stand oder davon ablenkte. Ein G e dicht in seiner „Kleinen Kinderbibliothek" wendet sich „ A n eine empfindsame Romanleserin" und warnt davor, Literatur und Realität zu verwechseln: Einen T u -

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Vgl. auch Campe: Von den Erfordernissen einer guten Erziehung (1785), S. 181. Vgl. den nach Abschluß dieses Manuskriptes erschienenen Aufsatz von Gert Ueding: „Was sich nie und nirgends hat begeben". Überlegungen zu einer Poetik der Kinder-und Jugendliteratur. — In: Ästhetik der Kinderliteratur (1981), S. 18—35, besonders das Fazit S. 34: „Der Gegensatz besteht nun nicht mehr zwischen Phantasie hie und Realität da, sondern zwischen Phantasie und Realität auf der einen und der Fixierung des Bewußtseins auf eine einzelne, isolierte Realitätsvorstellung auf der anderen Seite, die man auch als Verdinglichung des Bewußtseins bezeichnen kann." - Siehe auch Reiner Wild: Sieben Thesen zum Realismus in der Kinderliteratur. — Ebenda S. 8 3 - 9 6 ; dieser Aufsatz variiert einen früheren: Wild: und ein schönes Bilderbuch" (1979). William Witte: Phantasie und Phantastik im literarischen Werk. — In: Phantasie und Realität in der Jugendliteratur (1976), S. 11—30, hier S. 28.

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gendhelden wie Richardsons „Grandison" oder ein Trauerbild wie Millers „Siegwart" hätten „auf dieser Erde nie gelebt" 9 8 . Auch bei Weiße finden sich verschiedentlich Warnungen vor dem „albernen Romanlesen" 9 9 , vor allem im „Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes", der sich an schon ältere Kinder wendet. In einem moralischen Exempel, einer Art verkürzter Werther-Parodie, kommt der unglücklich Verliebte „auf den unseligen Gedanken, den Ratten die Butterbemmen wegzuessen" 1 0 0 , in einem Lustspiel spielt man dem Helden Süßholz, einem „empfindendelnden [!], affektirten jungen Menschen von siebenzehn Jahren" einen üblen Streich 1 0 1 . Campes Kritik an Schriften, „welche recht eigentlich darauf abzwecken, den Verstand zu verwirren", ging aber noch weiter. 1 0 2 Er bezweifelte 1785 sogar, daß „unter hunderten [von Kinderbüchern] auch nur ein einziges als völlig brauchbar empfohlen zu werden" verdiente 103 . Man darf nach Campes Ansicht Kindern nur solche Literatur vorsetzen, die mit der Realität nicht in Widerspruch steht. Man solle sich stets fragen, ob die Vorstellung, die die Literatur hervorruft, „auch für die Welt gehöre, in der wir jetzund leben, oder ob sie nicht vielleicht, so schön und süß sie für sich selbst betrachtet auch immer seyn mag, eine Ursache zur Unzufriedenheit mit der Welt, mit den Menschen und mit der Vorsehung werden k ö n n e . " 1 0 4 Das Bestehende soll fraglos hingenommen werden, und Entwürfe einer besseren Welt werden als „Ubertreibungen" verdammt. Was Campe — und er ist hier repräsentativ für die bürgerliche (eine andere gab es nicht) Pädagogik der Zeit 1 0 5 — allenfalls als Literatur für Kinder zuließ, waren Werke, die weiter nichts enthielten, als was „ihre bürgerliche106 Bestimmung wirklich nöthig m a c h t " . 1 0 7 Von hierher schreibt sich

Campe (Hrsg.): Kleine Kinderbibliothek Bd. 6 (1784), S. 107-110, Verfasser: P[?]. Weiße: Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes Th. 7 (1787), S. 60. 100 Ebenda S. 5 5 - 6 0 . 101 Ebenda Th. 9 (1789), S. 153-226: „Mit Schaden wird man klug oder wer leicht glaubt, wird leicht betrogen. Ein Lustspiel in zwey Aufzügen." 102 Campe: Von den Erfordernissen einer guten Erziehung (1785) S. 175. 103 Campe: Von der nöthigen Sorge (1785), S. 419. 104 Ebenda S. 423—424, im Original hervorgehoben; vgl. ganz ähnlich ders.: Von den Erfordernissen einer guten Erziehung (1785), S. 175, wo er vor Schriften warnt, die geeignet sind, „den Geist durch süßliche Empfindeleien zu entmannen, Unzufriedenheit über Welt, Menschen und Vorsehung einzuflößen, die Phantasie zu schwärmerischen Luftreisen in das Reich der Träume und Schimären zu beflügeln, und die Menschen sowol zu den Geschäften als auch zum Genuß des Lebens immer unfähiger zu machen." ios Vgl. ähnlich Villaume: Allgemeine Theorie, wie gute Triebe und Fertigkeiten durch die Erziehung erwekt, gestärkt und gelenkt werden müssen (1785), S. 157; ferner Basedow, der Kindern und jungen Menschen bis zum 20. Lebensjahr vorschreibt, nur in „von den Eltern oder Lehrern ausdrücklich gebilligten, Büchern zu lesen". — Basedow: Elementarwerk (1774) Bd. 4, S. 249. 106 .Bürgerlich' meint hier wie oft in solchem Zusammenhang die beruflich-ökonomische Stellung des Menschen im Staate; der Begriff wird stets in Kontrast gesetzt zur Bestim98 99

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

eine Art der Kinderliteratur, von deren Begriff auch heute noch oft die Maßstäbe zur Beurteilung gewonnen werden. Indem man diese Art Kinderliteratur absolut setzte, sank ihr ästhetisches Ansehen 108 . Fassen wir zusammen: Die Aufklärungspädagogen, meist von Haus aus Theologen, setzten den alten Kampf der Geistlichkeit gegen die vermeintlich schlechte Lektüre fort. War der Hauptgrund früher, von weltlicher Zerstreuung ab- und auf christliche Erbauung und Vorbereitung auf das ewige Heil hinzulenken, so war das neue Ziel jetzt die künftige Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft. Fast als einziger ragt Christian Felix Weiße, der als Dichter und einer der wenigen Nicht-Pädagogen der Zeit Kinderbücher schrieb, über diese affirmative Haltung bisweilen hinaus. Er ist der einzige, der Kinderliteratur nicht nur als pädagogisches Hilfsmittel verstand. Symbol für diese Sonderstellung ist die Tatsache, daß Campe und Weiße keinerlei persönliche Freundschaft verband, ja daß man fast von gegenseitiger Ignorierung sprechen kann. Der Typus des literarischen Kindererziehers aber war in der Spätaufklärung festgelegt. b) Die Variationen des Typus Die sozialdemokratische Lehrerin Clara Zetkin beklagt auf dem Parteitag der SPD 1906, daß die sozialistische Kinderliteratur die Konkurrenz nicht bestand mit der ganz minderwertigen, billigen, bürgerlichen Kinderliteratur, die auf den Markt geworfen wird. E s ist eine grobe Pflichtvernachlässigung der Eltern, wenn sie ihren Kindern, um etliche Pfennige zu sparen, eine Literatur geben, die im schroffsten Gegensatz steht zu allen Ideen, zu denen sie sich bekennen und die sie in ihre Kinder hineinzutragen vermöchten, wenn sie diesen eine vom sozialistischen Geiste erfüllte Literatur bieten könnten.

Die gute bürgerliche Kinderliteratur habe zwar „in der dankenswertesten Weise vorgearbeitet", pädagogisch, literarisch stimme alles, nur die Weltanschauung nicht. 1 Die Zweifrontenstellung gegen die. moderne bürgerliche Kinderliteratur und die populären Lesestoffe erinnert ganz an die Stellung der aufklärerischen Kindermung oder Ausbildung des .Menschen', d.h. aller jener Kräfte, die zur beruflichen Brauchbarkeit nicht nötig sind. 107

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Campe: Ueber die große Schädlichkeit einer allzufrühen Ausbildung der Kinder (1786), S. 149. In seinem bereits erwähnten (siehe oben S. 74, A n m . 96) Aufsatz beschreibt Ueding den Platz des Kinderbuchs in der „aufklärerischen Erziehlehre" ganz ähnlich, freilich ohne eine andere Position als die Campes und seiner Mitstreiter zu erwähnen — Ueding: „Was sich nie und nirgends hat begeben". — In: Ästhetik der Kinderliteratur (1981), S. 24-25. "'Protokoll über die Verhandlung des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Mannheim vom 23. bis 29. September 1906. — Berlin 1906 - zit. nach Richter ( H r s g . ) : Das politische Kinderbuch (1973), S. 75—76.

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literatur in ihrer Zeit. Rudolf Schenda zitiert ebenfalls Clara Zetkin und kommentiert die Grundhaltung dieser Kinderbuchautoren: „Das alte Lied! Die Pädagogen produzierten Literatur, die ihrer Meinung nach ,gut' war, und verdammten die Büchlein, die das Volk wirklich las." 2 Selbstverständlich beschränkte sich diese Haltung auch bei den Kinderbuchautoren nicht etwa auf solche, die für eine aufsteigende bürgerliche Klasse oder eine kämpfende proletarische schrieben; bei restaurativen literarischen Volks- und Kindererziehern ist derselbe Grundtenor unverkennbar. Wir werden im folgenden am Beispiel Christoph von Schmids, Hermynia Zur Mühlens, Wladimir Majakowskis und Brechts sehen, daß neben der Ideologie von der schlechten Lektüre auch der Mythos von Kind und Kindlichkeit steht, der den Weg zur Utopie zumindest öffnet, sowie daß alle vier Autoren ihre je verschiedenen literarischen Gattungen stets als Exempel, als Vorgriff auf eine noch offene Situation verstehen 3 . Der katholische Geistliche Christoph von Schmid (1768—1854) 4 , der alles andere als ein reaktionärer Eiferer war und sich seine sanfte Kindlichkeit, seinen unerschütterlichen Glauben in Gottes Güte wahrhaft erlitten hat, rechtfertigt seine Kinderschriften so: An den langen Winterabenden ließ auch die gnädige Frau Mama sich von mir vorlesen aus solchen Schriften, die zugleich lehrreich und unterhaltend waren, und die auch den Kindern Vergnügen machten, ihnen Nutzen gewährten und keinen Nachteil bringen konnten. Unter andern las ich Campes Robinson vor, auch mehrere Stücke aus Weißens Kinderfreund, woran Mutter und Kinder gleichen Anteil nahmen. Ich bedauerte, daß wir Katholiken damals an zweckmäßigen Schriften für die Jugend noch Mangel hatten. 5

Die alten katholischen Exempelbücher des 17. Jahrhunderts, die sich bis zu Christoph von Schmids Zeiten als Haus- und Kinderbücher hielten, waren stofflich und sprachlich veraltet. Der aufgeklärte und dennoch katholische bayrische Kanonikus Johann Adam Wening gar warf bereits 1784 Martin von Cochems Predigtexempel 6 mit den „Heumondskindern" [!], dem Eulenspiegel, dem Kaiser Oktavianus in einen Topf und machte in Anlehnung an den evangelischen Salzmann den Versuch, die .modernen' „Historisch- und moralischen Erzählungen" aus dem mitteldeut-

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Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 8 8 - 8 9 . Siehe oben S. 68. Zu Schmid siehe vor allem den Sammelband: Christoph von Schmid und seine Zeit (1968) mit ausführlicher Bibliographie; ferner über Verbreitung und Auflagen Wille: Die Jugenderzählungen Christoph von Schmids (1969); neuerdings auch Baumgänners Artikel im Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 3 (1979), S. 2 9 0 - 2 9 2 " sowie ders.: Christoph von Schmid. Grund und Hintergrund seines Werkes. — In: Ansätze historischer Kinder- und Jugendbuchforschung (1980), S. 57—80. Schmid: Erinnerungen und Briefe (1968), S. 142. Siehe oben S. 63.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

sehen Raum auf süddeutschen Boden zu verpflanzen. 7 Der Versuch mißlang; es blieb bei einer einzigen Auflage. Erst Christoph von Schmid glückt die Modernisierung und gleichzeitig ,Entsäkularisierung' der moralischen Beispielerzählung. Sengle reklamiert Schmid als typisch für die Biedermeierzeit und verwischt damit etwas die literarischen und typologischen Beziehungen. Schmids „parabolischer Primitivismus" aber ist nichts anderes als das Grundschema aller Exempla; Sengle nennt es „das rücksichtslose, altmodische Wesen des Erzählers", der sich mit seinen Erzählungen für Kinder gegen die „Bewußtseinsstufe der Zeit" stelle 8 . Freilich war das nur die Bewußtseinsstufe der geistigen Elite; Schmid war sich darüber völlig im klaren, er kannte die Kluft zwischen ,Volk' und Gebildeten. 1793 notierte der enttäuschte Vikar, ein Bauernbursche habe ein ihm geliehenes Buch zurückgebracht: „Seinen Reden nach waren ihm Alles darin böhmische Dörfer gewesen. Dies betrübte mich." 9 Und schon früh wußte wie alle Kleriker auch Schmid, daß Gleichnisse „gemeinen Leuten" den Begriff veranschaulichen. 10 Die Geschichte der Exempelbücher und die Kinderliteratur der Aufklärung lassen Schmid und seinen Erfolg nicht mehr typisch für seine Zeit erscheinen. Ein tüchtiger Literat konnte nicht nur „im Biedermeier auf dem Gebiete des Erzählens mit ausgesprochen moralischer und religiöser Zweckliteratur gewaltige Erfolge haben" 11 , sondern - unter Berücksichtigung des jeweils vorhandenen Lesepublikums und der Buchproduktion — in der gesamten Zeit seit dem 17. Jahrhundert. Geändert haben sich meist nur die Formen, die Art der Präsentation und die Tendenz der Beispielerzählungen. Schmid ist bei aller augenscheinlichen Eindimensionalität und Primitivität seiner Erzählungen in seinen Grenzen literarisch versiert. 12 Der Leser muß sich nur von einem Wahrscheinlichkeitspostulat befreien, das für diese Art Literatur keine Geltung hat. Schon die berühmteste Erzählung Schmids, „Die Ostereyer" (1816)13, ist ein Muster für die Verwendung ,moderner'

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Wening: Historisch- und moralische Erzählungen f ü r den gemeinen Mann und die Jugend (1784), Zitate aus der Vorrede. Vgl. auch unten S. 166—167. Sengle: Biedermeierzeit Bd. 2 (1972), S. 1 6 1 . Schmid: Briefe und Tagebuchblätter (1868), S. 65. Vgl. ebenda S. 69—71; vgl. auch Schmids Vorrede zu den Gesammelten Schriften Bd. 1 (1841), S. IV: er wollte in Beispielen lehren „nach der uralten Bemerkung . W o r t e bewegen, Beispiele reißen hin'". Sengle: Biedermeierzeit Bd. 2 (1972), S. 159. Schenda irrt, wenn er behauptet, Schmid habe die belletristische Literatur nicht „auch nur halbwegs gelesen" (Volk ohne Buch [1970], S. 170); vgl. dagegen Hans Pörnbacher: Christoph von Schmid und die Literatur. — In: Christoph von Schmid und seine Zeit (1968), S. 123—132. — W i r müssen auch bedenken, daß Schmid nur neun Jahre jünger war als Schiller und zehn Jahre älter als Jean Paul, um ihn literarhistorisch recht einzuordnen. Schmid: Gesammelte Schriften Bd. 1 (1841), S. 167—234. — Zugänglich jetzt in einer Neuausgabe Schmid: Erzählungen [Bd. 1] (1979), S. 5 - 4 5 .

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bis modischer literarischer Versatzstücke. Alles ist „romantisch": Die Erzählung spielt vor vielen hundert Jahren in einem kleinen Tal tief im Hochgebirge, wo arme Köhler ihr karges, aber glückliches Leben fristen. „Wie Heinrich von Eichenfels zur Erkenntniß Gottes kam" 1 4 , ein Jahr nach den „Ostereyern" erschienen, ist so durch und durch getränkt von romantischen Motiven und Gestalten, von raubenden Zigeunern, dem Einsiedler, edlen und bösen Grafen — bekannten Figuren der Ritterund Räuberromantik — bis zur Waldestiefe und geheimnisvollen Höhle, daß der Romantik-Narr Franz von Pocci diese Erzählung noch vierzig Jahre später zum Vorwurf einer seiner Kasperlkomödien wählte. 15 Diese ,Zeitgemäßheit' sprach sowohl die Leser populärer Lesestoffe wie literarisch Anspruchsvolle an; Schmid hatte denn auch mit seinen Werken in ganz Europa ungeheuren Erfolg. 1 6 Genau betrachtet verbindet er in seinen größeren Erzählungen wie Defoe im „Robinson Crusoe" Erbauungs- und Exempelliteratur mit abenteuerlichem' Stoff 1 7 , freilich mit dem Unterschied, daß er im Gegensatz zu Defoe seine Erzählungen nie als Wirklichkeitsschilderung verstanden wissen wollte. Die Welt in Schmids Erzählungen hat nichts mit der Realität zu tun. Es ist eine Welt der glücklichen Armut, der zufriedenen Selbstbeschränkung, Konflikte entstehen nur durch vereinzelte böse Menschen, die stets unterliegen. Gott hilft in der Not, Gebete helfen sofort. Alles ist nur zum Beweis von Gottes Güte, Weisheit und Herrlichkeit da. Alles ist vom Schimmel glücklicher Tränenseligkeit umflossen; so „mußten Schmids Erzählungen bei einem Publikum ankommen, das, dank Familientradition, Schulerziehung und Gesellschaftsgefüge, nach diesen Mustern erzogen war." Zwar täuschen Schmids moralische Erzählungen den Leser über die wahren Gründe seines Elends hinweg 18 , aber solche „Fluchtliteratur" ist auch ein Stück zur problemlosen Idylle gewordenes Paradies auf Erden, religiöse Utopie, vorweggenommenes Heil, das man eben auch durch die Wirkung der moralischen Exempel erwartet. Im Gegensatz zu der Haltung vieler späterer geistlicher Kinderbuchautoren ist die Schmids nicht Ausdruck einer repressiven Beschwichtigung und Unterdrückung, er glaubte an das Glück der Armut 1 9 . Dieser Rückzug Schmids ins blinde Gottvertrauen aber ist keine bequeme Flucht. Der Übergang von Schmids „genialisch ungebärdiger Frühzeit in die spannungslos erscheinende Existenz des fabulierenden Moralisten" ist zunächst rätselhaft 20 . Es

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Schmid: Gesammehe Schriften Bd. 1 (1841), S. 1 - 6 4 . Siehe unten S. 2 8 2 - 2 8 3 , 285. Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 1 6 5 - 1 6 6 . Vgl. dazu Schöffler: Protestantismus und Literatur (1958; E A 1922), S. 1 5 5 - 1 6 1 , bes. S. 157. Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 165. Das gesteht auch Schenda zu: ebenda S. 347, Anm. 91. Joseph Bernhart: Christoph von Schmid, ein Lebensbild. — In: Christoph von Schmid und seine Zeit (1968), S. 9 - 3 1 , Zitat S. 22.

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wäre zu einfach, alles auf die Unterdrückung des Geschlechtlichen durch das Priesterzölibat zurückzuführen, obwohl viele der Jugendbriefe Anhaltspunkte dazu liefern21. Kurz vor der Priesterweihe klagt er: „So aber hab ich manchen Tag — schwärzer als die Mitternacht. Ich denk es ist im Blut — oder der Mond ist daran schuld — oder — ja nur keine Hypothes, die mir zu nahe tritt." 22 Doch, was hier aufschlußreicher ist, der junge Schmid leidet an der Welt, ihn ekelt vor dem „GeistLiebe- Lebenlosen" um ihn und in ihm23. Eine Notiz im Tagebuch lautet: „Gebet — freilich oft kalt genug, aber doch entrichtet"24; sein Herz sei ein „Abgrund voll Nacht und Eis" und die Wirklichkeit unerträglich: „Ebenso verzehrend war mir der Gedanke, wenig Liebe, so viel Kälte, Schurkerei unter den Menschen zu finden; [. . ,]." 25 Mit Lessing entdeckt er „in dem ganzen Umfange des menschlichen Herzens nichts als Laster"26, und er gesteht, diese Ansicht sei keine Folge des Menschenhasses, sondern auf Realität gegründet: Er müsse „all den Triumpf [sie] der Dummheit über Verstand, der Bosheit über Güte, des Übermuths über die unterdrückten Schwachen" mit ansehen27. 1788 schreibt der Zwanzigjährige voller Zorn: „Aufklärung! Davon ist nicht zu reden. Wenn es nur erst dämmert! So aber kämpft siebenfache ägyptische Finsternis gegen alles Licht." 28 Das klingt anders als bei Campe, der sich schon 1783 im „überwältigenden Lichtstrohm" der Aufklärung sonnte29. Der Zustand des „lieben deutschen Vaterlandes", so schreibt Schmid an einen Freund, könnte von einem Teufel, der es zugrunde richten wolle, nicht besser erdacht sein; das Volk werde zum äußersten getrieben, die Höfe lebten verschwenderisch, Männer von Verdienst würden ihres Amtes enthoben, die Beamten seien übermütig und gewalttätig, der Stolz des Adels grenzenlos, er trete jeden Mann von Kenntnissen wie die Bauern unter seine Füße. Da also die „beste Constitution", nämlich das Evangelium „durchaus nicht, in keinem Artikel, weder von den Großen noch Kleinen gehalten wird, — so ist eine Revolution nicht nur möglich, sondern nothwendig."30 Dies schrieb Schmid, als die Schreckensherrschaft der Französischen Revolution ihren Höhepunkt erreicht hatte. 21

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Vgl. z.B. den Brief an Seraphin Martin Aulinger vom Sept. 1788 — Schmid: Erinnerungen und Briefe (1968), S. 167. - Einige Jahre später vermeidet der junge Kaplan den harmlosen Umgang mit einer jungen Frau „aus Sorgfalt für mein armes Herz" — Brief an Aulinger, Mai 1794 - ebenda S. 215. Brief an Aulinger vom 2. 6. 1791 - ebenda S. 190. Brief an Aulinger vom Januar 1793 — ebenda S. 198. Eintrag vom Dezember 1793 — ebenda S. 204. Tagebuchblätter 1794, „Lange nach Ostern" — ebenda S. 212. Schmid zitiert einen langen Passus aus der Vorrede zum 1751 erschienenen epischen Fragment „Die Religion" - vgl. Lessing: Werke Bd. 1, S. 1 6 9 - 1 8 1 , Zitat S. 171. Brief vom 25. 7. 1794 an Jakob Salat - Schmid: Erinnerungen und Briefe (1968), S. 223-224. Schmid: Briefe und Tagebuchblätter (1868), S. 10. Vgl. unten S. 156. Schmid: Erinnerungen und Briefe (1968), S. 229 - 2 3 1 .

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Der junge Schmid brachte durchaus die Voraussetzungen für einen Erzähler und Prediger mit, der in kritischen Exempeln die Wunden der Zeit hätte bloßlegen können. Die Flucht vor dieser Realität war ein gegen sie erkämpftes Gottvertrauen, zu dem Schmids Lehrer Johann Michael Sailer sicher am meisten beigetragen hat. Auf Sailer, eine Zentralfigur für die christlich-romantische Verherrlichung von Kind und Kindlichkeit 31 , gehen Schmids Preis der „Seligkeit der Kindheit und Einfalt" 3 2 zurück. Damit ist auch der Weg der Rettung vorgezeichnet: „Ein Christ, ders von ganzem Herzen wäre, müßte der glücklichste Mensch auf Erden seyn — mitten in der Nacht eines Kerkers, mitten in den Flammen eines Scheiterhaufens! Diese Aussichten in die Ewigkeit, Ha! sollten sie nicht die ganze Gegenwart verschlingen!" 33 Ob Schmid das tatsächlich erreicht hat, ist fraglich. Eine Äußerung 34 läßt ahnen, wie seine moralischen Kindererzählungen zu verstehen sind. Er preist die „Zaubereyen" der „Einbildungskraft", die er dem „Zauber des Sinnevermögens", also der Freude an wirklicher Schönheit vorzieht: Werfen Sie mich in den tiefsten Thurm, der in der Türkei steht (wo gewiß all Ihre Herrlichkeiten am Ende seyn würden) [,] in die Nacht einer solchen Schauerhöhle begraben würd ich erst recht Gelegenheit haben, nach Herzensgnüge durch elisische Gefilde zu wallen, die Welt zu reformiren, Persien zu erobern

Für Schmid war der einzige Ort des wahren Christentums offenbar die Phantasie. Von diesen „paradiesischen Gärten meiner Phantasie" Schloß er freilich aus, „was mich roth macht"; es sind künstliche Gärten, und die Phantasie ist unfrei. Aber sie wurde zur Retterin aus der Realität: Seine Erzählungen für Kinder sind Punkt für Punkt ein Gegenbild zur niederdrückenden Realität. Als erster hat Joseph Bernhart erkannt, daß Schmid „selber dieses Klimas seiner idealisch konstruierten Weltverfassung am ehesten bedurfte." 3 5 Schmids moralische Erzählungen sind zunächst (auch private) christliche Utopie, erst in zweiter Linie sind sie pädagogische Exempel mit jenem Konsolationseffekt, der ihren Ruhm begründete. Rezipiert wurden sie freilich nur so. Die innere Konsequenz und bruchlose Einheit der Welt Schmidscher Kinderbücher, die wir heute als Einförmigkeit empfinden, sicherte ihnen den Welterfolg. Die erlittene, erworbene Kindlichkeit, die hier nicht allein rhetorischer ,Τοη' ist, überträgt sich auch auf den Leser als Gefühl der Geborgenheit. Schmid wußte früh um die Kraft seiner christlich-utopischen Gegenwelt, wo das Gute siegt und

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Vgl. Sailer: Leben und Briefe. Bd. 1 - 2 (1948-1952); ferner Grassi: Aufbruch zur Romantik (1968), S. 335-357. Tagebuchblätter Dez. 1793 - Schmid: Erinnerungen und Briefe (1968), S. 203. Brief vom 31.12.1793 an Aulinger - ebenda S. 207. Brief vom Dezember 1791 an Aulinger — ebenda S. 192—196, die folgenden Zitate S. 194 bis 196. Joseph Bernhart: Christoph von Schmid, ein Lebensbild. — In: Christoph von Schmid und seine Zeit (1968), S. 28.

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Gott in der N o t hilft: „Ich mache mir Rosen ohne Dorn. Das könnt ihr nicht." 3 6 Und solange keine Hoffnung auf wirkliche Rosen ohne Dornen bestand, war dieser Art Kinderliteratur der Erfolg gesichert. Sengles bittere Bemerkung, die Kirche und die bayrischen Könige hätten „allen Grund den bescheidenen Erzähler hoch zu ehren" 3 7 — er war Träger mehrerer hoher Orden —, besteht zu recht. Daß Kirche und Staat bis auf wenige Ausnahmen nichts taten, um solche Kinderbücher überflüssig zu machen, sondern alles, um die alten Zustände zu erhalten, ist ihre große Schuld, die dadurch nur größer wird, daß sie die ,Produkte' ihrer Unterdrückung wie Schmid wieder in den Kreislauf der Reaktion einspannten. Schmid war letztlich zu naiv, um zu erkennen, daß die paradiesischen Gärten einer unfreien, geknechteten Phantasie auf die Dauer sogar die Rosen von den Dornen überwuchern ließ. Schmids „für die Jugend zurechtgeschlichtete Gegenwelt" 3 8 ist das sentimentale, vordergründig auch gegenaufklärerische Pendant zu den moralischen Erzählungen der Spätaufklärung. Doch der Typus des literarischen Kindererziehers ist an keine Gattung, wie auch an keine bestimmte politische Tendenz gebunden. Der Blick auf zwei revolutionäre' Kinderbuchautoren des 20. Jahrhunderts soll die Einheit des Typus wie seine verschiedenen konkreten Erscheinungen weiter verdeutlichen helfen. Nicht zufällig war die erste deutsche kommunistische Kinderbuchautorin Lehrerin: Hermynia Zur Mühlen (1883-1951). Auch sie rechtfertigt ihre eigenen Kinderbücher mit dem Hinweis auf die bisherige verwerfliche Lektüre, die von „Jugendvergiftern und schmutzigen Skribenten" stammten 39 . Sicher trifft „diese ganze feine, sublime, frigide, versnobte, schöne, Dürer-deutsche, kaisertreue, jungfräulich-reine, deutsch-patriotische, aristokratische, rechte und schlechte .Mädchen'-Literatur" 40 der Bannstrahl zurecht. Die Entstehungsbedingungen aber, die eine proletarischpädagogische Kinderliteratur hervorbrachten, gleichen denen, die fast 150 Jahre zuvor zur Entstehung der neuen aufklärerischen Kinderliteratur beigetragen haben. Die kommunistische Kinderbuchkritik der 1920er Jahre hat so den bürgerlichen Begriff der „Schundliteratur" bereitwillig aufgenommen und um den nationalistischen, frommen und bürgerlich-pädagogischen Schund erweitert 41 , ganz wie die 36

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Brief vom Dezember 1791 an Aulinger - Schmid: Erinnerungen und Briefe (1968), S. 195. Sengle: Biedermeierzeit Bd. 2 (1972), S. 161. Joseph Bernhart: Christoph von Schmid, ein Lebensbild. — In: Christoph von Schmid und seine Zeit (1968), S. 29. *Zur Mühlen: Junge-Mädchen-Literatur. - In: Die Erde (1919) H . 14/15, S. 473 - 4 7 4 zit. nach: Richter (Hrsg.): Das politische Kinderbuch (1973), S. 259 - 2 6 1 , Zitat S. 259. Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 153. Edwin Hoernle(?): Unser Kampf gegen die Schundliteratur. — In: Das proletarische Kind 1922, H . 3, S. 9 - 1 1 - zit. nach: Richter (Hrsg.): Das politische Kinderbuch (1973), S. 251-255.

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weltlichen Kinderbuchautoren die Ideologie von der schlechten Lektüre von der Geistlichkeit übernahmen, wobei freilich nun die ideologische Kluft tiefer war: „Für die Klasse der Zukunft sind auch die Ideale der Klasse der Vergangenheit in gewissem Sinne ,Schund' geworden" 42 . Der Glaube an die Möglichkeit der Erziehung durch Kinderbücher ist ungebrochen und das Kind immer noch potentielle Zukunft, freilich keiner bürgerlichen mehr. Spätestens seit dem 13. Parteitag der KPdSU vom Mai 1924 ist in allen sozialistischen Ländern die „Schaffung einer Literatur für Kinder [. . .] unter aufmerksamer Kontrolle und Anleitung der Partei" ein fester Bestandteil der Erziehung zum sozialistischen Menschen'. 43 Hermynia Zur Mühlen aber schrieb ihre Kinderbücher im Deutschland der Weimarer Republik, noch nicht am Gängelband der Partei. Die marxistische Literaturkritik ist mit Urteilen schnell bei der Hand, die übrige Literaturwissenschaft hat Hermynia Zur Mühlen völlig vernachlässigt. Ihre Werke weisen nach sozialistischer Wertung „jenen historischen Optimismus auf, der sich als eine Grundqualität der proletarisch-revolutionären Literatur herausbildete." 44 Dieser historische Optimismus aber ist hier in der sozialistischen Kinderliteratur nur eine weitere Variante des Kindmythos: „Das Menschenbild der proletarisch-revolutionären Kinder- und Jugendliteratur zeigt Aktivität als bestimmenden Grundzug des vorbildhaften Menschen. Dabei wird nicht Aktivität ,an sich' vorgeführt, sondern Aktivität im Dienste der Arbeiterklasse und damit für die Vermenschlichung des Individuums." 45 Nach dem Austausch der Klassenbezeichnung (Arbeiter — Bürger durch Bürger — Adel) könnte mit den gleichen Sätzen auch die Leistung der neuen .bürgerlichen' Kinderliteratur des 18. Jahrhunderts beschrieben werden. Mit diesen Feststellungen soll keinem indifferenten Ästhetizismus gehuldigt werden, sondern auf typische Gemeinsamkeiten didaktischer Kinderliteratur jenseits ihrer konkreten politisch-gesellschaftlichen Akzentuierung hingewiesen werden. „Die Märchen der Armen" heißt eine Reihe in Wieland Herzfeldes berühmtem Malik-Verlag; zwei dieser vier Bücher stammen von Hermynia Zur Mühlen. 46 Als 42

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Hoernle: Grundfragen der proletarischen Erziehung (1969, EA 1929), S. 100 (Hervorhebung im Original). Zit. nach Gollmitz (Hrsg.): Das Kinderbuch (1971), S. 95. - In bornierter Siegesgewißheit verkündete man 1962 in der D D R : „Erst in der Deutschen Demokratischen Republik wurde durch das Verbot der Schund- und Schmutzliteratur und durch eine großzügige Förderung guter Bücher eine grundlegende Veränderung herbeigeführt." - Proletarisch-revolutionäre Literatur 1 9 1 8 - 1 9 3 3 (1962), S. 217. Dreher: Die deutsche proletarisch-revolutionäre Kinder- und Jugendliteratur zwischen 1918 und 1933 (1975), S. 27; Zur Mühlen: S. 2 2 - 2 7 ; vgl. auch Proletarisch-revolutionäre Literatur 1 9 1 8 - 1 9 3 3 (1962), S. 2 2 3 - 2 2 6 . Dreher: Die deutsche proletarisch-revolutionäre Kinder- und Jugendliteratur (1975), S. 19. Zu den Titeln Zur Mühlens siehe das Literaturverzeichnis; die beiden anderen Titel sind: Eugen Lewin-Dorsch: Die Dollarmännchen. 8 Märchen. Mit Zeichnungen von

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Gattung ihrer seit 1921 erscheinenden Kinderbücher wählt sie sich damit eine der traditionellsten. Kunstmärchen und Märchenmotive waren seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts bis weit in die zwanziger Jahre wieder zur literarischen Mode geworden. 47 Weit davon entfernt, etwa wie Gorki oder später Bloch das traditionelle (Volks-)Märchen als Utopie, als Spiel des Möglichen zu verstehen 48 , sind ihre Märchen bewußte Gegendichtungen, agitatorische Parodien des vermeintlich reaktionären Volksmärchens. Eine zeitgenössische Rezension hebt hervor: „Es ist keine ferne golden und blaue Märchenwelt in irgend einem Zauberlande, in die diese Märchen das Proletarierkind aus seiner dürftigen grauen Umgebung locken wollen." 4 9 Die proletarischen Märchen der Zur Mühlen reichen von allegorisch verkürzten Parabeln der Realität bis zu utopischen „Tendenzmärchen"; letztlich sind auch sie moralische Exempel in Märchenform. Schon das Kinderbuch der Aufklärung kannte solche allegorischen Erzählungen (ζ. B. Weißes „Kinderfreund"), kannte bereits „Tendenzmärchen" 50 . Ein allegorisches Märchen der Hermynia Zur Mühlen heißt „Die Brillen" 51 . In einem Königreich tragen alle Menschen Brillen, aber die „Brillenfeinde" reißen schließlich allen die verzerrenden Brillen ab. Die Menschen haben ihre wahre Lage erkannt und können den König vertreiben. Zum Schluß wird diese Allegorie direkt auf die Russische Oktoberrevolution bezogen: „Das Land, in dem sich diese Geschichte ereignet hat, liegt im Osten, wo die Sonne aufgeht. Vielleicht ist das Licht dort heller und die Menschen haben rascher sehen gelernt als in andern Ländern." Auffallend im Märchen ist die Lichtmetaphorik, die direkt die Bildlichkeit der .Aufklärung' fortsetzt, auffallend ist aber auch, daß komplizierte historische und soziale Zustände und Prozesse, Klassenunterschiede, Bildungsunterschiede usf. den Kindern im Bild der von einem alten Zauberer geschliffenen Brillen näher gebracht werden sollen. Dieser allegorische Primitivismus ähnelt durchaus dem parabolischen Primitivismus Christoph von Schmids. Ein anderes Beispiel ist der Märchenzyklus „Was Peterchens Freunde erzählen" (1921); dort berichten die verschiedensten Dinge dem kranken Peter von ihrer Her-

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Davringhausen. — Berlin: Malik 1923 (= Märchen der Armen. 2) und: "Maria Szucsich: Silvanus. 17 Märchen aus dem Ungarischen. Nacherzählt von Stefan J. Klein. 111. von Otto Schmalhausen. — Berlin: Malik (1924) (= Märchen der Armen. 4). - Sämtliche Titel verzeichnet auch Wegehaupt: Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur ,der Arbeiterklasse (1972), Nr. 304, 373, 391, 439. - Vgl. auch Bernd Dolle: Hermynia Zur Mühlen. - In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 3 (1979), S. 8 6 1 - 8 6 3 . Vgl. Pape: Joachim Ringelnatz (1974), S. 231. Über Blochs Märchentheorie siehe Hermann Bausinger: Ernst Bloch. — In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 2 (1979), Sp. 479—483 (mit Literaturhinweisen). "Gertrud Alexander: Kindermärchen. - In: Die Rote Fahne vom 21. 11. 1922 - zit. nach Richter (Hrsg.): Das politische Kinderbuch (1973), S. 2 6 1 - 2 6 2 , hier S. 261. Vgl. dazu unten S. 203. Zur Mühlen: Ali der Teppichweber (1923), S. 3 4 - 3 8 .

1. Die literarischen Kindererzieher

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kunft, wie sie unter Mühen, N o t und Leid von den Armen produziert werden; im abschließenden Märchen „Was das Schneeglöckchen erzählt" 5 2 wird das Fazit gezogen: „Was bei euch [sc. der Natur] der Winter mit seinen Knechten ist, das sind bei den Menschen die Reichen. Böse und grausam leben sie dahin, denken nur an sich selbst und merken nicht, daß ihre Feinde immer mehr werden." Aber dagegen steht die Verheißung der Streichholzschachtel, zweifellos ein Sinnbild der noch nicht .entflammten' Revolution: „Auch für die Menschen kommt der ewige Frühling, sie müssen ihn sich bloß erkämpfen." Vereinfachung, Typisierung in Figuren, Bildern und Gleichnissen sind Merkmale der meisten pädagogischen Kinderbücher; wie in der politischen Dichtung greift man dabei meist auf bekannte und vertraute literarische Muster, Formen und Gattungen zurück und nutzt sie als willkommene Hilfe bei der Belehrung oder Agitation. U n d so ist es nicht verwunderlich, daß auch Hermynia Zur Mühlen eine „Aschenbrödel"-Parodie 5 3 geschrieben hat, und zwar als dramatisches Märchenspiel. Damit wendet sie sich zunächst ganz dezidiert an das Publikum traditioneller sentimental-trivialer Märchenspiele 5 4 und nutzt diese Tradition f ü r ihre Zwecke. Sodann greift sie mit dem „Aschenbrödel"-Stoff (AaTh 510 A) auf einen jener zahlreichen Märchentypen zurück, w o der oder die Unscheinbarste, Verachtetste oder Verstoßene am Ende den Sieg davonträgt. Bereits f ü r Rollenhagen war dieser Kern des Märchens ein Begriff; er spricht von „den wunderbarlichen Hausmärlein von dem verachten [!] frommen Aschenpössel und seinen stolzen spöttischen Brüdern [. . .]; denn die allerverachtetste Person wird gemeinlich die allerbeste." 5 5 Bei Hermynia Zur Mühlen wird daraus eine Allegorie auf die Revolution. Die Fee — ein Rückgriff auf Perraults Fassung — wandelt sich zur allegorischen Gestalt der „ V e r n u n f t " , die dem verstoßenen Aschenbrödel zeigt, daß es nicht allein ist: Durch ein magisches Fenster zeigt sie ihm hunderte von jungen, schuftenden, leidenden Mädchen. Geholfen sei ihnen, wenn sie zusammenhielten. Auf den Ball geht Aschenbrödel dann auch im Aschengewand, u n d die rußigen Gewänder werden in den Augen der „ H o h e i t " zum Ehrenkleid. D e n n aus dem Prinzen des Märchens ist der ganz rot gekleidete „Retter" geworden. Die reichen Ballgäste erklären ihn für verrückt; das Märchen aber endet mit einer Apotheose der Revolution: Alle Gäste (umdrängen Aschenbrödel und den Retter, drohen mit der Faust, wollen sie aus dem Saal werfen. Der Retter hebt die Hand, von der einen Seite strömt eine Schar Arbeiter herein, an der Spitze wird die rote Fahne getragen. Die Arbeiter singen die Inter52

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Zur Mühlen: Was Peterchens Freunde erzählen (2. Aufl. 1924; EA 1921), S. 30-32; jetzt auch als Faksimile der Edition Leipzig (1979). Zur Mühlen: Ali der Teppichweber (1923), S. 39-48. Zum trivialen Märchenspiel Schedler: Kindertheater (1972), S. 43-71, dort S. 59-68 über C. A. Görners „Aschenbrödel"; ferner Jahnke: Von der Komödie für Kinder zum Weihnachtsmärchen (1977). Zit. nach Bolte/Polivka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen Bd. 4 (1930), S. 67; AaTh = Aarne/Thompson: The Types of Folktale (1973).

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie nationale. Von der andern Seite kommen ebenfalls singend mit der roten Fahne Arbeiterinnen, die wie Aschenbrödel gekleidet sind). Die Stiefmutter (schreit): Setzt Euch zu Wehr. Der junge Mann (fällt auf die Knie): Gnade! Gnade! Die übrigen Gäste (stürzen sich auf den Retter): Schlagt ihn tot! Schlagt ihn tot! Er ist unser Feind! Er will uns berauben! Er will unsere Macht vernichten! Schlagt ihn tot! Schlagt ihn tot! Die Arbeiter (stürmen und werfen die jammernden, schreienden, um sich schlagenden Gäste hinaus. Die Tür ins Nebenzimmer geht auf, man sieht einen gedeckten Tisch). Die Arbeiter und die Arbeiterinnen (scharen sich um den Retter, der Aschenbrödel an der Hand hält). Der Retter·. Kommt, zum erstenmal ist der Tisch gedeckt für die Hungernden und nicht für die Satten. Zum erstenmal sollen die Arbeitenden rasten und nicht die Müßiggänger. So wie Ihr Euch jetzt an diesen Tisch setzt, so werdet Ihr Euch an die Tafel des Lebens setzen. Ihr habt ein Recht auf alle Freude und Schönheit der Welt; die es Euch raubten, sind machtlos geworden. Alles gehört Euch. Ihr seid die Herren der Welt. (An der offenen Tür erscheint, hell beleuchtet, mit Blumen geschmückt die Vernunft.) Die Vernunft·. Nun habt Ihr den Weg eingeschlagen, den Ihr gehen müßt. Nun habt Ihr die Augen geöffnet, die Wahrheit erkannt. Die Welt ist frei. Vorhang. 56

Revolution und Herrschaft des Proletariats unter dem Zepter der Vernunft, die den Menschen die Augen öffnet: Diese kommunistische Utopie als Aschenbrödel-Spiel für deutsche Arbeiterkinder sucht ihresgleichen. Eine Wertung von Zur Mühlens Märchenspiel wäre nur möglich, wenn wir über Verbreitung und Aufführung nähere Zeugnisse hätten; das einzige, was Vir wissen, ist, daß es über eine erste Auflage nicht hinausgekommen ist. Das ist für politische Kinderliteratur zweifellos ein negatives Urteil. Denn die ästhetischen Qualitäten allein können kein Gradmesser für den Wert eines Werkes sein, das als Hauptzweck politische Wirksamkeit hat. Wenn man über der ästhetischen Schönheit von politischer Dichtung ihre Wirkungsabsicht vergißt, ist sie schlechte politische Dichtung. Doch auch die sekundäre Bedeutung der Gattung für die literarischen Kindererzieher wird an diesem Beispiel deutlich. Hermynia Zur Mühlen hat von der Intention mehr Ähnlichkeit mit Weiße als mit Franz von Pocci, obwohl der die Gattung des Märchenspiels verwendet. Bereits Campe forderte vom Schriftsteller, daß er sich nach dem „jedesmaligen herrschenden Geschmacke seines Publicums" richten müsse und „keine ihm vorgeschriebene Form und Einkleidungsart verschmähen" dürfe; wenn das Publikum nichts als Frachtzettel lesen wolle, so müsse der Schriftsteller seine Vorschläge und Belehrungen eben nur auf Frachtzettel schreiben57. Nichts könnte den Typ des Literaten und des ästhetisch indifferenten literarischen Kindererziehers besser charakterisieren als dieses extreme Beispiel. 56 57

Zur Mühlen: Ali der Teppichweber (1923), S. 48. Campe: Beantwortung dieses Einwurfs [Garve: Ein Einwurf wider die Nützlichkeit periodischer Schriften] (1788), S. 21.

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Literarisch bedeutender als H e r m y n i a Z u r Mühlen ist der Futurist und R e v o l u tionär Wladimir

Majakowski

( 1 8 9 3 — 1 9 3 9 ) . E r folgte dem Begründer des Futuris-

m u s , Filippo T o m m a s o Marinetti, und verkündete eine neue Kunst. „Alles w a r ihm recht, wenn es nur der alten W e l t den U n t e r g a n g brachte, auch Atheismus und sozialer Aufstand. Deshalb sah er 1 9 1 7 in der russischen Revolution sein eigenes Ideal erfüllt u n d stellte sich ganz in ihren D i e n s t . " 5 8 J e länger er aber den neuen Machthabern diente, um so mehr m u ß t e er das künstlerische E x p e r i m e n t verraten. D e n n seine „proletarisch-realistische" D i c h t u n g zielte ganz auf Volkserziehung, z . B . mit Propagandaplakaten für H y g i e n e in H a u s und Fabrik, gegen A l k o h o l und Analphabetentum. A u c h seine Kinderbücher sind nicht etwa ein Teil seiner neuen , K u n s t des W o r t e s ' , sondern dieser für die Partei geleisteten Aufklärungsarbeit. Majakowski erläutert in einem Interview den Z w e c k seines auch in deutscher Sprache als B u c h erschienenen Kindergedichtes: „ K o ñ - o g o ñ " ( 1 9 2 7 , „ D a s F e u e r pferdchen")59: „Mein Ziel ist es, die Kinder mit einigen der elementarsten gesellschaftlichen Begriffe vertraut zu machen, es versteht sich jedoch, daß ich dies sehr vorsichtig tue." „Zum Beispiel?" „Nehmen wir die kleine Geschichte von einem Spielzeugpferd auf Rädern. Ich zeige dem Kind bei dieser Gelegenheit, wieviel Menschen arbeiten müssen, um ein solches Pferdchen herzustellen. Nun, sagen wir, Tischler, Maler, Tapezierer. Auf diese Weise gewinnt das Kind eine Vorstellung vom gesellschafdichen Charakter der Arbeit. Oder ich beschreibe eine Reise und mache dabei das Kind nicht nur mit der Geographie bekannt, sondern auch damit, daß es arme und reiche Menschen g i b t . " 6 0 D a s Gedicht endet: Was für ein Pferd! Was für ein feuriges Pferd steht jetzt mitten im Abend! Mit glänzenden Flanken und Augen so blank wie der Himmel.

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Liede: Dichtung als Spiel (1963), Bd. 1, S. 2 0 8 - 2 1 2 , Zitat S. 208. Die deutschsprachige Literatur zu Majakowskis Werken für Kinder ist dünn; am informativsten sind die Ausführungen bei Schaumann/Schulzki: Majakowski (1962), S. 166—174 und in: Sowjetische Kinderliteratur. In Überblicken und Einzeldarstellungen (1974), S. 54, 250—251, 262—264; eine Staatsexamensarbeit an der Humboldt-Universität (Steinmetz: Die Kindergedichte Majakovskijs [1964]) bietet immerhin Material; der Artikel im Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 2 (1977), S. 434—435 von Frantisek Holesovsky schließt sich meist wörtlich an den erwähnten Band „Sowjetische Kinderliteratur" an; die jüngste sowjetische Arbeit ist von Petrovskij: „Sdelal djadja Majakowskij . . . " (1973). — Die grundlegende Monographie von Brown: Mayakovsky. A Poet in the Revolution (1973) geht auf die Kinderbücher nicht ein.

59

Als „Vater kauf mir ein Pferd" (1972) von Elisabeth Borchers aus dem Italienischen(!) übersetzt. Zit. nach Schaumann/Schulzki: Majakowski (1962) S. 168.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie Gesattelt, gezäumt und gezügelt. Sitz auf, mein Sohn. Das Pferd ist bereit. Reit zu und hilf dem Budjonny. 6 1

Anders als die traditionellen literarischen Kindererzieher fordert Majakowski direkt zur politischen Parteinahme und Aktion auf; Marschall Budjonny (Budënny) war Inspekteur der Kavallerie und eine der herausragenden Persönlichkeiten der nachrevolutionären Zeit. Doch auch beim Agitator Majakowski gibt es die Wendung gegen die bisherige, die alte Kunst; bruchlos geht hier die ästhetische Revolte in die soziale Revolution über, obwohl er seine futuristische Phase als Fehler der Vergangenheit bereut. 1921 verfaßt er den „Tagesbefehl Nr. 2 an die Kunstarmee": Macht Schluß!

Vergeßt! Pfeift drauf! Keine Reime noch Arien, keine rosa Rosarien noch sonstigen Ramsch aus den Kunst-Arsenalen!

[. . .] Genossen, Schafft eine neue Kunst, geeignet, die Republik aus dem Unrat zu heben! 62

Majakowski stellt sich mit seiner literarischen Agitation bewußt gegen den traditionellen Poeten mit seinem „Ramsch"; er ist hier durchaus Literat, Journalist, Agitator mit seinen Flugblättern, Agitationsbroschüren in Versen, satirisch-politischen Fibeln — schon Kleist schrieb ja einen „Katechismus der Deutschen" — und Bilderbüchern für Erwachsene. Auch parodierte Sprichwörter und Sentenzen spielen eine gewisse Rolle, vor allem aber die „Rosta-Fenster", bilderbogenartige Plakate und Wandzeitungen, die Majakowski selbst malt und textet und die er in den Fenstern der „Rosta" (Russische Telegraphen-Agentur, Vorläuferin der „Tass") aushängt 63 . Er glaubt, „solch publizistischer Werktag reinige des Dichters Sprache ,νοη poetischer Schale, Hülse, Rinde' und erziehe ihn zur Wortökonomie." 6 4 Auch die 61

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Majakowski): Vater kauf mir ein Pferd (1972) — Semen Michaijlovic Budënny nahm bereits an der Oktoberrevolution teil, war 1919—1924 Befehlshaber der 1. Reiterarmee, 1 9 2 4 - 1 9 3 7 Inspekteur der Kavallerie. Majakowski: Werke Bd. 1, S. 7 4 - 75. Nach Huppert: Majakowski (1965), S. 7 1 - 7 3 . Ebenda S. 7 2 - 7 3 .

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Kindergedichte wollen nicht Kunst sein und gehen völlig in diesem Dienst am neuen Gemeinwesen auf, wie z.B. „Was ist gut und was ist schlecht?" (1925) 65 . Majakowskis Antworten auf diese Frage sind ein Zeichen für die bis ins Inhaltliche reichende Verwandtschaft von Kinderbüchern verschiedener .politischer' Couleur, die sich elementaren Fragen der Sozialisation zuwenden: „Was ist gut und was ist schlecht!" fragt jüngst Klein-Peterchen. „Was ist böse was ist recht? Gib mir Antwort, Väterchen!"

Gut ist, wenn man bei „bösem" Wetter zuhause bleibt; wenn das Kind schmutzig ist, „kann das böse enden", ein Kind, das sich wäscht und die Zähne putzt, ist gut, wer den Schwächeren prügelt, den mag man nicht, nur den, der ihm hilft; Buch und Spielzeug dürfen nicht beschädigt werden, und: Wenn ein Bub sich Mühe gibt, daß er Einser habe, gern die Nas in Bücher schiebt, — ists ein braver Knabe. [. . .] Knabe, der im Schlamme wandelt, jeden Tag ein Dutzend Schuh und Socken arg verschandelt, gilt als Schmierfink, schmutzend. Wenn für Sauberkeit du wirbst, immer pflichtbewußter, bist du auch als kleiner Knirps jedem Mann ein Muster.

Alle diese Forderungen und Drohungen („kann das böse enden") erinnern an traditionelle Kinderbücher und deren scheinbar typisch bürgerliche' Normen, an die 65

Majakowski: Werke Bd. 1, S. 370—373; als Bilderbuch mit schönen, braven, realistischen Knaben erschien 1955 eine deutsche Ausgabe in der D D R , allerdings in wesentlich schlechterer Übersetzung als die von Hugo Huppert in der Majakowski-Ausgabe.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

Zucht- und Sittenbücher, die seit dem 15. Jahrhundert vor allem in Anlehnung an höfische Tischzuchten dem Bürger ,höfisches' Verhalten beibringen wollten 6 6 . Seither übernehmen bis in die Gegenwart alle .aufsteigenden' sozialen Schichten die N o r m e n gesitteten Benehmens nicht nur, um sich den höheren Schichten anzugleichen — der alte Ursprung ist ja längst vergessen —, sondern weil rationale Uberlegungen dieses ,gut — schlecht'-Denken unterstützen: Hygiene, Sparsamkeit (verdorbene Kleidung!), Arbeitsamkeit. Wie sehr bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diese N o r m e n rationalisiert wurden, zeigt Christian Felix Weiße, der die Forderung nach Reinlichkeit hygienisch begründet 6 7 . Darüber hinaus gehörte damals auch die Frage nach gesittetem Verhalten zum großen Komplex des „guten Geschmacks", worüber im Weiße-Kapitel noch genauer zu reden sein wird. Weiße zitiert als Beleg für die Allgemeingültigkeit dieser N o r m e n nicht etwa aus einem der traditionellen Sittenbüchlein, sondern aus Ovids „Ars amatoria", und zwar aus dem Kapitel über die Reinlichkeit und Körperpflege des Liebhabers (Ars amat. I, 505—524) — freilich in einer von allem .Anstößigen' befreiten Kürzung (1,513 — 522). 68 Blicken wir von hier auf Majakowskis Verse zurück, so zeigt sich, daß eine Revolution offenbar auch solche Tugenden erfordert, die heute als bürgerlich verschrien sind; die Aufforderung einer Interpretin von Heinrich H o f f m a n n s „Struwwelpeter", mit diesem „ H a a r e und aufrührerische Gesinnung wuchern [zu] lassen" 6 9 , ist letztlich ebenso naiv-antiautoritär wie des sonst so genialischen F. K. Waechter „Anti-Struwwelpeter": „ D a r u m sei nicht f r o m m und brav / wie ein angepflocktes Schaf" 7 0 ; mal den Vater in den Keller sperren, mal den Polizisten auffordern, seinen „ O r d n u n g s p i m m e l " zu zeigen, das klingt so schön revolutionär' im Kinderbuch, ist aber, so scheint mir, ein erster und ernster Bruch jener ,Spielregeln', ohne die auch die demokratischste Gesellschaft zerbricht. Majakowski, der für jedes seiner Worte auch einstand, der die Verantwortlichkeit gerade des parteilichen „Agitators, Anführers, Schreihalses", wie er sich nannte, ernst nahm, schließt sein „Was ist gut und was ist schlecht?":

..[• · ·] Merks, mein Söhnchen, präg dirs ein wie ein Lied vom Werkel: — 66

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Vgl. die an Elias (Uber den Prozeß der Zivilisation Bd. 1 [1969, EA 1939]) orientierten Ausführungen bei Könneker: Struwwelpeter (1977), S. 25—29: „Zur Bedeutung der Tischzucht für die Entwicklung der bürgerlichen Kinderliteratur". Weiße: Kinderfreund Th. 8 (1777), 111. St., S. 100-101. Ebenda S. 103-104, Lateinisch und in deutscher Ubersetzung. Könneker: Struwwelpeter (1977), S. 242. Waechter: Der Anti-Struwwelpeter (Neuaufl. 1977).

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aus dem Ferkel wird ein Schwein; darum sei kein Ferkel."

Ja,

Klein-Peter dachte nun und beschloß das Rechte: — „Immer will ich Gutes tun, meiden alles Schlechte."

Eine Charakterisierung der .bürgerlichen' Kinderliteratur, des 18./19. Jahrhunderts liest sich wie ein Kommentar zu diesen Versen Majakowskis: „Nichts im Treiben der Kinder gilt als ,harmlos' oder ,unschuldig'; man ist fest davon überzeugt, daß sie eben dies, nur verstärkt und folgenreicher, als Erwachsene fortsetzen werden. Daher verlängert die Kinderliteratur das Geschick ihrer Helden bis in deren erwachsenes Leben." 7 1 Kaum anderes sagt auch die Psychoanalyse. Dieses Problem ist zu kompliziert, als daß es auf Triebeinschränkung durch die „Zwänge der kapitalistischen Akkumulation" zurückzuführen wäre 7 2 . — Soviel aber Iäßt sich sagen: Kindergedichte wie die Majakowskis sind an keine bestimmte Gesellschaft, wohl aber an den Typ des literarischen Kindererziehers gebunden. Doch auch eine moralische Beispielerzählung wie „Das Märchen vom dicken Petja und vom dünnen Sima" 7 3 mit der Kontrastierung des gefräßigen, unsozialen Knaben Petja und des arbeitsamen Sima trägt in vielem Züge der aufklärerischen Kinderliteratur des 18. Jahrhunderts. Sicher haben sich Gesellschaft und soziale Grundvorstellungen wesentlich geändert; auch bilden die Proletarier, nicht mehr die Bürger die neue Klasse, aber die vermittelten Tugenden sind weithin identisch: Einordnung in die Gesellschaft, Hilfe gegenüber Schwächeren, Pflichterfüllung, Fleiß und Liebe zur Arbeit, Kühnheit und Sauberkeit. Freilich, der Ton ist schärfer geworden, die Haltung kompromißloser, der Anspruch der Arbeiterklasse unbedingter: Der dicke Petja, der in einem Kaufhaus alles wahllos verschlingt — auch ein Fahrrad — , zerplatzt schließlich mit großem Knall, und die Leckerbissen fallen dem Proletarier Sima und seinen Freunden vor die Füße. Majakowski aber ist nicht nur der Agitator, der Zerstörer des Alten, auch der ,alten' Kunst, letztlich hält er die „Vernichtung der Sprache der Vergangenheit doch

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Könneker: Struwwelpeter (1977), S. 30. Ebenda S. 32. "'Majakowski: Skaska o Pete, tolstom rebjonke, i o Sime, kotory tonki (1925) — mir nicht zugänglich; ausführliche Inhaltsangabe in: Sowjetische Kinderliteratur (1974), S. 262-263.

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für ein Stück Kunst [. . .], das zu neuen geistigen Abenteuern führen soll" 74 . Und er weiß um seine Herkunft: Ich, der Assanierer mit dem Stadtsprengwagen, den die Revolution mobilisierte und entsandte, kam zur Front aus den herrschaftlichen Gartenbauanlagen der Dichtkunst, jener launischen Tante.

In diesem letzten Poem, das er wenige Wochen vor seinem Freitod schreibt, bekennt er: „Auch mir / wächst die Agitpropkunst / zum Halse heraus"; der Preis der Unterdrückung des Künstlers in sich wird nicht leichtherzig aufgenommen: Doch ich bezwang mich, trat bebenden Hauchs dem eigenen Lied

auf die Kehle. 7 5

Doch im Grunde braucht die Revolution, brauchen die neuen Machthaber diesen Majakowski, den Künstler nicht; wir werden sehen, daß auch der aufklärerische Pädagoge und Kinderbuchschreiber Campe dem Dichter keinen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft einräumte. Gegen Majakowski lief eine Kampagne, vielen war er noch zu sehr Dichter: Im „Gespräch mit dem Steuerinspektor über die Dichtkunst" (1926) stellt er die auch heute noch „delikate Frage": wo ist der Platz des Dichters im Arbeiterstaat?

Es ist nicht seine Literatur zur Aufklärung von Volk und Kindern, die er dem Genossen Steuerinspektor als Vertreter des neuen Staatsapparates erklärt: Dichtung — insgesamt! — Dichten

ist eine Fahrt ins Unbekannte.

ist dasselbe wie Radium gewinnen. Arbeit: ein Jahr. Ausbeute: ein Gramm. Man verbraucht, um ein einziges Wort zu ersinnen, Tausende Tonnen Schutt und Schlamm. 7 6 74 75 76

Liede: Dichtung als Spiel (1963) Bd. 1, S. 210. Majakowski: Mit aller Stimmkraft. - Werke Bd. 2, S. 4 2 3 - 4 3 1 , Zitate S. 425 - 4 2 6 . Ebenda Bd. 1, S. 2 3 2 - 2 4 0 , Zitate S. 232 und 234.

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Dieser Zwiespalt zwischen dem Majakowski, der Dichtung immer noch als Wortkunst und Fahrt in unbekannte Reiche des Geistes verstand, und dem Agitator und Volks- und Kindererzieher war letztlich nicht zu überbrücken, vor allem nicht in einem Staate und in einer Gesellschaft, die ihre revolutionären Ideale unter einem neuen Diktator zu verraten begann. Schon Lenin begegnete Majakowski mit Argwohn: „Er krakeelt immerzu, erfindet windschiefe Ausdrücke, und was er tut, ist nicht das, was not tut, meine ich — nicht das Richtige und wenig verständlich. Ein Durcheinander, schwer lesbar." 7 7 Seine „hundert gut parteigetreuen Bücher" halfen Majakowski nichts; es siegte „die Bande dichtender Betrüger, Schieber, Kriecher" 7 8 . Die Parallelen zur literarischen Situation in der heutigen Sowjetunion oder in der D D R sind nicht zu übersehen. Majakowski verkörpert in sich den Zwiespalt vom agitierenden Literaten und Dichter; damit ist er aber auch zugleich Symbolgestalt für das Verhältnis des literarischen Kindererziehers zur Dichtung als .sprachlichem Kunstwerk', Wer wirklich durch das Medium Literatur nur erziehen will — ohne den „Ramsch aus den KunstArsenalen" — muß, wenn ihm Kunst dennoch etwas bedèutet, ,dem eigenen Lied auf die Kehle treten'. In der Kraßheit wie beim ästhetischen und sozialen Revolutionär Majakowski stellte sich das Problem selten, aber bereits der Gegensatz von Weiße und Campe im 18. Jahrhundert verkörpert, wie wir sehen werden, den Konflikt von ästhetischer Erziehung und Erziehung zur .Brauchbarkeit' in der Gesellschaft. Ja, man könnte sogar so weit gehen, in Majakowskis dichterischer „Zerstörung im Dienst einer neuen Ordnung" 7 9 den zum Grenz- und Sonderfall gesteigerten Kampf gegen die .schlechte Lektüre' zu sehen. Denn die Wendurig gegen die überkommene Literatur, den „süßen Ohrenknecht" 8 0 , ist allgegenwärtig bei Majakowski. 8 1 Anders als dieser hat Bertolt Brecht seinen neuen Staat erst sehr spät erlebt. Wie jene Verse, die er für offizielle Anlässe der D D R lieferte, zeichnen sich die meisten 77 78 79

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Zit. nach Huppert: Majakowski (1965), S. 80. Majakowski: Mit aller Stimmkraft. - Werke Bd. 2, S. 431. So die Uberschrift des Kapitels bei Liede, in dem auch von Majakowski die Rede ist — Liede: Dichtung als Spiel (1963) Bd. 1, S. 2 0 5 - 2 4 7 . Majakowski: Mit aller Stimmkraft. - Werke Bd. 2, S. 428. Vgl. auch seine Verse: Ich kenn der Worte Macht, kenn der Worte Verve. Es sind nicht die, bei denen Logen applaudieren. Von solchen Worten losstürzen Särge und schreiten auf ihren Eichenfüßen, auf allen Vieren. Zit. nach Sklovskij: Erinnerungen an Majakovskij (1966), S. 208.

