Das Partizipialattribut im Deutschen zwischen System und Norm: Zur Systemkonformität von PII+habend 9783110449129, 9783110445107

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German Pages 258 [260] Year 2016

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Einbettung der Fragestellung in den theoretischen Kontext: Coserius Theorie von System, Norm und Rede
3. Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs
4. Theoretische Grundlagen zur Untersuchung der ‚Systemkonformität‘ von PII+habend
5. Zur Funktionalität von PII+habend
6. Verfahren der Herausbildung von PII+habend
7. Zusammenfassung
8. Schlussbemerkungen
Literaturverzeichnis
Anhang 1
Anhang 2
Sachregister
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Das Partizipialattribut im Deutschen zwischen System und Norm: Zur Systemkonformität von PII+habend
 9783110449129, 9783110445107

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Thi Thu Hien Dang Das Partizipialattribut im Deutschen zwischen System und Norm



Reihe Germanistische Linguistik

Herausgegeben von Mechthild Habermann und Heiko Hausendorf
 Wissenschaftlicher Beirat Karin Donhauser (Berlin), Stephan Elspaß (Salzburg), Helmuth Feilke (Gießen), Jürg Fleischer (Marburg), Stephan Habscheid (Siegen), Rüdiger Harnisch (Passau)

304



Thi Thu Hien Dang

Das Partizipialattribut im Deutschen zwischen System und Norm Zur Systemkonformität von PII+habend



Reihe Germanistische Linguistik Begründet und fortgeführt von Helmut Henne, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand
 Dissertation im Fachbereich 05 Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen

ISBN 978-3-11-044510-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-044912-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-044715-6 ISSN 0344-6778

 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.
 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston
 Satz: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com



Vorwort Die vorliegende Arbeit stellt die leicht überarbeitete Fassung meiner Disserta­ tionsschrift dar, die ich im Juli 2013 im Fachbereich für Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen verteidigt habe. Ich möchte an dieser Stelle allen Menschen, die dazu beigetragen haben, dass dieses Buch entstanden ist, meinen Dank aussprechen. Mein herzlichster Dank gilt meiner Betreuerin und Erstgutachterin Prof. Dr. Mathilde Hennig. Sie hat mein Interesse an der Thema­ tik geweckt, mir geduldig mit Tat und Rat sowohl fachlich als auch menschlich in allen Promotionsphasen zur Seite gestanden und mich auf vielfältige Weise unterstützt. Meinem Zweitgutachter, Prof. Dr. Vilmos Ágel, danke ich ebenfalls ganz herzlich für die schnelle Begutachtung der Arbeit und für wertvolle Hin­ weise zur Überarbeitung sowie zum Weiterdenken. Mein Dank gilt auch all den Kollegiatinnen und Kollegiaten im Grammatikkolloquium und Linguistikkollo­ quium der Universität Giessen in den Jahren 2010 bis 2013, die mich mit ihren hilfreichen Anregungen weitergebracht haben. Den anonymen Gutachtern des Verlages De Gruyter bin ich auch sehr dankbar für ihre zügige Begutachtung und ihre Verbesserungsvorschläge. Mein aufrichtiger Dank geht auch an den DAAD für sein sehr familienfreund­ liches Promotionsstipendium und seine vielseitige Betreuung während meiner Promotion in Deutschland. Der Universität Gießen danke ich ebenfalls für die auch familienfreundliche Förderung in meiner letzten Promotionsphase. Den Herausgebern der Reihe Germanistische Linguistik danke ich für die Aufnahme meines Buches, den Mitarbeitern des Verlages für ihre freundliche Unterstützung. Ein herzliches Dankeschön gilt zudem Dr. Dániel Czicza, Dr. Annette Herken­ rath, Robert Niemann, Stephanie Lotzow und Patrick Engelmann für das gewis­ senhafte, umfangreiche Korrekturlesen. Dank gebührt zudem meinen Kolleginnen und Kollegen der Abteilung für Deutsche Sprache der Universität Hanoi, die jahrelang meine Arbeit übernom­ men haben, damit ich mich in Deutschland ganz meiner Forschung widmen konnte. Nicht zuletzt möchte ich meiner Familie  – meinen Eltern, meinem Mann Quang und meinem Sohn Vinh – für ihr Da-Sein und ihren Rückhalt danken. Hanoi, Januar 2016 Hien Dang Thi Thu



Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis   XI Tabellenverzeichnis   XIII Abkürzungsverzeichnis   XV  1 1 Einleitung  1.1 Forschungsgegenstand   1 1.2 Problemstellung und Zielsetzung   2 1.3 Methodisches Vorgehen, Aufbau und Datengrundlage der Arbeit   3 2

Einbettung der Fragestellung in den ­theoretischen Kontext: Coserius Theorie von System, Norm und Rede   7 2.1 Allgemeines   7 2.2 Das Verhältnis zwischen System, Norm und Rede   8 2.3 Relevanz der Theorie für die eigene Arbeit. Übertragung der Theorie auf die Zielsetzungen   11 3

Ermittlung der normabweichenden ­Verwendungen des Partizipialattributs   13 3.1 Kriterien der ‚Normkonformität‘ grammatischer Formen: Zum methodischen Vorgehen   13 3.2 Das Partizipialattribut in Grammatiken und in der Forschungsliteratur   19 3.3 Frequenz   27 3.4 Befragung zur Akzeptabilitätsbeurteilung   31 3.4.1 Konstruktion der Befragung   31 3.4.2 Durchführung   34 3.4.3 Ergebnis   34 3.5 Fazit   39 4

Theoretische Grundlagen zur Untersuchung der ‚Systemkonformität‘ von PII+habend   41 4.1 Sprachsystem nach Coseriu   41 4.2 Funktionalität grammatischer Strukturen   43 4.2.1 Vorüberlegungen   43 4.2.2 Eigenschaften grammatischer Kategorien   44 4.2.3 Zusammenhang zwischen Eigenschaften grammatischer Kategorien und ‚Funktionalität‘   49 

VIII  4.2.4 4.3

 Inhaltsverzeichnis

Fazit: Zu Kriterien der ‚Funktionalität‘   51 Verfahren zur Herausbildung grammatischer Strukturen 

 52

 55 5 Zur Funktionalität von PII+habend  5.1 Methodisches Vorgehen   55 5.2 Ermittlung der Bedeutung von PII+habend   57 5.2.1 Das Korpus   58 5.2.2 Hypothese zur Bedeutung von PII+habend   59 5.2.3 Entwicklung des Verfahrens zur Bedeutungsermittlung   62 5.2.3.1 Terminologische und theoretische Grundlagen   63 5.2.3.1.1 Das Instrumentarium zur Beschreibung der Temporalität von PII+habend   63 5.2.3.1.2 Absoluter und relativer Gebrauch: Zu theoretisch möglichen Bedeutungsvarianten von PII+habend   66 5.2.3.1.3 Methodische Zwischenüberlegungen   70 5.2.3.1.4 Ausdrucksmöglichkeiten der Temporalität   71 5.2.3.1.5 Ereignisbeziehungstypen   74 5.2.3.1.6 Temporaladverbiale   80 5.2.3.2 Das Analyseverfahren   85 5.2.3.3 Analysebeispiele   91 5.2.4 Methodische Anmerkungen   97 5.2.4.1 Mehrfachzuordnung der Ereignisbeziehungstypen E-F, E-V und E-A   97 5.2.4.2 Ermittlung des absoluten Zeitbezugs von E2   99 5.2.4.3 Andere Bedeutungsvarianten von PII+habend   103 5.2.5 Ergebnis   105 5.3 Austauschbarkeit zwischen PII+habend und PI   117 5.3.1 Methodisches Vorgehen   117 5.3.2 Warum PI?   119 5.3.3 Das PI-Korpus   125 5.3.4 Ist Vorzeitigkeit die einheitliche Bedeutung von PI?   125 5.3.5 Ist Gleichzeitigkeit die einheitliche Bedeutung von PI?   132 5.3.6 Zusammenfassung   139 5.4 Zwischenfazit: Zur Funktionalität von PII+habend gegenüber PI   140 5.5 Befragung   143 5.5.1 Ziel und Hypothesen   143 5.5.2 Zu Aufgabe 1   145 5.5.2.1 Konstruktion   145 5.5.2.2 Auswertung der Antworten   147 

Inhaltsverzeichnis 

 IX

5.5.2.3

Unterschiede in der Verteilung der Antwortoptionen zwischen den PII+habend-Testsätzen: Erklärungsversuche   149 5.5.2.4 Auswertung der Bemerkungen   159 5.5.3 Zu Aufgabe 2   161 5.5.3.1 Konstruktion   161 5.5.3.2 Auswertung   163 5.5.4 Zusammenfassung   165 5.6 Fazit   166

 167 6 Verfahren der Herausbildung von PII+habend  6.1 Grammatikalisierungstheorie   167 6.2 PII+habend als Ergebnis eines Grammatikalisierungsprozesses?   170 6.3 PII+habend als Ergebnis der Analogiebildung   177 6.3.1 Analogietheorie: Pauls Proportionalanalogie   177 6.3.2 Proportionalanalogische Bildung von PII+habend   180 6.3.3 Fazit   190 7 Zusammenfassung  8 Schlussbemerkungen  Literaturverzeichnis  Anhang 1   213 Anhang 2   218 Sachregister   239

 192  201

 207



Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5

System-Norm-Rede nach Eroms (2000:18)   10 Das Verhältnis von System-Norm-Rede   11 Beziehung zwischen Akzeptanz, Frequenz und Sprachnorm   17 Verteilung der Akzeptabilitätsstufen   36 Skalierung des Akzeptabilitätsgrads der Kandidaten für Normabweichungen des PA   37 Abb. 6 Feld der Temporalität, strukturiert nach explizitem vs. implizitem Zeitbezug (Hennig 2007: 134)   73 Abb. 7 Verhältnis zwischen Vorzeitigkeit und Ereignisbeziehungstypen   79 Abb. 8 Analyseverfahren – Schritt 1   90 Abb. 9 Vorgehen bei der Untersuchung der Austauschbarkeit zwischen PII+habend und PI   119 Abb. 10 Häufigkeit der PII+habend-Antwortoption bei den Testsätzen im Vergleich   148 Abb. 11 Skala der Akzeptabilität von PII+habend bei den PII+habend-Testsätzen   151 Abb. 12 Das Verhältnis zwischen der Abgeschlossenheit des PA-Ereignisses und dem Gebrauch von PI vs. PII+habend   155 Abb. 13 Das Verhältnis zwischen der Dauerhaftigkeit des PA-Ereignisses und dem Gebrauch von PI vs. PII+habend   157 Abb. 14 Deutung von PI und PII+habend durch Befragte   164 Abb. 15 Das Kategoriensystem des Substantivs (Eisenberg 2006: 18)   183 Abb. 16 Schema des PII+habend-Kategoriensystems   183 Abb. 17 Das PII+habend-Kategoriensystem   185 Abb. 18 Durchkreuzung der Einheitenkategorien des PII+habendKategoriensystems   185 Abb. 19 Verortung von PII+habend im Kontinuum System-NormRede   198



Tabellenverzeichnis Tab. 1 Tab. 2 Tab. 3 Tab. 4 Tab. 5 Tab. 6 Tab. 7 Tab. 8 Tab. 9 Tab. 10 Tab. 11 Tab. 12 Tab. 13 Tab. 14 Tab. 15 Tab. 16 Tab. 17 Tab. 18 Tab. 19 Tab. 20 Tab. 21 Tab. 22 Tab. 23

Das komplexe PA in Grammatiken und in der Forschungsliteratur   23 Absolute Häufigkeit von ‚Kandidaten‘ der Abweichungstypen des PA in COSMAS II   28 Frequenz des einfachen PI einiger Verben in Funktion als pränominales Attribut   31 Verteilung der fünf Akzeptabilitätsstufen   35 Verteilung der PII+habend-Belege auf Zeitungen und Länder   58 Theoretisch mögliche Bedeutungsvarianten von PII+habend   70 Ereignisbeziehungstypen im Kontext von PII+habend   79 Klassifikation von Vorzeitigkeitsadverbialen hinsichtlich des deiktischen und anaphorischen Gebrauchs   83 Verteilung von PII+habend auf den relativen und absoluten Gebrauch   105 Verteilung der Ereignisbeziehungstypen bei relativem Gebrauch   106 Vorzeitigkeitsindikatoren/-implikaturen bei der Ereignisbeziehung ZS   112 Vorzeitigkeitsindikatoren/-implikaturen beim absoluten Gebrauch   115 Verteilung der Bedeutungsvarianten von PII+habend   115 Bildbarkeit von PI, PII und PII+habend im Vergleich   120 Attributfähigkeit von PI, PII und PII+habend bei transitiven und intransitiven Verben   121 Theoretisch mögliche Bedeutungsvarianten von PI beim Ausdruck der Vorzeitigkeit   126 Häufigkeit der PI-Belege mit oder ohne VorzeitigkeitNachweis   127 Theoretisch mögliche Bedeutungsvarianten des PI beim Ausdruck der Gleichzeitigkeit   135 Verteilung der PI-Belege mit und ohne GleichzeitigkeitDeutung   137 Kontextkonstellation in Testsätzen – Aufgabe 1   145 Verteilung der Antwortvarianten bei Aufgabe 1   147 Akzeptanzwert für PII+habend bei PII+habend-Testsätzen   151 Kontextbedingungen von Gruppe 1 und Gruppe 2 im Vergleich   152



XIV  Tab. 24 Tab. 25 Tab. 26 Tab. 27



 Tabellenverzeichnis

Kontextbedingungen der fünf PII+habend-Testsätze im Vergleich   158 Anmerkungen der Befragten zum Gebrauch von PII+habend  Verteilung der Antwortoptionen bei Aufgabe 2   163 Grammatische Realisierungsformen im PII+habendKategoriensystem   186

 161

Abkürzungsverzeichnis E1 PII+habend- Ereignis E2 Referenzzeit-Ereignis E-A Ereignis-Abschluss E-F Ereignis-Folge E-V Ereignis-Voraussetzung EK Einheitenkategorie PA Partizipialattribut Partizip I PI Partizip II PII R Referenzzeit S Sprechzeit Zeitliche Staffelung ZS



1 Einleitung 1.1 Forschungsgegenstand Allgemein wird in gängigen Grammatiken des Deutschen von drei Formen des Partizipialattributs (PA) ausgegangen: dem Partizip I (PI), dem Partizip II (PII) und dem Gerundiv (auch Modalpartizip genannt): P I: (1) Das auf dem Tisch liegende Buch. P II: (2) Das aus der Bibliothek geliehene Buch. Gerundiv: (3) Das zu lesende Buch. Verwendungen des PA wie in (1) bis (3) wären für Sprecher des Deutschen „normal“; niemand würde über sie stolpern. Ihre Korrektheit wird in Grammati­ ken auch nicht in Frage gestellt. Wenn man jedoch den tatsächlichen Gebrauch des PA genau betrachtet, kann man eine Reihe von Verwendungen feststellen,1 die keiner der oben genannten traditionellen PA-Formen angehören. Die folgenden Belege sind in deutsch­ sprachigen Zeitungen der Gegenwartssprache vorzufinden; sie sollen den ‚nicht ­traditionellen‘ Gebrauch des PA illustrieren: (4) [D]er neue Ortsvorsteher Klaus Schneider (CDU) dankte dem 15 Jahre lang gewirkt habenden SDP-Ortsvorsteher Klaus Mechnich für dessen intensives Engagement. (Mannheimer Morgen, 1999) (5) So erarbeiteten sich die kurzfristig auf Kapitän Ralf Weber (Leiste) verzichten müssenden Frankfurter zwar optische Feldvorteile […]. (Frankfurter Rundschau, 1999) (6) Japan – Ursprungsland eines in aller Welt photographierenden und photographiert werden wollenden Volkes – hat natürlich auch eine Tradition in der Photo-Kunst. (Die Presse, 1997) Anders als in den Beispielen von (1) bis (3), in denen dem attributiv gebrauch­ ten Partizip ein einfaches Verb zugrunde liegt, tritt in den Belegen von (4) bis (6) jeweils ein Verbalkomplex in Funktion eines PA, und zwar eines attributiven Partizip I auf. Attributive Verbalkomplexe werden extrem selten gebraucht; sie wirken auf kompetente Sprecher des Deutschen offensichtlich ‚fremd‘ und ‚unge­ wöhnlich‘; außerdem finden sie in den meisten Grammatiken des Deutschen

1 Auf solche Verwendungen bin ich erstmals durch die Arbeiten von Pakkanen-Kilpiä (2004, 2006) aufmerksam geworden.



2 

 1 Einleitung

bisher keine Berücksichtigung.2 Solche Verwendungen des PA werden im Folgen­ den ,Abweichungen‘ des PA genannt. Sie stellen den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit dar.

1.2 Problemstellung und Zielsetzung Dass der attributive Gebrauch der Verbalkomplexe in die meisten Grammatiken des Deutschen bisher noch keinen Eingang gefunden hat, kann als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass die Existenz der komplexen PA von Grammati­ kern bisher kaum wahrgenommen worden ist. Es liegt auch noch keine Arbeit vor, die sich diesem besonderen grammatischen Phänomen widmet. In sehr wenigen Forschungsarbeiten (Weber 1971, Ehrhard 1994, Valentin 1994, Demske-Neu­ mann 1994, Lübbe/Rapp 2011, Litvinov/Radčenko 1998, Welke 2002; PakkanenKilpiä 2004, 2006) wird die eine oder andere Form des komplexen PA nur kurz am Rande erwähnt, wobei ihr Status im System des PA im Deutschen umstritten ist.3 Eine eingehende Untersuchung dieser grammatischen Randerscheinung ist somit als ein klares Forschungsdesiderat anzusehen. Das Fehlen von Forschungsarbeiten in einem bestimmten Bereich kann m. E. nur dann als ,Forschungslücke‘ betrachtet werden, wenn die Beschäftigung mit diesem Bereich neue Erkenntnisse bzw. sinnvolle Ergebnisse erwarten lässt. Warum ist die Erforschung von grammatischen Randerscheinungen sinnvoll? Inwiefern ist man berechtigt, von einer ,Lücke‘ in der Erforschung der Abwei­ chungen im Gebrauch des PA zu sprechen? Die Antwort auf diese Fragen kann aus der Grundannahme der Coseriuʼschen „Theorie des Sprechens“ (Coseriu 1988/2007) hergeleitet werden. Die wesentliche Aussage der Theorie ist, dass die ‚Sprache‘, also das Sprachsystem, nur durch das ‚Sprechen‘, also durch konkrete, beobachtbare Sprachverwendungen erschlossen werden kann: „Das Sprechen ist nicht von der Sprache her zu erklären, sondern umgekehrt die Sprache nur vom Sprechen.“ (ebd.: 58) Im Zusammenhang damit stellt Ágel (2008: 66) fest, dass das Sprachsystem keine „Realität“ darstellt, sondern es die Aufgabe des Gram­ matikers ist, das grammatische System zu rekonstruieren. Wenn die Rekonst­ ruktion des Grammatiksystems zur Aufgabe des Grammatikforschers gehört und wenn das grammatische System im tatsächlichen Sprachgebrauch ‚liegt‘, ist es m. E. zu einer vollständigen Erfassung des grammatischen Systems erforderlich, jede beobachtbare grammatische Erscheinung ernst zu nehmen. Dies gilt auch,

2 Vgl. hierzu Kapitel 3.2. 3 Für eine ausführliche Darstellung siehe Kapitel 3.2.





1.3 Methodisches Vorgehen, Aufbau und Datengrundlage der Arbeit 

 3

oder genauer gesagt, insbesondere für Phänomene, die nicht zum traditionellen Gebrauch gehören und von Sprachbenutzern der Sprachgemeinschaft möglicher­ weise als ‚abweichend‘ empfunden werden. Denn diejenigen Strukturen, die tra­ ditionell, hochfrequent und für Sprecher ‚normal‘ sind, sind i. d. R. bereits gut erforscht, allgemein anerkannt und in Grammatiken gut dokumentiert. Um zu verdeutlichen, dass selten verwendete, ‚unübliche‘ grammatische Erscheinungen Aufschluss über das betreffende System geben können, um somit den Stellenwert der Beschäftigung mit sprachlichen Randphänomen hervor­ zuheben, sei an dieser Stelle noch auf Ágels Annahme von der ‚prototypischen Organisation‘ des Systems hinzuweisen. Ágel (2008: 66) geht davon aus, dass „viele Teilsysteme einer funktionellen Sprache prototypisch organisiert sind, also ein Zentrum und eine Peripherie haben“. Die traditionellen, gut erforsch­ ten Strukturen gehören offensichtlich dem Zentrum des jeweiligen (Teil)systems an. Im peripheren Bereich sind möglicherweise niederfrequente, abweichende Strukturen angesiedelt. Ein Teil des grammatischen Systems ist also nach dieser Vorstellung gerade durch Randphänomene zu erschließen. Für eine vollständige Beschreibung und adäquate Rekonstruktion des jeweiligen relevanten Systems ist es daher lohnenswert bzw. notwendig, marginale Erscheinungen ausreichend zu berücksichtigen. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen soll die vorliegende Arbeit durch eine Untersuchung zu Abweichungen im Gebrauch des PA einen Beitrag zu einer umfassenden Erschließung des Systems des PA im Deutschen leisten, indem sie der Frage nachgeht, ob den Abweichungen eine Position im System des PA im Deutschen zugewiesen werden kann. Die Bearbeitung dieser Frage setzt zunächst die Ermittlung der Abweichungstypen voraus (Ziel 1). Die ermittelten Abweichungstypen sollen im Weiteren unter dem Aspekt der Sys­ temzugehörigkeit untersucht werden. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird dieser Aspekt für einen Abweichungstyp, das PII+habend, eingehend behandelt (Ziel 2). Insgesamt verfolgt die Arbeit somit zwei Ziele, wobei der Schwerpunkt auf Ziel 2 liegt: Ziel 1: Ermittlung der Abweichungen im Gebrauch des PA Ziel 2: Untersuchung des PII+habend-PA im Hinblick auf seine Systemzugehö­ rigkeit

1.3 Methodisches Vorgehen, Aufbau und Datengrundlage der Arbeit Den theoretischen Ausgang für methodische Überlegungen zur Erarbeitung der Fragen, die mit den genannten Zielen verbunden sind, bietet Coserius Theorie 

4 

 1 Einleitung

von System-Norm-Rede (1970/1971, 1974, 1988/2007). Die Darstellung der wesent­ lichen Annahmen der Theorie sowie der für die vorliegende Arbeit relevanten Aspekte erfolgt in Kapitel 2. In diesem Kapitel geht es grundsätzlich darum, die in der Arbeit zu behandelnde Thematik in einen theoretischen Rahmen einzu­ betten, um daraus konkrete Forschungsfragen bzw. Zielsetzungen abzuleiten. Das Kapitel endet also mit einer Konkretisierung der Forschungsfragen auf der Grundlage der Coseriuʼschen Theorie. Die zwei oben beschriebenen Ziele werden, wie noch zu zeigen sein wird, mit den der Theorie zugrunde liegenden Termini als folgende Ziele umformuliert: Ziel 1: Ermittlung der ‚Normkonformität‘ der Abweichungen im Gebrauch des PA Ziel 2: Ermittlung der ‚Systemkonformität‘ von PII+habend Mit Ziel 1 befasst sich Kapitel 3. Die Festlegung der einschlägigen Parameter zur Erfassung der Normkonformität grammatischer Strukturen erfolgt dabei auf der Basis des Coseriu’schen Normbegriffs (u. a. 1988/2007) und Hundts Überlegungen zur Abgrenzung des Normbereichs grammatischer Strukturen (2008). Überlegun­ gen zur Anwendung der festgelegten Parameter zur Ermittlung von Normabwei­ chungen des PA führen zu vier Arbeitsschritten, die nacheinander durchgeführt werden. Die Darstellung der Beschreibungen des komplexen PA in Grammatiken und in der Forschung, die Erhebung der Frequenz von ‚Kandidaten‘ für normab­ weichende PA sowie die Ermittlung der Akzeptanz dieser ‚Kandidaten‘ anhand einer Informantenbefragung sind dabei die zentralen Themen. Das Kapitel endet mit einer Zusammenführung der Teilergebnisse und einer methodischen Refle­ xion hinsichtlich der Erfassung der Normkonformität sprachlicher Strukturen auf der Grundlage der gewonnenen Daten. Dem Hauptziel der Arbeit widmen sich die Kapitel 4 bis 6. Es handelt sich hierbei um die Untersuchung von PII+habend unter dem Aspekt der System­ konformität. Hierzu ist ein theoretisches Konzept erforderlich, das Kriterien zur Erfassung der Systemkonformität grammatischer Formen beinhaltet. Die Erarbei­ tung dieses Konzeptes stellt das Ziel von Kapitel 4 dar. Wie noch gezeigt wird, werden dabei zwei Kriterien herausgearbeitet: Die ‚Funktionalität‘ und das sog. ‚Verfahren des Sprachschaffens‘. Die Überprüfung des jeweiligen Kriteriums bei dem hier interessierenden Abweichungstyp des PA, PII+habend, wird anschlie­ ßend in Kapitel 5 und Kapitel 6 vorgenommen. In Kapitel 5 wird PII+habend im Hinblick auf ‚Funktionalität‘ untersucht. Das Kapitel beginnt mit Überlegungen zum methodischen Vorgehen bei der Erfassung der Funktionalität dieses PA. Die Überlegungen basieren auf den in Kapitel 4 aus­ gearbeiteten Kriterien der Funktionalität grammatischer Strukturen. Es ergeben sich daraus zwei Arbeitsschritte, die anschließend jeweils in einem Unterkapitel durchgeführt werden sollen. Im ersten Schritt geht es um eine korpusgestützte 



