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German Pages 165 [172] Year 1998
Das Mittelalter und die Germanisten
Scrinium Friburgense Veröffentlichungen des Mediävistischen Instituts der Universität Freiburg Schweiz Herausgegeben von Ruedi Imbach Peter Kurmann Pascal Ladner Eckart Conrad Lutz Aldo Menichetti Hans-Joachim Schmidt Ernst Tremp Band 11
1998
Universitätsverlag Freiburg Schweiz
Das Mittelalter und die Germanisten Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie Freiburger Colloquium 1997 Herausgegeben von
Eckart Conrad Lutz
1998
Universitätsverlag Freiburg Schweiz
Veröffentlicht mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und des Hochschulrates Freiburg Schweiz
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Freiburger Colloquium 1997 / hrsg. von Eckart Conrad Lutz. - Freiburg/Schweiz: Univ. -Verl., 1998 (Scrinium Friburgense; Bd. 11) ISBN 3-7278-1184-6 Copyright 1998 by Universitätsverlag Freiburg Schweiz Satz: Mediävistisches Institut der Universität Freiburg Schweiz Druck: Paulusdruckerei Freiburg Schweiz ISBN 3-7278-1184-6 ISSN 1422-4445
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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Karl S t a c k m a n n
Göttingen
Autor - Überlieferung - Editor
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Burghart W a c h i n g e r Tübingen Hugo Kuhn und die Münchener Akademiekommission für Deutsche Literatur des Mittelalters 33 Volker M e r t e n s Berlin Strukturen - Texte - Textgeschichte. Zum wissenschaftlichen Werk von Kurt Ruh 49 Christel M e i e r Münster Zwischen historischer Semiotik und philologischer Komparatistik. Friedrich Ohlys Werk und Wirkung Joachim H e i n z 1 e Marburg Literatur und historische Wirklichkeit. Zur fachgeschichtlichen Situierung sozialhistorischer Forschungsprogramme in der Altgermanistik 93 Michael C u r s c h m a n n Princeton Wolfgang Stammler und die Folgen: Wort und Bild als interdisziplinäres Forschungsthema in internationalem Rahmen 115 Hans F r o m m München Von der Schriftlichkeit zur Mündlichkeit? Mit einem Rückblick auf die Tagung in Freiburg 139 Abkürzungen
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Register der Personennamen
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Einleitung
Dieser Band geht auf ein methodengeschichtliches Colloquium zurück, das im Mai 1997 im Freiburger Zähringerhof stattfand. Es ging von dem Gedanken aus, daß nicht nur die mittelalterlichen Texte, mit denen sich die Altgermanistik beschäftigt, aufgrund bestimmter Interessenkonstellationen entstanden sind, aufgrund von Umständen und Bedingungen, deren Kenntnis ihr Verständnis erleichtert oder gar erst ermöglicht. Auch die anerkannten Formen des wissenschaftlichen Umgangs mit diesen Texten, also die wissenschaftlichen Methoden ihrer Erschließung, sind von vielen Faktoren, Interessen und Bedingungen bestimmt: Die Beiträge des Colloquiums sollten daher die Genese der neueren, heute im Fach allgemein anerkannten Methoden so zu beschreiben versuchen, daß das Zusammenspiel dieser Faktoren sichtbar würde, also das, was - wie Wolfgang Raible es in seinem Schlußwort formulierte - die Bedeutung und Wirkung des «Vorbilds» derer erklären mag, die es erstmals «wagen, bestehende Grenzen zu überschreiten und auf diese Weise zu neuen Horizonten aufbrechen». Dabei sprachen alle Referenten über Richtungen, deren Entwicklung sie miterlebt und mitgeprägt haben. U n d den Kreis der Gesprächspartner hatten sie selbst so ausgewählt, daß jede Richtung durch ältere und jüngere Kollegen vertreten war. Ein noch überschaubarer Kreis und Vertrautheit miteinander waren Voraussetzung für ein Gespräch, das wesentlich von Nähe und Distanz der Redner zu ihren Themen bestimmt sein würde. Die Überlegungen, die der Vorbereitung des Colloquiums vorausgegangen waren, und in vielen Gesprächen festere Gestalt angenommen hatten, ließen sich in den (hier leicht retouchierten) Begrüßungsworten zu Beginn der Tagung etwa so zusammenfassen: Bei der Beschreibung der Genese des heute im Fach allgemein akzeptierten methodischen Spektrums scheint es wichtig, nach Personen zu fragen, die das Fach geprägt haben, nach ihrer Entwicklung und ihrer Wirkung, nach den Gründen für ihre Entscheidungen und für deren Erfolg bei Schülern und Förderern, also nach den Voraussetzungen für ihre Etablierung in Richtungen und Institutionen; aber eben auch nach den Zufälligkeiten biographischer und wissenschaftlicher Wege, nach ihrer Bedingtheit durch Freundschaften und Beziehungen, kurzum: nach der Herausbildung wissenschaftlicher Interessen, nach ihrer Einbettung in und ihrer Begründung durch die Zusammenhänge des Lebens.