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seiner „Neuen Kinderlieder" von 1950 8 2 durch problemlosen Optimismus aus, sind aber auch in Diktion und gedanklichem Niveau Kindern verständlich; die Lehre ist mit Händen zu greifen, der Kindererzieher Brecht hat wie vor ihm Majakowski seinem Lied ,auf die Kehle getreten'. Ganz anders klangen Brechts frühere Kinderverse. Abgesehen von den „Kranliedern" 8 3 , Kindersongs für eine nie geschriebene Ruhrrevue, sind „Die drei Soldaten. Ein Kinderbuch" (1932) 8 4 sein einziges vor der Emigration in Deutschland erschienenes Werk für Kinder. In vierzehn Abteilungen malt Brecht die Qual der Armen: Die drei Soldaten (Hunger, Unfall und Husten) figurieren als Allegorien auf die Nöte der Unterdrückten, die wegen ihres dumpfen Duldens sich mitschuldig machen. Mit schneidender Wut und blutigem Haß, aber in klaren, unerbittlichen Worten zerstört Brecht vor den Augen der Kinder alle Autoritäten der Bourgeoisie, zerstört und entlarvt er fast alles, was die bürgerlichen Kindererzieher des 19. Jahrhunderts in ihren Kinderbüchern priesen. So singt er in „Die drei Soldaten und die Kirche" einen höhnischen Abgesang auf die christlichen Tröstungen und Utopien, wie wir sie am Beispiel Christoph von Schmids kennengelernt haben; das Gedicht beginnt: Mehr als das Giftgas und die Kanonen Vertilgen auf Erden die Religionen.

und endet: Wer seine Sach auf Gott gestellt Den jagen sie aus dieser Welt.as

Doch Brecht kennt noch schrillere Töne; in „Die drei Soldaten und der liebe G o t t " 8 6 wird ein hilfloser, bei den Armen verschuldeter, von Gewissensbissen gequälter lieber Gott vorgeführt. Die drei Soldaten aber sind wutentbrannt Und stellten den lieben Gott an die Wand Und schössen brüllend auf ihn ein Er konnte gar nicht so schnell schrein Die Drei wollten gar nichts mehr hören Sie schrien: „So einer kann sich nicht beschweren!" Und erschossen ihn zur selbigen Stund So daß Gott aus der Welt verschwund. 82 83 84

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Brecht: Gesammelte Werke Bd. 10, S. 970 - 9 7 8 . Ebenda Bd. 8, S. 2 9 9 - 3 0 3 . Ebenda S. 340—363; Erstveröffentlichung als „Versuche 14. Heft 6 " mit Zeichnungen von George Grosz; Brecht schrieb schon früh „Kinderlieder". Am 4. August 1920 notiert er in sein Tagebuch: „Da konnte ich auf dem Heimweg abends das ,Kinderlied vom Brot' und einige andere Kinderlieder machen." (Brecht: Tagebücher [1975], S. 24) In veränderter Form wurde das genannte Lied als „Vom Brot und den Kindlein" in die „Hauspostille" aufgenommen — Brecht: Gesammelte Werke Bd. 8, S. 172—173; andere Kinderlieder aus dieser Zeit sind nicht überliefert. Ebenda S. 349—351; die Schlußverse als ,Moral' sind im Original kursiv. Ebenda S. 3 5 8 - 3 6 0 .

1. Die literarischen Kindererzieher

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Daß die drei Soldaten das machen Das sind Tatsachen. Denn hei dem großen Arbeiterheer Gibt es den lieben Gott nicht mehr. Die maßlose Blasphemie gehört zum Wesen der politischen Agitation Brechts: „Im Moment, w o er nicht mehr skandalös wirkt, ist der Sinn seiner Kunst verfehlt, wird auch sie zur unverbindlichen Literatur, der man Beifall klatscht." 8 7 Was im politischen Kampf erlaubt sein mag, wird — in dieser Form — im Kindergedicht unerträglich, auch wenn am Schluß der allegorischen Exempel die angeblich reale sozialistische Utopie steht: „ D i e drei Soldaten in der Stadt Moskau" 8 8 . Aber nicht nur Blasphemie und brutaler Realismus lassen die Frage aufkommen, warum Brecht diesem Zyklus den Untertitel „Ein Kinderbuch" gab, bedient er sich doch auch in anderen Gedichten virtous eines scheinbar unbeholfenen Kinder- und Volkstones und benutzt die Nachahmung kindersprachlicher Direktheit, um das Komplizierte einfach zu sagen 89 . ,Kinderbuch' ist deshalb hier nicht nur buchstäblich zu verstehen, sondern auch agitatorisch-parodistisch: In ,naiver' Sprache und .naiver' Allegorie erteilt Brecht jedem Leser provokativen Elementarunterricht in kritischer Gesellschaftskunde. D e r Vorspruch zur Erstausgabe drückt dann auch die Vorbehalte gegen eine unmittelbare Rezeption durch Kinder aus: „ D a s Buch soll, vorgelesen, den Kindern Anlaß zu Fragen geben." 9 0 Dennoch wurde dieser Versuch Brechts nie wirklich als Kinderbuch rezipiert, und er bleibt, aus den genannten Gründen, in doppeltem Sinne fragwürdig. Erst im Exil (1934) und — wie man hinzufügen muß — f ü r seine eigenen Kinder findet Brecht auch im Kindergedicht jenen Ton aufklärerischer Klarheit und Einfachheit, konzentrierter Kürze und konkreter Alltagsbildlichkeit, der viele andere Gedichte seit dem Exil auszeichnet: Die Dichter und Denker Holt in Deutschland der Henker. Scheinen Mond und Sterne nicht Ist die Kerze das einzige Licht. 91 Daneben schreibt er private oder unsinnige Scherzverse. Einige seiner schönsten Kindergedichte aber hat er in die „Svendborger Gedichte" aufgenommen 9 2 . „ D e r Pflaumenbaum" 9 3 ist ein Lied, in dem alles real, lehrhaft und symbolisch zugleich 87 88 89 90 91

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Muschg: Der Lyriker Bertolt Brecht. - In: Muschg: Von Trakl zu Brecht (1961), S. 336. Brecht: Gesammelte Werke Bd. 8, S. 362-363. Vgl. Brechts Bemerkungen zu Volkston und Volkslied, ebenda Bd. 19, S. 505-506. Brecht: Versuche 13-19 (1959), S. 107. Brecht: Gesammelte Werke Bd. 9, S. 511, aus dem „Alfabet" des Zyklus „Kinderlieder 1934". Ebenda S. 645 -649; später entstanden noch „Kinderlieder 1937", ebenda S. 583—585. Ebenda S. 647.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

ist, Sprache wie Inhalt. Mit dem „herrlichen .Pflaumenbaum', dessen Zeilen so armselig sind wie das Schattengeschöpf, dem sie gelten" 9 4 , siegt der Dichter Brecht, der die Bäume so liebte, über den nur agitierenden Kindererzieher Brecht: Im Hofe steht ein Pflaumenbaum D e r ist klein, man glaubt es kaum. Er hat ein Gitter drum So tritt ihn keiner um. Der Kleine kann nicht größer wer'n. Ja größer wer'n, das möcht er gern, 's ist keine Red davon Er hat zu wenig Sonn. Den Pflaumenbaum glaubt man ihm kaum Weil er nie eine Pflaume hat Doch er ist ein Pflaumenbaum Man kennt es an dem Blatt.

Solche Kinderlieder genügen — wie ζ. B. auch manche Werke Weißes — jenem Urteil von C . S . Lewis, das wir bereits zitiert haben: Keine Literatur sei „really worth reading at the age of ten which is not equally (and often far more) worth reading at the age of fifty" 9 5 . Die Werke der literarischen Kindererzieher — sei es der praktischen wie Campe, der ästhetischen wie Weiße, der christlich-utopischen wie Schmid oder der revolutionären wie Zur Mühlen, Majakowski oder Brecht — stehen in der Spannung zwischen dem Mythos vom Kind als potentieller Zukunft und der unbefriedigenden Realität, die es zu ändern gilt. Solänge ihr utopisches Versprechen nicht eingelöst ist, bleibt solche meist auf unmittelbare und nicht zeitüberdauernde Wirkung berechnete Literatur zumindest in ihren Forderungen aktuell, ist sie durch die Geschichte nicht überholt, wenn sie auch zum Teil vergessen ist. Hier, wo es darauf ankam, einige Grundlinien zu skizzieren, durfte z . B . Erich Kästner 9 6 fehlen, der unumstritten mit allen seinen Kinderbüchern ein später Erbe der Aufklärung ist; trotz des modernen Gewandes haben seine kleinen Romane für Kinder noch jenen Exempelcharakter, der für die Werke der literarischen Kiftdererzieher typisch ist 9 7 . Fehlen durfte in unserem Abriß auch die große Gruppe von Kinderbuchautoren, die den negativen Gegentyp der literarischen Kindererzieher — nicht nur was die 94

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Muschg: Der Lyriker Bertolt Brecht. - In: Muschg: Von Trakl zu Brecht (1961), S. 363; vgl. auch Wálter Benjamin: Kommentare zu Gedichten von Brecht. — In: Benjamin: Gesammelte Schriften Bd. 2 , 2 , S. 564—567 über „Vom Kind, das sich nicht waschen wollte" und den „Pflaumenbaum". Siehe oben S. 18. Zu Kästners Kinderbüchern vgl. vof allem die Studien von Beutler (1967), Benson (1973) und Last (1974). So hat man auch zu recht den Tendenzroman eine .Großform' des Exempels genannt — Assion: Das Exempel als agitatorische Gattung (1978), S. 231.

2. Die Kinderliteratur des verlorenen Paradieses

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ästhetische Q u a l i t ä t angeht — bilden: die gefährlichen literarischen Kinderverderber und -Verführer, deren Werke sämtlich zu den populären Lesestoffen zu zählen sind. Weshalb sie hier fehlen, wurde eingangs dargelegt 9 8 , warum sie gefährlich sind, hat Rudolf Schenda so umschrieben: Wenn je populäre Lesestoffe gefährlich waren, dann nicht, weil sie zum Müßiggang verleiteten, weil sie die Phantasie erregten, weil sie sexuell aufreizten oder weil sie Agressionen freimachten — der Beweis müßte erst erbracht werden, daß diese Folgen des Lesens von „Schundliteratur der Nation in nennenswertem Maße geschadet haben. Wenn sie gefährlich waren, dann nur deshalb, weil sie reaktionäre Haltungen und Meinungen förderten und zementierten, weil sie eine ständige Inzucht betrieben, weil ihr geschlossenes System sich abkapselte von den Aufgaben der Gegenwart, weil sie nicht zum Denken anregten, sondern zur politischen Interesselosigkeit [. . . ] . "

2. Mythos und Artistik: Die Kinderliteratur des verlorenen Paradieses Die Unzufriedenheit mit der Realität ist die notwendige Voraussetzung der H o f f nung, des Kindmythos in Gestalt der Utopie. Auch die Kinderbuchautoren der Aufklärung kannten die oft erbarmungslose Wirklichkeit des Kindseins. D a s Gegenbild zur U t o p i e — z . B . des Weißeschen Entwurfs einer Musterfamilie 1 — finden wir in Salzmanns satirischer „ A n w e i s u n g zu einer zwar nicht vernünftigen, aber doch modischen Erziehung der K i n d e r " : Gleichwohl hat doch auch bey uns das Vorurtheil eine gewisse Gattung der Menschen zur völligen Unterjochung verdammt, und ihren Beherrschern eine unumschränkte Freyheit, sie nach eigenem Willkühr zu behandeln, zugestanden. Die Grausamkeiten, unter denen sie winseln, sind zahllos. [. . .] Man peitschet sie, man hauet sie mit Ruthen, oft ohne etwas verwircket zu haben. Oft martert man sie mit langsamen Qualen zu Tode, und die mehresten ihrer empfindsamen Mitbürger hören ihr Geschrey, sehen sie peinigen, ohne hierinne etwas unbilliges zu finden. Diese, unter dem Drucke seufzende, Menschenart sind die Kinder, und ihre Unterdrücker, die Aeltern.2 W o solches Bewußtsein, das freilich nicht so extrem entwickelt zu sein braucht, in den Hintergrund tritt, w o der oben umschriebene B e z u g von Realität und Mythos in der Intention des Werkes nicht mehr erkennbar ist, sondern w o der Mythos vom Kind Realitätsflucht bedeutet, ist der O r t anderer Arten von Kinderliteratur und anderer Autortypen. Hier, w o es lediglich darum geht, Entstehung und G r u n d z ü g e zu umreißen, konnten nicht alle Differenzierungen des literarischen Kindererziehers dargestellt 98 99 1 2

Siehe oben S. 14-17 und 58. Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 493-494. Siehe unten S. 172 u.ö. 1788, Vorrede S. V - V I .

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

werden, noch weniger ist dies bei den Autoren möglich, die — im weitesten Sinne — das Erbe der Romantik angetreten haben. Erbe der Romantik: Das meint in unserem Zusammenhang vor allem die „Auswirkung der alles mischenden Universalpoesie der Romantik" 3 u n d die Unmöglichkeit, den „quellenden, ja wilden Reichtum" der Formenwelt „in sterilisierte Gefäße [zu] füllen" und einem „engen Systemzwang" zu folgen 4 . Diese Auflösung aller normativen Ästhetik prägt das literarische Kinderbuch bis heute; Klassizismus und Gattungsdogmatik, die sich in Hegels ästhetischen Vorlesungen wieder „in einer geschlossenen, f ü r die Jugend imposanten Gestalt erhoben" 5 , haben f ü r die Kinderliteratur nie wieder Bedeutung erlangt. Freilich weist die Kinderliteratur als Teil der gesamten literarischen Überlieferung nicht dieselbe Formenvielfalt auf, zumal wir hier von den populären Lesestoffen absehen: Rätsel, Spruch, Fabel, Parabel, Legende, Märchen, Reisebeschreibung, Beispielerzählung, Drama (z.B. das Kasperltheater bei Pocci), verschiedene Arten von Lyrik, Versepos u n d Bildergeschichte (Busch) sowie die thematisch unterschiedlichen Erzählungen f ü r Kinder (im Deutschland des 19. Jahrhunderts fast stets zu den populären Lesestoffen zählend), das mögen die hauptsächlichen Genres der Kinderliteratur sein 6 , und viele davon sollen in den vier exemplarischen Analysen des zweiten Teils dieser Arbeit in je verschiedenem Kontext der Zeit und der Dichterpersönlichkeit gewürdigt werden. Doch kann das Verhältnis der Autoren z u m Mythos von Kind und Kindheit (als spezifische Abwandlung des ,impliziten Lesers') auch hier die Vielfalt strukturieren und G r u n d z ü g e der Entstehung und Typologie sowie das diffizile Verhältnis von Gattung und Typus verdeutlichen helfen. Ausgangspunkt f ü r die drei großen Gruppen, die wir unter den Stichworten „Stilisierung der Volkspoesie", „Spiel und Artistik" und „ D e r private M y t h o s " zusammengefaßt haben und die auch untereinander korrespondieren, da .Typus' stets Vereinfachung und Abstraktion von der Realität meint, ist der Mythos von Kind und Kindheit als verlorenem Paradies; diese Rückwendung kann sich dabei auf die Menschheit (,Naturpoesie') wie auf die eigene Kindheit oder auf beide beziehen. Weil dabei auch die Verherrlichung der Kindlichkeit eine Rolle spielt, kann diese Art Kinderliteratur sehr schnell übergehen in ein — prätendiertes — ,kindliches' Spiel oder in spielerische Artistik.

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Günter Häntzschel: Biedermeier. — In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 2 (1979), Sp. 291-296, hier Sp. 292. Sengle: Biedermeierzeit Bd. 2 (1972), S. 12. Ebenda S. 4. Abenteuerroman und Bearbeitung von Werken der Weltliteratur für Kinder (z.B. Cervantes, Defoe, Swift u.a.m.) haben wir ja von vornherein ausgespart.

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a) Stilisierung der ,Volkspoesie': Kindermärchen und Kinderlied Kindermärchen und Kinderlied, so wie sie heute noch die Vorstellung vieler, auch vieler Literarhistoriker prägen, sind das Ergebnis eines Mythisierungs- und Stilisierungsprozesses, dessen Geschichte immer noch ungeschrieben ist 1 . Hier soll die Entstehung solcher Volkspoesie für Kinder, die nicht zum ,literarischen Kinderbuch' im engeren Sinn gehört, nur insofern nachgezeichnet werden, als sie für unseren Zusammenhang von Wichtigkeit ist. Zeugnisse zur Geschichte des Märchens besitzen wir in umfangreichem Maße 2 . O h n e ins einzelne zu gehen, darf man die Stellung des Märchens bis ins 18. Jahrhundert vielleicht so umreißen: Das Märchen als mündlich tradierte Erzählung wandte sich ursprünglich nicht an Kinder; überall dort, w o man verächtlich von Märchen oder ,Märleih' sprach, geschah das v o m Standpunkt des theologisch, philosophisch oder literarisch Gebildeten. Märchen, R o m a n e — im 18. Jahrhundert durchaus noch Synonyme — und .Volksbücher' galten dem Kritiker als Inbegriff der Unwissenheit und des Unglaubens. F ü r den Gelehrten verbanden sich Märchen meist nur noch mit der Kindheit, w o er einige vielleicht von der A m m e oder dem Gesinde hören konnte; sie repräsentierten eine überwundene Bewußtseinsstufe, auch für den, der sonst dem ,Wunderbaren' nicht feindlich gesonnen war. Statt vieler Zeugnisse dafür sei nur eines zitiert; Breitinger betont den Gegensatz von Volk und Gelehrten im Kapitel „ V o n dem Wunderbaren und dem Wahrscheinlichen" seiner „Critischen D i c h t k u n s t " : Es sind auch die Urtheile der Menschen von dem Wunderbaren und Wahrscheinlichen sehr ungleich und unterschiedlich: Alles dasjenige, was für die Gelehrten wahrscheinlich ist, ist es gleichermaassen für das gemeine Volck, aber nicht alles das, was für die Unwissenden wahrscheinlich ist, ist es auch allemahl für die belesenen Leute. Die Verwunderung und die Leichtgläubigkeit sind Töchter der Unwissenheit. Daher ließt der rohe und unwissende Pöbel gemeiniglich die abentheurlichsten Erzehlungen von Hexen, Zauberern, weisen Frauen, Gespenstern, und die Romanen von den irrenden Rittern, mit dem grösten Er-

1

Eine literarhistorisch-volkskundliche Untersuchung des Kindermärchens, seiner Biologie (zu diesem Begriff vgl. Linda Dégh: Biologie des Erzählguts. — In: Enzyklopädie des Märchens Bd.-2 [1979], Sp. 386—406), seiner Einordnung in den jeweiligen Kontext der Ästhetik der Hochliteratur, der historischen Wandlungen des .Kindermärchentons' usf., wie sie ursprünglich im Rahmen dieser Studien geplant war, mußte der Verfasser vorerst ausscheiden, einmal wegen ihrer Sonderstellung im Bereich des „literarischen Kinderbuchs", zum andern, weil eine solche Untersuchung den Rahmen dieser Arbeit auch umfangmäßig gesprengt hätte. Um sich den Forschungsstand auf diesem Gebiet zu vergegenwärtigen, muß man z.B. bedenken, daß es bis heute keine kritische Ausgabe der Grimmschen Märchensammlung gibt.

2

Vgl. Bolte/Polivka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen Bd. 4 (1930), S. 1—94: Zur Geschichte der Märchen (Name, Merkmale, Zeugnisse); grundlegend vgl. Lüthi: Märchen (7. Aufl. 1979).

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

getzen, welches nicht geschehen könnte, wenn dieselben ihm unglaublich und unwahrscheinlich vorkämen; [. . .]. 3 Wenn wir nun hinzufügen, daß Breitinger Kinder und Pöbel in Sachen des Verstandes und der Vernunft gleichsetzte 4 , so wird deutlich, warum Märchen schon früh ,Kindermärchen' hießen. In Quellen bis zum 18. Jahrhundert ist der Begriff Märchen (märlein, merlin, merlein usf.) so pauschal, daß in den seltensten Fällen Märchen im heutigen Sinne gemeint sein dürften. Die meisten solcher Zeugnisse gehören zum Komplex der .Ideologie von der schlechten Lektüre", den wir eingehend betrachtet haben; wir brauchen uns nur an das Verdikt des Geiler von Kaysersberg zu erinnern 5 . Die häufige stereotype Zuordnung der Märchen zu .Weibern' und .Kindern' seit dem 16. Jahrhundert 6 , auch bei gedruckten Texten 7 , ist Zeichen für das Formelhafte dieser Bannsprüche. Wer aber die .Märchen' wirklich näher kannte wie Rollenhagen, der konnte von den „wunderbarlichen Hausmärlein" sprechen, verschiedene namhaft machen, auf ihre mündliche Tradierung abheben und betonen, „daß sie Gottesfurcht, Fleiß in Sachen, Demut und gute Hoffnung lehren" 8 . Auch Perrault, den wir nur erwähnen können, steht dieser Auffassung näher. Im Deutschland des 18. Jahrhunderts freilich war er so gut wie vergessen 9 . Die auf ihn gründenden und ihn ,verfälschenden' modischen französischen und deutschen Feenmärchen 1 0 , die in den Sammlungen der „Cabinets des Fées" von 1 7 1 7 bis 1 7 8 9 1 1 in 3 4 5 6

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Breitinger: Critische Dichtkunst (1966; EA 1740) Bd. 1, S. 140. Ebenda S. 124. Siehe oben S. 6 0 - 6 1 . Vgl. die Zeugnisse bei Bolte/Polivka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen Bd. 4 (1930), S. 5 7 - 9 4 . Vgl. ebenda S. 59 die anonyme Kritik an Montanus' „Wegkürzer" (1557). Zit. nach ebenda S. 67. Erst 1770 erschien in Deutschland eine erste Übersetzung: *Contes de ma mère Loye [. . .] Historien oder Erzählungen der Mutter Loye. (Französisch und deutsch.) - Berlin: Wever 1770, eine Auswahl später als "'Einige Feenmärchen für Kinder. - Berlin: Mylius 1780 — Angaben nach Benz: Märchen-Dichtung der Romantiker (1926), S. 28 und Anm. S. 218—219; Benz' Abschnitt „Vorgeschichte. Märchen und Aufklärung im 18. Jahrhundert" (S. 1 — 80) ist immer noch der informativste Uberblick; die umfangreiche Darstellung von Fink: Naissance et Apogée du Conte Merveilleux en Allemagne 1740—1800 (1966) gehört leider zu den wenig rezipierten Arbeiten in der Literaturwissenschaft oder gar Kinderbuchforschung; ebenfalls noch im Material nicht überholt ist Nossag: Volksmärchen und Volksmärcheninteresse im 18. Jahrhundert (bis 1770) (1931). — Vgl. auch Ràpmund: Märchen und Volkssage in der deutschen Dichtung von der Aufklärung bis zum Sturm und Drang (1937); zusammenfassend über das Märchen im Zeitalter der Aufklärung berichtet Manfred Grätz — Artikel „Deutschland" in: Enzyklopädie des Märchens Bd. 3, Lfg. 2/3 (1980), Sp. 498-510. Dazu auch Hillmann: Wunderbares in der Dichtung der Aufklärung (1969). Vgl. Friedrich Wolfzettel: Cabinet des Fées. - In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 2 (1979), Sp. 1123-1130.

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zahlreichen Ausgaben erschienen, waren nicht für Kinder gedacht. Freilich gab es Ausnahmen: Madame Leprince de Beaumont mit ihrer berühmten Kürzung und Bearbeitung von Madame de Villeneuves „La Belle et la Bête" (1741) 12 in ihrem „Magasin des enfans". Doch fehlte hier nicht die moralische Nutzanwendung in der anschließenden Unterhaltung der Gouvernante mit den Kindern. Mit Madame Leprince als Vorbild — ihr „Magasin des enfans" wurde bereits 1758 ins Deutsche übersetzt — begann auch in Deutschland die Geschichte des Kindermärchens der Aufklärung, in der Johann Gottlieb Schummel eine herausragende Rolle spielt. Von der Kinderbuchforschung sind die vier Märchen in seinen „Kinderspielen und Gesprächen" (1776—1778) bislang unbeachtet geblieben 13 , obwohl eines davon die „erste Prosafassung eines deutschen Märchens [ist], die uns im 18. Jahrhundert in der Litteratur entgegentritt." 14 In einem Pfänderspiel muß ein Kind „eine recht große abscheuliche Lüge erzählen", und es folgt dann jenes Märchen, das wir als „Sechse kommen durch die ganze Welt" (Kinder- und Hausmärchen Nr. 71) kennen 15 . Richard Benz nennt Schummeis Ton „lebendig und unmittelbar" und „ein vortreffliches Muster einfacher anschaulicher Märchenerzählung", wenn die Ironisierung des Ganzen durch die Kinder nicht wäre. Auch der dritte Teil der „Kinderspiele und Gespräche" (1778) bringt drei Märchen: Zwei sind Nacherzählungen von Gozzis Märchenkomödien „Rabe" und „König Hirsch", die gerade ein Jahr zuvor erstmals in deutscher Ubersetzung erschienen waren, das dritte ist die Prosafassung von Wielands „Sommermärchen. Des Maultiers Zaum", das gerade im „Teutschen Merkur" erschienen war 1 6 . Schummel steht mit seinen Märchen-Bearbeitungen fast allein in 12

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„La Belle et la Bête" (AaTh 425 C) gehört zum Typus AaTh 425, dessen bekannteste Form das Märchen von „Amor und Psyche" (AaTh 425 A) ist (AaTh = Aarne/Thompson: The Types of Folktale [1973]). Noch im jüngsten Band des Lexikons der Kinder- und Jugendliteratur (Bd. 3 [1979], S. 325—326) widmet Reinhard Stach Schummeis Werk nur ein Dutzend Zeilen und erwähnt dessen kinderliterarisches Hauptwerk nur im — unzureichenden — Literaturverzeichnis. — Zu Schummel siehe auch unten S. 219. Benz: Märchen-Dichtung der Romantiker (1926), S. 4 6 - 4 7 . Siehe den Abdruck der Schummeischen Fassung ebenda S. 236—239 (Anm. 27) und in der Originalausgabe: Schummel: Kinderspiele und Gespräche Bd. 2, (1777), S. 270—276; vgl. ferner Fink: Naissance et Apogée (1966), S. 324—325, S. 325: „[. . .] Schummel s'est libéré de la tendance didactique, de sorte qu'à sa suite, le conte pour enfants ne sera plus nécessairement synonyme d'apologue." Vgl. auch Bolte/Polivka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen Bd. 2 (1914), S. 80—83: eine Variante dieses Märchens als „Eine Lüge, so groß es nur eine geben kann" aus: *Vade Mecum für lustige Leute Bd. 9. - Berlin 1783, S. 96 Nr. 129. Wieland: Gesammelte Schriften Abt. I, Bd. 12, S. 241—278, Erstdruck im „Teutschen Merkur", Drittes Viertel Jahr 1777, im selben Jahr dann auch in den „Neuesten Gedichten". — Wieland behauptet in einem Brief an Merck, dieses Versmärchen „sei auch für die Kinder gut. Denn für diese ist's eigentlich gemacht [. . .]. Ich wollt' es auch anfangs ein K i n d e r m ä r c h e n titulieren: aber der Gedanke, daß ich 80 unter 100 Lesern dadurch beleidigen möchte, schreckte mich ab [. . .]." — Brief Nr. 90 vom 22. 9. 1777 —

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seiner Zeit, für ihn dienen sie vor allem dem Vergnügen der Kinder. G a n z anders ist Weißes Haltung; als H e r r Spirit den Kindern seine „Feyengeschichte", die er „jüngst w o in einem Buche f a n d " 1 7 , erzählen will, protestieren diese: „ E i n e F e y e n geschichte? schrieen die Kinder: W i r sind gar keine Freunde von diesen Murmelthieren 1 8 und können sie so wenig als die Hexenmeister leiden, da es bloß Erscheinungen der Phantasey sind und — — " 1 9 . W a r u m Weißes Kinder so .unkindlich' sind, werden wir noch sehen. Der damalige Streit der Pädagogen über die Eignung von Märchen für Kinder weist dieselben Argumente wie die Empfindsamkeitsdiskussion auf, die wir nicht zu wiederholen brauchen 2 0 ; nur Ernst Christian Trapp bejahte die Frage, „ o b man der Jugend auch Mährchen

erzählen d ü r f e . " 2 1

All das sind aber nur zaghafte Vorklänge der späteren .Erfindung' und Mythisierung der Volkspoesie; Musäus mit seinen „Volksmärchen der D e u t s c h e n " (1782 bis 1787) gehört, obwohl er sich manche Märchen von Angehörigen der U n t e r schicht erzählen ließ 2 2 , nicht zu den unmittelbaren Vorläufern der ,neuen' Märchenauffassung; er betont, daß Volksmärchen keine Kindermärchen seien, und nennt es „einen tollen Einfall", wenn man glaube, „alle Märchen müßten im Kind e r t o n " erzählt w e r d e n 2 3 . Erst Herder gab den entscheidenden Anstoß zur Mythisierung der Volkspoesie 2 4 . Volkslieder, Sagen und Märchen waren für ihn Kunde

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Merck: Schriften und Briefwechsel Bd. 2, S. 96. — Wielands Selbsteinschätzung muß auch bei einer Berücksichtigung der damaligen Poetik verwundem, ist das Märchen doch voller erotischer Szenen. So wird Ritter Gawein im Schlafgemach von drei Mädchen bedient und ausgekleidet, die „ein Nachtkleid schmückte,/ wodurch man ohne Müh/ bald dieß bald das erblickte,/ wonach man gerne schielt [. . .]." — Gesammelte Schriften Abt. I, Bd. 12, S. 268. Weiße nennt die Quelle nicht, doch geht „Die Königinn der Feyen Evergete reiset umher, die Wünsche aller Sterblichen zu erfüllen, eine Erzählung" (Kinderfreund Th. 18 [1780], 2 3 5 . - 2 3 8 . St., S. 4 - 6 4 ) zurück auf „Die Gutthätige, Königinn der Feen" — In: "Abendzeitvertreib in verschiedenen Erzählungen. Hrsg. von J . H . Saal. Bd. 1. — Leipzig 1756; Hinweis auf dieses Feenmärchen (ohne Kenntnis von. Weißes Bearbeitung!) bei Fink: Naissance et Apogée (1966), S. 305. Anspielung auf ein Märchen in "Madame de Villeneuves „Contes marins ou la jeune Américaine" (1740), die 1765 in deutscher Ubersetzung erschienen — vgl. Grimm: Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm (hrsg. von H. Rölleke, 1975), S. 375 bis 376; das Exzerpt von Jacob Grimm wurde übrigens zur Hauptquelle für Brentanos „Märchen vom Murmelthier". Weiße: Kinderfreund Th. 18 (1780), 235. St., S. 3 - 4 . Siehe oben S. 72 - 74. Trapp: Vom Unterricht überhaupt (1787), S. 150—158, mit scharfen Entgegnungen von Campe, Villaume, Stuve und Resewitz. Vgl. Norbert Miller: Der Romancier J . K. A. Musäus und seine „Volksmärchen der Deutschen". - In: Musäus: Volksmärchen der Deutschen (1976), S. 8 7 6 - 906, hier S. 895-896. Ebenda S. 12. Herder schrieb auch das Vorwort zu A . J . Liebeskinds „Palmblättern" (Th. 1 - 4 , 1786—1800, Neuausg. 1976), einer Sammlung morgenländischer Erzählungen für die

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von den „ältesten Zeiten der Menschenkindheit" 25 . Der erste, der Märchen so verstand, war Wilhelm Christian Günther (1755—1826), jener spätere Weimarer Oberkonsistorialrat, der Goethe und Christiane Vulpius am 19. Oktober 1806 traute. Seine „Kindermährchen aus mündlichen Erzählungen gesammelt" 26 erschienen 1787 anonym; in der Vorrede polemisiert er gegen Wielands bekanntes Verdikt von den „Ammenmärchen" 27 und betont zum erstenmal in der Geschichte des Märchens : Gerade dieser Kinderton ist nicht immer der leichteste, und doch vielleicht der schicklichste für ein Mährchen, das das Gepräge der Einfalt der roheren Zeiten, wo es entstand, an sich tragen soll.28 Günther setzt das Märchen aber nicht nur mit der Menschheitskindheit in Verbindung, sondern auch mit der persönlichen des einzelnen Menschen: „Das Andenken an jene glücklichen Zeiten, w o ich mit vollem Herzen so innigen Antheil an allen nehmen [. . .] konnte, ist während dem Schreiben sehr in mir erneuert worden." Und er spricht die Parallele direkt aus: „Auch ich war in Arcadien." 29 Das sind unmittelbare und bislang — auch von Benz — nicht beachtete Vorklänge der romantischen Märchenauffassung; Günthers Anknüpfen an diese zwei Ausprägungen des Kindmythos weisen auch auf die oben angedeutete typologische Grundlage der hier zur Diskussion stehenden Kinderliteratur. Daß H e r d e r mit seinen Frühschriften auch f ü r die Brüder Grimm entscheidende Anregungen gab, besonders was ihre Auffassung von N a t u r - und Kunstpoesie anJugend, deren Quellen u.a. englische Wochenblätter, französische Autoren und die „Cabinets des Fées" waren; Herders Palmblätter-Vorrede von 1786 auch in: Sämmtliche 25

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Werke Bd. 16, S. 583-590. Zit. nach Moser: Volk, Volksgeist und Volkskultur. Die Auffassungen J. G. Herders in heutiger Sicht (1956/57), S. 132. Vgl. dazu Wesselski: Ein deutsches Märchen des 18. Jahrhunderts (1938/39); Benz (Märchen-Dichtung der Romantiker [1926], S. 52—59) kennt zwar noch nicht den Sammler, aber er würdigt die vier Märchen ausführlich. „Ammen-Mährchen, im Ammen-Ton erzählt, mögen sich durch mündliche Uberlieferung fortpflanzen; aber gedrukt müssen sie nicht werden." — Wieland: Vorrede zum ersten Bande von „Dschinnistan" (1786). — Gesammelte Schriften Abt. I, Bd. 18, S. 5. — Der Begriff „Ammenmärchen" geht zurück auf das lateinische „fabulae añiles" und das griechische βέβηλοι καί γραώόεις μύθοι (1. Tim. 4,7), bzw. γραών oder τιτθών μϋθοι (Platon); doch entgegen gängigen Vermutungen dürfte es sich bei diesen Zeugnissen der Antike entweder um Mythen oder einfache Erzählungen (ohne .märchenhaften' Inhalt) handeln. Auch die moderne Volkskunde übernimmt ungeprüft alte Urteile - Elfriede Moser-Rath: Ammenmärchen. — In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 1 (1977), Sp. 463-464. [Günther:]-Kindermährchen (1787), S. XVI-XVII. Ebenda S. XVII-XVIII.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

geht, ist unbestritten 30 . Vermittelnd wirkte auch Joseph Görres mit seiner Mythenphilosophie 31 ; waren Märchen, Volkssagen und Mythologie für Herder „Resultat des Volksglaubens, seiner sinnlichen Anschauung, Kräfte und Triebe, wo man träumt, weil man nicht weiß" 3 2 , so nennt Görres den Menschen der frühen Periode „somnambül": [. . .] wie im magnetischen Schlafe wandelt er seines Bewußtseins unbewußt im tieferen Bewußtsein der Welt einher; sein Denken ist Träumen in den tieferen Nervenzügen; aber diese Träume sind wahr, denn sie sind Offenbarungen der Natur, die nimmer lügt, in ein junges, reges, unverlogenes Leben ohne Sünde und Missethat [. . , ] . 3 3

Noch Freud nahm diesen Gedanken auf; nach ihm entsprachen Mythen, Sagen und Märchen „den entstellten Überresten von Wunschphantasien ganzer Nationen, den Säkularträumen der jungen Menschheit" 34 . Hier interessieren aber vor allem die Attribute dieser Mythen der Frühzeit: „ohne Sünde und Missethat" nannte sie Görres, an anderer Stelle sprach er von der „Genialität" und „Unschuld" des Volkes, betonte aber, daß dieser „Idealcharakter", der „heilige Geist" des Volkes, nichts mit dem „unheil'gen Pöbel" zu schaffen habe 35 . Jacob und Wilhelm Grimm setzten die Mythisierung fort; sie gingen dabei keineswegs von der Realität aus und überhöhten sie, sondern von ihrem Glauben an die Kindlichkeit der Naturpoesie, die als Mythos a priori feststand. Für Jacob Grimm waren die „alten Menschen", d.h. die Menschen der Frühzeit, „größer, reiner und heiliger gewesen, als wir [. . .]"; er sah in der Kunstpoesie „eine Zubereitung, in der •Naturpoesie ein Sichvonselbstmachen"36. So konnte er von der „höchsten naivetät" des Nibelungenliedes und dessen „kindlicher spräche" überzeugt sein 37 . Aber auch 30

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Vgl. Lichtenstein: Die Idee der Naturpoesie bei den Brüdern Grimm und ihr Verhältnis zu Herder (1928); ferner Gass: Die Idee der Volksdichtung und die Geschichtsphilosophie der Romantik (1942). Vgl. in diesem Zusammenhang auch den gedrängten Uberblick bei Bausinger: Formen der „Volkspoesie" (1980), S. 19—30: „Der Begriff der Naturpoesie bei den Brüdern Grimm". Herder: Von der Ähnlichkeit der mittlem englischen und deutschen Dichtkunst (1777). - Sämmtliche Werke Bd. 9, S. 525. Görres: Mythengeschichte der asiatischen Welt (1810). — Gesammelte Schriften Bd. 5, S. 1—303, Zitat S. 5. — Vgl. auch Görres' Rezension von „Des Knaben Wunderhorn" (1809) — ebenda Bd. 4, S. 2 4 - 4 5 , S. 26: „Darum suchen wir das, was wir mit dem Namen Naturpoesie bezeichnet haben, fernab in den ersten Morgenstunden unter den Morgenträumen der Gattung der Nationen und der Individuen." Freud: Der Dichter und das Phantasieren (1908). - Gesammelte Werke Bd. 7, S. 222. Görres: Die teutschen Volksbücher (1807). - Gesammelte Schriften Bd. 3, S. 1 6 9 - 2 9 3 , Zitate S. 178 und 175. An Arnim 20. 5. 1811 — Steig (Hrsg.): Arnim und die ihm nahe standen Bd. 3, S. 117-118. Jacob Grimm: Uber das Nibelungen Liet (1807). — Kleinere Schriften Bd. 4, S. 1—7, Zitat S. 6.

2. Die Kinderliteratur des verlorenen Paradieses

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die „Kinder- und Hausmärchen" gehörten für die Grimms zur Naturpoesie; im Briefwechsel mit dem realistischeren Achim von Arnim verteidigten die Brüder ihren „ G l a u b e n " 3 8 . Arnim hatte behauptet, der „Unterschied zwischen Kunst- und Naturpoesie [sei] ein bloßer S p a ß " 3 9 ; Jacob Grimm legte darauf in seiner Antwort ein .Bekenntnis' ab, dessen sechs Punkte mit „ich glaube" eingeleitet werden. D e r erste Punkt ist für seine Märchenauffassung entscheidend; er glaubt: [. . .] wie das Paradies verloren wurde, so ist auch der Garten alter Poesie verschlossen worden, wiewohl jeder noch ein kleines Paradies trägt in seinem Herzen. 4 0

Die Verbindung des Mythos vom Paradies mit dem Kindmythos besteht, wie wir wissen, von jeher 4 1 , und sie wird hier deutlich, wenn wir bedenken, daß die herausragende Eigenschaft des ,verlorenen Paradieses' der Naturpoesie Kindlichkeit ist; in der Vorrede zu den „Deutschen Sagen" (1816) spricht Jacob Grimm von „den reinen gedanken einer kindlichen Weitbetrachtung" der Märchen 4 2 . Mit den „Mythen, die von der goldenen Zeit reden" vergleicht sein Bruder Wilhelm die „Kinder- und Hausmärchen" in der Vorrede zum ersten Band (1812), nennt sie „unschuldig" und verklärt sie völlig: „Innerlich geht durch diese Dichtungen dieselbe Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen [. . , ] . " 4 3 Achim von Arnim hielt solch apodiktischer Mythisierung der „reinen und unschuldigen" Märchen 4 4 entgegen: „So l'aß Dir denn sagen, weil Du zuweilen einer Behauptung zuliebe alle Gelehrsamkeit vergißt, daß die Hauptmasse von Volkssagen und -Liedern Zoten sind [. . . ] . " 4 5 Gunhild Ginschel betont zurecht, daß einzig Arnim in der ganzen zeitgenössischen Diskussion den Standpunkt der modernen Volkskunde vertrat 4 6 . Wie sehr die Kindlichkeit der Märchen Mythos ist, zeigt sich, wenn Jacob Grimm, durch Arnims wirklichkeitsbezogene Äußerungen .verleitet',

Siehe dazu und zum folgenden die grundlegende Arbeit von Ginschel: Der junge Jacob Grimm (1967), S. 212—278: „Aufzeichnung und Bearbeitung der Kinder- und Hausmärchen". 3 9 Arnim an Jacob Grimm 22. 10. 1812 — Steig (Hrsg.): Arnim und die ihm nahe standen Bd. 3, S. 224. 4 0 Jacob Grimm an Arnim 29. 10. 1812 ebenda S. 235. 4 1 Siehe oben S. 3 4 - 4 5 . « Jacob Grimm: Kleinere Schriften Bd. 8, S. 1 0 - 1 9 , Zitat S. 11. 4 3 Wilhelm Grimm: Kleinere Schriften Bd. 1, S. 3 2 0 - 3 2 8 , Zitat S. 323 und 322. Novalis' Märchen-Verständnis als Inbegriff der Poesie hatte nicht entfernt die Wirkung wie die Mythisierung der Grimms - vgl. bei Novalis: Fragmente und Studien 1799—1800. — Schriften Bd. 3, S. 639—677 (passim), ferner ebenda Bd. 1: Paralipomena zum „Heinrich von Ofterdingen", S. 344—345. 4 4 Jacob Grimm verwahrte sich gegen Arnims und auch Wilhelms sexuelle Deutung des Märchens vom Fuchs mit den neun Schwänzen: an Arnim 28. 1. 1813 — Steig (Hrsg.): Arnim und die ihm nahe standen Bd. 3, S. 270. 4 5 Arnim an Jacob Grimm Februar 1813 — ebenda S. 273. 4 6 Ginschel: Der junge Jacob Grimm (1967), S. 253. 38

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

auf die Frage der ,intendierten Rezeption', wie man heute sagen würde, zu sprechen kommt: Sind denn diese Kindermärchen für K i n d e r erdacht und erfunden? ich glaube dies so wenig, als ich die allgemeinere Frage nicht bejahen werde: ob man überhaupt für Kinder etwas eigenes einrichten müsse? [. . .] Das Märchenbuch ist mir daher gar nicht für Kinder geschrieben, aber es kommt ihnen recht erwünscht und das freut mich sehr [. . .]. Diese Märchen wohnen nur darum bei Kindern und Alten 1) weil Kinder nur für das Epos Empfänglichkeit haben; wir verdanken also ihrem Gemüth die Erhaltung dieser Urkunden. 2) weil die Verbildeten sie verachten.47 D i e strikte Unterscheidung der Kindlichkeit der Märchen von den Fragen der Rezeption ist kein eigentlicher Widerspruch, wie Ginschel meint 4 8 ; die »mythische' Kindheit vertrug letztlich keine direkte Konfrontation mit den .realen* Kindern. A n die Öffentlichkeit drangen damals freilich nur die Vorreden zu den Märchen und Sagen; doch genügten sie, um den zahlreichen Nachfolgern der „ K i n d e r - und H a u s m ä r c h e n " die A u r a der Naturpoesie und der Kindlichkeit zu geben. Bereits 1821 hieß es in der Poetik Ludwig Aurbachers, des heute zu Unrecht vergessenen Volksschriftstellers und Professors der Ästhetik, über das Märchen: „ S e i n Charakter ist K i n d l i c h k e i t . " 4 9 Was die Nachahmung cier ,kindlichen' Volkspoesie erleichterte, war die Tatsache, daß schon die G r i m m s ihre Märchen fast durchweg stilistisch bearbeiteten; dabei muß man sich vergegenwärtigen, daß die U r f a s s u n g vieler Kinderund Hausmärchen o f t nur aus stichwortartigen N o t i z e n bestand, die die spätere U m f o r m u n g k a u m ahnen lassen 5 0 . In der Vorrede zur Erstausgabe warf Wilhelm G r i m m einer früheren Sammlung vor, die M ä r d i e n seien dort „ i n verkehrtem T o n " erzählt 5 1 . Schon Berendsohn sah 47

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Jacob Grimm an Arnim 28. 1. 1813 — Steig (Hrsg.): Arnim und die ihm nahe standen Bd. 3, S. 269 und 271. Ginschel: Der junge Jacob Grimm (1967), S. 249. [Aurbacher:] Grundlinien der Poetik (1821), S. 83. - Die sechs „Kinder-Mährchen" Contessas, Fouqués und Ε. T. A. Hoffmanns, die 1816/17 in zwei Bändchen erschienen, verdanken ihren Namen lediglich dem Grimmschen Vorbild, wenn auch z.B. die Märchen Hoffmanns — „Nußknacker und Mausekönig" und „Das fremde Kind" — aus dem Umgang mit den Kindern Julius Eduard Hitzigs hervorgingen. Zwar nannte Hoffmann „Das fremde Kind" — eine Satire auf die Kindererziehung der Spätaufklärung — „reiner, kindlicher und eben deshalb für Kinder [. . .] brauchbarer", doch wußte er, daß Kinder „die tiefere Idee des Ganzen" nicht fassen würden (Brief Nr. 738 an Kunz vom 8. 3. 1818 — Hoffmann: Briefwechsel Bd. 2, S. 159; vgl. auch Hoffmann: SerapionsBriider, S. 1053 —54, 1076 die Anmerkungen von Wulf Segebrecht). Solche symbolische ,Überfrachtung' macht romantische Kunstmärchen wie die Hoffmanns für Kinder letzdich doch .unbrauchbar'. Siehe dazu die Neuausgabe von Rölleke: Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm (1975). Wilhelm Grimm: Kleinere Schriften Bd. 1, S. 327, Anm. 1.

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die Leistung der Brüder Grimm in der Schaffung eines volkstümlichen und „absichtlich kindlichen" Tones 52 , und von der „kunstvollen Simplizität" des „Grimmschen Märchenstils" 53 spricht Ginschel. Wir wissen, daß André Jolies noch dem Irrtum anhing, Jacob Grimm habe bei seinen Märchen „kein Tüttelchen oder kein Jota" geändert 54 , und so Übereinstimmung zwischen dessen Auffassung von der Naturpoesie und seiner Idee der „einfachen Formen" feststellen konnte 55 . Wir werden im Weiße-Kapitel sehen, welche Bedeutung schon damals die Tönerhetorik und somit auch der „Kinderton" hatte; noch Pocci ist Erbe dieser Tradition. Der Märchenton der Grimms ist nicht deren ureigene Erfindung, sondern sie folgen einem volkstümlichen' Zeitstil, der seinen Ursprung im 18. Jahrhundert hat 56 ; Ginschel hat eine Märchen-Bearbeitung Jacob Grimms detailliert untersucht und den Ton abschließend so charakterisiert: Diese dauernde Verschmelzung des Alten und Neuen, des Gegenwärtigen und Vergangenen, des Volkstümlichen und Gehobenen erzeugt den Märchenton, der den Eindruck des unmittelbar Vertrauten macht und über dem doch der verklärende Hauch märchenhafter Ferne liegt. 57

Die Grimms haben — so dürfen wir zugespitzt sagen —, weil sie von der .mythischen' Kindlichkeit der Naturpoesie und der Märchen überzeugt waren, diesen auch eine dementsprechende einfache Form und ,kindliche' Sprache gegeben; trotz aller Stilunterschiede zwischen den einzelnen Märchen, die oft durch die unterschiedlichen Vorlagen bedingt sind, kann man mit Berendsohn feststellen, daß die bekanntesten der Grimmschen Märchen in einem „Kinderton" geschrieben sind. Wie sehr selbst hervorragende Kenner der Literatur und der Töne jener Zeit dabei aufs Glatteis geraten, zeigt Sengle bei einer Stilanalyse zweier angeblicher Kindermärchen von Pocci 58 . Ohne die Kenntnis aller Vorlagen eines Märchens sind Stiluntersuchungen nicht möglich 59 . 52 53 54 55 56 57

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Berendsohn: Grundformen volkstümlicher Erzählkunst (1921), S. 24 und 114. Ginschel: Der Märchenstil Jacob Grimms (1963), S. 148-149. Jolies: Einfache Formen (1965; EA 1930), S. 222. Ebenda S. 237. Siehe dazu unten S. 180-181. Ginschel: Der Märchenstil Jacob Grimms (1963), S. 162; vgl. dazu auch Lüthi: Märchen (7. Aufl. 1979), S. 5 2 - 5 5 . Siehe unten S. 276—277. — Die Irrtümer, Mißverständnisse und Fehldeutungen von „Kindermärchen" durch bisherige Kinderbuchforscher sind angesichts der Forschungslage verständlich; das gilt für Klaus Doderers überholten Aufsatz über „Das bedrückende Leben der Kindergestalten in den Grimmschen Märchen" (In: Doderer: Klassische Kinder- und Jugendbücher [1969], S. 137-151), das gilt z.B. auch für Ottilie Dinges („Die Sterntaler — oder brauchen Kinder noch Märchen?" — In: Phantasie und Realität in der Jugendliteratur [1974], S. 62 — 75), die sich ausgerechnet ein Märchen ausgesucht hat, das auf keinerlei Volksüberlieferung, sondern auf eine Bemerkung Jean Pauls und die daran geknüpfte Ausgestaltung durch Achim von Arnim zurückgeht — vgl. Grimm: Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm (hrsg. von H. Rölleke, 1975), S. 353—354. Das betont auch Ginschel: Der Märchenstil Jacob Grimms (1963), S. 135.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

Alle diese Beobachtungen und die Tatsache, daß eine Reihe der Grimmschen Märchen Bearbeitungen literarischer Vorlagen sind, wirft auch neues Licht auf die oft mißverstandene These von den „gesunkenen Kulturgütern" 60 ; Märchen sind wohl nie in die Kinderstube abgesunken, auch nicht vor der Grimmschen Sammlung. Die Frage nach den Trägern der ,Volksüberlieferungen' ist eine der heikelsten der gesamten Volkskunde. Noch im Rußland des 18. Jahrhunderts .waren „Bojaren und Höflinge ebenso wie Leibeigene und blinde Bettler an M'irchenschöpfung und -Überlieferung beteiligt" 61 . Auch viele Gewährsleute der Grimms gehörten der gebildeten Oberschicht an; und so ist das , Kindermärchen' Ergebnis einer bewußten Stilisierung, wozu der Kindmythos nicht unwesentlich beigetragen hat. Die wahrscheinlich einzige Ausnahme davon bilden die Warn- und Schreckmärchen, die von Anfang an für Kinder gedacht waren, eine pädagogische Intention hatten und von denen „Rotkäppchen" das bekannteste ist 62 ; ihre Schöpfer gehören zum Typ der (mündlichen) literarischen Kindererzieher. Von den eigentlichen Märchen und anderen Volkserzählungen aber steht fest, daß sie ursprünglich nicht für Kinder gedacht waren. Noch Karoly Gaál, der 1961 —1963 im südlichen Burgenland (Ungarn) Märchen aufzeichnete, betonte: Die Märchenerzähler erzählen Kindern nicht gern. Sie tun es nur, wenn sie ihren eigenen Enkeln erzählen müssen; dann bringen sie aber nichts aus ihrem Märchenschatz, sondern nur kleine improvisierte Geschichten oder was sie in Büchern gelesen haben. [. . .] Es kam oft vor, daß unter den Zuhörern auch Kinder, meist Enkel von Anwesenden, waren. Zu Anfang hörten sie immer sehr aufmerksam zu, aber sehr schnell erlahmte ihr Interesse und nach zehn Minuten spielten sie schon im H o f . 6 3

Wie die Grimmschen Märchen stil- und traditionsbildend gewirkt haben, so auch Brentanos und Arnims „Des Knaben Wunderhorn". Erst aufgrund der neuen kritischen Ausgabe Röllekes (1975—1978) kann die eigentliche Forschung einsetzen, auch was die „Kinderlieder" im „Wunderhorn" angeht.64 Die ursprüngliche Absicht Brentanos war, „das platte oft unendlich gemeine Mildheimische Liederbuch" (1799) 65 von Rudolf Zacharias Becker zu ersetzen, jene Anthologie, die zum Ziel hatte, die alten schlechten' Volkslieder durch neue zeitgenössische Lieder zu verdrängen. Brentano kehrt also die ,Ideologie von der schlechten Lektüre' wieder um: 60 61 62

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Naumann: Grundzüge der deutschen Volkskunde (1922), S. 5. Lüthi: Märchen (7. Aufl. 1979), S. 94 (Hervorhebung von mir). Vgl. Rumpf: Ursprung und Entstehung von Warn- und Schreckmärchen (1955) und dies. : Spinnstubenfrauen, Kinderschreckgestalten und Frau Perchta (1976), ferner Soriano: From tales of warning to formulettes: the oral tradition in French children's literature (1969). Gaal (Hrsg.): Die Volksmärchen der Magyaren (1970), S. 2 - 3 . Die Untersuchung von Rieser: „Des Knaben Wunderhorn" und seine Quellen (1908) schließt die „Kinderlieder" aus. Brentano an Arnim 15. 2. 1805. - zit. nach Brentano: Des Knaben Wunderhorn (1806/ 1808) (Hrsg. von Rölleke). - Sämtliche Werke und Briefe Bd. 9,1 (Erläuterungen), S. 18 — Steig (Hrsg.): Arnim und die ihm nahestanden Bd. 3, S. 132 hat viele Lesefehler in diesem Brief.

2. Die Kinderliteratur des verlorenen Paradieses

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E r will die alten Lieder wieder in ihr Recht setzen, freilich nicht, wie sie die mündliche oder schriftliche Überlieferung bietet: „ E s [das Buch] muß so eingerichtet sein, daß kein Alter davon ausgeschlossen ist, es könnten die bessern

Volks-

lieder drinne befestigt, und neue hinzugedichtet werden [. . . ] . " 6 6 Als Akzente, die Brentano dem ganzen Unternehmen aufsetzte, nennt Gajek „nicht nur eine geistesund seelengeschichtliche [. . .] Rückwendung z u m verlorenen Paradies der deutschen Frühzeit, sondern — als individuelle Analogie — eine Versenkung des Einzelnen in die Kindheit [. . . ] . " 6 7 Das ist dieselbe Grundhaltung wie die der Grimms, mit dem Unterschied, daß diese ihre ,Zutaten' nicht als Neuschöpfung, sondern als Restauration des Alten im Geiste der Naturpoesie sahen. Wie die Vorlagen der „Kinderlieder" im „ W u n d e r h o r n " stilisiert wurden, kann am besten an der U m f o r m u n g eines Gedichtes aus Friedrich Spees „ T r u t z N a c h tigall" ( 1 6 6 0 ) dargelegt werden. Die „ E c l o g a , oder Hirten gespräch" erzählt von den Gaben, die zwei Hirten dem Christkindlein schenken wollen; in seiner Bearbeitung „ D i e zwei Hirten in der Christnacht" kürzte Brentano insgesamt, ließ mehrere Strophen „wegen ihres unkindlichen Inhalts a u s " 6 8 und gab einzelnen einen völlig anderen Inhalt. Virtuos handhabt er dabei einen T o n , der sich an echte volkstümliche Kinderreime anlehnt, wie sie z . B . das „Holsteinische Idiotikon" von Johann Friedrich Schütze ( 1 8 0 0 — 1 8 0 6 ) bot, die „Hauptquelle der ,Kinderlieder' überh a u p t " 6 9 . W i r stellen die Verse 17—24 von Brentanos Lied der Quelle gegenüber: Spee Vnd ich wil ihm noch schencken Ein Kitzlein sampt der Geiß/ Die muß es je noch träncken Auß ihren Dütten weiß. Die Brüst es selber findet/ Vnd kan sie lären schon; Ja schon sichs vberwindet/ Vnd wird der Weid gewon.

Brentano Und ich will ihm noch schenken Ein junges Böcklein schön, Es treibt wohl tausend Schwänke, Und bleibt nicht lange stehn ; Es klettert, stutzt und springet, Und bleibt an keiner Stell, An seinem Halse klinget Ein goldnes Glöcklein hell.

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Brentano an Arnim 15. 2. 1805 - zit. nach Brentano: Des Knaben Wunderhorn (1806/ 1808). - Sämtliche Werke und Briefe Bd. 9,1 (Erläuterungen), S. 19 (Hervorhebung von mir); Steig (vgl. Anm. 65) S. 135 hat Lesefehler. — Schon Herder verfuhr bei seiner Volksliedsammlung ähnlich; Goethes „Heidenröslein" nahm er 1778 in seine Sammlung unter dem Titel „Röschen auf der Heide" auf (Herder: „Stimmen der Völker in Liedern" Volkslieder. 2. Teil [1975, EA 1778/1779], S. 277 [Nr. 23]). - Vgl. dazu auch Herder: Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker (1773). Sämmtliche Werke Bd. 5, S. 193—194: „[. . .] zu unsern Zeiten wird so viel von L i e d e r n für K i n d e r g e s p r o c h e n : wollen Sie ein älteres Deutsches hören? [ . . . ] — es ist nichts als ein kindisches F a b e l l i e d c h e n [. . .]. Ist das nicht Kinderton?"

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Gajek: Brentanos Verhältnis zur bildenden Kunst (1970), S. 41. Rölleke in den Erläuterungen - Brentano: Des Knaben Wunderhorn (1806/1808). Sämtliche Werke und Briefe Bd. 9,3, S. 454 — Text des Spee-Gedichtes ebenda S. 4 4 7 - 4 5 4 , Text des Brentano-Liedes ebenda Bd. 8, S. 2 5 0 - 2 5 4 . Rölleke in den Erläuterungen - ebenda Bd. 9,3, S. 462.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

Nicht nur am neuen Inhalt zeigt sich der kindlich spielerische Charakter von Brentanos Versen, sondern auch die Wortwahl und die archaisierende Adjektiv-Nachstellung wird dem Vorbild nachgeahmt, wiesen doch Archaismen der Sprache im damaligen Verständnis stets auf ihren früheren kindlichen Zustand. Wohl eines der bekanntesten Kinderlieder der Sammlung ist die „Ammen-Uhr"; auch in bezug auf dieses Lied muß ein Umdenkprozeß einsetzen. Bislang galt es als „volkstümlich anonymes Gedicht", das „dem Kinde im Schutzraum der Amme die Alltagswirklichkeit poetisch" mache 70 , zählte man es zu den alten Kinderreimen mit ihrem „zähen und unzerstörbaren Leben" 71 . Diese Strophen „von naiver Poesie" 72 aber hat Brentano, angeregt durch zwei Reime aus dem erwähnten Idiotikon, selbst gedichtet 73 . Die Stilisierung ist vollkommen gelungen;,echter* Volks- oder Kinderreim und Nachahmung können ohne Quellenforschung nicht mehr unterschieden werden, ja noch mehr: Der ,typische' literarische Kinderton wird durch die Nachahmung überhaupt erst geschaffen, denn die plattdeutsche Vorlage hätte nie den Grad von Wirkung erreicht wie Brentanos „artistische Parodie", um einen Begriff Alfred Liedes zu gebrauchen 74 . Brentano war zweifellos der größte Sprachmagier und Sprachartist der deutschen Romantik. Seine „poetische Sprachkindlichkeit" und seinen „kindlichen Sprachhumor" vor allem in den Märchen — die freilich nicht für Kinder sind — hat in allen Einzelheiten Gerhard Schaub dargestellt 75 ; auch die Umarbeitungen der „Kinderlieder" des „Wunderhorn" entsprangen dieser artistisch-spielerischen Grundhaltung Brentanos, die ihn zur Entlehnung, Nachahmung, Modifizierung oder Parodie von „allen möglichen literarischen Erzeugnissen" trieb 76 . Der Mythos vom verlorenen Paradies der Menschheit und der eigenen Kindheit, die damit verbundene Wertschätzung von „Kindlichkeit" auch in der Sprache und auch als Sprachspiel sind bei den Grimms und bei Brentano gleichsam prototypisch ausgeprägt. Durch ihre enge Verbindung mit der stilisierten volkstümlichen' Kinderliteratur wirkten sie traditionsbildend; in England lagen, wie wir sehen werden, 70

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Margarete Dierks: Ammenmärchen. — In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 1 (1975), S. 3 3 - 3 4 hier S. 34. Enzensberger (Hrsg.): Allerleirauh (1961), S. 350 (Nachwort). Dierks: Die Ammenuhr. — In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 1 (1975), S. 3 1 1 - 3 1 2 , hier S. 311. Brentano : Des Knaben Wunderhorn (1806/1808). - Sämtliche Werke und Briefe Bd. 8, S. 2 9 7 - 2 9 9 (Text) und Bd. 9,3, S. 5 3 1 - 5 3 4 (Erläuterungen). Liede: Parodie. — In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Bd. 3 (1977), S. 12—72, hier S. 14—41; S. 14: Danach erstrebt die artistische Parodie als bewußtes Spiel mit der literarischen Uberlieferung im Idealfall die vollendete Nachahmung. Schaub: Le Génie Enfant (1973), S. 1 5 6 - 1 8 5 , bzw. 1 8 6 - 2 1 4 ; Schaub geht dabei allerdings etwas freigebig mit dem Prädikat „kindlich" für die verschiedensten Formen des Sprachspiels um. Ebenda S. 179.