1.3 Methodisches Vorgehen, Aufbau und Datengrundlage der Arbeit 

 5

Ermittlung der Bedeutung von PII+habend. Der Bedeutungsermittlung liegt ein Korpus mit 178 PII+habend-Belegen zugrunde, die größtenteils in COSMAS II4 gefunden wurden. Die ermittelte Funktion von PII+habend dient anschließend im zweiten Schritt als Ausgangspunkt für die Überprüfung der These von der funk­ tionellen Opposition zwischen dem PII+habend und dem PI. Der Überprüfung liegt ein Vergleichskorpus mit 50 in COSMAS II erhobenen PI-Belegen zugrunde. Korpusbasierende Ergebnisse zu ‚Funktionalität‘ des PII+habend gegenüber dem PI werden schließlich durch eine Befragung zur Sprecherbeurteilung ergänzt. Kapitel 6 setzt sich mit der Problematik der Herausbildung von PII+habend auseinander. Es wird der Frage nachgegangen, welches ‚Verfahren des Sprach­ schaffens‘ der Entstehung des hier interessierenden PA zugrunde liegen könnte. Zwei ‚Verfahren‘ werden dabei in Erwägung gezogen: die Grammatikalisie­ rung und die Analogie. Zunächst wird die ‚Grammatikalisierungsthese‘ und im Anschluss daran die ‚Analogiethese‘ überprüft. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse erfolgt in Kapitel 7. Einige Schlussbe­ merkungen im Kapitel 8 schließen die Arbeit ab. Wie aus den bisherigen Darstellungen ersichtlich ist, liegen der empirischen Untersuchung der Arbeit zwei Typen von Daten zugrunde: Korpusdaten und Fra­ gebögen. Zu den Korpusdaten gehören PII+habend-Belege und PI-Belege. Die beiden Korpora, das PII+habend-Korpus und das PI-Vergleichskorpus werden, wie oben schon erwähnt, mithilfe von COSMAS II erstellt und dienen zur Unter­ suchung der Funktionalität von PII+habend. Die Befragung gliedert sich in zwei Teile, die jeweils einen Zweck erfüllen. Mit Teil 1 (Aufgabe 1) wird die Akzeptabi­ lität der in COSMAS II vorfindlichen Verwendungen des komplexen PA erhoben. Teil 2, bestehend aus Aufgabe 2 und 3, dient zur Überprüfung der durch die Korpusanalyse postulierten Funktionalität von PII+habend. Die Befragung wird online durchgeführt. Eine ausführliche Beschreibung der beiden Korpora sowie der Befragung wird in der Arbeit an einschlägigen Stellen erfolgen.5

4 Cosmas II (Corpus Search, Management and Analysis System) ist das computergestützte Kor­ pusrecherche- und Korpusanalysesystem des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (IDS). Cosmas II besteht aus insgesamt 89 Korpora, die in neun Archiven organisiert sind und einen Umfang von etwa 3,8 Mrd. Wortformen haben (Stand: Juni 2010). In den Korpora sind deutsch­ sprachige Textmaterialien aus der Gegenwart und der neueren Vergangenheit enthalten. Die Texte gehören unterschiedlichen Textsorten an, ein großer Teil davon sind Zeitungstexte. Die Korpora sind größtenteils online verfügbar (https://cosmas2.ids-mannheim.de/cosmas2-web/). 5 Für eine ausführliche Darstellung des PII+habend-Korpus siehe Kapitel 5.2.1, des PI-Ver­ gleichskorpus Kapitel 5.3.3 und der Befragung Kapitel 3.4 sowie Kapitel 5.5.



6 

 1 Einleitung

Die folgende Übersicht bildet das Vorgehen und den Aufbau der Arbeit ab. Sie gibt auch wieder, welches Datenmaterial der Bearbeitung der jeweiligen Ziele zugrunde gelegt wird. Kapitel 1: Einleitung Kapitel 2

Einbettung der Fragestellungen in den theoretischen Kontext und Übertragung der Theorie auf Zielsetzungen der Arbeit Ziel 1

Ziel 1

Kapitel 3

Ermittlung der normabweichenden Verwendung des PA

Ziel 2: Ermittlung der Systemkonformität von PII+habend

Kapitel 4

Theoretische Grundlage zur Ermittlung der Systemkonformität grammatischer Einheiten Kriterium 1

Überprüfung des Kriteriums 1

Kapitel 6

Überprüfung des Kriteriums 2

Kapitel 8: Schlussbemerkungen

– Fragebogen (Teil 1)

Kriterium 2

Kapitel 5

Kapitel 7: Zusammenfassung



Ziel 2

– PII+habend-Korpus – PI-Vergleichskorpus – Fragebogen (Teil 2)

2 Einbettung der Fragestellung in den ­theoretischen Kontext: Coserius Theorie von System, Norm und Rede 2.1 Allgemeines Den theoretischen Rahmen zur Untersuchung von Abweichungen im Gebrauch des PA in der vorliegenden Arbeit bildet Coserius Sprachtheorie von System, Norm und Rede (1970/1971, 1974, 1988/2007). Die Theorie ist aus Coserius Auseinander­ setzungen mit der von de Saussure maßgeblich geprägten Autonomie und Dicho­ tomie von langue und parole hervorgegangen. In der Tradition werden langue und parole als zwei voneinander unabhängige, gar gegensätzliche Domänen aufge­ fasst. In seinen Arbeiten hat Coseriu gezeigt, dass die langue, die Einzelsprache, in der parole, im Sprechen, enthalten ist und daher nicht als in Gegenüberstel­ lung zu dieser stehend angesehen werden könnte (1970/1971: 55 ff.,1988/2007: 266). Besonders wichtig ist auch, dass er zwischen funktionellem System (langue) und konkreten Realisierungen (parole) eine dritte Ebene für normale Realisie­ rungen, die Ebene der Norm (usage), annimmt (1971:64 f.). Somit ergibt sich eine dreigliedrige Unterscheidung der Sprache in Sprachsystem, Sprachnorm und Rede, wobei System und Norm als zwei verschiedene Abstraktionsstufen der Rede aufgefasst werden:6 Das Individuum realisiert also konkret in seiner Gemeinschaft geläufige Modelle und Struk­ turen, indem es sie in seinem Sprechen wiedererzeugt. Auf einer ersten Stufe der Forma­ lisierung sind diese Strukturen nun einfach konstant, normal und traditionell innerhalb der Gemeinschaft: sie bilden das, was wir Norm nennen. Auf einer höheren Ebene der Abs­ traktion dagegen werden, wenn man alles eliminiert hat, was in der Norm beständiges, aber für das Funktionieren der Sprache als Instrument der Kommunikation unwesentliches „Begleitwerk“ ist, nur jene idealen Strukturen bewahrt, die wesentlich sind und unab­ dingbare funktionelle Oppositionen bilden, also das, was wir System nennen. (Coseriu 1970/1971: 67 f.)

Coseriu geht davon aus, dass das System und die Norm nicht losgelöst von der Rede existieren, sondern in dieser enthalten sind:

6 Vom Standpunkt des Systems sind Rede und Norm dagegen als die verschiedenen Stufen der Verwirklichung des Systems selbst zu betrachten. (Coseriu 1970/1971: 69)



8 

 2 Einbettung der Fragestellung in den ­theoretischen Kontext

Norm und System sind […] weder von uns auf das konkrete Sprechen angewandte Begriffe a priori, noch autonome vom Sprechen losgelöste Realitäten, sondern sich in den individuel­ len Sprechakten selbst manifestierende […] Formen. (Coseriu 1970/1971: 68)

In diesem Zusammenhang stellt Coseriu fest, dass der Weg zum System vom kon­ kreten Sprechen ausgehen muss. Die Sprache kann also nur vom Sprechen her erklärt werden und nicht umgekehrt (Coseriu 1988/2007: 58). Wenn der Weg zum funktionellen System vom konkreten Sprechen ausgeht und wenn das System und die Norm durch Abstraktionsprozesse aus der Rede erschlossen werden, müssen die drei Bestandteile System, Norm und Rede als ineinander verflochtene Ebenen aufgefasst werden (vgl. Hennig 2006: 110). Die Annahme über die Existenz der Normebene sowie die Auffassung des Ineinan­ dergreifens der drei Ebenen gelten als die wesentlichen Grundannahmen in Cose­ rius Theorie, die für den Zweck der vorliegenden Arbeit genutzt werden sollen. Um diese Relevanz aufzuzeigen, soll im Folgenden zunächst das Verhältnis zwi­ schen den drei Ebenen System, Norm und Rede beleuchtet werden.

2.2 Das Verhältnis zwischen System, Norm und Rede Rede und Norm Zur Rede gehören alle konkreten sprachlichen Formen, die man im Sprachge­ brauch beobachten kann. Auf der Ebene der Norm befinden sich nur solche Reali­ sierungen, die für den Sprachbenutzer einer Sprachgemeinschaft „geläufig“ und „normal“ sind. Zu normalen Realisierungen gelangt man, indem man „von der Subjektivität, Originalität und Kreativität des Individuums“ (Coseriu 1988/2007: 267) abstrahiert. Der Normbereich stellt somit nur eine Teilmenge der Rede dar.

Rede und System Die Gestaltungsebene des Systems umfasst die Gesamtheit der realisierbaren sprachlichen Formen; es ist ein „System von Möglichkeiten“ (Coseriu 1988/2007: 267). Der Unterschied zwischen System und Rede kann durch das Begriffspaar Realisierbarkeit-Realisiert beschrieben werden. Hinsichtlich der mengenmäßigen Beziehung zwischen System und Rede kann zweierlei festgestellt werden. Auf der einen Seite ist anzunehmen, dass die konkrete Sprachverwendung nie die gesam­ ten realisierbaren Möglichkeiten erschöpfen kann. Viele Strukturen können nicht bzw. noch nicht eingesetzt werden, weil es zu ihrem Gebrauch keinen bzw. noch keinen passenden Anlass gibt; sie sind strukturell angelegt und existieren nur





2.2 Das Verhältnis zwischen System, Norm und Rede 

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virtuell.7 So gesehen kann System etwas ‚weiter‘ als Rede aufgefasst werden. Auf der anderen Seite, wenn man von einem funktionellen System, einem „System von Verschiedenheiten und signifikativen Oppositionen“ (Coseriu 1970/1971: 58) ausgeht, kann Rede etwas „mehr“ umfassen als System, da nicht alle konkreten Verwirklichungen in Rede funktional relevant sind. Von diesen Überlegungen scheint es angebracht zu sein, einen Überschneidungsbereich zwischen System und Rede anzunehmen, was im Eroms’schen Schema (Abbildung 1) deutlich zum Ausdruck kommt.

System und Norm Wie oben schon beschrieben, wird unter Sprachnorm ein „Gefüge von normalen Realisierungen“ (Coseriu 1988/2007: 267) verstanden. Im Unterschied zur Sprach­ norm, auf deren Ebene nur die schon realisierten Möglichkeiten angesiedelt sind, gehören zur Ebene des Systems sowohl die realisierten als auch die realisierbaren Möglichkeiten. Coseriu (ebd.: 268) stellt somit eine ‚futurische Dimension‘ einer historischen Sprache8 fest, die er folgendermaßen charakterisiert: Sie [eine historische Sprache] umfasst nicht nur die realisierten Normen ihrer funktionellen Sprachen, sondern auch das, was in und mit diesen Sprachen machbar, realisierbar ist, aber (noch) nicht geschaffen wurde. (Coseriu 1988/2007: 268)

Der Normbereich stellt in dieser Hinsicht nur einen einschränkenden Ausschnitt des Systems dar (vgl. Dietrich 2006: 320). Nicht alles, was vom Sprachsystem bereitgestellt wird, muss zugleich in der Sprachgemeinschaft allgemeingültig und verbreitet verwendet sein. Coseriu (1988/2007: 272) führt zahlreiche Beispiele für Verwendungen an, die zwar systemmöglich sind, jedoch nicht als Norm ange­ sehen werden können. Er stellte daraus folgend fest, dass System und Norm nicht zusammenfallen müssen. Das Auseinanderfallen der beiden hier interessierenden Ebenen kann in eine andere Richtung erfolgen. Die Norm kann nämlich auch Elemente enthalten, die „bloß normal, jedoch nicht funktional“ (Ágel 2008: 65) sind; diese können nicht der Ebene des Systems zugeordnet werden. Dies lässt sich durch Beobachtungen am Sprachgebrauch im Alltag belegen. Die Form eines Nachts stellt nach Ágel (ebd.: 67) bspw. eine Systemverletzung dar, weil zu Nomen mit dem Genusmerk­

7 Ein Beispiel hierfür im Bereich PA wird in Fußnote 38 aufgeführt. 8 Eine historische Sprache ist als das Sprachsystem einer Einzelsprache in einer bestimmten Zeit zu verstehen. Das Gegenwartsdeutsche ist bspw. eine historische Sprache.



10 

 2 Einbettung der Fragestellung in den ­theoretischen Kontext

mal feminin im Genitiv Singular kein -s angehängt wird. Sie wird trotzdem im Standarddeutschen verbreitet verwendet und von Sprachbenutzern nicht als abweichend empfunden. Sie gehört somit zur Norm des gegenwärtigen Deut­ schen. Als ein anderes Beispiel für normkonforme, jedoch systemwidrige Ver­ wendungen führt der Autor die Form meines Erachtens nach auf: „Auch die (stark kritisierte) Form meines Erachtens nach hält sich hartnäckig im Sprachgebrauch, obwohl die Präposition nach keinen Genitiv regiert“ (Ágel 2008: 67). Insgesamt muss aufgrund der dargelegten Beobachtungen angenommen werden, dass die Grenze des Normbereichs auch über das hinausgehen kann, was zum System gehört. Hierbei kann man davon ausgehen, dass der Anteil von systemwidrigen und dennoch normgerechten Formen viel geringer ist als der Anteil von Elemen­ ten, bei denen Norm und System zusammenfallen. Dies ist dadurch begründet, dass die Sprachnorm einen wirksamen Mechanismus zur Aufrechterhaltung der Verständigung in Sprachgemeinschaften darstellt; allgemein wird daher von Sprachteilnehmern angestrebt, die Sprachnorm einzuhalten. Die Beziehung zwischen System, Norm und Rede wird von Eroms (2000: 18) mit Bezug auf Coseriu (1974) wie folgt modelliert:

System

Norm

Rede

Abb. 1: System-Norm-Rede nach Eroms (2000:18)

Die Abbildung stellt System und Rede als zwei sich überschneidende Ebenen und die Norm als eine Teilmenge der Rede dar. Dies entspricht den oben beschrie­ benen Überlegungen zum Verhältnis zwischen System und Rede bzw. zwischen Rede und Norm. Was die Beziehung zwischen System und Norm angeht, ist an der Modellierung zu erkennen, dass die Norm von Eroms als vom System einge­ schlossen aufgefasst wird. Wie eben erläutert, ist diese Auffassung jedoch nicht zu halten. Der Normbereich kann nämlich auch Elemente umfassen, die über die Grenze des Systems hinausgehen. Um Missverständnisse zu vermeiden und um das Verhältnis dieser beiden Ebenen zueinander adäquat zu modellieren, wird Abbildung 1 zu Abbildung 2 modifiziert.



2.3 Relevanz der Theorie für die eigene Arbeit 



System

 11

Norm Rede

Abb. 2: Das Verhältnis von System-Norm-Rede

Die Modellierung der Beziehung von System, Norm und Rede mit ihren Grenzli­ nien soll nicht den Eindruck erwecken, dass die einzelnen Ebenen immer klar voneinander abgegrenzt werden könnten. Fließende Übergänge zwischen den Ebenen sind durchaus immer möglich. So kann eine bestimmte sprachliche Form am Rand bzw. zwischen den Ebenen angesiedelt sein. Hundt (2008: 39) spricht in diesem Zusammenhang von einem ‚Kontinuum‘ zwischen Sprachsystem, Sprach­ norm, und Rede.

2.3 Relevanz der Theorie für die eigene Arbeit. Übertragung der Theorie auf die Zielsetzungen Coserius Unterscheidung der drei Strukturierungsebenen der Einzelsprache hat sich als eine wichtige theoretische Grundlage für die Beschreibung sprachlicher Formen in vielen linguistischen Bereichen wie Phonetik, Lexik, Grammatik usw. erwiesen. Die Anerkennung der Verflechtung der Ebenen und der möglichen Übergänge macht die Theorie für die Erforschung von sprachlichen Randerschei­ nungen besonders interessant. Im Bereich der Grammatik wird in der jüngeren Forschung, die sich mit grammatischen Randphänomenen und Zweifelsfällen befasst, häufig auf Coserius Theorie zurückgegriffen. Zu nennen sind u. a. Hundt (2002, 2008), Ágel (2008), Hennig (2009). In der vorliegenden Arbeit, in der abweichende Verwendungen der grammatischen Struktur PA den Forschungsge­ genstand darstellen, bietet Coserius Theorie auch den theoretischen Ausgangs­ punkt für die Erarbeitung des methodischen Vorgehens. Die Relevanz von Coserius Theorie für die Untersuchung von Randerschei­ nungen des PA zeigt sich dadurch, dass die in der Einleitung aufgeführten Bei­ spiele für abweichende Verwendungen des PA im Kontinuum System-Norm-Rede verortbar sind. Ihnen könnte nämlich ein Platz in der Abbildung 2 zugewiesen werden. Als authentische Belege aus Zeitungen sind sie ohne Zweifel der Ebene der Rede zuzuordnen. Sie gehören scheinbar nicht zur Norm, weil sie durch kom­ petente Sprecher des Standarddeutschen höchstwahrscheinlich als ungewöhn­ lich empfunden werden. Verwendungen des PA wie die in den in der Einleitung



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 2 Einbettung der Fragestellung in den ­theoretischen Kontext

aufgeführten Beispielen (4) bis (6) sind normabweichend, wobei der Begriff Norm hier in Coserius Sinne verstanden wird. Ob diese offensichtlich normabweichen­ den Verwendungen Realisierungen des Systems darstellen, kann an dieser Stelle noch nicht festgestellt werden. Die Beantwortung der Frage bedarf einer genauen Untersuchung; sie stellt das Hauptziel der vorliegenden Arbeit dar.9 Wenn sich die beobachtbaren Abweichungen des PA als „Möglichkeiten des Systems“ erwei­ sen würden, wären sie in dem Bereich der Rede zu lokalisieren, der zwar außer­ halb des Normbereichs liegt, jedoch noch vom System erfasst wird. Wenn dies nicht der Fall wäre, wären sie in dem Bereich der Rede zu verorten, der weder von Norm noch vom System erfasst ist. Die eben beschriebene Verortbarkeit der abweichenden Verwendungen des PA in Eroms Modell sollte verdeutlicht haben, dass Coserius Theorie von System, Norm und Rede ein fruchtbares Konzept zur Erarbeitung der Frage nach der Position von Abweichungen des PA im Gramma­ tiksystem des Deutschen bieten könnte. Geht man von Coserius Theorie aus, so stellt sich das in der vorliegenden Arbeit verfolgte Forschungsziel, das darin besteht, Abweichungen von PA und ihren Systemstatus zu ermitteln, im Grunde genommen als die Frage nach der Verortung von Abweichungen im Kontinuum System, Norm, Rede in Coserius Theorie dar. Im Hinblick auf das methodische Vorgehen setzt die Verortung zunächst die Abgrenzung der normabweichenden und normkonformen Verwen­ dungen10 des PA voraus. Anschließend werden Normabweichungen daraufhin untersucht, ob sie zum System gehören. Somit ergeben sich für die vorliegende Arbeit zwei Forschungsziele: Ziel 1: Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des PA Ziel 2: Ermittlung der Systemkonformität der Normabweichungen

9 Auch die bisherigen Überlegungen zur Verortung der Beispielsätze zwischen Norm und Rede beruhen ausschließlich auf meinen persönlichen intuitiven Einschätzungen. Eine genaue empi­ riebasierende Abgrenzung der beiden Bereiche erfolgt in Kapitel 3. 10 Eine sprachliche Einheit wird in der vorliegenden Arbeit als ‚normkonform‘ bzw. ‚system­ konform‘ betrachtet, wenn sie eine ‚Realisierung‘ der Norm bzw. des Systems im Coseriu’schen Sinne ist.



3 Ermittlung der normabweichenden ­Verwendungen des Partizipialattributs Kapitel 3 widmet sich der Frage, welche komplexen PA in der Gegenwartssprache des Deutschen beobachtbar bzw. in der Rede enthalten sind und ob sie ‚normale Realisierungen des Systems‘ im Coseriuʼschen Sinne darstellen. Grundsätzlich geht es dabei um die Ermittlung bzw. Überprüfung der Normkonformität des attributiven Gebrauchs von Verbalkomplexen im Deutschen. Die Erarbeitung des methodischen Vorgehens ist Gegenstand des Kapitels 3.1. Dabei wird zunächst ein Konzept mit Kriterien der Normkonformität grammatischer Formen vorge­ stellt, dem dann Überlegungen zum methodischen Vorgehen zugrunde gelegt werden. Wie methodisch im Einzelnen vorgegangen wird, wird zu Ende des Kapi­ tels 3.1 noch näher erläutert werden. In den drei anschließenden Kapiteln erfolgt die Bearbeitung der einzelnen Arbeitsschritte: die Ermittlung der ‚Kandidaten‘ von Normabweichungen (Kapitel 3.2), Überprüfung der ‚Kandidaten‘ hinsichtlich der Gebrauchsfrequenz (Kapitel 3.3) und des Akzeptabilitätsurteils (Kapitel 3.4). Kapitel 3.5 fasst das Ergebnis zusammen.

3.1 Kriterien der ‚Normkonformität‘ grammatischer Formen: Zum methodischen Vorgehen Die Überprüfung der Normkonformität sprachlicher Strukturen wirft zwei Fragen auf: Frage 1: Welche Merkmale weisen normkonforme sprachliche Einheiten auf? Frage 2: Wie sind diese Merkmale empirisch zu erfassen? Merkmale sprachlicher Elemente im Normbereich lassen sich aus Coserius Norm­ begriff ableiten. Coseriu definiert Sprachnorm als das, „was ‚man‘ traditionellerweise in der jeweiligen Gemeinschaft ‚sagt‘“ (Coserius 1974: 47, Hervorhebung von H. D.), was „für eine mehr oder weniger große Gemeinschaft allgemein und aus­ schließlich gültig“ ist (1970/1971: 68, Hervorhebung von H. D.) bzw. als „geläufiger Sprachgebrauch“, als „im Sprechen einer Sprachgemeinschaft übliche, ‚normale‘, durchschnittliche Realisierungen eines homogenen Gefüges von sprachlichen Einheiten und Verfahren“ (1988/2007: 266, Hervorhebung von H. D.). ‚Üblich‘, ‚normal‘, ‚geläufig‘, ‚gebräuchlich‘ und ‚allgemeingültig in der Gemeinschaft‘ sind insgesamt Eigenschaften, die sprachlichen Einheiten auf der Normebene zugeschrieben werden.



