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German Pages 261 [292] Year 1999
Pfaffen und Laien ein mittelalterlicher Antagonismus?
Scrinium Friburgense Veröffentlichungen des Mediävistischen Instituts der Universität Freiburg Schweiz Herausgegeben von Ruedi Imbach Peter Kurmann Pascal Ladner Eckart Conrad Lutz Aldo Menichetti Hans-Joachim Schmidt Jean-Michel Spieser Ernst Tremp Band 10
1999
Universitätsverlag Freiburg Schweiz
Pfaffen und Laien ein mittelalterlicher Antagonismus? Freiburger Colloquium 1996
Herausgegeben von
Eckart Conrad Lutz und Ernst Tremp
1999
Universitätsverlag Freiburg Schweiz
Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrates Freiburg Schweiz, des Rektorates der Universität Freiburg und der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pfaffen und Laien - ein mittelalterlicherAntagonismus? Freiburger Colloquium 1996 hrsg. von Eckart Conrad Lutz und Ernst Tremp. - Freiburg/Schweiz: Univ. -Verl., 1999 (Scrinium Friburgense; Bd. 10) ISBN 3 - 7 2 7 8 - 1 1 3 0 - 7 Copyright 1999 by Universitätsverlag Freiburg Schweiz Satz: Mediävistisches Institut der Universität Freiburg Schweiz Druck: Paulusdruckerei Freiburg Schweiz ISBN 3 - 7 2 7 8 - 1 1 3 0 - 7 ISSN 1422-4445
Frontispiz-, Hugo de Folieto f f 1172/74), Liber avium, Heiligenkreuz, [226], fol. 129", um 1200.
Ms. 18
Vorwort Clericus et miles, Pfaffe und Laie, stehen für ein spannungsreiches und zugleich fruchtbares Beziehungsgefüge, für vielfältige Formen der Begegnung und des Austauschs, die für die kulturelle Entwicklung Europas grundlegend wurden. Die Titelillustration der Heiligenkreuzer Handschrift - das Frontispiz dieses Bandes - personalisiert das Verhältnis zwischen Klerikern und Laien, das andere Illustratoren des ü b e r avium> Hugos von Fouilloy nur durch Taube und Falke bezeichnen. Links der mit den Attributen seines Standes ausgestattete Ritter: reiche Kleidung, Pferd, Spürhund, Windhund und Jagdfalke; rechts der Geistliche mit Lesepult und Buch. Das Gegenüber dieser Lebensformen halten Titelzeichnung und Prolog des Buches freilich nur im Rückblick fest. Hugo schreibt als Regularkanoniker für «seinen Rainer», Rainero suo, den ehemaligen Ritter und jetzigen Konversen, für einen Laien also, der nun mit ihm die regularis vita teilt: hec pertica est regularis vita. Beide haben sie die conversio vollzogen - der eine de clero, der andere de militia-, und doch bleiben sie verschieden - Taube und Falke, accipiter et columba - , bezeichnen sie verschiedene Lebensformen: die contemplativa vita der eine, die vita activa der andere. Die e i n e Kirche aber ruht auf beiden, auf der Wand der heiligen Gedanken, sanctarum cogitationum, der Kleriker, und auf der Wand der guten Werke, bonorum operum, der Laien. Wie der Klerus die Kirche trägt, die Kirchturm und Kreuz bedeuten, so trägt sie der Adel: Uber dem Wehrturm erscheint die Taube, die nach Hugos Auslegung die Kirche bezeichnet; ihre roten Füße meinen die Märtyrer, deren gute Werke allen Nachfolgenden Beispiel seien. Wo der Adel für die Kirche handelt, kämpft und stiftet, widmet sich der Klerus der Vermittlung von Glauben und Wissen, auch an den Laien, so wie es Hugo als Verfasser seines Buches für Rainer tut: Die Taube wendet sich dem Falken zu, der Kleriker klärt den Laien über ihrer beider Status auf. So versteht Hugo sein Vogelbuch, und er konzipiert es deshalb so, daß es zwischen beiden Welten - der gelehrten Welt des Verfassers und der laikalen Welt des Rezipienten - zu vermitteln vermag. Weil simplicium animus, der einfache Verstand der Laien, sehend zu begreifen vermag, was er hörend nicht versteht, will Hugo seine Vögel zuerst malen, dann erst be-
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Vorwort