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die Verhältnisse etwas anders. Nicht nur sind fortan Märchen, Märchenmotive, phantastische Erzählung und stilisiertes ,Volkskinderlied' ein fester Bestandteil der Kinderliteratur bis in unsere Gegenwart77, sondern neben die literarischen Kindererzieher mit ihrem Mythos vom Kind als potentieller Zukunft treten Autoren, für die die rückwärtsgewandte Komponente des Mythos und/oder das ,kindliche' Spiel wichtigster Schaffensgrund werden. b) Spiel und Artistik Die Nachahmungen der „Kinderlieder" des „Wunderhorn" oder allgemeiner gesprochen — die literarischen Kinderlieder, die durch diese und andere Sammlungen volkstümlicher Kinderverse1 angeregt wurden, bilden ein Kapitel für sich. Ruth Lorbe geht sogar so weit zu behaupten, daß „das Kinderyoifeslied die gültigen Maßstäbe für die gesamte Kinderlyrik liefert" 2 . Ihre Beispiele aus der Geschichte des Kinderliedes scheinen die unzulässige Absolutsetzung einer Form, eines Tones zu unterstützen, doch diese Einstellung führt zwangsläufig zur Abwertung jeder anderen Kinderliedform, jedes anderen Tones. Macht man sich von solcher normativen Ästhetik frei, so erweist die relativ konstante Tradition der .Kindervolkslieder', ihrer Nachahmungen und Parodien, wie sehr in Ton, Thema und Form das verlorene poetische Paradies von den Erwachsenen für die Kinder über die Zeiten gerettet wurde und wird. Einige Beispiele sollen das verdeutlichen. Zu den populärsten Liedern des „Wunderhorn" überhaupt gehört „Das bucklige Männlein", von Brentano offenbar nach mündlichem Vortrag niedergeschrieben: Will ich in mein Gärtlein gehn, Will mein Zwieblein gießen; Steht ein bucklicht Männlein da, Fängt als an zu nießen. [···]

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Dabei darf man jedoch nicht übersehen, daß auch das volkstümliche Erzählgut verschiedene „Stufen der Affinität zwischen bestimmten Gattungen und didaktischen Zwecken" kennt; Fabel und Schwank sind bekannte Beispiele, aber auch manche Märchen sind was freilich der romantischen Auffassung widersprach — oft schon ursprünglich didaktisch — vgl. Hermann Bausinger: Didaktisches Erzählgut. - I n : Enzyklopädie des Märchens Bd. 3, Lfg. 2/3 (1980), Sp. 6 1 4 - 6 2 4 , Zitat Sp. 618. - Überdies bedienten sich die literarischen Kindererzieher bereits sehr früh dieser Formen, wenn man an die erwähnten ,Predigtmärlein' denkt (siehe oben S. 62—63).

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Die erste Sammlung nach Brentano ist Simrock (Hrsg.): Das deutsche Kinderbuch (1848), die bedeutendste Böhme (Hrsg.): Deutsches Kinderlied und Kinderspiel (1897); zu weiteren Sammlungen vgl. Emily Gerstner-Hirzel: Das Kinderlied. — In: Handbuch des deutschen Volksliedes Bd. 1 (1973), S. 9 2 3 - 9 6 7 . Lorbe: Kinderlyrik. — In: Kinder- und Jugendliteratur (1974), S. 1 7 8 - 2 1 9 , mit ausführlichem Literaturverzeichnis.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie Geh ich in mein Kämmerlein, Will mein Bettlein machen; Steht ein bucklicht Männlein da, Fängt als an zu lachen. [. . .p

Hundert Jahre später konnte Gertrud Züricher in der deutschen Schweiz fast zwanzig zersungene oder umgedichtete Varianten dieses Liedes aufzeichnen 4 ; gesungen wird das Lied bis heute auf eine Melodie aus dem „Wiener Gesangbuche" von 1774, die dort allerdings einem Fronleichnamslied zugehört: „Kommt zum großen Abendmahl" 5 . Der Faszination dieses Tones, wobei Melodie und der Verston in seiner zum Nachdichten reizenden ,wenn—dann'-Struktur gemeint sind, konnten sich wenige entziehen. Schon Paula Dehmel benutzte den Ton in fünf Rätseln für Kinder 6 , und der studierte Literaturwissenschaftler Josef Guggenmos, der sich nie von literarischen Vorbildern lösen konnte, reimte eine freie Paraphrase: War ein Ries' bei mir zu Gast, sieben Meter maß er fast, hat er nicht ins Haus gepaßt, saßen wir im Garten. [• · ·]7 Unmittelbarer an die Vorlage schließt sich eines der großen artistischen Talente unserer Zeit an: Geh ich in der Stadt umher, Kommt ein blauer Hund daher, Wedelt mit dem Schwanz so sehr, Nebenher, Hinterher Und verläßt mich gar nicht mehr. 3

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Brentano: Des Knaben Wunderhorn (1806/08). - Sämtliche Werke und Briefe Bd. 8, S. 290-291 (Text), Bd. 9,3, S. 509-512 (Erläuterungen); von Brentano selbst stammen mit Sicherheit nur die Verse 21—24 und 2 9 - 3 2 (Rölleke). Züricher (Hrsg.): Kinderlieder der Deutschen Schweiz (1926), S. 194-197, Nr. 2784-2802. Böhme (Hrsg.): Deutsches Kinderlied und Kinderspiel (1897) 1, S. 252 (Anm. zu Nr. 1237). Paula Dehmel: Das liebe Nest (1922, EA 1919), S. 151-152; z.B. Wenn das R am Anfang steht, liebt man es nicht sauer; wenn es bis ans Ende rutscht, hüt dich vor dem Hauer! » Guggenmos: Was denkt die Maus am Donnerstag? (1974, EA 1967), S. 10 — die mehrfache Prämierung dieser ganz im Ton volkstümlicher Kinderlieder und -reime gehaltenen Sammlung ist nicht verwunderlich, wenn man die Orientierung an der literarischen Tradition bedenkt, die preisverleihenden Gremien dieser Art meist eignet.

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Wedelt mit den blauen Ohren, Hat wohl seinen Herrn verloren. 8 Peter Hacks, von dem diese Verse stammen, ist in seinen Werken für Kinder 9 fast durchweg unpolitisch; sie sind meist reines Spiel mit der literarischen Tradition, ein Spiel, das ohne Parodie und komischen Unsinn nicht auskommt. Ähnliches läßt sich von Friedrich Karl Waechter sagen, der ebenfalls gerade jenes „Wunderhorn"-Lied als Vorlage für die 32 Parodien seines Spiel-Buches „Brülle ich zum Fenster raus" benutzt. Der Bericht Waechters über die Entstehung des Buches kennzeichnet die durch Parodie nur wenig gebrochene Kinderliedtradition: Die Kinder kannten kaum Lieder, und wir kannten nur wenige, die nichts mit Gott, Vaterland und Seelenweh zu tun hatten, und noch wenigere, die sich zum Nachspielen eigneten. [. . .] Wir machten sie uns schließlich selbst, oft nach bestehenden Melodien. Eins der ersten war „Brülle ich zum Fenster raus" — nach der alten Melodie vom „buckligen Männlein". 1 0 Die Parodien aber klingen so: Brülle ich zum Fenster raus, klingt es stolz und herrlich, laufen alle schnell davon — bin ich so gefährlich? : Will ich mit dem Dreirad fahrn über einen Rasen, läuft mir etwas in die Quer, sind es sieben Hasen. [. . .] Kommt der Onkel Theobald, schenkt er mir zehn Pfennig, liest mir tausend Märchen vor, wenn er aufhört, penn ich. [. . . ] " Die Faszination des ursprünglichen „Wunderhorn"-Liedes ging zweifellos auch von der selbst Kindern des 19. Jahrhunderts unverständlichen Gestalt des buckligen Männleins 1 2 aus; bei Paula Dehmel, Guggenmos, Hacks und Waechter hat sich die 8 9

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Hacks: Der Flohmarkt (1973, EA 1965), S. 52 („Der blaue Hund"). Einige weitere Kinderbücher von Hacks sind: Das Windloch. Geschichten von Henriette und Onkel Titus (EA 1956); Das Turmverlies (EA 1962) — verschiedene Ausgaben, 1978 zusammen in einem Band —; Die Katze wäscht den Omnibus (1973, EA 1972). Waechter: Brülle ich zum Fenster raus (1977, EA 1973), S. 3 3 - 3 4 . Ebenda S. 7 und 27; alle Texte auch S. 4 6 - 4 7 . Vgl. Böhme (Hrsg.): Deutsches Kinderlied und Kinderspiel (1897) 1, S. 252 (Nr. 1237), wo sicher zu Recht vermutet wird, daß das bucklige Männlein eine Art Hausgeist ist; vgl. auch Samuel Singer: Hausgeist. — In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens Bd. 3 (1930/31), Sp. 1568—1570: Hinweise auf das koboldartige Wesen der nicht immer

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

Rätselhaftigkeit der Vorlage in den unsinnigen Komponenten, bei Waechter auch in den Zeichnungen und im kindlich-komischen Rollenspiel erhalten. Die Reihe der „Wunderhorn"-Nachahmungen ließe sich durch andere Beispiele ergänzen. Das größte artistische Talent auf diesem Gebiet war zweifellos August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798—1874). Wie vergessen dieser Dichter der wohl immer noch populärsten Kinderlieder ist, zeigt sich selbst bei Friedrich Sengle; zwar betont er, man verstünde wenig von der Epoche der Biedermeierzeit, wenn man nicht wüßte, daß es in den Gedichten des Nationalsängers auch zwei Abteilungen „Wiegenlieder" und „Kindheit" gibt 1 3 , aber Sengle zitiert dann nur ein wenig typisches „Wiegenlied" von 1827 1 4 nach einer Ausgabe der Gedichte Hoffmanns aus dem Jahre 1834. Da aber waren jene Lieder noch nicht erschienen, die auch heute noch manche Sammler als anonyme Kinderlieder abdrucken 15 : „Alle Vögel sind schon da" (1835), „Ein Männlein steht im Walde" (1843), „Kuckuck, Kuckuck, ruft aus dem Wald" (1835), „Morgen kommt der Weihnachtsmann" (1835), „ O wie ist es kalt geworden" (1835), „So sei gegrüßt viel tausendmal" (1844), „Summ, summ, summ! Bienchen summ herum!" (1835), „Wer hat die schönsten Schäfchen" (1830), „Winter, ade!" (1835) usf. 1 6 In allen seinen Kinderliedern — und Hoffmann hat immerhin 383 geschrieben — treibt er ein virtuoses Spiel mit der echten volkstümlichen Überlieferung; er übernimmt Zitate, Versanfänge, Formeln, ja viele Lieder sind bloße Um- oder Nachdichtungen von alten Volksliedern. 17 Darin gleicht er seinem Vorbild Brentano und dessen „Wunderhorn"-Bearbeitungen, hat ihm aber — bei allen sonstigen Schwächen — eines voraus: Er dichtete seine Kinderlieder nach gängigen Melodien, welche die ungeheure Popularität

erst

ermöglichten.

Solch

doppeltes

parodistisches

Verfahren,

die

Verbindung von literarischer artistischer Parodie und musikalischer ,Kontrafaktur', sucht in der Geschichte des deutschen Kinderliedes seinesgleichen. Nur zwei Beispiele: „Wer hat die schönsten Schäfchen" ist auf eine Melodie Johann Friedrich Reichardts (1752—1814) geschrieben, die dieser wiederum einer seinerzeit sehr berühmten Haydn-Symphonie entlehnte (Nr. 53 D-Dur, „L'Impériale", 2. Satz: Anhilfreichen Hausgeister; bereits aus dem 12. Jahrhundert gibt es Zeugnisse, wonach ein solcher Kobold die Magd beim Melken und Buttern stört. " 14 15

16

17

Sengle: Biedermeierzeit Bd. 2 (1972), S. 5 2 3 - 5 2 4 . Hoffmann von Fallersleben: Gesammelte Werke Bd. 2, S. 84, N r . 3. Vgl. Heckmann/Krüger (Hrsg.): Kommt, Kinder, wischt die Augen aus (1974), S. 181: zu „Ein Männlein steht im Walde" heißt es: „unbekannter Verfasser". Zitiert wurde jeweils die erste Zeile, da die Titel heute vergessen sind — Hoffmann von Fallersleben: Gesammelte Werke Bd. 2, S. 98, 3 7 5 - 3 7 6 , 320, 392, 3 1 6 - 3 1 7 , 3 2 3 - 3 2 4 , 3 4 6 - 3 4 7 , 94—95, 318. - Die „Kinderlieder" erschienen bereits 1877 in einer Gesamtausgabe, die auch im Neudruck vorliegt — Hoffmann von Fallersleben: Kinderlieder (1976). Vgl. die immer noch einzige Untersuchung von Heidrich: Die Kinderlieder Hoffmanns von Fallersleben (1925), Einzelheiten siehe dort.

2. Die Kinderliteratur des verlorenen Paradieses

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dante [1777])18; aus der damals vielgesungenen Volksweise „Liebchen ade, Scheiden tut weh!" machte er nur wenig verändert sein „Winter, ade!" 19 . Daß Hoffmann ein artistischer Parodist par excellence war, zeigt nicht nur jedes seiner Kinderlieder, auch sonst stellte er dieses Talent unter Beweis: Holländische Volkskundler nahmen von Hoffmann verfaßte ,altniederländische' Lieder in ihre Sammlungen auf 20 , er dichtete auf althochdeutsch, er schrieb als Hannoveraner allemannische Gedichte (1826)21 und parodierte den Stil des 16. und 17. Jahrhunderts 22 . Es war kein „kindlich gebliebener Hoffmann" 2 3 , der nach Meinung der älteren Forschung solche Kinderlieder schrieb. Man kann nicht wie Göhring — an der Genieästhetik orientiert — den „unechten und erlogenen", weil konstruierten Kinderliedern der Aufklärung die Lieder Hoffmanns von Fallersleben als „echte" Kinderlieder gegenüberstellen24. Nur zögernd bestätigt Heidrich, von den Tatsachen seiner Untersuchung gezwungen, entgegen seinem Diktum vom „Kindergemüt" 25 Hoffmanns, dessen virtuose „poetische Technik", bedauert aber, „daß der Dichtung dadurch oft alle Ursprünglichkeit mangelt, daß ihr der Charakter des Gewollten, Gemachten, Zurechtkomponierten anhaftet." 26 Um eine Dichtung wie die Hoffmanns von Fallersleben zu würdigen, muß man sich frei machen von jeder Forderung nach ,Ursprünglichkeit'; Kinder können ,echte' von gemachten' Kinderliedern erst recht nicht unterscheiden. Die deutsche artistische Kinderliteratur beschränkt sich fast ausschließlich auf Kinderlieder und steht durchweg in der umschriebenen Tradition. Auch Paula und Richard Dehmel oder die heute unbekannteren Gustav Falke und Viktor Blüthgen kannten fast keinen anderen Ton als den des volkstümlichen' Kinderliedes und Kinderreimes. Sie wurden in diesem Sinne auch als literarische Erben Hoffmanns von Fallersleben angesehen: In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts drängten 18

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Bei Heidrich dazu keine Angaben; eine musikhistorische Untersuchung der Kinderlieder Hoffmanns steht noch aus. Vgl. Heidrich: Die Kinderlieder (1925), S. 108. Hoffmann von Fallersleben: Mein Leben (1868) Bd. 1, S. 280-282; Hoffmann schildert den Beginn dieser artistischen Parodien: „Ich lebte mich so recht ein in Sprache und den Geist des alten Volksliedes, daß die Lust wie von selbst kam, ähnliche Lieder zu dichten. Und so geschah es: mein erstes Lied war ein Scheidelied [. . .]. Ich brachte das Lied zu Bilderdijk und fragte ihn, ob es wol [!] noch dem 15. Jahrhunderte angehöre. Er meinte, es könnte wol noch älter sein!" (S. 280—281). Vgl. Bd. 1, S. 320-322 und Bd. 2, S. 34. Ebenda Bd. 1, S. 318-320. Göhring: Die Anfänge der deutschen Jugendliteratur (1967, EA 1904), S. 123. Ebenda S. 114. Heidrich: Die Kinderlieder (1925), S. 15. Ebenda S. 97—98. — Nach dem Vorbild Hoffmanns von Fallersleben gelang dem Lehrer Friedrich Güll (1812—1879) der geniale Wurf der „Kinderheimath in Liedern und Bildern" (1837) — zu Güll vgl. Göhring: Die Anfänge der deutschen Jugendliteratur (1967, EA 1904), S. 124-140.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

sie ihn in den Schullesebüchern zurück 27 . Die verstärkte Hinwendung zu Kind und Kindlichkeit nach der Jahrhundertwende war, wie wir wissen28, ein Zeitphänomen. So finden sich auch bei Christian Morgenstern Kindergedichte29, die aber bei weitem nicht das „ästhetische Raffinement" 30 seiner Galgenlieder erreichen, und noch die Kindergedichte von Joachim Ringelnatz haben dieselben literarischen Vorbilder 31 . Im Vordergrund steht bei allen Genannten nicht die Lehre, sondern das Spiel mit einer literarischen Tradition, nicht eine .psychologische' Kindlichkeit des Autors, sondern die „planmäßige Schematisierung des Stils in der gewünschten Richtung"32 des ,Kindertons'. Sengle betont, daß „eine soziologische oder pädagogische Interpretation für das Verständnis dieser Erscheinung" ungenügend sei33. Doch hat der Typ des literarischen Artisten unter den Kinderbuchautoren die verschiedensten literarischen und individuellen Abwandlungen erfahren, und die Sehnsucht des Erwachsenen nach dem verlorenen Paradies und die virtuose Variation literarischer oder volksliterarischer Muster sind nur die Bedingung sine qua non dieses Typus. Franz von Pocci z.B. gehört aufgrund seines literarischen Improvisationstalents und seiner sprachlichen Virtuosität zu diesem Typ, doch ist er andererseits unter den hier behandelten Autoren der .kindlichste' im eingangs umschriebenen Sinne. Ohne die literarische Parodie aber kommt auch er nicht aus. Ein Beispiel aus der Gegenwart soll verdeutlichen, wie wenig beim literarischen Artisten oft das reale Kind, obwohl direkt angesprochen, der richtige Partner des Autors, der ,implizite' Leser ist. Friedrich Karl Waechters Kinderbuchschaffen begann mit der kritischen Parodie des „Anti-Struwwelpeter" (1970)34; es war die hohe Zeit der Kinderläden, der anti-autoritären Erziehung, und es scheint, als ob Waechter mit seinen Werken den literarischen Kindererziehern zuzurechnen ist. Doch offenbart er dort, wo er lehrhaft sein will, seine Schwächen. Die Märchen-Parodie „Tischlein deck dich" (1972) ist eine komische Bildergeschichte vom Typ der proletarischen Märchen der Zur Mühlen 35 , ein utopisches Märchen vom gelungenen Klassenkampf, in dem das Männchen Xram eine wichtige Rolle spielt: „Wenn es irgendwann notwendig ist, daß ein kluger Bursche auftaucht, dann taucht Xram

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Heidrich: Die Kinderlieder (1925), S. 111. Siehe oben S. 42. Vgl. Pape: Morgenstern. — In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 2 (1977), S. 496—498; dort auch Näheres über die Textgeschichte und die verwirrende Ausgabenvielfalt der Kindergedichte Morgensterns. Liede: Dichtung als Spiel (1963) Bd. 1, S. 305. Siehe Pape: Ringelnatz (1974), S. 2 6 7 - 2 9 5 : „Gedichte für und über Kinder". So umschreibt Sengle die Bedeutung des Volks- oder Kindertones — Sengle: Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre (1969), S. 38 (Hervorhebung im Original). Ebenda. Siehe dazu oben S. 90. Siehe oben S. 8 2 - 8 6 .

2. Die Kinderliteratur des verlorenen Paradieses

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auf." 3 6 Marx als Wichtelmann und Helfer aus der Not: Wir haben oben schon auf die plakative Scheinprogressivität des Kindererziehers Waechter verwiesen 37 . Seine Stärke ist, und das zeigen seine neuesten Werke für Kinder, das virtuose Spiel mit literarischen oder zeichnerischen Zitaten, das nur in den seltensten Fällen Kindern ganz verständlich ist. „Opa Huckes Mitmach-Kabinett" (1976) ist in den literarischen Teilen voll von artistischem Spiel; eine Seite des Buches z.B. bringt gezeichnete Bilder- und Figurengedichte, ja konkrete Poesie, deren Witz selten kindlich ist 38 . Ein anderes Mal steht unter drei Zeichnungen einer Rose, einer Hose und einer Dose: „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose" 3 9 — kein Kind kann das Spiel mit Gertrude Steins „A rose is a rose is a rose" durchschauen. Auch eine brillante Kurzfassung des Märchens von den „Bremer Stadtmusikanten" führt mit seinem spielerischen Unsinn und seinen Wortspielen — die übrigens direkt von Kenneth Grahame übernommen zu sein scheinen 40 — jede mögliche ,Lehre' ad absurdum: Auf der Zeichnung sieht man am Rande einer Waldlichtung eine Maus und ein Schwein mit umgeschnalltem Geweih: Jetzt soll ich auf die Lichtung treten und röhren', sagte die Sau, ,und wenn mich der Baron erschießt, machen sich die anderen Jäger in die Hose vor Vergnügen, diese Schweine!' .Mensch, komm mit mir', sagte die Maus, ,was Besseres als den Tod hab' ich jederzeit übrig für dich.' 41

Wortwitz und Sprachartistik, Parodie und literarisches Zitat, Komik und Unsinn, all das gehört zum Spiel, ist aber selten ein Kindern verständliches Spiel. Nur wo Waechter mit den einfachen Formen der modernisierten, phantastischen Tierfabel lehrhafte Exempelbilderbücher schreibt 42 , ist der .implizite Leser' auch das Kind und nicht nur ein das Spiel genießender Erwachsener. Fast alle deutschen Kinderbuchautoren, die man zum Typ des .kinderliterarischen' Artisten oder .Spielers' rechnen könnte, sind in erster Linie Autoren von Erwachsenenliteratur. Für die meisten, auch und besonders für die Autoren unseres Jahrhunderts, ist die Kinderliteratur Flucht aus dem ,Ernst' oder der Fragwürdigkeit der .eigentlichen' Literatur und ihrer Bindung an den jeweils herrschenden ästhetischen Konsens. Hans Magnus Enzensberger hat das Verhältnis zum verlorenen 36 37 38 39 40

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Waechter: Tischlein deck dich (1972), [S. 7], Siehe oben S. 90. Waechter: Opa Huckes Mitmach-Kabinett (1976), S. 30. Ebenda S. 96. Vgl. Grahame: Der Wind in den Weiden (1973, engl. EA 1908), S. 73: „Die Ratte starrte vor sich hin, sagte nichts und klopfte dem Maulwurf freundlich auf die Schulter. Nach einer gewissen Zeit sagte sie düster: Jetzt blicke ich durch. Was für ein Schwein war ich doch! Ja, Schwein ist der richtige Ausdruck. Ich war ein mieses, ganz gewöhnliches Schwein.' " Waechter: Opa Huckes Mitmach-Kabinett (1976), S. 35. Vgl. besonders Waechter: Wir können noch viel zusammen machen (1973) und: Die Bauern im Brunnen (1978).

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

poetischen Paradies im Nachwort zu seiner Sammlung alter Kinderreime („Allerleirauh") zusammengefaßt, und er ist damit Erbe romantischer Anschauungen, auch wenn er sich moderner gibt: Da finden wir den Mythos vom Kind als Dichter („der Kinderreim bezeugt es"), die Vorstellung vom „zähen und unzerstörbaren Leben" des Kinderreimes, an dem „jede Ideologie" scheitere: „[. . .] wer ihn im Mund führt, das sind die Kinder, den schließt er in eine klassenlose Gesellschaft ein." 4 3 Es ist nicht verwunderlich, wenn das poetische Paradies bei Enzensberger an die Utopie streift. Bedenken wir, daß viele der „Wunderhorn"-Lieder, die er übernimmt, durchaus von romantischer Ideologie' gefärbt sind, und halten wir dagegen die Anfangsverse eines Gedichtes von Enzensberger: „Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne: / sie sind genauer. [. . .]" 4 4 , so erhellt aus diesem Gegensatz, wie sehr für den politisch engagierten Autor Kinderliteratur Flucht aus der Realität, .poetisches Paradies', ist. Ebenso fand Busch, wie wir sehen werden, in seinen Kinderbüchern, wie in der Bildergeschichte überhaupt, ein — auch artistisches — Refugium vor der bedrohlichen Realität. Der englische Beitrag zur artistisch-spielerischen Kinderliteratur gründet zwar ebenfalls in der Romantik, zeigt aber ein anderes Bild. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich das englische literarische Kinderbuch noch wenig vom deutschen; das Erbe der Spätaufklärung hielt sich auch dort sehr lange. Benjamin Tabarts wenig erfolgreiche „Collection of Popular Stories for the Nursery" (1809) enthielt hauptsächlich Ubersetzungen von Perrault, der Madame d'Aulnoy, der Madame Leprince de Beaumont und aus „1001 Nacht", daneben aber einige Märchen, die Tabart den populären Chapbooks entnahm 45 . Auch die Sammlung von Kinderliedern setzte später als in Deutschland ein 46 . England besaß ja, im Gegensatz zu Wales und Schottland, im 19. Jahrhundert so wenig heimische Märchen, daß einzelne Forscher sie für ausgestorben hielten und dafür die Ausbreitung der Schulbildung und den Puritanismus verantwortlich machten 47 . Erst Mary Howitts Ubersetzung der Grimmschen (1823 — 1826) und der Andersenschen Märchen (1846) brachte die Hauptanstöße für literarische Kindermärchen in England 48 , wo allerdings die Mythisierung der Naturpoesie fehlte. William John Thoms, der 1828 „ A Collection of Early Prose Romances" herausgab, verdankte die Anregungen dazu zwar Jacob

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Enzensberger (Hrsg.): Allerleirauh (1961), Zitate S. 350-353. Enzensberger: Gedichte (1971), S. 13.' Vgl. Bolte/Polivka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen Bd. 5 (1932), S. 43 - zu den Chapbooks siehe den Artikel von Klaus Roth in: Enzyklopädie des Märchens Bd. 2 (1979), Sp. 1232-1240 (auch über die Rolle der Chapbooks als Kinderliteratur). Iona and Peter Opie (Hrsg.): The Oxford Dictionary of Nursery Rhymes (1975), S. V-VI. Bolte/Polivka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen Bd. 5 (1932), S. 49. Townsend: Written for Children (1974), S. 53.

2. Die Kinderliteratur des verlorenen Paradieses

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Grimm, und er zitierte beiläufig aus Görres' „Volksbüchern" 49 , doch war er wesentlich nüchterner und sah diese Literatur vor allem als Kinderlektüre: „[. . .] many of these tales have delighted us in our childhood, and are endeared to our hearts by the recollection of those sunny hours [. . ,]" 5 0 . Am Beispiel des „Mythos vom Volksbuch" hat jüngst Hans Joachim Kreutzer die deutschen Sonderbedingungen der ,Volkspoesie' im europäischen Bereich eingehend dargelegt 51 . Es ist charakteristisch für das Verhältnis des Engländers jener Zeit zum .Märchen', daß die Übersetzungen der Grimmschen „Kinder- und Hausmärchen" meist mit grotesken, ja fast unsinnigen Illustrationen erschienen. Für das puritanische und rationale Denken, welches das 19. Jahrhundert weitgehend beherrschte, konnten Kind und Kindheit nicht jenen absoluten Wert erhalten, wie in der deutschen Romantik. Kindheit bedeutete damals in England immer noch nicht-vernünftig, nicht-erwachsen, oder anders gewendet mit den Worten Alfred Liedes: Was dem Rationalismus oder dem Puritanismus, der das Lachen ohnehin am liebsten verboten hätte, in die Quere kam, galt als Nonsense, verächtlicher Unsinn. Das war gefährlich, denn allzuviel wurde so als Nonsense gewertet. War man ein Freund des Scherzes, des volkstümlichen oder des Kinderunsinns, so konnte man sich ruhig zu diesem „Nonsense" bekennen; das vernichtende Urteil, das im Wort liegen sollte, verblaßte zusehends, dieses wurde harmlos. 5 2

Es war Edward Lear, der mit seinem „Book of Nonsense" (1846) den Begriff der Nonsensedichtung und zusammen mit Lewis Carroll die Tradition der Unsinnspoesie für Kinder geschaffen hat. 53 Lears Verbindung zur Romantik hatten bereits die Zeitgenossen hervorgehoben 54 , und Alfred Liede betont zurecht: „Kein englischer Unsinnspoet geht völlig in der Welt des Kindes auf; immer spürt der Leser die leichte Parodie des Kinderbuchs und der Märchenwelt." 55 In unserem Zusammenhang sei nur auf die vielen Parodien in Carrolls „Alice in Wonderland" (1865) und „Through the Looking Glass" (1871) verwiesen, die — ebenso wie das virtuose Spiel mit der Sprache — ihn als literarischen Artisten zeigen. Die meisten Gedichte in Carrolls „Alice"-Büchern parodieren seinerzeit bekannte Lieder; eines der Meister-

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Thoms (Hrsg.): A Collection of Early English Prose Romances (1828) Bd. 3, Vorrede zu (2) „The History of the Life and Death of Dr. John Faustus", S. IV - Thoms prägte übrigens den Begriff .Folklore". Ebenda Bd. 1, S. Χ . Kreutzer: Der Mythos vom Volksbuch (1977), hier S. 6 5 - 7 7 . Liede: Dichtung als Spiel (1963) Bd. 1, S. 160. Vgl. ebenda. Petzold: Formen und Funktionen der englischen Nonsense-Dichtung (1972), S. 185 bis 186. Liede: Dichtung als Spiel (1963) Bd. 1, S. 164-165; Petzoldt (Formen und Funktionen [1972], S. 186) hebt hervor, daß der englischen Romantik im Gegensatz zur deutschen das komische Element fast völlig fehlt, und er nennt — etwas unzulässig pauschalisierend den Nonsense „die der Romantik zugehörige typische Komikform" (S. 189).

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stücke der artistischen Unsinnspoesie ist Carrolls Parodie eines heute längst vergessenen didaktischen Gedichts von Robert Southey (1774—1843) S6 , das so beginnt: " Y o u are old, father William," the young man cried, "The few locks which are left you are grey; You are hale, father William, a hearty old man; N o w tell me the reason, I pray."

Bei Carroll wird daraus ein Gedicht, das — sehen wir von Ausnahmen bei Pocci und Busch ab — in der deutschen Kinderliteratur der Zeit undenkbar war: "You are old, Father William," the young man said " A n d your hair has become very white; And yet you incessantly stand on your head D o you think, at your age, it is right?" "In my youth," Father William replied to his son, " I feared it might injure the brain; But, now that I'm perfectly sure I have none, Why, I do it again and again."

An dieser Stelle können wir nicht näher auf Carroll und Lear eingehen; doch wie wenig auch bei der Deutung dieser Kinderliteratur pädagogische und soziologische Interpretationen ausreichen, hat Alfred Liede in der Analyse der Werke Lears und vor allem Carrolls gezeigt. Die Rezeption durch den kindlichen Leser hat nichts mehr mit der ursprünglichen Bedeutung des Werkes zu tun; die Form des Kinderbuchs ist für Carroll zwar auch Flucht aus der Zeit, darüber hinaus aber das einzige Medium, seine Träume und Visionen zu gestalten: Der Unschuld des Kindes darf er sich offenbaren, ohne sich zu enthüllen; das Kind glaubt ihm und freut sich an den Geschichten, ohne sie wirklich zu verstehen [. . .]. Vor dem Kind schwindet Dodgsons Stottern, das ihn vor Erwachsenen plagt. Deshalb ist er jener Kinderfreund, als der er aus zahlreichen Briefen, Photographien und Anekdoten bekannt ist, nicht etwa, weil er selbst noch Kind gewesen wäre [. . ,]. 5 7

Spiel und Artistik, die sich nicht auf Kinderlieder beschränken, sondern die vielfältigsten Formen umfassen 58 , sind hier nicht Flucht in ein poetisches Paradies der Frühzeit — der Begriff der Naturpoesie ist in England nie heimisch geworden —, sondern in den „unschuldig reinen spielerischen Unsinn des Kindes" 5 9 . Liedes Untersuchung hat gezeigt, daß Lewis Carroll auf der Flucht vor dem Chaos in einer extrem konservativen Haltung seine Fluchtburg fand. Als Dodgson (sein bürgerlicher Name) baute er „um sich eine Welt von Ordnungen auf, eine Ordnung des 56

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Vgl. dazu und zu allen .Quellen' von Carrolls „Alice"-Büchern Gardners kommentierte Ausgabe: The Annotated Alice (1974, EA 1965), hier S. 6 9 - 7 1 ; sonst Carroll: Complete Works, S. 5 0 - 5 2 . Liede: Dichtung als Spiel (1963) Bd. 1, S. 181-182. Ebenda S. 183-193. Ebenda S. 165.

2. Die Kinderliteratur des verlorenen Paradieses

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viktorianischen religiösen und sittlichen D e n k e n s , eine des Alltags, eine der Mathematik und eine der L o g i k , jede von ihnen trieb er bis zur Erstarrung im A b s o n derlichen, aber keine kann ihn vor dem C h a o s bewahren, vor dem er sich f ü r c h t e t " 6 0 , jenem C h a o s , das seine Unsinnsdichtungen beherrscht. N u r die F o r m des Kinderbuches, die Bannung des Bedrohlichen in dieses Medium macht den N o n s e n s e erträglich. F ü r unseren typologischen Grundriß können wir zusammenfassen: D a s artistisch-spielerische Kinderbüch, in dem der A u t o r frei mit den literarischen Mustern und sprachlichen Formen schaltet und ein bewußtes Spiel mit ihnen treibt, ist zunächst durchgehend Flucht aus der Realität, die dabei je verschieden empfunden werden kann, als fremd und bedrohlich, als verdorben, als Bildungsphilisterium, als moderne Entfremdung usf. N u r selten steht zweckfreie Artistik im Vordergrund wie bei H o f f m a n n von Fallersleben. Diese Kinderliteratur ist stets Spiel mit dem — literarisch gesehen — ,Alten', und sie ist — parallel dazu — eben Flucht in die Vergangenheit: ins poetische Paradies einer mythischen Menschheitskindheit oder ins individuelle Paradies der kindlichen Unschuld, der Kindlichkeit oder auch des kindlichen Traumes. Dabei erschöpft sich in den seltensten Fällen der Sinn der Literatur in ihrer ,Adressatenbezogenheit'; sie ist die Oberfläche, während sich der ,eigentliche' Sinn erst dem erwachsenen Leser erschließt. 6 1 Peter H a c k s , den wir hier eingereiht haben, umschreibt das „ P o e t i s c h e " 6 2 in einem E s s a y auf eine Weise, die zweifellos nicht Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, die aber auf sein Artistentum und sein Verhältnis zur Tradition ein bezeichnendes Licht wirft. A n volkstümlichen Liedern demonstriert H a c k s , was für ihn das „ P o e t i s c h e " ausmacht: Das Alte überhaupt steht, als bescheidenere Form, für das Unveränderliche. Alle Autoren von Lessing bis Weiskopf, die uns über die Gesetze der poetischen Wonwahl beraten [. . .], schicken uns auf die Suche nach alten Worten. [. . .] Das Neue muß reflektiert werden, bleibt eine Sache des Kopfes. Das Alte, wenn es die Schwelle des Ungewohnten und Bedenkenswerten überschritten hat, läßt sich schon erleben, und es hat, durch langen Umgang, eine Art von Einfachheit gewonnen, die es anschaulich macht. Worte wie Sachen müssen; um poetisch zu werden, lagern. 63 Dies ist freilich nicht ganz Lessings 6 4 oder Weiskopfs Literaturtheorie, es ist vor allem die G r i m m s c h e Vorstellung von der Einfachheit und Naivität der ,Archais60 61

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Ebenda S. 179. Vgl. auch Lewis: On Three Ways of Writing for Children. — In: Lewis: Of Other Worlds (1966), S. 22—34, hier S. 24: „I am almost inclined to set it up as a canon that a children's story which is enjoyed only by children is a bad children's story." Hacks: Das Poetische (1966). - In: Hacks: Das Poetische (1972), S. 118-137. Ebenda S. 129. Hacks sagt nicht, worauf er sich bezieht; wahrscheinlich denkt er aber an Lessings „Vorbericht von der Sprache des Logau" in dessen Logau-Ausgabe von 1759. Dort heißt es u.a.: „ E s bedarf aber nur einer ganz geringen Aufmerksamkeit, zu erkennen, wie sehr die

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men'; deutlich wird das, wenn Hacks die Funktion dieses „Unveränderlichen", das uns „an die Tatsache der biologischen Konstanz des Menschen und an die Erwartung einer menschlichen Zukunft" erinnere, näher bestimmt und dabei unausgesprochen auf den Kindmythos zurückgreift, der Vergangenes und Zukünftiges umfaßt: „Beide, der natürliche Mensch wie die humane Utopie, werden in der historischen Wirklichkeit nicht angetroffen. Sie existieren in der Vergangenheit und in der Zukunft, vielleicht auch nur in der Erinnerung und in der Hoffnung. Sie sind zwei gedachte Gegenentwürfe zur Welt." 65 Kinderliteratur kann sich, wo sie bedeutend ist, von diesen Gegenentwürfen nicht lösen. c) Der ,private' Mythos Wenn literarische Kindererzieher die Entstehung ihrer Kinderbücher durch einen autobiographischen Anlaß erklären, soll ihnen damit meist nur mehr Lebenswahrheit verliehen werden 1 ; diese Stilisierung gehört oft zum Komplex der ,Ideologie von der schlechten Lektüre' 2 . Doch auch wenn ein Kinderbuch wirklich dem direkten Umgang mit Kindern erwächst, braucht das für seinen Charakter, seine typologische Zuordnung nicht entscheidend zu sein; Heinrich Hoffmann berichtet über den Anlaß zu seinem „Struwwelpeter": „Um diese Zeit [Dezember 1844] wollte ich unserem Sohne Carl die Weihnachtsbescherung vorbereiten, und suchte in den Buchläden nach einem Bilderbuch, wie es für einen solchen kleinen Weltbürger sich schicken mochte; aber alles, was ich da zu sehen bekam, sagte mir wenig zu." Er will „dem Jungen schon selbst ein Bilderbuch herstellen". 3 Das Ergebnis ist jenes didaktische Kinderbuch, das ganz auf die Einordnung des kleinen Weltbürgers in die Gesellschaft abzielt. Erst wenn die private Art oder der private Grund der Entstehung für den Charakter des Kinderbuchs selbst konstitutiv werden, sind sie für unseren typologischen Grundriß interessant. Dabei kann das Werk auf je verschiedene Weise mit dem Kindmythos verbunden sein, freilich mit seiner rückwärtsgewandten Komponente. Selten ist, daß ein Kinderbuchautor die eigene Person und sein Werk dem Prozeß einer durchgehenden Stilisierung auf einen Aspekt des Kindmythos hin unterwirft.

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Sprache unserer neuesten und besten Schriftsteller, von dieser alten, lautern und reichen Sprache der guten Dichter aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, unterschieden ist. [. . .] Und auf diese veralteten Wörter haben wir geglaubt, daß wir unser Augenmerk vornehmlich richten müßten." Die Dichter der Gegenwart würden durch die Wiedereinführung der veralteten Wörter der Sprache „einen weit größern Dienst tun [. . .], als durch die Prägung ganz neuer Wörter [. . .]." — Lessing: Werke Bd. 5, S. 344; diesen Passus zitiert Lessing auch im 44. Literaturbrief — ebenda S. 155. Hacks: Das Poetische (1966). - In: Hacks: Das Poetische (1972), S. 131. Siehe das Beispiel Weißes, unten S. 158-160. Siehe oben S. 60—66 u.ö. Hoffmann: „Struwwelpeter-Hoffmann" erzählt aus seinem Leben (1926), S. 106.

2. Die Kinderliteratur des verlorenen Paradieses

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Hans Christian Andersen ist diese Stilisierung nach außen hin völlig gelungen ; sein Leben und seine Werke sind Ergebnis eines objektivierten privaten Mythisierungsprozesses. Er beginnt seine Autobiographie „ D a s Märchen meines Lebens" 4 : „Mein Leben ist ein schönes Märchen, so reich u n d hold!" Die Realität sah aber anders aus; Briefe und Tagebücher zeigen, daß kaum ein Tag seines Lebens glücklich war; Krankheit, Einsamkeit, Melancholie und Heimatlosigkeit waren seine fast ständigen Begleiter. N u r etwas bedeutete dem später mit R u h m und Ehren Überhäuften Heimat: die Kindheit 5 . Seine Entwicklung vom Kind aus dem Armenviertel Odenses z u m begehrten Freund von Fürsten und Dichtern stilisierte Andersen völlig nach dem Mythos vom göttlichen Kind: unscheinbarer Anfang und triumphierendes Ende. Auch seine Märchen, von denen manche auf in der Kindheit Gehörtes zurückgehen, kreisen sehr oft um dieses Thema. Es entspricht völlig dieser Stilisierung Andersens, wenn er seit 1843 das „ f ü r Kinder erzählt" aus dem Titel der Märchenbücher strich und sich wehrte, als man ihm später ein Denkmal setzen wollte, das ihn von Kindern umringt zeigen sollte 6 . Auf der Seite des Dichters herrscht dieselbe Spannung zwischen stilisierter .mythischer' Kindlichkeit und realen Kindern, der wir bei den Grimms begegnet sind. Auch Frances Hodgson Burnett, unser Beispiel im zweiten Teil dieser Arbeit, gehört zu den Kinderbuchautoren, deren Werke letztlich in einem literarisch objektivierten privaten Kind- oder Kindheitsmythos gründen. Diese Art Kinderliteratur beschränkt sich, wo sie literarische Qualität aufweist 7 , fast ausschließlich auf den englischsprachigen Raum — Astrid Lindgren ist sicher eine der großen Ausnahmen —, sie besteht ausschließlich in Erzählungen, und sie berührt sich zum Teil mit dem literarischen Artistentum. C . S. Lewis hat den Versuch gemacht, drei Arten, f ü r Kinder zu schreiben, zu unterscheiden 8 ; seine Überlegungen decken sich aber nur z u m Teil mit unserem Versuch. Lewis' erster A u t o r t y p geht von der folgenden Voraussetzung aus: „Children are, of course, a special public and you find out what they want and give them that, however little you like it yourself." Er bezeichnet diesen Weg als den schlechtesten, und ich denke, Lewis hat mit diesen Worten das Gros der ,trivialen' 4

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Seine Autobiographie erschien zuerst 1847 als Skizze: „Das Märchen meines Lebens ohne Dichtung", 1855 dann wesentlich erweitert unter dem genannten Titel — hier zitiert nach der Ausgabe von 1961. Vgl. auch die anregende Studie von Reumert: Hans Andersen the Man (1971, EA 1927), hier S. 2. Nielsen: Andersen (1958), S. 126. Reiner Kunzes Geschichten in „Der Löwe Leopold" (EA 1970), die er für seine Tochter „Marcela, diesen Plagegeist" (Widmung) schrieb, scheinen mir ebenso wie z.B. Günter Herburgers „Birne"-Geschichten (EA 1971), die aus Erzählungen für seinen Sohn hervorgingen, ihren Ruhm mehr den Namen der Autoren als literarischem Rang zu verdanken. Lewis: On Three Ways of Writing for Children. - In: Lewis: Of Other Worlds (1966), S. 22-34, die folgenden Zitate S. 22-23.

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

Kinderliteratur, der populären Lesestoffe für Kinder, umsehrieben, die sich an einem falsch verstandenen Markt-Mechanismus orientieren. Zwei andere Wege zum Kinderbuch erscheinen ihm als die einzig richtigen. Der eine von beiden „consists in writing a children's story because a children's story is the best art-form for something you have to say"; wir würden ζ. Β. Busch und Carroll zu diesem Typ rechnen. Der dritte 9 „way of writing for children" scheint mit dem am meisten übereinzustimmen, der hier zur Diskussion steht: „The printed story grows out of a story told to a particular child with the living voice and perhaps ex tempore." Lewis Carroll erzählte die „Wonderland"-Abenteuer zuerst der kleinen Alice Lidell, Kenneth Grahames „The Wind in the Willows" entstand aus mündlichen Erzählungen und Briefen an seinen siebenjährigen Sohn, J . M . Barrie erzählte seinen „Peter Pan" zuerst Kindern in den Londoner Kensington Gardens, Hugh Lofting erfand den Dr. Dolittle für seine Kinder, als er im ersten Weltkrieg in einem flandrischen Schützengraben lag, A . A . Milne schuf „Winnie-the-Pooh" für seinen Sohn und J . R . R . Tolkien erzählte die Abenteuer des „Hobbit" zuerst im Kreis seiner Familie 10 . Dieser private Ursprung ist wichtig, aber er allein ist nicht entscheidend. Das konkrete Kind als direkter Partner der ursprünglichen privaten Erzählung, worauf Lewis besonders abhebt, fehlt ja bei der späteren Niederschrift; entscheidend ist, daß das Kinderbuch in allen genannten Fällen — bei Carroll wie wir wissen auf besondere Art — über den privaten Anlaß hinaus künstlerisch objektivierte, gestaltete Fluchtversuche aus einer Realität sind, die als unerträglich empfunden wird. Das Ziel der Flucht aber liegt in einem Gegenentwurf, der an der eigenen, zum Mythos erhobenen Vergangenheit orientiert ist: der eigenen Kindheit. Kenneth Grahame (1859—1932) und sein einziges Kinderbuch „The Wind in the Willows" verkörpern diesen Typ vielleicht am reinsten. Grahame ist nie von seiner Kindheit losgekommen; in mehreren Kurzgeschichten — für Erwachsene — verklärt er das Kindheitsparadies, „those days of old, ere the gate shut to behind m e " 1 1 . Doch sind die Titel der Bücher, in denen diese Geschichten 1895 und 1898 erschienen und die in England sehr schnell bleibenden Ruhm erlangten, auch zeittypisch: „The Golden Age" und „Dream Days". Denn die damalige Hinwendung zum Kind auf den verschiedensten Gebieten, von der Literatur bis zur Psychologie, war zweifellos Ausdruck einer Krisenzeit und oft weniger Ausdruck eines neuen Wirklichkeitssinnes als neuer Mythisierung. Grahames unbedingte Glorifizierung, 9

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Es ist bei Lewis der zweite Typ, doch tationszusammenhang eine Rolle. Lewis nennt als Beispiele nur Carroll, „Hobbit" ein privater Mythos ist, hat Tolkiens (1977, deutsch 1979) gezeigt Studie (1980).

spielt die Reihenfolge nur in Lewis ArgumenGrahame und Tolkien. — Wie sehr auch der Carpenter in seiner grundlegenden Biographie (S. 1 7 5 - 1 8 2 ) ; zu Tolkien jetzt auch Petzolds

Grahame: The Golden Age (1908, E A 1895), S. 3; deutsch zusammen mit „Dream Days" als Grahame: Kinder (1971).

2. Die Kinderliteratur des verlorenen Paradieses

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Absolutsetzung von Kind und Kindlichkeit — ein Freund sagte von Grahame, er wirke wie jemand, der sich noch nicht ganz an die Entdeckung gewöhnt habe, daß er kein Kind mehr sei 12 — hat aber auch ihre Wurzeln im persönlichen Schicksal. Der größte Teil seiner Kindheit war ohne Liebe gewesen; seine Mutter starb, als er gerade fünf Jahre alt war. Und nur die folgenden zwei Jahre bei seiner Großmutter im idyllischen Cookham Dene an der Themse westlich von London sind, zumindest in der Erinnerung, glückliche Jahre einsamer Phantasie. Ein Traum, der Grahame später als Angestellten der Bank von England (1879—1908) immer wieder verfolgte, war der Traum von der Heimkehr. Diese Heimkehr aber gelang ihm nur in der Erinnerung an die Kindheit und in dem daraus erwachsenen Kinderbuch „The Wind in the Willows" (1908), der Geschichte vom Maulwurf, der Ratte, der Kröte, dem Dachs und ihren Abenteuern am Fluß. Die Gesellschaft, in der Grahame lebte, die Realität überhaupt, erlaubte keine Verwirklichung des Heimattraumes; der Dachs als Sprachrohr Grahames glaubt, „that these things [society] belonged to the things that didn't really matter." 1 3 Die vermenschlichten Tiere des Buches versöhnen Kindheit und Erwachsenendasein auf völlig imgaginäre Weise, obwohl sie dem Leser lebensvoller erscheinen als vergleichbare Tiergestalten in Fabeln oder Kinderbüchern. Grahames Tiere sind wie Kinder, denn sie haben keine Verantwortung, kennen keinen Kampf ums Dasein, keine häuslichen Sorgen 14 . Alles, was zum täglichen Leben gehört, ist mit ,naiver' Selbstverständlichkeit einfach da: „In that way the life of all the characters is that of children for whom everything is provided and who take everything for granted." Andererseits aber führen die Tiere das Leben von Erwachsenen: „They go where they like and do what they please, they arrange their own lifes." Ihre Welt ist kein Vorschein der Utopie, sondern Flucht nach Arkadien. Das Buch „paints a happiness under incompatible conditions — the sort of freedom we can have only in childhood and the sort we can have only in maturity [. . .]." Grahame schließt die Realität bewußt aus: "Beyond the Wild Wood comes the Wide World," said the Rat. "And that's something that doesn't matter, either to you or me. I've never been there, and I'm never going, nor you either, if you've got any sense at all. Don't ever refer to it again, please." 1 5

Trotz dieses „most scandalous escapism" vermittelt die Erzählung ein Glück der einfachen Dinge 1 6 und ein Gefühl von ,Heimat', „the sense of home and the little 12

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Zit. nach Graham: Grahame (1963), S. 30—31 - zu Grahame siehe auch die detaillierte Studie von Green (1959). Grahame: The Wind in the Willows (1979, E A 1908), S. 68. - Dieser englische Kinderbuchklassiker liegt erst seit wenigen Jahren in einer ausgezeichneten deutschen Ubersetzung von Harry Rowohlt vor — Grahame: Der Wind in den Weiden (1973). Lewis: O n Stories. - In: Lewis: O f Other Worlds (1966), S. 3 - 2 1 , hier S. 14, danach auch das folgende. Grahame: The Wind in the Willows (1979, E A 1908), S. 1 6 - 1 7 . Vgl. Lewis: O n Stories. - In: Lewis: O f Other Worlds (1966), S. 1 4 - 1 5 .

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II. Grundzüge der Entstehung und Typologie

curtained world within the walls" 1 7 . Der Psychologe Jan Hendrik van den Berg erhebt diese Art,Glück* sogar zur einzig wirklichen für den Menschen: „Wir haben die Augen auf das Große gerichtet, das, was den Schein der Unvergänglichkeit besitzt. Aber dieses Große berührt uns nicht, es imponiert nur, und es versucht, uns irrezuführen. Was berührt, das ist das Kleine, das Geringfügige, das intensiv Vergängliche." 18 Bei Fontane findet sich eine erstaunliche Parallele zu dieser Auffassung: „Jeder Mensch ist seiner Natur nach auf bestimmte, mitunter sehr, sehr kleine Dinge gestellt, Dinge, die, trotzdem sie klein sind, für ihn das Leben oder doch des Lebens Bestes bedeuten." 1 9 Solche Vorstellungen hängen zweifellos mit dem Kindmythos zusammen, denn aus der Zeit der Kindheit stammt diese Liebe zum intensiv Vergänglichen, und Kindheit selbst ist ja das intensiv Vergängliche schlechthin. Kenneth Grahame sieht die Durchschnitts-Erwachsenen — „the Olympians" 2 0 — als Menschen in einer Welt ohne Zauber, ohne Freiheit, ohne Hoffnung, beherrscht von dem Willen zur Macht über die Kinder 21 . Seine Werke sind Versuche, sich die Kindheit als Kindlichkeit zu bewahren: „Et in Arcadia ego — I certainly did once inhabit Arcady." Doch zweifelt er an seiner Kindlichkeit: „ C a n it be that I also have become an Olympian?" 2 2 Der Ausweg aus dem Dilemma ist die Dichtung; und so nimmt es nicht wunder, daß Grahame an die Verwandtschaft von Kind und Künstler glaubt. In der Erzählung „The Roman R o a d " 2 3 ist „the artist" der einzige, der das Kind und seine Träume versteht. Uberblicken wir unsere typologische Skizze, die die literarischen Kinderbücher nach ihren Entstehungsgründen zu sondern versuchte, so fällt auf, daß es nicht der Zukunft zugewandte lehrhafte Kinderbücher sind, die überdauert haben, obwohl keiner ihrer ,utopischen Entwürfe* inzwischen verwirklicht wurde. Die Kinderliteratur des verlorenen Paradieses, von der in diesem Kapitel die Rede war, hat sich behauptet. Die Gründe dafür sind zu vielschichtig, als daß sie hier dargelegt werden könnten. Vielleicht liegt es auch daran, daß ihre Autoren ,absichtsloser' waren als die meisten literarischen Kindererzieher, für die das Kind nicht Träger der Hoffnung, sondern Mittel zu ihrer Verwirklichung war. Im folgenden Teil dieser Arbeit soll in Einzeluntersuchungen der typologischen Verkürzung die historische und individuelle Vielfalt gegenübergestellt werden. Die Beispiele sind dabei so gewählt, daß sie repräsentativ für ihre Zeit, für die Gattungsvielfalt und für die skizzierte Typologie sind, wobei freilich deutlich wird, daß einzelne Kinderbuchautoren wie z. B. Pocci sich nicht auf einen einzigen Typus reduzieren lassen. 17 18 19 20

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Grahame: The Wind in the Willows (1979, E A 1908), S. 86. (Kapitel: „ D u l c e D o r n u m " ) . van den Berg: Metabletica (1960), S. 96; freilich ohne Erwähnung Grahames. Fontane: Irrungen, Wirrungen (1888). - Sämtliche Werke Abt. 1, Bd. 2, S. 404. Vgl. die gleichnamige Einleitung in Grahame: The Golden Age (1908, E A 1895), S. 3-12. Ebenda S. 3 - 6 . 2 3 Ebenda S. 1 8 1 - 2 0 1 . Ebenda S. 12.

Β. DAS TYPISCHE UND DAS INDIVIDUELLE: VIER EXEMPLARISCHE ANALYSEN

I. Der ästhetische Erzieher: Christian Felix Weiße oder die bürgerliche Utopie

Abb.: Titelvignette zum 12. Theil (1778) des „Kinderfreundes" von Weiße; vgl. dazu unten S. 186.

1. Natur, Vernunft, Erziehung und das Paradies auf Erden Im sechsten Teil des „Wandsbecker Boten" (1798) fragt Matthias Claudius seinen ,Vetter* um Rat in der Kindererziehung: Eigentlich unvernünftig will ich sie [die Kinder] nicht haben, das kann der Herr Vetter auch wohl denken. Warum sollte ich sie unvernünftig haben wollen? So toll werde ich ja nicht sein, das können Ew. Hochedelgeborn wohl denken. Aber, ob es vielleicht mehr als eine Vernunft gibt, ich kann in die heurige mich nicht finden. Sie nennen Dinge vernünftig, die ich unvernünftig, und Dinge unvernünftig, die ich Vernünftig finde. Der ,Vetter' tröstet ihn: Mit den Produkten der Zeit müßt Ihr es so genau nicht nehmen. Die Vernunft ist heuer Mode, und Ihr wißt wohl, wie es mit den Modewaren ist. Sie sind nicht immer solide gearbeitet, und können es, bei der Menge die gefodert wird und bei der Verschiedenheit der Lieferanten, auch nicht sein. 1 A m Ende des Aufklärungszeitalters war „Vernunft" zum Modewort geworden, mit dem jeder — wie hier die Pädagogen, auf die Claudius zielt — seine Ideen unangreifbar machen wollte. Der einflußreichste, im Grunde aber konservative Popularphilosoph Christian Wolff nannte alle seine Werke „Ve'rnünfftige Gedancken von . . .". Welche Welten den deutschen Pedanten von der englischen und französischen Aufklärung trennten und in wie vielem die Aufklärung im 18. Jahrhundert erst am Anfang stand 2 , mag Wolffs Befürwortung der Folterung zeigen. Vor allem bei einem „starcken und gesunden Kerle", „der gar wohl etwas ausstehen" könne, sei die Folter trotz aller Einwände am Platze 3 . Auch für die Todesstrafe setzte sich der „Weltweise" im Namen der Vernunft ein und forderte, vor der Hinrichtung beim Delinquenten „die Angst des Todes" zu mehren, um so die Zuschauer zu beeindrucken. Die Leichname schließlich sollten auf dem Schindanger neben dem verreckten Vieh unbegraben verwesen, damit man zu verstehen giebet, ein Mensch, der durch den Trieb seiner Sinnen und Affecten sich zu Schand- und Ubelthaten verleiten lasset, und die Vernunfft, welche ihn zum guten verbindet [. . .], gantz und gar bey Seite setzet, sey nichts anders als einem Viehe und insonderheit einem rasenden Hunde gleich zu achten, der weiter zu nichts nutzet, als daß man

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Claudius: Sämtliche Werke, S. 452 bzw. 455. Pütz: Aufklärung (1978), S. 28; dort ähnliche Beispiele von 1784. Wolff: Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben (4. Aufl. 1736). — Gesammelte Werke I. Abt., Bd. 5, S. 321.

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I. Christian Felix Weiße

ihn todt schlaget und auf den Schind-Anger den Raben und andern Raub-Vögeln zur Speise hinwirfft. 4

Eigentlich sah Wolff den Grund für die Strafe nicht in der Tat des Delinquenten, sondern in deren Voraussetzungen. Bestraft werden sollte nicht das Verbrechen, sondern das Abweichen vom Pfade der Vernunft; wer ihr folgt, kann nicht anders als gut sein. Denn Vernunft ist ja nichts anderes als Natur: „Die Natur kann geradezu als Synonym der Vernunft, als Vernunft-Natur begriffen werden. " s Alles Unvernünftige ist Unnatur. Wo der Mensch nur seiner Natur folgt, ist er gut. Noch 1771 konnte Lichtwer mahnen: O Menschen laßt euch rathen, Und folget, wie der Held, der edlen Tugend Spur! Ihr Gang ist die Vernunft, ihr Wandel ist Natur. 6

Dahinter steht nicht ein Naturverständnis, wie es seit der Klassik und Romantik dem deutschen Bildungsbürger vertraut ist, sondern ein im Gefolge der Naturwissenschaften entstandener Begriff von Natur, die nach unumstößlichen Gesetzen verfährt. Besonders das Heer der kleineren Aufklärungsschriftsteller und -pädagogen hielt noch im letzten Drittel des Jahrhunderts an Wolffs Natur- und Menschenbild fest; Lichtwer versifizierte ja nur einen Kernsatz Wolffs: „Die Beobachtung des Gesetzes der Natur ist es, so den Menschen glückseelig machet. Da nun die Fertigkeit, dem Gesetze der Natur gemäß zu leben, die Tugend ist, so m a c h e t die T u g e n d den M e n s c h e n g l ü c k s e e l i g . Und demnach kann man ohne Tugend niemand glückseelig nennen." 7 In zahllosen Abwandlungen durchzog das Quartett Natur — Vernunft — Tugend — Glückseligkeit die theoretischen Schriften der Philanthropisten 8 , jener pädagogischen Bewegung, welche Basedow, die Zeitströmung geschickt nutzend, initiierte und die in Campe, Villaume und Trapp ihre Hauptvertreter fand. In der Theorie betonte erst Schiller im Anschluß an Kant wieder den

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Ebenda S. 2 9 9 - 3 0 0 . - Vgl. auch Weiße: Kinderfreund Th. 5 (1776), 68. St., S. 4 9 - 5 6 über die Hinrichtung eines Mörders, der Kinder aus erzieherischen Gründen beiwohnen sollen. - Auch Basedow: Elementarwerk (1774) Bd. 3, S. 35—43 berichtet „Von Gerichten und Strafen" und erklärt im einzelnen die furchtbaren Martern. Hinck: Einleitung: Soziale Grundlagen und Grundzüge des Denkens. Eine Skizze. — In: Europäische Aufklärung Bd. 1 (1974), S. 6. — Vgl. auch den Überblick und Forschungsbericht von Pütz: Aufklärung (1978), hier bes. S. 3 5 - 3 7 über die Kernbegriffe Natur, Vernunft, Tugend und Glückseligkeit. "'Lichtwer: Das Recht der Vernunft. - Frankfurt und Leipzig 1771, S. 4 — zit. nach Siegrist: Das Lehrgedicht (1974), S. 204. Wolff: Vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen. — In: Brüggemann (Hrsg.): Das Weltbild der deutschen Aufklärung (1930; 1966), S. 159. Zum Philanthropismus und zur Aufklärungspädagogik siehe besonders Pinloche: Geschichte des Philanthropinismus (1914) sowie Ballauf/Schaller: Pädagogik Bd. 2 (1970), S. 3 3 8 - 3 7 5 , ausführliche Bibliographie ebenda S. 6 2 9 - 6 3 0 (Philanthropismus) S. 631—685 (einzelne Pädagogen).

1. Natur, Vernunft, Erziehung und das Paradies auf Erden

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Gegensatz von Vernunft und N a t u r , oder universeller gewendet von N a t u r und vom Vernunft-Erzeugnis K u l t u r 9 : D i e Kultur solle den M e n s c h e n , „ a u f dem W e g e der Vernunft und der Freyheit, zur N a t u r z u r ü c k f ü h r e n . " 1 0 D a ß N a t u r für Schiller auch verlorene Kindheit b e d e u t e t e 1 1 , erinnert uns an die Bedeutung des M y t h o s von der Kindheit gerade gegen E n d e des 18. Jahrhunderts. D a s Kind als K i n d konnte für die pädagogische Kinderliteratur der Spätaufklärung freilich nicht z u m M y t h o s werden, wir haben im Kapitel über den M y t h o s vom Kind auf die G r ü n d e dafür hingew i e s e n 1 2 : Es ist noch ,unvernünftig' und erst z u r Vernunft zu erziehen. Bei Kindern, die vom dritten L e b e n s j a h r an der Herrschaft der V e r n u n f t zu unterwerfen s i n d 1 3 , hat Kindheit noch keinen W e r t in sich selbst. W i r werden aber sehen, daß bei W e i ß e N a t u r , K u n s t , K i n d und U t o p i e , auf eine bestimmte Weise in Beziehung gesetzt, symbolische Qualität gewinnen und doch fast zu einer A r t M y t h o s werden. N i c h t zuletzt diese seine ,ästhetische' Position hebt ihn über fast alle anderen Kinderbuchautoren der Zeit hinaus. Sonst hatte das Kind für die deutsche Spätaufklärung nur als Verkörperung der bürgerlichen Zukunft Bedeutung, als erziehbares

O b j e k t war

es Ausgangspunkt für eine Verbesserung der W e l t . D i e unterschütterliche U b e r z e u gung von der Perfektibilität des M e n s c h e n , eine der Grundüberzeugungen der A u f klärung, und ein besonders gegen E n d e des Jahrhunderts virulenter Chiliasmus trafen z u s a m m e n . 1 4 Darin bestand die eigentliche E n t d e c k u n g des Kindes für die Spätaufklärung, nicht in seinem E i g e n w e r t . 1 5 K a n t , der 1776—1787 insgesamt vier Vorlesungen über Pädagogik hielt, war wie viele seiner Zeitgenossen überzeugt, daß „hinter der Education [. . .] das große G e heimniß der V o l l k o m m e n h e i t der menschlichen N a t u r " stecke und sie „uns den Prospect zu einem künftigen glücklichern M e n s c h e n g e s c h l e c h t e " e r ö f f n e 1 6 . Dieser G l a u b e des Jahrhunderts, den auch das klägliche Scheitern der großsprecherischen P r o j e k t e des Philanthropismus nicht erschüttern k o n n t e , war das direkte Gegenteil von Rousseaus Ansichten. A u f ihn beriefen sich zwar oft die Schriftsteller und Pädagogen der Spätaufklärung, aber sie schulmeisterten ihn — am borniertesten in der

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Dazu auch Herrmann: Kindheit und Jugend im Werk Campes (1975), S. 464. Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). - Werke Bd. 20, S. 414. Ebenda. Siehe oben S. 3 9 - 4 0 . Leprince de Beaumont: Magazin des Enfans (1769, EA 1756) Bd. 1, S. X X (Avertissement). Vgl. oben S. 35. Ganz in unserm Sinn hat auch Ulrich Herrmann den falschen Gemeinplatz von der „Entdeckung des Kindes" korrigiert — Herrmann: Kindheit und Jugend im Werk Campes (1975), S. 467. Kant: Uber Pädagogik. — Kant: Gesammelte Schriften Abt. I, Bd. 9, S. 444; Kant las im WS 1776/77, SS 1780, WS 1783/84 und WS 1786/87 über Pädagogik; aus den Vorlesungsnotizen dazu veröffentlichte Rink 1803 „Kant über Pädagogik" (ebenda S. 569); Kant las das erstemal (1776/77) übrigens über Basedows „Methodenbuch" !