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 3 Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs

Eingehende Überlegungen zur empirischen Erfassung der Sprachnorm finden sich bisher meines Wissens lediglich bei Hundt (2008, vgl. auch 2011). Dabei ist anzumerken, dass Hundt bei seinen Überlegungen zwar von Coserius Annahme der drei Beschreibungsebenen der Sprache System, Norm und Rede ausgeht, ein expliziter, direkter Bezug auf Coserius Normbegriff jedoch nicht vorliegt. Es handelt sich hierbei also nicht um eine Operationalisierung des Coseriuʼschen Normbegriffs im eigentlichen Sinne. Wie sich noch zeigen lässt, sind die von ihm vorgeschlagenen Parameter zur Ermittlung der normgerechten grammatischen Strukturen durchaus auf Coserius Sprachnorm beziehbar. Hundt (2011: 121) behandelt „Sprachnorm“ unter dem Konzept „Akzeptabi­ lität“. Akzeptable Konstruktionen sind demnach normgerechte Konstruktionen. Akzeptabilität wird bei ihm also als definitorisches Kriterium der Sprachnorm aufgefasst. Sie dient zur Bestimmung des Normstatus grammatischer Zweifels­ fälle und kann durch Informantenbefragungen ermittelt werden: Die Akzeptabilität einer in Frage stehenden Konstruktion ist der wesentliche Indikator für die Sprachnorm und ihr Definitionskriterium. Im Bereich der Sprachnorm finden sich alle diejenigen Konstruktionen, die auch für die überwiegende Mehrheit der Sprachteilnehmer akzeptabel ist […]. Die Akzeptabilität von Konstruktionen lässt sich vergleichsweise leicht ermitteln über Probandenerfragungen. (Hundt 2008: 21 ff.)

Nach dem Autor zeichnet sich die Akzeptabilität einer Struktur durch ihre „rela­ tive hohe Gebrauchsfrequenz“ aus (Hundt 2011: 121). In diesem Sinne betrach­ tet er Frequenz als einen Indikator für „Akzeptanz“. Somit kann die Ermittlung der Normkonformität grammatischer Strukturen nicht durch Befragungen allein erfolgen, sondern es ist zusätzlich ein Rückgriff auf die Textkorpora erforderlich: Allerdings […] sind Befragungen allein keine ausreichende Basis, um die Akzeptabilität ein­ zelner Konstruktionen zu klären. Ergänzend muss immer der Blick auf die Textkorpora […] gerichtet werden, um so die entsprechende Frequenz einer Konstruktion als Indiz für ihre Akzeptabilität in der Sprachgemeinschaft zu ermitteln. (Hundt 2008: 21 ff.)

Den Zusammenhang zwischen den beiden Faktoren sieht der Autor darin, dass die Frequenz einer Konstruktion zur Steigerung ihrer Akzeptanz beitragen kann (ebd.: 23, vgl. Hundt 2002: 158, 2011: 127). Es ist offensichtlich, dass man ten­ denziell solche Verwendungen eher als akzeptabel bewertet, die öfter und wie­ derholt vorkommen. Strukturen, die hingegen selten bzw. nicht gebräuchlich





3.1 Kriterien der ‚Normkonformität‘ grammatischer Formen 

 15

sind, werden mit geringerer Wahrscheinlichkeit als akzeptabel beurteilt.11 Die Nutzung der Frequenz als Parameter zur Bewertung der Normhaftigkeit sprachli­ cher Strukturen stellt nach Hundt (2008: 23) insofern ein methodisches Problem dar, als es schwierig ist, einen bestimmten Grenzwert der Häufigkeit des Vorkom­ mens einer Konstruktion zu setzen, ab dem man sagen kann, dass diese noch dem Normbereich angehören oder außerhalb der Norm liegt. Als Lösung schlägt Hundt vor, statt nach den absoluten Häufigkeiten nach Veränderungen der Fre­ quenz in bestimmten Zeitabständen zu fragen. Konstruktionen mit kontinuierlich zunehmender Gebrauchsfrequenz wären demnach als solche mit ansteigender Normhaftigkeit zu bewerten. Diese Alternative mag m. E. für die Untersuchung von Grenzfällen, die zwar noch nicht als allgemeingültig angesehen werden können, jedoch im Sprachgebrauch schon eine gewisse Verbreitung gefunden haben, sinnvoll sein. Für Phänomene, die nach wie vor noch äußerst selten anzutreffen sind, erscheint dieses Vorgehen als weniger geeignet. So kann eine Frequenzsteigerung von bspw. 30 Belegen auf 50 Belege nach einer festgelegten Zeit nicht als ein Indiz dafür angesehen werden, dass sich das Phänomen auf dem Weg in den Normbereich befindet. Für solche Erscheinungen scheint mir ein Vergleich ihrer Häufigkeit mit der Häufigkeit der normgerechten Konstruktionen sinnvoller zu sein. Neben der Frequenz betrachtet Hundt (2008) die Kodifizierung in Grammati­ ken auch als ein weiteres Indiz für Akzeptanz und somit für Sprachnorm: Sprachnormen als Manifestationen des Akzeptablen werden dann häufig auch schriftlich fixiert (in Grammatiken und Wörterbüchern). […] Diese schriftlichen Fixierungen spiegeln aber i. d. R. nur wieder, was sich bereits im Vorfeld als akzeptabel etabliert hat. (Hundt 2008: 22)

Die Akzeptabilität einer grammatischen Struktur stellt also nach Hundt die Voraussetzung für ihre Aufnahme in Grammatiken dar. Daraus folgend kann die Kodifizierung in Buchform im Normalfall wiederum als ein Hinweis auf die

11 Dass die Seltenheit der Verwendung einer Konstruktion nicht immer zu einer negativen Ak­ zeptabilitätsbeurteilung führen muss, zeigt sich am Beispiel des Plusquamperfekts und des Dop­ pelperfekts (Perfekt II oder Doppeltperfektbildung genannt). Diese beiden Tempusformen gehö­ ren zu den sehr selten verwendeten Tempora in der gesprochenen Sprache (vgl. Hennig 2000: 65); ihre Akzeptanz ist allerdings unterschiedlich: während das Plusquamperfekt als allgemein anerkannt betrachtet werden kann, ist eine klare ablehnende Haltung des Sprechers gegenüber dem Doppelperfekt zu beobachten. Die hohe Akzeptanz des Plusquamperfekts könnte dadurch erklärt werden, dass diese Tempusform in allen Grammatiken des Deutschen als ein Bestandteil des Tempusparadigmas im Deutschen beschrieben wird. Aber auch ein Zusammenhang zwi­ schen der Kodifizierung und der Akzeptabilität liegt nicht immer vor (vgl. hierzu Fußnote 12).



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 3 Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs

hohe Akzeptanz dieser Struktur verstanden werden.12 In diesem Zusammenhang diskutiert Hundt (2008: 22) auch die mögliche Wirkung der Kodifikation auf die Sprachpraxis der Sprecher. Die Existenz einer grammatischen Kodifikation könne die Benutzer dieser Grammatik dazu veranlassen, das Dargestellte als gesetzte Norm aufzufassen, auch wenn die Grammatik deskriptiv ausgerichtet ist.13 Seiner Auffassung nach soll dies jedoch die Rolle der Kodifizierung als ein Indiz für Akzeptabilität nicht in Frage stellen: Dieser „Rückkopplungseffekt“ sollte jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass die Genese von Sprachnormen nicht in erster Linie durch Kodifikationen der Sprachnorm ver­ ursacht und gesteuert ist. Im Normalfall sind Kodifizierungen die Niederlegung der Summe des Akzeptablen ex post“ (Hundt 2008:22).

Aus Hundts Überlegungen sind drei Kriterien zur Erfassung des Normstatus sprachlicher Strukturen festzuhalten: Akzeptanz, Frequenz und Kodifizierung in Buchform. Inwiefern diese Kriterien auf das Coseriuʼsche Normkonzept bezogen werden können, zeigen die folgenden Ausführungen. Nach Coseriu sind norm­ gerechte Strukturen zunächst dadurch charakterisiert, dass sie „normal“ und „allgemeingültig“ sind. Diese Eigenschaften lassen sich ganz offensichtlich durch Bewertungen des Sprechers ermitteln.14 Als normgerecht gelten solche Verwendungen, die mehrheitlich von kompetenten Sprachbenutzern einer Sprachgemeinschaft als ‚normal‘ und ‚allgemeingültig‘ beurteilt werden. Eine bestimmte Sprachverwendung wird normalerweise als üblich und allgemeingül­ tig empfunden, wenn sie unauffällig ist, d. h. wenn ihre Akzeptanz ‚unmarkiert‘

12 Dass die Kodifikation der Verwendung eines grammatischen Phänomens in Grammatiken nicht immer ihre Akzeptanz voraussetzen muss, belegt die von Davies/Langer (2006) durchge­ führte Studie. Die beiden Autoren untersuchten elf grammatische „Zweifelsfälle“ im Hinblick auf ihre Beschreibung in Grammatiken und ihre Akzeptabilität bei Sprachbenutzern (bei Lehrern). Sie stellten fest, dass die Akzeptanz bzw. die Ablehnung von Sprechern bei manchen Strukturen nicht auf die Bewertung in Grammatiken zurückzuführen ist. Das temporale Relativpronomen wo wird bspw. in Grammatikbüchern seit mindestens zwei Jahrhunderten zwar anerkannt, den­ noch empfindet die Mehrheit der Informanten es als abweichend (Davies/Langer 2006: 266). 13 In Bezug auf den Konflikt zwischen der Absicht des Grammatikschreibers und der Wahrneh­ mung durch Benutzer sei auf das sog. „Normativitätsdilemma“ hingewiesen. (IDS-Grammatik 1997: 6, Eisenberg 2006:10, vgl. auch Hennig 2009: 29). Im Hinblick auf die Beziehung zwischen der Kodifizierung und der tatsächlichen Verwendung haben Davies/Langer 2006 andererseits gezeigt, dass die Stigmatisierung im Gebrauch nicht immer durch die Stigmatisierung in Gram­ matiken erklärbar ist (siehe Fußnote 12). 14 Der Gedanke, dass die Sprachnorm durch das Bewerten zu erfassen ist, findet sich auch bei Eroms (2000: 18): „Was wir als „üblich und gut“ bewerten, ist Norm.“





3.1 Kriterien der ‚Normkonformität‘ grammatischer Formen 

 17

ist. Die Beurteilung zur Akzeptabilität bei Hundt (2008) bezieht sich offenbar auf die Bewertung der oben genannten Eigenschaften der Sprachnorm bei Coseriu. Wie aus Coserius Definition zur Norm hervorgeht (siehe oben), zeichnet sich die Norm auch durch ihre Geläufigkeit bzw. Gebräuchlichkeit aus. Gebräuchlich ist eine Struktur, die oft bzw. verbreitet verwendet wird. Folglich ist die Häufigkeit des Vorkommens auch als ein Indiz zur Bewertung des Normstatus sprachli­ cher Formen anzusehen. Gebrauchfrequenz gilt bei Hundt (2008), wie oben gezeigt wurde, auch als ein Indikator der Normkonformität. Die von Hundt vor­ geschlagenen Parameter ,Akzeptanz‘ und ,Frequenz‘ sind so gesehen durchaus mit dem Coseriuʼschen Normkonzept vereinbar. Lediglich die Kodifizierung in Büchern, die von Hundt als ein Indiz der Akzeptabilität und somit der Sprach­ norm betrachtet wird, findet in Coserius Definitionen keine Erwähnung. Da man jedoch im Normalfall von einem Zusammenhang zwischen Akzeptabilität und Kodifizierung ausgehen kann, d. h. die Kodifizierung in den meisten Fällen die allgemeine Akzeptanz voraussetzt, spricht Hundts Annahme über die Rolle der Kodifizierung bei der Bewertung der Normkonformität fragwürdiger Strukturen im Grunde genommen nicht gegen Coserius Normkonzept. Aus den bisherigen Ausführungen kann zur Verortung grammatischer Struk­ turen im Kontinuum von Norm und Rede auf die drei folgenden Kriterien zurück­ gegriffen werden: Kriterium 1: Akzeptanz Kriterium 2: Frequenz Kriterium 3: Kodifizierung in Buchform In Bezug auf Kriterium 1 und Kriterium 2 zeichnet sich eine normkonforme Kon­ struktion durch ihre hohe Akzeptanz in der Sprachgemeinschaft und ihre hohe Vorkommenshäufigkeit aus. Dagegen gelten geringe Akzeptabilität und niedrige Gebrauchsfrequenz als Merkmale von normabweichenden Strukturen. Die Bezie­ hung zwischen dem Normstatus und den Faktoren Akzeptanz und Frequenz wird in Abbildung 3 dargestellt. Auf einer Skala zwischen zwei Polen der maximalen und minimalen Normkonformität sind sprachliche Strukturen je nach dem Grad der Akzeptabilität und der Häufigkeit angesiedelt: Frequenz

Akzeptanz

Normkonform

hoch

hoch

Normabweichend

niedrig

niedrig

Abb. 3: Beziehung zwischen Akzeptanz, Frequenz und Sprachnorm



18 

 3 Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs

Was Kriterium 3 betrifft, wird im Folgenden davon ausgegangen, dass der Gegen­ stand der Beschreibung in Grammatiken Kern der Sprachnorm ist.15 Gramma­ tische Strukturen, deren Existenz im System und deren Normstatus in allen Grammatiken nicht in Frage gestellt werden, gelten i. d. R. als die in der Sprachge­ meinschaft allgemein akzeptablen, verbreiteten und etablierten Formen. Norm­ abweichende Strukturen sind demnach hinsichtlich der Beschreibung in Gram­ matiken an drei Merkmalen zu erkennen: – Sie finden nicht in alle Grammatiken Eingang. – Ihre Normkonformität wird angezweifelt. – Ihre Grammatikalität ist umstritten. Gleichzeitig ist zu bemerken, dass die Kodifizierung in Buchform, da sie die Erfas­ sung sprachlicher Strukturen durch Linguisten betrifft und somit eine metare­ flexive Ebene ist, den geringsten Einfluss auf die Bewertung des Gebrauchs der jeweiligen Strukturen haben kann. Diesem Kriterium ist dementsprechend bei der Ermittlung der Normkonformität von komplexen PA kein so hohes Gewicht wie den beiden anderen Kriterien beizumessen. Kriterium 3 sollte, wie im Folgen­ den gezeigt wird, lediglich als ein Anhaltspunkt zur Bestimmung von ‚Kandida­ ten‘ der Normabweichungen des PA dienen. Auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen erfolgt die Erschließung des Normbereichs des PA in vier Schritten: (1) Durch eine Literaturübersicht werden zunächst in Grammatiken und in der Forschungsliteratur Hinweise auf mögliche Randerscheinungen des PA gesucht. Wie in der Einleitung angedeutet, sind Abweichungen im Gebrauch des PA in zwei Bereichen anzutreffen, und zwar in der Verwendbarkeit des PII als Attribut einerseits und in der attributiven Verwendung des Verbalkom­ plexes andererseits. Da sich der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit auf Abweichungen des zweiten Bereichs beschränkt, werden bei der Literaturübersicht nur Formen des PA in Betracht gezogen, bei denen ein Ver­ balkomplex als PA auftritt. (2) Wie zu sehen sein wird, ist in Beschreibungen in Grammatiken und in der Fachliteratur nicht immer eindeutig, ob eine bestimmte Form des PA durch den Autor als theoretisch möglich angesehen wird oder ob es sich um eine konkrete, im Sprachgebrauch belegbare Realisierung handelt. Da Normab­ weichungen schon realisiert sein sollen, besteht der nächste Schritt darin zu

15 Dass Kodifikationen in Grammatiken den Kern der Sprachnorm darstellen, wird allgemein anerkannt (Klein 2004: 379, Dietrich 2006: 320, Hundt 2008: 22).





3.2 Das Partizipialattribut in Grammatiken und in der Forschungsliteratur 

 19

überprüfen, ob die potenziellen Normabweichungen tatsächlich nachweis­ bar sind. Hierzu wird COSMAS II herangezogen. (3) Gleichzeitig wird mit COSMAS II ggf. die Häufigkeit ihres Vorkommens ermit­ telt. (4) Durch eine Befragung wird die Akzeptabilität der jeweiligen Abweichungsty­ pen untersucht. In (1) und (2) werden grundsätzlich Kandidaten für Normabweichungen festge­ legt (Kapitel 3.2), die dann in (3) hinsichtlich ihrer Frequenz (Kapitel 3.3) und schließlich in (4) im Hinblick auf die Akzeptabilität durch kompetente Sprecher des Deutschen (Kapitel 3.4) überprüft werden.

3.2 Das Partizipialattribut in Grammatiken und in der Forschungsliteratur Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, anhand von Grammatiken und relevanten Einzeluntersuchungen Schlüsse auf mögliche Normabweichungen im Gebrauch des PA zu ziehen. Bei der Suche nach ‚Kandidaten‘ für Normabweichungen gehe ich wie folgt vor: (1) Zunächst wird überprüft, ob die in der Einleitung eingeführten, als abwei­ chend angenommenen Verwendungen des PA tatsächlich als Normabwei­ chungen im Coseriu’schen Sinne betrachtet werden können.16 Hierzu werden Beschreibungen des PA in einschlägigen Grammatiken im Hinblick auf die drei in Kapitel 3.1 beschriebenen Merkmale der Kodifizierung (Eingang in Grammatiken, Bewertung der Normkonformität und Bewertung der Gram­ matikalität) herangezogen. Es soll dadurch noch einmal verdeutlicht werden, worin der abweichende Charakter dieser Konstruktionen besteht. (2) Anschließend wird in Grammatiken und in der Forschungsliteratur nach wei­ teren Abweichungstypen gesucht. Zu diesem Zweck dienen auch die drei ein­ schlägigen Kriterien (Eingang in Grammatiken, Bewertung des Normstatus und Bewertung der Grammatikalität).

16 Dieser Schritt ist insofern wichtig, als die Bezeichnung dieser Verwendungen als Abweichun­ gen in der Einleitung nicht auf theoriegeleiteten Kriterien beruht, sondern eher intuitiv erfolgte.



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 3 Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs

Zu (1): Überprüfung des ‚Normstatus‘ von komplexen PA Die einschlägigen Grammatiken (u. a. Duden- Grammatik 2009, die IDS-Gramma­ tik 1997, Wahrig 2005, Hentschel/Weydt 2003, Helbig/Buscha 2005, Engel 2004, Flämig 1991) gehen allgemein von zwei Formen des PA aus: dem PI und dem PII. Bei diesen Formen liegt dem attributiven Partizip ein Vollverb zugrunde. Da das Partizip, das hier in der Funktion eines pränominalen Attributs auftritt, aus nur einem Verb besteht, wird diese Form des attributiven Partizips im Folgen­ den als ‚einfaches‘ PA bezeichnet. Von diesen sind ‚komplexe‘ PA zu unterschei­ den. Komplexe PA sind PA, bei denen ein mehrteiliger Verbalkomplex attributiv gebraucht wird. Während in allen genannten Grammatiken das einfache PA als der Normalfall anerkannt wird bzw. als die Grundform vorausgesetzt wird, wird das komplexe PA lediglich in zwei Grammatiken erwähnt (Duden-Grammatik 2009, Wahrig-Grammatik 2005), wobei diesem der Normstatus von den Autoren abgesprochen wird.17 Das komplexe PA ist folglich in Bezug auf die Kriterien ‚Eingang in Grammatiken‘ und ‚Bewertung der Normkonformität‘ als außerhalb des Normbereichs des PA angesiedelt zu betrachten. Wenn im Folgenden von Abweichungen des PA die Rede ist, handelt es sich um komplexe PA.

Zu (2): Kandidaten für ‚Normabweichungen‘ des PA Als die bisher wichtigsten Arbeiten, die auf die meisten marginalen Formen im Gebrauch des PA aufmerksam gemacht haben, sind die Untersuchungen von Pakkanen-Kilpiä zur Verwendbarkeit des PII als Attribut (2004)18 und zum Gerun­ divum (2006)19 zu nennen. In den beiden Arbeiten zeigt die Autorin durch ihre Recherche in COSMAS II eine Reihe von Regelabweichungen in der Verwendung des PA auf und gelangt zu dem Ergebnis, dass eine große Diskrepanz zwischen den Beschreibungen in Grammatiken und dem tatsächlichen Gebrauch dieser grammatischen Struktur besteht. Im Folgenden werden nur die für die vorlie­ gende Untersuchung relevanten Formen aufgeführt. Es handelt sich nämlich um Abweichungen, bei denen ein Verbalkomplex als ein pränominales PA verwendet wird. Belege zum jeweiligen Typ wurden den oben genannten Arbeiten entnom­ men:

17 Nähere Erläuterungen zu Bewertungen der Normkonformität des komplexen PA werden wei­ ter unten ausgeführt. 18 Ziel dieser Arbeit ist, die in einschlägigen Grammatiken aufgestellten Regeln zur Attributfä­ higkeit des PII empirisch zu überprüfen. Dabei setzt sich die Autorin hauptsächlich mit Helbig/ Buscha 2001 auseinander. 19 In dieser Arbeit geht sie der Frage nach einer adäquaten Kategorisierung des Gerundivs im Deutschen nach.





3.2 Das Partizipialattribut in Grammatiken und in der Forschungsliteratur 

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Typ 1: PII+habend Die Großen, in diesem Fall die schon bei der Nationalratswahl kandidiert habenden Par­ teien, dürfen sich ohne weiteres in Wiens Straßen breit machen. (Die Presse, 1991)

Typ 2: Inf.+werdend Der Mudd- Club war somit die perfekte Location zur Feier der ersten Complikation des nun stärker ins Rampenlicht treten werdenden Label Audio Chocolate. (die Tageszeitung, 2002)

Typ 3: PII+werdend Draußen lauschte ich den einsetzenden Gefechtsgeräuschen. Bald ertönte von drinnen der erlösende Klang der geöffnet werdenden Balkontür. Ich war einmal mehr gerettet. ­(Berliner Zeitung, 2000)

Typ 4: Inf.+Modalverb Margrit Forster war es ein grosses Anliegen, neben dem klassischen, in keiner christlichen Buchhandlung fehlen dürfenden Angebot, wie Bibeln in verschiedenen Übersetzungen, Kommentare, Biografien, auch hochaktuelle Neuerscheinungen ins Sortiment aufzuneh­ men. (St. Galler Tagblatt, 2001) Vor allem aber dürfte die doch arg in ihre Taschen greifen müssende Berliner Bevölke­ rung interessieren, dass sich auch der Sparsenator der rotroten Koalition Thilo Sarrazin den Fragen und der Kritik zu stellen hatte. (Die Tageszeitung, 2002)

Typ 5: PII+werden+Modalverb Als vor über einem Monat – einem Bericht des Britischen Sunday Telegraph zufolge – ein nicht genannt werden wollender Beamter eines iranischen Ministeriums erklärt haben sollte, die Regierung des Irans erwöge, sich von der Morddrohung gegen Salman Rushdie zu distanzieren, da stürzten die europäischen Medien – die Politiker selbstverständlich auch – sich freudig auf die Meldung und waren nur zu gern bereit, der guten Nachricht Glauben zu schenken. (Die Zeit, 1995)

Typ 6: PII+haben+Modalverb Die Martin Luther gehört haben sollende Bibel, die unentdeckt von der Fachwelt über Jahrhunderte in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart „geschlummert“ haben soll, ist möglicher Weise doch nicht echt. (Die Tageszeitung, 1995)



22 

 3 Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs

Typ 7: PII+sein+Modalverb Aber immer in dieser nachgiebigen, nicht ernst genommen sein wollenden Art. Die dümmste Frage, die je gestellt worden sei, sei die: was ist Wahrheit. (Walser, Martin: Ohne einander. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1993)

Bei meiner eigenen Recherche in COSMAS II bin ich auf eine weitere Form des komplexen PA gestoßen, die unten als Typ 8 aufgeführt wird: Typ 8: hätte+Inf.+Modalverb Schalke hatte alle Positionen gut belegt, wie Trainer Ralf Rangnick das nennt, kontrollierte das Spiel und presste bei aller Müdigkeit so engagiert, dass der von Alessandro hätte ausgehen müssende Wolfsburger Kombinationsfußball nicht zustande kam. Und in der Luft war selbst für die guten Kopfballspieler Klimowicz und Hanke nichts zu holen. (die tages­ zeitung, 2005)