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Dabei ist es vielleicht nur von Vorteil, diesen Gesichtspunkten frei von jener wissenschaftstheoretischen Befrachtung nachgehen zu können, die ihnen etwa das Programm des nächsten Germanistischen Symposions () mitgibt. Gut scheint es aber auch, die Festlegung auf eine < Wissenschaftgeschichte (der Germanistik) in Porträts> zu meiden, wie sie die Marbacher Arbeitsstelle vorbereitet: Von den Themen dieses Colloquiums waren zunächst nur zwei deutlich persönlichkeitszentriert gedacht (diejenigen von Frau Meier-Staubach und von Herrn Mertens). Zwei weitere mochten die Spannung zwischen dem einzelnen und der Gruppe bzw. der Richtung einzufangen versuchen (die von Herrn Wachinger und von Herrn Heinzle). Die Themen von Herrn Stackmann und Herrn Curschmann waren noch offener formuliert, allerdings sind bei beiden Gegenstand des Vortrags und eigenes Wirken der Referenten besonders schwer zu trennen. Und es blieb natürlich und glücklicherweise nicht bei den ersten Vorschlägen; während bei der Ausarbeitung der Vorträge hier das Allgemeine wichtiger wurde, trat dort die Persönlichkeit stärker hervor als vorerst absehbar, so etwa im Fall des polygenen und daher zunächst anonymen Arbeitsbereichs der Text-Bild-Forschung, aus dem sich nun Wolfgang Stammler abhebt. Gerade das je eigene Zusammenspiel verschiedenster Faktoren charakterisiert doch die Genese des heutigen Methodenspektrums. Und weil diese jüngste Forschungsgeschichte in die eigene Gegenwart hineinreicht, sollte sie sich überschaubarer, konkreter, auch privater (oder: intimer) vermitteln lassen als Wissenschaftshistoriker das gemeinhin tun, eben als erzählte Geschichte aus dem Miterleben und Mitgestalten heraus, als Oral History, wie es Herr Stackmann spontan formulierte; Reflexion und kritische Distanz sind dabei ja nicht ausgeschlossen, ganz im Gegenteil. Es tut mir auch deshalb ganz besonders leid, daß Herr Ruh vor wenigen Wochen und vor wenigen Tagen noch Herr Wehrli aus gesundheitlichen Gründen auf ihre Teilnahme am Colloquium verzichten mußten. Sicher läßt die Ausrichtung dieses Colloquiums Wünsche offen: Das der Mediävistik in den letzten zwanzig, dreißig Jahren erschlossene Spektrum neuer Fragestellungen und Arbeitsbereiche - von der Diskussion um Mündlichkeit und Schriftlichkeit bis zu den Spielarten der Historischen Anthropologie - soll nur aus der historisch-genetischen Perspektive in den Blick kommen, also nicht an sich diskutiert werden. Denn keiner dieser Arbeitsbereiche besitzt eine genuin germanistische Ausprägung, keiner läßt sich vom Fach her biographisch erschließen oder strukturell in ihm verankern; und kaum einer erfüllt die Bedingung, bereits überschaubar zu sein, wenige erst sind allgemein integriert. Diese Einschränkung schließt aber eben nicht aus, daß sich der Umgang mit neuen, vor allem von außen an das Fach herangetragenen methodischen Ansätzen besser erklären läßt, auch die weitgehende Resistenz gegenüber modernistischen
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Anwandlungen. Ganz im Gegenteil, die Frage nach der Genese könnte gerade die Entdeckung und Erklärung jener methodischen Interferenzen ermöglichen, die etwa im sozialhistorischen Bereich gang und gäbe sind, oder eben auch wie Herr Fromm in seinem Schlußvortrag zeigen wird - das Bewußtwerden der Allgegenwart der Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit und damit ihrer Bedeutung für alle spezifischeren Fragestellungen, etwa auch für die Beziehungen zwischen Wort und Bild, die Herr Curschmann besonders betont. Eben auf diese Konvergenz der Ansätze, auf ihre wechselseitige Durchdringung kommt es aber an, gleich, von woher man sich den Erscheinungsformen