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I. Christian Felix Weiße

„Emile"-Übersetzung der „Allgemeinen Revision" 17 — so sehr mit Einschränkungen, Anmerkungen, Zurechtweisungen, daß am Schluß nur wenig von ihm übrigblieb. Das nimmt eigentlich nicht wunder, denn für Rousseau entartet das Kind durch Erziehung, die notwendig Anpassung an die Gesellschaft ist 18 . Der damaligen Pädagogen liebstes Gleichnis vom Kind als jungem Baum, der beizeiten in die rechte Richtung zu biegen sei, entlarvte er als Dressur. Rousseau verneinte die Möglichkeit, den Menschen sowohl seiner Natur, nämlich seinen eingeborenen Anlagen, als auch der Gesellschaft entsprechend zu erziehen: „Gezwungen, gegen die Natur oder die gesellschaftlichen Institutionen zu kämpfen, muß man sich für den Menschen oder den Staatsbürger entscheiden, denn beide in einer Person kann man nicht schaffen." 1 9 Dieser Gegensatz reduzierte sich bei den Philanthropisten zur Frage: „ O b und inwiefern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sey?" — so der Titel einer Abhandlung Villaumes 20 von 1785 im Hauptwerk der Philanthropisten, der „Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens". Und Villaume empfahl für den „größten Haufen" [!] der Menschen die Erziehung zu einer „mittelmäßigen Brauchbarkeit", denn nur so erziele man die größte gesellschaftliche, gemeinnützige Brauchbarkeit 21 . Das ist die Frage nach der .verhältnismäßigen Aufklärung' 2 2 , die sich nicht nur für die Volksaufklärer stellte, sondern auch die Erzieher der Bürgerkinder bewegte. Diese Haltung ist zu unterscheiden von der grundsätzlichen reaktionären Kritik an den sich ausbreitenden Bildungsbestrebungen, wenn auch die Grenze nicht immer klar zu erkennen ist 23 . Villaume sorgte sich um eine zu große Vollkommenheit der Bürger 24 , Campe pflichtete dem bei und faßte zusammen: „[. . .] wir müssen irgend einmahl anfangen, mehr an seiner künftigen Brauchbarkeit, als an seiner individuellen Vollkommenheit zu arbeiten, mehr den Bürger und den Gesellschafter als den Menschen in ihm zu bilden." 2 5 Das Problem, wie sich

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In: Allgemeine Revision Th. 1 2 - 1 5 (1789-1791); auch separat gedruckt. Rousseau: Emile (Reclam), S. 107. Ebenda S. 111; die Anmerkungen von Ehlers, Campe und Resewitz zur EmileÜbersetzung in der „Allgemeinen Revision" Th. 12 (1789), S. 47—48 geben sich ahnungslos und widersprechen auch hier Rousseau. Villaume verkündet zu Beginn großsprecherisch, daß die Frage noch nirgends erörtert worden sei und ignoriert damit (absichtlich?) Rousseau. Villaume: O b und inwiefern bei der Erziehung [. . .] (1785), S. 615. Vgl. Narr: Fragen der Volksbildung in der späten Aufklärung (1959/60). — In: Narr: Studien zur Spätaufklärung (1979), S. 182-207, hier S. 190-205; siehe auch Sauder: „Verhältnismäßige Aufklärung" (1974) und Pütz: Aufklärung (1978), S. 3 7 - 3 8 . Engelsing: Analphabetentum und Lektüre (1973), S. 66—68; Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 4 0 - 6 6 u.ö. Villaume: O b und inwiefern bei der Erziehung [. . .] (1785), S. 525. Campe: Ueber die große Schädlichkeit einer allzufrühen Ausbildung der Kinder (1786), S. 71.

1. Natur, Vernunft, Erziehung und das Paradies auf Erden

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Erziehung zum Menschen ( = Natur) und zum Bürger zueinander verhalten sollen, reduzierte er auf eine berechenbare Schulmeisterregel: „Man erwäge zuvörderst die Bestimmung des Zöglings, dann berechne man nach Wahrscheinlichkeit die Zeit, welche erfordert wird, ihn zu dieser seiner Bestimmung in der bürgerlichen Gesellschaft vorzubereiten; ziehe hierauf diese Zeit von der für die ganze menschliche und bürgerliche Erziehung bestimmte Zahl von Jahren ab, und was übrig bleibt, das widme man getrost der Erziehung der N a t u r . " Er gab dann auch tatsächlich ,Beispielrechnungen': „[. . .] so kommen fünf heraus. Diese von fünfzehn abgezogen, lassen zehn übrig. [. . . ] " 2 6 — solche Sätze bedürfen keines Kommentars. Die Philanthropisten waren wie besessen vom Gedanken der Nützlichkeit, die dann zu einem der Hauptangriffspunkte des Neuhumanismus werden sollte 27 . Der Entwurf des neuen, durch Erziehung verbesserten bürgerlichen Staates gewann nur selten die Gestalt einer menschenwürdigen Utopie. Viele der Erziehungsgedanken der Philanthropisten machten ihrem Namen kaum Ehre. Einer ihrer Wortführer, Ernst Christian Trapp 2 8 , nannte zu Beginn seines „Versuchs einer Pädagogik" die Erziehung ein Geschäft, „was die Erde zum Paradiese machen müßte, wenn es überall, und überall auf die rechte Art getrieben würde, und werden k ö n n t e . " 2 9 Voraussetzung für die Verwirklichung dieses Paradieses ist aber offenbar die totale Anpassung: „Man fährt in der menschlichen Gesellschaft am besten, wenn man auf dem Strom hinunter schwimmt, den eingeführte Gesetze, herrschende Ideen, Sitten, Gewohnheiten und Gebräuche in Gang gebracht haben." Und so stellte er als Maxime auf: „ E s ist daher eine nothwendige Erziehungsregel, die Kinder früh zu gewöhnen, daß sie sich nach Andern richten; daß sie nicht immer ihrem eigenen Triebe folgen; noch weniger ihre Meinungen Andern aufzudringen suchen; überhaupt, daß sie sich mehr leidend, als thuend verhalten." 3 0 D e r Gipfel des Utilitarismus, der jede echte Menschlichkeit zerstört, ist schließlich Trapps Forderung nach einer Vermeidung jeden auch noch so geringen unnützen Tuns, nach totaler Überwachung im Dienste des (neuen) Staates: Ferner müßte man Beobachtungen anstellen in solchen grossen Schulanstalten und Gymnasien, wo viele heranwachsende junge Leute beisammen wohnen, und zählen, wie viel Zeit und Kraft für diese jungen Leute und für den Staat, der sie künftig braucht, und wie viel Geld für ihre Eltern hier verlohren geht durch Onanie, Hurerei, Spielen, Saufen, Lesen wohllüstiger [!] Bücher, Unfug von allerlei Art. 31

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Ebenda S. 71—72, 81, Zitate im Original hervorgehoben. Diese Kritik setzt schon mit Herder ein; vgl. auch oben S. 40. Zu Trapp siehe Ulrich Herrmann: Ernst Christian Trapp (1745—1818). Person und Werk. — In: Trapp: Versuch einer Pädagogik (Neuausg. 1977), S. 419—448; dort auch S. 449—483 eine umfassende Trapp-Bibliographie. Trapp: Versuch einer Pädagogik (1780), S. 10. Ebenda S. 159—160; im Original hervorgehoben. Ebenda S. 79; Hervorhebung von mir.

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I. Christian Felix Weiße W i e die deutschen Philanthropisten die Frage der Sexualität angriffen, ist ein K a -

pitel für sich und wohl eines der traurigsten und bedrückendsten in der G e s c h i c h t e der Pädagogik. N u r zwei Beispiele: D e r H o f m e i s t e r und spätere Mädchenerzieher J o h a n n Friedrich O e s t (1755—1815) machte unter dem Beifall Campes einen V o r schlag, wie man Kinder über den Unterschied der Geschlechter belehren solle. D a n a c h sei der Geschlechtsunterschied K i n d e r n an nackten Leichen zu zeigen, damit in der Einbildungskraft des Kindes das Bild von dem Unterschiede der Geschlechter mit dem vom Tode und Leichen zusammenschmelzen, und letzteres den Lüsten, welche ersteres erregen könnte, zum Gegengifte dienen möge, nach dem Verse: Wenn schnöde Wollust dich erfüllt; So werde durch dies Schreckenbild Verdorrter Todtenknochen Dein Kitzel unterbrochen. 32 Ein pädagogischer Mitstreiter wandte dagegen ein, der Zögling k ö n n e dadurch künftig Lust auf den V e r k e h r mit Leichen b e k o m m e n — C a m p e beharrte auf der Natürlichkeit der M e t h o d e . 3 3 Auch das Schreckgespenst O n a n i e und seine eingebildeten Folgen zerrten entsetzlich an den N e r v e n dieser Aufklärer; seit B e g i n n des 18. Jahrhunderts „begannen Ä r z t e den M y t h o s zu verbreiten, daß Masturbation W a h n sinn, Epilepsie, Blindheit und T o d h e r v o r r u f e . " 3 4 F ü r die Bearbeitung des T h e m a s setzten die Philanthropisten einen Preis a u s 3 5 . D i e Bürger des 18. und 19. J a h r hunderts verfolgten diesen „Krebsschaden der M e n s c h h e i t " mit unglaublicher B e sessenheit: W i e leicht konnten die Kinder auf A b w e g e geraten: „ E i n fünfjähriger K n a b e von fürstlichem Stande wälzte sich des M o r g e n s , da er nicht m e h r schlafen k o n n t e , im weichen warmen Federbette. A u f einmal empfand er Reiz und — es war um seine U n s c h u l d g e s c h e h e n ! " 3 6 Selbst Hölderlin, ein ausgemachter F e i n d der P h i l a n t h r o p i s t e n 3 7 , tat nächtelang kein A u g e zu, um seinen Zögling F r i t z von K a l b von jenem Laster abzuhalten, alles mit dem Erfolg, daß Hölderlin nun klagte: 32

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Zit. bei Winterfeld: Über die Art und Weise Kinder über den Unterschied der Geschlechter zu belehren (1788), S. 104; dieser Vers in anderem Zusammenhang auch in Oests: Versuch einer Beantwortung (1787), S. 367 (dort falsch pag. 357). Winterfeld: Über die Art und Weise [. . .] (1788), S. 1 0 5 - 1 0 6 . de Mäuse: Evolution der Kindheit. — In: Hört ihr die Kinder weinen (1977), S. 78. Die entsprechende Abhandlung Oests im sechsten Teil der „Allgemeinen Revision", 1787, S. 1 — 506: Versuch einer Beantwortung; auch separat erschienen. Danach der kommentierte Nachdruck der ersten Hälfte des für Jünglinge bestimmten zweiten Teils: Oest: Höchstnöthige Belehrung und Warnung (1977); siehe bes. das Nachwort von Donata Eischenbroich S. 155—175, ein bearbeitetes Kapitel aus ihrer Dissertation (Kinder werden nicht geboren [1977], S. 133-156), ferner Villaume: Ueber die Unzuchtsünden der Jugend (1787). — Die Arbeit von Hentze: Sexualität in der Pädagogik des späten 18. Jahrhunderts (1979) bietet nur eine Anhäufung von Zitaten. Oest: Versuch einer Beantwortung (1787), S. 93—94, Zusatz von Campe. Vgl. Brief Nr. 98 vom 20. 4. 1795 an die Schwester - Hölderlin: Sämtliche Werke Bd. 2, S. 651; vgl. unten S. 182.

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„[. . .] ich fing auch an, auf eine gefährliche Art an meinem Kopfe zu leiden" 38 . Das Beispiel Hölderlins zeigt, daß die ,Lustfeindlichkeit' eigentlich das Sekundäre an dieser Haltung war; das Zeitalter stand im Zeichen der Heilserwartung durch Erziehung. Wenn die realen Kinder als Hoffnung auf eine bessere Zukunft entdeckt wurden oder besser: wenn der stets latente Kind-Mythos jetzt diese Gestalt annahm, so war alles zu verhindern, was einer effektiven Ausbildung zum künftigen Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Brauchbarkeit zu „bürgerlichen Geschafften" 3 9 im Wege stand. Zum wichtigsten Teil der Erziehung wurde das „Verhüten" 4 0 . August Wilhelm Schlegel gehörte zu denen, die den , Verrat' an Rousseau sahen und hinter den Tugenden, die der Philanthropismus lehren wollte, die „oekonomischen Maximen" erkannte: „Denn die Sittlichkeit, worauf alles scheinbar zielt, ist doch nichts anders als oekonomische Brauchbarkeit." 4 1 Basedow, auch sonst extremen Positionen zuneigend, zermarterte sich, um ja — im wahrsten Sinne des Wortes — alle nur irgendwie beweglichen Glieder für die Gesellschaft nutzbar zu machen: „Ein Blinder hat Hände und Füße, ein Tauber das Gesicht und alle Glieder. Ist jedes Armenhaus schon so eingerichtet, daß die brauchbaren Kräfte seiner Bewohner mit Nutzen können angewendet werden?" 4 2 Es war nötig, die Stellung der Philanthropisten zu Erziehung und Kind eingangs kurz so pointiert negativ zu umreißen 43 und sie so mit dem zu Beginn dieser Arbeit ausführlich diskutierten Mythos vom Kind zu konfrontieren. Denn die restriktiven Aspekte der „Verhütung" — von schlechter Lektüre — waren auch literarisch maßgebend für die Richtung, die das Gros der Kinderbücher in dieser Zeit nahm. Die positiven Errungenschaften — beginnende Befreiung der Erziehung vom kirchlichen Einfluß, Einführung des Realien-Unterrichts u . v . a . m . — hatten weit weniger direkte Wirkung auf das literarische Kinderbuch, als auf die Schulbücher 44 . Die 38

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Vgl. Brief N r . 92 vom 16. 1. 1795 an die Mutter - ebenda S. 630-631 und Brief N r . 93 vom 19. 1. 1795 an die Mutter - ebenda S. 634 (Zitat). Trapp: Versuch einer Pädagogik (1780), S. 191; zum Begriff des Bürgers in der Aufklärung siehe die knappe Ubersicht bei Sauder: Empfindsamkeit Bd. 1 (1974), S. 50-57. Trapp: Versuch einer Pädagogik (1780), S. 211. A. W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst (1802-1803) Bd. 2, S. 64; dazu Buck: Rousseau und die deutsche Romantik (1939), S. 90, vgl. auch ebenda S. 92 zu Tiecks Kritik. Basedow: Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker (1913; EA 1770), S. 170. — Hinter diesen Ausführungen steht nicht etwa, wie der moderne Leser vermuten könnte, der Gedanke an eine Resozialisierung Körperbehinderter! Vgl. auch die bewußt tendenziöse Anthologie aus pädagogischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts von Katharina Rutschky (Hrsg.): Schwarze Pädagogik (1977). Grundlegend ist hier immer noch die historische Darstellung von Bünger: Entwicklungsgeschichte des Volksschullesebuches (1898); vgl. auch Dietrich Boueke: Lesebuch. — In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 2 (1977), S. 350—352, dort auch weitere Literatur.

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negative Skizze sollte auch zeigen, weshalb das Kind zwar gleichsam zum mythischen Gefäß bürgerlicher Hoffnungen, aber weder mythische noch symbolische Gestalt der Kinderliteratur — die Ausnahme Weiße bestätigt nur die Regel — werden, noch zu einer im modernen (romantischen) Sinne kindlichen oder etwa ,kindertümlichen' Literatur Anstoß geben konnte: Schenda beispielsweise spricht — etwas ahistorisch denkend — von der „mangelnden Kindertümlichkeit" der meisten Kinderbücher des ausgehenden 18. Jahrhunderts 45 . Entstehung, Rolle und Funktion von Kinderliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 46 sowie ihre traditionsschaffende Macht lassen sich an Werk und Person Christian Felix Weißes am besten darstellen. Er und nicht Campe — oder einer der zahlreichen kleineren und kleinsten Schriftsteller — ist die exemplarische Gestalt für die damalige „schöne" Literatur für Kinder 4 7 .

2. Von der Notwendigkeit, den Geschmack zu bilden: Weißes Ästhetik Einen der „plus célebres [!] Poètes de l'Allemagne" 1 nannte ein Franzose Weiße noch 1782. Und wirklich galt der Name Weiße etwas in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Er war einer der meistgespielten deutschen Dramatiker, machte den Blankvers im deutschen Drama heimisch, begründete in Anlehnung an das französische Théâtre italien das deutsche Singspiel, dessen Lieder zu den ersten wirklichen

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Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 80. Neuerdings hat Wolfgang Promies einen Uberblick über die „Kinderliteratur im späten 18. Jahrhundert" gegeben (in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd. 3 [1980], S. 765—831, 924—938); vgl. jetzt auch die von Hans-Heino Ewers herausgegebene Anthologie „Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung" (1980, erschienen 1981). Die Kinderbücher, die bekannte Autoren wie Lavater, Karl Philipp Moritz und August Ludwig Schlözer schrieben, sind keine .literarischen Kinderbücher' in unserem Sinne, sondern Sachbücher oder religiöse Kinderbücher. — Zu Lavater siehe Ewers: Lavater als Autor von Kinderbüchern (1980) und Michels: Bibliographie der Kinder- und Jugendbücher von Lavater (1980). — Moritz hat vier Kinderbücher und einen Beitrag zu Campes „Kleiner Kinderbibliothek" (10. Bdchn.) geschrieben, vgl. die Bibliographie in Schrimpf: Moritz (1980), S. 79 — 82. Zwei der Kinderbücher sind jetzt im Nachdruck zugänglich: Neues ABC-Buch/Kinderlogik (1980), das Nachwort von Horst Günther auch in: Schiefertafel 2 (1979), S. 49 — 56. — Von Schlözer ist seine „Vorbereitung zur Weltgeschichte für Kinder" (1779, sechs Auflagen bis 1806) am bekanntesten, siehe unten S. 176 und Margarete Dierks: Schlözer. - In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 3 (1979), S. 286—287 sowie Wegehaupt: Schlözers „Vorbereitung einer Weltgeschichte für Kinder" (1980), jetzt auch Brunken: Der Professor aus Göttingen und die rappelköpfigen Bauern (1981). Berquin: L'Ami des enfans No. 1, Janvier 1782, S. V (Prospectus).

2. Ästhetik

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.Schlagern' wurden 2 . Sein Lied „ O h n e Lieb' und ohne Wein,/ Was wär' unser Leben" aus dem Singspiel „Die verwandelten Weiber oder Der Teufel ist l o s " 3 war das beliebteste Lied der Zeit und wurde bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gesungen 4 . Weiße war nach Geliert der populärste Dichter Deutschlands 5 ; sein Ruhm bei den Neuern aber begann Anfang der siebziger Jahre zu sinken. Der Tragödiendichter Weiße hat schon Ende der sechziger Jahre an sich zu zweifeln begonnen; Lessings Dramaturgie jagt ihm Furcht ein: „[. . .] er hält mir unaufhörlich den Shakespear [sie] vor: dieser Spiegel erschreckt mich, und ich sehe darinnen einen Zwerg, der nur Gelächter erreget" 6 . Weiße ist unsicher geworden, die neue Literatur treibt ihm vollends alle Lust zu weiteren Trauerspielen aus 7 . Er haßt das allzu tolle ,Shakespearisieren' 8 , eifert gegen Goethe, Lavater, Herder und „andere dieser Parthey" 9 , und über die „Frankfurter Gelehrten Anzeigen" zürnt er: „ I n der That vergeht einem bei solchen Kunstrichtern alle Lust zu dichten." 1 0 Noch 1785 hat er sich an die moderne Literatur nicht gewöhnt: „Immer hängt mir noch der altväterische Geschmack von Plane, Ordnung, Wahrscheinlichkeit u . s . w . an [. . - ] " 1 1 . Er fühlt sich unsicher, seit die alte Poetik außer Kraft gesetzt wurde, und ersehnt von Ramler, seinem literarischen Abgott, dem er fast alle seine Werke zur Verbesserung vorlegt, „eine Theorie von dem Drama nach Ihrer Idee: vielleicht wäre das das Mittel [,] die Kunstrichter zu vereinigen und eine Feuersäule aufzustellen, die Melpomonens Schüler erleuchten und erwärmen k ö n n t e . " 1 2 Weiße gehört zu jenen Dichtern, die ohne verbindliche Theorie verloren sind; Minors Spott über ihn als „Hamletnatur, wo sie an die Parodie streift" 1 3 , ist sicher zu böse und hat seinen Ursprung in der Absolutsetzung eines klassisch-romantischen Dichtungsideals. Auch Weißes wachsende Empfindlichkeit gegen schlechte Kritiken 1 4 ist Zeichen der Verunsicherung eines vor allem mit seinen Trauerspielen ästhetisch veraltenden 2 3

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Vgl. dazu auch Hinck: Das deutsche Lustspiel (1965), S. 312. Bearbeitung (1766) von Coffeys „The Devil to Pay or the Wives Metamorphosed"; siehe dazu Minor: Weiße (1880), S. 130-157; Minors Monographie ist nach hundert Jahren immer noch unentbehrlich. Anger: Nachwort zu Weiße: Scherzhafte Lieder (1965, EA 1758), S. 14; zur Verbreitung der Werke Weißes vgl. unten S. 162-170. Vgl. Minor: Weiße (1880), S. 373. Brief Nr. 29 vom 4. 5. 1768 - Briefe von Weiße an Ramler I, S. 43. Brief Nr. 51 vom 20. 10. 1772 - ebenda II, S. 186. Brief Nr. 33 vom 17. 10. 1768 - ebenda II, S. 164. Brief Nr. 15 vom 20. 5. 1775 - Briefe aus Weißes Nachlaß, S. 491; vgl. auch im Brief an Uz vom 2. 4. 1776, unmittelbar nachdem Weiße Goethe begegnet war: „[. . .] alles ist itzt Lavaterisch, Goethisch, Herderisch, Lenzisch [. . .]" — Weisse an Uz, S. 1203. Brief vom 13. 10. 1772 - ebenda S. 1170. Brief Nr. 93 vom 20. 1. 1785 - Briefe von Weiße an Ramler III, S. 271. Brief Nr. 51 vom 20. 10. 1772 - ebenda II, S. 187. Minor: Weiße (1880), S. 25. Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 290.

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Dichters: „Voller Angst erwarte ich die Recension meiner lezten Trauerspiele in der Allgem. B i b l i o t h e k . " 1 5 Auch wenn Weiße in seinen „ P o e t e n nach der M o d e " 1 6 Gottschedianer (im Poeten „ R e i m r e i c h " ) wie Bodmerianer (im Poeten „ D u n k e l " ) gleichermaßen verspottete, so konnte doch der einstige Gottsched-Schüler, Mitglied in dessen deutscher Redner-Gesellschaft in Leipzig, seinen Lehrmeister nie ganz verleugnen. Weiße hielt sogar 1749 im Hause Gottscheds die Lobrede auf den verstorbenen Grafen Manteuffel, die Gottsched selbst in einem „ E h r e n m a a l " drucken ließ 1 7 . Die Parodie in den „ P o e t e n nach der M o d e " wollte und konnte Gottsched nur als Dichter, nicht als Theoretiker treffen; Weiße sprach v o m „Streit zwischen den wäßerigen und einherdonnernden Poeten auf dem Parnasse", w o „Gottsched und Schönaich

an der Spitze der einen gähnte, und Bodmer

vor der andern herum t r a m -

pelte."18 Freilich wandelten sich viele Kernbegriffe der Poetik nach Gottsched auch für Weiße; sein Gewährsmann in allen Dichtungsfragen war Karl Wilhelm Ramler mit seiner Ubersetzung von Charles Batteux* „Principes de la littérature" 1 9 , der freilich Gottscheds Poetik und dessen antike und französische Vorbilder nicht völlig umstieß, sondern in entscheidenden Punkten modifizierte 2 0 . N e u und wichtig für Weiße waren die Wandlung des Naturbegriffs, der Naturnachahmung, die N e u fassung des Geschmacksbegriffs sowie die ausdrückliche Zulassung der O p e r , was den erfolgreichen Singspielautor Weiße besonders berührte. Weißes Ästhetik, ein 15 16

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Brief Nr. 86 vom 6. 2. 1781 - Briefe von Weiße an Ramler III, S. 264. Vgl. dazu Minor: Weiße (1880), S. 9 0 - 9 5 ; entstanden 1751, bei Minor auch die wichtigsten zeitgenössischen Urteile. Vgl. ebenda S. 12—13; !i Ehrenmaal, welches dem weiland erlauchten und hochgebornen Reichsgrafen und Herrn Ernst Christoph [. . .] von Manteuffel [. . .] aufgerichtet worden. (Hrsg. von Johann Christoph Gottsched). — Leipzig 1750, S. 96—112 (vorhanden in der Landesbibliothek Dresden). Brief vom21. 3. 1766 - Briefe deutscher Gelehrten an Klotz (1773) Bd. 1, S. 5 5 - 5 6 . Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften Bd. 1—4 (3. Aufl. 1769, EA 1758) — Batteux' „Principes de la littérature" (EA 1764) vereinigen drei verschiedene, zuerst einzeln erschienene Abhandlungen, von denen die erste die auch in unserem Zusammenhang wichtigste ist: „Les Beaux-Arts réduits à un même principe" (1746); „Cours de Belles-Lettres, distribué par exercices" (1750); „De la Construction oratoire" (1763). — Vgl. auch die Arbeit von Irmela von der Lühe: Natur und Nachahmung in der ästhetischen Theorie zwischen Aufklärung und Sturm und Drang. Untersuchungen zur Batteux-Rezeption in Deutschland (1979), vor allem zu Johann Adolf Schlegels Batteux-Rezeption ; Weiße wird nicht erwähnt, und die Arbeit nimmt selten Bezug auf die literarische Praxis. Gottsched übersetzte ja selbst einen Auszug aus Batteux' „Principes de la littérature", der 1754 in kleiner Auflage als Grundtext für seine Vorlesungen „mit verschiedenen Zusätzen und Anmerkungen" erschien — siehe Gottsched: Ausgewählte Werke. Bd. 10: Kleinere Schriften, Teil 2, S. 389—405 (Vorrede und Einladungsschrift) und den Kommentar S. 680—681.

2. Ästhetik

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Begriff, den er selbst noch nicht gebraucht, interessiert hier freilich nur insoweit, als seine Literatur f ü r Kinder davon betroffen ist. Im Gegensatz zu fast allen Kinderbüchern seiner Zeit werden Dichtung und Dichter in Weißes Kinderzeitschrift „ D e r Kinderfreund" selbst zum T h e m a . 2 1 Im fiktiven Familienkreis 2 2 des „Kinderfreundes" gibt es auch einen Dichter, der, wenngleich bisher nirgends näher gewürdigt, von zentraler Bedeutung ist. A l s Weißes A l t e r ego vertritt er dessen Ästhetik, ist er derselbe Dichtertyp, freilich in der Selbstdeutung. Dieser fiktive Dichter schreibt aber auch f ü r Kinder und ist damit Symbolgestalt f ü r den in Weißes Augen idealen Poeten und Kinderbuchautor. Er wird den Lesern vorgestellt als [. . .] Herr Spirit, ein Dichter voller Empfindsamkeit, Edelmuth und Menschenliebe, der mit den schönen Wissenschaften sehr bekannt, und hauptsächlich in den witzigen Schriften der alten und neuen Völker wohl belesen ist. Er unterhält meine Kinder mit der Mythologie, oder der alten Fabellehre und Göttergeschichte, weil man ohne diese die Dichter nicht leicht verstehen würde, und weiß sie durch seinen Vortrag ungemein anmuthig zu machen: er zeigt ihnen die feinen Anspielungen, die darinnen liegen, und erklärt ihnen die Beschaffenheit eines Gedichts und die verschiedenen Gattungen derselben. Bald liest er ihnen aus unsern Dichtern schöne Stellen vor, und läßt sie rathen, warum dieß oder jenes schön sey, so wie er ihnen auch bisweilen etwas Schlechtes vorliest, um sie auf die Probe zu stellen, ob sie solches auch empfinden, und ihm die Ursachen davon anzugeben wissen [• · ·]· Dann ist von seinen W e r k e n die Rede, kleinen Liedern, Schäfergedichten, Fabeln, Erzählungen, Sinngedichten und kleinen Schauspielen, die im „ K i n d e r f r e u n d " eingestreut sind, von seiner gründlichen Kenntnis der alten und neuern bildenden Kunst, v o n seinem Zeichentalent: Kurz er besitzet die Fähigkeit [,] das Schöne überall zu empfinden, und von dem, was es mehr oder weniger ist, wohl zu unterscheiden, das ist, mit einem Worte einen guten Geschmack. In seinem Aeusserlichen ist er [. . .] nicht nur reinlich, sondern äusserst galant in seinem Anzüge, nach der strengsten Mode gekleidet, und würde lieber sich nicht satt essen, als mit unreinlichen Manschetten oder schmutzigen Strümpfen erscheinen. Dieß erhebt seinen wohlgebauten Körper und seine angenehme gefällige Bildung. Von dem Frauenzimmer hat er eine ganz besondere hohe Meynung, und meine Mädchen sind ihm vorzüglich gut. Er hat selbst über die Erziehung viel Gutes geschrieben, und suchet eine Hofmeisterstelle bey einem Prinzen, die er auch gewiß in jeder Absicht verdienet. 2 3 Die Charakterisierung Spirits enthält verschiedene programmatische Begriffe der aufklärerischen Ästhetik. G r ö ß t e Beachtung verdient, daß der Name v o n Weißes 21

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Von der bisherigen Forschung unbeachtet; die „Kinderfreund"-Monographie Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974) berührt ästhetische und engeren Sinn literarhistorische Fragen nur am Rande. — Auf die Beschreibung inhaltlicher Aspekte beschränkt sich die wenig ergiebige Arbeit von Fankhauser: Kinderfreund (1975; ungedruckte Diss. N e w York). Vgl. dazu unten S. 1 7 1 - 1 7 4 . Weiße: Kinderfreund Th. 1 (1776), 1 . - 5 . St., S. 2 6 - 2 8 ; benutztes Exemplar: StaatsStadtbibliothek Augsburg: S 823.

von im rein Der

und

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Dichter poetologisch das Altertümlichste an ihm ist; modern f ü r die damalige Zeit ist höchstens die Verwendung des englischen statt des deutschen Wortes: Witz. A l s ästhetischer Schlüsselbegriff geht er über G o t t s c h e d auf Christian Wolff z u r ü c k ; ihm z u f o l g e ist der Witz (esprit) „ d i e Leichtigkeit, die Ähnlichkeit w a h r z u n e h m e n " u n d entsteht „ a u s einer Scharfsinnigkeit u n d guten Einbildungskraft und G e d ä c h t n i s " 2 4 . W o l f f s Witz-Begriff meint nach heutigem Verständnis eine verstandesgelenkte Einbildungskraft; und Gottsched betont ausdrücklich, daß eine „ g a r zu hitzige Einbildungskraft [. . .] unsinnige Dichter" mache, wenn „ d a s Feuer der Phantasie nicht durch eine gesunde Vernunft gemäßiget" w e r d e 2 5 . In Weißes „Briefwechsel der Familie des K i n d e r f r e u n d e s " findet sich eine typische Modifikation dieses G o t t schedischen G e d a n k e n s : „ D a s H a u p t i n g r e d i e n z " für einen guten Dichter sei „ e i n e blühende und lebhafte Einbildungskraft", freilich „ d u r c h Geschmack und Kritik berichtiget" 2 6 . D a m i t gibt Weiße eine Umschreibung seines ,Witz'-Verständnisses: D e n n bei aller Differenzierung der Begriffe Einbildungskraft 2 7 und Witz bei Zeitgenossen und Vorgängern Weißes 2 8 meint Witz bei ihm auch „vernunftabhängige Einbildungskraft"29. V o n weit größerer Bedeutung für Weißes Ästhetik wie f ü r den „ K i n d e r f r e u n d " ist jene Eigenschaft Spirits, die im Begriffe des guten Geschmacks zusammengefaßt wird. Dessen G r e n z e ist freilich ebenfalls durch die Vernunft bestimmt 3 0 , doch hat man erkannt, daß diese nicht ausreicht z u r Erklärung der Hervorbringung der K ü n s t e und z u ihrer Beurteilung. Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts rückt der Geschmacks-Begriff „ i m m e r mehr ins Zentrum der ästhetischen D i s k u s s i o n . " 3 1 24

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Wolff: Von dem Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt. Fünftes Kapitel aus der Deutschen Metaphysik (Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen) aus dem Jahr 1720. - In: Brüggemann (Hrsg.): Das Weltbild der deutschen Aufklärung (1930), S. 82. Zu Begriff und Problem des Witzes in der Aufklärung vgl. besonders Blackall: Entwicklung des Deutschen (1966), S. 293—322; ferner Böckmann: Formprinzip des Witzes (1932/33). Gottsched: Critische Dichtkunst (3. Aufl. 1742). - Ausgewählte Werke Bd. 6,1, S. 158. Weiße: Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes Th. 2 (1784), S. 54-55. Campe definiert Einbildungskraft noch ganz im Gottschedischen Sinne als „das Vermögen ehemalige Empfindungen oder Vorstellungen zu erneuern". — Campe: Von der nöthigen Sorge für die Erhaltung des Gleichgewichts unter den menschlichen Kräften (1785), S. 299. Vgl. auch Markwardt: Geschichte der Poetik Bd. 2 (1970), z.B. S. 77 vor allem aber ebenda das systematische Register. So umschreibt Hohner: Zur Problematik der Naturnachahmung (1976), S. 65 ,Witz' bei Gottsched. Vgl. Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (3. Aufl. 1769) Bd. 1, S. X I - X I I . Vgl. den Artikel „Geschmack" von Karlheinz Stierle (Geschmack in Frankreich), Hannelore Klein (England) und Franz Schümmer (Deutschland) — in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3 (1974), Sp. 444-456; Zitat Sp. 446 (Stierle); siehe auch Cassirer: Philosophie der Aufklärung (1932), S. 397—417: „Das Geschmacks-

2. Ästhetik

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Ursprünglich ein Begriff der Moralistik bei Baltasar Gracián („El Discreto" 1646), kennzeichnet ,gusto' den vollkommenen Weltmann; ähnlich betrifft bei La Rochefoucauld und anderen das Geschmacksurteil die Künste nur insoweit, als sie dem ,gesellschaftlich-ästhetischen Bereich' zugehören.32 In der cartesianischen Ästhetik Fontenelles, Houdar de la Mottes und Crousaz' schließlich wird Geschmack als „natürliches Vermögen des Menschen", das per definitionem dem Vorurteil entzogen ist, zum „vorweggenommenen Verstandesurteil".33 Auch in Deutschland, wo man an die französischen Autoritäten anknüpft, verbindet der Geschmacksbegriff Moralistik und Ästhetik. Gottsched rechnet den Geschmack noch zu den „verworrenen Vorstellungen" 34 , doch wird Johann Ulrich Königs Formulierung von 1727 beispielgebend sein: Er nennt den Geschmack die „Fertigkeit des Verstandes, das Wahre, Schöne und Gute zu empfinden" 35 . Und so sind das „Gute und Schöne" auch für Batteux und dessen Ubersetzer Ramler „zwey Wörter, die fast einerley Bedeutung haben, wenn man sie in der Nähe ansieht." 36 Bereits um 1760 sind „Geschmack und Sitten, Herz und Geschmack, Tugend und guter Geschmack, das Wahre und Schöne [. . .] gleichsam Komplementärbegriffe geworden [. . .]" 3 7 . Bei Johann Elias Schlegel, Geliert, August Friedrich Boeck und anderen wie auch in manchen Moralischen Wochenschriften finden sich solche Gedanken. 38 Freilich bleibt in allen ästhetischen Fragen Ramler Weißes Gewährsmann. So beschreibt jener „den Geschmack als eine Fertigkeit, das Gute, das Schlechte, das Mittelmäßige zu empfinden und mit Gewißheit zu unterscheiden." 39 Im „Kinderfreund" läßt Weiße seinen Magister Philoteknos über den Geschmack dozieren und folgt dabei fast wörtlich Ramlers Formulierungen: „Nach meinen Gedanken besteht der gute Geschmack in der Fertigkeit das Gute und das Schlechte, das Schöne, Mittelmäßige und Häßliche zu empfinden und mit Gewißheit zu unterscheiden [. . .]." 4 0 Der gute Geschmack wird auch für Weiße zum Zentralbegriff ästhetischen und gesellschaftlichen Verhaltens, da er sich „in allen unsern Handlungen, in unsern Gesprächen und in unsern Sitten äußert." 41 Und mit Ramler/Batteux fordert er eine

32

33 34 35

36 37 38 39 40 41

problem und die Wendung zum Subjektivismus". - Abhandlungen des 17. und 18. Jahrhunderts zum Geschmacksproblem verzeichnet Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste Th. 2 (3. Aufl. 1792), S. 3 7 7 - 3 8 5 (Artikel „Geschmak"). Vgl. Stierle: Geschmack. — In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3 (1974), Sp. 445. Ebenda Sp. 447. Vgl. ebenda Sp. 451. In "J. U. König: Untersuchung von dem guten Geschmack als Anhang zu: Des Freyherrn von Caniz Gedichte (1727), S. 259. - Zit. nach ebenda Sp. 451. Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (3. Aufl. 1769) Bd. 1, S. 56. Martens: Botschaft der Tugend (1968), S. 456. Ebenda S. 457 Anm. 111 und S. 456. Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (3. Aufl. 1769) Bd. 1, S. 57. Weiße: Kinderfreund Th. 21 (1781) 274. St., S. 5. Ebenda Th. 20 (1781) 271. St., S. 171.

144

I. Christian Felix Weiße

frühzeitige

Bildung

des

Geschmacks

bei Kindern*2,

ähnlich wie J o h a n n

Adolf

Schlegel, der in den ergänzenden Abhandlungen zu seiner B a t t e u x - U b e r s e t z u n g zwischen dem .guten G e s c h m a c k ' und dem Gewissen eine Verwandtschaft feststellt und behauptet: „Die allezeit in dem Gefolge

Menschlichkeit

und die Tugenden

der schönen Künste;

des Umgangs

finden

sich

das ist u n l e u g b a r . " 4 3 Diese allgemeinen

Feststellungen überträgt Schlegel auch auf die Kindererziehung und diskutiert in „ V o n der frühzeitigen Bildung des G e s c h m a c k e s " Einzelfragen und L e k t ü r e e m p fehlungen 4 4 , die uns n o c h beschäftigen werden. Sulzer schließlich, der den Stand der ästhetischen Diskussion zusammenfaßt und systematisiert, erklärt die Bildung des Geschmacks zur „ g r o ß e n Nationalangelegenheit", weil Vernunft und Sittlichkeit dadurch mehr befördert würden als durch die „ h ö h e r n W i s s e n s c h a f t e n " 4 5 . Weiße repräsentiert z w a r mit dem Gedanken einer E r z i e h u n g z u m guten G e schmack allgemeine T e n d e n z e n seiner Zeit, er ist aber der einzige, der mit seinen Kinderbüchern, vor allem d e m „ K i n d e r f r e u n d " , versucht, diese ästhetische gesellschaftliche E r z i e h u n g 4 6 in die Tat umzusetzen. Ziel ist nun nicht etwa die E r z i e h u n g

42

Ebenda S. 170; Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (3. Aufl. 1769) Bd. 1, S. 113—122: „Von welcher Wichtigkeit es ist, den Geschmack frühzeitig zu bilden, und wie man ihn bilden sollte". — Auch eine Moralische Wochenschrift nimmt Batteux' Forderung auf: „Wer an der Verbesserung des Geschmacks bey Kindern arbeitet, der bereitet ihre Herzen zur Empfindung alles dessen, was schön, edel, großmüthig in der Aufführung ist." - "Der Greis. Magdeburg 1763—1765, 78. St. — Zit. nach Martens: Botschaft der Tugend (1968), S. 453.

43

Schlegel/Batteux: Einschränkung der schönen Künste (3. Aufl. 1770) Th. 2, S. 5 3 - 7 8 : „Von der Nothwendigkeit, den Geschmack zu bilden", Zitate S. 56 und 62, Hervorhebung im Original (die Abhandlungen im zweiten Teil stammen alle von Schlegel selbst). Ebenda S. 79—130; in der ersten Auflage von 1751 sind diese und die in der vorigen Anmerkung genannte Abhandlung noch nicht enthalten, allerdings bereits in der zweiten von 1759 (S. 2 5 1 - 2 7 2 bzw. S. 2 7 3 - 3 0 9 ) . Sulzer: Geschmak. — In: Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste Th. 2 (3. Aufl. 1792), S. 376. Schiller geht mit seiner ästhetischen Erziehung von einer grundsätzlich anderen Position aus. Er leugnet, was man „schon zum Ueberdruß" habe hören müssen, nämlich „daß das entwickelte Gefühl für Schönheit die Sitten verfeinere"; denn die Erfahrung zeige, „daß man beynahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet, und auch nicht ein einziges Beispiel aufweisen kann, daß ein hoher Grad und eine große Allgemeinheit ästhetischer Kultur bey einem Volke mit politischer Freyheit, und bürgerlicher Tugend, daß schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit derselben Hand in Hand gegangen wäre." Diese Einsicht in die tatsächlichen Verhältnisse unterscheidet Schiller von seinen Vorgängern; er ist damit einer der ersten, der eine Art .tragischer Literaturgeschichte' entwirft: „Wohin wir immer in der vergangenen Welt unsre Augen richten, da finden wir, daß Geschmack und Freyheit einander fliehen, und daß die Schönheit nur auf den Untergang heroischer Tugenden ihre Herrschaft gründet." Schillers ästhetische Erziehung mußte Utopie bleiben, weil er schließlich die Erfahrung als Richterin in der

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45

46

2. Ästhetik

145

zum Künstler; der Geschmack ist zwar als Mittel der Wirkung „ein Werkzeug des Künstlers, womit er wählt, ordnet und ausziert", aber dieses Vermögen der Seele ist „bey dem Liebhaber [. . .] genießend, indem es Vergnügen erwekt, und das Gemüth fähig macht, die Werke der schönen Künste zu nutzen."*7 Erziehung durch Werke des Geschmacks zusammen mit der Bildung des Geschmacks durch Erörterungen der Frage, „was Geschmack und Kunst ist", die Weiße bereits für Kinder vom zwölften Lebensjahr fordert 4 8 , sind der eigentliche Zweck seines „Kinderfreunds", wobei man sich stets den weiten Begriff des .guten Geschmacks' vor Augen halten muß, der das Schöne und Gute gleichermaßen umfaßt. Denn der „Mensch kann nicht anders glücklich seyn, als in so fern sein Geschmack in allen Fällen seiner Vernunft gemäß ist." 4 9 Ausgleich von Empfindung und Vernunft bis hin zur Identität beider ist die Forderung Weißes an seine jungen Leser. Vergnügungen, die nur die Empfindungen und nicht den Verstand 50 ansprechen, werden verworfen; dauerhaftes Vergnügen ohne Reue gewähren nur „die geistigen Vergnügungen — die aus Verstand und Herzen entspringen" — ein Ausspruch des neunjährigen Karl 51 , der sich damit als gelehriger Schüler zeigt. Zu einer „allegorischen Fabel" vom „guten Geschmack" erklärt Mentor-Weiße: „[. . .] meine Absicht war, dich zu lehren, daß sich der gute Geschmack auch bis auf die Reinlichkeit und edle Einfalt in unserm Aeußerlichen und in unserm Anzüge erstrecke." 5 2 In diesem Sinn ist der Dichter Spirit auch die Personifizierung des „guten Geschmacks" und damit im Jahre 1775 ein bewußtes Gegenbild zur Genieästhetik, zur modernen Dichtung der Zeit überhaupt. In seinem Brief „Ueber die Bildung des Geschmacks" rät Spirit noch 1785, nur zu lesen, „was schon das Gepräge eines durchgängig anerkannten guten Geschmacks trägt", und warnt vor den „ungeheuren Dramen" und den modernen „unharmonischen Gedichten", die

philosophischen Diskussion doch nicht zuläßt, sondern mit der transzendentalen Methode Kants eine idealistische Lösung des Widerspruchs sucht, die nie und nirgends Realität werden konnte. — Schiller: Ü b e r die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1794). - Werke Bd. 20, S. 3 0 9 - 4 1 2 , Zitate S. 337, 339, 340. 47 Sulzer: Geschmak. — In: Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste T h . 2 (3. Aufl. 1792), S. 372 (Hervorhebung von mir). 48 Weiße: Kinderfreund T h . 21 (1781), 275. St., S. 26: „ I m 12ten, 13ten und 14ten Jahre kann man schon darnach fragen, was Geschmack und Kunst ist, drüber nachdenken, und sich um die Geschichte derselben bekümmern, da das gerade die Jahre sind, w o der Eindruck zart und der Geschmack sich zu bilden anfangen m u ß , wenn man jemals Geschmack haben will, so wie dieß die Jahre sind, wo man ihn am ersten verwöhnen und verderben k a n n . " 49 Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (3. Aufl. 1769) Bd. 1, S. 113 bis 114. 50 Weiße unterscheidet nicht oder selten zwischen Vernunft und Verstand. 51 Weiße: Kinderfreund T h . 4 (1776), 57. St., S. 97. « Ebenda T h . 8 (1777), 111. St., S. 1 0 1 - 1 0 8 , Zitat S. 108.

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I. Christian Felix Weiße

keinem sanften Strome gleichen. 53 Gleichzeitig mit dieser „widernatürlichen" Dichtung „ohne Wahrscheinlichkeit" 54 sei der Ton bei manchen Schriftstellern rauh geworden, was diese dann Freiheits- und Wahrheitsliebe nennen würden: „Wahrheit und Freyheit aber bedürfen gerade keinen löcherigten Mantel, oder altvaterischen Kittel, und die Rechtschaffenhèit keinen ungeschorenen Bart, oder Möbeln aus unserer Großväter Zeiten." 5 5 Man sieht, wie planvoll und überlegt die Symbolik des ,guten Geschmacks' von Weiße durchgehalten wird: Wir erinnern uns, daß Herr Spirit „nach der strengsten Mode" gekleidet ist. In einem andern Teil des „Kinderfreundes" führt Weiße die Grobheit „verschiedener neumodischer Schriftsteller" 56 noch näher aus: „Es giebt heut zu Tage Leute, selbst witzige Schriftsteller, die Grobheit für Witz, Laune, Genie, Energie oder Kraft halten [. . , ] " 5 7 . Und er gibt ein drastisches Exempel eines solchen Kraftgenies 58 „in einem runden Hute, in Stiefeln, und einem derben Prügel" 5 9 . Wie wichtig ihm diese Abwehr der modernen Literatur ist, zeigt der beigegebene Kupferstich des genialisch-groben Lümmels. Für Weiße drückt die strengste Mode den ,guten Geschmack' im Sinne der Batteux'schen Poetik aus — die aber ist um 1775 eigentlich schon veraltet, wenn wir die fortgeschrittenste ästhetische Position dagegen halten. Die altvaterischen Kittel und Möbel aus der Großväter Zeiten sind Symbol für mehr als eine Art Literatur, gegen die sich Weiße und mit ihm viele andere seiner Zeit wenden 60 . Batteux ist es auch, der den Geschmacksgegenstand als „schöne Natur" neu bestimmt: „Die Natur, das heißt, alles, was ist, oder was wir uns leicht als möglich vorstellen können, ist das Urbild oder das Muster der Künste." 6 1 Der aufklärerische Naturbegriff ist weit gefaßt; er umgreift die gegenwärtige physische, moralische, politische, historische, aber auch die „idealische oder mögliche Welt" ebenso wie die antike Mythologie. 6 2 Die Schilderung von Spirits Belesenheit 63 drückt also nichts anderes aus, als daß er die ,Natur' kennt. Schon für Gottsched gehörten „Kunst und 53

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61 62

Weiße: Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes Th. 4 (1785), S. 2 5 9 - 2 8 2 , Zitate S. 268-269. Ebenda S. 269. Ebenda S. 2 8 0 - 2 8 1 . Weiße: Kinderfreund Th. 17 (1780), 223. St., S. 17. Ebenda S. 15. Ebenda S. 1 7 - 2 0 . Ebenda S. 18. — Bruford (Die gesellschaftlichen Grundlagen der Goethezeit [1936], S. 56) verweist darauf, daß solch .englische Kleider' damals für Reise und Alltag immer beliebter wurden, doch „nur das .Genie' der siebziger Jahre [. . .] diese Tracht stets und bei jeder Gelegenheit als ein Zeichen der Rückkehr zur Natur" trug. Vgl. oben S. 139. — Bereits im ,,Génie"-Artikel der „Encyclopédie" traten .génie' und ,goût' in Opposition: „Der goût als konventioneller Geschmack kann den spontanen Produktionen des génie nicht mehr gerecht werden." — Stierle/Klein/Schümmer: Geschmack. — In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3 (1974), Sp. 447. Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (3. Aufl. 1769) Bd. 1, S. 18. Ebenda S. 1 8 - 1 9 .

2. Ästhetik

147

Gelehrsamkeit" zusammen, und er meinte, der Dichter solle „zum wenigsten von allem etwas wissen" 64 . Weiße fordert vom Dichter, daß er sich bemühe, ein „wahrer Gelehrter" zu sein, und beinahe in jeder Wissenschaft Kenntnis aufweisen solle 65 . Dahinter steht freilich auch die Vorstellung von der Dichtung als „ars popularis", die Wissenschaft und Erkenntnisse den philosophisch nicht Gebildeten vermittle66. Der Dichter muß über dieses umfassende Wissen souverän verfügen können, weil es Ramler/Batteux zufolge seine Aufgabe ist, die Natur „nicht so, wie sie an sich selbst ist, sondern so wie sie seyn kann und wie sie sich denken läßt", darzustellen67. Da die „schöne Natur" Typisches und Ideales verkörpert68, erhält die Literatur einen mehr oder weniger ausgeprägten utopischen Grundzug, indem sie den Leser „in eine vollkommenere Sphäre" 69 versetzt, als er in „der Natur, oder im bürgerlichen Leben, welches hier einerley ist", vorfindet70. Weiße wiederum greift diese Gedanken im „Kinderfreund" direkt auf, wenn er die Natur mit „der gegenwärtigen Welt" in eins setzt und ausführt: Die Kunst bildet der Natur nach [. . .]. Aber er [der Künstler] kann noch mehr thun; er kann durch seine Einbildungskraft, das, was in der Natur fehlerhaft erscheint, in seiner Nachbildung wegbringen und Etwas bessers an seine Stelle setzen, [. . .] und so noch schönere und vollkommnere Gestalten hervorbringen, als ihm die Natur darbeut. 71

Der Dichter - auch der Kinderbuchautor — setzt etwas Besseres an die Stelle der fehlerhaften gegenwärtigen Welt. Die Verkennung dieses utopischen Charakters gehört zu den typischen Mißverständnissen unserer Tage; so sieht Schenda die fiktive Familie des Kinderfreundes als absichtliche Täuschung des Lesers an, und er fühlt sich an das Millionärs-Interieur von Hollywoodfilmen erinnert72. Die direkte Vermittlung von Literatur und Realität wird auch der Literatur der Aufklärung nicht gerecht, die als Teil des großen Programms zur Verbreitung von Verstand und Tugend zum Zwecke allgemeiner Glückseligkeit73 per definitionem auch eine bessere Welt zeigen muß, weil sie dadurch eine bessere Welt schaffen zu können glaubt. So stiftet Herr Spirit durch seine Werke oft mehr Gutes „als durch die strengsten Sitten63 64 65 66

67

68 69 70 71 72 73

Siehe oben S. 141. Gottsched: Critische Dichtkunst (3. Aufl. 1742) - Ausgewählte Werke Bd. 6,1, S. 154. Weiße:" Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes Th. 2, (1784), S. 54. Vgl. Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung (1974), S. 1 4 - 1 6 ; daß diese Ansicht auch in den Moralischen Wochenschriften zu finden ist, verwundert nicht. Vgl. Martens: Botschaft der Tugend (1968), S. 445-448. Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (3. Aufl. 1769) Bd. 1, S. 28. Daß diese und die folgenden Ausführungen Batteux' nur Variationen von Kernbegriffen der „Poetik" des Aristoteles sind, sei hier nur am Rande erwähnt. Ebenda S. 31 und 86. Ebenda S. 85. Ebenda S. 145. Weiße: Kinderfreund Th. 21 (1781), 274. St., S. 6 - 7 . Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 74. Vgl. auch Siegrist: Das Lehrgedicht (1974), S. 1 2 - 1 9 : „Die Funktion der Dichtung".

I. Christian Felix Weiße

148

l e h r e n " 7 4 . O d e r mit den W o r t e n des Kinderschriftstellers Weiße, wiederum auf den Geschmack bezogen: Denn, wie ich schon erinnert habe, sind physische und moralische Schönheit mit einander so verwandt, daß [. . .] sie als verschiedene Abstufungen in der Schale der Vortrefflichkeit anzusehen sind, und die Kenntniß der ersten und der Geschmack an derselbigen, als ein Schritt zu den noch edlern und bleibendem Freuden der letztern ist. 7 5 Wir haben Weißes ästhetische Grundsätze auch deshalb so ausführlich dargestellt, um zu zeigen, daß sich die Ästhetik der Kinderliteratur grundsätzlich nicht von der allgemeinen Ästhetik der Aufklärung unterscheidet; wir werden sehen, daß die Unterschiede im Detail stecken: in der Stoffwahl und der ,Stilistik'. Weißes Ästhetik aber findet ihren eigenartigsten Ausdruck in einem für die Zeit wohl einmaligen poetologischen Kindergedicht 7 6 :

Der Geschmack. Ein

Liedchen.

f. . .] O Geschmack! wo find ich dich? Lehrt dich Bücherweisheit mich? Sagt mir Richtscheit, Ebenmaas, Jens sey schön und häßlich das? Wohnest du bey Groß und Macht? Liebst du Lärm und Flitterpracht? Bist du Silber, bist du Gold, Oder bunten Steinchert hold? — Nein; wie würd ich von der Flur, Die die lächelnde Natur, Bloß mit ihrer Einfalt schmückt, Mehr als im Palast entzückt? Fänd ich Auen, Thal und Höhn, Selbst in ihrer Wildheit schön? Voller Reiz und Trefflichkeit Einer Ros' einfarbig Kleid? Rauschte mir ein Wasserfall Lieblich? Säng die Nachtigall Mir so schön? war mir der Most Einer Traube, Götter Kost?

74 75 76

Weiße: Kinderfreund T h . 1 (1776), 1 . - 5 . St., S. 27. Weiße: Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes Th. 4 (1785), S. 264. Der Rezensent der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek" (Trapp) meint zwar: „Bey dem Liede [. . .] möchten wohl die wenigsten Kinder etwas denken" (ADB 49, 2. St., 1782, S. 527), doch sei hier auf Weißes Vorstellungen verwiesen. — Vgl. oben S. 145.

2. Ästhetik

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Fand ich jenes Marmorbild Von so hohem Reiz erfüllt, Wo die Kunst, versteckt mit List, Darlehn der Natur nur ist? [. . .] '

O ich sehs, nur du Natur, Zeigst mir zum Geschmack die Spur! In der Schöpfung Schönheit find Ich; du seyst ihr achtes Kind; Auch ein Kind, nach Kindes Art, Ungeschmückt, unschuldig, zart, Voller edlen Einfalt, frey. Und der Wahrheit stets getreu. Mutter des Geschmacks, Natur! Leite, lehre du mich nur! Durch ein unverderbt Gefühl, Führst du sicher mich zum Ziel. 77

Bereits in der erwähnten „allegorischen Fabel" vom „guten Geschmack" nimmt dieser ein „artiges Mädchen", ein natürliches Kind, „zur immerwährenden Gefährdinn": Ihr schönes blondes Haar flog ungepudert in natürlichen Locken um ihren weißen Hals, und ihr Haupt deckte nichts als ein kleiner weißer Basthut. Sie hatte ein leichtes seidnes Kleid von einer blendenden Weiße an, und war mit nichts, als einigen blühenden Rosen und Jasminen geschmückt, deren Monat eben war. Reizendes Geschöpfe! wer bist du? oder wer ist deine Mutter? Ich heiße Simplidtät, und meine Mutter heißt Natur.™ Indem Weiße auf den Mythos vom Kind als ursprünglicher Natur zurückgreift und im zitierten Gedicht den Geschmack bzw. in der ,Fabel' die Simplizität des Geschmacks durch die symbolische Gestalt des Natur-Kindes verkörpert, erreicht er eine ästhetische Position, die Batteux und Ramler hinter sich läßt und bereits an Schillersche Gedanken anklingt: das Kind als „Vergegenwärtigung" eines aufgegebenen Ideals 79 . Doch gelingt es Weiße in seinen Werken für Kinder nicht allzu oft, diese Position zu halten, anders als in seinen Singspielen und komischen Opern, wo „Ungekünsteltheit und Naivität [. . .] in den ländlichen Sitten und bei den ländlichen Liebenden" nicht wenig zur Popularisierung des Naiv-Komischen beigetragen haben 8 0 . Die zukunftweisenden Aspekte seiner Kinderliteratur jedoch, von denen noch im einzelnen die Rede sein wird, werden nicht zuletzt durch sein per77 78 79

80

Weiße: Kinderfreund Th. 20 (1781), 272. St., S. 178-181. Ebenda Th. 8 (1777), 111. St., S. 106-107. Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96). - Werke Bd. 20, S. 416; vgl. dazu oben S. 39 im Kapitel über den Mythos vom Kind. Hinck: Das deutsche Lustspiel (1965), S. 302 - 314, Zitat S. 311.

150

I. Christian Felix Weiße

sönliches Dichtertum, seine Schaffensweise oft zunichte gemacht. Darüber hinaus aber stand er mit seinem Anspruch einer ästhetischen Erziehung der von C a m p e angeführten Phalanx von Philanthropisten gegenüber, die letztlich dichtungsfeindlich waren 8 1 .

3. Die Rolle der Kinderliteratur in der bürgerlichen Gesellschaft: Weißes Selbstverständnis und Dichtertum Das bürgerliche Zeitalter und der Aufstieg der bürgerlichen Literatur in Deutschland wurden von Gegensätzen geprägt. 1 D e m N o r m a l - B ü r g e r und seinem Nützlichkeitsdenken w a r eine Literatur verständlich und aktzeptabel, die vor allem ökonomische Tugenden lehrte; den Utilitarismus der damaligen Pädagogik kennen w i r 2 . Lessing ( 1 7 6 8 ) wußte von den Vorurteilen gegen „Verse und K o m ö d i e n " als „Spielwerke" 3 , — ein Begriff, den auch Weiße verwandte. U n d so war eine N u r - D i c h t e r - E x i s t e n z im 18. Jahrhundert so gut wie unmöglich 4 ; die bürgerliche Gesellschaft hatte dafür ebenso wenig Sinn wie die meisten rückständigen deutschen Fürsten. Weiße w a r sich wie andere seiner Zeit dieser Situation durchaus bewußt, und er riet — seine Rolle als . M e n t o r ' durchbrechend und im ,wir' auch sein eigenes Schicksal beschreibend — im „Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes" denen, die „Neigung und Beruf zu einem D i c h t e r " in sich fühlten, zu studieren, nicht nur weil ein Dichter gelehrt sein müsse: Es kömmt dazu, daß unsere politische Einrichtung in Deutschland so beschaffen ist, daß wir, wenn uns die Fürsehung kein großes Vermögen gegeben, nothwendig zu unserer und 81

1

2 3 4

Einer der literarisch aufgeschlosseneren ist Ernst Christian Trapp, der einzige unter den Philanthropisten, der sich nicht gegen Märchen für Kinder ausspricht (siehe oben S. 102). Offensichtlich auch ein Verehrer Weißes (Trapp: Versuch einer Pädagogik [1780], S. 108 u.ö., wo er Weißes Kinderbücher lobt), empfiehlt er Batteux in Ramlers Ubersetzung der erwachsenen Jugend zur Bildung des Geschmacks (ebenda S. 408). Zwar wendet auch Trapp sich gegen „Modeschriften"; Sterne, Richardson und Goethe werden durch ihre Werke namhaft gemacht (ebenda S. 406). Aber anders als die meisten Pädagogen setzt er wie Weiße ein ästhetisches Programm dagegen. Von der älteren Forschung seien besonders hervorgehoben: Bruford: Die gesellschaftlichen Grundlagen der Goethezeit (1936) und Muschg: Tragische Literaturgeschichte (4. Aufl. 1969), S. 3 5 6 - 4 0 4 ; vor allem im Kapitel „Die Armut", das der bürgerlichen Kultur und Dichtung gewidmet ist, — aber auch sonst — sieht Muschg klar die Zusammenhänge von Sozialgeschichte und Literatur. Vgl. auch ebenda S. 377 und oben S. 1 3 4 - 1 3 7 . Lessing: Hamburgische Dramaturgie. 96. Stück (1768). — Werke Bd. 4, S. 671. Zu diesem Problem siehe Haferkorn: Zur Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz und des Schriftstellers in Deutschland zwischen 1750 und 1800 (1974); einen Uberblick bietet Ungern-Sternberg: Schriftsteller und literarischer Markt. — In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd. 3 (1980), S. 1 3 3 - 1 8 5 , 8 4 9 - 8 6 2 (Anm.).

3. Selbstverständnis und Dichtertum

151

der unsrigen Erhaltung ein sogenanntes Brodstudium wählen müssen, und als bloße Dichter und Belletristen selten oder gar nicht unser Fortkommen finden: ob mit Recht oder Unrecht, will ich nicht untersuchen. Es würde auch zu nichts dienen: denn es ist nun einmal so, und wir machen nichts besser. 5 Solche Aussagen sind typisch für W e i ß e : E r kennt seine Lage, schätzt die soziale Rolle des Dichters in der bürgerlichen Gesellschaft richtig ein, läßt Kritik anklingen, im G r u n d e aber akzeptiert er mit einer gewissen Laschheit den status q u o , sogar wenn damit eigentlich das H e r z der Dichtung getroffen wird. G o e t h e und Schiller rechneten unter die Erscheinungen des Dilettantismus der Neuzeit auch Wielands „ L a x i t ä t " 6 , was freilich weniger endgültiges Urteil als eine Folge ihrer „ungeduldigen und u n f r e u n d l i c h e n " 7 Haltung war, die sich bei beiden im Verlaufe der Dilettantismus-Diskussion gegenüber vielem ausbildete, das strengster Prüfung

nicht

standhielt:

„Schöngeisterey,

Musenalmanache,

Journale"8.