schreiben; er will aber auch - über den Laien als ersten Adressaten hinausdenkend - per scripturam demonstrare picturam, also d e n durch die Schrift erreichen, der Bilder verschmäht (sie sich nur denkt), den Kleriker. Tatsächlich haben die meisten Schreiber auf Hugos Bilder verzichtet, und Migne in der Patrologia Latina überging sie auch. Unterschiede des Standes und der Lebensformen, der Sprache, der Bildung und des Denkens, Gemeinsamkeiten der Herkunft, der conversio und des Glaubens - das sind nur einige Aspekte des facettenreichen Bildes der Begegnung zwischen Klerus und Laien im Mittelalter, das Gegenstand eines Colloquiums war, dessen Ergebnisse wir hier vorlegen. Anlaß dieser Tagung des Mediävistischen Instituts der Universität Freiburg/Schweiz am 9. und 10. Februar 1996 war der 65. Geburtstag von Carl Pfaff. Ihm vor allem verdankt das Mediävistische Institut seine heutige Gestalt, den Anstoß zur Erneuerung und Erweiterung einer fruchtbaren Zusammenarbeit in Freiburg und weit darüber hinaus, die alle Freiburger Mediävisten in den vergangenen Jahren immer enger verbunden hat und sich auch in diesem Band niederschlägt. An einer Universität, an der jedes mediävistische Fachgebiet nur einmal vertreten ist, liegt der Blick über die Fachgrenzen vielleicht näher als anderswo, man ist hier aber auch auf Neigung und Fähigkeit aller Beteiligten zur Zusammenarbeit besonders angewiesen. Das Direktorium widmet diesen Band Carl Pfaff, dem inzwischen Emeritierten, mit den besten Wünschen für seine Vorhaben, die uns noch auf viele Jahre hinaus auch fachlich verbinden werden. Das Colloquium ließ sich nur durchführen aufgrund der Unterstützung durch den Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften und das Rektorat der Universität Freiburg; der Hochschulrat Freiburg ermöglichte die Herausgabe dieses Bandes. Allen Förderern sei hier herzlich gedankt. Unser besonderer D a n k gilt endlich Herrn D r . Alain Nadeau, der mit großem Einsatz den Satz des Bandes besorgte. Freiburg, im August 1998
Die
Herausgeber
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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Kaspar Elm - Rodulfus Glaber und die Ketzer. Uber den Kampf gegen Satan und Dämonen oder über das Verhältnis von Klerikern und Laien zu Beginn des 11. Jahrhunderts
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Ernst Tremp - Laien im Kloster. Das hochmittelalterliche Reformmönchtum unter dem Ansturm der Adelskonversionen
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Eckart Conrad Lutz - Zur Synthese klerikaler Denkformen und laikaler Interessen in der höfischen Literatur. Die Bearbeitung einer Chanson von Karl und Roland durch den Pfaffen Konrad und das Helmarshauser Evangeliar
57
Peter Kurmann und Brigitte Kurmann-Schwarz - Das religiöse Kunstwerk der Gotik als Zeichen der Ubereinkunft zwischen Pfaffen und Laien
77
Ruedi Imbach - Dispositio temporalium ad laicos spectat. Quelques remarques incidentes sur la contribution de l'esprit laïque à la philosophie politique
101
Agostino Paravicini Bagliani - Les laïcs à la cour des papes du XIIIe siècle
115
Alain Nadeau - Devenir Frère prêcheur au XIIIe siècle d'après les de Géraud de Frachet
135
Kathrin Utz Tremp - Multum abhorrerem confiteri homini laico. Die Waldenser zwischen Laienapostolat und Priestertum, insbesondere an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert
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Inhaltsverzeichnis
Carl Pfaff - Klerus und Laien im Spiegel der Reformatio Sigismunde
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Geneviève Hasenohr - La société ecclésiale selon le chancelier Gerson: Typologies et vocabulaire 209 Rainer Christoph Schwinges - Pfaffen und Laien in der deutschen Universität des späten Mittelalters
235
Orts- und Personenregister
251
Abkürzungen
263
Abbildungsverzeichnis
265
Abbildungen auf Tafeln
nach 267
Rodulfus Glaber und die Ketzer Über den Kampf gegen Satan und Dämonen oder über das Verhältnis von Klerikern und Laien zu Beginn des 11. Jahrhunderts von Kaspar Elm (Berlin)