Die 8 Typen sollen nun im Hinblick auf ihre Beschreibungen in Grammatiken und in der Forschungsliteratur unter Berücksichtigung der drei Aspekte ‚Erwähnung‘, ‚Bewertung der Normkonformität‘ und der ‚Grammatikalität‘ untersucht werden. Dabei versteht es sich von selbst, dass die Untersuchung hinsichtlich der ‚Erwäh­ nung‘ nur sinnvollerweise für Grammatiken vorzunehmen ist. Es wird ermittelt, ob der jeweilige Typ in den einzelnen Grammatiken erwähnt wird und wie er ggf. in Bezug auf seine Normkonformität und seine Grammatikalität bewertet wird. Die Beurteilung der Normhaftigkeit kann expliziten Formulierungen entnommen werden. Die Duden-Grammatik (2009: 563) beschreibt Typ 1 und Typ 3 bspw. als ‚selten‘ verwendet. Der Ausdruck ‚Seltenheit im Gebrauch‘ deutet auf eine nied­ rige Frequenz der betreffenden Konstruktion hin. Betrachtet man ‚geringe Fre­ quenz‘ als einen Indikator für den normabweichenden Status grammatischer Strukturen (vgl. Kapitel 3.1), ist der Hinweis der Duden-Grammatik auf die Selten­ heit in der Verwendung von Typ 1 und Typ 3 als eine Bewertung der beiden Struk­ turen unter dem Aspekt der Norm zu verstehen. Das Grammatikalitätsurteil wird oft durch Formulierungen wie ‚grammatisch‘ vs. ‚ungrammatisch‘ oder ‚korrekt‘ vs. ‚nicht korrekt‘ zum Ausdruck gebracht. Das Merkmal ‚Grammatikalität‘ wird auch solchen Typen zugeschrieben, deren Existenz im Sprachsystem vom Autor als theoretisch möglich betrachtet wird. Als ein Beispiel dafür kann Welke (2002) herangezogen werden. Als Antwort auf die Frage, ob ein zeitlich nachfolgender





 23

3.2 Das Partizipialattribut in Grammatiken und in der Forschungsliteratur 

Zustand einer Handlung als der Zustand des Täters ausgedrückt werden kann,20 schreibt er: „In der Tat ist das ausdrückbar, nur eben (typischerweise) nicht durch ein attributives Partizip“ (ebd.: 291, H. V. durch D. H.). Zur Illustration gibt er die Form „der gelesen habende Emil“ (Typ 1) an. Folglich kann man erschließen, dass er PII+habend für theoretisch möglich hält. Aus Welkes Zitat geht auch seine Bewertung bezüglich der Normhaftigkeit von Typ 1 hervor. Eine nicht typische Form ist nicht als eine Realisierung der Norm aufzufassen. Tabelle 1 bietet einen Überblick über die Darstellung der 8 Typen in Gram­ matiken und Einzeluntersuchungen hinsichtlich der drei Merkmale ‚Erwäh­ nung‘, ‚Normhaftigkeit‘ und ‚Grammatikalität‘. Es werden folgende Abkürzungen verwendet: – : nicht erwähnt, + G: grammatisch, – N : nicht normgerecht, – G: ungrammatisch Tab. 1: Das komplexe PA in Grammatiken und in der Forschungsliteratur Typ 1

Typ 2

Typ 3

Typ 4

Typ 5

Typ 6

Typ 7

Typ 8

Duden- Grammatik 2009

–N



–N











Wahrig-Grammatik 2005

–N















IDS-Grammatik 1997

–21















Hentschel/Weydt 2003

















Helbig/Buscha 2001

















Engel 2004

















Flämig 1991

















Eisenberg 2006

















20 Der Vollzug der Handlung „ das Buch lesen“ in dem Satz Der Vater hat das Buch gelesen kann normalerweise als eine Nominalphase mit dem PA (hier PII) das gelesene Buch formuliert wer­ den. In „das gelesene Buch“ ist „Buch“ das Opfer und nicht der Täter der Handlung. Der Autor diskutiert in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Täter (der Vater) durch ein PA ausdrückbar ist. (Welke 2002: 291) 21 Die IDS-Grammatik (1997: 2160) weist mit einem konstruierten Beispiel (Das Bier ausgetrunken habend, schritt er zum Ausgang) auf Typ 1 (PII+habend) hin. In dem Beispiel wird PII+habend jedoch adverbial gebraucht. Da der Gegenstand der vorliegenden Arbeit das komplexe PA im attributiven Gebrauch ist, wird die IDS-Grammatik auch zu Grammatiken gezählt, in denen diesem Typ das Merkmal „unerwähnt“ zugewiesen wird. Es ist anzumerken, dass die IDS-Grammatik diese Form des PI als „gänzlich ungebräuchlich“ (ebd.: 2160) bezeichnet, ihre Bildung jedoch für korrekt hält.



24 

 3 Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs

Tab. 1 (fortgesetzt) Typ 1 Welke 2002

+G –N

Lübbe/Rapp 2011

+G –N

Litvinov/Radčenko 1998

+G

Demske-Neumann 1994

+G

Ehrhard 1994

+G

Valentin 1994

+G

Weber 1971

Typ 2

Typ 3

Typ 4

Typ 5

Typ 6

Typ 7

Typ 8

+G –N –G

+G –G

–G

–G

Es fällt zunächst auf, dass Typ 5, 6, 7 und 8 in keiner Grammatik und keinem For­ schungsbeitrag (mit Ausnahme von Pakkanen-Kilpiä 2006) erwähnt werden. Typ 4 wird lediglich von Weber (1971: 161 f.) erwähnt und von ihm als ungrammatisch bewertet. Die Ungrammatikalität dieser Form begründet er mit der Unkorrektheit der Verwendung von Modalverben als PI und damit zusammenhängend dadurch, dass in pränominalen Attributen kein Infinitiv auftreten kann.22 Als am wenigs­ ten bekannt gilt auch Typ 2. Nur zwei Arbeiten bringen diese Form zur Diskussion (Weber 1971: 162, Litvinov/Radčenko 1998: 28). Dabei wird ihre Grammatikalität von den Autoren abgelehnt. Die negative Beurteilung der Grammatikalität führt Weber darauf zurück, dass zu Hilfsverben, in diesem Fall zum Futur-Hilfsverb werden, kein PI gebildet werden kann. Darüber hinaus hält er die Verbindung von werdend mit Infinitiv in einem erweiterten PA als ungrammatisch. Zur Erklärung für ihr Urteil weisen Litvinov/Radčenko auf die „Untauglichkeit“ der Erweiterung von werdend hin.23

22 Weber (1971) befasst sich in seiner Arbeit mit der Herausbildung und historischen Entwick­ lung des erweiterten PA im Deutschen. Seiner Untersuchung liegt ein Korpus mit Belegen aus Texten vom 15. Jh. bis zum 20. Jh. zugrunde. Das erweiterte PA in (1) und (2) im Folgenden ist für den Autor „nicht nur ungrammatisch wegen der Modalverben, sondern auch wegen der Infini­ tive“ (ebd.: 162): (1) dieselbe eine, ursprünglich also ausbrechen müssende lebendige Sprachkraft der Natur (Fichte, 1807) (2) das einzig in Frage kommen könnende Fenster (Wederkind, 1925). 23 „Erweiterungen durch werdend+Infinitivbildung sind als ungrammatisch anzusehen; das Futurum I taugt nicht zum Muster für neue Bildungen“ (Litvinov/Radčenko 1998: 29).





3.2 Das Partizipialattribut in Grammatiken und in der Forschungsliteratur 

 25

Auf Typ 3 wird in der Duden-Grammatik (2009) und in drei weiteren For­ schungsbeiträgen (Weber 1971, Valentin 1994, Lübbe/Rapp 2011) aufmerksam gemacht. Die Bewertung in der Duden-Grammatik und die von Lübbe/Rapp können als auf den Normstatus bezogen betrachtet werden. So trifft man Formen wie gezahlt werden laut Duden sehr selten an (Duden-Grammatik 2009: 563). Ebenso halten Lübbe/Rapp die Bildung der pränominalen Attribution in „das gelesen werdende Buch“ für „schwerfällig und selten“ (Lübbe/Rapp 2011: 283). Die beiden anderen Arbeiten geben ihre Einschätzungen bezüglich des Aspekts der Grammatikalität an. Dabei gehen die Meinungen auseinander. Weber (1971: 162) lehnt die attributive Verwendung des PI des Hilfsverbs werden und das damit verbundene Vorkommen von Partizipien wie in „keine […] nachgedruckt werdende Exemplaria“ grundsätzlich ab und bezeichnet diese als „ungrammatisch“. Im Gegensatz dazu fasst Valentin (1994: 44) diese Konstruktion als theoretisch möglich auf.24 Die Auffassung, dass Typ 2 eine theoretische Möglichkeit darstellt, wird auch von Lübbe/Rapp (2011: 283) vertreten.25 Im Vergleich zu anderen Typen wird Typ 1 (PII+habend) am meisten von Grammatikern in Erwägung gezogen. Dabei sind sich alle Autoren bezüglich der Bewertung seines Normstatus einig: PII+habend ist nicht normkonform (WahrigGrammatik 2005: 45, Duden-Grammatik 2009: 563). Was seinen grammatikali­ schen Status betrifft, herrschen unterschiedliche Meinungen. Die Mehrheit der Autoren spricht sich jedoch für die Möglichkeit der Existenz dieser grammati­ schen Form aus (siehe Tabelle 1). Wunderlich (1987, 1997) nimmt in seinen Aufsätzen nicht explizit Bezug auf einen der 8 genannten Typen.26 Seine Auffassung, dass die Bildung des PI zu Modalverben und Hilfsverben ausgeschlossen ist, lässt jedoch erkennen, dass er grundsätzlich die Verwendung von allen 7 Typen für ungrammatisch erklären würde:

24 Valentin (1994: 33 ff.) geht von einem phrasalen Suffix im Deutschen aus. Seiner Auffassung nach ist „end“ in „die aus 16 Mitgliedern bestehende Klasse“ nicht das Suffix des Simplexes besteh-, sondern des Komplexes „aus 16 Mitgliedern besteh-. Daraufhin schlägt er vor, neben einem aktiven Lexem forder- ein passives Lexem gefordert werd- anzunehmen (ebd: 42). 25 Für Lübbe/Rapp stellt Typ 3 für die Attribution im pränominalen Bereich eine alternative Ausdrucksmöglichkeit dar, um die „Merkmalsbündelung von Aspektualität und Argumentbezug zu lösen“ (Lübbe/Rapp 2011: 283). 26 Aus diesem Grund wird er in Tabelle 1 nicht aufgeführt.



26 

 3 Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs

Als lexikalisches Affix kann /d/ auch Subklassen der Verben wie [+AUX] (haben, sein, werden) und die Modalverben ausschließen. (Wunderlich 1987: 352) Present participles can be formed from nearly all verbs, except modal verbs. (Wunder­ lich1997: 28)

Auch Toman (1987) äußert sich nicht direkt zu den acht Formen. Dadurch, dass er die Verwendung von Hilfsverben in Funktion als attributives Partizip grundsätz­ lich ablehnt, wird er zu den Autoren gezählt, die PII+habend (Typ1) als ungram­ matisch bezeichnen: Die von mir vorgeschlagene Analyse macht die Vorhersage, das beim PI in der attributiven Position immer die inhärente Lesart des Vollverbs und nur sie, zum Vorschein kommen kann, denn in dieser Position gibt es keine Hilfsverben. ( Toman 1987: 416, Hervorhebung von D. H.)

Fazit Die acht vorgestellten Formen des komplexen PA weisen hinsichtlich der Dar­ stellungen in gängigen Grammatiken und in Forschungsbeiträgen Eigenschaften auf, die auf ihren normabweichenden Status hindeuten. Sie finden entweder noch kaum Eingang in die gängigen Grammatiken oder ihre theoretische Existenz wird von Grammatikforschern gar nicht in Erwägung gezogen (Typ 5, 6, 7 und 8). Formen, die in Grammatiken und in (wenigen) Untersuchungen genannt sind, werden entweder stilistisch klar abgelehnt oder ihre Grammatikalität ist umstrit­ ten (Typ 1, 2, 3, 4). Dass diese PA-Formen im Sprachgebrauch nachgewiesen sind, zeigt bereits die Recherche in COSMAS II durch Pakkanen-Kilpiä (2004, 2006). Die Belegbarkeit der Formen hat sich durch meine eigene Recherche in COSMAS II auch bestätigt (vgl. Kapitel 3.3).27 Die Beschreibungen in Grammatiken und in der Forschung über das komplexe PA sowie die Belegbarkeit des Gebrauchs dieser Form des PA erlauben also, die acht Typen als Kandidaten für Normabwei­ chungen anzunehmen.

27 Die meisten in Tabelle 1 aufgeführten Autoren beziehen sich in ihrer Arbeit auf selbst kon­ struierte Beispiele. Autoren, die für ihre Beschreibung authentische Belege heranziehen, sind Pakkanen-Kilpiä (2004, 2006), Litvinov/Radčenko (1998) und Weber (1971).



3.3 Frequenz 

 27

3.3 Frequenz Zur Überprüfung des abweichenden Status der acht hier interessierenden Typen werden in COSMAS II zwei Erhebungen durchgeführt. Zuerst wird ermittelt, wie oft der jeweilige potentielle Abweichungstyp überhaupt vorkommt.28 Um die Sel­ tenheit der Formen zu verdeutlichen, wird die Häufigkeit der als Norm gelten­ den Form, des einfachen PI, gegenübergestellt. Hierzu wird in einem weiteren Schritt die Frequenz des PI einiger Verben in pränominaler attributiver Funktion erhoben. Der Vergleich der Häufigkeit einer normgerechten Struktur mit der der ‚Kandidaten‘ für Normabweichungen erweist sich insofern als sinnvoll, als es all­ gemein schwierig ist, für das Kriterium ‚Frequenz‘ eine Grenze zwischen Norm­ bereich und Nicht-Normbereich zu ziehen. Tabelle 2 stellt das Ergebnis der ersten Erhebung dar.

28 Die Recherche in COSMAS II fand erstmals im März 2010 und dann zur Aktualisierung und Ergänzung im August 2010 statt. Es wurde das W-Archiv für die Recherche herangezogen. Das WArchiv ist das Archiv für geschriebene Sprache und hatte zum Zeitpunkt der Erhebungen einen Umfang von etwa 3,8 Milliarden Wortformen. Im W-Archiv sind Texte, meist Zeitungstexte, vom 18. Jahrhundert bis heute enthalten.



28 

 3 Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs

Tab. 2: Absolute Häufigkeit von ‚Kandidaten‘ der Abweichungstypen des PA in COSMAS II Typ

Beispiele

Zahl der Belege

Typ1: PII+habend

„Rama war ohne Zweifel der Mensch mit dem höchsten Intelligenzquotienten, den es jemals gegeben hat“, sagte uns ein in Jaipur studiert habender Historiker. „Rama wurde im Jahre zehntausend vor Christus geboren“, fügte sein Kollege hinzu. (Frankfurter Allgemeine, 2003)

17829

Typ 2: Inf.+werdend

Gentech-Produkte bieten für den Konsumenten keinerlei Vorteile, weder in ökologischer noch in ökonomischer Hinsicht, bergen aber eine Vielzahl, sich wohl erst mit den Jahren zur Gänze zeigen werdende Risiken. (St. Galler Tagblatt, 1998)

430

Typ 3: PII+werdend

Zwei männliche Stimmen schrien sich an, drohten, lachten grimmig, und als zum ersten Mal Fleisch auf Fleisch traf und das Geräusch eines paniert werdenden Koteletts sich vor dem geistigen Auge des Wachtmeisters abbildete, öffnete Rebenmann die Augen. (Braunschweiger Zeitung, 2006)

15

29 Zwei Belege davon werden von Litvinov/Radčenko (1998: 28) übernommen. Die beiden Be­ lege stammen aus literarischen Texten. Gegenstand der Arbeit von Litvinov/Radčenko stellen die sog. Doppelten Perfektbildungen in der deutschen Literatursprache dar. Doppelte Perfekt­ bildungen sind solche Fügungen vom Typ „Hilfsverb haben/sein + Vergangenheitspartizip des Grundverbs + Vergangenheitspartizip des Hilfsverbs haben/sein“ in „das Kind ist … verschwunden gewesen“ oder „Er hatte ihn völlig vergessen gehabt.“ (vgl. ebd.: 1). Bei der Suche nach einer adäquaten grammatischen Benennung für ihren Untersuchungsgegenstand schließen sich die beiden Autoren Weigand (1913) an und bezeichnen das doppelte Perfekt als „Perfekt II“ und das „doppelte Plusquamperfekt“ als „Plusquamperfekt II“. Dabei verstehen sie unter einer „Form II“ „eine Verbform, die durch die Operation der Perfektbildung kompliziert wird.“ (Litvinov/ Radčenko 1998: 28). Ausgehend von dieser Definition der „Form II“ plädieren sie dafür, das Ver­ gangenheitspartizip nicht mehr Partizip II zu nennen, um es von der Klasse der Form II termino­ logisch zu unterscheiden. Ein echtes Vergangenheitspartizip II wäre ihrer Auffassung nach die Fügung „gesunken gewesen“ in „diese gesunken gewesene Daseinschicht“. In diesem Zusammen­ hang werfen die Autoren die Frage auf, ob es im Deutschen ein sog. Gegenwartpartizip II gibt. Anhand von zwei authentischen Belegen für diese Fügung, die sie in ihrem literarischen Korpus gefunden haben, stellen die beiden Autoren die Existenz dieser Partizipform fest. Die attributive Verwendung des Gegenwartspartizips II entspricht der in der vorliegenden Arbeit als Typ 1 be­ zeichneten Abweichung. Die zwei Belege werden im Anhang 1 aufgeführt. 30 Ein Beleg davon wird von Litvinov/Radčenko (1998:29) übernommen. Es ist ebenfalls ein ­literarischer Beleg. Der Beleg wird in dem Zusammenhang eingeführt, um die Grammatikalität der Bildung des Gegenwartspartizips II hervorzuheben. Während das Gegenwartspartizip II von den Autoren als durchaus grammatisch bewertet, wird die Grammatikalität der Verwendungen von „sein werdend“ in „ alles … sein werdende Leben“ angezweifelt.



 29

3.3 Frequenz 

Tab. 2 (fortgesetzt) Typ Typ 4: Inf.+ Modalverb

Beispiele

Zahl der Belege

können

Der Erzähler ist hier nicht ein allwissender Gott, aber doch ein fast alles wissender und erklären könnender soziologischer Halbgott.(Nürnberger Zeitung, 2005)

54

müssen

So erarbeiteten sich die kurzfristig auf Kapitän Ralf Weber (Leiste) verzichten müssenden Frankfurter zwar optische Feldvorteile […]. (Frankfurter Rundschau, 1999)

49

sollen

In dieser Situation ist die Nachricht von der nun tatsächlich erfolgen sollenden Stationierung der UN-Truppen im Kampfgebiet in Kroatien in Sarajewo mit großer Erleichterung aufgenommen worden. (Die Presse, 1992)

35

dürfen

Alle anderen glaubt er zu beherrschen: […] seine ihm nur wenig Kontra geben dürfende Analytikerin Edith […] (Mannheimer Morgen, 2004)

21

wollen

Daß Gerhard Berger wegen einer nicht heilen wollenden Eiterung in der Kieferhöhle den Kanada-GP begraben muß.(Kleine Zeitung, 1997)

25931

mögen

Was folgte, war ein fast nimmer enden mögender Segen von Dankes- und Grußworten. (Mannheimer Morgen, 2005)

1

419

31 Es wurden insgesamt 2318 Belege des Typs Inf.+ wollend gefunden. In den meisten davon tritt in der Position des Inf. das Verb enden auf: Auf die nicht enden wollenden Redebeiträge reagierte jeder auf seine Art. (Frankfurter Rundschau, 1998) Nach Niedersachsen müssen sich Regierende wie Regierte an die Nase fassen und ihren Anteil am nicht enden wollenden Politikverdruss im Volk suchen. (Mannheimer Morgen, 2001) Die Kombination enden wollend kann mit der relativ hohen Frequenz als ein festes Gebrauchs­ muster betrachtet werden. Da feste Wortverbindungen nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind, wird in Tabelle 2 nur die Anzahl der Belege angegeben, bei denen das Modalverb wollen in der Konstruktion Inf.+wollend zusammen mit anderen Verben gebraucht wird.



30 

 3 Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs

Tab. 2 (fortgesetzt) Typ Typ 5: PII+ werden+ Modalverb

Beispiele

Zahl der Belege

wollen

Japan – Ursprungsland eines in aller Welt photographierenden und photographiert werden wollenden Volkes – hat natürlich auch eine Tradition in der Photo-Kunst. Mit ihr wird nun zumindest partiell gebrochen. (Die Presse, 1997)

21

müssen

Diese kaum steuerbare und von den Künstlerinnen doch gesteuert werden müssende Entwicklung des Materials ist in vielen Details der sehr skulptural gedachten Installation spürbar. (St. Galler Tagblatt, 2007)

3

können

Irritiert steige ich in den nächsten Zug und verlasse mit dem wohl nie beantwortet werden könnenden Gefühl, ob ich nun offiziell schwarzfuhr, die Stadt. (Die Südostschweiz, 2006)

1

25 Typ 6: PII+haben+ Modalverb

Die Martin Luther gehört haben sollende Bibel, die unentdeckt von der Fachwelt über Jahrhunderte in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart „geschlummert“ haben soll, ist möglicher Weise doch nicht echt. (Die Tageszeitung, 1995)

1

Typ 7: PII+sein+ Modalverb

wo aber findet man die breite Schilderung des „Büroalltags“ (der eventuell gemeint sein könnende Kurztext „der neue Advokat“ ist bestenfalls ein Kafkascher Stoßseufzer) (Die Presse, 2000)

332

Typ 8: hätte+Inf.+ Modalverb

Die bisher einzige spektakuläre beziehungsweise spektakulär hätte sein könnende Partie – alle sechs Male übrigens offerierte Kasparow den Remisschluß. (Salzburger Nachrichten, 1995)

3

32 In COSMAS II kommen insgesamt 63 Belege für Typ 7 vor. Bei 60 davon handelt es sich um die Fügung genannt sein wollend. Zudem stammen die meisten von den 60 Belegen aus österreichi­ schen Zeitungen. Genannt sein wollen erweist sich somit als ein festes, stark regional geprägtes Gebrauchsmuster und bleibt aus diesem Grund in der vorliegenden Untersuchung unberück­ sichtigt.



3.4 Befragung zur Akzeptabilitätsbeurteilung 



 31

Hält man sich den großen Textumfang von COSMAS II (3,8 Milliarden Wortformen)33 vor Augen, kann festgestellt werden, dass die acht Typen für Normabweichungen des PA äußerst selten verwendet werden. Dabei ist eine hohe Streuung in der Häufigkeit der Typen zu erkennen. Als Typ mit der höchs­ ten Frequenz gilt Typ 4 (Inf.+Modalverb) mit 419 Belegen, wobei ein großer Unter­ schied zwischen verschiedenen Modalverben zu verzeichnen ist. Am häufigsten tritt wollen mit über 300 Belegen auf; kaum verwendet ist mögen, für das nur ein Beleg gefunden wurde. In großem Abstand zu Typ 4 steht an zweiter Stelle Typ 1 (PII+habend) mit 178 Belegen. Die letzten Positionen nehmen Typ 2, 6, 7 und 8 ein. Typ 6 ist lediglich einmal belegt. Die Marginalität der komplexen PA zeigt sich in Gegenüberstellung zur Häu­ figkeit des einfachen PI am deutlichsten. Einen Eindruck davon, wie oft das ein­ fache PI als pränominales Attribut verwendet wird, vermittelt Tabelle 3: Tab. 3: Frequenz des einfachen PI einiger Verben in Funktion als pränominales Attribut Verben

Häufigkeit (absolut)

schlafen lachen singend abschließen ankommen

4 131 7 648 8 342 26 915 1 822

Die Daten weisen eindeutig auf den normabweichenden Status des komplexen PA hin. Man kann sagen, dass es sich bei den acht Typen um Phänomene in der Rede handelt, die sich im Hinblick auf die Vorkommenshäufigkeit sehr weit von der Grenze zur Norm entfernt befinden.

3.4 Befragung zur Akzeptabilitätsbeurteilung 3.4.1 Konstruktion der Befragung Ziel der Befragung ist es, zu ermitteln, inwiefern die acht Typen des komplexen PA in der Sprachgemeinschaft als allgemeingültig akzeptiert werden. Der Fra­ gebogen umfasst insgesamt 13 Testsätze. Die Informanten werden gebeten, die

33 Das entspricht einem Umfang von über 9 Millionen Buchseiten, wenn man durchschnittlich 400 Wörter/Seite zugrunde legt.