Muschg nannte Wieland einen D i c h t e r o h n e Schicksal 9 , das erklärt dessen „ L a x i t ä t " , und das trifft auf W e i ß e in noch h ö h e r e m M a ß e zu. Seine Selbstbiographie 1 0 ist eine der langweiligsten, und tatsächlich bietet weder seine äußere noch seine innere Biographie Außergewöhnliches. Als Student war er in Leipzig mit Lessing befreundet (seit 1745), man dichtete gemeinsam Verse, übersetzte für die N e u b e r s c h e T r u p p e englische sowie französische Stücke und schrieb erste eigene (Lessing: „ D e r junge G e l e h r t e " ; W e i ß e : „ D i e M a t r o n e von E p h e s u s " u . a . ) . W e i ß e wurde dann Theaterdichter für die K o c h s c h e T r u p p e in Leipzig; seit 1750 H o f m e i s t e r des Grafen von G e y e r s b e r g , reiste er mit ihm bis nach Paris ( N o v e m b e r 1759—Mai 1760) und traf in M o n t m o r e n c y sogar zu einem längeren G e spräch mit Rousseau zusammen. D e r sprach über die M e n s c h e n , die böse wären nur aus dem Vergnügen, böse zu sein, jener k o m m e n t i e r t e in seiner Selbstbiographie — wie stets von sich in der dritten Person redend — : „ W e i ß e und sein F r e u n d behaupteten vielmehr das Gegentheil [. . , ] " 1 1 . Sein weiterer Lebensweg ist der Beweis für diesen O p t i m i s m u s . 1760/61 war er n o c h kurze Zeit Gesellschafter des Grafen Schulenberg, b e v o r er 1762 durch P r o t e k t i o n die Kreissteuereinnehmer-Stelle in Leipzig erhielt, ein A m t ,

„ b e y welchem er den Musen nicht untreu

werden

d ü r f t e " 1 2 . U n d in der T a t gewährte es ihm ein ansehnliches E i n k o m m e n und „ M u ß e für seine litterärischen B e s c h ä f t i g u n g e n " 1 3 ; bald darauf heiratete er. Kreissteuereinnehmer, angesehener P o e t , Herausgeber (seit 1759) des Rezensionsorgans „ B i 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Weiße: Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes Th. 2 (1784), S. 5 5 - 5 6 . Goethe: Über den Dilettantismus. - Werke Abt. I, Bd. 47, S. 313. Brief Nr. 4057 vom 29. 5. 1799 an Schiller - ebenda Abt. IV, Bd. 14, S. 105. Goethe: Uber den Dilettantismus. - Ebenda Abt. I, Bd. 47, S. 313. Muschg: Tragische Literaturgeschichte (4. Aufl. 1969), S. 342. Weiße: Selbstbiographie (1806), vom Sohn und Schwiegersohn ergänzt. Ebenda S. 72. Ebenda S. 77. Ebenda S. 95.

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bliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste" (seit 1765: „Neue Bibliothek [. . . ] " ) 1 4 , lief sein Leben nun gleichförmig dahin. Häusliche Unfälle, Krankheiten, ungerechte Kritiken, ein Kopist, der mit der Kasse durchging, das waren seine Sorgen. Ganz Deutschland nannte seinen Namen nur mit seinem Amtstitel 15 , und Goethe erinnert sich an seine Leipziger Begegnung von 1768: Kreissteuereinnehmer Weiße, in seinen besten Jahren, heiter, freundlich und zuvorkommend, ward von uns geliebt und geschätzt. Zwar wollten wir seine Theaterstücke nicht durchaus für musterhaft gelten lassen, ließen uns aber doch davon hinreißen, und seine Opern, durch Hillern auf eine leichte Weise belebt, machten uns viel Vergnügen. 1 6

Vor allem in den Briefen kokettiert Weiße mit der im 18. Jahrhundert durchaus üblichen Verbindung von Amt und Dichterberuf; gespielte Bescheidenheit, grenzenlose Eitelkeit kennzeichnen nicht nur dieses Lob und Mitleid heischende Verhalten. Er stilisiert sein literarisches Schaffen ganz nach dem Typ des beamteten Literaten, und zwar so sehr, daß seine offensichtlichen Ubertreibungen bisweilen karikaturistische Züge tragen. Die Entstehung seines Trauerspiels „Die Befreiung von Theben" schildert er 1763 so: Die Muse gab ihm „unter einen grossen Schwärm geschwäziger Bauern ein, ein Trauerspiel in engl. Versen ohne Reime zu verfertigen, die Feder sezte an, und lief ab, wie ein Uhrwerk: was kann man sich von solchen fieberhaften Anfällen Gutes versprechen, wo der Kopf mit dem Einmal-eins zu thun hat, und die Hand Verse schreibt?" 1 7 Zwei Jahre später tönt es in einem Brief an Klotz ebenso, und Weiße fragt sich: „[. . .] wie kann es also anders kommen, als daß dasjenige, was ich oft unter dem Tumulte von einer Menge Bauern aufs Papier werfe, gar nicht diejenige Politur hat, die Horatz von den Dichtern verlangt." 1 8 Noch 1779 erklingt das gleiche Klagelied in einem Brief an U z . 1 9 Wie sehr das wirklich Stilisierung ist und wie wenig ihn die Verbindung von Amt und Schriftstellerei wirklich stört, hat er später in der Selbstbiographie zugegeben 20 . Und auch die Art seiner Produktion bestätigt das. Er selbst charakterisiert die Entstehung seiner Dramen, und hier dürfen wir ihm glauben: „Leicht, unbeschreiblich leicht flöß ihm dabey der Dialog der handelnden Personen, er mochte in gereimten Alexandrinern oder reimfreyen Jamben, in gebundner oder ungebundner Rede niedergeschrieben werden." 2 1 So leicht Weiße produzierte, so virtuos er die dramatischen Formen und Schemata

14 15 16 17 18

19 20 21

Vgl. dazu Minor: Weiße (1880), S. 2 9 8 - 3 4 2 : Weiße als Bibliothekar. Ebenda S. 43. Goethe: Dichtung und Wahrheit. 8. Buch. - Werke Abt. I, Bd. 27, S. 181. Brief Nr. 5 vom April 1763 - Briefe von Weiße an Ramler I, S. 7. Brief an Klotz vom 30. 3. 1765 - Briefe deutscher Gelehrten an Klotz (1773) Bd. 1, S. 48. Brief Nr. 17 vom Herbst 1779 - Briefe aus Weißes Nachlaß, S. 493. Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 1 6 6 - 1 6 7 . Ebenda S. 166; vgl. auch Briefe Nr. 2 vom 11. 10. 1762, Nr. 3 vom 22. 11. 1762, Nr. 7 vom 6. 2. 1764 — Briefe von Weiße an Ramler I, S. 4 und 9.

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beherrschte 22 , so sehr haßte er nicht nur detaillierte Pläne vor der Ausführung 23 , sondern auch über die erste Niederschrift hinaus alles Verbessern oder Ändern. Das überließ er willig seinen Freunden, vor allem Ramler, dessen Urteil er sich blind unterwarf. Weiße kannte seine Oberflächlichkeit, ja er glaubte ζ. B. noch kein Buch „mit der gehörigen Aufmerksamkeit" gelesen zu haben 2 4 , dennoch las er viel und alles durcheinander 25 . Eine der Folgen davon war, daß er sich mehr auf der Woge des Geschmacks — im Verstand des 18. Jahrhunderts — treiben ließ, als daß er ihn je steuerte. Zwar hatte er ein ausgesprochenes Bedürfnis nach ästhetischer Theorie, nie aber nach der Rechtfertigung seines literarischen Tuns: Der bürgerliche Beruf war die Rechtfertigung 26 . Weißes Verhältnis zu seiner eigenen Dichtung war durchaus zwiespältig; Selbstbiographie und Briefe zeugen davon, wie selten er „aus innerm Drange" dichtete 27 . So schrieb er an Ramler: „Meine Laufbahn mit der Komischen Oper soll, so bald ich noch ein Stücke zur Erfüllung des 4ten Bandes gefertigt, vollendet seyn [. . .]. Und dann, mein liebster Rammler, was dann?" 2 8 Und wir müssen wiederum an der Aufrichtigkeit seiner Worte zweifeln, wenn er ein mögliches Ende seiner Schriftstellerlaufbahn kommentiert: „[. . .] doch die Welt verliert nichts dabey und ich auch nicht." 2 9 Die scheinbare Geringschätzung der eigenen Werke als „Spielwerke" ist nichts als die Rechtfertigung des Bürgers für den eigentlich „verbotenen Umgang" 3 0 mit den Musen. Wäre nicht der hohe Wert der Künste in Weißes ästhetischer' Erziehung der Kinder, die Überzeugung, daß Kunst mehr sein kann als 22 23 24 25 26

27 2e 29 30

Vgl. auch Steinmetz: Komödie der Aufklärung (3. Aufl. 1978), S. 58. Brief N r . 52 vom 2. 11. 1772 - Briefe von Weiße an Ramler II, S. 190. Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 272. Ebenda S. 275. Vgl. auch Goethe: Dichtung und Wahrheit. 10. Buch. - Werke Abt. I, Bd. 27, S. 295—296: „Gesellte sich hingegen die Muse zu Männern von Ansehen, so erhielten diese dadurch einen Glanz, der auf die Geberin zurück fiel. Lebensgewandte Edelleute, wie Hagedorn, stattliche Bürger, wie Brockes, entschiedene Gelehrte, wie Haller, erschienen unter den Ersten der Nation, den Vornehmsten und Geschätztesten gleich. Besonders wurden auch solche Personen verehrt, die, neben jenem angenehmen Talente, sich noch als emsige treue Geschäftsmänner auszeichneten. Deßhalb erfreuten sich U z , Rabener, Weiße einer Achtung ganz eigner Art, weil man die heterogensten, selten mit einander verbundenen Eigenschaften hier vereint zu schätzen hatte." Goethe sah darin auch den Grund für das Entstehen des Dilettantismus; in Stichworten notiert er: „Allgemeine verbreitete — ich will nicht sagen — Hochachtung der Künste, aber Vermischung mit der bürgerlichen Existenz und eine Art von Legitimation derselben." (Uber den Dilettantismus. Ebenda Bd. 47, S. 326.) Weiße war kein Dilettant; dazu ist seine Kunst zu objektiv, sein technisches Können zu groß. Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 157. Brief N r . 53 vom 15. 2. 1773 - Briefe von Weiße an Ramler II, S. 191. Ebenda S. 192. Weiße an Klotz, Brief vom 5. 4. 1766 - Briefe deutscher Gelehrten an Klotz (1773), Bd. 1, S. 59.

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,Spielwerk' oder bloße Didaktik, Weiße würde sich bruchlos in die Reihe der übrigen Kinderschriftsteller der Zeit einfügen. Nicht allein, daß ein .mittelmäßiger Kopf' wie Weiße und ,kein großes Dichtergenie' am Beginn des literarischen Kinderbuchs stand und so dem ,Dilettantismus Mut machte', ,sich gleichfalls darin zu versuchen' — wir übertragen hier fast wörtlich Formulierungen aus Goethes und Schillers „Dilettantismus-Schema" über die Entstehung der Dichtersprache im 18. Jahrhundert auf die Entstehung der Kinderliteratur 31 — , nicht allein das, sondern auch die Tatsache, daß mit Campe eine ausgesprochener Dichtungsfeind die Kinderliteratur mitbegründete, entfremdete diese Spezies in Deutschland lange Zeit den Dichtern wie auch später der Literaturwissenschaft. Es ist offensichtlich noch niemanden bisher so recht aufgefallen, daß Weiße und Campe als Kinderbuchautoren und persönlich so gut wie nichts verbindet. Als dieser 1788 die Frage aufwarf, ob man Kinder Komödien spielen lassen dürfe, erwähnte er bei der Musterung der bisherigen Stücke für Kinder Weiße mit keinem Wort, ja nochmehr: Er behauptete, es gäbe in allen Sprachen bisher kein einziges vortreffliches Stück für Kinder 32 , und das, obwohl 1776—1782 Weiße im „Kinderfreund" Bändchen für Bändchen insgesamt 24 Kinderschauspiele geliefert hatte. Der Grund dafür liegt in Weißes und Campes grundsätzlich verschiedenen Auffassungen von der Rolle der Dichtung und des Dichters in der Gesellschaft. Die mangelnde Differenzierung der Kinderliteratur dieser Zeit und vor allem das Übergewicht pädagogischen Interesses an ihr haben die Unterschiede verwischt und dazu geführt, daß man den rührigen Campe als Begründer der Kinderliteratur aufs Panier hob. Für Campe aber gab es in der bürgerlichen Gesellschaft keinen Platz mehr für Dichter und Dichtung; bereits Walter Muschg hat betont, daß das durchschnittliche bürgerliche Publikum des 18. Jahrhunderts dem Aufstieg seiner Dichter nicht gewachsen war: „Jede geistige Existenz, die sich über seinen beschränkten Horizont erhob, geriet in einen leeren Raum und mußte notwendig materiell zugrunde gehen, wenn sie nicht von anderswoher Hilfe erhielt." 33 Campe ist der repräsentative Vertreter für solche Einstellung; in seiner „Kleinen Kinderbibliothek" schilderte er seine Reise durch Deutschland und pries gelegentlich seines Besuchs in Braunschweig zwei Erfinder: Das waren Christian Mumme, welcher das nach ihm benannte weit und breit berühmte Bier, und der Bildhauer Jürgen, welcher den Gebrauch und die Verfertigung der Spinnräder erfand. Beide erwarben sich dadurch einen Verdienst um ihre Zeitgenossen und um die Nachwelt, welches in meinen Augen größer und beneidenswerther ist, als das Verdienst des Odendichters oder Epopeensängers [Anm. Campes: Ein Epopeensänger ist ein Dichter, der ein Heldengedicht verfertigt hat, z. E. Homer und Virgil.], wenn auch jene bei der Nachwelt kaum genannt und diese von ihr vergöttert werden sollten. Denn alles, was eine 31 32 33

Goethe: Uber den Dilettantismus. — Werke Abt. I, Bd. 47, S. 313. Campe: Soll man Kinder Komödien spielen lassen? (1788), S. 208. Muschg: Tragische Literaturgeschichte (4. Aufl. 1969), S. 377.

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nützliche Geschäftigkeit befördert, müßige Hände in Thätigkeit setzt, und Nahrung und Wohlstand in einzelne Familien und in ganze Länder bringt, das ist, nach meinem Urtheile, schätzbarer, als die erstaunlichsten Früchte des Geistes, die nur zu einer vorübergehenden oft nicht sehr nützlichen Beschäftigung der Einbildungskraft dienen können, welche in unsern Imaginationskranken Zeiten nur leider! schon zu sehr geschäftig ist. —34 Wegen dieser Ausführungen stellte man Campe „öffentlich und hart zur Rede"; seine Entschuldigung ging an der Sache vorbei: Er habe bloß für Kinder geschrieben, um sie vom Versemachen abzuhalten, und außerdem lege er „nicht immer jeden Ausdruck auf die Goldwage [!]" 35 . Campe traute der Dichtung offensichtlich keine menschenbildende, bessernde Kraft mehr zu 3 6 . Nur zögernd und halbherzig gestand er: „Ohnstreitig kann die Tugend unter den bildenden Händen der schönen Künste und Wissenschaften wunderbaren Reiz erhalten", aber er sprach der Kunst — und das war im Zeitalter der Aufklärung wie der Klassik gleich ungeheuerlich — jede tiefer gehende Wirkung ab: „Aber alle diese seligen Rührungen sind nur v o r ü b e r g e h e n d [. . .]. Ein Lüftchen sinnlicher Zerstreuung weht darüber: und sie sind nicht mehr." 3 7 Den Kindern bläute er ein, sich „nie zu einem engern Verhältniß mit Virtuosen, Sehern, schönen Geistern und Dichtern" zu drängen; wer den Nutzen dieser „Klasse von Geistern" richtig abschätze, werde feststellen, daß „die Zeiten, in denen sie wirklich für etwas vorzüglich Verdienstliches gehalten werden könnten, schon längst vorüber sind." 38 Es klingt, als wäre es direkt auf Campe gemünzt, wenn Sulzer in seiner „Allgemeinen Theorie der Schönen Künste" feststellt, daß ein praktischer Kopf „Sachen des Geschmaks" verachte und seinen Blick nur auf das „Brauchbare" richte 39 . Campe hängt einer engen, vor allem der Frühaufklärung zugehörenden, aber bis in die Antike zurückreichenden Auffassung an, wonach die 34

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Campe: Reise von Hamburg bis in die Schweiz (1786). — In: Campe (Hrsg.): Kleine Kinderbibliothek Th. 2, S. 45. — Zur Empfindsamkeitsdiskussion siehe oben S. 72-74. Campe: Statistische Nachrichten von der Progression der Deutschen im Versemachen (1788), S. 380-381. Johannes Daniel Falk rechnete in seinem ^„Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satyre" von 1802 in der Vorrede mit den zeitgenössischen Pädagogen ab; Campe ist die Verkörperung des „Oekonomism": „[. . .] und von nun an wird alles praktisch, alles innerhalb der Objekte der fünf Sinne und der Bürgerwelt beschränkt. Die Erziehung für den Staat beginnt; man fängt an, Ballen zu binden; Horaz und Virgil müssen dem — lateinischen Robinson weichen [. . .]. So e r z i e h e n S c h r i f t s t e l l e r ! " — zit. nach einem anonymen Aufsatz in Wielands „Neuem Teutschen Merkur": Pädagogik des achtzehnten Jahrhunderts (1802), S. 104-105. Campe: Statistische Nachrichten von der Progression der Deutschen im Versemachen (1788), S. 382 und 383. Campe: Theophron (1815, EA 1783) Th. 1, S. 158-159; selbst für den dichtungsfreundlicheren Trapp waren Poeten keine „zu Geschäfften brauchbaren Menschen" — Trapp: Versuch einer Pädagogik (1780), S. 347. Sulzer: Geschmak. — In: Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (3. Aufl. 1792) Th. 2, S. 374.

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Dichtung lediglich rhetorisch aufgeputzte Wahrheit vertreten solle und nur in Zeiten des Ubergangs „aus der Nacht der Barbarey zu der Morgenröthe der Aufklärung" von Nutzen sei. Einmal mehr zeigt sich hier, wie wenig Aufklärung bei den kleinen Geistern als nie endender Prozeß des Denkens verstanden wird — Cassirer betont mit Vehemenz diesen Aspekt 4 0 —, sondern als etwas Erreichtes. Und so kann sich Campe bereits 1783 im „überwältigenden Lichtstrohm" der Aufklärung sonnen und die Dichtung als „Laternenglas" längst vergangener Nächte der Jugend gegenüber verächtlich machen: Aber ist es nicht lächerlich, vor dem Laternenpfahle deßwegen, weil er zur Nachtzeit nützlich war, am hellen Mittage das Haupt zu entblößen, und der hohen Sonne nicht zu achten, deren überwältigender Lichtstrohm den schwachen Schein desselben schon längst verschluckt hat. 4 1

Daß die Auffassung von der Unzeitgemäßheit der Dichtung in Deutschland mit einem ihrer Höhepunkte zusammenfiel, macht das Ganze nur noch tragischer; große Dichtung gab es seit dem 18. Jahrhundert nur als bürgerliche Dichtung, aber das Bürgertum verstieß seine Dichter. Das utilitaristische Denken ironisierend, beschrieb der englische Humanist und Satiriker Thomas Love Peacock 1820 die Rolle des Dichters in einer sich für aufgeklärt haltenden Gesellschaft; seine Satire liest sich wie ein direkter Kommentar zu Campe: A poet in our times is a semi-barbarian in a civilized community. He lives in the days that are past. His ideas, thoughts, feelings, associations, are all with barbarous manners, obsolete customs, and exploded superstitions. The march of his intellect is like that of a crab, backward. The brighter the light diffused around him by the progress of reason the thicker is the darkness of antiquated barbarism., in which he buries himself like a mole, to throw up the barren hillocks of his Cimmarian labours. 42

Campe selbst zählte sich spätestens 1783 nicht mehr zum „Orden der Schriftsteller" 4 3 . Der Geist, den er und andere beschworen hatten, prägte nicht nur viele pädagogische Kinderbücher der Zeit, sondern er wurde vergröbert zum .BourgeoisStandpunkt' schlechthin: Wenn Fontane 1888 versucht, mit seiner „Frau Jenny Treibel" das „Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeois-Standpunktes zu zeigen, der von Schiller spricht und Gerson [das führende Modehaus der Berliner Oberschicht 4 4 ] meint", und erkennt, daß dem Bürger das „ H ö h e r e " in Wahrheit nur „das Kommerzienrätliche, will sagen viel Geld" be-

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Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung (1932), bes. S. 1 4 - 1 8 u.ö. Campe: Theophron (1815, EA 1783), Th. 1, S. 159. Peacock: The Four Ages of Poetry. - Zit. nach Altick: The English Common Reader (1963), S. 134. Hervorhebung von mir. Vgl. zu diesem Problem neuerdings auch Ueding: „Was sich nie und nirgends hat begeben". Überlegungen zu einer Poetik der Kinder- und Jugendliteratur. - In: Ästhetik der Kinderliteratur (1981), S. 1 8 - 3 5 , bes. S. 2 5 - 2 6 . Campe: Theophron (1815, EA 1783) Th. 1, S. 159. Reuter: Fontane (1968) Bd. 2, S. 966.

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deutet 4 5 , so ist das zweifellos auch ein Stück Erbe utilitaristischer Pädagogik. W i r kennen A . W . Schlegels Behauptung, daß die Sittlichkeit der Philanthropisten nichts anderes sei als ökonomische Brauchbarkeit 46 . Campe, Mitherausgeber mehrerer Zeitschriften und Sammelwerke, geschäftstüchtiger Verlagsinhaber und Kenner des Literaturbetriebes 47 , ist für Göpfert der „Prototyp eines Aufklärungsverlegers" 4 8 . Er ist aber auch ein typischer Vertreter des Journalisten und Literaten 49 , der die Nützlichkeit der Journale gegenüber der Wirkungslosigkeit literarischer Kunstwerke pries 50 . Seine Schilderung der Bedeutung der Literatur für die „verfeinerte Lesewelt" trifft den tatsächlichen Zustand und bestätigt den utopischen Charakter von Weißes gesellschaftlich-ästhetischer Erziehung; für solche Leser, meint Campe, sei das Journal das angemessenste literarische Medium, denn sie würden schwerlich ein ganzes Buch durchlesen wollen: Aber alle diese guten Leute wollen denn doch auch einen gewissen Anstrich von Litteratur haben; wollen denn doch auch ein Wörtchen mitschwatzen, wenn in Gesellschaften von Litteratur geschwatzt wird; wollen denn doch auch die langweiligen Zwischenräume zwi45

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Fontane an seinen Sohn Theo, Brief vom 9. 5. 1888 - zit. nach Fontane: Sämtliche Werke Bd. 4, S. 717. Siehe oben S. 137. Zu Campe vgl. auch Fertig: Campes politische Erziehung (1977), zum Literaten und Verleger Campe bes. S. 28—35: „Ein nach Gemeinnützigkeit strebender Schriftsteller". Göpfert: Bemerkungen über Buchhändler und Buchhandel zur Zeit der Aufklärung (1974), S. 75. Die Unterscheidung von Dichtung und Literatur, oder von Dichter und Literat (vgl. Friedrich] Kainz: Literat. — In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte Bd. 2 [1926/28], S. 255—256) ist in der Vergangenheit oft mißbraucht worden. Dagegen sind mit Recht Stimmen laut geworden (vgl. z.B. Horst Rüdiger: Was ist Literatur? — In: Literatur und Dichtung [1973], S. 26—32; auch Conrady: Gegen die Mystifikation von Dichtung und Literatur. — ebenda S. 64— 78). Man hat dabei fast ausschließlich auf die konservative Literaturwissenschaft hingewiesen. Unbeachtet blieben meist die literargeschichtlichen Zeugnisse und die Selbstdeutungen der Dichter. Sobald nämlich die Kluft zwischen Dichter und Literat nicht mehr als Ausdruck einer mystifizierenden Wertsetzung, sondern als Unterschied in Intention und Produktionsweise, aber auch in der intendierten und tatsächlichen Rezeption verstanden wird, erschwert sie nicht mehr das „Verständnis des Gesamtphänomens Literatur" (Rüdiger, ebenda S. 27), sondern kann zur Differenzierung beitragen. Beide, Literat und Dichter, können, ästhetisch gesehen, als klassische Vorbilder „Maß des Möglichen" sein, um einen Ausdruck Rüdigers zu gebrauchen (ebenda S. 28). Doch entscheidet ästhetische Qualität nicht allein über den Rang einer Dichtung; Kunst und Literatur lassen sich ebenso mißbrauchen wie Wissenschaft: „Die Zukunft der Kunst hängt nicht von einer an sich sinnlosen Schönheit ab, wie die Zukunft der Völker nicht von ihrem Vorrat an Wasserstoffbomben, sondern von ihrem Vorrat an moralischen Energien." (Muschg: Der Ptolemäer. Abschied von Gottfried Benn. — In: Muschg: Die Zerstörung der deutschen Literatur [1965], S. 175—199, hier S. 199) Gerade die Ästhetik der Aufklärung ist geeignet, auch in der modernen Ästhetik eine Bindung des .Schönen' an das ,Wahre' wiederzubeleben. Campe: Beantwortung dieses Einwurfs [. . .] (1788), S. 34.

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sehen ihren eigentlichen Berufsgeschäften [. . .] mit irgend etwas ausfüllen, welches das, wie sie, mit W i e l a n d zu reden, spaßhaft genug ihren Geist zu nennen belieben, verhindern kann, sich in sich selbst, d . i . ins Vacuum zu versenken. 5 1

Warum Campe hier das geistige Vakuum des ökonomisch orientierten Bürgers bloßstellt, das Ergebnis der von ihm propagierten Erziehung zur Dichtungsfeindlichkeit und Brauchbarkeit, das mag zu den Widersprüchen der Epoche gehören, die er in sich verkörpert 5 2 . Solche Haltung ist aber zugleich ein Zeichen einer verantwortungslosen Doppelzüngigkeit des Journalisten Campe, der für Erwachsene anders schreibt als für Kinder, der um der Wirkung seiner Argumentation willen auch gern früher Geschriebenes vergißt, der von Freiheit spricht und damit nur die Freiheit seiner eigenen Ansichten meint, der von Aufklärung spricht und Erziehung zu einem Rechenexempel macht 5 3 . Unsere exemplarische und pointierte Kontrastierung von Weiße und Campe, ihrem Verständnis von Geschmack und Literatur, sollte helfen, zwischen einem mehr literarisch und einem fast ausschließlich pädagogischen Kinderbuchtyp 5 4 der Aufklärung zu unterscheiden.

4. Entstehung und Rezeption der Kinderbücher Weißes a) Entstehung Weißes Weg zum Kinderbuch ist exemplarisch für Entstehung und Intention der Kinderliteratur im 18. Jahrhundert, wie wir sie im ersten Teil dieser Arbeit umrissen haben: Auch Weißes Werke wenden sich gegen die alte mündliche oder schriftliche , Literatur' der Kinder wie gegen die moderne Dichtung. Denn das jugendliche Lesepublikum wurde nicht etwa erst jetzt „entdeckt" ; man war nur mit dessen wirklicher Lektüre unzufrieden. Bei Weiße verbirgt sich hinter allem Zeittypischen außerdem sein spezielles dichterisches Dilemma. Was er über den Anlaß der Entstehung seines ersten Kinderbuches, der „Lieder für K i n d e r " 1 berichtet, ist nur scheinbar persönlich: 51 52 53 54

1

Ebenda S. 37. Ähnlich auch Fertig: C a m p e s politische Erziehung (1977), S. 189—207. Siehe oben S. 135. Bereits Gervinus betonte, daß sich das meiste der pädagogischen' Kinderbücher — wie z.B. C a m p e s .Robinson' — nur durch die Materie, die Wahl des Stoffes, nicht durch die .Behandlung', die künstlerische Formung erhalten habe. - Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung (4. Aufl. 1853), Bd. 5, S. 3 2 0 - 3 2 1 . A n o n y m zuerst als: "Kleine Lieder für Kinder, zur Beförderung der Tugend mit Melodien [von Johann Adolf Scheibe] zum Singen beym Ciavier. T h . 1—2. — Flensburg: J o h . Christoph Körte 1766—68; wir zitieren nach der ebenfalls anonymen Ausgabe „ L i e d e r für K i n d e r " (1767).

4. Entstehung und Rezeption der Kinderbücher

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Im Jahr 1765 war Weiße zum erstenmal Vater geworden. Seine innige Freude darüber und die Anhänglichkeit an das kleine Geschöpf ward Ursache, daß er oftmals in der Nähe desselben war und die abgeschmackten Lieder der Amme und Kinderwärterin singen hörte. Das brachte ihn auf den Entschluß, kleine moralische Lieder für Kinder zu dichten. [. . .] Der dänische Kapellmeister S c h e i b e hatte sie schon nach der Handschrift in Musik gesetzt. 2

Das einzige was an dieser Schilderang stimmt, sind der erste und der letzte Satz; die Realität sah so aus: Ende August 1765 schrieb Weiße an Ramler: „[. . .] ich habe leztens dem Kapellmeister Scheibe, der mich darum ersuchte, ein paar Duzend kleine moralische [Lieder] zum Singen für Kinder gemacht." 3 Das deckt sich auch mit der Vorrede des ersten und erfolglosen Komponisten Scheibe. 4 Es handelte sich also um eine Auftragsarbeit, und der angebliche biographische Anlaß war reine Stilisierung, zumal das „kleine Geschöpf" damals kaum älter als ein halbes Jahr sein konnte. Auch der intendierte Ersatz der abgeschmackten Ammenlieder läßt sich als Topos weit zurückverfolgen s ; er enthebt den Kritiker der tatsächlichen Uberprüfung wie jeder Nennung von Beispielen: ein Grund dafür, daß man kaum je weiß, was das für Lieder waren. Die zeitgenössischen Rezensionen von Weißes „Liedern für Kinder" ähneln in ihren klischeehaften Wendungen der Stilisierung in der Autobiographie: Im „Magazin für Schulen und die Erziehung überhaupt" hofft man, daß Väter, Mütter und Hofmeister „diese reiz- und unschuldsvolle Lieder den faden Chansons einer süßlallenden Mamsell, oder andern abgeschmakten, auch zum Theil so gar geistlichen Gesängen, troz aller eingewurzelten Meinungen und Vorurtheile der alten Kinderstuben, vorziehen" 6 . Auch andernorts begrüßt man Weißes Lieder, denn „Kinder, die Musik oder Singen lernen sollen, haben immer bisher nichts als Buhlerliederchen gehabt" 7 , ein Begriff, der direkt auf Luther zurückgeht, heißt es doch in der Vorrede des Wittenberger Gesangbuches von 1524: Und sind dazu auch ynn vier stymme bracht, nicht aus anderer ursach, denn das ich gerne wollte, die iugent, die doch sonst soll und mus ynn der Musica und andern rechten künsten erzogen werden, ettwas hette, damit sie der bul lieder und fleyschlichen gesenge los werde und an derselben stat ettwas heylsames lernete, und also das guete mit lust, wie den ¡ungen gepürt, eyngienge. 8 2 3 4

5 6 7 8

Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 1 2 9 - 1 3 0 . Brief Nr. 12 vom 29. 8. 1765 - Briefe von Weiße an Ramler I, S. 14. In der auf August 1765 datierten Vorrede heißt es: „Seit einigen Jahren schon wollten Schreibe] und der Verleger dem Mangel [sc. an bedenkenlosen Liedern für die Jugend] abhelfen, aber ein Poet fehlte. U m so größer war die Freude, als Sch. vor einigen Wochen durch e i n e n u n s e r e r g r ö ß t e n D i c h t e r , dem er seinen Plan mitgetheilt, mit der Kinderlieder-Sammlung überrascht wurde." — Zit. nach Friedlärider: Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert (1902) Bd. 1,1, S. 111. Vgl. oben S. 60. Bd. 3 (1769), 3. St., S. 270. Jenaische Zeitung von gelehrten Sachen, 1767, 83 St., S. 685. Luther: Werke Bd. 35, S. 474.

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Man tut gut daran, skeptisch zu sein, wenn in der Kinderliteratur des 18. Jahrhunderts auf Vorbilder oder Anlässe in der Realität verwiesen wird. Für die Entstehung von Weißes zweitem Kinderbuch, dem „Neuen A,B,C.Buch" gilt Ähnliches. Auch hier personalisiert er Zeittypisches: Das Bedürfniß einer bessern Fibel, welches Weiße und seine Frau bey den ersten Versuchen, ihre Kinder [. . .] lesen zu lehren, wahrgenommen hatten, und der Mangel eines Büchelgens, worin man sie zuerst lesen ließe, brachte ihn auf den Gedanken, ein zweckmäßigeres ABC- und Lesebuch für kleine Kinder aufzusetzen. 9 Tatsächlich jedoch scheint auch hier der indirekte und sogar der direkte Anlaß von außen gekommen zu sein. Bereits 1769/1770 lernte Weiße Basedow kennen, der auf dem Werbefeldzug für sein „Elementarwerk" war. 1 0 Dem rührigen Basedow muß es gelungen sein, Weiße für seine Zwecke einzuspannen; Weißes „Neues A,B,C,Buch" entstand dabei mehr als Nebenprodukt 1 1 . Basedow aber war es in erster Linie nicht um Beiträge Weißes zu tun, er brauchte den berühmten Namen als Aushängeschild; in den reklametüchtigen „Vierteljährigen Nachrichten von Basedows Elementarwerk", die seit 1771 vor Erscheinen des Werkes (1774) das Interesse wachhalten sollten, wurde Weiße als Leipziger Ratgeber und als „Zeuge von des Verfassers Unternehmen" genannt 12 . Ende 1773 hatte Basedow die Arbeit am Elementarwerk beendet, das dann im Sommer 1774 erschien 13 . Weiße aber glaubte noch im Januar 1774, Basedow zähle auf seine Mitarbeit. In einem Brief an Ramler wertet er sein „Neues A,B,C.Buch" von 1772 ab: Ich habe eine Menge weit besserer, eigener, kleiner prosaischer Erzählungen für Kinder nebst verschiedenen kleinen Dramen, die ich aus den jeux de petite Thalie14 auf deutschen Boden verpflanzt und in Deutsche Sitten gekleidet, liegen: Diese aber habe ich zum Unglück Basedow schon vor 4. Jahren, da ich in Berlin war [,] versprochen, und nun muss ich mein Won halten: ich bin ihn schon angegangen, mich meines Versprechens zu entlassen: aber er hält fest, ob es ihm schon gleichgültig seyn könnte: denn er möchte meinethalben das ganze Abc-Buch seinem Elementarbuche einverleiben. 15 Weiße aber blieb auf den Erzählungen und kleinen Dramen — dazu später noch — sitzen; Basedow plünderte lediglich das „Neue A,B,C,Buch" ein wenig und über9 10 11

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Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 170. Vgl. Pinloche: Geschichte des Philanthropinismus (1914), S. 50; siehe auch Basedow: Elementarwerk (1909; hrsg. v. Fritzsch) Bd. 1, Einleitung des Hrsg., S. XIX. Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 170—171. Daß es „unter Anleitung Basedows" entstand, ist ein Mißverständnis Hurrelmanns: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 70. Zit. nach Basedow: Elementarwerk (1909; hrsg. v. Fritzsch) Bd. 2, S. 531-532. Ebenda Bd. 1, Einleitung des Hrsg., S. XXV-XXVI, XXIX. Vgl. dazu unten S. 216-218. Brief Nr. 57 vom 3. 1. 1774 - Briefe von Weiße an Ramler II, S. 200.

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nahm daraus ein Kirchenlied ( „ S o J e m a n d spricht: Ich liebe G o t t " 1 6 ) , eine Fabel ( „ D i e Nachtigall und der Z e i s i g " 1 7 ) und eine Verserzählung ( „ D a s Kind und die Scheere" 1 8 ), darüber hinaus die nicht originär Weißesche Idee einer Sittenlehre in Sprichwörtern. A u s den „ L i e d e r n für K i n d e r " findet sich entgegen Weißes eigener Behauptung 1 9 bei Basedow nichts. Besonders hervorzuheben an alledem ist, daß Weißes Arbeiten für Kinder seit 1765 kontinuierlich ein Teil seines Schaffens wurden und daß — so will es scheinen — letztlich die literarische M o d e oder, wie Weiße einmal formuliert, „ d a s Bedürfniß der Z e i t " 2 0 ihm die Feder in die H a n d gab. Ähnliche Entstehungsbedingungen kennzeichnen sein kinderliterarisches H a u p t w e r k , den „ K i n d e r f r e u n d " . N a c h d e m A d e lungs „ L e i p z i g e r Wochenblatt für K i n d e r " seinen wohltätigen Zweck erfüllt hatte 2 1 , wandte sich der Verleger 1775 mit Bitte u m Fortsetzung an Weiße; dieser empfahl zunächst einen andern, die Sache zerschlug sich, und er übernahm doch die A u f g a b e . N i c h t u m der biographischen Kuriosität willen, sondern weil die folgende Einzelheit gleichnishaft den literarischen und gesellschaftlichen O r t der Kinderliteratur in Deutschland bezeichnet, zitieren wir den konkreten Anlaß zum „ K i n d e r f r e u n d " : „Weiße war unterdessen so unglücklich gewesen durch eine Beschädigung am Fuße beym Durchbrechen einer kleinen B r ü c k e in einen langwierigen Hausarrest zu gerathen, und mehr Muße zu b e k o m m e n als er sich gewünscht h a t t e . " 2 2 N u r die unfreiwillige Muße erlaubte dem Bürger Weiße zu „kindern im genausten Wortvers t a n d e " — so nannte er diese Arbeit Ramler gegenüber 2 3 . U n d er blieb nach außen hin der A u f f a s s u n g von Poesie als Spielwerk des ernsten Bürgers treu, indem er die „eingemischten Gedichte und D r a m e n " im „ K i n d e r f r e u n d " in der Rückschau zur „ N e b e n s a c h e " erklärte 2 4 . D o c h sind, wie bereits die Diskussion der ästhetischen Erziehung zeigte und wir noch näher sehen werden, Weißes Kinderbücher auch künst16

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Basedow: Elementarwerk (1774) Bd. 2, S. 158—160, zwei Strophen davon in Weiße: Neues A , B , C , B u c h (1772), S. 95 Titel: „Die Liebe des Nächsten"; über die Quellen von Basedows „Elementarwerk" gibt es ebenso wie über die Quellen anderer Kinderbücher der Zeit noch keine Untersuchungen. Basedow: Elementarwerk (1774) Bd. 2, S. 257-258; Quelle: Weiße: Neues A , B , C . B u c h (1772), S. 83-84. Basedow: Elementarwerk (1774) Bd. 2, S. 259-260; Quelle: Weiße: Neues A , B , C . B u c h (1772), S. 85-86. Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 123. Ebenda S. 183. Ausführlich zur Entstehungsgeschichte vgl. ebenda S. 181 — 184; vgl. auch Göbels: Das Leipziger Wochenblatt für Kinder (1973) und Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 72. - Vgl. auch unten S. 165-166. Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 183-184. Brief Nr. 69 vom 13. 12. 1775 - Briefe von Weiße an Ramler II, S. 216; dort übrigens auch bereits dieselbe Entschuldigung: „Die Angst unter den Schmerzen meines Fusses gab mir es ein." Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 186.

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lerisch wesentlich bewußter und überlegter gearbeitet, als es diese Selbstzeugnisse und gängige Meinung glauben lassen wollen. Denn Weißes gespielte Bescheidenheit und das Vorschieben privater Entstehungsmotive, die sich bisweilen als bloße T o p o i entpuppen, sollten nur verdecken, w o r u m es dem ästhetisch veraltenden Weiße mit seinen Kinderbüchern eigentlich ging. Wir wissen bereits, daß die .Kunstrichter' der „ F r a n k f u r t e r Gelehrten A n z e i g e n " ihm „alle Lust z u dichten" verleideten 2 5 ; er vermutete als Hauptverfasser „ H e r d e r nebst einem gewissen G e d e [ ! ] , " und fand die hinter allem stehende Theorie „unerklärlich" 2 6 . A l s anonymer Übersetzer war er ja selbst ein O p f e r der bissigen Invektiven: M a n nannte ihn einen „Ignoranten von Ü b e r s e t z e r " , von dem man statt der ursprünglichen orientalischen Fabeln „ f r a n zösirte u n d geschminkte B l ü m c h e n " aus seiner „dritten fremden, unreinen, ekelpomadirten H a n d " empfinge 2 7 . Ein wirkungsvolles Engagement für den ,guten G e schmack' im Sinne der alten Ästhetik war f ü r Weiße offensichtlich nur noch und gerade in der ästhetischen Erziehung der Kinder möglich. So gesehen ist vor allem sein „ K i n d e r f r e u n d " ein Versuch der Rettung des eigenen Dichtertums gegen die Tendenzen der Zeit: „ D e r Geschmack in der Literatur, der itzt herrschet, ist nicht der meinige", schrieb er 1777 an U z . 2 8

b) Publikum D i e weltliche Kinderliteratur der Spätaufklärung entstand in einer Zeit literarischen u n d sozialen U m b r u c h s ; trotz vieler Untersuchungen zu diesem Zeitraum 1 , muß festgestellt werden, daß es noch keine „konkreten Daten und Materialien über die soziale u n d ökonomische Struktur der deutschen Gesellschaft im 18. und beginnen25 26 27

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Vgl. oben S. 139. Brief vom 28. 12. 1772 - Weiße an Uz, S. 1171. Die Rezension betrifft Weißes Ubersetzung von *St. Lambert: Jahreszeiten und orientalische Fabeln. — Leipzig: Dyk 1772 - Frankfurter Gelehrte Anzeigen (Neudruck 1882/ 83), S. 295-297. Brief vom 29. 3. 1777 - Weiße an Uz, S. 1203. Siehe dazu den Forschungsbericht von Sauder: Sozialgeschichtliche Aspekte der Literatur im 18. Jahrhundert (1979). — Auf Schendas: Volk ohne Buch (1970) ist bereits wiederholt verwiesen worden; neben seiner Bibliographie von „Tausend Titeln zum Thema" der Sozialgeschichte nicht nur der populären Lesestoffe ist jetzt das umfassende Literaturverzeichnis in Siegert: Aufklärung und Volkslektüre (1978), Sp. 1263—1316 sowie die laufende Auswahlbibliographie im „Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur" (1 [1976]—5 [1980]) heranzuziehen. Ein kompilierendes Arbeitsbuch mit Verweisen auf wichtige Literatur ist Kiesel/Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert (1977); von den neueren Werken seien noch die Arbeiten von Möller und Engelsing (siehe Literaturverzeichnis) genannt, von den älteren sind nach wie vor unentbehrlich: Jentzsch: Der deutsch-lateinische Büchermarkt (1912), Neumann: Der Bücherbesitz der Tübinger Bürger von 1750-1850 (1955, Neuausgabe 1978) und Walter Wittmann: Beruf und Buch im 18. Jahrhundert (1934).

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den 19. Jahrhundert" gibt und daß die Literaturwissenschaft sich oft „sehr leichtsinnig auf eine Expedition begeben [hat], für die sie völlig unzureichend gerüstet ist." 2 Wenn im folgenden von sozialgeschichtlichen Fakten die Rede ist, so können sie stets nur bedingte, vorläufige Gültigkeit haben. Das überall festgestellte Anwachsen der Buchproduktion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, besonders der schöngeistigen Schriften, die zeitgenössischen Klagen über Lesewut, zumal von pädagogischer Seite, suggerieren ein großes Lesepublikum. Man muß sich aber vor Augen halten, daß um 1770 höchstens 15%, um 1800 25% der Bevölkerung Deutschlands über sechs Jahre als potentielle Leser in Frage kamen, was nicht bedeutet, daß „ein solcher Prozentsatz der Bevölkerung auch wirklich las." 3 Schenda weist mit Recht darauf hin, daß auch fast die gesamte Kinderliteratur zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine Angelegenheit der dünnen Oberschicht war und daß die Masse der Kinder selten mehr als Fibel, Bibel und Katechismus kannte. 4 Die ,hohe' Literatur war stets — auch heute — eine Literatur von wenigen für wenige. Das stellte schon 1765 Thomas Abbt fest — die Schriftsteller und Dichter der Gegenwart seien dem gemeinen Mann weder erschwinglich, noch verständlich —5, darüber klagte noch Tolstoi, als er 1862 im Unterricht der Bauernkinder an der Schule von Jaßnaja Poljana scheiterte und die gesamte hohe Kunst als verdorben und sinnlos verdammte 6 . Die neue Literatur für Kinder, Weißes ästhetische Erziehung, aber kam aus dem Bürgertum für das Bürgertum, kam von hoher literarischer Warte. Weißes Rückblick auf das Leserpublikum seines „Kinderfreundes" darf man nicht buchstäblich nehmen: Der Kinderfreund ward aber keineswegs bloß in vornehmen Häusern gelesen, sondern er wurde ein Lesebuch auch unter den mittlem und niedern Ständen, und der Verfasser hat auf seinen kleinen Reisen überraschende und rührende Beweise der Liebe gegen ihn, von Postmeistern, Gastwirthen und Handwerksleuten erhalten. 7

Wie Weiße sich zuvor „mehrerer Söhne deutscher Fürsten" als Leser rühmt, so läßt er sich hier von durchaus zum Bürgertum Gehörenden schmeicheln, wobei man bedenken muß, daß Postmeister und Gastwirte aufgrund ihres Berufes mit Literatur zumindest oberflächlich bekannter waren als andere 8 . Denn mit den „mittleren und niederen Ständen" meint Weiße keineswegs die „unteren Volksschichten" 9 , sondern 2

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Reinhard Wittmann: Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnisse als lesersoziologische Quellen (1977), S. 150—151; die gleiche Feststellung trifft Siegert: Aufklärung und Volkslektüre (1978), Sp. 584. Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 444-445. Ebenda S. 7 6 - 77. Abbt: Vom Verdienste (1765). - Vermischte Werke Bd. 1, (1768), S. 256-258. Tolstoi: Pädagogische Schriften Bd. 2. - Sämtliche Werke I. Serie, Bd. 9, S. 160. Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 190-191. Vgl. Benker: Gasthof (1974), S. 182. Wie Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 179 irrtümlich annimmt.

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Stände innerhalb des Bürgertums. Weiße wußte sehr wohl, was die eigentlichen niederen Stände für Bücher hatten. Die Tochter eines wohlhabenden Bauern läßt er in einem seiner Kinderschauspiele ihre Bücher aufzählen: [. . .] ein Katechismus, ein Gesangbuch, einen Himmelsweg, und eine Bibel [. . .]. Wir haben auch noch etliche hübsche Lesebüchelchen, als ein Abcbuch hinten mit feinen Mähren, und forne mit hübschen Bilderchen, einen Rochowschen Kinderfreund und noch andere [. . .]: aber die gehören dem ganzen Hause; da erzählt uns immer Vater und Mutter den Winterabend was draus vor [. . . ] . 1 0

Näheren Aufschluß über die soziale Schichtung der Käufer und Leser des „Kinderfreundes" versprechen die Verzeichnisse der „Subskribenten und Pränumeranten", die der dritten Auflage beigegeberi sind 1 1 . Man hat geglaubt, aufgrund dieser Listen „ein recht zutreffendes Bild von der sozialen Gliederung" des Publikums geben zu können 1 2 . Daß das gründlich mißlungen ist, liegt nicht nur am damaligen und heutigen Stand der Forschung auf diesem Gebiet 1 3 . Zwar weiß man über die verwickelten Berufsbezeichnungen und Titel, über das Verhältnis von Einkommen und Rang sowie den regionalen Unterschieden dabei noch sehr wenig 14 , doch kann den Literarhistoriker bereits ein Blick in Adelungs Wörterbuch vor den gröbsten Irrtümern bewahren. Daß Adlige oft ärmer, machtloser und vor allem ungebildeter waren als viele Bürger, sollte längst kein Geheimnis mehr sein und macht diese soziale Unterscheidung wenig aussagekräftig. Die Aufschlüsselung der Subskribenten 15 des „Kinderfreundes" in 85,7% Bürger, 8 , 5 % Adlige und 5 , 8 % ,niedere Stände' 16 sagt also wenig mehr, als man ohnehin schon weiß. Doch überrascht der relativ hohe Anteil der ,niederen Schicht', der freilich nur deshalb zustande kommt, weil Hurrelmann „zu den einfachen öffentlichen Bediensteten" als „Randgruppe der Unterschicht" z . B . Jägermeister, Botenmeister, Postmeister und Weinkellner rechnet 17 . Nun handelt es sich bei dem Weinkellner, der den „Kinderfreund" subskribierte, nicht um einen ,Ober', sondern um den Fürstlichen Weinkellner in Rudolstadt, also den Vorgesetzten der Weinkeller 18 des Schlosses Heidecksburg, wo der Reichsfürst 10

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Weiße: Kinderfreund Th. 21 (1781), 2 8 2 . - 2 8 7 . St., S. 1 8 8 - 1 8 9 („Die Feuersbrunst, oder gute Freunde in der Noth, das größte Glück"). Weiße: Kinderfreund. 3. Aufl. Th. 1 (1780), 4 (1781), 5 (1781), 7 (1781), 10 (1781), 12 (1782). - Benutztes Exemplar LB Detmold: PP 1054. Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 1 7 0 - 1 8 1 , Zitat S. 170; Hurrelmann schließt sich dabei an Martens: Botschaft der Tugend (1968), S. 150—151 an. Uber Probleme und Aufgaben siehe Reinhard Wittmann: Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnisse (1977); Wittmann geht übrigens nicht auf Hurrelmann ein. Vgl. die Hinweise ebenda S. 143—144. Die Listen im „Kinderfreund" unterscheiden nicht nach Subskribenten und Pränumeranten; zum Unterschied siehe Wittmann, S. 127—129. Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 171. Ebenda S. 180. Adelung: Wörterbuch Th. 2 (1775), Sp. 1548.

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von Schwarzburg hofhielt. Postmeister war mindestens der Leiter der Postexpedition eines O r t e s 1 9 , während ein Postsekretär, den Hurrelmann zu den gehobenen Beamten rechnet, b l o ß ein Schreiber auf einem solchen A m t e w a r 2 0 . Ein B o t e n meister hatte die Aufsicht über die öffentlichen B o t e n einer Stadt, in Leipzig gar noch über die P o s t k u t s c h e n 2 1 . U n d ein Jägermeister schließlich war nach Auskunft Adelungs ein „ v o r n e h m e r Jagdbedienter, welcher dem ganzen Jagdwesen eines gewissen Bezirkes v o r g e s e t z e t " w a r 2 2 . Bliebe noch die G r u p p e der „ H a n d w e r k e r , A r b e i t e r " mit 0 , 9 % oder 16 S u b s k r i b e n t e n 2 3 . Arbeiter, die den „ K i n d e r f r e u n d " lasen, gab es jedoch nicht; denn bei dem Goldarbeiter aus Freiberg und dem G o l d - und Silberarbeiter aus Reval handelte es sich keineswegs um Proletarier, sondern ein Goldarbeiter war damals „ein vermögender Kunsthandwerker der Spitzenklasse, vielleicht Mitglied des P a t r i z i a t s " 2 4 . U n d ein B r e m e r „ P a c k e r " unter den Subskribenten wird der Inhaber eines Betriebes gewesen sein, der sich auf Verpackung von „ W a a r e n , welche verschickt werden s o l l e n " 2 5 , spezialisiert hatte.

Handwerker

schließlich mußten nicht unbedingt Kleinbürger sein; so konnten einige Subskribenten des „ K i n d e r f r e u n d e s " als Hofdrechsler, Tischler, O r g e l b a u e r

durchaus

hochbezahlte Künstler ihres Faches gewesen sein. Angehörige ,niederer Schichten' als „ K i n d e r f r e u n d " - L e s e r gab es also wohl nicht; aber auch die soziale Aufschlüsselung des B ü r g e r t u m s , wie sie H u r r e l m a n n v o r g e n o m m e n hat, ist ähnlich fragwürdig, zumal die gravierenden regionalen Unterschiede auch hierbei nicht beachtet wurden. So bestätigt sich die Feststellung H e l m u t Möllers, daß „Beschäftigung mit Literarischem für den Kleinbürger ein Uberschußverhalten b e d e u t e t e " 2 6 , und man darf davon ausgehen, daß der „ K i n d e r f r e u n d " nur von der gesellschaftlichen

Ober-

schicht gelesen wurde. B e d e n k t man schließlich, daß v o m Preis aus gesehen der Käufer die W a h l hatte zwischen einem Teil des „ K i n d e r f r e u n d e s " und sechs bis zehn Pfund K a l b f l e i s c h 2 7 , so wird klar, warum Bücherbesitz Luxus war. A u c h der Vorgänger von Weißes „ K i n d e r f r e u n d " , Adelungs „ L e i p z i g e r W o c h e n blatt für K i n d e r " , wandte sich an Kinder des gehobenen B ü r g e r t u m s : I m 2 8 . Stück ( = B d . 2 ) stand ein Wohltätigkeitsprojekt im Vordergrund; das Blatt diente von da 19 20 21 22 23

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Ebenda Th. 3 (1777), Sp. 1127-1128. Ebenda Sp. 1128; Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 175, Anm. 1. Adelung: Wörterbuch Th. 1 (1774), Sp. 1025. Ebenda Th. 2 (1775), Sp. 1417. Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 180; aus der Zahl der Subskribenten ohne Berufsangabe hat Hurrelmann noch einen Anteil von 1,5 % zu den niederen Ständen hinzugerechnet. Wittmann: Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnisse (1977), S. 144; Wittmann bezieht sich auf Martens: Botschaft der Tugend (1968), S. 150, wo dieser Fehler bereits auftaucht. Adelung: Wörterbuch Th. 3 (1777), Sp. 944. Möller: Die kleinbürgerliche Familie (1969), S. 259. Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 184—185.

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an — vielleicht war es sogar von Anfang an so geplant — als Werbe- und Bittorgan für das Waisenhaus im sächsischen Werdau. In den Jahren 1771/72 war das Erzgebirge von einer unvorstellbaren Hungerkatastrophe heimgesucht worden, bei der auch viele Kinder ihre Eltern verloren hatten. Verheerende Mißernten in fast allen deutschen Ländern ließen den Kornpreis u m das vierzehnfache steigen 2 8 . Die 5 0 0 0 0 Toten von 1772 im Erzgebirge gingen freilich zum großen Teil auch auf das K o n t o der wenigen wohlhabenden Wucherer, die den A r m e n das N ö t i g s t e vorenthielten. Dieser realistische Hintergrund von „ C a r l c h e n s P r o j e k t " , wie die Aktion zugunsten des Waisenhauses in dieser ersten Kinderzeitschrift genannt wurde, zeigt augenfälliger als alle Untersuchungen von Subskribentenlisten, daß die Kinderliteratur ausschließlich eine Angelegenheit der wohlhabenden bügerlichen Oberschicht war. Bei den Bergarbeiterfamilien des Erzgebirges arbeiteten die zehnjährigen Knaben als Bergjungen, die Mädchen mußten in Heimarbeit am Klöppelsack sitzen 2 9 : D a war weder Zeit noch Bedürfnis nach allegorischen Träumen oder der Geschichte des türkischen Reiches. Es ist bei der Frage nach dem Publikum aber nicht nur nach sozialen Schichten, sondern auch regional zu differenzieren. N o r d - , Mittel- und Ostdeutschland waren die literarisch führenden Regionen; im Süden fehlte es „ a n einem größeren, und damit wirtschaftlich tragfähigen P u b l i k u m " 3 0 — die Schweiz freilich ausgenommen. Bezeichnend für die Rolle der Kinderliteratur außerhalb ihrer hauptsächlichen Verbreitungsgebiete ist die Äußerung des bayrischen Kanonikus und Schulinspektors Wening, der in der Vorrede seiner — meist Salzmanns „Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde" entnommenen 3 1 — „ H i s t o r i s c h - und moralischen Erzählungen für den gemeinen Mann und die J u g e n d " (1784) sich zunächst für das Wort „ A u f k l ä r u n g " entschuldigt: „Erschreckt nicht liebe Leute [. . . ] . " Er klagt, daß in Bayern so wenig gelesen werde: „ E i n z e l n e Schulmänner, Hauslehrer und H o f m e i s t e r lesen wohl; aber ich sähe es sehr gerne, wenn auch der Bürger, der L a n d mann und ihre Kinder lesen w ü r d e n . " Man muß sich diese starken regionalen Unterschiede vergegenwärtigen; das Leipzig Weißes war durchaus untypisch für die zeitgenössische literarische Situation; Weiße selbst wußte das, wenn er stolz von der Überlegenheit „ u n s r e r Sächsischen K i n d e r " sprach 3 2 . In Bayern aber schreckte nach dem Zeugnis Wenings allein der Verlagsort Frankfurt oder Leipzig „ f a s t alle unsere Bürger, Landleute ja sogar Pfarrer ab, so ein Buch nur in die H a n d z u n e h m e n . "

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Vgl. dazu detailliert Langer: Die Hungerjahre 1771 und 1772 nach zeitgenössischen Quellen (1963). Ebenda S. 364. So schon Sengle: Wieland (1949), S. 247; vgl. auch Martens: Botschaft der Tugend (1968), S. 167; ferner Siegert: Aufklärung und Volkslektüre (1978), Sp. 596-597: als Mustergegenden galten Sachsen, Thüringen und Württemberg. Aus den Bänden 1 - 6 : 1778-1783; Bd. 7 - 8 erschienen 1786-1787. Brief Nr. 76 vom 13. 8. 1777 - Briefe von Weiße an Ramler III, S. 251.

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Und so ist es verständlich, daß dort zur Blütezeit der aufklärerischen Kinderliteratur nicht einmal Lehrer von ihrem Vorhandensein überhaupt etwas wußten. „Ich erfuhr selbst", berichtet besagter Schulinspektor, von vielen Bürgern, daß sie gerne was Vernünftiges lesen wollten, wenn sies nur hätten. Dank sey es den unvergleichlichen Männern des Auslandes [!], einen Weise [sie], Campe, von Rochow, dem Volkslehrer, den Verfassern des Stillings [Heinrich Jung-Stilling] und der Theobore 3 3 , des Leichards und der Gertrud [ = Pestalozzi: Lienhard und Gertrud], und unzähligen andern, daß sie uns so trefliche, faßliche, und nützliche Bücher geliefert haben, woraus die Jugend und auch Erwachsne die beßten Grundsätze herholen können [. . .].

Der bayrische Kanonikus unterscheidet nicht zwischen Volks- und Kinderliteratur, weil für ihn Bürger, Bauer und Kinder gleich unmündig, gleich fern von jeder Lektüre sind; seine Rezeptionsvorstellungen jedoch enthüllen, wie wenig er den Intentionen der von ihm genannten Autoren folgte. Weder Weiße noch Campe dachten daran, erwachsene Leser zu belehren; ja Campes nach Ständen, Berufen und Alter differenzierten Erziehungs-und Lektüreplänen 34 wurde wie hier sicher selten entsprochen. Die Spätaufklärer waren sich ohnehin in ihrem Programm der Volksbildung nicht einig, „was und wieviel die Untertanen lesen sollten" 35 , und die Pädagogen oder literarischen Kindererzieher erreichten mit ihrer Kinderliteratur höchstens vereinzelt oder theoretisch' wie in der Vorstellung des bayrischen Kanonikus die Unterschichten.

c) Verbreitung Ein Blick auf Auflagen, Verbreitung und Fortleben von Weißes Werken für Kinder kann das quantitative Ausmaß seiner Wirkungsmöglichkeiten veranschaulichen. Weißes erstes Kinderbuch, die „Lieder für Kinder", erschien bis 1775 in mindestens sechs rechtmäßigen Ausgaben 1 , 1772 verleibte er die Lieder als dritten Band seinen „Kleinen lyrischen Gedichten" ein, davon wiederum sind zwei Nachdrucke nachweisbar 2 . Ebenfalls sechs Originalausgaben erlebte sein „Neues A,B,C,Buch" bis 1779 — das auch einige Stücke seiner „Lieder für Kinder" enthielt —, zwei weitere 1810 und 1817; dazu kamen ebenfalls Nachdrucke 3 . Rechnet man je Auflage anfangs 33

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Ein Werk dieses Titels konnte ich nicht ausmachen; vielleicht ist Campes „Theophron" (1783) gemeint. Vgl. bes. Campes Beiträge in der „Allgemeinen Revision". Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 141. Vgl. Lindner: Vollständiges Verzeichnis der Schriften von und über Ch. F. Weiße. — In: Iphofen: Weiße (1806), S. 100, N r . 24. Vgl. ebenda S. 102, N r . 43. Vgl. ebenda S. 103, N r . 47 und Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 172.

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1000, später 2000 Exemplare 4 , so müssen beide Werke in weit über 10000 Exemplaren verbreitet gewesen sein. Für den „ K i n d e r f r e u n d " mit seinen drei Originalausgaben und vier Nachdrucken (von 1791—1805 erschienen noch einmal drei N a c h drucke) hat Bettina Hurrelmann eine Gesamtauflagenhöhe von ungefähr 10000 Exemplaren errechnet 5 . Freilich ist sie wie auch andere auf eine sicher falsche A n gabe Weißes hereingefallen. In Karlsbad traf dieser 1788 zufällig den Wiener N a c h drucker von Schönfeld, und der machte ihm „ d a s unerwartete Compliment, daß er in den Oesterreichischen Landen über 15,000 Exemplare abgesetzt h a b e " 6 . Es ist mehr als unwahrscheinlich, daß im bevölkerungsärmsten und rückständigen Österreich eine Nachdruckauflage um 5 0 % höher als die Gesamtauflagen in Deutschland gewesen ist. Sei es, daß der Nachdrucker dem eitlen Weiße schmeicheln wollte oder daß dieser übertrieb, wir müssen solchen auch nicht annähernd überprüfbaren A n gaben gegenüber vorsichtig sein. — Der N a c h f o l g e r des „ K i n d e r f r e u n d e s " , Weißes „ B r i e f w e c h s e l der Familie des Kinderfreundes" schließlich wurde kein E r f o l g ; es blieb bei einer A u f l a g e . 7 Gehen wir von den deutschen Auflagen aus, und nehmen wir an, daß ein Exemplar maximal zehn Leser hatte 8 , so dürfen wir bei einer Auflage von 10000 bis 15000 mit 100000 bis 150000 potentiellen Lesern — nicht jedes verkaufte Exemplar w u r d e auch gelesen! — für jedes der Weißeschen Kinderbücher rechnen. Auf eine G e s a m t bevölkerung von ca. 20 Millionen 9 umgerechnet, ergibt sich, daß jeweils 0 , 0 5 % der Gesamtbevölkerung eines seiner Kinderbücher kauften und 0 , 5 % lasen. Bezieht m a n Käufer und Leser aber nur auf das Bürgertum, von dem zumindest der „ K i n d e r f r e u n d " fast ausschließlich gekauft wurde, so ändert sich nur wenig. Im J a h r e 1800 lebten noch 9 0 % der Gesamtbevölkerung von 24,5 Millionen auf dem

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Zur Höhe der Auflagen im 18. Jahrhundert siehe Engelsing: Analphabetentum und Lektüre (1973), S. 56—61, ferner auch Kiesel/Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert (1977), S. 160-161. Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 167—169, Details siehe dort; zur Ergänzung Wegehaupt: Alte deutsche Kinderbücher (1979), Nr. 2237-2244. - 1849 (2. Aufl. 1882) erschienen Gustav Plieningers Bearbeitungen der „Schönsten Erzählungen des Kinderfreundes". Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 189. Ein Reutlinger Nachdruck bei Seebaß: Alte Kinderbücher (1955), Nr. 2040: Th. 1 - 1 2 . Reutlingen: Joh. Grözinger 1792; ebenso Wegehaupt: Alte deutsche Kinderbücher (1979), Nr. 2225. Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 170; vgl. auch Kiesel/Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert (1977), S. 160, wo allgemein mit der gleichen Leserzahl gerechnet wird. — Da die Kinderbücher ohnehin von Erwachsenen gekauft und auch meist durch Vorlesen rezipiert wurden, brauchen wir nicht nach Altersstufen zu differenzieren. Die Bevölkerung Deutschlands wuchs 1700—1800 von 13 auf 24,5 Millionen; vgl. ebenda S. 14.