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Rodulfus Glaber, der um 980 geborene und um 1046 verstorbene französische Geschichtsschreiber, berichtet in seinen an Schilderungen ungewöhnlicher Geschehnisse reichen von mehreren Ereignissen, die sich am Ende des 10. und zu Beginn des 11. Jahrhunderts in Ravenna und Orleans, auf einer Burg Monteforte in der Lombardei und in dem Dorf Vertus in der Diözese Chälons-sur-Marne zugetragen haben sollen. 1 In allen Fällen handelte es sich nach seiner Ansicht um das Auftreten neuer und bisher unbekannter Häresien. Die Subsumierung von vier an weit auseinander liegenden Orten zu beobachtenden Phänomenen unter dem Begriff nova et inaudita ist aus der Sicht des Chronisten, den das Außergewöhnliche interessiert und dem die Vierzahl als Schlüssel zum Verständnis von Welt und Geschichte dient, gerechtfertigt, 2 kann den heutigen Leser jedoch nicht überzeugen, unterscheiden sich doch die vier Ketzereien, was ihr Anliegen, ihren Charakter und geistesgeschichtlichen Hinter1
2
Rodulfi Glabri historiarum libri quinque. Rodulfus Glaber, The Five Books of the Histories, edited and translated by John France. Eiusdem auctoris vita domni Willelmi Abbatis. By the Same Author The Life of St. William, ed. by Neithard Bulst, transl. by John France and Paul Reynolds (Oxford Medieval Texts), Oxford 1989, S. 88-93, 138-149. Vgl. auch: Rodolfo il Glabro. Cronache dell'anno mille, a cura di Guglielmo Cavallo e Giovanni Orlandi (Scrittori greci e latini), Milano 1989. John France, The Divine Quaternity of Rodulfus Glaber, in: Studia monastica 17 (1975), S. 283-294. Paul E. Dutton, Raoul Glaber's . An Unnoticed Reading of Eriugena's Translation of the of Maximus the Confessor, in: Medieval Studies 42 (1980), S. 431-453.
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grund, vor allem aber ihre Urheber und deren soziales Umfeld angeht, erheblich voneinander.3 In den beiden erstgenannten Fällen waren die Häresiarchen theologisch gebildete Geistliche. In Ravenna handelte es sich um einen Kleriker namens Vilgardus, der sich, studio artis gramatice magis assiduus, nicht nur mit den antiken Autoren beschäftigte, sondern sich ihnen voller Hochmut gleichdünkte und davon überzeugt war, daß die dicta poetarum per omnia credenda esse, Vergil, Horaz und Juvenal also die gleiche Autorität wie die Heilige Schrift und die Kirchenväter beanspruchen könnten. 4 In Orleans sollen zwei bei König und Hof in hohem Ansehen stehende Kanoniker, nämlich Lisioius, der Präzentor von Sainte-Croix, und Heribertus, der Scholaster des Stiftes Saint-Pierre-le-Puellier, gemeinsam mit anderen Klerikern in der Bischofsstadt und deren Umland unter Berufung auf die ewige Gültigkeit der Naturgesetze und mit Hinweis auf die geringe Glaubwürdigkeit der Heiligen Schrift verkündet haben, daß Himmel und Erde ohne Anfang und Ende seien, es keinen Schöpfergott gebe und daher sowohl der Glaube an die Dreieinigkeit als auch alle Werke der pietas und iustitia gegenstandslos und überflüssig seien.5 Diesen beiden Häresien, die, was den Bildungsstand und die Stellung ihrer Urheber angeht, als bezeichnet werden können, stehen mit den Ketzereien von Monteforte und Vertus beziehungsweise gegenüber, die für die hier thematisierte Frage nach dem Verhältnis von Klerikern und Laien und damit nach Art und Ausmaß des Antagonismus der beiden Stände von besonderer Relevanz sind.6
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Die Unterschiede zwischen der Ketzerei «eines Bauern», der «Kanoniker» und «Adeligen» sowie der von Glaber nicht erwähnten Ketzerei «von Handwerkern» in Arras (1025) betont mit besonderem Nachdruck Renate Gorre, Die Ketzer im 11. Jahrhundert: Religiöse Eiferer - soziale Rebellen? Zum Wandel der Bedeutung religiöser Weltbilder (Konstanzer Dissertationen 4), Konstanz 1982.