mittelalterlicher Kulturen nähert, von wo aus man die sie konstituierenden Spannungen zu beschreiben versucht: Ob man die Gedächtniskultur in den Vordergrund rückt oder die Wissensvermittlung, die Interessenbildung oder die Begegnung von Klerikern und Laien - überall zeichnen sich Teilsysteme ab. Insofern berechtigt die für dieses Colloquium gewählte historisch-genetische Perspektive zur Hoffnung, es werde dazu beitragen können, unser Fach und unsere Zugehörigkeit zu ihm besser zu verstehen und seine Zukunft im Bewußtsein von Kontinuität und wachsendem Konsens motiviert, verantwortlich und gelassen mitzugestalten. Soweit die Erwartungen vor Beginn der Tagung. Während des Colloquiums entfalteten und verdichteten sich Gespräche, die früher begonnen hatten: Die Vorgespräche mit und zwischen den Referenten (und mit manchen anderen Kollegen) hatten Rückwirkungen auf die Konzeption, und die Vorträge selbst lösten dann lebhafte Diskussionen aus, die sich während der gemeinsamen Mahlzeiten und Unternehmungen gerade auch im Gespräch mit Jüngeren fortsetzten und über die Tagung hinausreichten - am deutlichsten greifbar im öffentlichen Rückblick, den Hans Fromm ein halbes Jahr später hielt, aber auch in Briefen, die schon kurz nach der Tagung das Verhältnis von Planung und Verlauf überdachten. Einerseits erlaubten die historiographische, wissenschaftstheoretische und biographische Dichte der Vorträge und die immer wieder überraschende Beleuchtung der vertrauten methodischen Richtungen des Fachs den Beteiligten die (genauere) Bestimmung des eigenen Standorts, historisch und im Verhältnis zu anderen. Andererseits schien der Spielraum der Aussagen gerade dort enger als erwartet, wo an sich von der Beschreibung der Persönlichkeitsstrukturen, der Entwicklung von Interessen und von Engagements und deren institutioneller Etablierung in ihrer wechselseitigen Bedingtheit grundsätzliche Einsichten zu erhoffen waren. Und manches, was die Gespräche bereicherte, überschritt nicht die Schwelle zur Schrift-
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lichkeit. Etwa auch ein längeres Diskussionsvotum von Manfred Briegel, das auf die Bedeutung der Wissenschaftsförderung für die Entwicklung des Fachs einging. Am deutlichsten aber kam das Bedürfnis zum Ausdruck, vom Rückblick zum Ausblick auf die Zukunft zu gelangen. Die Veröffentlichung der Vorträge mag nun in diesem Sinn dazu beitragen, im Gespräch zu bleiben. Das Colloquium wurde ermöglicht durch großzügige Beiträge des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften und des Rektorates der Universität Freiburg/Schweiz. Der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und der Hochschulrat Freiburg leisteten Beiträge an die. Druckkosten, das Mediävistische Institut nahm den Band in seine Obhut. Allen Verantwortlichen gebührt aufrichtiger Dank. Herzlich danke ich meinen Mitarbeiterinnen, Johanna Thali, ohne deren Freude an der Planung die Tagung nicht zustandegekommen wäre, und Andrea Bruhin, deren organisatorisches Talent und umsichtige Selbständigkeit mir die Arbeit leicht gemacht haben. Und ich danke allen, die an der Vorbereitung des Drucks beteiligt waren: Andrea Bruhin, Marcus Castelberg, Iwona Meyer-Swietlik und Johanna Thali und besonders Dr. Alain Nadeau vom Mediävistischen Institut, der mit gewohnter Sorgfalt den Satz und das Register erstellte. Vor allem aber danke ich Frau Meier-Staubach und den Herren Referenten für ihr Engagement, von dem alles abhing. Herrn Fromm, der mir in unermüdlicher Gesprächsbereitschaft in allen Phasen der Planung den nötigen Rückhalt gab, sei der Band in Dankbarkeit gewidmet. Freiburg/Schweiz, im August 1998
Eckart Conrad Lutz
Autor - Überlieferung - Editor von Karl Stackmann