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Lande 1 0 ; erst 1871 aber betrug die Schicht der Bürger, die ohne Sorgen existieren konnte, 1 0 % n . Legen wir für unseren Zeitraum ca. 5% zugrunde, so kann man rechnen, daß 1% der Bürger Weißes Kinderbücher kauften und 10% lasen. Das Bild von der Verbreitung der Weißeschen — und der übrigen — Kinderliteratur verbessert sich ein wenig, wenn man bedenkt, daß ein Großteil der zeitgenössischen Sammlungen von Kinderliedern, Schauspielen und Erzählungen aus Plünderungen der Werke von bekannteren Autoren bestand 1 2 , daß darüber hinaus die Kinderlieder und Kinderschauspiele aus dem „Kinderfreund" auch separat erschienen 1 3 , daß Basedow in seinem „Elementarwerk" Lieder Weißes aufnahm 1 4 , daß in Campes „Kleiner Kinderbibliothek" ebenfalls vereinzelt dessen Werke zu finden sind 1 5 . Weißes „Lieder f ü r Kinder" aber dürften von allen seinen Werken f ü r Kinder die weiteste Verbreitung erfahren haben: Von den 38 Liedern Weißes in Rudolf Zacharias Beckers „Mildheimischem Liederbuch" (zuerst 1799) stammt die Hälfte aus seinen „Liedern f ü r Kinder"; Weiße ist darüber hinaus der zahlenmäßig am stärksten vertretene Autor. Bis 1837 war dieses Liederbuch in 11 Auflagen verbreitet 1 6 und übertraf damit weit „Des Knaben W u n d e r h o r n " , von dem nur der erste Band in einer zweiten Auflage erschien. N o c h in H o f f m a n n s von Fallersleben Zusammenstellung „Unsere volkstümlichen Lieder" werden 1869 in der 3. Auflage zwei Kinderlieder Weißes genannt 1 7 . Ü b e r die tatsächliche Wirkung freilich ist damit noch nichts gesagt, erst recht nichts über den Erfolg von Weißes ästhetischer Erziehung. Nicht nur angesichts der genannten Daten zur Verbreitung von Weißes Kinderbüchern scheint es unangebracht zu glauben, die neue Kinderliteratur habe „horizontwandelnd bei ihrem Publikum" gewirkt 1 8 . Gerade weil wir keinerlei Zeugnisse — weder in Briefen, A u t o biographien noch sonstwo — über einen solchen Wandel durch Literatur haben, dürfen wir Literaturwissenschaftler ruhig den Sozialhistorikern glauben, die die 10 11 12

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Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 445. Weber-Kellermann: Die deutsche Familie (1974), S. 110. Das zeigen die Kinderbuch-Rezensionen der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek"; genaue Untersuchungen hierzu fehlen noch. Siehe Literaturverzeichnis. Siehe oben S. 160-161. Campe (Hrsg.): Kleine Kinderbibliothek Th. 1 (1782): ein Kinderlied und Campes Bearbeitung eines Weißeschen Kinderschauspiels (siehe dazu unten S. 229—230); Th. 2 (1782): zwei Kinderlieder. Vgl. das Nachwort von Häntzschel zum Neudruck von Becker: Mildheimisches Liederbuch (1971), S. 38; siehe auch Weissert: Das Mildheimische Liederbuch (1966). Hoffmann von Fallersleben: Unsere volkstümlichen Lieder (3. Aufl. 1869), Nr. 392: Der Vorwitz das Künftige zu wissen („Gütig hüllt in Finsternissen") — Weiße: Lieder für Kinder (1767), S. 41; Nr. 680: Der Aufschub („Morgen, morgen, nur nicht heute") — erst in späteren Auflagen, vgl. Weiße: Kleine lyrische Gedichte (Nachdruck 1778) Bd. 2, S. 204-205. Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 233.

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Wandlung der Familie vor allem als ökonomisch bedingt erklären. Daß der „Kinderfreund" ein literarisches Dokument für die gewandelte Einstellung zur Lektüre ist, steht außer Zweifel.

d) Die intendierte Rezeption Uber die tatsächliche Rezeption von Weißes Werken für Kinder sind, wie wir gesehen haben, nur sehr pauschale statistische' Aussagen möglich. Bei der Frage nach der intendierten Rezeption rückt natürlich sein „Kinderfreund. Ein Wochenblatt" in den Mittelpunkt des Interesses. Auf den Ergebnissen von Wolfgang Martens aufbauend 1 , ist Bettina Hurrelmann der Tradition der Moralischen Wochenschriften nachgegangen, die in diesem Zusammenhang von Interesse sind; am Anfang stehen der Kindererziehung gewidmete Wochenblätter für Erwachsene 2 , unmittelbarer Vorgänger Weißes ist Adelung mit seinem „Leipziger Wochenblatt für Kinder" (1772-1774). In der Wahl der „Gattung" Wochenschrift sieht Hurrelmann eine wesentliche Voraussetzung für Wirkungsmöglichkeit: Im Rückgriff auf eine bereits bewährte Gattung machte sich Weiße nicht nur deren spezifische Darbietungsweise zunutze, sondern er übertrug auch ihren populär sozial-pädagogischen Gehalt in eine lehrreiche Unterhaltung' für die Jugend.

Die Entscheidung für die Form der Wochenschrift habe den Gehalt auch für die andere Kinder- und Jugendliteratur festgelegt: „Vorbereitung der heranwachsenden Generation zu vernünftig-gemeinnützigem Verhalten" 3 . Abgesehen davon, daß das nicht der ganze ,Gehalt' ist, wird hier das Pferd vom Schwänze her aufgezäumt: Dieser ,Gehalt' existierte selbstverständlich auch außerhalb der Wochenschriften, die ja lediglich eine Form der Propagierung bürgerlicher Tugenden und Normen waren. Weiße selbst charakterisiert die Funktion der Wochenblatt-Form am besten: 1 2

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Martens: Botschaft der Tugend (1968). Vgl. Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 38—52; ferner Göhring: Die Anfänge der deutschen Jugendliteratur (1967, E A 1904), S. 4 - 7 und Köberle: Jugendliteratur zur Zeit der Aufklärung (1972, E A 1924), S. 49—59. — Es waren im einzelnen : *Die vor sich und ihre Kinder sorgfältigen Mütter. Th. 1—2. — Schweidnitz und Leipzig: W. Vogel 1 7 3 2 - 3 3 . *Die vor sich und ihre Söhne sorgfältigen Väter. (Hrsg. von Caspar Gottlob Lindner.) 1 . - 1 2 . St. — Frankfurt und Leipzig: Hirschberg 1734 — 35. ^Wochenblatt zum Besten der Kinder. (Hrsg. von Samuel Krickende und Johann Friedrich Franz.) Th. 1 - 4 . - Berlin: Birnstiel 1 7 6 0 - 69. " Wochenschrift zum Besten der Erziehung der Jugend. (Hrsg. von Christian Gottfried Böckh). Th. 1 - 4 . - Tübingen: Cotta 1 7 7 1 - 7 2 . ^Wochenblatt für rechtschaffene Eltern. (Hrsg. von Johann Paul Sattler.) Th. 1—2. — Nürnberg: Bauer (Schmidmer) 1772 — 73. Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 126—127.

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Das Mittel, ihn [sc. den ,Kinderfreund'] schon durch die Form anziehend zu machen, entlehnte Weiße von dem englischen Zuschauer [d. i. die Wochenschrift „Spectator" 4 ]. Er hatte bemerkt, daß dieser einen Theil des erhaltnen Beyfalls dem Umstände verdankte, daß er gleich anfangs mehrere Personen mit bestimmten Charakteren eingeführt hatte, aus deren Munde die verschiednen Urtheile über Menschen und Begebenheiten lieber angehört wurden, als wenn der Verfasser sie in eigner Person vorgetragen hätte. Es war durch dieses Mittel Handlung und Leben in die Unterhaltung gebracht. Weiße schilderte daher zur Einleitung in seinen Kinderfreund eine bürgerliche Familie von Eltern, Kindern, und Hausfreunden, welche sich alle unter einander und von einander in ihrer Denk- und Sinnesart, in ihren Neigungen, Sitten und Lieblingsbeschäftigungen hinlänglich und genau unterscheiden. Der ganze Stoff der Belehrung für die Jugend, welcher bearbeitet ward, erschien als Unterhaltung dieser Familie, an welcher jedes Glied nach seiner Weise Antheil nahm. 5

Da im „Spectator" eine Clubgesellschaft den fiktiven Verfasser begleitet, hat Martens auf das Vorbild der fiktiven Familie des „Guardian" für den „Kinderfreund" verwiesen und dabei die verbreitete Auffassung vertreten, daß die Verwendung einer literarischen Form für ein kindliches Publikum für deren „Verfall" bürge6. Hurrelmann formuliert etwas vorsichtiger und spricht von „literarischer Verspätung" 7 . Doch der „Kinderfreund" ist in Form und Funktion eher eine gekonnte Weiterentwicklung, als daß er Zeichen eines Verfalls an sich trüge, bloß weil Kinder das Publikum waren. Vier gewichtige Punkte unterscheiden den „Kinderfreund" vom Typ der Moralischen Wochenschrift, wie Martens ihn erarbeitet hat. Erstens: Abgesehen von den ersten Nummern erscheint er bald als Quartalsschrift, die Einteilung in Stücke mit bestimmtem Datum ist ohne Funktion. Zweitens: Das „Stück" bildet keine Einheit wie in den echten Wochenschriften, oft sind mehrere Stücke zusammengefaßt, und Einschnitte zwischen diesen Gruppen sind meist willkürlich und zerreißen oft Gespräche oder Erzählungen. Drittens: Der „Kinderfreund" enthält „eingemischte Gedichte und Dramen", von denen die letzteren seinen eigentlichen Ruhm ausmachen, auf sie wurde auch in Rezensionen immer wieder besonders abgehoben: Damit steht der „Kinderfreund" bereits an der Grenze zu Kinder-Almanachen und -Anthologien, wenn ihn auch die Einbettung der Genres in Handlung und Gespräche der fiktiven Familie noch an die alte Tradition bindet. Und schließlich viertens: Wenn der „Spectator" die „soziale Wirklichkeit lebendig" erfassen will8,

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1711 — 1712 u. 1714; erste vollständige deutsche Ubersetzung 1739—1744; siehe Martens: Botschaft der Tugend (1968), S. 2 3 - 2 8 u.ö. Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 1 8 4 - 1 8 5 . Diese Einbettung hebt den „Kinderfreund" auch von seinem direkten Vorgänger, dem „Leipziger Wochenblatt für Kinder" ab; zwar existieren auch dort sechs Kinder, die einem rechtschaffenen Manne zur Erziehung anvertraut sind, aber diese spielen keine integrierende Rolle. Wie in einem Kramladen bietet der Herausgeber Adelung an, was irgendwie lehrhaft scheint. Martens: Botschaft der Tugend (1968), S. 45 und 46. Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 127. Martens: Botschaft der Tugend (1968), S. 48.

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so hat sich bei W e i ß e diese ,Realität' zur Utopie gewandelt. G e r a d e das Fehlen der „grundsätzlichen Spannung zwischen der sittlichen Selbstverwirklichung des einzelnen und seiner Glückseligkeit sowie seiner gesellschaftlichen I n a n s p r u c h n a h m e " , das eine „nachgeborene B e t r a c h t e r i n " bedauert 9 , ist nicht Zeichen intellektueller Schwäche, sondern H i n w e i s auf den utopischen C h a r a k t e r des literarischen G e g e n entwurfs Weißes zur konkreten Gesellschaft der Zeit. D i e Grundlage dafür haben wir bereits in Weißes Ästhetik gefunden 1 0 . Gerade dieser vierte und entscheidende Unterschied zum Gattungsmuster der Moralischen W o c h e n s c h r i f t bedingt auch Weißes intendierte R e z e p t i o n . D a s relativ konfliktfreie Bild einer bürgerlichen Familie und ihrer Freunde im „ K i n d e r f r e u n d " sowie das heute so künstlich wirkende Verhältnis der fünf braven K i n d e r 1 1 zu Eltern und Erziehern, die Verbindung von häuslichem G e s p r ä c h , E r ziehung durch dieses Gespräch und Literatur hat bereits die zeitgenössische Kritik als Muster für die Erzieher verstanden; die wenigsten Kinderbücher der Aufklärung sind für die selbständige, stille Lektüre des Kindes geschaffen. Ü b e r den „ K i n d e r f r e u n d " urteilt eine zeitgenössische R e z e n s i o n : „ D i e fruchtbarste Anlage zu einer unterhaltenden Schrift für Kinder, und das schönste Modell der häuslichen Erziehung für E l t e r n ! " 1 2 B e t t i n a Hurrelmann hat recht, wenn sie b e t o n t , daß die „ A u toren der aufklärerischen Jugendliteratur" sich „gleichzeitig an Erwachsene und Kinder [wenden], um die rechte Rezeption der Kinderliteratur in der Familie allererst s i c h e r z u s t e l l e n . " 1 3 In einem aber irrt sie: Weißes fiktive Familie im „ K i n d e r f r e u n d " zeigt keineswegs bereits „alle Kennzeichen der modernen K l e i n f a m i l i e " 1 4 , und der „ K i n d e r f r e u n d " ist kein „anschauliches literarisches Zeugnis für die E n t stehung und Entwicklung dieser Familienstruktur im Bürgertum der zweiten Hälfte des 18. J a h r h u n d e r t s " 1 5 . D i e „emotionale persönliche Z u w e n d u n g " 1 6 allein sagt wenig; denn die M u t t e r , die ihren festen Platz in der Kleinfamilie h a t 1 7 , spielt im „ K i n d e r f r e u n d " so gut wie keine R o l l e . D i e „liberale Behandlung der K i n d e r " 1 8 , 9 10 11

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Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 131. Siehe oben S. 1 4 6 - 1 4 8 . Weiße schildert in den verschiedenen Kindern zugleich unterschiedliche „Lesertypen"; darauf hat Alexander Beinlich hingewiesen (Zu einer Typologie des Lesers. — In: Lesen - Ein Handbuch [1973], S. 2 1 1 - 2 2 7 , hier S. 2 1 3 - 2 1 4 ) . Das Thema .lesende Kinder' in Literatur und Kinderliteratur mußte hier, so interessant es ist, ausgespart werden; der Verfasser plant eine eigene Studie dazu. ''Allgemeine Bibliothek für das Schul- und Erziehungswesen in Deutschland. Hrsg. von Christian Gottfried Böckh. Bd. 5, 1. St. - Nördlingen 1777, S. 166 — zit. nach Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 201. Ebenda S. 226—227. — Vgl. ebenda S. 197—236 über die „Erziehung der Erzieher". Vgl. ebenda bes. S. 2 1 1 - 2 1 6 . Ebenda S. 212. Ebenda S. 215. Weber-Kellermann: Die deutsche Familie (1974), S. 102—103 u.ö. Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 188.

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ihre häusliche Erziehung in allen Wissenschaften einschließlich der schönen, sichern die vier Freunde, Lehrmeister und Unterhalter der Kinder 1 9 : Magister Philoteknos, dessen Stärke „hauptsächlich in artigen Mährchen und Erzählungen besteht", Doktor Chronickel, der für die Geschichte vom Anfang der Welt an zuständig ist, Herr Papillion, Kenner der gesamten Naturwissenschaften vom „kleinsten Moose" bis zum Kosmos, und schließlich Herr Spirit, der Dichter, den wir bereits kennen. Der Vater ist, wenn ihn „nicht andere Pflichten und Geschaffte abrufen" mitten unter ihnen 20 . Wie in der großen Haushaltsfamilie — jener Familienform, die auch im bürgerlichen Mittelstand bis über das Ende des 18. Jahrhunderts hinaus die herrschende ist 21 — gehören die Hausfreunde zur Familie. In seiner Selbstbiographie betont Weiße das ausdrücklich: Er spricht von „einer bürgerlichen Familie von Eltern, Kindern, und Hausfreunden" und nennt auch die letzteren ,Glieder' der Familie. 22 Ohne diese Freunde ist Weißes Modell einer häuslichen Erziehung undenkbar, in der Kleinfamilie vollends ein Unding: Als Zeichen für den Verfall des ,ganzen Hauses' gilt ja auch die außerhäusliche Erziehung 23 . Gerade Weißes eigenartige Mischung von familiärer Privatheit und Elementen der großen Haushaltsfamilie, die fast ständige Anwesenheit und Verfügbarkeit von vier Hausfreunden, die einen Hofmeister ersetzen, weisen auf eine Zeit des Übergangs und den auch hierin utopischen Charakter von Weißes Entwurf. Bei der Erörterung, welcher Art die Ge-

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Weiße: Kinderfreund Th. 1 (1776), 1 . - 5 . St., S. 17-34. Ebenda S. 7. Werner Conze: Sozialgeschichte 1800—1850. — In: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bd. 2 (1976), S. 450; vgl. auch Weber-Kellermann: Die deutsche Familie (1974), S. 74— 82, ferner Erich Egner: Epochen im Wandel des Familienhaushalts. - In: Familie und Gesellschaft (1966), S. 57-93, bes. S. 75-80: ,Der großbürgerliche Haushalt'; der vielzitierte Otto Brunner (Das ,ganze Haus' und die alteuropäische ,Ökonomik' [1968]) bietet keine genauen Datierungen. - Barbara Beuys' „Familienleben in Deutschland" (1980) ist eine journalistische Darstellung ohne wissenschaftliche Relevanz: Der Umgang mit den Quellen ist unkritisch, eine Uberprüfung für den Leser wegen fehlender Nachweise nicht möglich. Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 184—185; vgl. das Zitat im Zusammenhang oben S. 171. — Noch 1790 sagt Weiße, das „häusliche Glück der Familieneintracht" herrsche dort, „wo das Glück eine zahlreiche gute Familie, Kinder und Kindes Kinder bey ihren Aeltern in ihrem Zirkel zusammen erhält, und an Einem Orte ihre Versorgung finden läßt." (Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes Th. 10 [1790], Uberschrift im Inhaltsverzeichnis und S. 269—270). - Auch die Familie im Gesprächsrahmen von Campes „Robinson" besteht aus Eltern, zwei Freunden des Hauses, den Kindern (sechs, später gar zehn, davon nur ein eigenes!) und dem Gesinde, die alle das Familienoberhaupt ,Vater' nennen — vgl. dazu Liebs: Die pädagogische Insel (1977), S. 66. Vgl. Ferdinand Oeter: Die Familie als soziale Funktionseinheit. — In: Familie und Gesellschaft (1966), S. 1 - 2 1 , hier S. 5 (mit Verweis auf Wilhelm Riehl). - Auch für Müller-Lyer finden diese Wandlungen im 19. Jahrhundert statt — Müller-Lyer: Die Familie (1921), S. 249—251. — Zur vorherrschenden Form der häuslichen Erziehung siehe auch Fertig: Die Hofmeister (1979), bes. S. 3 - 1 3 .

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spräche im „Kinderfreund" sind und welche Funktion sie haben, werden Weißes Rezeptionsvorstellungen noch an Beispielen verdeutlicht.

5. Zum Stilproblem der Kinderbücher: Herablassung und naive Schreibart Der Gang der Untersuchung, die Christian Felix Weiße als exemplarischen und doch singulären Kinderbuchautor der Spätaufklärung vorstellen soll, führte bisher von der Skizze des allgemeinen zeitgenössischen Kontextes zunächst zu Weißes Ästhetik als Voraussetzung und Ziel seines Kinderbuchschaffens: der Bildung des ,guten Geschmacks'. Auch wenn Dichtertyp und dichterisches Selbstverständnis Weißes die zukunftsweisenden Aspekte dieser Ästhetik und ihrer Rolle in der Gesellschaft wieder schwächten, die eigentlich hemmenden Kräfte bei der Wirkungsmöglichkeit und Weiterentwicklung eines dichterischen Kinderbuchs kamen von außen, kamen von der Seite der utilitaristischen Pädagogik und ihrem markantesten Vertreter, dem Dichtungsfeind Campe. Vor diesem „gesellschaftlich-ästhetischen" Hintergrund konnten wir uns konkreter Weißes Kinderbüchern zuwenden und verfolgen, wie sie entstanden, an wen sie sich wandten, wie weit sie verbreitet waren und wie ihr Autor im „Kinderfreund" die intendierte Rezeption bereits vorzeichnete. Auch bei den Detailproblemen, bei der Frage nach der „Schreibart" oder dem „ T o n " wie bei der Darstellung einzelner Genres müssen rhetorische, poetologische und Gattungs-Traditionen etwas eingehender nachgezeichnet werden, um — was in der bisherigen Kinderbuchforschung kaum geschehen ist — Weißes Werke für Kinder in den gebührenden literarhistorischen Kontext zu stellen. Vieles in der Literatur des 18. Jahrhunderts ist uns heute ferngerückt; selbst ein Kenner der populären Lesestoffe dieser Zeit wie Schenda wirft der damaligen Kinderliteratur „mangelnde Kindertümlichkeit" vor 1 — ein Begriff, der erst aus den Anfängen unseres Jahrhunderts stammt2. Die Poetik steht bis zur Auflösung ihres normativen Charakters in engem Verhältnis zur Rhetorik 3 , und beide sind bis weit

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Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 80. Vgl. Hermann Bertlein: Kindertümlichkeit. In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 2 (1977), S. 210—211. - Hurrelmann (Jugendliteratur und Bürgerlichkeit [1974], S. 2 - 1 6 ) referiert in den Abschnitten über die ästhetische und die entwicklungspsychologische Kritik an der Jugendliteratur der Aufklärung zwar die .falschen' oder schiefen Urteile, überblickt gegen Ende ihrer Arbeit „Die Resonanz des .Kinderfreundes' in der zeitgenössischen Literaturkritik" (S. 237—253), doch kommt der poetologische und ästhetische Aspekt der damaligen Kinderliteratur allenfalls in vagen Gemeinplätzen zum Ausdruck. Vgl. Walter Jens: Rhetorik. — In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Bd. 3 (1977), S. 4 3 2 - 4 5 6 , hier S. 442; siehe auch Markwardt: Geschichte der Poetik Bd. 2 (1970), S. 31.

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ins 18. Jahrhundert auch ihrem Ziele nach identisch 4 . Erst Kant, Goethe, Schelling und Hegel greifen im Zeichen des Idealismus die Rhetorik an. 5 In zwei Maximen Goethes kommt programmatisch die Trennung von Redekunst und Poesie zum Ausdruck: Die Redekunst ist angewiesen auf alle Vortheile der Poesie, auf alle ihre Rechte; sie bemächtigt sich derselben und mißbraucht sie, um gewisse äußere, sittliche oder unsittliche, augenblickliche Vortheile im bürgerlichen Leben zu erreichen. Was man mündlich ausspricht, muß der Gegenwart, dem Augenblick gewidmet sein; was man schreibt, widme man der Ferne, der Folge. 6

Die Dichtung der Aufklärung aber zielt auf die Gegenwart des bürgerlichen Lebens. Dabei übertragen die bewährten Regeln der Rhetorik das Vertrauen in ihre Wirksamkeit auch auf die Poesie. Was wir den utopischen Grundzug in Weißes Werk genannt haben, verliert durch diesen Glauben an die Dichtung jede Unverbindlichkeit. Wie der Redner sich nach seinen Zuhörern richtet, so muß der Dichter der Aufklärung sich über das von ihm angesprochene Publikum im klaren sein. Ein Kernstück dieser Adressatengebundenheit der Aufklärungspoetik ist die Lehre von den verschiedenen Schreibarten oder den verschiedenen Tönen. Dabei ist entscheidend, daß zwischen Charakter des Autors und Stil keine Übereinstimmung zu bestehen braucht; die einzelnen Stilebenen und Töne sind grundsätzlich erlernbar. Für das 18. Jahrhundert stellt sich deshalb nicht die Frage, ob etwa ein Schriftsteller, der für Kinder schreibt, auch in irgendeiner Weise ,kindlich' sein müsse 7 . Die Schreibart der Poesie ist die Technik der gezielten Vermittlung von Lehren; Ramler faßt in seiner Batteux-Ubersetzung diesen Sachverhalt so zusammen: Die Weisheit nimmt, mit Hülfe der Poesie, alle Gestalten an, wodurch sie sich beliebter machen kann: und da der Geschmack nach jedem Alter und Stande verschieden ist: so spielt sie mit den Kindern, lacht mit dem Volke, redet mit den Königen als Königinn, und ertheilt ihre Lehren auf diese Weise der ganzen Welt. 8

Diese Auffassung einer standes- oder schichtenspezifisch ausgerichteten Sprache der Dichtung hält sich trotz aller idealistischer Ästhetik bis weit ins 19. Jahrhundert; Friedrich Schlegel nennt ganz im Sinne Batteux' den Ton „die Aeußerung der Tendenz en gros"9. Mit der Zeit ändert sich freilich die Auffassung über die konkrete Ueding: Einführung in die Rhetorik (1976), S. 108; bei Ueding und Jens auch weiterführende Literatur. 5 Jens: Rhetorik. — In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Bd. 3, S. 433. 6 Goethe: Maximen und Reflexionen (1907), N r . 511 und Nr. 892. •7 Vgl. dazu oben S. 4 9 - 5 4 . 8 Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (3. Aufl. 1769) Bd. 1, S. 273. ' Schlegel: Literary Notebooks 1 7 9 7 - 1 8 0 1 , Nr. 929, S. 103; vgl. Sengle: Biedermeierzeit Bd. 1 (1971), S. 595. 4

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Gestalt des jeweiligen T o n e s . D o c h ist es letztlich auch eine Grundregel zwischenmenschlicher K o m m u n i k a t i o n , vor allem „schichtenspezifischer" Sprache; schon Salzmann stellte in seinem „ A m e i s e n b ü c h l e i n " 1 0 fest: „ J e d e Classe von M e n s c h e n hat ihre eigne Sprache und Gewohnheiten, mit welchen man viele Bekanntschaft haben m u ß , w e n n man sich bey ihr Wohlbefinden und gefallen w i l l . " 1 1 W e l c h e Schreibart aber ist für Kinder die angemessenste? Es fällt auf, daß fast jeder Kinderbuchautor im 18. Jahrhundert die beinahe unüberwindliche Schwierigkeit, für Kinder zu schreiben, betont. Bereits 1768 ist das für Lavater ein bekanntes Problem; in der „ V o r r e d e für Aeltern und L e h r e r " zu seinem „ C h r i s t l i c h e n Handbüchlein für K i n d e r " — zu einer Zeit also, da nach dem offiziellen Kalender der Gralshüter der Kinderliteratur diese noch gar nicht begonnen h a t t e 1 2 — entschuldigt er sich: „ D a es der allgemeinen Erfahrung zufolge, schwer, ja beynahe unmöglich ist, unmittelbar

für Kinder

zu schreiben,

so über-

gebe ich hiemit zuerst E u c h ein Handbüchlein für Euere lieben Kinder und L e h r l i n g e . " 1 3 Lavater spricht aus der Erfahrung des T h e o l o g e n ; und ähnlich wie später Salzmann — ursprünglich ebenfalls T h e o l o g e — rät er, sein B u c h als H a n d b u c h für Eltern und L e h r e r zu verwenden, die sich dabei stets fragen sollten: „ W i e läßt sich dieß oder jenes in der familiaren und einfältigen Kindersprache a u s d r ü c k e n ? " D e r einflußreiche Publizist und Historiker A . L . Schlözer hat dieselben P r o b l e m e mit seiner „ V o r b e r e i t u n g zur Weltgeschichte für K i n d e r " ( 1 7 7 9 ) , die ebenso wie Lavaters Handbüchlein in einem auch nach heutigem Verständnis einzigartig schlicht e n , familiären U m g a n g s t o n geschrieben ist. Schlözer gesteht in der V o r r e d e , er habe unverhältnismäßig lange an den fünf Bogen seines Büchleins gefeilt und manche Idee opfern müssen, „ w e i l ich sie nicht in die Kindersprache übersetzen k o n n t e . " D i e Voraussetzung für den rechten T o n Kindern gegenüber besteht also zunächst in einer bestimmten A r t der Hinwendung, für die in der gesamten Zeit der A u f klärung ein T e r m i n u s feststeht: Herablassung.

G e s c h i c h t e und Inhalt dieser typi-

schen V o k a b e l der A u f k l ä r u n g 1 4 müssen kurz gestreift werden. Herablassung als συγκατάβασις ist bereits ein Begriff der antiken griechischen R h e t o r i k „ u n d bedeutet dort, dem W o r t s i n n nahe, die Anpassung des Redners an das geringere 10

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Salzmann: Ameisenbüchlein, oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher (1806); der sonderbare Titel soll zunächst Leser herbeilocken (Vorbericht S. 2), andererseits weisen die emblemartige Titelvignette und der Vorbericht direkt auf Sprüche Salomonis 6, 6: „Gehe hin zur Ameise, du Fauler; siehe ihre Weise an und lerne!" — Bereits 1602 nannte sich ein Exempelbuch „Formicarium" — vgl. Schenda: Stand und Aufgaben der Exemplaforschung (1969), S. 7 8 - 7 9 . Salzmann: Ameisenbüchlein (1806), S. 2 2 0 - 2 2 1 . Siehe dazu oben S. 55. Erschienen 1771; Das „Zueignungsschreiben an alle brafe Kinder" ist datiert: „Zürich, den 22. Christm. 1768." Narr: Fragen der Volksbildung in der späteren Aufklärung (1959/60). — In: Narr: Studien zur Spätaufklärung (1979), S. 182 - 2 0 7 , hier S. 182.

5. Zum Stilproblem

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Fassungsvermögen, die mangelhafte Denkkraft und die grobe Vorstellungswelt einer breiten Zuhörerschaft." 1 5 So konnte ein Theologe die ganze Diskussion des ausgehenden 18. Jahrhunderts in einer „Theorie der Popularität" (1805) zusammenfassen u n d die Popularität als „eine Herablassung (Condescendenz) der gelehrt und wissenschaftlich Denkenden zu der Denkweise und zu den Begriffen des Volkes" 1 6 bezeichnen. Auch hier ist der Begriff in erster Linie ein rhetorischer. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß der Kondeszendenz-Begriff eine lange theologische Tradition besaß. 1 7 Die Kondeszendenz oder „ A k k o m o d a t i o n " Gottes in ihrer einfachsten Form ist ebenfalls ,rhetorisch'. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betonte die Aufklärungstheologie „die Auffassung, daß Jesus und die Apostel aus pädagogischen Gründen, um ihre Verkündigung verständlich zu machen, sich den religiösen Vorstellungen ihrer Umwelt angepaßt hätten." 1 8 Bereits Martin Knutzen, der Lehrer Kants, sah 1747 die „Herunterlassung" Gottes auch in der „Schreibart" der Bibel, ihrem „ungekünstelt-einfältigen Vortrage" 1 9 . Die Diskussion zusammenfassend, kann ein anderer Theologe 1788 „über die Popularität des Vortrags Jesu" 2 0 handeln. D o c h war die Vorstellung von der Akkomodation Gottes nicht unumstritten. In einer holländischen Preisschrift von 1789 über die Frage, „in wie fern Jesus und die Apostel, sich in ihren Lehrvorträgen nach dem Volke accomoditi hätten" 2 1 , wird die Akkomodation nur als rhetorisches Problem gesehen: „Ein Lehrer, der sich nach der Fassungskraft des großen Haufens schickt, muß sich auch nach der Volkssprache und den gewöhnlichen Ausdrücken schicken." 2 2 — Uber das bloß Rhetorische hinaus geht eine weitere Komponente der Kondeszendenz, die sich vor allem auf den Brief des Paulus an die Philipper (2, 6—11) stützt, wonach Christus sich seiner göttlichen Gestalt entäußerte 2 3 und Menschengestalt annahm. N o c h umfassender gewendet wird dann das Verständnis von Kondeszendenz bei H a m a n n , für den „ H e r unterlassung" schließlich z u m Grundtenor seines gesamten Denkens wird. Und so ist es nicht verwunderlich, wenn anläßlich eines gemeinsamen, nie verwirklichten Planes f ü r eine „Kinder-Physik" Hamann in einem Brief an Kant die ,Herunterlassung' als zentrales Problem betrachtet: 15 16 17

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Gründer: Figur und Geschichte (1958), S. 28; Quellen siehe dort. Greiling: Theorie der Popularität (1805), S. 3. Vgl. dazu vor allem Gründer: Figur und Geschichte (1958), S. 28 — 74 und knapp zusammenfassend den Artikel „Kondeszendenz" (Verf.: Redaktion). — In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 4 (1976), Sp. 942 -946. Hornig: Akkomodation. - Ebenda Bd. 1 (1971), Sp. 125-126, Zitat Sp. 125; vgl. auch Gründer: Figur und Geschichte (1958), S. 60-71. Zit. nach ebenda S. 57. Carl Viktor Hauff, vgl. ebenda S. 66. Hemert: Ueber Accomodation im Neuen Testament (1797), S. IV. Ebenda S. 28. Griech.: έαυτόν έκένωοεν — daher der Begriff Kenose. Vgl. Seils: Kenose. — In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 4 (1976), Sp. 813-815.

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Das größte Gesetz der Methode für Kinder besteht also darinn, sich zu ihrer Schwäche herunterzulaßen; ihr Diener zu werden, wenn man ihr Meister seyn will; ihnen zu folgen, wenn man sie regieren will; ihre Sprache und Seele zu erlernen, wenn wir sie bewegen wollen die unsrige nachzuahmen.24 Man braucht hier nicht unbedingt von einer Säkularisation des theologischen Kondeszendenzbegriffes zu sprechen, da dieser zu jeder Zeit ja auch rhetorisch gefärbt war 2 S . Auch in der Pädagogik vor Hamann kennt man die Herablassung als Voraussetzung für den Umgang mit Kindern 2 6 : Der erst später als Ästhetiker bekanntgewordene Johann Georg Sulzer fordert in seinem „Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder" ein „genaues Erkänntniß [. . .] der kindlichen Gemüt h e r " 2 7 und „mit den Kindern auf eine kindische, aber dabey doch anständige Art zu sprechen" 2 8 . Bereits bei Comenius finden wir Hinweise, die auf eine Art rhetorische Herablassung zu den Kindern deuten 29 . Er betont am Umgang mit Kindern mehr die pädagogische Selbstverständlichkeit; bei Hamann erhält die Liebe zu den Kindern einen ganz anderen Akzent, wenn er im Anschluß an die zitierte methodische Voraussetzung fortfährt: Dieser practische Grundsatz ist aber weder möglich zu verstehen, noch in der That zu erfüllen, wenn man nicht, wie man im gemeinen Leben sagt, einen Narren an Kindern gefressen hat, und sie liebt, ohne recht zu wissen: warum?30 24

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Hamann: Sämtliche Werke Bd. 2, S. 373; die zwei betreffenden Briefe an Kant von 1759 veröffentlichte Hamann 1763 als „Zugabe zweener Liebesbriefe an einen Lehrer der Weltweisheit, der eine Physick für Kinder schreiben wollte" zu seinen „Fünf Hirtenbriefen das Schuldrama betreffend" - ebenda S. 352—374, die beiden Briefe auch in Hamann: Briefwechsel Bd. 1, Nr. 168 u. 169, S. 444-447. Reiner Wild betont in seinem Aufsatz „Natur und Offenbarung. Hamanns und Kants gemeinsamer Plan zu einer Physik für Kinder" (1977) den genuin Hamannschen theologischen Kondeszendenzbegriff, von dem aus dieses Zitat zu verstehen sei — was zweifellos zutrifft. Der Gesamtkontext der Zeit wie der spezielle dieser Briefe weisen aber auch hier auf einen eminent rhetorischen Charakter der Herunterlassung. Wild (ebenda S. 457) sieht Hamann ohne Vorläufer und nennt dessen Auffassung „ein Prinzip der fortschrittlichen Pädagogik der Aufklärung, in der die Besonderheit kindlicher Weltaneignung überhaupt erst entdeckt" wurde; wie wenig dieses Ondit stimmt, zeigt nicht nur die rhetorische Tradition, sondern darauf wurde bereits oben (S. 133) hingewiesen. Sulzer: Versuch von der Erziehung (1748, EA 1745), S. VIII; die Vorrede dieser zitierten 2. Aufl. ist auf 1746 datiert. Ebenda S. 75. Vgl. Komensky: Die Ubergabe der Fackel. — In: Komensky: Analytische Didaktik und andere pädagogische Schriften (1959), S. 185: Denen, „die meine Arbeiten als Kindereien verlachen, antworte ich selbst, daß ich mich hewußt bemüht habe, für Kinder bestimmte Stoffe Kindern darzureichen, und bedauere, daß ich es nicht noch kindgemäßer tun konnte. Für die Großen gehören große Dinge; ich hatte Freude daran, als Kleiner mit Kleinen zu spielen [. . .]." Hamann: Sämtliche Werke Bd. 2, S. 373; „verstehen" und „erfüllen" sind in der Briefausgabe gesperrt (Bd. 1, S. 446).

5. Zum Stilproblem

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Das ist eine Vorstellung, die so gut wie allen Kinderbuchautoren des 18. Jahrhunderts fremd ist. Erstens weiß jeder von ihnen, warum er Kinder „liebt": die meisten, weil Kinder die Zukunft der neuen bürgerlichen Gesellschaft sind, andere, weil sie beim Mode-Geschäft dabei sein wollen, oder Weiße, weil er die alte ästhetische Ordnung in Gefahr sieht und deren Rettung und sein Publikum nur noch bei Kindern zu finden glaubt. Zweitens: die unlösbare Verquickung von rhetorischer Technik (Herablassung) und echter unbedingter Kinderliebe — fast schon „Kindlichkeit" — hebt die Einheit von Rhetorik und Poetik zugunsten einer Selbstaussprache des Individuums auf und ist damit für die ästhetisch konservativen Kinderbuchautoren zu revolutionär. Für viele Autoren der Aufklärung muß die Herablassung etwas Entwürdigendes an sich gehabt haben; der bloße Wille, einen bestimmten Ton anzustimmen, reicht eben doch nicht aus. Am besten dokumentiert das einer der führenden Köpfe der Philanthropisten : Was die Erziehung noch ferner schwer macht, ist, daß sich der Erzieher in der N o t wendigkeit befindet, sich zu den Kindern herabzulassen. Dis ist dem gebildeten Geist höchst unangenehm, [. . .] kostet ihm mehr Mühe und mehr Aufwand an Kraft, als selbst tiefe Spekulation, weil bei dieser der Geist sich anspannt und hebt, welches ihm behaglicher und seiner Natur angemessener ist, als sich abzuspannen, zu sinken, und sich in dieser gewaltsamen Erniedrigung stundenlang zu erhalten. 31

Auch wenn Trapp hier vom Unterricht spricht : eine solche Haltung kann weder gute Pädagogen, noch gute Kinderbuchautoren hervorbringen. Neben den Kindern ist bekanntlich das ,Volk' das heikelste Gegenüber für einen Schriftsteller; wir werden bei Pocci sehen, wie noch im 19. Jahrhundert der Mißgriff im Ton zum Scheitern als Volksschriftsteller führen kann. Das Mißlingen der Volksaufklärung im späten 18. Jahrhundert hat man teilweise auch auf eine falsche Art der Herablassung zurückgeführt: „Geschieht aber diese Annäherung an den (Volks-) Zögling vom hohen Balkon des Bildungsmenschen herab, dann kann die pädagogische ,Behandlung' nahezu zur Unverschämtheit werden." 3 2 Die Art der Herablassung, der Anpassung an das Fassungsvermögen, bestimmt auch den Kinderton. Dieser aber als die rechte Schreibart für Kinder kann auch im 18. Jahrhundert die unterschiedlichsten Gestaltungen erfahren. Vergegenwärtigen wir uns die im Mythos und der rhetorischen Theorie von der Herablassung enge Verbindung von Kind und Volk 3 3 — das „Volk und die Kinder müssen auf einerlei Art behandelt werden", meint auch Trapp 3 4 —, so dürfen wir auf den Kinderton übertragen, was Friedrich Sengle über den Umfang und die Vielfalt des Volkstons 31 32

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Trapp: Versuch einer Pädagogik (1780), S. 1 3 - 1 4 . Narr: Fragen der Volksbildung (1959/60). — In: Narr: Studien zur Spätaufklärung (1979), S. 206-207. Siehe oben S. 4 6 - 4 9 . Trapp: Vom Unterricht überhaupt (1787), S. 149.

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zur Biedermeierzeit sagt: „Rokoko-Naivität, antikisierende Einfalt, schlichte sittliche Belehrung, mittelalterliche und biblische Sprache können mit dem Wort Volkston gemeint sein." 3 5 Als Weiße seine Kinderbücher schreibt (1765—1792), entwickeln sich auch alle diese Töne als Volks- oder Kindertöne. Die Kinderliteratur der Aufklärung kennt als genuine Kindertöne: eine Art mittelalterlichen Volkston (Romanzenton), die Herablassung zur realistischen' Kindersprache, den Ton schlichter sittlicher Belehrung und jenen Ton, den Sengle mit ,Rokoko-Naivität' umschreibt. Als zur Zeit der Entdeckung oder, wie Bausinger sagen würde, .Erfindung'36 der Volkspoesie Weiße von Herders Plan zur Ausgabe „alter deutscher Lieder" hört, begrüßt er das zwar, wendet sich aber vehement dagegen, „daß wir alle wieder so singen, denken und reden sollen, wie man vor 300 Jahren geredet hat", und lehnt die Romanzen ab. Er verflucht den „albernen Schwindel der Barden', Minne- und Wonnesänger" und vor allem die Dichter des „Göttinger Hains", jene „Bande junger Göttinger, die dem Wandsbecker Boden, oder Hr. Asmus Boden in Hamburg [ = Matthias Claudius] nachlaufen, der durch seine vermeynte Laune, weil er nicht spricht wie andere vernünftige Leute, ihre Bewunderung auf sich zieht." 3 7 Weiße teilt die Ablehnung jenes Tones, der uns heute besonders volkstümlich' anmutet, mit anderen Zeitgenossen. Im „Deutschen Museum" erscheint 1778 eine kritische Parodie und Satire auf den neuen .Volkston' des „Wandsbecker Boten"; nach einem Hinweis auf Goethes „Götz" als mögliche Quelle dieser Mode nennt der Verfasser den wahrscheinlichen Grund: Heutzutage „wolten die Gelehrten ungelehrt schreiben, damit man sähe, sie wären Genies"; in diesem Ton aber redeten weder Bauer noch Edelmann: Ist also ein erfundnes, gekünsteltes ausstudirtes Ding, was man lernen mus, wie Latein; wär's den Herren ein Ernst, für uns gemeine Leute zu schreiben : solten sie das Verdrehen der Worte und das Häkchenmachen ganz seyn lassen; solten ich und du hinsezen, wo's hin gehört; und dann nur hübsch schreiben, was sie recht bedacht hätten: würden wir Unstudirte es schon verstehn, wenn's sonst nur nicht über unsern Horizont ist. 3 8

Das ist fast eine Abkehr von der Tönerhetorik, denn diese will ja „wie Latein" erlernt werden, eine Abkehr zumindest von ,neuen',,erfundenen' Tönen. Zwar gibt es vereinzelt Stimmen, die die neue „Volkssprache", den „Romanzenton" als Bereicherung des Kindertones empfehlen39. Repräsentativ aber ist die Kritik eines Rezensenten der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek"; der Tadel trifft eben diesen 35 36 37 38

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Sengle: Biedermeierzeit Bd. 1 (1971), S. 621. Bausinger: Formen der „Volkspoesie" (1980), S. 11 — 19. Brief vom 7. 1. 1775 - Weiße an Uz, S. 1175. Deutsches Museum 1778, Bd. 2, S. 127—132: Antwort eines andern Vetters, das Studium der schönen Wissenschaften betreffend; Zitat S. 130. [Anonym:] Abhandlung über die Art, wie Briefe für Kinder zu schreiben sind (1787), S. 16-17.

5. Zum Stilproblem

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Ton, den ein Namensvetter des Matthias Claudius, Georg Carl Claudius (1757 bis 1815), in seine Kinderbücher übernommen hat: Unerträglich wird uns auch nach und nach die Narrethey, durch Verstümmelung der Wörter und Weglassung der Fürwörter, eine Kindersprache zu affektiren, z.B. (wir) Werdens zu seiner Zeit schon erfahren. Er sprach bey sich selbst: wolltest sparsamer seyn. Wissens selbst nicht. Ne, Ne. Weis' mal her. Wie'n Windchen, und dgl. m. Warum fängt man nicht lieber gar an, in solchen Büchern mit den Kindern zu lallen und zu tatschen? Sollen sie denn nicht den Nutzen aus solcher Lektüre haben, daß sie nach und nach anfangen, rein und männlich zu reden? 40

Ernst Christian Trapp, von dem wohl diese Rezension stammt 41 , vertritt hier sicher auch Weißes Meinung. Allerdings wertet der Rezensent diesen Ton anders als der zitierte Parodist; er rückt ihn nämlich in die Nähe der Wirklichkeitsnachahmung 42 , die der kritisierte G. C. Claudius sicher auch anstrebte. Die Herablassung zur realistischen' Kindersprache als weiterer, aber wie wir sehen werden, untauglicher Kinderton hat ihren eigentlichen Ursprung in der bekannten Freude des Erwachsenen an kindlicher Einfalt und naiver Komik; auch in der Kinderliteratur späterer Zeiten kennen wir aus solcher Haltung entstandene mißlungene Versuche 43 . Wer durch Sprache und Literatur erziehen will, dem muß diese Art des Kindertones ein Dorn im Auge sein. Schon Gottsched mißfallen die Kinderwärterinnen nicht nur wegen ihrer gemeinen Sprache und Sitten, sondern weil sie „aus thörichter Gefälligkeit gegen die Kinder, [. . .] mit verstümmelten und abgebrochenen Worten" 4 4 reden. Da mit der Bildung der Sprache auch das Denken geformt wird, wiederholt Gottsched an anderer Stelle die Wichtigkeit, die eine vernünftig denkende und sprechende Umgebung für die Kinder hat, und er kann sich dabei auf Quintilian, die neben Cicero bedeutendste rhetorische Autorität, berufen 4 5 . N u n spukt in den Köpfen vieler Philanthropisten die Vorstellung, alles müsse zum Spiel gemacht werden; so könne man, ohne daß die Kinder es merken, ihnen

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Rez. von *Ch. C . Cl-us [d.i. Georg Carl Claudius]: Kleine Unterhaltungen. Ein Weynachtsgeschenk f ü r Kinder. Leipzig: Böhmen 1780 — Allgemeine Deutsche Bibliothek Bd. 43, 1. St., (1780), S. 284. Die Rezension steht am Schluß der Rubrik „Erziehungsschriften" ohne folgende Sigle. Auch für den schon zitierten Prediger Greiling ist Popularität nicht „ g e m e i n e S e i c h t i g k e i t " oder „ P l e b e i t ä t " , die entsteht, „wenn man Wendungen, Redensarten, Ton und Dialekt des gemeinen Mannes in die Rede verwebt, wodurch die Rede um Schönheit und Würde gebracht, die Sache lächerlich, der Redner komisch wird, und alle Gunst verscherzt". — Greiling: Theorie der Popularität (1805), S. 152. Vgl. unten im Busch-Kapitel S. 348-349; ferner z.B. in Paula und Richard Dehmels „Fitzebutze" (1900), S. 6: „Nein, sagt Mutta, Dott ist dut, / wenn man a'tig beten thut [. . .]." Gottsched: Ausführliche Redekunst (5. Aufl. 1759). - Ausgewählte Werke Bd. 7,1, S. 114. Ebenda S. 360.

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allerhand beibringen 46 . Auch Hölderlin, der als Hofmeister mit der pädagogischen Diskussion der Zeit vertraut war, spricht von der „kleinlichen, spielenden, pedantischen und doch kindischen Manier der Pädagogen, die eine Weile so großen Lärm machten", erkennt aber die vielzitierte Schwierigkeit in der Haltung den Kindern gegenüber. 47 Von der „Infantilisierung von Kindern und Erziehern" 48 berichtet der schon im ersten Teil dieser Arbeit zitierte Carl Spazier; er ist Zeuge, wie sich die Lehrer des Basedowschen Philanthropins vor ihren Schülern lächerlich machen: In einer Klasse, worin junge Leute bis zu dreizehn, vierzehn Jahren saßen, brachte er [sc. Christian Hinrich Wolke], unter stetem Gestikuliren und seltsamem Getön, kleine kindische Späße und Fragen auf, deren ich mich in der Seele der Zöglinge, die hinter dem Rücken darüber lachten, noch mehr aber in des Pädagogen Seele schämte, der [. . .] sich selber so Preis g a b . 4 9

Hier wird falsch verstandene Herablassung zur Nachahmung: Auch in der Kinderliteratur führt dies zu einer Nachahmung der Kindersprache. Wenn hier auch zum ersten Mal eine Art,Realismus' ins Kinderbuch Einzug hält, so doch um den Preis, daß er für Kinder uninteressant wird und zurecht vergessen ist. So ist Schummeis „Gespräch eines Vaters mit einem Dreyjährigen Kinde" ausdrücklich zum Vorlesen für kleinere Kinder bestimmt 50 : Kind. Was ist denn das vor ein Mann? Vat. Ich kenn ihn nicht. Kind. Wo geht der Mann hin? Vat. Das weiß ich nicht. Kind. Da geht auch eine Frau, was hat sie denn in der H a n d ? Vat. Einen K o r b . Kind. Was ist denn im Korbe? Vat. Vielleicht sind Eyer drinn.

Die literarische Kritik war sich zumindest darin einig, daß Kinderton nicht Nachahmung der unvollkommenen Sprechweise der Kinder sein darf, kein „kraftloser, wäßrichter, schlechter Stil, voll ekelhafter Wiederholungen und tätschelnder Ausdrücke", bei dem man den Eindruck gewinnt, daß solche Kinderbücher „von Kindern und nicht für Kinder geschrieben wären" 5 1 . Der viel zitierte Theologe, Schulmann und Mitherausgeber der „Berlinischen Monatsschrift" Friedrich Gedike faßt knapp zusammen : „Der Schriftsteller für Kinder muß freilich, so wie überhaupt 46

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Vgl. dazu ausführlich Eischenbroich: Kinder werden nicht geboren (1977), S. 157—200: „ D i e Spielpädagogik der Philanthropisten". Brief N r . 98 vom 20. 4. 1795 an die Schwester - Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe Bd. 2, S. 651. Eischenbroich: Kinder werden nicht geboren (1977), S. 195. Vgl. dazu oben S. 71; zit. nach Pinloche: Geschichte des Philanthropinismus (1914), S. 136. Schummel: Kinderspiele und Gespräche T h . 1 (1778), S. 1 1 3 - 1 2 8 ; Zitat S. 116; vgl. Vorrede S. I X . Wezel: Robinson Krusoe T h . 1 (1779), S. X X X I I (Vorrede).

5. Zum Stilproblem

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der Lehrer, die große Kunst verstehen, sich zu den Fähigkeiten und Begriffen seiner jungen Leser herabzulassen. Aber dazu gehört nicht, daß er selbst wie ein Kind lalle und stammle." 52 So bemängelt Trapp bei Salzmann „die vielen unaufhörlich wiederkommenden Diminutive", obwohl dieser gar keinen Grund habe, seine Zuflucht dazu zu nehmen, da er die „Kindersprache [. . .] in dem, was ihr wesentlich ist" vortrefflich rede. 53 Trapp meint keine .realistische' Nachahmung der Kindersprache, die ja im Grunde nur den ästhetisch nicht geschulten Dilettanten verrät, sondern einen ,rhetorischen' Kinderton. In anderen Rezensionen umschreibt er das ,Wesentliche' dieses Tones, den man bei der Herabstimmung zur kindlichen Begreiflichkeit anschlagen muß. So heißt es einmal: „Man kann es nicht oft genug wiederholen, daß der Stil in Büchern für die Kinder und Jugend äußerst rein, kunstlos, faßlich und fließend seyn muß." 5 4 — Und an anderer Stelle fordert er etwas präziser einen „leichten Stil, kurze, nicht verwickelte Perioden, sinnliche Gegenstände [. . .]; schnelle Uebergänge von einer Sache zur andern, wie sie in der Seele eines Kindes gewöhnlich sind." 5 5 Was der Pädagoge Trapp verlangt, ist mit Sengles Worten der Ton „schlichter sittlicher Belehrung" ; es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn er an Weißes „Kinderfreund" manches auszusetzen hat: „Der Ton des Ganzen ist nicht der simple, der in dem Rochowschen Kinderfreund ist, und in Büchern für kleinere Kinder auch für die meisten der größern billig seyn sollte; es ist der geschmückte, oft mit Gedanken und Ausdruck aus der Kindersphäre ausweichende Ton [. . ,]" S 6 . Hier zeigt sich, was Weiße von den meisten Kinderbuchautoren der Zeit trennt und was wir oben ausführlich diskutiert haben: der literarische Anspruch, das Gleichgewicht von prodesse und delectare und damit auch in vielen Teilen seines Werkes ein Kinderton, der über schlichte sittliche Belehrung, wie wir sie noch durchweg in den 52

Gedike: Gedanken über Schulbücher und Kinderschriften (1787). — Gesammlete Schulschriften [Bd. 1] (1789), S. 4 2 2 - 4 6 6 , hier S. 430. - Vgl. auch Schlegel/Batteux: Einschränkung der schönen Künste (3. Aufl. 1770) Th. 2, S. 120: „Wie viel Kunst gehöret nicht dazu mit Kindern zu lallen, und zwar so, daß Männer nicht nur keinen Ekel dawider fassen, sondern auch ihre Lust daran finden, mitzulallen?" — Aus Schlegels „Von der frühzeitigen Bildung des Geschmackes".

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Rez. von Salzmanns: Anweisung zu einer zwar nicht vernünftigen, aber doch modischen Erziehung der Kinder (1780; benutzte Ausgabe 1788) — Allgemeine Deutsche Bibliothek Bd. 49 (1782), 2. St., S. 5 0 9 - 5 1 0 . Rez. von: "Oer Jugendbeobachter. Zweytes Bändchen. — Hannover 1777 — ebenda Bd. 36 (1778), 2. St., S. 574. Rez. von: '''Briefwechsel einiger Kinder. — Dessau: Heylbruch 1776 — ebenda Bd. 29 (1776), 2. St., S. 560. Rez. des Kinderfreundes Th. 1 - 3 (1776) - ebenda Bd. 31, (1777), 2. St., S. 571; vgl. ähnlich in Trapps Rezension der beiden letzten Teile (23 und 24) des Kinderfreundes ebenda Bd. 53, (1783), 1. St., S. 229: „Zwar hab ich hin und wieder bisweilen etwas auszusetzen gefunden, hauptsächlich am Ausdruck, der mir nicht immer faßlich und bestimmt genug schien [. . . ] . "

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Beispielerzählungen von Weißes „Neuem Α, Β, C , Buch", aber auch in den nur Fakten vermittelnden lehrhaften Teilen des „Kinderfreundes" finden, hinausgeht. Für Campe freilich ist alles, was die Grenzen der Stofflichkeit überschreitet, nur „wohlgeübte Schönschreibekunst", „Reiz eines zierlichen und kostbaren Putzes", der den Stoff begräbt. Es ist kein Wunder, daß Campes Kargheit und Stoffverliebtheit vor den Augen der Lehrer-Kinderliterarhistoriker des letzten Jahrhunderts mehr Gnade fand als Weißes naive Grazie S7 . In seiner Bearbeitung von Sophie von La Roches Reiseroman „Erscheinungen am See Oneida" — auf die sich die obigen Zitate beziehen — zerstört Campe das ursprüngliche Werk völlig; vom Charme und der erzählerischen Anmut ist nichts geblieben, im Gegenteil: Campe hat zur Erhöhung des Nutzeffektes „aus anderweitigen guten Quellen einige nützliche Sachkenntnisse, die Erdbeschreibung von Nordamerika und die Geschichte der Quäker betreffend, einfließen lassen". Will Campe seine Sprache für Kinder „von allen Zuthaten der Kunst entblößt" 5 8 wissen, so zeigen Weißes Werke solche Zutaten, die eine Herablassung nur prätendieren, in Wirklichkeit aber doch versuchen, die Leser zu sich emporzuziehen. Weiße wehrt denn auch Trapps oben zitierten Vorwurf, sein Ton sei nicht der simple Rochows, beleidigt ab: Wenn ich für kleine Bauernkinder von 5. und 6. Jahren Mährchen schreiben will, kann ich es auch, und mein Abcbuch ist älter, als des Herrn v. Rochau seines. „Manches ist zu hoch für Kinder." Für unsre Sächsischen Kinder warrlich nicht, zumal wenn sie so alt sind, wie ich die meinigen beschreibe von 10—14 Jahren [Weiße sagt die Unwahrheit: Seine Kinder im „Kinderfreund" sind 5—11 Jahre alt!], und haben sie denn keine Aeltern und Hofmeister, dass sie fragen können, wenn sie etwas nicht verstünden? 59

Weißes Kinderton ist Teil des allgemein gültigen Ideals einer „guten Schreibart", die Gottsched so charakterisiert hat: „Sie muß l)deutlich, 2)artig, 3)ungezwungen, 4)vernünftig, 5)natürlich, 6)edel, 7)wohlgefaßt, 8)ausführlich, 9)wohlverknüpft und 10)wohlabgetheilet seyn." 6 0 Analog zu den drei genera dicendi der antiken Rhetorik unterscheidet er die gelassene, die sinnreiche und die bewegende Schreibart und empfiehlt für lehrende Reden und Predigten die erstere, die auch die „gemeine Art" des Ausdrucks im täglichen Leben umfasse; als konkrete literarische Beispiele dienen unter anderem einige Moralische Wochenschriften 61 . Noch Ramler steht mit seiner Batteux-Ubersetzung, was die „verschiedenen Gattungen der Schreibart" 6 2 angeht, 57 58

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Vgl. z.B. Göhring: Anfänge der deutschen Jugendliteratur (1904), S. 54 bzw. 56. Campe: Neue Sammlung merkwürdiger Reisebeschreibungen für die Jugend Th. 2 (1802), Vorbericht S. 165—167 zu „Reise eines Deutschen nach dem See Oneida in Nord-amerika." — Vorlage: Sophie von La Roche: Erscheinungen am See Oneida Bd. 1 - 3 (1798). Brief Nr. 76 vom 13. 8. 1777 - Briefe von Weiße an Ramler I I I , S. 251. Gottsched: Ausführliche Redekunst (5. Aufl. 1759). - Ausgewählte Werke Bd. 7,1, S. 393. Ebenda S. 4 0 6 - 4 0 8 . Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (4. Aufl. 1774) Bd. 4, S. 193—201 (so der Titel dieses Abschnitts).

5. Zum Stilproblem

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ganz in derselben Tradition wie Gottsched. Stil, Schreibart, Ton oder Farbe sind identische Begriffe für ihn, und auch er kennt „drey Gattungen der Schreibart, die gesellschaftliche, die mittlere, und die hohe" 6 3 . Gerade im Zusammenhang mit der Bildung des Geschmacks in Weißes Kinderbüchern, einer gesellschaftlichen und ästhetischen Angelegenheit, ist es von Bedeutung, daß die entsprechende Schreibart bei seinem Theoretiker die „gesellschaftliche" heißt. Zumindest für die poetische Prosa der gelassenen oder gesellschaftlichen Schreibart herrscht während der gesamten Zeit der Aufklärung das stilistische Ideal der Einfachheit und Natürlichkeit — zweifellos auch im Nachklang des horazischen Ideals der „aurea mediocritas" 64 . Ramler geht so weit, „die Sprache der Freyheit, der Aufrichtigkeit, der edlen Einfalt" als „Naivität" zu bezeichnen. 65 Naivität und edle Einfalt meint hier das, was Sengle mit „Rokoko-Naivität" umschreibt. Und auch Weißes Forderung nach Einfalt im Stil darf nicht ahistorisch mit Campes „von allen Zuthaten der Kunst" entblößter Kargheit verwechselt werden. Wir wollen versuchen, Weißes Begriff von Natürlichkeit und seinen ,Kinderton' näher zu umreißen, wie er sich in seinen Kinderliedern, den Erzählungen, Gesprächen und Schauspielen des „Kinderfreundes" findet. Durch den Mund des Poeten Spirit wendet er sich gegen den „blühenden poetischen Styl" von Fénélons „Télémaque": „Auch bin ich eben kein Freund von der poetischen Prose und ziehe zumal für eure Jahre eine leichte, ungeschmückte, ungekünstelte Erzählung allem Pomp der Sprache vor." 6 6 Er beschwört die Einfalt, unabhängig vom Adressaten, als höchstes Ziel: In Künsten und Wissenschaften ist die Einfalt ebenfalls eine der herrlichsten Eigenschaften. Es ist der ungezierte, aber edle Ausdruck, der der Natur der Sachen, die man beschreibt oder bildet, eigenthümlich und angemessen ist, sich nicht mit Pracht und Flittergold schmückt, nicht gefallen will und gerade dadurch am meisten gefällt. 67

Wie sehr den heutigen Betrachtern der Sinn für die Historizität eines Stiles verlorengegangen ist, zeigt stellvertretend für viele andere Sophie Köberle, die den Stil des „Kinderfreundes" „im ganzen geschraubt und weitschweifig" 68 und Weißes Kinderfiguren „steife, gezierte Puppen" nennt 69 . Solche Urteile beruhen auf Un63 54

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Ebenda S. 193. Vgl. auch Narr: Aus dem Wörterbuch der Aufklärung (1963). — In: Narr: Studien zur Spätaufklärung (1979), S. 286—316, Zitat S. 303; Narr nennt die edle Simplizität der Sprache als Ziel der Aufklärung. Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (4. Aufl. 1774) Bd. 4, S. 203. Weiße: Kinderfreund Th. 12 (1778), 162-166. St., S. 156. Ebenda S. 158. Köberle: Jugendliteratur zur Zeit der Aufklärung (1972, EA 1924), S. 53; als Quellensammlung aufgrund der Nicolaischen „Allgemeinen Deutschen Bibliothek" immer noch unentbehrlich, in den Urteilen und auch sonst nur mit Vorsicht zu benutzen. Köberles Arbeit ist ein im wesentlichen unveränderter Nachdruck ihrer maschinenschriftlichen Dissertation von 1924. Ebenda S. 117.