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Historiae II, 12, 23, S. 92-93. Ebd. III, 8, 26-31, S. 138-150.
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Herbert Grundmann, Hérésies savantes et hérésies populaires au moyen âge, in: Hérésies et sociétés dans l'Europe pré-industrielle. Communications et débats du colloque de Royaumont 1962, prés, par Jacques Le Goff (Civilisations et sociétés 10), Paris/Den Haag 1968, S. 209-214; auch in: ders., Ausgewählte Aufsätze I: Religiöse Bewegungen (Schriften der M G H 25,1), Stuttgart 1976, S. 417-422.
Rodulfus Glaber und die Ketzer
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Nach Glaber waren es nämlich nicht Kleriker, sondern adelige Laien beiderlei Geschlechts, die auf der lombardischen Burg Monteforte nach Art der Heiden und Juden Götzenbilder anbeteten und ihnen Opfer darbrachten. 7 Bei der Ketzerei von Vertus handelte es sich weder um eine Gemeinschaft von Klerikern noch um einen Kreis von Adeligen, sondern um einen allein agierenden Angehörigen der Unterschicht, den Bauern Leutard. Er ging, so berichtet der Chronist, 8 eines Tages zur Arbeit auf den Acker. A m Abend kehrte er heim, trennte sich von seiner Frau und jagte sie weg, ging in die Kirche, angeblich um zu beten, ergriff jedoch das Kreuz und zerschlug das Bild des Erlösers. Alle, die das sahen, wurden von Entsetzen ergriffen und hielten ihn für wahnsinnig. Der einfache Mann predigte jedoch so eindrucksvoll und wortgewandt, daß er die anfängliche Skepsis seiner Zuhörer zu überwinden und ihren Sinn zu ändern vermochte. Er argumentierte mit der Heiligen Schrift und den Propheten, von denen er behauptete, sie hätten ex parte utilia, ex parte non credenda berichtet. Als der zuständige Bischof, Gebuin von Chälons-sur-Marne, davon erfuhr, daß eine ganze Reihe seiner geistlichen Untertanen dem Ketzer zugelaufen seien, ließ er ihn zu sich kommen. Nach einem längeren Gespräch befand er, daß es sich bei ihm um einen homo insaniens, einen Geisteskranken, handelte. Daher verzichtete er auf eine Bestrafung und entließ ihn. Leutard kehrt nicht, wie man hätte erwarten können, in sein Dorf zurück. Er stürzte sich vielmehr in einen Brunnen und machte so seinem Leben ein Ende.