32 

 3 Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs

Akzeptabilität des jeweiligen Testsatzes nach ihrem Sprachgefühl einzuschätzen. Hierzu dient eine Akzeptabilitätsskala von eins für den höchsten Akzeptabilitäts­ grad bis fünf für den niedrigsten. Testsätze werden nicht völlig neu konstruiert, sondern sind meistens authentische Belege aus dem Korpus. Zur Nutzung als Testsätze werden die ausgewählten Belege so bearbeitet, dass möglichst Fakto­ ren vermieden werden, die die Validität der Ergebnisse beeinträchtigen könnten. Die 13 Testsätze setzen sich folgendermaßen zusammen: (1) Jedem der 8 Typen entspricht mindestens ein Testsatz. (2) Für zwei Typen ( Typ 1 und Typ 4) gibt es jeweils zwei Testsätze. (3) Drei Kontrollsätze: ein Testsatz für das einfache PII (Testsatz 1) und zwei Test­ sätze für das einfache PI (Testsatz 5 und 11). Zu (2): Dass für die beiden Typen jeweils zwei Testsätze konstruiert werden, beruht auf der Überlegung, dass sich der Akzeptabilitätsgrad einer sprachli­ chen Struktur besser erfassen lässt, wenn sich die Beurteilung des Informanten nicht auf eine Verwendung, sondern auf mehrere Verwendungen dieser Struk­ tur bezieht. Auf diese Weise kann die Gültigkeit der Akzeptabilitätsbeurteilung kontrolliert werden. Da Typ 1 und Typ 4 mit der höchsten Frequenz (vgl. Tabelle 2) als die am meisten verbreitet gebrauchten abweichenden PA-Formen anzuse­ hen sind, bietet es sich an, sich um einen vertieften Einblick in das Empfinden der Sprachbenutzer zu ihrem Gebrauch zu bemühen. Hierzu soll die Akzeptanz dieser beiden Typen besser als die der anderen Typen gesichert werden.34 Die Akzeptanz von Typ 1 wird im Fragebogen mit Testsatz 3 und Testsatz 14 ermittelt:

34 Es ist sicherlich wünschenswert, auch für die anderen Typen jeweils mehrere Testsätze zu konstruieren, um somit die Gültigkeit der Bewertung sicherzustellen. Das Prinzip, nach dem der Fragebogen nicht zu lang sein soll, um den Ermüdungseffekt und die mit ihm einhergehenden verfälschten Ergebnisse zu vermeiden, muss bei der Konstruktion der Befragungen jedoch auch berücksichtigt werden. Um die beiden Prinzipien zu vereinbaren, kann die Ermittlung der Ak­ zeptanz der Abweichungen durch jeweils verschiedene Testsätze nur für die zwei wichtigsten Typen gewährleistet werden.



3.4 Befragung zur Akzeptabilitätsbeurteilung 



3.

 33

Die im Krieg tapfer gekämpft habenden Soldaten wurden in ihrer Heimat herzlich empfangen.

Völlig akzeptabel

1

2

3

4

5

absolut inakzeptabel

14. Die das Erdbeben überlebt habenden Bewohner wurden in Schulen untergebracht. Völlig akzeptabel

1

2

3

4

5

absolut inakzeptabel

Bei Satz 3 ist das zugrunde liegende Verb ein duratives Verb, bei Satz 14 ein punk­ tuelles. Die kontextuelle Bedingung in beiden Sätzen ist identisch. In beiden Testsätzen besteht zwischen dem durch das PA ausgedrückten Ereignis und dem im übergeordneten Satz realisierten Sachverhalt ein logischer Zusammenhang des Typs Ereignis-Voraussetzung. So stellt das tapfere Kämpfen der Soldaten im Krieg in Testsatz 3 die Voraussetzung dafür dar, dass sie in ihrer Heimat herzlich empfangen werden.35 Mit der Auswahl der zwei hinsichtlich der Aktionsart unter­ schiedlichen Verben und der gleichen kontextuellen Konstellationen soll ermit­ telt werden, ob die Aktionsart für die Akzeptabilität eine Rolle spielt. Typ 4 entsprechen Testsatz 2 und Testsatz 15: 2.

Zu einer richtigen Großveranstaltung mit der nicht fehlen dürfenden Prominenz gehört natürlich auch ein Galaabend.

Völlig akzeptabel

1

2

3

4

5

absolut inakzeptabel

4

5

absolut inakzeptabel

15. Der Junge ist ein nie still sitzen könnendes Kind. Völlig akzeptabel

1

2

3

Mit der Wahl der zwei verschiedenen Modalverben (dürfen und können) soll über­ prüft werden, ob die Akzeptabilität dieses ‚kandidierenden‘ Abweichungstyps vom Gebrauch eines bestimmten Modalverbs abhängig ist. Zu (3): Die Testsätze für das PI und PII haben insofern die Funktion als Kon­ trollsätze, als die Annahme besteht, dass das PI und PII den Kern des Normbe­

35 Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Typen der logischen Beziehung zwischen Ereignissen und ihrer Funktion als ein Ausdruckmittel der Temporalität findet sich in Kapitel 5.2.3.1.5.



34 

 3 Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs

reichs des PA darstellt. Es wird erwartet, dass der Gebrauch dieser beiden Formen eine hohe Akzeptanz bei den Sprachbenutzern erzielt. Nur mit einem solchen Ergebnis kann die Beurteilung anderer Testsätze durch Informanten als zuver­ lässig angesehen und für die Arbeit ausgewertet werden. Die drei Kontrollsätze bilden zugleich eine Vergleichsgruppe, von der ausgehend der Abweichungsgrad von anderen Typen erfasst wird. Diesbezüglich ist zu erwarten, dass der Akzep­ tabilitätsgrad von Testsätzen für die 8 Abweichungstypen weit unter dem für das PI und PII liegt.

3.4.2 Durchführung Die Umfrage wurde online durchgeführt. Die Datenerhebung fand in der Zeit vom 23.11. bis zum 04.12.2011 statt. In diesem Zeitraum haben insgesamt 1477 Mut­ tersprachler die Onlinebefragung vollständig abgeschlossen. Alle Antworten, die nach dem 04.12.2011 eingegangen sind, wurden bei der vorliegenden Auswertung nicht berücksichtigt. Die Befragten sind zum großen Teil Studenten und Mitarbeiter aller Fachbe­ reiche und Einrichtungen der Justus-Liebig-Universität Gießen. Somit stellen Stu­ denten die größte Berufsgruppe dar (etwa 70 %), wobei der Anteil von Germanis­ tikstudenten bei über 20 % liegt. Bei den anderen Befragten handelt es sich um ein sehr breites Spektrum an Berufen. Sie sind Verwaltungsmitarbeiter, Bibliothe­ kare, Deutschlehrer, Psychologen, Ärzte, Journalisten, Doktoranden vieler Fach­ bereiche usw. Das Alter der Befragten zum Zeitpunkt der Datenerhebung liegt zwischen 17 und 75 Jahren. Die Mehrheit ist im Alter zwischen 20 und 40 Jahren.

3.4.3 Ergebnis Tabelle 4 stellt die Verteilung der fünf Antwortoptionen36 für einzelne Testsätze dar.

36 Jeder Antwortoption entspricht einer der fünf Stufen der Akzeptabilitätsskala.



3.4 Befragung zur Akzeptabilitätsbeurteilung 



 35

Tab. 4: Verteilung der fünf Akzeptabilitätsstufen Typ

1 2 (völlig ­akzeptabel)

3

4

5 (absolut in­akzeptabel)

Kontrollsätze

PI (leben)

91,7

6,3

1,1

0,2

0,7

PI (schlafen)

90,9

6,2

1,4

0,7

0,8

PII

71,8

18,8

5,3

3,0

1,0

1

PII+habend (überleben)

15,8

23,4

24,9

24,9

11,0

1

PII+habend (kämpfen)

14,8

18,8

21,2

31,2

14,1

2

Inf.+werden

8,5

15,7

19,3

28,1

28,4

3

PII+werden

10,3

20,1

23,2

29,3

17,1

4

Inf.+Modalverb (dürfen)

25,5

27,8

23,2

18,6

4,9

4

Inf.+Modalverb (können)

22,5

28,6

23,2

16,6

9,1

5

PII+werden+Modalverb

30,7

32,6

18,7

13,0

4,9

6

PII+ haben+Modalverb

3,5

6,4

12,6

30,7

46,9

7

PII+sein+Modalverb

2,8

6,1

12,1

27,6

51,4

8

hätte+Inf.+Modalverb

25,8

25,4

16,9

18,8

13,1

Es fällt zunächst auf, dass die Verwendung von PI und PII von den meisten Befrag­ ten mit der höchsten Akzeptabilitätsstufe bewertet wird. Personen, die die beiden Formen als nicht akzeptabel empfinden, stellen mit einem Anteil von etwa 2 % absolute Ausnahmen dar. Die hohe Akzeptanz und die große Einigkeit in der Beurteilung der Sprecher sind Eigenschaften, die die Normkonformität sprach­ licher Strukturen charakterisieren. Daraus folgend sind das PI und PII zweifellos dem Normbereich zuzuordnen. Weiterhin lässt sich an der Tabelle keine große Differenz in der Akzeptabili­ tät zwischen den einzelnen Testsätzen für Typ 1 erkennen. Ein Zusammenhang zwischen der Aktionsart des zugrunde liegenden Verbs und der Akzeptanz ist für PII+habend somit nicht nachgewiesen. Auch bei Typ 4 weisen seine zwei Test­ sätze eine fast identische Tendenz in der Verteilung der verschiedenen Stufen der Akzeptanz auf. Dementsprechend kann man feststellen, dass die Akzeptabilität der Struktur Inf.+Modalverb nicht von der Wahl des Modalverbs beeinflusst wird. Die gleiche Verteilung der Antwortoptionen zwischen Testsätzen für Typ 1 bzw. Typ 4 deuten zudem auf die hohe Sicherheit der Informanten bei ihrer Akzeptabi­



36 

 3 Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs

Prozent

litätsbewertung hin. Dies spricht für die hohe Gültigkeit der durch die Befragung ermittelten Ergebnisse hinsichtlich der Akzeptanz der beiden genannten Typen. Für eine bessere Übersicht werden die in Tabelle 4 angegebenen Daten zusam­ mengefasst, indem der Prozentsatz der beiden ersten bzw. der beiden letzten Stufen der Skala zu jeweils einem Wert zusammengerechnet werden. Der aus der Summierung des Anteils von Stufe 1 und Stufe 2 gewonnene Wert sagt etwas darüber aus, wie oft der betreffende Typ als akzeptabel bewertet wird. Der zusam­ mengefasste Wert für Stufe 4 und Stufe 5 gibt Informationen über den Anteil der Personen, die das betreffende PA generell als nicht akzeptabel einschätzen. Der Wert für die mittlere Akzeptabilitätsstufe (Stufe 3) wird beibehalten. Befragte, die diese Stufe wählen, sind in ihrer Entscheidung möglicherweise unsicher. Im Wei­ teren wird für die drei Kontrollsätze sowie für die zwei Testsätze für Typ 1 bzw. Typ 4 jeweils ein Durchschnittswert berechnet. Das zusammengefasste Ergebnis ist in Abbildung 4 dargestellt. 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

n pe

y llt tro

n Ko

p Ty

1

p Ty

Akzeptabel

2

p Ty

3

p Ty

4

Unentschieden

p Ty

5

p Ty

6

p Ty

7

p Ty

8

Nicht akzeptabel

Abb. 4: Verteilung der Akzeptabilitätsstufen

An der Abbildung kann man ablesen, dass alle acht Kandidaten für Normabwei­ chungen im Vergleich zu den Kontrolltypen eine deutlich geringere Akzeptabilität aufweisen. Zudem ist eine höhere Unsicherheit der Sprecher bei ihrer Akzeptanz­ beurteilung deutlich erkennbar. Dies zeigt sich an dem verhältnismäßig höheren Anteil an Personen, die keine klare Entscheidung treffen können und die mittlere Akzeptanzstufe gewählt haben. Niedrigere Akzeptanz und höhere Unsicherheit sind Hinweise auf eine deutlich geringere Normhaftigkeit der acht hier interessie­ renden Partizipformen im Verhältnis zu PI und PII.





3.4 Befragung zur Akzeptabilitätsbeurteilung 

 37

Der Akzeptanzgrad variiert von Typ zu Typ sehr stark. Auf einer Skala zwi­ schen dem höchsten Akzeptanzwert37 (über 60 %) und dem niedrigsten (10 %) sind die acht Typen wie in Abbildung 5 angeordnet. Über der Linie befinden sich die Typen, die einen Akzeptanzwert von über 50 % aufweisen. Unter der waage­ rechten Achse liegen dagegen die Typen mit einem Akzeptanzwert von weniger als 50 %. Hohe Akzeptanz Typ 5: PII+werden+Modalverb Typ 4: Inf.+Modalverb Typ 8: hätte+Inf.+Modalverb Typ 1: PII+habend Typ 3: PII+werdend Typ 2: Inf.+werdend Typ 6: PII+haben+Modalverb Niedrige Akzeptanz

Typ 7: PII+sein+Modalverb

Abb. 5: Skalierung des Akzeptabilitätsgrads der Kandidaten für Normabweichungen des PA

Typ 6 und Typ 7 erweisen sich als die Typen mit der geringsten Akzeptabilität. Ihre vergleichsweise niedrigere Akzeptanz kann auf ihre strukturelle Komplexität zurückgeführt werden. So handelt es sich bei ihnen um die attributive Verwen­ dung eines dreiteiligen Verbalkomplexes. Allgemein kann angenommen werden, dass hohe Komplexität eines Strukturmusters einen hohen Aufwand bei der Sprachverarbeitung bzw. beim Verstehensprozess erfordert. Eine massive Ableh­ nung durch Sprachbenutzer ist daher bei komplexen Strukturen erwartbar. Was an dem Ergebnis der Befragung besonders überraschend ist, ist die über­ durchschnittliche Akzeptanz von Typ 5 und Typ 8. Diese zwei Typen weisen zwar im Vergleich zu Typ 6 und Typ 7 den gleichen Komplexitätsgrad auf, allerdings werden sie von der Mehrheit der Informanten als durchaus akzeptabel betrach­ tet. Der negative Effekt der Komplexität für die Akzeptabilitätsbeurteilung scheint hier nicht wirksam zu sein. Es liegt nahe, sich für eine Erklärung solcher uner­ warteten Unterschiede die Frage zu stellen, ob die Frequenz für die Entscheidung

37 Als Akzeptanzwert wird der Anteil von Befragten bezeichnet, der die betreffende Konstruk­ tion als akzeptabel bewertet.



38 

 3 Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs

eine Rolle spielt. An der Frequenz könnte es jedoch nicht liegen; alle vier Typen sind in COSMAS II nämlich äußerst selten bis kaum belegt: Frequenz: Typ 5: PII+werden+Modalverb Typ 8: hätte+Vinf+Modalverb Typ 6: PII+haben+Modalverb Typ 7: PII+sein+Modalverben

25 3 1 3

Ein Unterschied in der Häufigkeit zwischen 25 Belegen (Typ 5) und einem Beleg (Typ 6) kann nicht zu einer Differenz in der Akzeptanzbeurteilung zwischen den Typen führen. Für eine andere Erklärung sind nun die Testsätze für Typ 5 und Typ 8 genauer zu betrachten: Testsatz für Typ 5: Pastor Hensel zeigte sich erfreut über die großherzige Gabe eines nicht genannt werden wollenden Spenders.

Testsatz für Typ 8: Der durchaus tödlich hätte enden könnende Unfall eines Hockeyspielers wurde zur Komödie gemacht.

Die Fügungen „genannt werden wollen“ und „hätte enden können“ könnten in der Funktion als Prädikat so oft vorkommen, dass viele Sprachbenutzer ihre Ver­ wendung als pränominales Attribut möglicherweise nicht mehr als abweichend wahrnehmen. Geht man von dieser Überlegung aus, sollte der hohe Akzeptanz­ wert der beiden Typen nicht den normabweichenden Status der beiden Typen in Frage stellen. Schließlich ist auf die Kommentare der Befragten hinzuweisen. 78 von den 1447 Befragten haben im Kommentarfeld am Ende des Fragebogens ihre Kom­ mentare zu den hier interessierenden Strukturen abgegeben. Bei der Betrachtung der Kommentare fällt auf, dass „komisch“, „befremdlich“, „nicht gut“, „unge­ wohnt“, „merkwürdig“ und „seltsam“ Ausdrücke sind, mit denen viele Befragten die Testsätze beschreiben. Im Folgenden sind einige Beispiele aufgeführt: Die meisten Formulierungen gehen an der Wirklichkeit vorbei. […]. Außerdem klingen sie absolut komisch und machen auch das Lesen schwierig, weil sie völlig ungewohnt sind. (Her­ vorhebung von H. D.)



3.5 Fazit 

 39

komische Sätze, würde ich fast alle umformulieren. z. B. Die Bewohner, welche das Erdbe­ ben überlebt haben, wurden in Schulen untergebracht. (Hervorhebung von H. D.) Jeder Satz ist artifiziell, d. h. weder im schriftlichen noch mündlichen Sprachgebrauch üblich und zu umständlich konstruiert. „Beamtendeutsch“…(Hervorhebung von H. D.)

Es handelt sich bei diesen Wörtern um solche Eigenschaften, die eindeutig auf den normabweichenden Status einer sprachlichen Struktur im Coseriuʼschen Sinne hindeuten. Dies gilt als ein starkes Argument dafür, den hier interessieren­ den Typen den Normstatus abzusprechen.

3.5 Fazit Ausgehend von Hundts (2008) Überlegungen zur Verortung sprachlicher Grenz­ fälle im Kontinuum System-Norm-Rede wurden drei Kriterien festgelegt, die der Bewertung der Normkonformität sprachlicher Strukturen zugrunde gelegt wurden: Akzeptanz, Frequenz und Kodifizierung. Bei der Ermittlung der normab­ weichenden Verwendungen des PA dienten Beschreibungen in Grammatiken und in Forschungsarbeiten (Kodifizierung) zur Erschließung der möglichen Normab­ weichungen. Es wurden acht Typen des komplexen PA festgestellt, die als Kandi­ daten der normabweichenden PA bezeichnet werden können. Die Untersuchung der acht Typen hinsichtlich der Häufigkeit in COSMAS II und des Akzeptabili­ tätsurteils hat ihren normabweichenden Status insgesamt bestätigt. Durch eine Gegenüberstellung zu einfachen PA (PI/PII) in diesen beiden Hinsichten sowie durch eine Betrachtung der Kommentare der Informanten wurde ihr normabwei­ chender Status deutlicher. In der Abbildung des Coseriuʼschen Modell von System-Norm-Rede (siehe Abbildung 2) wären die acht Typen dem Bereich innerhalb der Rede, jedoch außerhalb der Norm zuzuordnen.38

38 Im Hinblick auf das Verhältnis System-Norm-Rede gibt es im Bereich von komplexen PA auch Konstruktionen, deren Bildung zwar theoretisch möglich ist, jedoch von Sprachbenutzern nicht gebraucht wird. Ein Beispiel hierfür ist die attributive Verwendung des sog. Doppelperfekts. Die Existenz des Doppelperfekts (die Frau hat in Gießen Germanistik studiert gehabt) als eine mög­ liche Tempusform des deutschen Tempussystems ist in vielen Arbeiten nachgewiesen worden (u. a. Hennig 2000, Buchwald-Wargenau 2012). Wenn aus „der Mann hat das Buch gelesen“ das PA „der das Buch gelesen habende Mann“ gebildet werden kann, müsste die Bildung von „die in Gießen studiert gehabt habende Frau aus dem oben genannten Satz vom System her möglich sein. Jedoch ist die Konstruktion PII+gehabt+habend im COSMAS II nicht belegbar. Sie ist also im System angelegt, ist in der Rede jedoch (noch) nicht realisiert.



40 

 3 Ermittlung der normabweichenden Verwendungen des Partizipialattributs

In methodischer Hinsicht hat die Untersuchung gezeigt, wie wichtig es ist, für die Bewertung des Normstatus einer fragwürdigen Struktur gleichzeitig alle drei Parameter zu berücksichtigen. Zwar gilt der hohe Akzeptabilitätsgrad als das Hauptmerkmal einer normkonformen Struktur; seine Rolle für die Bewertung der Norm muss jedoch in bestimmten Fällen relativiert werden. Bei einem Akzeptanz­ urteil handelt es sich ja letztendlich um das subjektive Empfinden des Befragten, das unter dem Einfluss vieler Faktoren stehen kann. So ist es durchaus möglich, dass der ermittelte Akzeptanzwert keine zuverlässige Basis für eine angemessene Bewertung des Normstatus einer fragwürdigen Struktur bieten kann. Geht man von einem engen Zusammenhang zwischen Frequenz und Akzeptanz aus, wobei die Beurteilung einer Struktur als ‚üblich‘, als ‚geläufig‘ bzw. als ‚allgemeingültig‘ grundsätzlich einen gewissen Grad der Verbreitung ihres Gebrauchs vorausset­ zen soll, ist eine unerwartet hohe Akzeptanz bei einer extrem niederfrequenten Struktur als ein Hinweis auf das Eintreten von Störfaktoren zu betrachten. In unserem Fall wäre es aufgrund des extrem geringen Vorkommens von Typ 5 und Typ 8 nicht adäquat, sie als dem Normbereich angehörend aufzufassen, auch wenn sie einen Akzeptanzwert von über 50 % aufweisen. Für diese Entscheidung spricht auch die Tatsache, dass die beiden Typen in Grammatiken bisher gar keine Berücksichtigung gefunden haben.



4 Theoretische Grundlagen zur Untersuchung der ‚Systemkonformität‘ von PII+habend Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, ein theoretisches Konzept zur Bestimmung der Systemkonformität grammatischer Strukturen zu erarbeiten. Dazu werden aus Coserius Verständnis vom ,Sprachsystem‘ Kriterien für die Systemhaftigkeit39 einer sprachlichen Struktur abgeleitet (Kapitel 4.1). Da die Coseriuʼschen Krite­ rien sich auf die sprachlichen Erscheinungsformen im Allgemeinen beziehen, stellt sich die Frage, wie diese Kriterien aus der Perspektive des grammatischen Systems beschrieben werden können. Die Behandlung dieser Frage stellt den Gegenstand der Kapitel 4.2 und 4.3 dar.

4.1 Sprachsystem nach Coseriu Das Sprachsystem wird von Coseriu als ein „funktionelles System“, als ein „System von funktionellen Oppositionen“ aufgefasst. Ein wesentliches Merkmal systemhafter Strukturen liegt also in ihrer Funktion, Bedeutungen zu unterschei­ den. Dieser Gedanke kommt in Coserius Arbeiten (1974, 1988/2007) an mehreren Stellen zum Ausdruck: System ist das, was in einer Sprache möglich ist aufgrund der Unterscheidungen, die diese Sprache macht […]. (Coseriu 1988/2007: 52) Das Sprachsystem […] umfasst […] die inhaltlichen und materiellen unterscheidenden („distinktiven“) Oppositionen. (Coseriu 1988/2007: 267) Bei den Strukturen, die die Sprache konstituieren, ist es wichtig zu unterscheiden zwischen dem, was einfach normal oder allgemein ist (Norm), und dem, was oppositionell oder funk­ tionell ist (System). (Coseriu 1974: 46) Allgemein lässt sich also sagen, dass eine funktionelle Sprache (eine Sprache, die man sprechen kann) ein „System von funktionellen Oppositionen und normalen Realisierun­ gen“ oder, besser gesagt, System und Norm ist. (Coseriu 1974: 47, Hervorhebung im Original)

39 ,Sytemkonformität‘ und ,Sytemhaftigkeit‘ werden in der Arbeit synonym verwendet: eine sprachliche Einheit ist systemkonform/systemhaft, wenn sie eine Realisierung des Systems dar­ stellt.



42 

 4 Theoretische Grundlagen zur Untersuchung der ‚Systemkonformität‘

Eine sprachliche Einheit stellt somit eine Realisierung des Systems dar, wenn sie Bedeutungsunterschiede signalisiert. Sie bildet mit einer anderen sprachli­ chen Einheit eine sog. funktionelle Opposition, denn nur in Gegenüberstellung zu dieser wird ihre bedeutungsunterscheidende Funktion deutlich. Die ‚Systemkon­ formität‘ sprachlicher Formen besteht in diesem Sinne zunächst in ihrer ‚Funkti­ onalität‘. ‚Funktionalität‘ kann somit als das erste Kriterium der ‚Systemkonfor­ mität‘ sprachlicher Strukturen aufgefasst werden. Die zweite wichtige Eigenschaft des Sprachsystems wird mit dem Begriff „Verfahren des Sprachschaffens“ beschrieben: Das System umfasst die idealen Realisierungsformen einer Sprache, das heißt, die Technik und die Regeln des entsprechenden Sprachschaffens. (Coseriu 1974: 47 f., Hervorhebung im Original) Das Sprachsystem […] umfasst […] (virtuell) alles, was in einer Sprache aufgrund ihrer schon bestehenden bedeutungsrelevanten Unterscheidungen und Verfahren zu deren Ausdruck möglich, d. h. realisierbar ist: Einheiten, Kombinationen und konkrete Oppositionen, die in der Sprachnorm nicht (bzw. noch nicht) existieren […] (Coseriu 1988/2007: 267, Hervor­ hebung von H. D.)