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kenntnis der T e x t e und vernachlässigen den W a n d e l des . G e s c h m a c k s ' . W i e im V e r ständnis des 18. J a h r h u n d e r t s affektierte Kinder, also „steife, gezierte P u p p e n " aussehen, beschreibt W e i ß e eindringlich im Zusammenhang mit der Diskussion des Stilideals der Einfalt: Die Familie von Strotzer hat „in ihrem H a u s e einen so gezwungenen

und unnatürlichen

Ton eingeführt, daß man nicht weiß, o b man sie be-

lachen, o d e r vielmehr Mitleiden mit ihnen haben m u ß " 7 0 . M e n t o r berichtet: Ihre [der Kinder] Figuren waren so lächerlich neumodisch und altvaterisch durcheinander, daß sie wahre Carricaturen vorstellten. Das Mädchen hatte eine Frisur und einen Kopfputz, der gerade das Drittel von ihrer ganzen Figur ausmachte. Sie ragte mit ihrem kurzen Oberleib aus einem Reifrocke hervor, als ob sie in einer Tonne stäk: ihr Kleid war mit Bändern und Quasten über und über frisirt, und endlich stund sie auf ein paar Stelzen von Schuhen, daß es unbegreiflich war, wie sie darauf gehen konnte: sie machte mit einer gelehrten Kunst den Fächer auf und zu. Ihr Bruder erschien in einem eben so affektirten Gallaaufzug [!], und sein Tuppè war so hoch als die Hälfte seines Gesichts. Sie machten mir dabey ein so affektirtes Kompliment, das ihnen die gelehrte Mama [. . .] auswendig gelernt hatte, daß ich in der größten Verlegenheit war, es zu beantworten: Sie sagten uns, daß ihre gnädige Mama ganz von der Flamme der Ungeduld verzehrt werde, den edlen Stamm mit den glücklichen Pflänzchen des Kinderfreundes zu sehen. Es brauchte einer sehr ernsthaften Miene, daß ich die glücklichen Pflänzchen abhielt, nicht in lautes Lachen auszubrechen. Ihre Bewegungen, Wendungen, Verbeugungen, Gesichtszüge, alles war gerenkt, und sie1 dauerten mich, weil man, zumal an dem Knaben, die Gewalt sah, die sie sich anthun mußten, ob sie gleich schon durch die lange Gewohnheit in diesen Zwang gepreßt und geformt waren. 71 D i e Kinder reden und handeln ihrem Stand unangemessen; für ihre Sprache und für die H i n w e n d u n g zu ihnen fordert W e i ß e — e contrario — einen ungezwungenen und natürlichen T o n . E r hat auch für seinen Kinderton die ästhetische Stütze in R a m l e r s B a t t e u x - Ü b e r s e t z u n g . D o r t heißt es von der äsopischen Fabel — was in unserem heutigen Verständnis die Gattung Fabel v o m T y p der äsopischen meint —, diese sei „eigentlich zu reden, das Schauspiel der K i n d e r " 7 2 ; die fehlende R ü c k s i c h t n a h m e auf den eigentlichen Unterschied der Gattungen deutet auf den Vorrang der Schreiba r t 7 3 . W a s aber ü b e r die Schreibart der Fabel gesagt w i r d 7 4 , trifft genau den Stil von 70 71

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Weiße: Kinderfreund T h . 12, (1778), 167. St., S. 164; Hervorhebung von mir. Ebenda S. 170—171, die Titelvignette stellt diese Szene dar; durchaus glaubwürdig erklärt Weiße am Schluß des Bandes, daß er nach dem Druck der Bogen den *„Goettinger Taschen Calender" Lichtenbergs von 1779 erhalten habe und die 12 Kupfer darin über „Natur und Affektation in verschiedenen Auftritten des menschlichen Lebens" mehr als sein Kommentar sagen würden (ebenda 169. St., S. 198—199). Vgl. auch Sauder: Empfindsamkeit Bd. 1 (1974), S. VII—VIII, über die zweite Folge der „Natürlichen und affectirten Handlungen des Lebens", die im „Goettinger Taschen Calender" von 1780 erschienen. Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (3. Aufl. 1769) Bd. 1, S. 271; über die äsopische Fabel vgl. ebenda S. 271—349. J . A . Schlegel nennt diese Bezeichnung Batteux' in seiner Übersetzung „einen witzigen Einfall" (Schlegel/Batteux: Einschränkung der schönen Künste [3. Aufl. 1770] Bd. 1, S. 344), der zwar die Gattungszugehörigkeit übersehe, aber Anschaulichkeit besitze.

5. Zum Stilproblem

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Weißes Kinderbüchern; n o c h B o u t e r w e k nennt 1806 in seiner „ Ä s t h e t i k " den Geist der äsopischen Fabel „ K i n d e r g e i s t " und meint, „der natürlichste F a b e l t o n " sei der einer „witzigen Kindlichkeit oder N a i v e t ä t " 7 5 . Ramler aber schreibt v o r : „ D i e Fabel m u ß in einer einfältigen, vertrauten, anmuthigen, natürlichen, ja gar naiven Schreibart abgefaßt w e r d e n . " 7 6 Diese fünf Charakteristika machen Weißes naiven T o n aus, von dem Walter H i n c k meint, daß er „selbst das Banale n o c h erträglich m a c h t " 7 7 . Freilich müssen wir Ramlers nähere Bestimmungen hinzunehmen, um nicht in jenes o b e n getadelte ahistorische Verständnis zu verfallen: D a n a c h besteht die Schreibart

einfältige

darin, „ d a ß man mit wenigen W o r t e n und in den gewöhnlichen Aus-

drücken sagt, was man zu sagen h a t . " In der Definition der vertrauten

Schreibart

wird auch der Charakter der „gewöhnlichen A u s d r ü c k e " b e s t i m m t ; diese Schreibart verwendet, „was in der Sprache des Umgangs am feinsten und artigsten ist. Es ist gar nicht erlaubt, alles zusammen zu raffen, was im gemeinen L e b e n gesprochen w i r d . " 7 8 Das ist einer der Kernsätze, der den Kritikern des angeblich unnatürlichen, lebensfernen Stiles der damaligen Kinderliteratur entgegenzuhalten i s t . 7 9 Hurrelmann irrt im G e f o l g e von Percy Ernst S c h r a m m fundamental, wenn sie die „ D i k t i o n eines Kinderschauspiels" mit der Sprache von zeitgenössischen Kinderbriefen vergleicht, die die wirkliche Sprache widerspiegelten, und Ü b e r e i n s t i m m u n g konstat i e r t 8 0 ; wer B r i e f e , zumal aus dem 18. J a h r h u n d e r t , als A b b i l d der realen Umgangssprache sieht, zeigt völlige U n k e n n t n i s . 8 1 A u c h Kinderbriefe sind nach bestimmten Regeln abgefaßt; eine „ A b h a n d l u n g über die A r t , wie Briefe für Kinder zu schreiben

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Diese Ausführungen stammen offenbar von Ramler, in Schlegels Übersetzung findet sich nichts davon. Bouterwek: Ästhetik (1806), S. 431; Bouterwek hebt davon deutlich den „energischen Styl der Lessingschen" Fabel ab. Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (3. Aufl. 1769), Bd. 1, S. 284. Hinck: Das deutsche Lustspiel (1965), S. 312. Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (3. Aufl. 1769), Bd. 1, S. 284-285. Sicher der schärfste Kritiker der aufklärerischen Kinderliteratur Frankreichs, Englands und Deutschlands ist Paul Hazard, der zusammenfassend meinte: „So wirkt sie denn auch im Abstand von etwas mehr als hundert Jahren wie ein Riesenabfallhaufen." — Hazard: Kinder, Bücher und große Leute (1970, französ. EA 1949), S. 66. Vgl. Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 15; sie bezieht sich auf Schramm: Neun Generationen Bd. 1, S. 2 2 6 - 2 2 7 , wo zwei Briefe von einem neunjährigen Mädchen zitiert sind, die zweifellos wie damals üblich unter der Anleitung eines Erwachsenen geschrieben sind und die man trotz allem nicht „gestelzt" nennen kann. Knappe Informationen bei Wilhelm Grenzmann: Brief (Neuzeit). - In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Bd. 1 (1958), S. 1 8 7 - 1 9 3 ; eingehend Nickisch: Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts (1969). — Vgl. auch Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (4. Aufl. 1774) Bd. 4, S. 3 0 6 - 3 2 8 : „Von der Schreibart der Briefe".

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sind" stellt die „Gellertsche" Regel als Hauptforderung an Briefe von Erwachsenen und Kindern: „man schreibe natürlich" 82 . Nach Geliert 83 aber muß „die Natürlichkeit eines ordentlichen Briefes eine schön geglättete, von Unrichtigem, Derbem und Anstößigem gereinigte Natürlichkeit" sein 84 . Die positiven Stilkriterien für einen Brief bei Geliert sind: natürlich, schön, lebhaft, deutlich, leicht, fein, richtig, kurz, verständlich, frei, munter. 85 Nichts anderes meint Ramler mit der Definition seiner vertrauten Schreibart 86 ; denn da die fünf Charakteristika der Schreibart der Fabel qua Kinderton nicht scharf voneinander getrennt sind, sondern sich wechselseitig bedingen, sind auch die näheren Erläuterungen bis zu einem gewissen Grade für alle Charakteristika gültig; bei Ramler heißt es zur natürlichen Schreibart lediglich — wie später in Weißes „Kinderfreund" —, daß sie „überhaupt der gesuchten, der gezwungenen entgegengesetzt" sei 87 . Zur Definition der anmutigen Schreihart gehören alle vorigen Bestimmungen und zusätzlich die Aufgabe, „angenehme Sachen mit allem Reize vorzustellen"; die Anmut werde oft durch die muntere und lustige Schreibart ergänzt 88 . Wie alle bisherigen so ist auch die naive Schreibart ein bewußter Kunstgriff. Als Gegensatz zur scharfsinnigen Schreibart täuscht sie Naivität nur vor. Ramler betont: „Wir reden hier nur von der Naivität des Styls", und er rundet den Komplex des Kindertones qua Schreibart der Fabel ab: „Die Naivität besteht in der Wahl gewisser einfältigen Ausdrücke, die mehr von selbst entstanden, als gewählt zu seyn scheinen; in Wortfügungen, die sich gleichsam zufälliger Weise gefunden haben [. . , ] . " 8 9 Das trifft in allen Punkten auf Weißes Kinderton zu. Johann Adolf Schlegel vergleicht Weißes Ton ebenfalls mit dem der Fabel und bestätigt so unsere Ausführungen: „Herrn Weißen haben wir es zu danken", schreibt er 1770, „daß man nun bey Kindern mit einer noch leichtern Poesie den Anfang machen kann, als die poetischen Fabeln gemeiniglich zu seyn pflegen. Ich meyne, seine Kinderlieder und die Zugabe dazu." 9 0 82

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Abhandlung über die Art, wie Briefe für Kinder zu schreiben sind (1787), S. 10 — diese Abhandlung nicht bei Nickisch! Vgl. Gellerts „ G e d a n k e n von einem guten deutschen Briefe" (1742) und seine Mustersammlung „Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen" (1751) — zugänglich in: Geliert: Die epistolographischen Schriften (1971) mit einem informativen N a c h w o r t von Nickisch. Ebenda S. 9—10 (Nachwort); ausführlicher vgl. Nickisch: Stilprinzipien (1969), S. 172 bis 182 und 218—219 über Natürlichkeit als Stilprinzip. Ebenda S. 173. Vgl. auch Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (4. Aufl. 1774) Bd. 4, S. 306—328, wo er Briefe in „philosophische" und „vertraute" einteilt. Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (3. A u f l . 1769), Bd. 1, S. 286. Ebenda S. 285. Ebenda S. 286 und 287. Schlegel/Batteux: Einschränkung der schönen Künste (3. Aufl. 1770), T h . 2, S. 120, Anm. ( „ V o n der frühzeitigen Bildung des G e s c h m a c k e s " ; die Abhandlungen des 2. Teiles stammen alle von Schlegel selbst).

5. Zum Stilproblem

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Uber die Abstufungen des Kindertones herrscht nur insoweit eine allgemeine, aber kaum befolgte Ubereinstimmung, daß die Höhe des Kindertones je nach dem Alter der Adressaten etwas herab- bzw. heraufgestimmt werden muß 9 1 . In seiner „Kleinen Kinderbibliothek", einer Anthologie aus der zeitgenössischen Kinderund Erwachsenenliteratur, wo nach Auskunft eines Rezensenten oft nicht einmal die mit ,C.' gezeichneten Stücke von Campe sind 92 , hat Campe zwar die Sammlung nach den „Verstandesfähigkeiten" der Kinder in drei Hauptstufen eingeteilt (bis zum 7., vom 7. bis 10. und vom 10. bis 12. Jahr), doch gibt er zu, daß der „Unterschied der Stükke in den drei verschiedenen Abtheilungen nicht immer so merklich sein könne" 9 3 . Was diese Einteilung Campes wert ist, zeigt ein Satz aus der zitierten Einleitung seiner „Kinderbibliothek". Dort schildert er, wie er geprüft habe, ob ein Stück der Anthologie auch wirklich für Kinder verständlich und unterhaltend sei: „Ich las es nemlich erst jungen Kindern vor; und wenn ein einziges unter ihnen bei dieser Vorlesung gähnte, oder sich mit etwas Anderem zu beschäftigen anfing: so war dem vorgelesenen Aufsaze dadurch allein schon sein Verwerfungsurtheil gesprochen." Campes Aufrichtigkeit ist hier mehr als zweifelhaft; abgesehen davon, welch ungeheure Menge Vorlesungen die Kinder über sich ergehen lassen mußten, kann die Ruhe der Kinder nur strengster Disziplinierung oder völliger Abstumpfung entspringen. Denn es finden sich unter den Texten für Kinder bis zum siebten Jahr z.B. auch Gespräche über die Frage „Was heißt glükseelig sein?" 94 Eine Art Poetik des Kindertones der Aufklärung, wie wir sie hier anhand von Selbstzeugnissen Weißes, Rezensionen und zeitgenössischen Poetiken gegeben haben, ist tatsächlich auch erschienen, freilich damals kaum und heute gar nicht zur Kenntnis genommen: Ein Anonymus — er nennt sich einen „Geschäftsmann" — gab 1787 in Anlehnung und Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Rhetorik und Poetik eine „Abhandlung über die Art, wie Briefe für Kinder zu schreiben sind" heraus; sie unterscheidet sich in nichts Wesentlichem von dem, was wir herausgearbeitet haben, und bestätigt den bei allen Differenzen doch relativ großen Konsens hinsichtlich des Kindertons.

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Vgl. Campe: Vom Zwecke dieses Buchs. — In: Campe: Die Entdeckung von Amerika 1. Th. (7. Aufl. 1809), S. III—IV: „ E s kam hiebei vornehmlich auf eine zweckmäßige Auswahl und Abstufung, sowol der Materien, als auch des jedesmahligen Tons an, damit der junge Geist in jeglichem Alter beim Lesen dieser Bücher eine ihm angemessene Nahrung und einen ihm verständlichen Vortrag fände." Für ältere Kinder müsse der „Ton der Erzählung" „um einige Grade höher gestimmt" werden.

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Vgl. die Rezension von dem ausgezeichneten Kenner der damaligen Kinderliteratur, Rektor Albrecht Georg Walch in Schleusingen — Allgemeine Deutsche Bibliothek Bd. 43 (1780), 1. St., S. 281 (zum 3. und 4. Teil der „Kleinen Kinderbibliothek"). Campe: Vorbericht zur ersten Auflage. — In: Campe (Hrsg.): Kleine Kinderbibliothek Th. 1 (2. Aufl. 1782). Ebenda Th. 6 (1784), S. 2 1 8 - 2 2 3 .

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6. Die Genres in Weißes Kinderbüchern oder: Schafft ein Arkadien euch früh in euren Seelen Weiße versteht den „Kinderfreund" und seine Welt als Gegenentwurf zur enttäuschenden Wirklichkeit, wie wir bereits im Zusammenhang mit der Bedeutung der ,Naturnachahmung' 1 und der intendierten Rezeption 2 erkannt haben. So ist es sicher keine rhetorische captatio benevolentiae, wenn er zu Beginn des Wochenblattes gesteht, daß er die Gesellschaft der Kinder [. . .] der glänzendsten Versammlung Erwachsener vorziehe, weil ich bey diesen oft mit Schmerzen sehe, wie sehr sich die Welt in der Hoffnung, die sie von ihnen in ihren Kinderjahren hatte, aufs traurigste hintergangen sieht, da ich hingegen in Euch noch lauter große Erwartungen und Hoffnungen erblicke [. . .]. 3

Diese Sätze sind mehr als Ausdruck der üblichen Hoffnung, die man an Kinder knüpft, wenn man sie im Zusammenhang mit Weißes und dem zeitgenössischen Optimismus sieht, den man an eine wachsende Vervollkommnung des einzelnen und damit zwangsläufig auch der Gesellschaft knüpfte und der bis zur realen Erwartung des Anbruchs eines neuen goldenen Zeitalters ging4. Glaubte man doch in der Aufklärung optimistisch mit Piaton, „daß kein weiser Mann der Meinung ist, irgendein Mensch fehle aus freier Wahl oder vollbringe irgend etwas Böses und Schlechtes aus freier Wahl, sondern sie wissen wohl, daß alle, welche Böses und Schlechtes tun, es unfreiwillig tun." (Protagoras 345d/e). Und am Schluß des letzten Teiles seines „Kinderfreundes" kann Weiße in der von ihm .betreuten' „kleinen liebreizenden Nachwelt" scheidend „eine Pflanzschule voll von den seligsten Hoffnungen für die Zukunft" s ahnen. Vornehmlich dem Gegenentwurf zur Realität in den verschiedenen Genres, zumal im „Kinderfreund", gelten deshalb die nachfolgenden Betrachtungen. a) Dialog, Gespräch und sokratische Lehrart „Der ganze Stoff der Belehrung für die Jugend, welcher bearbeitet ward, erschien als Unterhaltung dieser Familie" 1 - so charakterisiert Weiße rückblickend die Konzeption seines „Kinderfreundes". Der Rezensent der ersten drei Teile in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek" jedoch, Ernst Christian Trapp, wünscht sich für die kleinen Leser „die Erläuterungen, Fragen und Antworten der Erwachsenen so1 2 3 4 5

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Siehe oben S. 1 4 6 - 1 4 7 . Siehe oben S. 1 7 0 - 1 7 4 . Weiße: Kinderfreund Th. 1, (1776) 1 . - 5 . St., S. 4. Siehe oben S. 35. Weiße: Kinderfreund Th. 24, (1782), 3 2 1 . - 3 2 4 . St., S. 1 9 7 - 2 0 8 : „Abschied des Kinderfreundes an seine jungen Leser", Zitat S. 200. Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 185 - vgl. oben S. 1 7 0 - 1 7 4 .

6. Die Genres

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kratisch eingerichtet, d.i. anders, als sie hier durchgehende sind." 2 Weiße reagiert auf dieses Ansinnen in einem Brief an Ramler entrüstet: „Endlich vermisst man die Sokratische Methode. — Wenn dies Wochenblättchen Catechisationen enthielte, so könnten sie sie vermissen: aber in Gesellschaftlichen Erzählungen, wo bald diess bald jenes vorkömmt, versteh ich von der Sokratischen Methode nichts." 3 Gespräche von der Weißeschen Art einerseits und die sokratische Methode andererseits werden — sowohl von Zeitgenossen wie auch heute noch 4 — in einen Topf geworden, obwohl sie Ausdruck verschiedener Haltungen sind: geschmacksbildende Gesprächskultur auf der einen, Lehrgespräch auf der anderen Seite. Zweifellos gilt allgemein der oft zitierte Satz August Langens: „Ein sehr wichtiger Faktor im Sprachstil der Aufklärungszeit ist das Gespräch, getragen durch die gesellschaftliche Kultur und die starken lehrhaften Tendenzen." 5 Diese Tradition setzt sich bis weit ins 19. Jahrhundert fort. Sengle meint, die Romantiker liebten das Gespräch — im Roman — kaum weniger als die Spätaufklärer 6 . Im 18. Jahrhundert aber ist der Dialog untrennbar mit der Aufklärung verbunden: Dialog spiegelt die Emanzipation von Autoritäten, Gespräch ist Ausdruck des neuen Selbstverständnisses des Bürgers, Freiheit, Gleichheit, Toleranz sind seine Voraussetzungen wie Ziele 7 . Großes Vorbild für Deutschland ist Shaftesbury, der siçh direkt auf die sokratisch-platonischen Dialoge beruft 8 . Und so wird Sokrates „zum Symbol des wahren aufgeklärten Menschen" 9 . Aber auch Christian Thomasius' Übersetzung (1693) der Sokrates-Biographie von Charpentier ist von bedeutendem Einfluß. 1 0 Über die Wochenschriften gelangt der Dialog als selbständige Gattung bei Schriftstellern und Popularphilosophen zu Ansehen: „Damit verbindet sich der Versuch, den Leser nicht,autoritär' mit einer Lehre zu konfrontieren, sondern ihn in lebendiger Kommunikation und Auseinandersetzung die Wahrheit ' selbst suchen zu 2 3 4

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Allgemeine Deutsche Bibliothek Bd. 31 (1777), 2. St., S. 571. Brief Nr. 76 vom 13. 8. 1777 - Briefe von Weiße an Ramler III, S. 251. Vgl. z.B. die unzulänglichen Ausführungen zu diesem Thema bei Stach: Robinson der Jüngere (1970), S. 140—147 sowie bei Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 229—231, wo keinerlei Unterscheidungen vorgenommen werden. Langen: Deutsche Sprachgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart. — In: Deutsche Philologie im Aufriß. 2. Aufl. Bd. 1 (1957), Sp. 9 3 1 - 1 3 9 6 , hier Sp. 1067. Sengle: Biedermeierzeit Bd. 2 (1972), S. 1024. So Winter: Dialog und Dialogroman (1974), S. 41; vgl. besonders ebenda S. 2 5 - 4 1 : „Bürgerliches Räsonnement und literarischer Dialog"; die Typologie Bauers (Zur Poetik des Dialogs [1969]) ist — zumindest im vorliegenden Zusammenhang — unergiebig; zur Geschichte des Dialogs immer noch grundlegend Hirzel: Der Dialog Th. 1—2 (1895), hier: Th. 2, S. 3 9 8 - 4 3 7 über den Dialog im 18. Jahrhundert in England, Frankreich und Deutschland. Dazu Winter: Dialog und Dialogroman (1974), S. 4 9 - 5 1 . Krecher: Die Entstehung der sokratischen Unterrichtsmethode (1929), S. 12; vgl. allgemein zur Sokrates-Renaissance Böhm: Sokrates im 18. Jahrhundert (1966, EA 1928). Vgl. Krecher: Die Entstehung der sokratischen Unterrichtsmethode (1929), S. 21.

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lassen." 1 1 Der Dialog wird zum Mittel, die Philosophie zu popularisieren; freilich muß dabei stets bedacht werden, daß es sich beim schriftlich fixierten Dialog ,nur* um ein stilistisches Mittel handelt. Der erwachsene Leser folgt während der Lektüre der Illusion, an einem Gespräch teilzunehmen, Gründe und Gegengründe zu erfahren, aber das Ergebnis steht - wie bei echten platonischen Dialogen — für den Autor vorher fest, besonders wenn es sich um Fragen der Moral, Tugend oder Religion handelt. Darüber war man sich auch im 18. Jahrhundert klar: Sokrates wußte „seinen Gegner durch geschickte Umwege dahin zu lenken, wo er ihn haben wolte [. . .]. Er fieng sodann von dem Bekanntesten an, das sein Gegner einzuräumen nicht umhin konnte, lockte ihm ein Geständniß nach dem andern ab, und ganz unvermerkt befand er sich am Ziele." Herder nennt von den Neuern Shaftesbury und Diderot, von den Deutschen nur Lessing als Meister darin. 12 Dennoch wirkt dieses ,bloße' stilistische und im Grunde autoritäre' Mittel vorbildhaft und zielt auf die Entwicklung selbständigen Denkens. Mit und an dieser literarisch-philosophischen Entwicklung des Dialogs, die Winter für die Aufklärung knapp nachgezeichnet hat 1 3 , bildet sich in der aufgeklärten Pädagogik das Ideal der Sokratischen Lehrart14 : Auch in der Erziehung der Kinder soll das Lehren durch Gründe den systematischen Lehrvortrag oder die „Professormethode" 1 5 ersetzen. Einer der wichtigen, aber wenig beachteten Vorläufer der Philanthropisten, Johann Georg Sulzer 16 , tritt schon 1748 vehement für die sokratische Lehrart vor allem „in der Morale" ein, freilich erst dann bei Kindern, wenn diese Verstand hätten. 1 7 Auch der junge Wieland hob als Privatlehrer die Sokratik auf seinen Schild, muß te sich aber die Zurechtweisung Lessings gefallen 11 12

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Winter: Dialog und Dialogroman (1974), S. 51. Herder: Ueber die neuere deutsche Litteratur. — In: Sämtliche Werke Bd. 1, S. 181 — 182: Herder zitiert hier aus den „Briefen, die neueste Litteratur betreffend" (1760). Vgl. Winter: Dialog und Dialogroman (1974), S. 48—66 den Überblick über die Theorie des Dialogs in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts und S. 66—109 über den Dialog in den einzelnen Gattungen und als selbständige Gattung. Am gründlichsten informiert Krecher: Die Entstehung der sokratischen Unterrichtsmethode (1929); er korrigiert und ergänzt damit Gommel: Neue Beiträge zur Frage nach der Entstehung der Sokratik (1915/16) und Schian: Die Sokratik im Zeitalter der Aufklärung (1900). Trapp: Vom Unterricht überhaupt (1787), S. 189. — Bereits Leibniz erwog in einem Brief an die Königin Sophie Charlotte von Preußen (Mai 1702) eine Kindererziehung auf dieser Grundlage: „Ainsi peut-on y mener un enfant par des simples interrogations a la maniere de Socrate, sans luy rien dire, et sans le rien faire experimenter sur la vérité de ce qu'on luy demande." — Zit. nach Krecher: Die Entstehung der sokratischen Unterrichtsmethode (1929), S. 25. Bei Ballauf/Schaller: Pädagogik Bd. 2 (1970) finden seine speziell pädagogischen Werke keine Erwähnung; eine Ausgabe von Sulzers pädagogischen Schriften durch Willibald Klinke (1922) wies bereits auf die allgemeine Unkenntnis dieser Werke Sulzers hin. Sulzer: Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder (2. Aufl. 1748), S. 121-122.

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lassen 18 . Der erste, der sich ausführlich mit dieser Lesart auseinandersetzt und auch konkrete Beispiele sokratischer Dialoge mit kleinen Kindern bringt, ist das „enfant terrible" der deutschen Aufklärungstheologie, Karl Friedrich Bahrdt. Trapp begrüßt die Ausführungen Bahrdts in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek" begeistert 1 9 ; denn der gesteht: „Ich bin nun einmal vollkommen überzeugt, daß die Einführung der sokratischen Lehrart [. . .] eine Generation Menschen hervorbringen müste, die keiner der vorigen mehr ähnlich s ä h e . " 2 0 Im Anschluß an den Theologen Johann Lorenz Mosheim 2 1 (1694—1755), einen der Mitbegründer der Göttinger Universität, fordert er auch, daß die neue Lehrart vor allem die bisher übliche Katechisation des Religionsunterrichtes ersetzen solle 2 2 ; er kontrastiert die herkömmliche Methode mit der neuen : Man hätte zum Exempel einen ganz kleinen Knaben vor sich, der jezt lernen sollte, was Sünde heißt. Nach der gewöhnlichen Art würde man den Knaben aus dem Katechismus die Frage lesen, oder so Gott will, auswendig lernen lassen: „Was heißt Sünde?" Antwort: „Alles, was wider Gottes Gebot ist." Und nun Beweisè - etwa Sprüche der Bibel, bis es genug ist; und dann weiter. Nun merkts das Kind, wenn's Glück gut ist — aber was es merkt, ist nicht sein Urtheil. Satz und Beweis, ist — Glaube, und zwar blinder, gedankenloser Glaube. Höret dagegen den Sokratiker. 1. Lehrer. Halten Sie es wol für gut, mein lieber Fritz! wenn Sie zu viel essen? Fritz. Nein! 2. Lehrer. Warum nicht? Fritz. Es ist nicht gesund. 3. Lehrer. Ist dann alles, was nicht gesund ist, bös} So hätte ja Gott viele Dinge geschaffen, die bös sind. Hat der liebe Gott was Böses geschaffen? Fritz. Nein; es heißt ja: Und siehe, es war sehr gut. 4. Lehrer. Recht! Alles, was Gott macht ist gut. Aber es ist doch manches dem Menschen schädlich, wenn er es genießt. Fritz. Dafür kann der liebe Gott nichts. 5. Lehrer. Also ist Gott nicht schuld? Wer dann? Fritz. Der Mensch.

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Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend. — Werke Bd. 5, S. 47—56: 9 . - 1 2 . Brief, bes. S. 5 2 - 5 5 . Allgemeine Deutsche Bibliothek Bd. 31 (1777) 2. St., S. 344-371, bes. S. 362-364. Bahrdt: Philanthropinischer Erziehungsplan (1776), S. 199; S. 117-206: Von der Sokratischen Lehrart. — Nur die „alte Sokratik" bei Piaton, Xenophon und Aischines behandelt Gräffe: Die Sokratik nach ihrer ursprünglichen Beschaffenheit in katechetischer Rücksicht betrachtet — als 2. Band seines „Neuesten Katechetischen Magazins" 1791 erschienen; am Schluß seiner Darstellung (S. 399—406): Urtheile einiger Neuern über die Sokratik (Mosheim, Bahrdt, Resewitz u.a.). Zu Mosheims Vorstellungen von der Sokratik vgl. Schian: Die Sokratik im Zeitalter der Aufklärung (1900), S. 6—22; Mosheim hielt die Methode allerdings bei „Unmündigen und Kindern" für ungeeignet — vgl. ebenda S. 10. Bahrdt: Philanthropinischer Erziehungsplan (1776), S. 122. Ebenda S. 122-123.

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Diese Methode, durch geschickte Fragen das Gespräch so zu lenken, daß das Kind selbst zu dem Urteil k o m m t , das sonst am Anfang der Katechetik stand, ist nach Bahrdt auf alle Gebiete, auf Mathematik, L o g i k , schöne Wissenschaften ( = Literatur) und Moral anwendbar; und er gibt Beispiele. Bahrdt ist aber einer der wenigen, der die enormen Schwierigkeiten der mündlichen Art der Sokratik zugesteht; nur Herder betont noch die „nicht leichte M ü h e " der sokratischen Methode, die auch er g a n z allgemein für den Lehrvortrag empfiehlt, weil sie diesem die „einförmige, eintönige Steifheit" und allem den „anmaassenden E g o i s m u s " n i m m t 2 4 . E s ist hier nicht der O r t , auf die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten der Sokratik im Kinderunterricht einzugehen. Bahrdt kennt sie, Carl Spazier hat von ihrem Scheitern in Dessau anschaulich berichtet 2 5 , und Schummel in seinem „ S p i t z b a r t " eine bissige Satire auf „ d a s beliebte Stecken- und Tummelpferd unserer neuern Schulverbess e r e r " geliefert 2 6 . T r o t z allem ist für Bahrdt die neue F o r m des Gesprächs A u s d r u c k der höchsten Freiheit, der Toleranz: „ D i e Freyheit zu denken, ist das unverlezlichste Eigenthum der Menschheit. Alle Sklaverey erniedriget, aber Sklaverey des Verstandes ist unter allem Erniedrigenden das Erniedrigendste. Im Denken und U r theilen, muß man jedem seine Freyheit l a s s e n . " 2 7 Im U m g a n g mit Kindern fordert Bahrdt denn auch, die Sprache der Kinder zu reden; und ganz im Sinne von H a m a n n s ,Herunterlassung' mahnt er: „ E s ist daher für einen Sokratiker die allererste Regel, die [. . .] Christus in einer nicht ganz unähnlichen Absicht, den ersten Lehrern des Christentums giebt:,Werdet wie die K i n d e r ' . " 2 8 U n d er ruft aus: „ W o sind die Christusherzen, die sich, wie er, unter die Kinder hinsetzen, und wie die Kinder werden, und mit ihnen denken, empfinden und handeln können? die, wie er, von der wärmsten Liebe zu ihnen, so voll sind, daß sie gegen Unwissenheit, Schwachheit, Unbesonnenheit fast unempfindlich b l e i b e n ? " 2 9 D u r c h Bahrdts Werk zieht sich der Geist einer realen Utopie, er lebt wie viele seiner Zeit in der Erwartung des Heiles hier und heute, er hatte einen „großen Glauben, daß G o t t im achtzehenten Jahrhunderte für seine Menschen mehr thun werde, als — bisher vielleicht möglich w a r . " 3 0 In seiner Vision einer herrschaftsfreien Kindererziehung unterscheidet er sich von den Philanthropisten, bei denen die sokratische M e t h o d e nur ein Trick ist, sich der Subordination der Kinder auch in Abwesenheit der Erzieher zu versichern. F ü r Salzmann, den T r a p p immer wieder als Verfasser musterhafter sokratischer Gespräche 24

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Herder: Briefe, das Studium der Theologie betreffend. 4. Th. (1781.1786). - Sämmtliche Werke Bd. 11, S. 5 9 - 6 0 . Vgl. Pinloche: Geschichte des Philanthropinismus (1914), S. 135-139. Schummel: Spitzbart (1979, EA 1779), S. 200-203. Bahrdt: Philanthropinischer Erziehungsplan (1776), S. 163. Ebenda S. 194. Ebenda S. 197. Ebenda S. 198-199.

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empfiehlt 3 1 , ist die Sokratik Mittel, dem Kinde die Notwendigkeit der Subordination in Gesellschaft und Familie mit Gründen einsichtig zu machen, seine „Begierde zu herrschen" bei Zeiten zu brechen und so das Funktionieren des Menschen „als ein Rad in der Maschine" der Gesellschaft sicherzustellen 32 . Wie auch immer die Methode des leitenden Fragens, der Erziehung zu eigenem Urteil in die Praxis umgesetzt wurde, aus dem Schul- und Kirchenunterricht war sie nicht mehr wegzudenken 3 3 . Bei dem Vertrauen, das die aufgeklärten Pädagogen in die Sokratik hatten, ist es kaum verwunderlich, daß für sie jegliches Gespräch in der Kinderliteratur sokratisch eingerichtet sein mußte. N u n ist aber nach der Funktion des Gesprächs und der Art der Kinderbücher zu unterscheiden. Sehr viele dieser Bücher waren, wie wir bereits wissen, als Handbücher für den Lehrer gedacht und zwar in doppelter Hinsicht: einmal als Stoffquelle f ü r den Unterricht, z u m andern als Musterbücher f ü r ein rechtes Lehrer-Schüler Gespräch. Das „Magasin des enfans, ou Dialogues entre une sage gouvernante et plusieurs de ses élèves de la première distinction" (1756) 34 und „ L e mentor moderne, ou Instructions pour les garçons et pour ceux qui les élèvent" (1772) sowie andere Werke der Madame Leprince de Beaumont sind in erster Linie solche Musterbücher: „Ich gebe den Müttern und Hofmeisterinnen Beyspiele", betont sie und nennt einige Bände des „Mentor moderne" den „historischen Katechismus" 3 5 . Auch Salzmann sah seine „Unterhaltungen f ü r Kinder und Kinderfreunde" als Vorlagen f ü r mündliche sokratische Unterredungen, und Campes „Robinson der Jüngere" ist ähnlich konzipiert: Der Vater erzählt dort im Kreise der Familie die Geschichte, die stets von Gesprächen, Fragen, Erläuterungen unterbrochen wird. Campe empfiehlt, den .Robinson' vorzulesen, und er will mit seiner „Darstellung wirklicher Familienauftritte ein für angehende Erzieher nicht über31 32

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Trapp: Vom Unterricht überhaupt (1787), S. 192. Salzmann: Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde Bd. 2 (1779), S. V - V I (Vorrede). Die Sokratik fand weiterhin vehemente Befürworter wie den evangelischen Theologen und Pädagogen Gustav Dimer (1760-1831) - vgl. Dinter: Die vorzüglichsten Regeln der Katechetik, als Leitfaden beim Unterrichte künftiger Lehrer in Bürger- und Landschulen (Abdruck der 7. Aufl., EA 1810) — in: Dinter, bearb. von G. Fröhlich (1902), S. 423—512. - Doch gab es auch prominente Gegner wie Kant, der an der Katechese als „doctrinalem Instrument der Tugendlehre" festhielt (Vgl. E. Lichtenstein: Katechese. - In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 4 [1976], Sp. 710-712, hier Sp. 711). Weniger bedeutend sind jene konservativen Kritiker, die in der Sokratik den „nagenden Rationalismus" verfluchten, wie Claus Harms 1830 in seiner „Pastoraltheologie" — zit. nach Reu: Luthers Kleiner Katechismus (1929), S. 198; vgl. auch ebenda S. 193—199 über die Sokratik, bes. S. 194: „Die Einführung dieses entwickelnden Lehrgesprächs ist das spezifisch Neue, Bahnbrechende und Bleibende, was uns diese Periode [Aufklärung] gebracht hat." Benutzte Ausgabe: La Haie & Leide 1769. Zitiert nach der deutschen Ausgabe „Der neue Mentor" (1773—1774), Vorbericht (Bd. 1).

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flüssiges Beispiel des väterlichen und kindlichen Verhältnisses" geben 36 . Mir ist nur ein Zeugnis bekannt, das von der Verwendung des Campeschen Robinson in diesem Sinne Zeugnis ablegt. Der schon in anderem Zusammenhang zitierte bayrische Kanonikus und Schulinspektor Wening berichtet 1784, fünf Jahre nach der Erstausgabe, von einem Gutsherrn, der seinen Dienstboten den „Robinson" allabendlich stückweise vorlas: „Dabey brauchte der gute Mann allzeit den Kunstgrif, daß er seine Zuhörer, so wie Herr Campe die Kinder rathen ließ, was sie in diesem oder jenem Falle gethan haben würden. Er hatte so seine Freude daran, wenn die Grossen oft ungeschicktere Antworten gaben, als es Campens Kinder thaten". 3 7 Man verkennt aber den Charakter sowohl der Campeschen wie den anderer Kinderbücher der Zeit, wollte man annehmen, daß die Gespräche nicht auch als Lese-Literatur direkt von Kindern konsumiert wurden: Campe gesteht das für seinen „Robinson" zu 3 8 , und Weiße sieht seine Unterhaltungen im „Kinderfreund" in erster Linie als Lektüre für Kinder. Als „gesellschaftliche Erzählungen" 39 hat er sie Ramler gegenüber charakterisiert und damit ihren Kunst-Charakter unterstrichen: Ramler nannte die einfache und natürliche Schreibart in ,Werken des Geschmacks' ja die „gesellschaftliche" 40 , was auch wirkungsästhetisch gemeint ist, da Literatur in der Aufklärung immer Vorbild-Charakter hat. Daß alle Erzählungen, Gedichte und Schauspiele im „Kinderfreund" aus der Unterhaltung heraus entstehen oder — wie die Schauspiele — Produkte der fiktiven Kinderfreunde sind und alles als Handlung dieser Familie geschildert wird, unterstreicht den literarischen Werk-Charakter. Das Gespräch löst ein ursprüngliches Erzählganzes (Robinson) nicht auf, sondern an Erlebnissen der Kinder oder Erwachsenen — „kleine Vorfälle des Tages" nennt es Weiße — knüpfen sich Belehrung, Unterhaltung, Erzählung, Dichtung. Die Art der Gespräche bei Weiße, ihre Töne und Themen verraten den stilistischen Virtuosen 4 1 : Überblickt man die Vielzahl der Unterhaltungen und Dialoge, so zeigt sich, daß vier Arten die wesentlichen Gesprächstypen in Weißes „Kinder36 37 38 39 40 41

Campe: Robinson der Jüngere (1913, EA 1779/80), Vorbericht zur ersten Aufl., S. X I V . Wening: Historisch- und moralische Erzählungen (1784), Vorrede. Campe: Robinson der Jüngere (1913, EA 1779/80), Vorbericht zur ersten Aufl., S. V I I . Brief Nr. 76 vom 13. 8. 1777 - Briefe von Weiße an Ramler III, S. 251. Siehe oben S. 185. In seinem „Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes", der Fortsetzung des „Kinderfreundes" für ältere Kinder und junge Erwachsene, gibt Weiße — offenbar aus zweiter Hand — „eine gute Anweisung [. . .], wie man ein liebenswürdiger Gesellschafter werden kann": „Leute von gutem Verstände und feinen Sitten, suchen hier [in gesellschaftlichen Unterredungen'] nie durch lange, ermüdende Abhandlungen und Reden zu glänzen, sondern sie kommen zusammen, zu sprechen und zu hören, und Simplicität, Bescheidenheit, Nachfrage, Unterricht, eine kurze und bestimmte Erzählung, und richtige Bemerkungen sind die vorzüglichen Eigenschaften des Gesprächs." — Weiße: Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes Th. 5 (1786), S. 19—24, ZitatS. 19.

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freund" repräsentieren: das strenger rhetorisch konzipierte Lehrgespräch, die — größere oder kleinere — Rahmenerzählung einer familiären Begebenheit, in der und aus der sich Erzählung, Exempel und anderes mehr entwickeln, dann Gespräche, die ohne feste Form fast assoziierend von Gegenstand zu Gegenstand wechseln, und schließlich solche, wo das spielerische Element, in des Wortes enger Bedeutung, dominiert. Für den ersten Typ finden wir ein gutes Beispiel aus dem dritten Band des „Kinderfreundes". 42 Zu Beginn steht, gleichsam als ,Hauptsatz', den es zu beweisen gilt, Herrn Spirits Kinderschauspiel „Die Geschwisterliebe". Nur soviel interessiert hier daran: Jedes der drei Geschwister nimmt die Schuld des andern auf sich, und sie demonstrieren so Einigkeit. Das Stück spricht vor allem die Affekte an und wird von den Kindern „mit vieler Empfindung" aufgeführt. Herr Chronickel — zuständig für die Geschichte — fragt im anschließenden Gespräch die Kinder, wie sie sich im gleichen Falle (Simile) verhalten hätten; das Schweigen der Kinder wird ihnen zur Ehre angerechnet. Daß eine Szene zwischen Fritzchen und Luischen dem Poeten Spirit die Veranlassung zum Stück gegeben hat, wird nachgetragen und damit rhetorisch gesehen ebenfalls zum Simile. Im weiteren Gespräch berichtet der Vater ein Exempel ,e contrario' vom kleinen Ludwig XIV., Herr Chronickel weiß einen antiken Beweisgrund des Plutarch und ein biographisch-historisches Exempel aus dessen „Aemilius Paulus" mit einer Anmerkung Plutarchs e contrario. Es folgt ein Exempel des Herodot, woran der Vater seine Beweisgründe und Lehrsprüche knüpft, um mit einem historischen Exempel zu schließen. Neben diesem strengeren, an rhetorischen Regeln orientierten Aufbau der Gesprächsführung in einem ernsthaften Konversationston, bei der in anderen Fällen auch Fabeln oder Gedichte zum selben Thema als ,poetische Exempel' hinzukommen können, gibt es auch freiere gesellschaftliche Erzählungen' wie die folgende 43 . Die Gesellschaft — Magister Philoteknos, der Vater und die Kinder — sitzt in der Dämmerung zusammen und schwatzt; der Ton ist vertraulicher: Ein starkes Pochen an der Tür, die Angst der Kinder, die Enthüllung des ,Gespenstes' als Lehrjunge eines Perückenmachers und die anschließende Unterhaltung über Gespenster- und Hexenmärchen mit der rationalistischen Erklärung verschiedener Geschichten, das alles hat fast schon den Charakter einer Rahmenerzählung. Wie geschickt Weiße gesellschaftliche Erzählungen' zu führen weiß, „wo bald dieses bald jenes vorkömmt", zeigt ein Beispiel der dritten Art 44 , wo man in munterem, anmutigem Gespräch über die „Siebenschläfer" scherzt, dann die Legende dieser Heiligen nachliefert und rationalisiert, wieder scherzt, dann ernsthaft über Schlaf und Tod spricht, bis dann wieder der Ernst gebrochen wird: Denn bei 42 43 44

Weiße: Kinderfreund Th. 3 (1776), 3 9 . - 4 1 . St., S. 2 9 - 3 9 . Ebenda Th. 2 (1776), 32. St., S. 97-112. Ebenda 3 3 . - 3 4 . St., S. 113-134.

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„dem Worte Siebenschläfer — [das gerade fiel] trat Herr Papillion in die Stube. — J a , ja,' sagte er, ,die Siebenschläfer, die Haselmäuse und die Murmelthiere mögen wohl itzt nicht so frieren, wie wir." Das MißVerständnis gibt Anlaß zu Scherz und Spott sowie Neugier der Kinder: Herr Papillion erzählt von den Tieren, lebhaft von Fragen und Kommentaren der Kinder unterbrochen. Hier wechseln die Töne mitten im Gespräch, wobei auch die Kinder sich dem jeweiligen Gegenstand anbequemen und den Ton munterer Scherze sofort aufgeben, wenn sich das Thema ändert: Die „Harmonie der Schreibart", die „Zusammenstimmung der Töne mit den Gegenständen" 45 , ist eine grundsätzliche Forderung der zeitgenössischen Poetik und Rhetorik. Direkt auf die naturkundliche Belehrung läßt Weiße ein Pfänderspiel46 folgen mit Scherzfragen, Bouts-rimés (aufgegebenen Reimen), lebenden Bildern usf. Hier herrscht nun fast durchgehend geselliger Scherz, der aber nie den Rahmen jener Artigkeit verläßt, die die damalige Gesellschaft — idealiter — auszeichnet, und die nur dem steif oder matt erscheint, dem durch ,Reizüberflutung' der Sinn für die sanftere Grazie dieser eher utopischen als eskapistischen Literatur abhanden gekommen ist. Die Art, wie die Kinder an diesen Gesprächen teilnehmen, nicht nur die grundsätzlich „liberale Behandlung"47, die sie erfahren, sondern daß sie selbst Exempel erzählen — Charlotte, „die kleine Flatterhafte", besinnt sich so auf „das bekannte Beyspiel von Damon und Pythias aus der alten Geschichte" 48 —, zeigt beispielhaft, warum für Weiße sokratische Dialoge nicht in Frage kommen: Seine Kinder vertreten bereits jene Generation von Menschen, die Bahrdt erst durch die Sokratik hervorbringen will und „die keiner der vorigen mehr ähnlich" sehe 49 . Weiße, der seinen Aristoteles und seinen Batteux — der hier auf diesem aufbaut — kannte, wich nicht vom Grundsatz der .Naturnachahmung' ab; im Abschnitt über Weißes Ästhetik war davon bereits die Rede und hier soll wiederholt und unterstrichen werden : Wer diese Art Literatur allzu direkt mit der Realität vermittelt, geht an ihrem Sinn vorbei; im Anschluß an Aristoteles formuliert Ramler in seiner Batteux-Obersetzung: „Der Geschichtschreiber liefert uns die Exempel, wie sie sind, vollkommen oder unvollkommen; der Dichter liefert sie uns so, wie sie hätten seyn sollen", er ahmt die Natur nach, „daß man die Natur erblickt, nicht so, wie sie an sich selbst ist, sondern so, wie sie seyn kann und wie sie sich denken läßt." 5 0 Daß diese aufklärerische Utopie — wir werden bei den Kinderschauspielen sehen, wie sehr Weiße

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Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (4. Aufl. 1774) Bd. 4, S. 180—192: „Von der Harmonie der Schreibart", Zitat S. 192; vgl. auch Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste (3. Aufl. 1794) Th. 4, S. 328 (Artikel „Schreibart; Styl"). Weiße: Kinderfreund T h . 2 (1776), 3 4 . - 3 5 . S t . , S . 1 3 5 - 1 5 3 . Weiße: Selbstbiographie (1806), S. 188. Weiße: Kinderfreund T h . 2 (1776), 36. St., S. 1 7 2 - 1 7 4 . Bahrdt: Philanthropinischer Erziehungsplan (1776), S. 199. Ramler/Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (3. Aufl. 1769) Bd. 1, S. 28.

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diesen Gedanken durchhält — bei den die Mode nutzenden Vielschreibern und Dilettanten und später erst recht im 19. Jahrhundert meist zur trivialen problemlosen Harmonie verkam, mindert ihren Wert nicht 51 . Werfen wir von hier aus einen Blick auf die Gespräche im Campeschen „Robinson", so wird deutlich, daß sie dort eine völlig andere Funktion haben. Sie bilden zunächst den Rahmen für die allabendliche Erzählung des Vaters. Schon damit ist Campe wesentlich ,altertümlicher': Er greift auf die typische Situation des Märchenerzählers zurück, wobei lediglich der Stoff ausgetauscht wird. Die Einleitung zum „Ersten Abend" macht das deutlich: Vater·. Was denkt ihr denn vorzunehmen unter der Zeit, daß ich euch erzähle? So ganz müßig werdet ihr doch wohl nicht gern dasitzen wollen ? Johannes·. Ja, wenn wir nur etwas zu tun hätten? Mutter: Hier sind Erbsen auszukrüllen; hier Türkische Bohnen abzustreifen! Wer hat Lust? Alle·. Ich! ich! ich! Gottlieb: Ich und meine Lotte und du, Fritzchen, wollen Erbsen auskrüllen; nicht? Lotte: Nein, mit Erlaubnis, ich muß den Kettenstich machen, den Mutter mir gezeigt hat.«

Sicher ist das ein Stück Utilitarismus, der dahinter steckt; wie aber die geistliche Lektüre durch die weltliche verdrängt wurde, so zeigt diese Szene programmatisch, daß das Märchenerzählen durch die Erzählung nützlicher Geschichten ersetzt werden sollte. Die Gespräche selbst haben keine integrierende Funktion wie bei Weiße, sie sind nicht Anlaß zu Erzählungen, Exempeln, Dichtungen, Spielen, sondern sie sind dem Roman regelrecht aufgepfropft, sie zerreißen und zerreden ihn. Dahinter steht zwar das erwähnte Rezeptionsmodell, aber es wird auch wieder ein Grundzug Campes sichtbar. Es ist keineswegs so, daß Campe einer dialogischen Auffassung der Literatur a n h ä n g t " : Die Dialogromane der Aufklärung lösen die Handlung in Gespräche der handelnden Personen auf, oder der Erzähler tritt mit dem Leser in einen spielerisch-ironischen Dialog 54 . Campes Dialoge aber haben nur einen Zweck: Sie zerstören seiner dichtungsfeindlichen Einstellung entsprechend den literarischfiktiven Charakter des Werkes. 55 Die Mode der Dialogisierung der verschiedensten Stoffe in Kinderbüchern brachte dann auch solche Seltsamkeiten hervor wie ein Rechenbuch in zehn Ge51

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Elke Liebs' Urteil über Weiße und seine Nachfolger (Liebs: Pädagogische Insel [1977], S. 92) beruht auf ziemlicher Unkenntnis des ersteren. Campe: Robinson der Jüngere (1913, EA 1779/80), S. 3. So Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 229 im Anschluß an eine beiläufige Bemerkung August Langens. Dazu Winter: Dialog und Dialogroman (1974), S. 8 8 - 1 0 9 . Vgl. auch Liebs: Pädagogische Insel (1977), S. 68 über Campes „desillusionierende Absicht".

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sprächen zwischen Vater und SohnS6 oder die „Dialogen" [sie!] eines StadtschulRektors, wo die Kinder bisweilen im „Ton der Ode" miteinander sprechen57. An der mangelnden Fähigkeit vieler Autoren, den rechten Gesprächstyp zu wählen und ihn im Kinderbuch sinnvoll anzuwenden, scheiterte ein Großteil der aufklärerischen Kinderliteratur. Die Kritik, die vor allem Campe mit seinen Gesprächen im „Robinson" bei Literarhistorikern des 19. Jahrhunderts fand, beruht nicht darauf, daß diese Kritiker die Bedeutung des Dialogs zur Zeit der Aufklärung nicht kannten58. Schon 1836 tadelte Wolfgang Menzel: Campes Dialog im „Robinson", der „sehr passend war für den mündlichen Unterricht, taugte nicht in die Bücher." 59 Es war nicht erst Hettner 60 , der die schlecht integrierten, aufgesetzten Dialoge kritisierte; nicht nur Menzel, sondern auch Gervinus ging ihm in der Kritik voran: „[. . .] was die eingestreuten läppischen Gespräche angeht, so erweist sich jeder kräftige Junge klüger als der berühmte Erzähler, und überschlägt die langweiligen und saftlosen Abschweifungen."61 Das härteste Wort über die literarischen Fähigkeiten Campes und seiner pädagogischen Mitstreiter stammt von Georg Forster, einem der glänzendsten Stilisten seiner Zeit: Er nennt Campe, Meißner und Salzmann — auf ihre „Schreibart" bezogen — „Schmierer" 62 — und mit deutlichem Bezug auf Campe, den er nicht unter die Dichter rechnet, beklagt er, daß der „Unsinn der Erzieher" selbst die Vernunft erzürnen müßte, und er fordert eine „sorgfältigere ästhetische Bildung": „Vernunft, Gefühl und Phantasie, im schönsten Tanze vereint, sind die Charitinnen des Lebens." 63 Bei den meisten pädagogischen Schriftstellern aber hüpft nur die Vernunft mit verbundenen Augen durch die fade Alltäglichkeit.

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Vgl. Allgemeine Deutsche Bibliothek Bd. 82 (1788), 1. St., S. 262: J o h a n n Gotthilf Lorenz: Lesebuch für die Jugend der Bürger und Handwerker usw. Des ersten Bandes 3. Abth. — Leipzig: Göschen 1787. Vgl. Allgemeine Deutsche Bibliothek Bd. 49 (1782), 2. St., S. 5 3 0 - 5 3 1 (Rez. von Trapp): ^'Dialogen, ein Beytrag zur Bildung der Jugend von J . F. Brömel. 2. Bdchen. — Frankfurt und Leipzig: Monath 1780. Das wirft Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 229 Hettner vor. Menzel: Die deutsche Literatur (2. Aufl. 1836) Bd. 2, S. 32; vgl. auch Schenda: Volk ohne Buch (1970), S. 89. Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 229. Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung (4. Aufl. 1853) Bd. 5, S. 321. Brief vom 1 . 1 1 . 1789 an Jacobi - Forster: Werke in 4 Bänden, Bd. 4, S. 581: „Meine Schreibart, die einigen denkenden Männern behagt, ist nicht populär [. . . ] " . - Im einzelnen erwähnt er *Campes „Väterlichen Rath für meine Tochter" (1789), *Meißners „Skizzen" ( 1 7 7 8 - 1 7 8 6 ) und Salzmanns „Carl von Carlsberg" ( 1 7 8 3 - 1 7 8 8 ) . Forster: Uber lokale und allgemeine Bildung (1791). - Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe Bd. 7, S. 5 3 - 5 5 .

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b) Die kleineren Gattungen im „Kinderfreund": Fabel, Rätsel, moralische Beispielerzählung Die Genres in Kinderzeitschriften oder -almanachen sind von Adelungs „Leipziger Wochenblatt für Kinder" bis hin zu Houwald und Poccis „Was du willst" (1854)1 mehr oder weniger gleich; bereits 1780 kann ein Rezensent der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek" über einen Wiener Kinderalmanach schreiben: „Einrichtung und Inhalt ist wie gewöhnlich; Lieder, moralische Geschichten und Erzählungen, Fabeln, Räthsel, und ein Kinderschauspiel."2 Es ist klar, was zuvörderst diese Gattungen in Einrichtung und Inhalt von der Erwachsenenliteratur zu unterscheiden hatte: der Ton, die ,Herunterlassung'. Jede dieser Gattungen ist — als Kinderliteratur — historisch noch völlig unerforscht, mit Ausnahme der Fabel3. Weiße ist kein Meister der Fabel; sie tritt bei ihm hinter die drei Gattungen Kinderlied, moralische Geschichte und Erzählung sowie Kinderschauspiel deutlich zurück. Zweifellos war sich Weiße bewußt, daß er nach Geliert und Hagedorn, die er vor allem im „Kinderfreund" immer wieder nennt und zitiert, auf dem Gebiet der Fabel nichts Besseres leisten konnte. Die Rätsel im „Kinderfreund" wirken als ,Bogenfüller', stets am Ende einer Gruppe von ,Stücken'. Es gibt wohl kaum eine Kinderzeitschrift seit Weiße — und im 19. Jahrhundert auch keine für Erwachsene —, die nicht Rätsel enthielte. Hier fehlt für die Kinderliteratur noch jede Grundlagenforschung, vor allem hinsichtlich der Tradition, des Wechselverhältnisses zwischen volkstümlichen und literarischen Formen.4 Und so müssen wir uns mit einer Seitenbemerkung bescheiden, die zumindest den Ruhm der Rätsel des „Kinderfreundes" bestätigt: In seiner Bearbeitung von Gozzis „Turandot" (1801) läßt Schiller den Kanzler Pantalon über die Rätsel der chinesischen Prinzessin sagen: Wir selbst, so alte Practici und grau Geworden übern Büchern, haben Not, Das Tiefe dieser Rätsel zu ergründen. Es sind nicht Rätsel aus dem Kinderfreund, Nicht solches Zeug, wie das : „Wer's sieht, für den ist's nicht bestellt, Wer's braucht, der zahlt dafür kein Geld, 1 2

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Vgl. unten S. 267-276. Rez. (von Walch) vom "'Wiener Kinderalmanach für das Jahr 1780 zum Neujahrsgeschenk und unschuldiger Ergötzung der Kinder von verschiedenem Alter. Mit Kupfern. Erster Band. Wien: Gerold - Allgemeine Deutsche Bibliothek Bd. 43 (1780) 1. St., S. 279. Vgl. oben S. 65. Vgl. Kurt Wagner: Rätsel. — In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Bd. 3 (1977), S. 316-321, sowie Hain: Rätsel (1966), ferner Bausinger: Formen der „Volkspoesie" (1980), S. 125—137, sowie Christian Freitag: Rätsel. — In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 3 (1979), S. 115-118.

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I. Christian Felix Weiße Wer's macht, der will's nicht selbst ausfüllen, Wer's bewohnt, der tut es nicht mit Willen." Nein, es sind Rätsel von dem neusten Schnitt Und sind verfluchte Nüsse aufzuknacken. 5

Abgesehen davon, daß die Rätsel im „Kinderfreund" auf ihre Weise Sachwissen vermitteln, haben sie noch eine ganz bestimmte lehrhafte Funktion. Viele sind oft so komisch, daß sie der einzige Ort sind, an dem scheinbar Unsinnspoesie ins aufklärerische Kinderbuch einzieht: Von meiner Mutter komm ich ohne Kopf und Fuß; Und viele lassen sich mich so recht wohl behagen. Allein mit Kopf und Fuß bin ich für deinen Magen Auch ein ganz gutes Ding, nur, daß man warten muß. 6 '

Freilich hat diese Art Unsinnspoesie nur eine Aufgabe: Als scheinbarer Unsinn ist sie stets in Sinn aufzulösen und signalisiert so dem kindlichen Leser, daß auch dem Unsinnigsten durch die enträtselnde Vernunft Sinn gegeben werden kann. 7 So gesehen stehen Rätsel auf der gleichen Stufe wie Aberglauben, Sage und Märchen, die für Weiße ebenfalls durch Vernunft aufzulösen sind 8 . Halten wir dagegen das wohl berühmteste volkstümliche Eirätsel: Humpty Dumpty sat on a wall: Humpty Dumpty had a great fall. All the King's horses and all the King's men Couldn't put Humpty Dumpty in his place again.

und seine Rolle in Carrolls „Through the Looking-Glass", wo Humpty Dumpty in Person auftritt und virtuos mit der Sprache spielt, sie wörtlich nimmt, unsinnige Fragen stellt und an die Grenzen der Sprache gelangt, wenn er seinen berühmten Satz sagt: „When I use a word [. . .] it means just what I choose it to mean — neither more nor less." 9 — so sehen wir zwar auch den Abstand von fast 100 Jahren, der zwischen Weißes vernünftigen Rätseln und Carroll liegt, besonders aber wird auch an einer so unscheinbar gewordenen Gattung wie dem Rätsel für Kinder deutlich, daß sie ihren Sinn erst durch den Autor erhält. Was die moralischen Geschichten und Erzählungen oder allgemeiner „Exempel" in Weißes „Neuem A , B , C , B u c h " und im „Kinderfreund" angeht, so gehört diese , Gattung' nicht nur in der Kinderliteratur zu den am wenigsten erforschten über-

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Schiller: Werke Bd. 14, S. 36 (Vers 6 8 3 - 6 9 3 ) ; vgl. auch unten S. 231. Weiße: Kinderfreund Th. 8 (1777), 108. St., S. 64. Zur Geschichte der Rätseldefinitionen und -deutungen siehe Hain: Rätsel (1966), S. 47-53. Vgl. Weiße: Kinderfreund Th. 2 (1776), 32. St., S. 9 5 - 1 1 2 . Carroll: Complete Works, S. 192 u. 196. - Zu „Humpty Dumpty" und seiner englischen und übrigen europäischen Traditionen vgl. Opie (Hrsg.): The Oxford Dictionary of Nursery Rhymes (1975), S. 2 1 3 - 2 1 6 (Nr. 233).