II Die Berichte Glabers über die Ketzereien in Vertus und auf Monteforte umfassen in der Oxforder Ausgabe der Historien nicht viel mehr als 50 Zeilen. Nichtsdestoweniger handelt es sich bei ihnen wie bei den Darstellungen der Häresien von Ravenna und Orleans um Texte von zentraler Bedeutung. So gut wie alle einschlägigen Publikationen zur Geschichte der mittelalterlichen Häresien und ihrer Bekämpfung gehen nämlich davon aus, daß sie am Beginn der mittelalterlichen Geschichte der Ketzerei ständen und zu den ersten bekannten Verbrennungen von Ketzern des Mittelalters geführt hätten. 9 Anders als den frühmittelalterlichen Häresien eines Eli7 8 9
Historiae II, 12, 23, S. 92-93. Ebd. H, 11,22, S. 88-91. Herbert Grundmann, Bibliographie zur Ketzergeschichte des Mittelalters 1900-1966 (Storia e letteratura. Sussidi eruditi 20), Roma 1967; Carl T. Berk-
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pandus von Toledo, Felix von Urgel oder des sächsischen Grafensohnes Gottschalk, die als Nachwirkungen der im 4. und 5. Jahrhundert ausgetragenen Auseinandersetzungen über Prädestination und Trinität gelten, werden ihnen bisher unbekannte Qualitäten zugeschrieben. Die auf gebildete Kleriker zurückgehenden Häresien von Ravenna und Orleans werden im Sinne des paulinischen Oportet et haereses esse als eine Art Pendant zur beginnenden Frühscholastik angesehen, während die der Laien von Vertus und Monteforte mit den innerkirchlichen Reformen des 11. und 12. Jahrhunderts in Zusammenhang gebracht werden und als frühe Artikulationen dessen gelten, was später die Waldenser auf breiter Basis zu realisieren versuchten und die Katharer von einem dualistischen Ansatz her radikaler formulierten, nämlich des aus unerfüllter Heilserwartung und sozialer Bedrängnis erwachsenden Protestes gegen Klerus, Kirche und Glaubenslehre. 1 0 Angesichts einer solchen Einschätzung versteht es sich fast von selbst, daß ihre Schlüsselfiguren, auf der einen Seite Vilgard von Ravenna und die Kanoniker von Orléans, auf der anderen die Adeligen von Monteforte, vor allem aber Leutard, der hier im Mittelpunkt des Interesses stehende Bauer von Vertus, stärker als alle anderen der von Rodulf Glaber erwähnten Kleriker und Laien die Aufmerksamkeit der Historiker auf sich gezogen haben. Leutard, der homo plebeius Glabers, in dem man je nach Belieben einen Bauern, Hirten, Landarbeiter oder Eigenhörigen sieht, war, darin stimmen
hout, Jeffrey B. Rüssel, Medieval Heresies. A Bibliography 1960-1979 (Pontifical Institute of Mediaeval Studies. Subsidia Mediaevalia 11), Toronto 1981; danach u.a.: Ernst Werner, Martin Erbstösser, Ketzer und Heilige. Das religiöse Leben im Hochmittelalter, W i e n / K ö l n / G r a z 1986; Arno Borst, Barbaren, Ketzer und Artisten, München/Zürich 1988; Heinrich Fichtenau, Ketzer und Professoren. Häresie und Vemunftglaube im Hochmittelalter, München 1992; Edward Peters, Heresy and Authority in the Middle Ages, London 1980; Bernhard Hamilton, The Medieval Inquisition, London 1981; Edward Peters, Inquisition, Berkeley/Los Angeles 1989. 10
Jeffrey B. Russell, Interpretations of the Origins of Medieval Heresy, in: Medieval Studies 25 (1963), S. 26-53; Robert I. Moore, The Origins of Medieval Heresy, in: History 55 (1970), S. 21-36; ders., The Origins of European Dissent, London 1985; Heinrich Fichtenau, Zur Erforschung der Häresien des 11. und 12. Jahrhunderts, in: Römische Historische Mitteilungen 31 (1989), S. 7 5 91; Eretici ed eresie medievali nella storiografia contemporanea. Atti del X X X n Convegno di studi sulla riforma e i movimenti religiosi in Italia, a cura di Grado G. Merlo (Bollettino della Società di Studi Valdesi 174), Torre Pellice 1994.