Eine funktionelle Sprache verfügt über bestimmte „Verfahren“ und „Techniken“, mit deren Hilfe bedeutungsrelevante Unterscheidungen sprachlich realisiert werden können. Da gerade das Innehaben der bedeutungsunterscheidenden Funktion die Systemhaftigkeit einer sprachlichen Struktur charakterisiert, kann man schlussfolgern, dass eine systemhafte sprachliche Einheit zugleich als ein Produkt der Verwendung der von der Sprache bereit gestellten Verfahren zum Ausdruck bestimmter Inhalte zu verstehen ist. Es lässt sich demnach das zweite Kriterium zur Bewertung der ‚Systemkonformität‘ sprachlicher Strukturen ablei­ ten: Eine sprachliche Einheit stellt eine vom System gebotene Möglichkeit dar, wenn sie auf der Grundlage von verfügbaren ‚Verfahren des Sprachschaffens‘ „geschaffen“ wird. Insgesamt kann eine sprachliche Struktur als ‚systemkonform‘ betrachtet werden, wenn – sie gegenüber einer anderen Struktur funktional, d. h. bedeutungsunter­ scheidend ist (Kriterium 1: Funktionalität). und – ihrer Herausbildung ein bestimmtes Verfahren des „Sprachschaffens“ zugrundeliegt (Kriterium 2: Verfahren des Sprachschaffens).





4.2 Funktionalität grammatischer Strukturen 

 43

4.2 Funktionalität grammatischer Strukturen 4.2.1 Vorüberlegungen Um das Kriterium ,Funktionalität‘ auf die Bewertung der ‚Systemkonformität‘ sprachlicher Strukturen im Bereich Grammatik anzuwenden, ist es erforderlich, den Begriff ,Funktionalität‘ in Bezug auf grammatische Formen zu präzisieren. Es ist nämlich zu klären, was ,Funktionalität grammatischer Einheiten‘ bedeutet. Hierzu werden folgende Überlegungen zugrunde gelegt: – Das grammatische System ist kategorial organisiert. Es ist also ein System von grammatischen Kategorien. Dies bedeutet, dass grammatische Kategorien als konstituierende Bestandteile des grammatischen Systems zu verstehen sind (Annahme 1). – Allgemein kann angenommen werden, dass die Systemkonformität gramma­ tischer Formen in ihrer Zugehörigkeit zum grammatischen System einer Ein­ zelsprache besteht. Zugehörigkeit zu einem System bedeutet ein Bestandteil dieses Systems zu sein. Gemäß Annahme 1 stellen grammatische Kategorien konstituierende Bestandteile des grammatischen Systems dar. Eine sprachliche Einheit kann in diesem Zusammenhang als ein Bestandteil des grammatischen Systems und somit als systemkonform angesehen werden, wenn sie eine grammatische Kategorie ist, oder genauer gesagt, wenn sie die Realisierung einer grammatischen Kategorie darstellt (Annahme 2). – Grammatische Kategorien weisen typische Eigenschaften auf; diese Eigen­ schaften gelten wiederum als Kriterien zur Bewertung des kategorialen Status sprachlicher Einheiten im grammatischen System. Mit Bezug auf Annahme 2 sind Eigenschaften grammatischer Kategorien folglich als Kriterien der Systemkonformität grammatischer Strukturen aufzufassen (Annahme 3). – Ausgehend von Coseriu wird ,Funktionalität‘ als eine Bedingung bzw. ein Kriterium der ‚Systemkonformität‘ sprachlicher Strukturen betrachtet (Annahme 4).40 – Annahme 3 und Annahme 4 legen die Vermutung über einen engen Zusammenhang zwischen grammatischen Kategorien und der Coseriuʼschen Funktionalität nahe. Wenn dieser Zusammenhang nachgewiesen wäre, könnten Eigenschaften grammatischer Kategorien auch als Kriterien zur Bestimmung der Funktionalität grammatischer Einheiten angesehen werden. Auf diese Weise lässt sich dann ggf. der Begriff ,Funktionalität‘ grammatischer Einhei­ ten genauer erläutern.

40 Vgl. hierzu Kapitel 4.1.



44 

 4 Theoretische Grundlagen zur Untersuchung der ‚Systemkonformität‘

– Die These von einem Zusammenhang zwischen Eigenschaften grammati­ scher Kategorien und der ,Funktionalität‘ sprachlicher Einheiten lässt sich überprüfen, indem beide Begriffe ,grammatische Kategorien‘ und ,Funktio­ nalität‘ aufeinander bezogen werden. Die oben ausgeführten Überlegungen führen zum folgenden Vorgehen bei der Ausarbeitung der Kriterien von Funktionalität grammatischer Strukturen: Durch eine Erläuterung des Begriffs ,grammatische Kategorien‘ sollen zunächst wich­ tige Eigenschaften grammatischer Kategorien beschrieben werden. Diese Eigen­ schaften stellen Merkmale der Systemkonformität grammatischer Elemente dar (Kapitel 4.2.2). Anschließend werden die Merkmale der Systemhaftigkeit gram­ matischer Kategorien und der Funktionalität sprachlicher Formen in Beziehung gesetzt, um den Zusammenhang zwischen ihnen zu erfassen (Kapitel 4.2.3). Wie noch gezeigt wird, wird sich dieser Zusammenhang als gegeben erweisen. Auf der Grundlage dieses Ergebnisses erfolgt schließlich die Festlegung von Kriterien zur Ermittlung der Funktionalität grammatischer Strukturen (Kapitel 4.2.4).

4.2.2 Eigenschaften grammatischer Kategorien Was unter einer grammatischen Kategorie zu verstehen ist, wird in der Linguistik unterschiedlich aufgefasst (vgl. Diewald 1997: 9). In der vorliegenden Arbeit wird von dem traditionell geläufigsten Verständnis von grammatischen Kategorien ausgegangen, das Diewald folgendermaßen zusammenfasst: Die grammatischen Kategorien einer Sprache sind ihre obligatorisch realisierten gramma­ tischen Inhalte […], die ein kleines geschlossenes Paradigma bilden und in definierten, geordneten Oppositionen stehen. (Diewald 1997: 9)

Aus dem Zitat geht hervor, dass ‚Paradigmatizität‘ und ‚Obligatorik‘ als zwei wesentliche Charaktereigenschaften grammatischer Kategorien angesehen werden. Die Paradigmatizität grammatischer Kategorien besteht darin, dass diese sich in relevante Unterscheidungen gliedern und ein geschlossenes Para­ digma bilden. Das Präsens und das Präteritum sind Subkategorien der Tempus­ kategorie im Deutschen, weil mit ihnen unterschiedliche zeitliche Einordnungen des dargestellten Geschehens verbunden sind. Sie bilden sozusagen (zusammen





4.2 Funktionalität grammatischer Strukturen 

 45

mit anderen Tempusformen) das Tempusparadigma.41 Die Organisation in para­ digmatischen Oppositionen stellt nach Moskalskaja (1975) die Systemhaftigkeit grammatischer Kategorien dar: Der systemhafte Charakter der grammatischen Kategorien findet seinen Ausdruck vor allem darin, dass jede grammatische Kategorie eine geschlossene Gegenüberstellung (eine geschlossene Korrelation) von Formen und grammatischen Inhalten ist. Der Indikativ exis­ tiert nur, sofern es einen Konjunktiv gibt, ihre Gegenüberstellung konstituiert die Katego­ rie des Modus […]. Das Vorhandensein einer geschlossenen Reihe von Gegengliedern ist die Daseinsbedingung und Daseinsform der grammatischen Kategorien“ (Moskalskaja 1975:72, Hervorhebung im Original).

Eng mit der ‚Paradigmatizität‘ ist die ‚Obligatorik‘ verbunden. Diewald (2008a: 6) bezeichnet‚ Paradigmatizität‘ und ‚Obligatorik‘ als „die beiden Seiten einer Medaille.“ Grammatische Bedeutungen seien in Paradigmen organisiert, die obli­ gatorisch zu realisieren sind. Das Tempus ist bspw. eine grammatische Kategorie des Verbs im Deutschen. Die Realisierung des Tempus ist im Deutschen für jeden finiten Satz obligatorisch (vgl. Diewald 1997: 23). Der Sprecher des Deutschen ist sozusagen verpflichtet, eine Tempusform des Tempusparadigmas zu wählen, um das ausgedrückte Ereignis zeitlich zu lokalisieren. Wird die Tempuskategorie nicht beachtet, entsteht eine ungrammatische Äußerung. ,Obligatorik‘ wird bei Lehmann (1992: 137 ff.) unter dem Begriff ,paradigma­ tische Variabilität‘ („paradigmatic variability“) behandelt. Er unterscheidet zwei Typen der paradigmatischen Variabilität: die transparadigmatische und intra­ paradigmatische Variabilität. Der erste Typ betrifft das Ausmaß der Wahlfreiheit einer Kategorie bzw. eines Paradigmas als Ganzes. Der zweite Typ bezieht sich auf die Selektion zwischen Subkategorien einer Kategorie bzw. zwischen oppositiven Mitgliedern innerhalb eines Paradigmas (vgl. Diewald 2008a: 9). Die obligatori­ sche Realisierung der Tempuskategorie im Deutschen, wie sie oben beschrieben wird, kann als ein Beispiel für die transparadigmatische Variabilität betrachtet werden. Welche Tempusform (Präsens, Präteritum oder Futur I usw.) die obliga­ torische Wahl darstellt, ist hingegen eine Frage der intraparadigmatischen Vari­ abilität.

41 Das Präsens kann in bestimmten Kontexten auch Vergangenheitsbezug ausdrücken und un­ terscheidet sich in dieser Funktion nicht vom Präteritum. Für die Deutung als Ausdruck eines vergangenen Geschehens werden jedoch besondere Kontextbedingungen benötigt, während die Verortung eines Geschehens auf die Vergangenheit durch das Präteritum angezeigt wird. In diesem Sinne kann von einer paradigmatischen Opposition zwischen Präsens und Präteritum gesprochen werden.



46 

 4 Theoretische Grundlagen zur Untersuchung der ‚Systemkonformität‘

Je nachdem, welche Faktoren die Auswahl eines Mitglieds eines grammati­ schen Paradigmas beeinflussen, unterscheidet Diewald (2008a, vgl. 2008b) zwei Typen von Obligatorik: die kommunikative und die sprachinterne Obligatorik. Kommunikative Obligatorik liegt vor, wenn die Obligatorik „einer intentional-kom­ munikativ motivierten Auswahl durch den Sprecher unterworfen“ ist (2008a: 11). Als ein Beispiel hierfür nennt Diewald die Diathesen-Optionen42 im Deutschen. Sie stellt fest, dass es im Deutschen keinen sprachlichen Kontext gibt, in dem die Verwendung des Passivs zwingend ist. Die Wahl des Aktivs oder Passivs ist „eine Frage der Sprecherperspektive und nicht von der linguistischen Struktur deter­ miniert“ (ebd.: 11). Die Auswahlregel in solchen Fällen muss nach Diewald daher in Bezug auf die Sprecherintention in Form des Konditionalsatzes „Wenn Intention X, dann Form Y“ umgeschrieben werden (ebd.: 10). Das werden- Passiv wird bspw. gebraucht, wenn der Sprecher will, dass das Patiens zum Subjekt wird (ebd.: 11). Auch die Art der Auswahl einer Tempusform im Tempuspara­ digma kann m. E. als ein weiteres Beispiel für kommunikative Obligatorik betrach­ tet werden, da die Wahl durch die kommunikativen Bedingungen und durch die Intention des Sprechers gesteuert wird. Wenn der Sprecher die Vorvergangenheit des Ausgedrückten explizit durch ein grammatisches Mittel signalisieren und dem Leser dadurch die Rekonstruktion der Zeitbezüge durch kontextuelle Fakto­ ren ersparen möchte, dann wird i. d. R. das Plusquamperfekt gewählt. Die kom­ munikative Obligatorik ist nach der Autorin keine Obligatorik im strengen Sinne. Bei einer strengen Obligatorik wird die Auswahl eines Elements im Paradigma von sprachinternen Regeln gesteuert. Beispiele hierfür seien die Genuskongru­ enz von attributiven Adjektiven oder die Kasusmarkierung von Nominalphrasen. Diesen Typ der Obligatorik bezeichnet Diewald als sprachinterne Obligatorik. Ihre Auswahlregel wird als die Bedingung „Wenn Form X, dann Form Y“ formuliert. Die Nichtbeachtung dieser Regel kann zu grammatisch falschen Äußerungen führen (ebd.: 9). Mit dem Hinweis auf die Tatsache, dass es sprachliche Einhei­ ten gibt, deren Auswahl zwar nicht sprachinternen Regeln, also keiner strengen Obligatorik unterworfen ist, die aber zurecht als grammatische Kategorien einer Sprache anerkannt werden, kommt Diewald zu der folgenden Schlussfolgerung: Das Kriterium der sprachinternen Obligatorik als Definitionskriterium grammatischer Funktionen bzw. Kategorien greift also nur im Kernbereich der flexivischen grammatischen Kategorien. Man kann daher die Behauptung aufstellen, dass das Kriterium der strengen Obligatorik als eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für den Status eines Zeichens als grammatisches Zeichen ist.“ (ebd.: 11, Hervorhebung von H. D.)

42 Zu Diathesen-Optionen zählt Diewald die Aktivkonstruktion und die zwei Passivkonstruktio­ nen werden- Passiv und bekommen-Passiv (ebd.: 10).





4.2 Funktionalität grammatischer Strukturen 

 47

Diewalds Unterscheidung zwischen kommunikativer und sprachinterner Obliga­ torik ist m. E. insofern sinnvoll, als sie eine Erklärung für die Anerkennung des grammatischen Status vieler grammatischer Strukturen bietet, auch wenn eine Obligatorik im strengen Sinne bei diesen nicht vorliegt. M.a.W.: Wenn Obligato­ rik ein absolutes Kriterium für die Bestimmung grammatischer Kategorien sein soll, kann der vielen linguistischen Einheiten zuerkannte Status als grammati­ sche Kategorie trotz des Nicht-Erfüllens der Bedingung der strengen Obligatorik nur gerechtfertigt werden, wenn neben einer sprachinternen (also strengen) auch eine kommunikativ pragmatisch gesteuerte Obligatorik angesetzt wird.43 Eine weitere Eigenschaft grammatischer Kategorien wird mit dem Begriffs­ paar ,Markiertheit‘ vs. ,Unmarkiertheit‘ beschrieben. Mitglieder eines grammati­ schen Paradigmas sind i. d. R. nichtgleichberechtigt, sondern weisen eine asym­ metrische Beziehung auf (Eisenberg 2006: 18). Die Asymmetrie besteht darin, dass das eine Mitglied markiert bzw. merkmalhaltig gegenüber der Unmarkiert­ heit bzw. Merkmallosigkeit eines anderen Mitglieds ist. Der Begriff ,Markiertheit‘ vs. ,Unmarkiertheit‘ grammatischer Kategorien geht auf Jakobson (1971) zurück: Falls die Kategorie I [markiert] das Vorhandensein von A ankündigt, so kündigt die Katego­ rie II [unmarkiert] das Vorhandensein von A nicht an, d. h. sie besagt nicht, ob A anwesend ist oder nicht. Die allgemeine Bedeutung der merkmallosen Kategorie II im Vergleich zu der merkmalhaltigen Kategorie I beschränkt sich auf den Mangel der „A-Signalisierung“. (Jakobson 1971: 3)

Nach dieser Definition kann das Präsens im Deutschen als unmarkiert gegen­ über jeder anderen Tempusform des Tempusparadigmas, bspw. dem Präteritum, betrachtet werden. Das Präteritum „kündigt“ immer den Vergangenheitsbezug des Dargestellten „an“; das Präsens signalisiert nicht, ob das Dargestellte ver­ gangen ist oder nicht. Während das Präteritum hinsichtlich der Funktion, Ver­ gangenes zum Ausdruck zu bringen, festgelegt ist, ist die temporale Deutung des Präsens kontextabhängig. Zwar kann das Präsens in bestimmten Kontexten auch auf ein vergangenes Geschehen Bezug nehmen, es ist aber hinsichtlich dieser Bedeutung unspezifiziert. Das Präsens steht insgesamt als das unmarkierte NullElement dem Präteritum als dem markierten Element gegenüber. Im Anschluss an die Jakobson´sche Tradition sieht Diewald (2008a) die Asymmetrie auch als ein typisches Merkmal grammatischer Kategorien an. So definiert sie eine gram­ matische Kategorie als „Opposition zwischen mindestens zwei Einheiten, deren unmarkiertes Element typischerweise durch ein Null-Element repräsentiert ist“

43 Wie noch zu zeigen ist, ist die Annahme der kommunikativen Obligatorik auch relevant für die Bestimmung der Systemhaftigkeit von PII+habend (vgl. Kapitel 5.1 und 5.2.5).



48 

 4 Theoretische Grundlagen zur Untersuchung der ‚Systemkonformität‘

(ebd.: 7, Hervorhebung von H. D.). Der Ausdruck „typischerweise“ deutet darauf hin, dass die asymmetrische Beziehung zwischen Mitgliedern einer Opposition nicht zwingend vorliegen muss. Dies hängt offensichtlich damit zusammen, dass nicht jedes grammatische Paradigma zwei Mitglieder umfasst. So stellt Eisenberg (2006: 20) fest, dass es viele Kategorien gibt, „die nicht in Paaren, sondern in Trippeln oder Quadrupeln auf[treten]“ und fordert daraufhin „einen relativen Begriff von Markiertheit.“ Da es in jedem Paradigma nur ein Nullelement gibt, kann ein Markiertheitsverhältnis im Jakobsonʼschen Sinne möglicherweise nur zwischen diesem unmarkierten Mitglied und jedem anderen markierten Mit­ glied vorliegen, nicht jedoch zwischen jeweils zwei beliebigen Mitgliedern. Das Modusparadigma im Deutschen besteht bspw. aus drei Mitgliedern: Indikativ, Konjunktiv I und Konjunktiv II. Der Indikativ ist das unmarkierte Element, er ist hinsichtlich des Ausdrucks der Modalität unspezifiziert (Heidolp/Flämig/Morsch 1981:522, Eisenberg 2006:114). Der Konjunktiv I und Konjunktiv II haben die Rolle als markierte Elemente; sie besitzen jeweils eine spezifische Funktion: Der Kon­ junktiv I dient zum Ausdruck der Indirektheit, der Konjunktiv II zum Ausdruck der Potentialität und Irrealität (Eisenberg 2006: 115 ff.). Die Beziehung des Indi­ kativs zum Konjunktiv I bzw. zum Konjunktiv II ist asymmetrisch, während ein asymmetrisches Verhältnis zwischen beiden Konjunktiven aufgrund ihrer Merk­ malhaftigkeit nicht angenommen werden kann.44 Insgesamt lassen sich an dieser Stelle drei Charaktereigenschaften gramma­ tischer Kategorien festhalten: Organisation in paradigmatischen Oppositionen, Obligatorik und Asymmetrie bzw. Markiertheitsbeziehung. Während Obligatorik und Paradigmatizität einen definitorischen Charakter haben, stellt Asymmetrie ein fakultatives Merkmal dar. In der Grammatikalisierungstheorie, die sich mit der Entwicklung lexikalischer Zeichen zu grammatischen Zeichen beschäftigt,45 werden Paradigmatizität und Obligatorik als zwei wichtige Parameter zur Ermitt­ lung des Grammatikalisierungsgrads sprachlicher Formen betrachtet (u. a. Diewald 1997, Szczepaniak 2011). Mit Hilfe von ihnen kann man nämlich festlegen, inwiefern sich eine lexikalische Einheit in das grammatische System integriert hat. In der vorliegenden Arbeit, in der die Systemhaftigkeit einer sprachlichen Struktur im Grammatiksystem im Vordergrund steht, können die beiden Merk­ male grammatischer Kategorien auch als Kriterien zur Festlegung der System­ haftigkeit sprachlicher Einheiten angewendet werden. Der Zusammenhang zwi­

44 Die Beobachtung, dass Mitglieder eines grammatischen Paradigmas nicht immer ein Mar­ kiertheitsverhältnis aufweisen müssen, hat Konsequenzen für die Bestimmung der Funktionali­ tät grammatischer Strukturen (vgl. Kapitel 4.2.3). 45 Zum Begriff ‚Grammatikalisierung‘ siehe auch Kapitel 6.1.





4.2 Funktionalität grammatischer Strukturen 

 49

schen dem Grammatikalisierungsgrad und der Systemhaftigkeit grammatischer Zeichen ist offensichtlich: Die Systemhaftigkeit grammatischer Strukturen setzt ihre Integration in das grammatische System voraus. Aber auch unabhängig von der Grammatikalisierungstheorie ist die Betrachtung der Eigenschaften gramma­ tischer Kategorien als Bedingungen der Systemkonformität grammatischer Struk­ turen bereits in Kapitel 4.2.1 begründet worden: Grammatische Kategorien stellen ,Bausteine‘ des Grammatiksystems einer Sprache dar; die Zuerkennung der Sys­ temzugehörigkeit und somit der Systemhaftigkeit einer grammatischen Struktur setzt voraus, dass diese die Eigenschaften einer grammatischen Kategorie auf­ weisen. ‚Paradigmatizität‘, ‚Obligatorik‘ und (‚Markiertheitsverhältnis‘) können so gesehen als Kriterien zur Bestimmung der ‚Systemkonformität‘ grammatischer Einheiten aufgefasst werden.

4.2.3 Zusammenhang zwischen Eigenschaften grammatischer Kategorien und ‚Funktionalität‘ Im Folgenden werden einige Überlegungen zur Frage angestellt, wie sich die ‚Funktionalität‘, die ausgehend von Coseriu als ein Kriterium der ‚Systemkonfor­ mität‘ sprachlicher Formen betrachtet wird, zu den genannten Kriterien der Sys­ temhaftigkeit grammatischer Einheiten verhält (‚Paradigmatizität‘, ‚Obligatorik‘ und ‚Markiertheitsverhältnis‘).

Beziehung zwischen ‚Funktionalität‘ und ‚Paradigmatizität‘ Wie in Kapitel 4.1 beschrieben, wird eine sprachliche Einheit als funktional betrachtet, wenn sie bedeutungsunterscheidend ist. Ganz offensichtlich handelt es sich bei dieser Eigenschaft sprachlicher Strukturen (‚Funktionalität‘) um das, was auf der Ebene der Grammatik als ‚Paradigmatizität‘ grammatischer Katego­ rien bezeichnet wird.

Beziehung zwischen ‚Funktionalität‘ und ‚Obligatorik‘ Es gilt darüber hinaus zu fragen, ob ‚Obligatorik‘ ebenfalls unter dem Aspekt ‚Funktionalität‘ beschrieben werden kann. Bezüglich dieser Frage steht es außer Zweifel, dass die obligatorische Auswahl einer grammatischen Einheit davon abhängt, ob bzw. inwiefern sich ihre Funktion von der Funktion anderer Mitglie­ der im Paradigma unterscheidet. Ob bzw. inwieweit der Gebrauch des Präteri­ tums in einem gegebenen Kontext zwingend ist (‚kommunikative Obligatorik‘), ist bspw. dadurch gesteuert, ob bzw. inwiefern die Verwendung des Präsens in 

50 

 4 Theoretische Grundlagen zur Untersuchung der ‚Systemkonformität‘

demselben Kontext auch den Vergangenheitsbezug des Geschehens ausdrücken kann (‚Funktionalität‘). Wenn die beiden Tempusformen bei einem neutralen Kontext46 eine funktionale Opposition im Tempusparadigma bilden, ist die Wahl des Präteritums obligatorisch, denn nur somit kann der vom Sprecher intendierte Zeitbezug des Dargestellten zum Ausdruck gebracht werden. Die Frage nach der Obligatorik kann daher nicht getrennt von der Frage nach der Funktionalität behandelt werden.