(Göttingen)
Die Edition ist Grundlage aller wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache und Literatur einer vergangenen Epoche. Deshalb hat es wohl seine Berechtigung, wenn das Kolloquium zur Methodengeschichte unseres Faches mit einem Beitrag über das Editionswesen beginnt. Meine Darstellung ist auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg begrenzt. Ich werde in drei Schritten vorgehen. Zuerst möchte ich meine eigene Auseinandersetzung mit Editionsproblemen bis zum Bonner Germanistentag von 1963 darstellen. Sodann will ich ein paar Bemerkungen über die Entwicklung bis zum Einbruch der «New Philology», also bis etwa 1990, machen. Im dritten und letzten Abschnitt soll dann von der gegenwärtigen Krise die Rede sein, wenn denn - auch das ist zu erörtern überhaupt von einer Krise gesprochen werden kann. Was die Sache, also die Prinzipien des Edierens mittelalterlicher deutscher Texte angeht, so hat sich mein Standpunkt im Laufe der Jahre nicht wesentlich verändert. Ich werde also allerlei wiederholen müssen, was Sie schon früher von mir gehört oder gelesen haben. Zur Entschuldigung führe ich einen Stoßseufzer des alten Goethe an: «Daß der Mensch zuletzt Epitomator von sich selbst wird! Und dahin zu gelangen ist schon Glück genug». 1 - Entgegen dem Brauch, der Privates aus akademischen Erörterungen ausschließt, werde ich auch einige persönliche Erinnerungen verwenden. Dies scheint mir gerechtfertigt, weil ich sozusagen als Zeitzeuge zu Wort komme.
I Ich habe im Sommer 1940 zu studieren begonnen. Ein Jahr später wurde ich Soldat. Nach vierjähriger Unterbrechung konnte ich mein Studium zum Wintersemester 1945/46 wiederaufnehmen. Mit Editionen und dem 1
Maximen und Reflexionen, hg. von Max Hecker (Schriften der GoetheGesellschaft 21), Weimar 1907, Nr. 995.
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Editionswesen bin ich in der Germanistik bis zu meinem Doktorexamen nur oberflächlich in Berührung gekommen. Natürlich habe ich vom Nibelungen- und Minnesang-ABC gehört, auch davon, daß man die jeweiligen Handschriften in einem Stemma ordnen und daraus Editionsregeln ableiten müsse. Aber praktische Erfahrungen habe ich nicht gemacht. Eine Ausnahme bildete nur die Textkritik, insbesondere die Konjekturalkritik. Sie spielte im Seminar meines Lehrers Ulrich Pretzel eine erhebliche Rolle. Seine Auffassung über das Wesen des «philologischen Hauptgeschäftes» - gemeint: die Herstellung einer «wirklich kritischen Ausgabe» hat er im Vorwort seiner Ausgabe des dargelegt. 2 Für ihn ist die «Kunst der Textkritik» die «Grundlage unseres ganzen Handwerks», und er übte diese Kunst bei dem nur einmal, im frühen 16. Jahrhundert, aufgezeichneten Text ohne jede Scheu vor dem überlieferten Wortlaut. Seine Rechtfertigung: «Wir» - der Plural bezieht die Mitherausgeber ein - «sind uns bewußt, daß diese Kunst auch ins Unerreichbare vorzudringen bemüht ist, glauben aber, auch wenn das letzte Ziel nicht erreichbar ist, doch auf dem Weg zu ihm so weit wie irgend möglich vordringen zu müssen. Beweisen lassen sich unsere (meine) Entscheidungen nicht überall; damit sind sie noch nicht widerlegt! Immer wird der Textkritiker bei der Reinigungsarbeit, die er zu vollziehen hat, der Gefahr unterliegen, gelegentlich auch den Dichter selbst noch zu und sein kritisches Messer zu scharf anzusetzen. Dies ist bei weitem nicht so gefährlich wie das selbstgenügsame Resignieren und unfruchtbare Verharren bei einer als verderbt erkannten Uberlieferung.» 3 Auf eine Formel gebracht bedeute dies: Der Editor ist Sachwalter des Autors auch gegen die Uberlieferung. - Helmut de Boor hat dem in seiner Rezension entgegengesetzt: «Ich bekenne frei, daß mir das