Rodulfus Glaber und die Ketzer
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die meisten Interpreten überein, eine Ausnahmeerscheinung, ein Exzentriker und Sonderling. 1 1 W i e man seine Rolle zu beschreiben und zu bewerten habe, darüber besteht jedoch keine Ubereinstimmung. Für die einen ist er ein Laienapostel, ein radikaler Bauernbiblizist und Charismatiker, «an illuminated layman, a self-styled interpreter and propagator of Scripture», 1 2 wenn nicht gar «das Modell eines wahren Seelenhirten und religiösen Leiters». 1 3 Andere halten ihn hingegen für nichts anderes als einen Narren, einen oder . Widersprüche bestehen auch bei der Einschätzung seiner Motive. 1 4 Nicht nur Marxisten wie Ernst W e r n e r , 1 5 sondern auch andere weniger stark ideologisch gebundene Sozial- und Wirtschaftshistoriker sind davon überzeugt, daß es sich bei seiner , v o r allem bei der v o n ihm propagierten Verweigerung der Zehntzahlung, um den Ausdruck bäuerlicher Klassenkämpfe beziehungsweise die Reaktion auf ein im ausgebildetes System handelte, durch das bäuerliche Schichten von den Bannherren ihrer Freiheiten beraubt und in ihrem Auskommen geschmälert wurden. 1 6 Zu ihnen stehen jene Historiker in Gegensatz, die davon ausgehen, daß es Leutard um ein religiöses Anliegen ging, nämlich die «Entmaterialisierung der Religion», die «Reini11 12 13 14
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Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Köln 1980, S. 558; Werner, Erbstösser, Ketzer und Heilige (Anm. 9), S. 70. Brian Stock, The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries, Princeton N J 1982, S. 97. Ernst Werner, Religiöse Bewußtseinsformen im 11. Jahrhundert: Ketzer und städtische Zeloten, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 33 (1985), S. 42. Jeffrey B. Rüssel, Dissent and Reform in the Early Middle Ages (Publications of the Center for Medieval and Renaissance Studies 1), Berkeley/Los Angeles 1965, S. 111-113. Ernst Werner, Die gesellschaftlichen Grundlagen der Klosterreform im 11. Jahrhundert, Berlin 1953; ders., Häresie und Gesellschaft im 11. Jahrhundert (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Klasse 117,5), Berlin 1975; ders., Religiöse Bewußtseinsformen (Anm. 13), S. 40-62. Jean-Pierre Poly, Eric Bournazel, La mutation féodale, X e -XII e siècles (Nouvelle Clio 16), Paris 1980. Robert Fossier, Enfance de l'Europe. Aspects économiques et sociaux I: L'homme et son espace (Nouvelle Clio 17,1), Paris 1982. Kritisch äußern sich dazu: Giorgio Cracco, Le eresie del Mille: Un fenomeno di rigetto delle strutture feudali, in: Structures féodales et féodalisme dans l'Occident méditerranéen (X e -XIIP siècles). Bilan et perspectives de recherches (Collection de l'Ecole française de Rome 44), Rome 1980, S. 345-361; Dominique Barthélémy, La mutation féodale a-t-elle eu lieu?, in: Annales ESC 47 (1992), S. 767-776.
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gung des Christentums von barbarischen und magischen Elementen» beziehungsweise die «radikale Umgestaltung des eigenen Lebens aufgrund eines neuen Verständnisses der evangelischen Botschaft». 1 7 Nicht geringere Uneinigkeit besteht über die Herleitung der von Leutard vertretenen Auffassungen. Neben dem unmittelbaren oder durch die monastische Reformbewegung veranlaßten Rekurs auf das Evangelium und die vita apostolica,18 werden apokalyptische Ängste und die besonderen , und so auch von den übrigen Lastern; danach seien (die Häresiarchen) vor das Paradies gekommen und hätten dort die Stimme Gottes gehört, die ihnen Weisheit und das Wissen gab, mit welchen sie auf Erden die ihnen anvertrauten Menschen unterweisen sollten».