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haupt. 1 0 Wir haben im Kapitel über die literarischen Kindererzieher die Rolle des Exempels f ü r die geistliche und die Kinderliteratur der Aufklärung skizziert. 1 1 D a es eine fast aussichtslose Aufgabe ist, die im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann, Tradition und Quellen der Stoffe zu verfolgen, müssen wir uns auf die Fragen nach Funktion und Arten der Beispielerzählungen Weißes beschränken. Stoff zum Exempel bietet entweder die Geschichte, die zeitgenössische Wirklichkeit oder die ,nachgeahmte' Wirklichkeit, d. h. die Dichtung. Dabei spielt es keine Rolle, aus welcher Zeit oder aus welchem Erdteil das Exempel stammt. Die Aufklärung ist von der prinzipiellen Gleichartigkeit aller Menschen überzeugt. Gerade die Mode der Erzählungen aus arabischen Ländern bezeugt diesen Glauben, denn das exotische Gewand ist f ü r den Leser auch Verlockung zum Lesen: „Utile cum dulci". Diesen horazischen Kernsatz der Aufklärungspoetik trug bereits 1702 eine Sammlung von „Anmuthigen Hundert Historien" im Titel 1 2 . Bei Weiße gibt es u . a . die „Geschichte Topal Osmanns, eines großmüthigen Türken" 1 3 , die „ G e schichten zweier Negerinnen" und die eines Negers 1 4 , orientalische Erzählungen und „Märchen" 1 5 . Wir brauchen also nicht nur an eine Säkularisierung des ursprünglich religiösen Exempels — vor allem in der Predigt — zu denken, auch wenn dieser Prozeß sicher häufig war 1 6 . Die Tradition der Rhetorik, die freilich in absolutistischen Feudalstaaten wie den deutschen nur noch auf der Kanzel eine öffentliche Wirksamkeit entfaltete, hielt das weltliche Element stets im Bewußtsein; und hier war es vor allem der von Cicero (de orat. II, 36) stammende Topos von der „Historia Magistra Vitae" 1 7 . Nicht nur bis z u m 18. Jahrhundert, wie Koselleck meint, sondern f ü r die Tradition des Exempels und die .landläufige' Meinung bis zur

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Vgl. den nichtssagenden Artikel „Moralische Geschichten" von Margarete Dierks im Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 2 (1977), S. 493 und 495; auch Hurrelmann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit (1974), S. 81 spricht nur von einer „formal relativ ungebundenen Form". Völlig verfehlt ist ein Urteil Köberles; danach tragen die „Moralischen Erzählungen" der Sophie von La Roche „den Stempel des Konstruierten, Nichterlebten" (Köberle: Jugendliteratur zur Zeit der Aufklärung [1924/1972], S. 142). Noch im 1977 erschienenen Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 2, S. 314 zitiert Hubert Göbels diesen Satz kommentarlos und zustimmend! Siehe oben S. 60-68, bes. S. 62, u.ö. *Carlo Casalicchio: Utile cum Dulci, Das ist: Anmuthige Hundert Historien. — Augsburg 1702 - nach Schenda: Stand und Aufgaben der Exemplaforschung (1969), S. 79, Anm. 97. Weiße: Kinderfreund Th. 3 (1776), 49. St., S. 169-191. Ebenda 51. St., S. 199-204. Ebenda Th. 23 (1781) 313. St., S. 229-241 und Th. 24 (1782) 319. St., S. 83-91. Bausinger: Zum Beispiel (1968), S. 13; vgl. auch ders.: Formen der „Volkspoesie" (1980), S. 210-212. Zur Tradition des Topos siehe Koselleck: Historia Magistra Vitae (1967); vgl. auch die grundlegende Arbeit von Landfester: Historia Magistra Vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts (1972).

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Gegenwart ist ein Geschichtsverständnis maßgebend, das der akademische Historismus nicht auszurotten v e r m o c h t e 1 8 und das seine prägnanteste Formulierung bei Leibniz gefunden hat: Der Hauptendzweck der Historie und der Poesie soll seyn, daß sie die Klugheit und die Tugend durch Exempel lehren; und hiernächst, daß sie die Laster auf eine solche Art vorstellen, wodurch man einen Abscheu davor bekomme, und bewogen werde, sie zu vermeiden. Gottsched merkt in seiner Ubersetzung, die hier zitiert wurde, dazu an: „ E i n e unvergleichliche Regel, für die Geschichtschreiber und D i c h t e r ! " 1 9 Das ist die alte aristotelische Geschichtsauffassung, wonach Geschichte nicht das Einmalige, sondern das immer Wiederkehrende i s t . 2 0 A u c h Lessing zitiert in seiner 1. Abhandlung über die Fabel Aristoteles: „[. . .] nützlicher zur Aufklärung aber sind geschichtliche Beispiele, denn das, was geschehen wird, ist meist dem ähnlich, was geschehen i s t . " 2 1 In der Einleitung zu einem historischen Exempel im „Kinderfreund" k o m m t z u m Ausdruck, daß konkrete historische Fakten für sich genommen nichts bedeuten: „Als ein gewisser H e r z o g von Braunschweig, (mich deucht, er hieß August Wilhelm: doch daran liegt nichts) [. . . ] " 2 2 . Es ist D o k t o r Chronickel, der dieses Exempel beisteuert, ein Mann, von dem es kurz zuvor hieß, daß er u. a. alle Männer der Geschichte „nach ihren kleinsten Lebensumständen" kenne. Weiße bekennt sich völlig zum aristotelischen Geschichtsverständnis, wenn er über D o k t o r Chronickel sagt: Doch ich muß ihm zum Ruhme nachsagen, daß er das Studium der Geschichte nicht bloß hochschätzet, in so fern sie nur unsere Neugierde befriediget, sondern weil er sie für einen Schauplatz der Wege Gottes in Absicht auf die Schicksale, nicht nur ganzer Reiche und Völker, sondern auch einzelner Menschen, für einen Spiegel der Sitten, für einen Lehrer in der Tugend hält. Er bleibt auch daher in seinen Erzählungen nicht bey den Vortheilen der Staaten, bey Kriegen und Bündnissen stehen, sondern sucht immer bey meinen Kindern eine kleine moralische Geschichte, oder eine artige Anekdote auf, die in ihr Leben einen Einfluß haben kann, oder unterhält sie mit den besonderen Sitten und Charakteren, Tugenden und Lastern verschiedener Völker, oder mit der Lebensbeschreibung großer, frommer, tugendhafter und gelehrter Männer. 23 18

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Vgl. Fuhrmann: Exemplum (1973), S. 449. — Wir stehen heute der tiefen Skepsis des alten Goethe näher: „Die Weltgeschichte sei eigentlich nur ein Gewebe von Unsinn für den höhern Denker, und wenig aus ihr zu lernen [. . .]." Und ebenfalls Kanzler Müller gegenüber nannte er sie „das Absurdeste [. . .], was es gibt" - zu Friedrich von Müller 11. 10. 1824 bzw. 6. 3. 1828 - Goethe: Gespräche Bd. 3, S. 137 bzw. 489. Leibnitz[!]: Theodicee (1763), S. 3 0 7 - 3 0 8 , §148. Vgl. auch Jens: Rhetorik. - In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte Bd. 3 (1977), S. 442: „die Geschichtsschreibung [im 17. Jahrhundert] folgte unter den Stichworten ,exemplum' und ,evidentia' (lehrhafte Darstellung von moralischer Vorbildlichkeit) den rhet. Doktrinen". Vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte (1973), S. 357—358. Lessing: Werke Bd. 5, S. 384, hier zitiert nach der deutschen Ubersetzung in den Anmerkungen S. 902 (Aristoteles, Rhetor, lib. II, cap. 20). Weiße: Kinderfreund Th. 1 (1776), 6 . - 7 . St., S. 58. Ebenda 1 . - 5 . St., S. 21.

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Das ist der ganze Cicero: „plena exemplorum est historia" 2 4 , das ist aber auch der Geist der Aufklärung. Die Weißeschen Exempel erschöpfen sich keineswegs in „Erzählungen vom fleißigen Lottchen und vom aufmerksamen Fritz, vom Nutzen der Ordnung und vom Nachteil der Unbesonnenheit", wie ein unzählige Male — zuletzt in einem jüngst (1979) erschienenen Aufsatz 25 — wiederholter Gemeinplatz glauben machen könnte. Nur Weißes „Neues A, B, C , Buch" enthält einige solcher Beispielerzählungen. Stellvertretend für die Exempel des „Kinderfreundes" sei hier der erste „Exempel-Komplex" betrachtet 26 . Er besteht aus einer Reihe von Beispielerzählungen, die vom Magister Philoteknos, Doktor Chronickel, dem Dichter Spirit und dem Vater Mentor erzählt werden. Magister Philoteknos kommt mit Tränen der Freude in den Augen zu den Kindern, läßt sie raten, was ihm wohl begegnet sei; die Kinder tippen auf ein Geschenk: Mandeltorte, Buch, reiche Erbschaft, Tressenkleid, Ring. All das ist es nicht: Er hat ein Beispiel „ehrlicher Armut" erlebt. Einem armen Mädchen, das über einen verlorenen Groschen weinte, schenkte er einen neuen, dieses aber fand den alten wieder, wollte ihn zurückgeben und erhielt für ihre Ehrlichkeit vom Magister noch einen Gulden dazu. Das Kind verstand nicht, und der Magister erklärte: „Eben darum, weil du gethan, was recht, was deine Pflicht war, verdienst du eine Belohnung. Thue es allezeit, und habe Gott vor Augen und im Herzen, so wird Dirs wohlgehen." Die Rührung über das ehrliche Kind ist allgemein, nicht nur dem Magister sind die Freudentränen „den ganzen Weg hieher reichlich über das Gesichte" geflossen, sondern: „Karl schluchzte vor süßer Wehmut — Lottchen rief mit vollen Augen" usf. 2 7 Ein Exempel aus der Geschichte unterstreicht die Allgemeingültigkeit der belohnten ehrlichen Armut. Ein Herzog kann einem Bettelknaben kein Almosen geben, da er „kein klein Geld" habe: Der Knabe erbot sich, er wollte gehen, und ihm wechseln lassen. Den Herzog deuchte dieß lächerlich. Um den Knaben loszuwerden, gab er ihm einen Dukaten, in der gewissen Ueberzeugung, daß er ihn behalten würde. Nach einer kleinen Weile aber, brachte der Knabe die, für den Dukaten eingewechselte kleine Münze. Der Herzog gerührt und voll Verwunderung über die Ehrlichkeit des Kindes, ließ ihm nicht nur das Geld; sondern nahm ihn mit sich, ließ ihn erziehen, und beförderte ihn mit der Zeit zu den angesehensten Ehrenstellen. 2 8 24

De divinatione 1,50. — Kenntnislos ist Heinrich Pletichas Artikel „Geschichtliche Themen im Kinder- und Jugendbuch" im Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 1 (1975), S. 439—443; danach stünden am Anfang des 18. Jahrhunderts „nicht Erzählungen sondern Sachbücher", und erst den Nachfolgern der Philanthropisten im 19. Jahrhundert diene Geschichte „als unerschöpfliches Reservoir edler Lebensschicksale und moralisierender Anekdoten" (S. 440).

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Baumgärtner: Jugendbuch und Literatur. Überlegungen zu einem umstrittenen literarischen Phänomen. — In: Kinder- und Jugendliteratur (1979), S. 9—19, hier S. 15. Weiße: Kinderfreund Th. 1, (1776) 6 . - 1 1 . St., S. 4 5 - 8 4 . 2 8 Ebenda S. 5 8 - 5 9 . Ebenda S. 54 - 55 .

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Es folgen im Verlauf der Unterhaltung noch weitere Beispiele für G r o ß m u t und „edle Seelenkräfte" — die übrigens am häufigsten unter dem Mittelstande zu finden sind, da dort die beste Erziehung herrsche —, ein Exempel wird sogar der Zeitung entnommen und exakt datiert: 26. Junius 1775, 10 U h r in L i m o g e s . 2 9 Sehen wir von der exotischen Einkleidung einiger Beispielerzählungen ab, so fallen bei allen Erzählungen dieser A r t im „Kinderfreund" zwei Punkte ins A u g e : D e r — meist unmittelbare — Nutzen der guten Tat für den Ehrlichen oder sonst Tugendhaften sowie die Rührung bei denen, welchen die Tugend .erwiesen* wird, und bei den H ö r e r n des Beispiels 3 0 . H e r m a n n Bausinger, der vor allem von zwei Exempelsammlungen von 1783 und 1 7 9 0 3 1 ausgeht (die erstere enthält sogar Weißes oben zitiertes historisches Exempel), k o m m t zum gleichen Ergebnis: Sentimentalität, Neigung zum Kuriosen — was unserer Meinung nach kein fester Bestandteil aller Exempel ist — und der Gedanke der Utilität sind für ihn Merkmale der „aufgeklärten" Beispiele, die einem grundlegenden Erzählschema folgen, „das die Selbstlosigkeit des tugendhaften Handelns betont und doch deutlich macht, daß Tugend sich a u s z a h l t " 3 2 . Ebenda S. 7 7 - 7 8 . Auf das „rührende Wesen" des Exempels weist schon Sulzer: Versuch von der Erziehung (1748), S. 111. 31 *[-p Waser:] Etwas Angenehmes und Nützliches auch für den gemeinsten Mann und insonderheit für die Gemeinen und Repetier-Schulen auf dem Land. — Zürich: David Geßler 1783 und *Sittenbuch für den christlichen Landmann mit wahren Geschichten und Beyspielen zur Lehre und Erbauung geschrieben von M. C . Pothmann, Prediger zu Varenholz im Lippischen. — Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1790 — vgl. Bausinger: Zum Beispiel (1968), S. 12 und 13, Anm. 16 und 18. 3 2 Ebenda S. 15; vgl. dort: „Das bestimmende Utilitätsprinzip bringt es mit sich, daß wohl kaum eine andere Tugend so stark und so häufig hervorgehoben wird wie die Freigebigkeit und der damit zusammenhängende Komplex der ,Gutthätigkeit' sowie der .Dankbarkeit gegen Gutthäter'." Vgl. dazu die Rechtfertigung der Armut bei dem als fortschrittlich geltenden Aufklärungspädagogen Peter Villaume: Von dem Ursprung und den Absichten des Uebels. Bd. 1 (1784), S. 2 6 - 3 2 : „Der Armgeborne fühlt und beklagt seine Armuth nur in einigen mürrischen Augenblikken [. . .]. Außerdem ist er zufrieden, fröhlich, oder wenigstens ruhig." (S. 26) — „Arm seyn ist kein Unglück. Man gewöhnt sich dazu; und Gewöhnung macht alles leicht." (S. 27) — In seiner „Kleinen Kinderbibliothek" (Th. 5 [1783], S. 141-150) gibt Campe Antworten auf die Frage: „Wozu sind Arme und Reiche in der Welt?" - Die Reichen brauchen die Armen, weil sonst „die schöne Tugend des Mitleids und der Barmherzigkeit gegen Nothleidende gar nicht stat haben könte". Die Armen aber haben sogar einen doppelten Vorteil durch ihre soziale Lage; einmal die Möglichkeit, sich in den „herlichen Tugenden" der Geduld, des Vertrauens auf Gott und der Dankbarkeit zu üben, und außerdem könnten viele Menschen ein gemächliches Leben gar nicht ertragen, sie würden böse, wenn sie nicht mit Mangel und Elend zu kämpfen hätten. Zahllose moralische Beispielerzählungen mindestens bis hin zu Pocci (siehe unten S. 245—246) sind auf diesem Grundgedanken aufgebaut, oft dahin modifiziert, daß plötzlich zu Reichtum Gekommene reuig in die Arme der wohltuenden Armut zurückkehren. Vgl. auch Könneker (Hrsg.): Kinderschaukel (1976) 29

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Fassen wir Merkmale und Funktion des Exempels zusammen, so können wir an Lessings berühmte Fabeldefinition anknüpfen. Er unterscheidet — im Anschluß an Aristoteles — Fabel und Exempel nur hinsichtlich ihres Bezugs zur Realität: Exempel seien der Geschichte entnommen, Fabeln erdichtet. Lessing nennt also auch erdichtete Exempel Fabeln, entgegen dem allgemeinen Gebrauch des Begriffs. Wir können deshalb für unsere Zwecke seine Definition der Fabel ungefähr so abwandeln: Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, der entweder wirklich geschehen ist oder dem wir die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese wirkliche oder erdichtete Geschichte ein Exempel. 33 Schenda hat eine Erforschung auch des pädagogischen Exempels der Spätaufklärung gefordert 34 ; hier konnte nur andeutungsweise gezeigt werden, daß es sich in der Struktur nicht von andern Exempeln unterscheidet. Das gilt auch für einige der im engsten Sinne pädagogischen Exempel, wie sie Weißes „Neues A,B,C,Buch" enthält; so ist „Das wohlthätige Kind" 3 5 eine Variante zu den oben zitierten Exempeln. In den übrigen der „kleinen Erzählungen", die kindliche Tugenden oder — wie in der Mehrzahl der Fälle — Unarten vorführen, wird der „allgemeine moralische Satz" durch mehr oder weniger praktische Verhaltensmaximen 36 ersetzt, deren Befolgung oder Nichtbefolgung entweder sofortige und oft reparable oder dauernde irreparable Folgen haben. Solche Beispielerzählungen sind fast ausschließlich nur sozialhistorisch interessant; sie stehen auch nicht in der Tradition des Exempels im engeren Sinn, sondern sind eigentlich in Erzählungen aufgelöste Zucht- und Sittenbücher.

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Bd. 1, S. 154—179 Texte für Kinder aus den Jahren 1787-1850 unter der Sammelüberschrift „Wohltun trägt Zinsen. Soziale Ausgleichsversuche durch private Wohlfahrt". Zu diesem Problem auch Schenda: Bettler. - In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 2 (1979), Sp. 243—258, passim. Das ,Original'-Zitat findet sich am Ende der ersten Fabelabhandlung — Lessing: Werke Bd. 5, S. 385. — Vgl. auch Stierle: Geschichte als Exemplum — Exemplum als Geschichte (1973), S. 354, wo Lessings Ausführung in folgende Definition .übersetzt' wird: „Fabel und Exemplum sind narrative Minimalformen, die aus minimalen systematischen Texten, nämlich Sentenzen, Maximen, .moralischen Lehrsätzen', abgeleitet sind." — Zum großen Komplex der Exempel gehört auch der „moralische Charakter"; in den Moralischen Wochenschriften häufig, findet er sich seltener in der Kinderliteratur — vgl. dazu Schneider: Der moralische Charakter (1976). Schenda: Stand und Aufgaben der Exemplaforschung (1969), S. 83. Weiße: Neues A , B , C.Buch (1772), S. 4 3 - 4 4 . Vgl. Villaumes Definition kindlicher Unarten: „Wir nennen Unarten bei Kindern, alles was uns in ihrem Betragen m i s f ä l l t . " — Villaume: Abhandlung über das Verhalten bei den ersten Unarten der Kinder (1785), S. 303 [falsch pag. als 253]; die Unarten sind im einzelnen: Eigensinn, Weinen und Schreien, Bosheit, Verstellung, ungezogene Ausdrücke, Genäschigkeit, Habsucht, Neugier, Furcht, Ekel und Schmutz, Mangel an Scham, feindselige Leidenschaften, Eitelkeit, Unachtsamkeit.·

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D a s Exempel als Vorgriff auf den A u s g a n g einer noch offenen Situation 3 7 ordnet sich in Weißes „ K i n d e r f r e u n d " der Gesamttendenz ein: Denn dieser ist ja insgesamt Vorgriff auf eine solche offene Situation, eine Art .Makroexempel' 3 8 . F ü r seinen „Briefwechsel der Familie des K i n d e r f r e u n d e s " hat er das ausdrücklich betont; die Leser sollten ihn als „ E x e m p e l b u c h " ansehen 3 9 . Indem der „ K i n d e r f r e u n d " sich ebenfalls nicht — wie andere Kinderbücher der Zeit — auf nichtintegrierte Einzelexempel beschränkt, sondern diese aufgehoben sind in der Ganzheit seines Entwurfs einer vor-bildlichen Gesellschaft im kleinen, wo die Exempel tatsächlich wirken, wird der „ K i n d e r f r e u n d " z u m Vor-Bild der — erhofften — Zukunft, wird er bürgerliche U t o p i e . Wie sehr sich Weiße selbst darüber im klaren war, wie planvoll er darin im „ K i n d e r f r e u n d " vorgegangen ist, zeigen auch und vor allem einige seiner Kinderschauspiele, die — nach einem kurzen Blick auf Weißes Kinderlieder — im Zusammenhang gewürdigt werden sollen.

c) Die Kinderlieder Weißes A u c h Weißes „ L i e d e r für K i n d e r " ordnen sich seiner kinderliterarischen Poetik ein. Ein Rezensent trifft den Kern, wenn er von einem „moralischen K i n d e r g e s a n g b u c h " spricht und den Theaterdichter Weiße dafür preist, daß er „ s i c h von dieser höhern Sphäre, worinne er sich bisher mit s o vielem R u h m und Glänze gezeiget hat, ganz sanfte wieder herabläßt, und neben der Schule für G r o s e , izt eine Schule für unschuldige Kinder errichtet" 1 . E s ist eigenartig, daß von manchen zünftigen Erforschern der Kinderliteratur Weiße und anderen immer noch eine unreflektierte Ästhetik vom ,Wesen echter Dichtung' entgegengehalten wird. Schon Max Friedlärtder nannte in seinem Standardwerk über „ D a s deutsche L i e d des 18. Jahrhunderts" die Gedichte Weißes „unausstehlich moralisirend, ledern" 2 . N o c h 72 Jahre später sind Weißes Lieder für R u t h L o r b e keine „echten Kinderlieder", sondern „gekünstelte P r o d u k t e " 3 . D i e ältesten Klischees aber werden von Seiten der fortschrittlichen' marxistischen Literaturwissenschaft geliefert; „lebensfremd, kunstfremd und kinderfeindlich" seien die Kinderlieder des 18. Jahrhunderts, Weißes Gedichten fehle „völlig das Lyrische, 37 38

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So Stierle: Geschichte als Exemplum — Exemplum als Geschichte (1973), S. 357. Dieser Begriff ebenda S. 358: Dort wird in bezug auf Ciceros „Historia magistra vitae" die Geschichte insgesamt als Makroexempel bezeichnet, in deren Rahmen das Exempel als einfache Form seinen Platz hat. Weiße: Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes Th. 12 (1792), S. 316. Magazin für Schulen und die Erziehung überhaupt Bd. 3, (1769) 3. St., S. 267. Friedlaender: Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert (1902) Bd. 1,1, S. 154. Unergiebig ist auch Göpel: Der Wandel des Kinderliedes im 18. Jahrhundert (1935). Lorbe: Kinderlyrik. - In: Kinder- und Jugendliteratur (1974), S. 178-219, hier S. 187.

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echtes Erleben und Empfinden", der Dichter verkenne „das Wesen der Kunst", denn es herrsche allenthalben „unkünstlerische Lehrhaftigkeit", weshalb denn auch schließlich „Kunstwert und Kunstwirkung" 4 fehlten. Gerechterweise muß gesagt werden, daß diese diffuse und naive Absolutsetzung eines Kunstverständnisses, das der Zeit um 1770 fremd war, auch von marxistischer Seite kritisiert wurde 5 . Freilich findet sich nirgends ein Hinweis darauf, daß viele von Weißes „Liedern f ü r Kinder" besser sind als ihr Ruf. Wir wissen bereits, daß Weiße das stärkste Kontingent zum sehr verbreiteten „Mildheimischen Liederbuch" von Rudolf Zacharias Becker stellt und daß von den dort abgedruckten insgesamt achtunddreißig Liedern die Hälfte Kinderlieder sind 6 . Sein R u h m als Liederdichter reicht weit ins 19. Jahrhundert hinein 7 . Vor Weiße gab es von Volksliedern abgesehen nur geistliche Kinderlieder 8 ; auch wenn deren Entstehung ähnlich gerechtfertigt wird wie die weltlichen Kinderlieder des 18. Jahrhunderts und ein Rezensent von Weißes Werk als einem „moralischen Kindergesangbuch" spricht, sind Weißes Lieder stilistisch oder formal nicht Ergebnis einer wie auch immer gearteten Säkularisation. Lediglich von der allgemeinen Tendenz her gesehen, daß neben und anstelle religiöser Literatur auch weltliche zur Kindererziehung dient, kann man von einer Säkularisation sprechen. Wer bedenkt, daß Weiße praktisch Neuland betrat, wer sich von der Vorstellung des romantischen Volks- und Kinderliedes und seiner Nachfolger befreit, der muß gestehen, daß es Weiße gelungen ist, den naiven Ton aus der Sphäre der anakreontischen Lyrik oder der Gellertschen Fabeln — um nur zwei typische Gattungen zu nennen — auf kindliche Themen und Gegenstände oder das, was er dafür hielt, zu übertragen. Bis auf wenige Ausnahmen werden an Dinge der kindlichen Erlebniswelt (Wurm im Apfel, Nachtigall im Käfig, Kartenhäuschen, Fisch an der Angel, Seifenblase, Lilliput, Mücke, Trommeln, Puppenspiel, Kreiselspiel usf.) moralische Lehren geknüpft: Die Seifenblase. Wie spielt die schöne Blase nicht So bunt am goldnen Sonnenlicht? Allein, ein Hauch! weg ist die Pracht, Und ihrer wird nicht mehr gedacht.

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Egon Schmidt: Kinder- und Jugendliteratur (1974), Zitate S. 34-38, 44. Vgl. Hans-Dietrich Dahnkes Rezension in: Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur H. 41 (1976), S. 94-104. 6 Vgl. oben S. 169; dreizehn davon schon in der ersten Leipziger Ausgabe von 1767. 7 Vgl. auch Angers Nachwort zum Nachdruck von Weiße: Scherzhafte Lieder (1965), S. 15—16. — Ferner die musikwissenschaftliche Untersuchung von Schwab: Sangbarkeit, Popularität und Kunstlied (1965), S. 100—105 über Weißes Lieder und den großen Anteil des Komponisten Hiller an der ungeheuren Popularität. « Vgl. z.B. Wegehaupt: Vorstufen und Vorläufer (1977), S. 19-26. 5

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I. Christian Felix Weiße Ihr ist ein junges Herrchen gleich, Stolz auf sein Kleid, vom Golde reich, Selbst aber an Verdiensten leer: Man nehm es ihm, so bleibt nichts mehr. 9

Einfachste Syntax, wobei die nachgestellten Attribute in der zweiten Strophe beinahe den „romantischen" Volkston vorwegnehmen, ein klare, schlichte, aber doch anmutige Sprache, einfache, vierhebige, paarweise gereimte Verse: Diese Merkmale gelten für fast alle Gedichte. Dabei ist alles so konzis und knapp vorgetragen, daß kein Wort überflüssig ist. Was den heutigen Betrachter stören mag, ist ein typisches Kennzeichen aller aufklärerischen Lehrdichtung: die deutliche Zweiteilung in Bild und allegorische Deutung. Es gibt aber keinerlei Bruch im Bezug von Bild und Deutung. In seiner Art ist es ein durchaus vollkommenes Gebilde, von jener spielerischen Grazie, die einst als naiv galt und die manche heute gekünstelt nennen. Vor allem aber: In diesem Ton wird den Kindern bürgerliches Standesbewußtsein vermittelt und die Hohlheit und Nichtigkeit eines nur auf Äußerlichkeiten ruhenden Adelsstandes demonstriert. Wie eminent politisch manches in den unscheinbaren „Liedern für Kinder" ist, erweist sich an Versen wie denen von der „Wahren Größe": Der Krieger dürstet nach Ehre In eisernem Feld, Und glaubt, er bau ihr Altäre, Wenn mancher edle Held Von seinem Schwerdtstreich fällt. Und wenn er Länder verwüstet Und Städte verbrannt, Und sich auf Leichen gebrüstet Mit Blut bespritzter Hand; Wird er oft Groß genannt. Doch wer sich selber bestreitet, Die Tugend verehrt, Um sich das Glücke verbreitet, Und durch sein Beyspiel lehrt, Ist nur des Namens werth. 1 0

Freilich, hier fehlt der Kinderton, doch werden die Schrecken des Krieges in deutlichen Bildern vorgestellt, die auch Kindern verständlich sind. Warum aber verleibt Weiße dieses Lied überhaupt seinen Kinderliedern ein? 1765 geschrieben, wirkt es zwei Jahre nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges, unter dem Sachsen sehr zu leiden hatte — Leipzig selbst spürte die Last der Kontributionen vom Hubertusburger

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Weiße: Lieder für Kinder (1767), S. 15. Ebenda S. 11; aus dem „eisernen Feld" wurde in späteren Auflagen ein „blutiges".

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Frieden bis ins 19. Jahrhundert — n , wie ein versteckter Widerruf seiner martialischen „Amazonenlieder", die sich — während des Krieges entstanden — heldenbegeistert geben: „ S o fällt der Held im Tod' auch groß!" 1 2 Der Gegenwart kann er, der Mode und Gleim 1 3 folgend, den Heldentod noch anpreisen; im Gegensatz zum Preußen Gleim, der noch im hohen Alter zu „seinem Friedrich" und dessen Kriegen stand 14 , ist des Sachsen Weiße Kriegsgetöse rein literarisch und ohne persönliches Engagement. Freilich wagt er den offenen Widerruf nicht und druckt seine Kriegsgedichte immer wieder ab. Nur Kindern als potentieller Zukunft gegenüber bricht sich die Hoffnung auf eine Welt ohne Krieg Bahn. Nicht alle Kinderlieder und auch nicht alle Stücke des „Kinderfreundes" sind dieser Art, aber es muß erlaubt sein, die in die Zukunft weisenden, die kritischer Betrachtung standhaltenden Teile von Weißes kinderliterarischem Werk in den Vordergrund zu rücken.

d) Die moralische Anstalt für Kinder „Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet", sie ist „ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben" 1 . Diese Sätze Schillers aus seiner berühmten Rede von 1784 zeigen noch ganz das aufklärerische Verständnis vom Drama. Obwohl ein dogmatischer Begriff des Dramas längst nicht mehr vertretbar ist 2 , spürt man davon in der Kinderliteraturforschung nichts. Hieß es zu Beginn unseres Jahrhunderts von Weißes Dramen für Kinder: „ E s waren eben keine Schauspiele, sondern theatralische Spielereien" 3 , so spricht man heute vom „Kinderdramulett [!] mit pädagogischer Intention" 4 und behauptet, daß sich eben wegen dieser Intention „die Schauspiele

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Vgl. Treue: Wirtschaft, Gesellschaft und Technik vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (1974), S. 161. Weiße: Kleine lyrische Gedichte (Nachdruck 1778) Bd. 1, S. 297: „Klagen einer neuen Amazone bey dem Falle ihres Geliebten". Uber Weißes „Amazonenlieder" allgemein und im Verhältnis zu Gleims „Preußischen Kriegsliedern" siehe Minor: Weiße (1880), S. 6 1 - 6 8 . Vgl. Gleim: Sämmdiche Werke Bd. 4, S. IX—XX: „Gleim's historische Ansicht von der Gerechtigkeit und Nothwendigkeit der Kriege Friedrich's". Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1802 unter dem Titel: Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet) - Werke Bd. 20, S. 100 und 95. Vgl. z.B. Hinck: Das moderne Drama in Deutschland (1973), S. 1 1 - 1 3 . Göhring: Anfänge der deutschen Jugendliteratur im 18. Jahrhundert (1967, EA 1904), S. 81. Hans-Wolfgang Nickel: Kindertheater. — In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 2 (1977), S. 2 0 6 - 2 1 0 , hier S. 207, so auch - allerdings richtig „Dramolett" Schedier: Kindertheater (1972), S. 28.

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einer Bewertung nach literarischen Kriterien" entzögen 5 ; galt vor achtzig Jahren Weißes Dramensprache als schwülstig und gespreizt 5 , so spricht man das auch heute nach und nennt sie „geschraubt" 7 ; ähnlichen Urteilen sind wir ja im Verlauf der Untersuchung schon begegnet. Wir kennen bereits die Bedeutung des Dialogs für das 18. Jahrhundert; und so ist es nicht verwunderlich, daß auch die Formen des Dramas vielfältiger sind und sich keiner festen Gattungsdefinition bequemen wollen. Nicht umsonst unterscheidet Ramler nach einem einzigen Gattungs-Oberbegriff erzählende, dramatische und lyrische Gedichte 8 . Geht man von der Dichtungstheorie aus, so scheinen Weißes Schauspiele für Kinder nach Gottscheds Dichtungs-Rezept verfertigt; er rät — wobei er sich übrigens fast wörtlich an Le Bossu 9 anlehnt: Zu allererst wähle man sich einen lehrreichen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte zum Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die man sich zu erlangen, vorgenommen. Hierzu ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worinn eine Handlung vorkömmt, daran dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt. 10 Das Zentrum jeder Dichtung ist für Gottsched die „Fabel" und der ihr zugrunde liegende moralische Satz; je nach Gegenstand und Absicht besteht dann die Wahl

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Jahnke: Von der Komödie für Kinder zum Weihnachtsmärchen (1977), S. 40; Jahnkes Arbeit enthält manche sachliche Fehler: So nennt er als Vorbild für Weiße das „Théâtre à l'usage des jeunes personnes ou théâtre d'éducation" der Madame de Genlis, das vier Jahre nach der ersten Nummer des „Kinderfreundes" erschien (1779—80; dt. 1780—82, übersetzt von Weiße); Moissys Dramen datiert er auf 1729 (richtig 1769) und übernimmt damit einen Fehler von Schultze: Das deutsche Jugendtheater (1960), S. 78; das einzige Stück, über das Jahnke ausführlicher handelt („Der Geburtstag" — Kinderfreund Th. 1 [1776] 1 8 . - 2 3 . St., S. 151 — 183), hat er offensichtlich nicht richtig gelesen, denn er spricht von der Besserung des hochmütigen Knaben, wovon aber keine Rede sein kann. Ähnliche Fehler in der erwähnten Untersuchung Schultzes: 1934 unter stramm nazistischer Brauchtums-Flagge segelnd, hat er diese 27 Jahre später in der Neuausgabe zwar etwas eingezogen, gelesen hat er aber auch in der Zwischenzeit keines der aufklärerischen Kinderdramen, die er „typische Machwerke eines rationalistisch pädagogischen Intellekts" nennt und die leider „mit der alten Brauchtumsstufe" nicht mehr verbunden seien (S- 79).

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Göhring: Die Anfänge der deutschen Jugendliteratur im 18. Jahrhundert (1967, EA 1904), S. 82 und 84. Schedler: Kindertheater (1972), S. 31. Vgl. auch Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert (1968), S. 86—87. In Le Bossus „Traité du poëme epique" (1693) heißt es im Abschnitt „Maniere de faire une Fable" (S. 25—28): „La prémiere chose par où l'on doit commencer pour faire une Fable, est de choisir l'instruction & le point de Morale qui lui doit servir de fond, selon le dessein & la fin que l'on se propose. [. . .] Cette maxime que je choisis, est le point de Morale Si la vérité qui sert de fond à la Fable que je veux faire. Il faut en suite réduire cette vérité morale en action [. . .]" usf. (Zitat S. 25). Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst (3. Aufl. 1742). — Ausgewählte Werke Bd. 6,1, S. 215.

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zwischen äsopischer, komischer, tragischer oder epischer „ F a b e l " ; die G a t t u n g ist sekundär gegenüber „ F a b e l " und Wirkungsabsicht. Als ,moralischer Satz' dient — nicht nur in Weißes Kinderdramen — sehr häufig ein Sprichwort.

In der Erziehung hat diese volkssprachliche F o r m der Sentenz schon

immer eine bedeutende Rolle gespielt. 1 1 Es liegt freilich nahe zu folgern, daß „ d e r G e b r a u c h des Sprichwortes in der Vernunft- und verstandesorientierten Aufklär u n g " zurückging und daß das 18. Jahrhundert „ i m allgemeinen" das Sprichwort v e r a c h t e t e . 1 2 D o c h fehlen gerade für diesen Zeitraum U n t e r s u c h u n g e n 1 3 , und zumindest in unserem Zusammenhang bietet sich ein etwas anderes Bild. In Weißes „ N e u e m A , B , C , B u c h " von 1772 beginnen die „ L e s ü b u n g e n und U n t e r h a l t u n g e n " mit „ S i t t e n l e h r e n " in F o r m von aneinandergereihten S p r i c h w ö r t e r n 1 4 . B a s e d o w hat für sein „ E l e m e n t a r w e r k " (1774) dieses Prinzip ü b e r n o m m e n : das 5. B u c h „ D i e Sittenlehre" enthält als erstes „ L e h r e n in SprüchWörtern"; und er merkt dazu an: Wohl erklärte und wohlverstandene gute Sprüchwörter sind für die Jugend und für den grossen Haufen ein vortreffliches Mittel, nöthige Weltkenntniss und Sittenlehre beyzubringen, und unvergesslich zu machen. [. . .] Ich zweifle nicht, die Sammlung solcher Sprüchwörter könne so vollständig werden, dass sie alle Sittenlehren und Klugheitsregeln enthalten. 15 A u c h dies gibt Basedow als seine ureigene Idee aus, denn er bedauert, daß „es heutiges Tages fast für unanständig gehalten wird, Gebrauch davon zu m a c h e n . " 1 6 D i e Bedeutung des Sprichwortes in der Kinderliteratur wird verständlicher, wenn wir bedenken, welche Rolle das Sprichwort in der volkstümlichen Predigt seit dem Mittelalter spielte 1 7 und daß auch hierin die neue Kinderliteratur Teil des großen Säkularisationsprozesses ist. Zudem schöpft das Sprichwort seine Beweiskraft aus seiner T r a d i t i o n . 1 8 M o c h t e es auch in der Zeit der Aufklärung hie und da etwas in Verruf g e k o m m e n sein, so galten doch allgemein auch damals Sittensprüche und 11

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Röhrich/Mieder: Sprichwort (1977), S. 104—107; dort auch weiterführende Literatur; ferner Gustav Bebermeyer: Sprichwort. — In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl., Bd. 4, Lfg. 1/2 (1979), S. 1 3 2 - 1 5 1 . Ebenda S. 34. — vgl. auch Hain: Sprichwort und Rätsel. — In: Deutsche Philologie im Aufriß. 2. Aufl. Bd. 3 (1962), Sp. 2 7 2 7 - 2 7 4 2 , hier Sp. 2737. Vgl. den Forschungsüberblick mit Bibliographie von Mieder: Das Sprichwort und die deutsche Literatur (1972); die einzige Arbeit, die in unseren Zusammenhang gehört, ist Paul Niemeyers: Die Sentenz als poetische Ausdrucksform vorzüglich im dramatischen Stil (1934), die allerdings nicht nur für ihren Hauptgegenstand Schiller unergiebig ist. Weiße: A , B , C , B u c h (1772), S. 1 3 - 2 0 . Basedow: Elementarwerk (1774) Bd. 2, S. 2 3 5 - 2 4 0 , Zitat S. 240. Ebenda S. 240. — Vgl. auch den Abschnitt „Sprichwörter" in Campes „Abeze- und Lesebuch" (Nachdruck 1979 d. Ausg. 1830, EA 1806). Vgl. Hain: Sprichwort und Rätsel. — In: Deutsche Philologie im Aufriß. 2. Aufl. Bd. 3 (1962), Sp. 2734—2737: „Das Sprichwort in der volkstümlichen Predigt". Ebenda Sp. 2735.

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Sprichwörter — Basedow teilte sie allerdings in gute und lasterhafte ein19 — wie historische Exempel als Garanten eines allgemein Menschlichen, einer einzigen und unteilbaren Tugend, oder wie der Altphilologe van Thiel es ausdrückt: „Der Redende versichert sich in ihnen, angesichts eines konkreten Falles, der Übereinstimmung mit allgemein verbreiteten Anschauungen und nimmt deren Autorität für sich und seine Rede in Anspruch". 20 Schon Quintilian nannte die Sprichwörter „Sentenzen (eigentlich: ,Urteile'), weil sie den Beschlüssen öffentlicher Körperschaften ähnlich seien." 21 Ein moralischer Satz oder ein Sprichwort, zumindest in der alten Poetik Gottscheds und seines französischen Gewährsmannes Le Bossu, galt also als Kern des Dramas. Und das Drama selbst war — wie die Fabel der Antike — nur das ,auseinandergefaltete' Sprichwort22. So hat man denn auch tatsächlich anhand der Komödie der Aufklärung festgestellt, daß sich im Sprichwort „der neue bürgerliche Tugendkosmos in der bürgerlichen Umgangssprache" verfestigte23. In der sächsischen Komödie, in deren Tradition Weiße auch steht, schließt oft ein Sprichwort einen Dialogpassus oder einen Gedankengang ab 24 und zieht so die Lehre aus der vorhergehenden Szene. Was läge näher, als solche Szenen zu verselbständigen und als dramatische Kleinform den Kindern darzubieten oder einfach um einen moralischen Satz nach dem Rezepte Gottscheds keine große Komödie, sondern lediglich kurze, für Kinder überschaubare und im Familienkreis aufführbare Einakter zu schreiben? Doch die ersten Dramen für Kinder entstanden nicht auf dem Umweg über solche Reflexionen, wie sie Gottscheds Poetik nahelegt, wenn sie auch in ihr eine theoretische Stütze fanden. Es gab seit dem 17. Jahrhundert tatsächlich solche kurzen Sprichwort-Komödien, unabhängig von jeder Poetik und zunächst für Erwachsene. Wir müssen die Tradition dieser „Proverbes dramatiques" betrachten, die ein Licht auf die verschlungenen Zusammenhänge von Literatur und Kinderliteratur werfen. Clarence D. Brenner hat die Geschichte dieser französischen Mode-Gattung geschrieben, und wir folgen seinen Ergebnissen.25 Die Proverbes dramatiques waren von Anfang an fast ausschließlich eine Angelegenheit von privaten Amateuraufführungen und wurden vielleicht auch deshalb zu wenig beachtet. Ihre Geschichte ist aber für unseren Zusammenhang so wichtig, weil ihre Herkunft auch geeignet ist, die Vorstellungen von einer genuin bürgerlichen Kinderliteratur zu korrigieren.

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Basedow: Elementarwerk (1774) Bd. 2, S. 240. van Thiel: Sprichwörter in Fabeln (1971), S. 118. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1954), S. 68. Vgl. van Thiel: Sprichwörter in Fabeln (1971), bes. S. 116—118; das griechische Wort für Fabeln, παροιμία έζηπλωμενη bedeutet ,auseinandergefaltetes Sprichwort'. Diethelm Brüggemann: Die sächsische Komödie (1970), S. 94. Ebenda. Brenner: Le développement du proverbe dramatique (1937), von der Kinderliteraturforschung bisher nicht zur Kenntnis genommen.

6. Die Genres

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Die Proverbes dramatiques haben ihren Ursprung in den adeligen Salons der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts; am Ende der privaten improvisierten Spiele war das dargestellte Sprichwort zu erraten. An etwas versteckter Stelle erschienen bereits 1699 die ersten „comédies en proverbes" einer Madame Durand 2 6 . Weit interessanter aber ist, daß ebenfalls im letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts Madame de Maintenon für ihre weiblichen Schützlinge im von ihr gegründeten adligen Mädchenstift Saint-Cyr „Conversations" und Proverbes dramatiques schrieb, bei denen der erzieherischen Intention entsprechend moralische Fragen im Vordergrund standen 27 . Diese Verwandlung eines spielerisch-geselligen Genres zum didaktischen war freilich eine frühe Episode in der Geschichte der Proverbes dramatiques, die nicht allgemein bekannt wurde; erst 1829 erfolgte die Veröffentlichung aus der Handschrift. Die Mode der Proverbes flammte 1765 in Frankreich wieder auf; sie ist mit dem Namen Carmontelles verbunden (bürgerlicher Name Louis Carrogis, 1717—1806), der sich selbst mit seinen Proverbes in Ubereinstimmung mit der Komödienpoetik sah und das im Vorwort zur sechsbändigen Ausgabe seiner Proverbes dramatiques von 1773 ausführlich betonte: „Ii n'y a presque pas de comédie à laquelle on pût donner un proverbe pour titre, si l'on voulait." 2 8 Mit der zeitgenössischen Ästhetik offenbar wenig vertraut, bestätigt Brenner erstaunt diese Tatsache, und er zählt eine Reihe französischer Stücke des 18. Jahrhunderts auf, die ein Sprichwon im Titel tragen, darunter von Berquin „ U n bon coeur fait pardonner bien des étourderies" — was weiter nichts ist als eine Übersetzung von Weißes Kinderschauspiel „Ein gutes Herz macht manchen Fehler gut" 2 9 . Im Anschluß an Carmontelle hat Brenner eine Definition der Proverbes dramatiques gegeben: 26 27 28

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Ebenda S. 3 - 5 . Ebenda S. 5. Zit. nach ebenda S. 16. — Zu Carmontelle vgl. Herrmann: Das Gesellschaftstheater des Louis Carrogis de Carmontelle (1968). Weiße: Kinderfreund Th. 19 (1780), 254.-260. St., S. 109-189; übersetzt in Berquins „L'Ami des enfants" Bd. 2 (1782), N o . 5, S. 5 9 - 1 4 3 . - Berquins „L'Ami des enfants" (1782—1784) ist nicht — wie man überall nachlesen kann (z.B. Klaus Doderer: Kinderfreund. - In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur Bd. 2 [1977], S. 178-180, hier S. 180) — eine Ubersetzung von Weißes „Kinderfreund"; schon Weiße selbst schrieb in seinem „Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes" (Bd. 1 [1784], S. 22—23), Berquin habe lediglich „einen großen Theil aus dem Deutschen in seine Sprache eingekleidet". In der Ubersetzung fehlt die fiktive Familie völlig; auch ist Berquins Werk in der Anordnung willkürlich und hat mehr den Charakter einer Anthologie. Es enthält lediglich die meisten der Kinderschauspiele Weißes, daneben Ubersetzungen zweier Dramen von J . J . Engel (siehe unten S. 227) und anderer deutscher Kinderschauspiele, ferner Gespräche und moralische Erzählungen, deren Quellen noch der Erforschung harren. - Siehe auch die Rezensionen des „Ami des enfants" in: Litteratur- und TheaterZeitung (Berlin) 1782, Th. 2, S. 412 und 1783, Th. 1, S. 204, dort bereits Hinweise auf die verschiedenen Quellen. — Zu Berquin ferner Carrière: Berquin's adaptions from

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Le principal dans ses proverbes est d'illustrer une maxime bien connue d'une façon assez simple pour que les spectateurs puissent la devenir sans beaucoup de peine. L'action est peu de chose. Elle se réduit à une série de quelques petites scènes filées sur un brin d'intrigue [. . .].*>

Viel mehr ist auch nicht von diesem Genre zu sagen: Motive, Personal und Ton entsprechen denen der ,großen' Komödien; wie fließend der Ubergang war, zeigt die Kommerzialisierung dieser Gattung auf den Pariser Boulevard-Theatern vor allem seit 1778 : Die Proverbes dramatiques entwickelten sich dort oft zu veritablen Zweiund Dreiaktern 31 . Ihr eigentlicher Ort aber waren und blieben adelige Salons und Feste32, wenn sie auch hie und da den Weg in andere Schichten gefunden haben. Von hier bestimmt sich auch ihre Bedeutung für die Kinderliteratur; die nicht für Kinder gedachten Proverbes Carmontelles wurden offenbar sogar von Kindern gespielt. Denn dieser schreibt im Brief, der als Vorrede einer Proverbes-Ausgabe von 1775 figuriert: Les proverbes dites-vous, Madame ont eu l'avantage de développer votre jeunesse, de lui ôter toutes les disgrâces que donne l'embarras, et ils les ont obligés de bien prononcer. 3 3

Hier klingen bereits wesentliche Argumente der späteren französischen und vor allem der deutschen Diskussion um das Kinderschauspiel an. Für Zusammenhang und Ubergang von den Proverbes dramatiques zum (Sprichwort-) Drama für Kinder sind vor allem folgende Punkte entscheidend: Seit 1768 mit der Veröffentlichung der ersten Proverbes dramatiques Carmontelles ist eine literarische Traditionsbildung über die privaten Grenzen der adeligen Salons hinaus möglich; die Konzipierung der Proverbes auf eine private Aufführung hin ermöglichte den bruchlosen Übergang vom adeligen Salonstück zum bürgerlichen Kinderdrama. Vor allem aber: Alexandre Guillaume Mouslier de Moissy, der 1750 Erfolg mit einer auch von Weiße übersetzten Komödie für das Pariser „Théâtre italien" 34 hatte, sich nach dem Ruin als Glücksspieler in Rußland auf die Erziehung warf, folgte bei seiner Rückkehr nach Paris dem Geist der Zeit und schuf als erster Proverbes dramatiques für Kinder·. 1769 erschienen seine , Jeux de la petite Thalie, ou nouveaux petits drames dialogués sur des proverbes, propres à former les mœurs des enfants & des jeunes personnes,

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German dramatic literature (1935), w o allerdings nur Ubersetzungen von J. J . Engel, Gottlob Stephanie und Pfeffel im „ A m i des enfants" behandelt werden. Berquins WeißeBearbeitungen sind ebenfalls nicht erwähnt bei Lelièvre: Le théâtre allemand en France ( 1 7 5 0 - 1 7 8 9 ) (1974). Brenner: Le développement (1937), S. 17. Ebenda S. 3 8 - 3 9 . Vgl. dazu die zeitgenössischen Zeugnisse ebenda S. 21—23. Zit. nach ebenda S. 30; zu Recht betont Brenner, daß die neue Kinderliteratur zumindest teilweise gegen Rousseaus Erziehungsgedanken gerichtet ist. Moissy: Die neue Weiberschule (1761).

6. Die Genres

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depuis l'âge de cinq ans jusqu'à v i n g t " 3 5 . In Frankreich kamen sie offenbar über die erste Auflage nicht hinaus und blieben dort auch ohne W i r k u n g 3 6 . Sie sind durchgehend nach dem Muster der gängigen Proverbes gestaltet, sogar die Auflösung der „ m o t s " , der Sprichwörter, findet sich erst am Schluß des Bandes. Die meist 14 Seiten langen Szenen (nur wenige sind länger: höchstens 20, oder kürzer: mindestens 8) haben die üblichen Themen moralischer Erzählungen und sind für die damalige E r ziehungspraxis typisch: Gehorsam gegenüber den Erziehern, Naschhaftigkeit, B o s heit und Tierquälerei 3 7 , ein gutes Kind versöhnt die Eltern, Wohltätigkeit gegen A r m e , Gleichheit von H o c h und Niedrig, Gespensterfurcht, usf. In Frankreich begann die Tradition des Theaters für Kinder recht eigentlich erst mit dem „Théâtre à l'usage des jeunes personnes" ( 1 7 7 9 / 8 0 ) der Madame de Genlis (vom 2. Band an „Théâtre d'éducation"), die selbst begeistert Proverbes (u. a. von Carmontelle) spielte und deren Erinnerungen eine bedeutende Quelle für die Geschichte der Proverbes dramatiques und ihrer Rolle in der adligen Gesellschaft sind 3 8 . Moissys , J e u x de la petite Thalie" hatten in Deutschland weit größeren Erfolg als in ihrem Entstehungsland; nach der ersten Ubersetzung von 1770 erschien das Stück „ L ' h a b i t sans g a l o n s " 3 9 in Böckhs „Wochenschrift zum Besten der Erziehung der J u g e n d " als „ D a s Kleid ohne T r e s s e n " 4 0 , in Adelungs „Leipziger Wochenblatt für

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Erstausgabe: «Paris: Bailly 1769. X V I , 343 S. (National Union Catalogue. Pre 1956). Vgl. Brenner: Le développement (1937), S. 32; weitere Ausgaben: Berlin: Chrétien Frédéric Himburg 1770 (benutztes Exemplar: Stadtbibliothek Trier Β 8 962.); ^'Bruxelles 1770 (nach Brenner, S. 31); * Amsterdam 1770 (British Museum); Berlin: Himburg 1773 (als Bd. 1 der „Œuvres drammatiques") benutztes Exemplar: UB Köln S 23 1750; Moissy ließ 1770 zwei weitere Bände folgen: „L'école dramatique de l'homme, âge virile" und „L'école dramatique de l'homme, âge dernier" (vgl. dazu Brenner, S. 31—32), die 1773 auch als Bd. 2 und 3 der „Œuvres" erschienen; deutsche Ausgabe: Moissy: Dramatische Werke Th. 1—3 (1775), benutztes Exemplar: Hess. Landesbibliothek Fulda: schw. Stift C 462. - Dieser Versuch, das gesamte Menschenleben mit Sprichwortdramen zu begleiten, ist völlig gescheitert und zu Recht vergessen. — Brüggemann (. . . keinen Groschen für einen .Orbis pictus'. Anmerkungen zu einer Kinderkomödie des 18. Jahrhunderts [1978]) vermutet für das von ihm untersuchte Kinderschauspiel eines der Dramen Moissys als Vorbild (S. 28); ein Blick in die Werkausgabe hätte ihn aufklären können: Moissy hat kein entsprechendes Stück geschrieben. In „Les Moineaux" (Moissy: Œuvres [1773] Bd. 1, S. 61 — 76) vertritt ein Philosoph die ungemein fortschrittliche Auffassung, daß Kinder — ganz im Sinne Freuds — eine Art morallose Periode durchleben, wo sie für „Bosheiten" nicht verantwortlich sind: „Votre Enfant est si jeune, qu'il ne sçait pas encore ce qui est bien ou mal, ni en physique, ni même en morale; il faut le lui apprendre, & parler à son ame [!], sans verges ni menaces." (S. 68) Vgl. Brenner: Le développement (1937), S. 2 1 - 2 2 , 3 3 - 3 4 . Moissy: Œuvres (1773) Bd. 1, S. 9 3 - 1 1 0 . Nach Göbels: Das „Leipziger Wochenblatt für Kinder" (1973), S. 81.

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Kinder" als „Das Tressenkleid" 41 und „La Version" 4 2 als „Die Uebersetzung" 4 3 . Schon in diesen deutschen Ubersetzungen ist allerdings das eigentliche Prinzip des Sprichwort-Ratens aufgegeben; sogar das Sprichwort am Schluß der kleinen Dramen fehlt. Auch Weiße kannte die Proverbes von Moissy; in einem Brief an Ramler vom 3. 1. 1774 — also vor der Arbeit am „Kinderfreund" — berichtete er von „verschiedenen kleinen Dramen, die ich aus den jeux de petite Thalie auf deutschen Boden verpflanzt und in Deutsche Sitten gekleidet" 44 . Offenbar sind diese Dramen, die er Basedow versprochen hatte 45 , nie veröffentlicht worden. Denn im „Kinderfreund" finden sich zwar wenige motivische Spuren, aber kein Stück, von dem man sagen könnte, daß Moissy das Vorbild geliefert habe. Enger thematisch verwandt ist nur Moissys „Les Gourmandes" 4 6 mit Weißes „Die Schadenfreude" 47 , wo es um Näschereien in einem Schrank geht, in den bei Moissy eine Katze, bei Weiße das naschhafte Mädchen eingeschlossen wird. Das sind aber auch die einzigen Parallelen. Doch gibt es noch eine weitere Quelle für Weißes Kinderschauspiele: In der damals berühmtesten französischen Zeitschrift, dem „Mercure de France", den Weiße zweifellos kannte 48 , erschienen seit April 1770 eine Reihe von Proverbes dramatiques von C . G . T . Garnier, in denen zum Teil auch Kinder eine Rolle spielten; die Auflösung wurde erst in der nächsten Nummer gegeben. Zwar übernimmt Weiße diese Eigenheit der französischen Proverbes nirgends, dafür tragen dann aber einige seiner Stücke Sprichwörter im Titel oder im Untertitel: „Wer dem andern eine Grube gräbt, fällt oft selbst hinein" 4 9 , „Gute Kinder machen bisweilen auch gute Aeltern" 5 0 , „Versprechen muß man halten. Oder: Ein guter Mensch macht andre gute Menschen" 51 , „Gute Kinder der Aeltern größter Reichthum" 5 2 , 41

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Adelung (Hrsg.): Leipziger Wochenblatt 5. Bdch. (1783, EA 1773), 125. St., S. 153-166. Moissy: Œuvres (1773) Bd. 1, S. 123-132. Adelung (Hrsg.): Leipziger Wochenblatt 6. Bdch (1783, EA 1773), 134.-135. St., S. 45-51. Brief N r . 57 - Briefe von Weiße an Ramler II, S. 200. Vgl. oben S. 160. Moissy: Œuvres (1773) Bd. 1, S. 2 5 - 4 0 . Weiße: Kinderfreund Th. 5 (1776), 7 1 . - 7 3 . St., S. 137-171. Vgl. ebenda Th. 4 (1776), 52.-53. St., S. 2: Herr Spirit bringt den Kindern ein Schauspielchen mit („Die Milchschwestern" ebenda S. 3—31), „das er aus einem französischen Journal genommen, und nach seiner Weise eingekleidet hatte." Der Verfasser bereitet eine kleine Studie über den Einfluß der Proverbes des „Mercure de France" auf Weiße vor. — N u r an der Bibliothèque Nationale vorhanden ist: ^Charles Georges Thomas Garnier: Nouveaux proverbes dramatiques ou Recueil de comédies de société pour servir de suite aux théâtres de société et d'éducation. — Paris: Cailleau 1784. Weiße: Kinderfreund Th. 9 (1777), 125.-130. St., S. 121-197. Ebenda Th. 12 (1778), 152.-156. St., S. 8 1 - 1 5 4 , Titel: „Ein kleiner Familienzwist". Ebenda T h . 14 (1779), 185.-190. St., S. 3 7 - 9 8 . Ebenda T h . 18 (1780), 241.-242. St., S. 105-200.

6. Die Genres

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„ E i n gutes H e r z macht manchen Fehler g u t " 5 3 , „ G u t e Freunde in der N o t h das größte G l ü c k " 5 4 , „ B ö s e Gesellschaften verderben gute S i t t e n " 5 5 . N u r bei wenigen D r a m e n im „ K i n d e r f r e u n d " steht das Sprichwort lediglich am Schluß wie im „ W e i h n a c h t s g e s c h e n k " : „ [ . . .] und laß dich das Vorgegangene lehren, wie leicht böse Gesellschaften gute Sitten v e r d e r b e n . " 5 6 D e r S p r i c h w o r t - T i t e l dagegen taucht in den meisten Fällen wiederum als Schlußsatz auf; so resümiert im zuerst genannten Stück der Fehlbare: „ D a s Beyspiel soll mich lehren, daß,

gräbt, am Ende selbst

wer andern

eine

Grube

hineinfällt."

I m „ K i n d e r f r e u n d " selbst spielt W e i ß e nirgends auf die Tradition der Sprichwort-Spiele an oder nennt sie bei ihrem N a m e n ; erst 1789 im „ B r i e f w e c h s e l der Familie des K i n d e r f r e u n d e s " ist davon die R e d e , daß eine Gesellschaft junger M ä d chen „ S p r ü c h w ö r t e r s p i e l e n " will, und dort wird auch ein D r a m a als

kleines

Possenspiel über ein S p r ü c h w o r t ' b e z e i c h n e t 5 7 . N u r einer der deutschen Kinderbuchautoren übernimmt die französische M o d e direkt; im dritten B a n d von J o h a n n G o t t l i e b Schummeis „Kinderspielen und G e s p r ä c h e n " gibt es auch „ D a s Sprichw ö r t e r s p i e l " . W i e die entsprechenden zehn Sprichwörter dargestellt werden, umreißt der Vorredner der Kinder, die vor Eltern und Anverwandten spielen: [. . .] Sprichwörter, aller Welt bekannt, Sind unsers Spieles Gegenstand; Bald blos durch Minen exprimirt, Und bald dramatisch ausgeführt, So sonnenklar, daß jedermann Des Sprichworts Sinn errathen kann. [· • ·] 5β Weißes Kinderschauspielen fehlt der direkte Bezug zu einem ratenden Publikum wie hier bei Schummel oder bei den ursprünglichen Proverbes dramatiques; sie sind .literarischer'. D e n n o c h schließen sich viele der Weißeschen Spiele direkt an den T y p der französischen Vorbilder a n 5 9 . Es sind meist einaktige moralische 53 54 55 56 57 58

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Charakter-

Ebenda Th. 19 (1780), 2 5 4 . - 2 6 0 . St., S. 1 0 9 - 1 8 9 . Ebenda Th. 21 (1781), 2 8 2 . - 2 8 7 . St., S. 1 2 9 - 2 1 2 , Titel: „Die Feuersbrunst". Ebenda Th. 23 (1781), 3 0 2 . - 3 0 8 . St., S. 2 7 - 1 3 2 , Titel: „Die jungen Spieler". Ebenda Th. 2 (1776), 3 0 . - 3 1 . St., S. 93. Weiße: Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes T h . 9 (1789), S. 141. Schummel: Kinderspiele und Gespräche Bd. 3 (1778), S. 3 6 7 - 4 5 2 , Zitat S. 369. - Bei Campe taucht 1788 der Begriff „dramatische Sprichwörter" auf, der sich vielleicht auf Schummeis Spiele bezieht — siehe unten S. 227. — Noch Jean Paul verstand unter „Sprichwörterspielen" improvisierte Schöpfungen von Kindern; er nannte sie „nur fortgesetzte und höhere Nachspiele der Marionetten- und Puppenspiele" und setzte sie in Gegensatz zu schriftlich fixierten „Kinderkomödien". Freilich hatte sich das Kinderbild inzwischen völlig gewandelt: „zugleich Dichter und Spieler" ist das Kind für Jean Paul in solch extemporierten Spielen, eine Vorstellung, die Weiße fremd war — Jean Paul: Levana oder Erziehlehre (1806/1813). - Werke Bd. 5, S. 7 9 5 - 7 9 6 . Vor allem jene in Th. 1, 2, 4, 9, 14, 16, 18 und 23 des „Kinderfreundes".

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Dramen für Kinder. Moralisch: Das Drama will bessern, und so steht ein moralischer Satz oder ein Sprichwort im Mittelpunkt; Charakter: Hauptperson ist ein lasterhafter oder fehlbarer Charakter, wobei Charakter hier wie im Komödienverständnis des 18. Jahrhunderts einen Typus meint, der relativ starr ein Laster verkörpert 60 , das den Normen der Gesellschaft zuwider ist; Drama: Alle Kinderschauspiele Weißes sind Dramen in jenem undogmatischen Verständnis, das keine historischen Sonderfälle verabsolutiert, nämlich als Bezeichnung für „alle sprachlichen Werke, die auf Versinnlichung im Theater bzw. auf der Bühne angelegt sind." 6 1 Und wir müssen ergänzen: Bühne kann auch unter gewissen Umständen ein privater adliger Salon oder ein Bürgerhaus sein; denn von dem Augenblick an, wo durch Veröffentlichung solche kleinen und kleinsten Dramen prinzipiell überall spielbar sind — und tatsächlich gespielt wurden 62 —, verlassen sie die private Sphäre. Weiße selbst nennt die meisten seiner vierundzwanzig Dramen im „Kinderfreund" „Lustspiele" (13), sehr viele „Schauspiele" (10) und nur eines — ohne erkennbaren Grund — „Kinderspiel". Dabei neigen die Schauspiele zum rührenden Familiendrama („Die Friedensfeyer" und „Gute Kinder der Aeltern größter Reichthum") 63 , die Lustspiele sind weit vielfältiger, sie reichen von Einaktern, in denen — oft ohne jede Komik — ein lasterhafter und deshalb verlachenswerter Charakter im Mittelpunkt steht, über wirklich satirische Komödien („Die Schlittenfahrt" 64 , „Das junge Modefrauenzimmer" 65 ) bis zu Singspielen für Kinder („Die Schadenfreude" 66 und „Die kleine Ährenleserin" 6 7 ), von denen das letztere den ,großen' Weißeschen Singspielen in nichts nachsteht. Schon diese Obersicht zeigt, wie unsinnig es ist, Weißes Kinderdramen in eine Tradition des Schultheaters zu stellen 68 ; sie sind in allem der Aufklärungspoetik und -dichtung verpflichtet. Es sollen im folgenden nur die Wirkungsabsicht Weißes, die damit verbundenen Probleme für Kinderschauspiele und die zeitgenössischen Kontroversen hervorgehoben werden, bevor abschließend zwei Stücke in den Blick rücken, die unmittelbar den utopischen Grundzug des „Kinderfreundes" ausdrücken.

Vgl. dazu auch Steinmetz: Die Komödie der Aufklärung (1978), S. 3 9 - 4 1 . Hinck: Das moderne Drama in Deutschland (1973), S. 11.