Beziehung zwischen ‚Funktionalität‘ und ‚Markiertheitsverhältnis‘ Schließlich ist die Beziehung zwischen der Funktionalität sprachlicher Struktu­ ren und der Markiertheit/Unmarkiertheit grammatischer Kategorien zu klären. Die Grundsatzfrage, die sich hier stellt, lautet: Kann das Markiertheitsverhältnis als ein Kriterium zur Bestimmung der Funktionalität angesehen werden? Dies­ bezüglich kann man sagen, dass das Vorliegen des Markiertheitsverhältnisses zwischen zwei Kategorien X und Y einen Hinweis auf ihre Funktionalität gibt. Die Funktionalität sprachlicher Strukturen besteht ja in ihrer Eigenschaft, Bedeu­ tungen zu unterscheiden. Das Vorhandensein einer asymmetrischen Beziehung zwischen zwei Formen X und Y bedeutet, dass eine von diesen das (unmarkierte) Nullelement (angenommen X) darstellt, das dem anderen als dem markierten Element (Y) gegenüber steht. Der Bedeutungsunterschied zwischen der unmarkierten Kategorie X und der markierten Kategorie Y besteht in diesem Fall darin, dass mit Y eine bestimmte Bedeutung verbunden ist, während X keine feste Bedeutung besitzt.47 Wie in Kapitel 4.2.2 bereits erläutert, betrifft diese Art der Bedeutungsun­ terscheidung jedoch nur das Verhältnis zwischen einem Nullelement und einem markierten Element eines grammatischen Paradigmas. Nicht jede grammatische Kategorie besteht aus zwei Elementen. Es gibt viele Kategorien, die drei oder vier Subkategorien umfassen. Da die Organisation in paradigmatischen Oppositio­ nen, d. h. die Funktionalität, eine Bedingung für die Anerkennung einer sprach­ lichen Einheit als eine grammatische Kategorie ist, müsste bei solchen Paradig­ men neben der Funktionalität im oben beschriebenen Sinne eine andere Art der Bedeutungsunterscheidung angenommen werden. Das ist die Bedeutungsunter­

46 Die temporale Deutung eines Geschehens wird durch eine Reihe von kontextuellen Fakto­ ren konstituiert (vgl. Kapitel 5.2.3.1.4). Für die Entscheidung, ob die Tempusformen bedeutungs­ unterscheidend sind, müssen daher relevante Kontextbedingungen berücksichtigt werden. Bei einem neutralen Kontext lässt sich der Grad der Funktionalität der Tempora am deutlichsten feststellen. 47 Diese Schlussfolgerung beruht auf der auf Jakobson 1971 zurückgehenden Definition von Markiertheit und Unmarkiertheit grammatischer Kategorien (vgl. Kapitel 4.2.2).





4.2 Funktionalität grammatischer Strukturen 

 51

scheidung zwischen den markierten Elementen. Bei dieser Art der Funktionalität ist jedes grammatische Element auf eine bestimmte Bedeutung festgelegt, sodass das Auftreten eines Elements jeweils eine (feste) Funktion „ankündigt“. Bei grammatischen Paradigmen mit mehr als zwei Mitgliedern ist zusammenfassend notwendigerweise von zwei Arten der funktionellen Opposition auszugehen: Die Opposition zwischen dem markierten und unmarkierten Mitglied (Funktionalität I) einerseits und die zwischen zwei markierten Mitgliedern (Funktionalität II) andererseits. Das Vorhandensein des Markiertheitsverhältnisses deutet somit lediglich auf das Vorliegen eines speziellen Typs der bedeutungsunterscheiden­ den Funktion grammatischer Formen, der Funktionalität I, hin. Die Asymmetrie kann folglich als ein hinreichendes, aber kein notwendiges Kriterium der Funk­ tionalität betrachtet werden. Die bisherigen Darstellungen zeigen insgesamt eine enge Beziehung zwi­ schen den drei Eigenschaften grammatischer Kategorien einerseits sowie zwi­ schen diesen und der Funktionalität sprachlicher Formen andererseits. Die enge Verwandtschaft zwischen ‚Paradigmatizität‘, ‚Obligatorik‘ und (‚Markiert­ heitsverhältnis‘) besteht darin, dass diese drei Begriffe im Grunde genommen verschiedene Dimensionen der bedeutungsunterscheidenden Funktion (,Funk­ tionalität‘) grammatischer Strukturen darstellen. Begriffe, die die Eigenschaften grammatischer Kategorien beschreiben, können folglich verwendet werden, um den Begriff ,Funktionalität‘ grammatischer Strukturen näher zu definieren. Eine nähere Bestimmung des Kriteriums ,Funktionalität‘ zur Ermittlung der ‚System­ konformität‘ grammatischer Formen wird im folgenden zusammenfassenden Kapitel vorgenommen.

4.2.4 Fazit: Zu Kriterien der ‚Funktionalität‘ Eine grammatische Struktur A kann als funktional gegenüber einer anderen Struktur B bezeichnet werden, wenn die Kriterien ‚Paradigmatizität‘, ‚Obligato­ rik‘ und (‚Markiertheitsverhältnis‘)48 nachgewiesen sind: – Die Paradigmatizität zeigt sich dadurch, dass A und B eine funktionelle Opposition bilden. Dies bedeutet, dass (1) A eine grammatische Funktion realisiert, und

48 Dieses Kriterium wird in Klammern gesetzt, weil es nicht bei jeder grammatischen Kategorie auftreten muss.



52 

 4 Theoretische Grundlagen zur Untersuchung der ‚Systemkonformität‘

(2) die durch A realisierte Funktion sich von der durch B realisierten Funk­ tion unterscheidet. Dabei werden zwei Typen der Bedeutungsunterscheidung angenommen: ‚Funktionalität I‘ und ‚Funktionalität II‘. Bei ‚Funktionalität I‘ ist eine der beiden grammatischen Strukturen nicht auf eine bestimmte Funktion fest­ gelegt, sie ist also semantisch unmarkiert. Bei ‚Funktionalität II‘ besitzen die beiden Strukturen jeweils eine feste Bedeutung, ihr Auftreten „signalisiert“ das Vorhandensein dieser spezifischen Funktion. – Die Obligatorik liegt vor, wenn der Gebrauch von A obligatorisch ist. Im Anschluss an Diewald (2008a) wird die Unterscheidung zwischen sprachinterner und kommunikativer Obligatorik vorgenommen. Die Struktur A unter­ liegt einer sprachinternen Obligatorik, wenn ihre Wahl von sprachinternen Regeln gesteuert wird. Von einer kommunikativen Obligatorik ist die Rede, wenn ihre Wahl durch die Sprecherabsicht sowie durch die kommunikativen Bedingungen motiviert ist (ebd.: 9 ff.) – (Das Markiertheitsverhältnis liegt vor, wenn A hinsichtlich einer bestimm­ ten Bedeutung festgelegt ist, während diese Bedeutung bei B nicht immer vorliegt.) Die genannten Kriterien liefern die theoretische sowie methodische Grundlage für die in Kapitel 5 vorgestellte Überprüfung der These von der Funktionalität von PII+habend. Dabei ist anzumerken, dass ‚Paradigmatizität‘ und ‚Obligatorik‘ als definitorische Kriterien der ‚Funktionalität‘ angesehen werden können, während das Vorhandensein des ‚Markiertheitsverhältnisses‘ keine notwendige Bedin­ gung darstellt.

4.3 Verfahren zur Herausbildung grammatischer Strukturen Um einer sprachlichen Einheit eine Position im Sprachsystem zuzuweisen, muss neben ihrer Funktionalität nachgewiesen werden, dass ihre Herausbildung bestimmten ‚Verfahren des Sprachschaffens‘ unterliegt (vgl. Kap. 4.1). Der Begriff ‚Verfahren des Sprachschaffens‘ wird in Coserius Arbeiten noch recht allgemein formuliert. Für den Zweck der vorliegenden Arbeit wird im Folgenden auf die Frage eingegangen, welche Verfahren dem Schaffen neuer grammatischer Formen zur Verfügung stehen. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei an dieser Stelle eine wichtige Bemerkung angebracht: Wenn hier von „zur Verfügung stehenden Ver­ fahren“ die Rede ist, soll dies nicht bedeuten, dass die unten vorgestellten Ver­ fahren als vorgegeben verstanden werden können und dass neue grammatische Strukturen das Produkt einer bewussten Anwendung solcher vorhandenen Ver­ 



4.3 Verfahren zur Herausbildung grammatischer Strukturen 

 53

fahren durch Sprecher sind. Im Gegenteil werden neue grammatische Strukturen von Sprachbenutzern zur Erfüllung ihrer kommunikativen Zwecke unbewusst hervorgebracht. Wandelerscheinungen im grammatischen System, einen Subsys­ tem des Sprachsystems, unterliegen nämlich dem auf Keller (2003) zurückgehen­ den „invisible hand-Prinzip“ und es gehört zur Aufgabe der Linguisten, diesen Wandelprozess zu rekonstruieren und die ihm zugrunde liegenden Mechanis­ men zu beschreiben. Die ‚Verfahren des Sprachschaffens‘ im Bereich Grammatik sind in diesem Zusammenhang nichts anderes als Ergebnisse der linguistischen Rekonstruktionen der Herausbildung neuer grammatischer Strukturen. In der Fachliteratur wird im Zusammenhang mit der Frage, wie neue gram­ matische Formen entstehen, oft auf den Aufsatz „L’évolution des formes gram­ maticales“ des französischen Indogermanisten Antoine Meillet (1912/1926) ver­ wiesen (z. B. Diewald 1997: 6, Traugott 2008: 22). In diesem Aufsatz postuliert er, dass sich grammatische Formen durch zwei Prozesse herausbilden können, entweder durch die Grammatikalisierung oder durch die Analogie. Die Gramma­ tikalisierung wird von ihm als die Zuschreibung grammatischer Eigenschaften an ein zuvor autonomes Wort und die Analogie als die Bildung einer Form nach dem Modell einer anderen definiert (ebd.). Leiss (1998: 854) fasst diese beiden Pro­ zesse auch als zwei zentrale Mechanismen des Sprachwandels im Bereich Gram­ matik auf, fügt aber eine weitere Form der grammatischen Organisation hinzu, nämlich die Metaphorisierung.49 Die grammatische Metaphorisierung beschreibt sie als den Prozess des Aufbaus „von komplexen grammatischen Inhalten durch die mehrfache Nutzung räumlicher Bilder beispielweise auf temporaler und modaler Ebene“ (ebd.: 854). Lehmann (2004) zeigt verschiedene Wege, die zur Entstehung grammatischer Strukturen führen. Als wichtige Prozesse nennt er die Grammatikalisierung, Analogie, Reanalyse und laterale Konversion („lateral conversion“).50

49 Leiss weist außerdem noch auf einen anderen Prozess des grammatischen Wandels hin, den sie unter dem Begriff „Hierarchisierung“ zusammenfasst. Die Hierarchisierung besteht in der Neutralisation grammatischer Merkmale bei grammatischem Formenzusammenfall und führt zu Abbau der Grammatik (ebd.: 857). Da im vorliegenden Kapitel nicht der Abbau, sondern die Entstehung grammatischer Strukturen im Zentrum des Interesses steht, wird dieser Prozess hier nicht erwähnt. 50 An dieser Stelle wird auf eine Erläuterung der einzelnen Konzepte verzichtet. Die Bezugnah­ me auf Lehmanns Hinweis auf die verschiedenen Konzepte soll lediglich deutlich machen, dass grammatische Strukturen auf vielfältige Weise herausgebildet werden können. Nach Lehmann sind Analogie, Reanalyse und laterale Konversion die mit Grammatikalisierung verwandten Prozesse, sie sind aber strikt von der Grammatikalisierung zu trennen. Zur Abgrenzung siehe Lehmann (2004: 159ff).



54 

 4 Theoretische Grundlagen zur Untersuchung der ‚Systemkonformität‘

Insgesamt gibt es verschiedene Konzepte zur Erklärung grammatischer Wandelerscheinungen. Die Frage, die sich hier stellt ist, welche der genannten Konzepte als „Verfahren des Sprachschaffens“ im Coseriu’schen Sinne betrachtet werden können. Bezüglich der „Verfahren des Sprachschaffens“ schreibt Coseriu (1988: 219): „So wie man das sprachliche Wissen vor allem daran erkennen kann, wenn der Sprecher Neues schafft, d. h. wenn er sein Wissen als Verfahren zum Schaffen von Neuem anwendet, so bietet auch die Reaktion der Sprecher auf das, was für sie neu ist, einen geeigneten methodischen Zugang zum sprachlichen Wissen.“ Wie an einer anderen Stelle zitiert war (vgl. Kapitel 2.2), bemerkt Coseriu (1988/2007: 268) im Zusammenhang mit der Unterscheidung von System und Norm, dass das System nicht nur „Realisiertes“ wie die Norm, sondern auch „Rea­ lisierbarkeit“ sei. Das Realisieren neuer, bisher noch nicht vorhandener sprach­ licher Strukturen ist demnach in individueller Sprecherkompetenz verankert. Der einzelne kompetente Sprecher nutzt also sein sprachliches Wissen bzw. die ihm historisch zur Verfügung stehenden „Verfahren des Schaffen von Neuem“, um Innovationen in Gang zu bringen. Die Anwendung der Verfahren vollzieht sich sozusagen auf der individuellen Ebene. Von den genannten Prozessen, die zur Entstehung neuer grammatischer Strukturen führen, ist die Grammatikali­ sierung jedoch ein theoretisches Konzept zur Erklärung des Sprachwandels auf der Kollektiv- bzw. der Systemebene. Die Grammatikalisierung ist ein gradueller Prozess und setzt die Verbreitung der neuen Struktur in der Sprachgemeinschaft voraus. Sie ist also ein kollektiver Akt. Ein Individuum kann nämlich keine Gram­ matikalisierung bewirken. Da das Schaffen von Neuem nach Coseriu (siehe oben) allerdings ein individueller Akt ist, ist die Grammatikalisierungstheorie als ein „Verfahren des Sprachschaffens“ im Coseriu’schen Sinne auszuschließen. Auf diese Thematik wird in Kapitel 6 noch genauer eingegangen werden.



5 Zur Funktionalität von PII+habend Im vorliegenden Kapitel wird PII+habend unter dem Gesichtspunkt der Funktio­ nalität untersucht. Kapitel 5.1 stellt zunächst Überlegungen zur Anwendung des in Kapitel 4.2 aufgearbeiteten Konzepts von Funktionalität grammatischer Ein­ heiten zur Ermittlung der Funktionalität von PII+habend an. Wie aus den Überle­ gungen hervorgehen wird, soll die Ermittlung in drei Schritten erfolgen. Kapitel 5.1 endet mit einer Darstellung der einzelnen Arbeitsschritte sowie des damit zusammenhängenden Aufbaus des Kapitels 5.

5.1 Methodisches Vorgehen Beruhend auf den in Kapitel 4.2 erarbeiteten Kriterien der Funktionalität gram­ matischer Formen kann von der Funktionalität von PII+habend gesprochen werden, wenn die folgenden vier Bedingungen nachweisbar sind: (1) PII+habend weist eine grammatische Funktion auf. (2) PII+habend unterscheidet sich von einem anderen Mitglied des Partizipia­ lattributsparadigmas hinsichtlich der Bedeutung. (3) Die Auswahl von PII+habend ist obligatorisch. (4) (PII+habend ist gegenüber dem oppositionellen Mitglied markiert,51 wenn dieses das Nullelement im betreffenden Paradigma ist.) Von den Bedingungen lassen sich folgende Fragestellungen ableiten: Zu (1): Frage 1: Welche Funktionen hat PII+habend? Zu (2): Die bedeutungsunterscheidende Funktion von PII+habend zeigt sich dadurch, dass ein Ersetzen dieses PA durch ein anderes zur Bedeutungsänderung führt. Die Überprüfung der Bedingung (2) wirft somit die Frage auf: Frage 2: Ist PII+habend gegenüber einem anderen PA austauschbar?

51 Dass PII+habend bei Vorliegen des Markiertheitsverhältnisses das markierte Zeichen sein soll, geht auf die Annahme zurück, dass das Nullelement die grammatikalisierte Struktur ist und daher einen festen etablierten Bestandteil des Grammatiksystems darstellt, während das markierte die neu entstehende ist.



56 

 5 Zur Funktionalität von PII+habend

Dabei kann von einer Austauschbarkeit gesprochen werden, wenn ein Austausch zwischen beiden Strukturen beim gleichen zugrunde liegenden Verb nicht zu unterschiedlichen Deutungen führt. Zu (3): Hinsichtlich der Obligatorik werden im Anschluss an Diewald (2008a) zwei Typen von Obligatorik angenommen: die sprachinterne und kommunikative Obligatorik.52 Da die sprachinterne Obligatorik nur im Kernbereich der flexivi­ schen grammatischen Kategorien anzutreffen ist (ebd.: 11), zu dem PII+habend nicht gehört, kann man bei diesem Typ von PA ggf. von einer kommunikativen Obligatorik ausgehen. D. h., dass die Auswahl von PII+habend hier durch intenti­ onal-kommunikative Faktoren motiviert sein muss. In einem bestimmten Kontext und unter bestimmten kommunikativen Bedingungen gilt sein Gebrauch als obli­ gatorisch. Um die Auswahl von PII+habend diesem Typ der Obligatorik zuord­ nen zu können, ist dementsprechend nachzuweisen, dass solche Bedingungen gegeben sind. Es stellt sich hierfür die Frage: Frage 3: Gibt es Bedingungen, unter denen Sprecher gezwungen sind, PII+habend zu wählen? Wenn ja, welche? Zu (4): Das markierte Element wird als solches definiert, das hinsichtlich einer bestimmten Bedeutung spezifiziert ist. Die Verwendung dieser Struktur signali­ siert sozusagen das Vorhandensein dieser einen Bedeutung. Mit dem unmarkier­ ten Element ist hingegen keine feste Funktion verbunden.53 Um zu überprüfen, ob Bedingung (4) zutrifft, soll folglich der Frage nachgegangen werden: Frage 4: Wird mit PII+habend eine feste Bedeutung ausgedrückt, die durch ein anderes PA im PA-Paradigma zum Ausdruck kommen kann, aber nicht muss? Es ist deutlich erkennbar, dass die letzten drei Fragen eng miteinander zusam­ menhängen. Die Untersuchung der Frage, ob PII+habend unter bestimmten Bedingungen durch den Sprecher zwingend ausgewählt wird (Frage 3) und ob es hinsichtlich einer Funktion festgelegt wird (Frage 4), dient zugleich der Über­ prüfung der These von seiner Austauschbarkeit mit einem anderen PA (Frage 2). Daher werden im Folgenden Frage 3 und Frage 4 unter Frage 2 zusammenge­ fasst.54 Es ergeben sich somit zur Überprüfung der Funktionalität von PII+habend zwei Arbeitsschritte:

52 Zu der Unterscheidung der beiden Typen siehe Kapitel 4.2.2. 53 Zu den Begriffen ,Markiertheit‘/,Unmarkiertheit‘ siehe Kapitel 4.2.2. 54 Die Zusammenfassung der drei Kriterien bzw. Dimensionen der Funktionalität unter dem As­ pekt der Austauschbarkeit erfolgt aus methodisch-praktischen Gründen. Bei der zusammenge­



5.2 Ermittlung der Bedeutung von PII+habend 



 57

– Ermittlung der Bedeutung von PII+habend (Kapitel 5.2) – Untersuchung der Austauschbarkeit von PII+habend mit einem anderen PA55 (Kapitel 5.3) Die Untersuchung der Funktion und der Austauschbarkeit erfolgt korpusbasie­ rend. Ergebnisse der Korpusanalyse, die in Kapitel 5.4 zusammengefasst werden, sollen anschließend durch eine Befragung zur Sprecherbeurteilung (Kapitel 5.5) ergänzt werden. Die Kombination der korpuslinguistischen Forschungsmethode mit einer sozialwissenschaftlich fundierten Methode soll dazu dienen, die Funk­ tionalität des hier interessierenden Typs des komplexen PA aus mehreren Pers­ pektiven zu erfassen. Die folgende Übersicht bildet den Aufbau von Kapitel 5 ab: Methodisches Vorgehen Korpusuntersuchung

Kapitel 5.1

Ermittlung der Bedeutung von PII+habend

Kapitel 5.2

Austauschbarkeit zwischen PII+habend und einem anderen Partizip

Kapitel 5.3

Fazit

Kapitel 5.4

Umfrage

Kapitel 5.5

Zusammenfassung

Kapitel 5.6

5.2 Ermittlung der Bedeutung von PII+habend Zur Ermittlung der Bedeutung von PII+habend wird im vorliegenden Kapitel eine empirische Korpusanalyse durchgeführt. Nach der Beschreibung des Korpus (Kapitel 5.2.1) werden einige der empirischen Analyse zugrunde gelegten Grund­ annahmen über die Funktion von PII+habend ausgeführt (Kapitel 5.2.2). Der Entwicklung eines Verfahrens zur Erschließung der Bedeutung von PII+habend widmet sich Kapitel 5.2.3. Im Anschluss daran finden sich einige methodische Anmerkungen (Kapitel 5.2.4). Zum Schluss werden die Ergebnisse der Korpusana­ lyse in Kapitel 5.2.5 präsentiert.

fassten Darstellung der Ergebnisse zur Beurteilung der Funktionalität von PII+habend in Kapitel 5.4 werden die Kriterien jedoch auseinandergehalten und im Einzelnen besprochen. 55 Überlegungen zur Frage, welches Partizip als der oppositionelle Gegenpol von PII+habend in Frage kommt, können erst erfolgen, wenn die Bedeutung von PII+habend ermittelt worden ist. Ausführlich zu den Überlegungen siehe Kapitel 5.3.2.



58 

 5 Zur Funktionalität von PII+habend

5.2.1 Das Korpus Der empirischen Untersuchung liegt ein Korpus mit insgesamt 178 authentischen Belegen für PII+habend zugrunde. Abgesehen von zwei Belegen, die der Mono­ graphie von Litvinov/Radčenko 1998 entnommen sind,56 sind alle in Cosmas II erhoben worden. Das Archiv, das zur Recherche der Belege für PII+habend ver­ wendet wurde, ist das Archiv geschriebener Sprache (W-Archiv). Die Datenerhe­ bung wurde vor Ort im IDS durchgeführt, damit auch die öffentlich nicht zugäng­ lichen Textkorpora für die Recherche dieser äußerst selten verwendeten Struktur genutzt werden konnten.57 Fast alle 176 Belege aus COSMAS II stammen aus deutschsprachigen Zeitungen. Einige gehören den Genres Literatur (Tagebücher) oder Sachtext (Wikipedia) an. Tab. 5: Verteilung der PII+habend-Belege auf Zeitungen und Länder Quelle Tageszeitung FAZ FR Die Zeit Mannheimer Morgen Berliner Zeitung Nürnberger Nachrichten Rhein-Zeitung Tagebücher Klemperer Tiroler Tageszeitung Salzburger Nachrichten Die Presse Neue Kronen-Zeitung Kleine Zeitung Vorarlberger Nachrichten Niederösterreichische Nachrichten Galler Blatt

Zahl der Belege 50 13 5 13 2 7 5 9 2 2 10 20 5 7 6 2 1

Länder D D D D D D D D D A A A A A A A A

56 Diese Belege stammen aus Romanen und wurden von den zwei Autoren zur Illustration eini­ ger grammatischer Randerscheinungen im Deutschen benutzt. 57 Die Datenerhebung fand zweimal statt. Zunächst wurden im März 2010 136 Belege gefunden, bei einer erneuten Suchanfrage im selben Archiv im März 2011 erhöhte sich die Belegzahl um 40 weitere Belege auf insgesamt 176. Dass die Rechercheergebnisse innerhalb eines Jahres variieren, ist dadurch zu erklären, dass die Archive in Cosmas II in einem regelmäßigen Abstand verbessert und um neue Texte erweitert werden.





5.2 Ermittlung der Bedeutung von PII+habend 

 59

Tab. 5 (fortgesetzt) Quelle

Zahl der Belege

Länder

Die Südostschweiz Zürcher Tagesanzeiger Biografische Literatur Wikipedia Gesamt

3 2 1 11 176

CH CH

Abkürzungen: D: Deutschland, A: Österreich, CH: die Schweiz

Hinsichtlich ihrer Verteilung auf die drei deutschsprachigen Länder kommen die Belege zum größten Teil in deutschen Zeitungen vor (104 Belege), danach folgen Zeitungen aus Österreich mit 53 Belegen; in schweizerischen Zeitungen ist PII+habend dagegen nur fünfmal belegt. Dieser gravierende länderspezifische Unterschied der Belegzahl ist auf die ungleiche Länderverteilung der Zeitungs­ korpora in COSMAS II zurückzuführen. Er sagt nichts über die Differenz in der relativen Häufigkeit der hier interessierenden Struktur zwischen diesen drei Stan­ dardvarietäten aus. Die Tabelle lässt zudem erkennen, dass es sich bei den Zeitungen sowohl um regionale als auch um überregionale Zeitungen handelt. Trotz der dünnen Beleg­ lage ist dadurch die Tendenz festzustellen, dass PII+habend kein länderspezifi­ sches oder regionalbedingtes Einzelphänomen darstellt, sondern eher als eine überregionale Erscheinung anzusehen ist.