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Wenn wir zu den anfänglichen Fragen zurückkehren, so ist ganz klar geworden, daß die befragten Häretiker in der Mehrheit ihre Häresiarchen «für gute und heilige Männer hielten, welche anstelle der Apostel auf Erden wandelten und von Gott die Macht hatten, Beichten zu hören, Bußen aufzuerlegen und von den Sünden zu absolvieren», und zwar eindeutig «besser als die Priester der Kirche». Die Häresiarchen waren für Beichte und Buße zuständig, die Priester für die Messen. Die Kompetenz der Häresiarchen, «Beichten zu hören, Bußen aufzuerlegen und von den Sünden zu absolvieren», war für die Häretiker entschieden wichtiger als ihre Kompetenz, «das Wort Gottes zu predigen», auch wenn sie bei ihnen (nicht aber bei den Priestern!) nicht wenige Predigten hörten. Dies zeigen ganz deutlich auch die wenigen Verdächtigen, die vor dem Inquisitor glaubhaft machen konnten, daß sie nicht zur Sekte der Waldenser gehörten. Ein Mann (Nr. 88) beteuerte, daß er, obwohl seine Eltern beide Waldenser waren und ihn auch in die Sekte einführen wollten, «mit den Priestern zufrieden bleiben wollte» (volens stare contente in presbiteris), und «daß er bei seinem Eid niemals einem anderen als den Priestern öffentlich in der Kirche gebeichtet habe» (quod in tota vita sua nunquam alteri quam presbiteris publice in ecclesia fuerit confessa in iuramento suo). Ein anderer Mann (Nr. 141) glaubte zwar nicht, daß die Häresiarchen absolvieren konnten, verbot indessen seiner Frau nicht, bei ihnen zu beichten, weil es ihm nicht als etwas Schlechtes erschien. Es war ihm auch klar, daß es die vorgebliche Absolutionsgewalt der Häresiarchen war, welche seine Frau und auch seinen Onkel zu ihnen zog (si non haberent auctoritatem dimittendi peccata, ipsi, puta uxor etpatruus et alii, eos non sequerentur). Eine Frau (Nr. 185) schließlich gab zu, daß sie dem Häresiarchen beinahe «gebeichtet hätte, wenn es Tag gewesen wäre; aber in der Nacht schreckte sie zurück, weil das Licht im Zimmer, wo sie saß, ausgelöscht war» (sibi confessa fuisset, si dies fuisset, sed in nocte maxime perterrebatur propter ablacionem luminis in commodo, ubi sedebat). Auch ihr war die Absolutionsgewalt der Häresiarchen angepriesen worden, und zwar mit den Worten, wem sie nicht vergäben, daß der verdammt würde, und wem sie vergäben, dem sei wie aus Gottes eigenem Mund vergeben. Fast zum Vehängnis geworden wäre ihr außerdem, daß sie gerne das Wort Gottes hörte (avida verbo det) und man ihr auch das versprochen hatte. Fast ebenso gern hatte sie allerdings auch geweihte Kerzen, und es machte sie mißtrauisch, daß die Häresiarchen diese ablehnten - wie ihr übrigens ein Priester vorausgesagt hatte. Als sie auch noch hörte, daß die Häresiarchen keine Priester waren, sei sie aufgestanden und habe fortan nur mehr den Priestern und Mönchen in der Kirche gebeichtet.