5.2.2 Hypothese zur Bedeutung von PII+habend Die Hypothese über die Funktion von PII+habend wird von folgenden zwei Grund­ annahmen abgeleitet:

Annahme 1 Die erste Grundannahme beruht auf der in der Fachliteratur mehrfach erwähn­ ten strukturellen Parallele zwischen Sätzen und Nominalphrasen (NP), die ein PA im Vorbereich enthalten (Weber 1971, Heringer 1989). Die strukturelle Ver­ wandtschaft wird dadurch begründet, dass eine attributive Partizipialphrase eine Phrase darstellt, die einen verbalen Kern hat, wobei dieser verbale Kern Eigenschaften des zugrunde liegenden Verbs in die NP überführt. Aufgrund dieser strukturellen Vererbung ist das PA als ein komprimiertes Verbalereignis zu 

60 

 5 Zur Funktionalität von PII+habend

betrachten, das in den Vorbereich einer NP ‚eingepackt‘ wird. Demzufolge kann angenommen werden, dass das PA den Sachverhalt eines vollständigen Satzes bzw. eines Verbalereignisses zum Ausdruck bringen kann. Sachverhalte und Ver­ balereignisse werden in der Regel in irgendeiner Weise zeitlich situiert, entweder mit Bezug auf ein anderes Ereignis oder auf die Äußerungszeit.

Annahme 2 Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass das haben-Perfekt im Deutschen die Ausgangskonstruktion für PII+habend darstellt. Ähnlich wie das haben-Per­ fekt, das sich aus dem Finitum des Hilfsverbs haben und dem PII des Vollverbs zusammensetzt, stellen das Hilfsverb haben und das PII eines Vollverbs die zwei integralen Bestandteile von PII+habend dar. PII+habend kann also als die attri­ butive Form des prädikativen Verbalkomplexes haben+PII angesehen werden. Die Annahme über eine Verwandtschaftsbeziehung zwischen den beiden Konst­ ruktionen wird zudem durch die Tatsache gestützt, dass die zugrunde liegenden Verben in Belegen für PII+habend ohne Ausnahme Verben sind, die das Perfekt mit dem Hilfsverb haben bilden. Aufgrund der Analogie in der Bildung der zwei Konstruktionen kann auch eine Ähnlichkeit hinsichtlich ihrer Funktion ange­ nommen werden. M.a.W.: Bestimmte Bedeutungsvarianten des Perfekts könnten in die Semantik der Attributkonstruktion PII+habend „vererbt“ werden. Da das Perfekt eine Tempusform im Deutschen ist, deren grundlegende Funktion darin besteht, Sachverhalte/Ereignisse zeitlich zu lokalisieren, sollte auch PII+habend bestimmte zeitliche Verhältnisse des durch sie beschriebenen Sachverhalts zum Ausdruck bringen. PII+habend hat also eine temporale Bedeutung. Die zwei oben dargestellten Annahmen sprechen dafür, dass dem PII+habendPA eine temporale Bedeutung zukommt. Ausgehend von der Annahme über die semantische Vererbung des Perfekts in die PII+habend-Attributkonstruktion kann eine Hypothese über die temporale Bedeutung von PII+habend aufgestellt werden, wenn die Grundbedeutung des Perfekts im Deutschen genauer beschrie­ ben wird. Semantik des Perfekts58 Was das Perfekt alles leisten kann und wie es kategorial einzuordnen ist (d. h., ob es eine Kategorisierung des Tempus oder des Aspekts darstellt), ist die Frage,

58 Die Darstellung der Semantik des Perfekts beschränkt sich im Folgenden auf die tempusse­ mantische bzw. zeitreferierende Funktion dieser Tempusform. Ihre nicht-zeitreferierenden Leis­





5.2 Ermittlung der Bedeutung von PII+habend 

 61

über die in der Perfekt-Forschung am meisten diskutiert wurde. Dabei kann man grundsätzlich zwei Positionen unterscheiden. Einerseits werden für diese Tempusform zwei Verwendungsweisen angenommen, das sog. perfektische und nicht-perfektische Perfekt (u. a. Bäuerle 1979, Mugler 1988, Helbig/Buscha 2001). Das perfektische Perfekt kennzeichnet einen Zustand als das Resultat einer abgeschlossenen Handlung und weist in dieser Bedeutungsvariante aspektuelle Eigenschaften auf. Dagegen stellt das nicht-perfektische Perfekt eine Ersatzform des Präteritums dar und wird in dieser Funktion als eine Realisierung der Tem­ puskategorie betrachtet. Die Unterscheidung dieser zwei Bedeutungsvarianten ist jedoch umstritten und mittlerweile mehrfach kritisiert worden.59 Vertreter der Gegenposition sind der Auffassung, dass dem Perfekt eine einheitliche Grundbe­ deutung zuzuweisen ist. Ehrlich/Vater (1989) und Thieroff (1992) gelangen nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der Perfekt-Forschungsliteratur zu dem gleichen Ergebnis hinsichtlich der Beschreibung der Einheitsbedeutung des Per­ fekts. Die Autoren argumentieren überzeugend dafür, dass die beiden oben vor­ gestellten Bedeutungsvarianten des Perfekts in jedem Kontext eine gemeinsame Bedeutungskomponente aufweisen, nämlich die Funktion, die Vorrelation eines Sachverhalts im Verhältnis zu einer anderen Bezugszeit auszudrücken (Ehrlich/ Vater 1989: 109 f., Thieroff 1992: 189).60 So stellt Thieroff fest: Es [das Perfekt] muss als Vorzeitigkeitstempus betrachtet werden, d. h. es bezeichnet […] eine Zeit, die vor einer anderen Zeit liegt. (ebd.: 189)

Die These, dass Vorzeitigkeit die einheitliche Grundbedeutung des Perfekts im Deutschen darstellt, dient in der vorliegenden Arbeit als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen bezüglich der Funktion von PII+habend.

tungen wie die klammerbildende Funktion (Sieberg 1984) oder die textstrukturierende Funktion (Weinrich 1964, Marschall 1995) werden hier nicht berücksichtigt, da diese bei der Verwendung des Perfekts als Prädikat im Satz, jedoch nicht als Attribut in der Nominalphrase wirksam sein können und daher für den vorliegenden Zweck nicht von Belang sind. 59 Zurückgewiesen wurde dabei insbesondere die Auffassung, dass das Perfekt die Abgeschlos­ senheit einer Handlung zum Ausdruck bringe. Ehrlich/Vater (1989: 109 f.) sind der Meinung, dass Resultativität nicht als zur Tempussemantik des Perfekts gehörend anzusehen ist, sondern als eine Leistung der lexikalischen Eigenschaft des Verbs, der sog. Aktionsart. 60 Für die Annahme einer einheitlichen Bedeutung des Perfekts plädiert auch Welke (2005: 286). Er sieht die gemeinsame Funktion aller Deutungsvarianten dieses Tempus jedoch in der Realisierung der Aspektkategorie ‚Abgeschlossenheit‘.



62 

 5 Zur Funktionalität von PII+habend

Hypothese Ausgehend von der oben beschriebenen Grundbedeutung des Perfekts lässt sich folgende Hypothese über die Funktion von PII+habend formulieren: PII+habend hat eine zeitliche Bedeutung. Die zeitliche Bedeutung besteht darin, die Vorzeitigkeit des dargestellten Verbalgeschehens auszudrücken.

Es ist anzumerken, dass Vorzeitigkeit ein Begriff der relativen Zeit ist. Ein Gesche­ hen wird immer im Hinblick auf eine andere Zeit als vorzeitig, gleichzeitig oder nachzeitig betrachtet. Diese „andere Zeit“, zu der das PII+habend-Ereignis als vorzeitig angesehen wird, wird in der vorliegenden Arbeit als „Referenzzeit“ bezeichnet. Wie noch zu zeigen sein wird, kann diese Referenzzeit entweder ein anderes Geschehen im Text, meist das durch den Matrixsatz ausgedrückte Ereig­ nis, oder die Sprechzeit sein.61 Die Hypothese über die Vorzeitigkeit von PII+habend soll nun durch eine korpusgestützte Analyse empirisch überprüft werden. Der Analyse liegt ein Ope­ rationalisierungsverfahren zugrunde, das im folgenden Kapitel herausgearbeitet werden soll.

5.2.3 Entwicklung des Verfahrens zur Bedeutungsermittlung Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, ein Analyseverfahren zu erarbeiten, mit dem die temporale Bedeutung von PII+habend auf nachvollziehbare Weise ermittelt werden kann. Dabei wird das Verfahren nicht losgelöst vom Material, sondern am Material entwickelt. Das bedeutet, dass nicht gleich am Anfang bestimmte Theorien festgelegt werden, die der Entwicklung des Verfahrens zugrunde gelegt werden. Stattdessen wird grundsätzlich immer dort auf solche Theoriebausteine zurückgegriffen, wo sie sich durch eine Erprobung am Belegmaterial als relevant für die weitere Entwicklung des Verfahrens erweisen. Somit stellt die Entwick­ lung des Analyseverfahrens einen komplexen Prozess dar, der sich in mehreren kleinen Schritten vollzieht und am Ende in ein Modell mündet, in dem gleichzei­ tig mehrere theoretische Ansätze vereint sind. Es handelt sich also um ein integ­ ratives Analysemodell. Das vorliegende Kapitel gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil werden die terminologischen und theoretischen Grundbausteine dargelegt (Kapitel 5.2.3.1).

61 Der Begriff Referenzzeit geht auf Reichenbach (1947) zurück. Eine ausführliche Erklärung dieses Begriffs erfolgt in Kapitel 5.2.3.1.1.





5.2 Ermittlung der Bedeutung von PII+habend 

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Der zweite Teil stellt das Verfahren vor (Kapitel 5.2.3.2).62 Wie das Verfahren zur Analyse der Belege im Konkreten angewendet wird, zeigt der dritte Teil anhand einiger Beispiele (Kapitel 5.2.3.3).

5.2.3.1 Terminologische und theoretische Grundlagen Wie zu sehen sein wird, wird bei der Entwicklung des Verfahrens zur tempora­ len Erschließung von PII+habend auf Termini und Konzepte der Tempus- und Temporalitätsforschung zurückgegriffen. Im Folgenden wird auf solche Literatur referiert, die unmittelbar relevant für das hier verfolgte Ziel sind; auf diese Lite­ ratur wird sich nur dann bezogen, wenn sie das Anliegen dieser Arbeit betrifft. Im Mittelpunkt der Darstellung steht also die Frage nach der Anwendbarkeit der jeweiligen Konzepte/Termini für die eigene Arbeit.

5.2.3.1.1 Das Instrumentarium zur Beschreibung der Temporalität von PII+habend Bei der Modellierung der temporalen Bedeutung von PII+habend stützt sich die vorliegende Arbeit auf die Zeitparameter Sprechzeit (point of speech), Ereigniszeit (point of event) und Referenzzeit (point of reference)63 bei Reichenbach (1947). Nach der Klärung dieser Begriffe wird erläutert, wie die Parameter im Kontext von PII+habend zu verstehen sind bzw. wie sie zur Bedeutungsbeschreibung dieses Partizips angewendet werden können. Die drei Zeitparameter wurden von Reichenbach zur Analyse der Tempora eingeführt. Dabei geht er von der Funktion des Tempus aus, die darin besteht, ein Ereignis in Relation zur Sprechzeit zeitlich zu bestimmen: The tense determines time with reference to the time point of speech, i.e. of the token uttered. (Reichenbach 1947: 287 f.)

62 Die Darlegung der theoretischen Grundlagen in einem eigenen Unterkapitel dient der Über­ schaubarkeit; sie soll nicht den falschen Eindruck erwecken, dass Theorie und Empirie hier ge­ trennt behandelt werden. Wie oben schon angedeutet, erfolgt die Einführung relevanter Termini und wichtiger theoretischer Ansätze stets vor dem Hintergrund der jeweiligen Diskussion zur temporalen Erschließung des PII+habend. 63 In der deutschsprachigen Literatur finden sich auch andere Termini wie z. B. Äußerungszeit (für Sprechzeit, point of speech), Aktzeit (für Ereigniszeit, point of event) und Betrachtzeit/Evalu­ ationszeit (für Referenzzeit, point of reference).



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 5 Zur Funktionalität von PII+habend

Das Ereignis, das zur Sprechzeit64 (S) in Beziehung gesetzt wird, vollzieht sich zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. in einem bestimmten Zeitintervall (Ereignis­ zeit, symbolisiert durch E). In Relation zur Sprechzeit, die i. d. R. der Gegenwart des Sprechens entspricht, wird ein Ereignis hinsichtlich der relativen Zeit entlang der Zeitachse als vorzeitig, gleichzeitig oder nachzeitig und hinsichtlich der absoluten Zeit als vergangen, gegenwärtig bzw. zukünftig betrachtet. Zur Illustration dienen im Folgenden einige Beispiele aus dem Deutschen, die Vater (1991: 36) entnommen sind: (1)

Die Sonne schien.

E E,S

(2) Die Sonne scheint. (3) Die Sonne wird scheinen.

S

S

E

Entsprechend diesem Schema kann die Bedeutung des Präteritums in (1) als die Relation‚ E vor S‘, die des Präsens in (2) als ‚E gleichzeitig zu S‘ und die des Futur I in (3) als ‚E nach S‘ wiedergegeben werden. Mit Hilfe der Zeitparameter E und S lassen sich somit die einfachen Tempora unproblematisch beschreiben. Als unzureichend erweisen sich diese zwei Para­ meter hingegen bei den Perfekttempora, wie die folgenden Beispiele für das Plus­ quamperfekt zeigen: (4) Peter war gegangen. (5) Peter war zu der Zeit schon drei Tage gegangen. Das Ereignis „Gehen“ von Peter liegt nicht nur vor der Sprechzeit, sondern auch vor einer „anderen Zeit“, die in (4) sprachlich nicht realisiert und in (5) durch das Temporaladverbial „zu der Zeit“ spezifiziert ist. Diese „andere Zeit“ wird von Reichenbach unter dem Begriff „point of reference“ folgendermaßen eingeführt: From a sentence like „Peter had gone“ we see that the time order expressed in the tense does not concern one event, but two events whose positions are determined with respect to the point of speech. We shall call these the point of event and the point of reference. In the example the point of event is the time when Peter went; the point of reference is a time

64 Wie aus obigem Zitat hervorgeht, wird Sprechzeit hierbei punktuell gefasst („point“). Diese Auffassung wurde später von vielen Tempustheoretikern kritisiert. In neueren Tempustheorien wird generell nicht von Zeitpunkten, sondern von Zeitintervallen gesprochen.



5.2 Ermittlung der Bedeutung von PII+habend 



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between this point and the point of speech. (Reichenbach 1947: 288, Hervorhebung im Ori­ ginal)

Als Erklärung zu diesen Begriffen fügt er hinzu: In an individual sentence like the one given it is not clear which time point is used as the point of reference. This determination is rather given by the context of speech (ebd.: 288)

Mit Hilfe der drei Zeitparameter kann die temporale Bedeutung des Plusquam­ perfekts in (4) und (5) durch die Formel ‚E vor R vor S‘ erfasst werden. Auf der Zeitachse sind sie schematisch wie folgt darzustellen: S

E

S

Das Reichenbach’sche Konzept der drei Zeitparameter wurde von vielen Tem­ pustheoretikern für ihre Tempusanalyse nutzbar gemacht und dabei meist auch modifiziert bzw. korrigiert. Im Unterschied zur Ereigniszeit und Sprechzeit, deren Zuordnung relativ eindeutig ist, wird die Referenzzeit dabei immer wieder neu ausgelegt. Diese Tatsache ist zum Teil durch die unklare Definition schon bei Rei­ chenbachs Einführung zu erklären (vgl. Thieroff 1992: 80). Sie hängt aber auch damit zusammen, dass es sich bei diesem Parameter um ein äußerst komplexes Phänomen handelt, sodass eine klare Bestimmung nahezu unmöglich ist, wie Breuer (1996) es anmerkt: Im Gegensatz zu Sprechzeit und […] zur Ereigniszeit ist die Referenzzeit nicht immer intuitiv zu erfassen, sie entspringt am ehesten rein theoretischen Überlegungen. Da sie von ver­ schiedenen Phänomenen etabliert werden kann (z. B. Weltwissen, Adverbialen, Diskurs, Kotext […]), stellt sich das Problem, eine Definition zu finden, die alle Fälle einschließt, ohne schwammig zu werden. (Breuer 1996: 60)

Trotz der Schwierigkeiten bei der Bestimmung ist die Notwendigkeit, Referenzzeit als einen dritten zusätzlichen Parameter zur Zeitbestimmung anzunehmen, nicht zu verleugnen (vgl. Klein 1994:25). Die Grundidee, die mit der Annahme dieses Parameters verbunden ist, nämlich die Annahme eines sekundären deiktischen Zentrums, von dem aus ein Ereignis zeitlich eingeordnet wird, hat sich bis heute bewährt und findet sich in fast jeder modernen Tempustheorie in der einen oder anderen Form wieder. In der vorliegenden Arbeit, in der von der Grundfunktion von PII+habend als Ausdruck der Vorzeitigkeit ausgegangen wird, erscheint die Annahme der Referenzzeit neben den Parametern Ereigniszeit und Sprechzeit auch notwendig. Denn



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ein Ereignis kann an sich nicht vorzeitig sein, sondern seine Vorzeitigkeit ergibt sich immer in Relation zu einer „anderen Zeit“. Die Anwendung von Reichenbachs Konzept zur Modellierung der temporalen Bedeutung von PII+habend bedarf auch einer kleinen Modifizierung. Der Modifi­ zierungsbedarf ergibt sich aus der Tatsache, dass PII+habend zwei unterschiedli­ che Verwendungstypen aufweist (siehe dazu Kapitel 5.2.3.1.2). Wie Reichenbachs Parameter zur Beschreibung der Temporalität von PII+habend genau anzupassen sind, soll später an der einschlägigen Stelle noch ausführlich erläutert werden. Zunächst soll es genügen, darauf hinzuweisen, dass in der vorliegenden Arbeit grundsätzlich auch die drei Reichenbachʼschen Zeitparameter angenommen werden. Übertragen auf den Kontext von PII+habend sind diese Termini wie folgt zu verstehen: – Ereigniszeit (E) bezeichnet das durch PII+habend ausgedrückte Ereignis. – Sprechzeit (S) bezieht sich auf den Zeitpunkt oder das Zeitintervall, zu dem der Text/Satz geäußert wird. Sie entspricht der Gegenwart des Sprechers. – Referenzzeit (R) ist die Zeit, auf die bezogen E als vorzeitig betrachtet wird.

5.2.3.1.2 Absoluter und relativer Gebrauch: Zu theoretisch möglichen Bedeutungsvarianten von PII+habend Unterscheidung des relativen und absoluten Gebrauchs und ihre Relevanz In ihrer Arbeit zu Doppelperfektbildungen unterscheidet Buchwald-Wargenau (2012) zwei Gebrauchstypen dieser Tempusformen, den absoluten und den relativen. Dabei geht sie davon aus, dass Vorzeitigkeit die Hauptbedeutung der Dop­ pelperfektbildungen darstellt. Als Kriterien zur Unterscheidung der zwei Ver­ wendungstypen nennt sie das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein eines anderen Geschehens im Kontext, zu dem das durch die Doppelperfektbildungen beschriebene Ereignis als das vorangehende interpretiert wird. So ist der relative Typ durch die Existenz dieses anderen, sprachlich realisierten Ereignisses im Belegkontext charakterisiert. Im anderen Fall ist vom absoluten Typ die Rede (ebd.: 114 f.). Da in der vorliegenden Arbeit Vorzeitigkeit auch als die Grundfunk­ tion von PII+habend angenommen wird, kann erwartet werden, dass die eben eingeführte Unterscheidung der zwei Verwendungstypen von Doppelperfektbil­ dungen auch für die Bedeutungsbeschreibung von PII+habend relevant ist. Beim Durchsehen einiger Belege für PII+habend hat sich diese Vermutung bestätigt. 41. Gorbatschows Frau Raissa konzentrierte sich bei ihren Komplimenten vor allem auf Wien als „Stadt der Musik“. „Wir sind mit der Musik von Johann Strauß aufgewachsen.“ Gorbatschow stellte sich aber auch politischen Fragen. Er erinnerte etwa an seinen lange in Wien gelebt habenden tschechischen Freund Zdenek Mlynar, „mit dem ich studiert und





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gleichzeitig geheiratet habe“, dem aber jetzt möglicherweise ein politischer Prozeß droht. (Die Presse, 1995) 15. Die Wiederentdeckung des einst Gekannten ist auch Schlüsselpunkt von Enrique Vargas Arbeit. Der studierte Anthropologe, der in den 60ern Agitprop am New Yorker La Mamma Theatre machte, besinnt sich in seiner Soloarbeit „Oxtailsoup“ auf verlorene orale Traditio­ nen und schickt in dem die internationale Festivalwelt bereits erobert habenden Labyrinth „Oraculos“ den Besucher auf eine sinnliche Reise zu sich selbst.(die Tageszeitung, 1999)

In (41) kann das PII+habend-Ereignis „in Wien leben“ als vorangehend zu dem im Matrixsatz ausgedrückten Geschehen „sich erinnern“ betrachtet werden, wobei die Vorrelation zwischen den beiden Sachverhalten durch die seman­ tische Bedeutung des Verbs „erinnern“ impliziert ist.65 Diese Verwendung ent­ spricht dem Buchwald-Wargenauʼschen relativen Gebrauchstyp. Im Unterschied zu (41) ist in (15) kein zweites Verbalereignis im Text identifizierbar, zu dem das PII+habend-Ereignis „die internationale Festivalwelt bereits erobern“ als vorzei­ tig gelten würde; es handelt sich hierbei also um einen Gebrauch von PII+habend, bei dem der durch diese Konstruktion dargestellte Sachverhalt direkt auf die Sprechzeit bezogen als vorangehend betrachtet wird.66 Eine solche Verwendung von PII+habend kann dem absoluten Typ im Sinne von Buchwald-Wargenau zugeordnet werden. Die Beleganalyse hat erkennen lassen, dass Buchwald-Wargenaus Unter­ scheidung der relativen und absoluten Verwendung auch auf den Gebrauch von PII+habend zutrifft. Sie ermöglicht eine genaue Erfassung der verschiedenen Verwendungsweisen dieser PA- Konstruktion. Aus diesem Grund wird sie in der vorliegenden Arbeit zur Beschreibung der Temporalität von PII+habend über­ nommen. Im Kontext von PII+habend werden die beiden Gebrauchstypen folgen­ dermaßen verstanden: – Relativer Gebrauch: Vom relativen Gebrauch wird gesprochen, wenn im Kontext ein Ereignis festgestellt werden kann, zu dem das PII+habend-Ereig­ nis als vorangehend eingestuft wird.

65 Man erinnert sich i. d. R. an etwas, das schon vergangen ist. 66 Das Verb „schicken“ in (15) bezieht sich im Unterschied zu „erinnern“ in (41) nicht auf eine konkrete, auf eine bestimmte Zeit situierte Handlung (also nicht „schicken“ im Sinne wie in „eine Nachricht schicken, ein Paket schicken“), sondern wird hier verwendet, um ein Theaterstück zu kommentieren. Der kommentatorische Charakter des Satzes bewirkt, dass das PII+habendEreignis als direkt auf die Sprechzeit bezogen verstanden wird.



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– Absoluter Gebrauch: Vom absoluten Gebrauch wird hingegen gesprochen, wenn das PII+habend-Ereignis in Bezug auf die Sprechzeit, also auf die Gegenwart des Sprechens, als vorzeitig gilt.

Modellierung der Bedeutung von PII+habend beim absoluten und relativen Typ Es stellt sich nun die Frage, wie die Bedeutung von PII+habend beim jeweiligen Gebrauchstyp anhand der im vorangehenden Kapitel dargestellten Zeitparame­ ter modelliert werden kann. Bei der Modellierung geht es im Grunde genom­ men darum, die Relation zwischen den drei Zeitparametern auf eine Formel zu bringen, an der die charakteristischen Merkmale jedes Typs erkennbar sind. Die Modellierung des absoluten Typs soll folgende Faktoren berücksichtigen: – Als Referenzzeit wird die Zeit bezeichnet, zu der das PII+habend-Ereignis als vorangehend gilt, also: E < R – Beim absoluten Gebrauchstyp bezieht sich das PII+habend-Ereignis direkt auf die Sprechzeit und wird in Relation zu dieser als vorzeitig interpretiert, also: E < S – Der direkte Bezug des PII+habend-Ereignisses auf die Sprechzeit setzt zudem voraus, dass zwischen ihm und der Sprechzeit theoretisch keine andere Zeit liegen kann. Daraus folgt, dass die Sprechzeit hier als mit der Referenzzeit überlappend verstanden werden muss. Es gilt also die Relation: R = S Aus den drei beschriebenen Relationen ergibt sich für die absolute Verwendung von PII+habend die Parameterrelation: E