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Die zweite Frage des Inquisitors lautete, ob die Häresiarchen «Priester seien, die von irgendeinem katholischen Papst oder Bischof geweiht und dazu geschickt seien». Erstaunlicherweise wurde sie von rund zwei Dritteln der Befragten negativ, also «richtig» beantwortet (46 von 68 Personen). Nur gerade zwei (Nr. 53 und 117) scheinen die Häresiarchen für richtige Priester gehalten zu haben, acht sind widersprüchlich und zwölf drücken sich nicht klar aus. Die Erklärung für dieses überraschende Resultat liegt möglicherweise darin, daß die Frage so präzis gestellt war, daß sie praktisch keinen Spielraum offen ließ und niemand in die Irre gehen konnte. Es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, daß die Häresiarchen «von irgendeinem katholischen Papst oder Bischof geweiht und geschickt und damit Priester seien». Die Frage lief nicht darauf hinaus, wie die Häretiker ihre Häresiarchen wirklich sahen, sondern wie sie sie sehen sollten, und das wußten im Grund alle. Die einzige Ausnahme machte jenes sechzehnjährige Mädchen (Nr. 53), welches «den Unterschied zwischen Häresiarchen und Priestern nicht zu sagen wußte» {non valuerit dicere differenciam ínter eos et presbíteros). Es ist auch anzunehmen, daß der Inquisitor bei den geringsten Zweifeln über die Qualität der Häresiarchen kräftig nachgeholfen hat. Die zweite Frage war im Grund mehr eine katechetische als eine häresiologische, vielleicht im Unterschied zur ersten, welche mit ihren vielen Elementen doch mehr Wahlmöglichkeiten bot. Es ist nicht zufällig, wenn die Geschichte vom regelmäßigen Gang der Häresiarchen zum Paradies in den Antworten auf die erste Frage enthalten ist. Sie bedeutete, daß die Häresiarchen zwar vielleicht nicht «von irgendeinem katholischen Papst oder Bischof geweiht und geschickt» waren, dafür aber - und viel besser - wie die Apostel direkt von Gott selbst, und außerdem alle sieben Jahre neu. Mit dieser Legende, die sich bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Osterreich nachweisen läßt, erhoben die Häresiarchen den Anspruch auf die Apostelnachfolge und entschädigten gleichzeitig ihre Gefolgsleute für die ihnen aufgezwungene Illegalität und Heimlichkeit.5 Die Häresiarchen scheinen aber nicht nur den Anspruch auf die Apostelnachfolge erhoben zu haben, sondern auch auf das Priestertum. Sie behaupteten gegenüber ihren Gläubigen, daß sie «durch das Wort Gottes 5
Kurze, Ketzergeschichte (Anm. 1), S. 82f. Siehe auch Peter Segl, Ketzer in Osterreich. Untersuchungen über Häresie und Inquisition im Herzogtum Osterreich im 13. und beginnenden 14. Jahrhundert (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, N F 5), München/Wien/Zürich 1984, S. 314, 326ff.
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geweiht seien und die gleiche Macht hätten, die Sakramente zu verwalten, wie die Priester» und daß sie «richtige Priester» (ven presbiteri) seien (Nr. 4 und 41). Die Gläubigen wiederum behaupteten vor dem Inquisitor, daß sie es nicht geglaubt hätten, aber wir haben ja gesehen, wie diese Antworten auf eine eigentliche Suggestivfrage und unter kräftiger Geburtshilfe des Inquisitors - zustandegekommen sind. Wenn wir uns außerdem unter den zeitgenössischen Waldensern in Straßburg, Bern und Freiburg umsehen, dann können wir feststellen, daß der «Irrtum», daß die Häresiarchen Priester seien, damals, an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert, viel weiter verbreitet war, als die Stettiner Protokolle vermuten lassen. Hier fällt ganz entscheidend ins Gewicht, daß ein versierter Inquisitor - Peter Zwicker recht eigentlich Ordnung geschaffen hat. Eine solche «ordnende Hand» hat in Straßburg, Bern und Freiburg weitgehend gefehlt, so daß hier die Realität des zeitgenössischen Waldensertums vielleicht besser zutage tritt als in Stettin. Bevor wir die Frage stellen können, warum die waldensischen Häresiarchen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts den Anspruch auf das Priestertum erhoben haben und warum die Gläubigen ihnen darin wahrscheinlich doch mehrheitlich gefolgt sind, müssen wir uns zunächst fragen, was denn die waldensischen Häresiarchen von ihrem Ursprung her gewesen sind: Laien oder Priester. Dazu ist eine kurze Rückblende in die Geschichte des Waldensertums nötig, bei der wir allerdings nicht mehr als einzelne Punkte und Stationen herausgreifen können.
2. Rückblende: Wie Waldes zum Priester geworden ist Laut der Chronik des Anonymus von Laon, die wahrscheinlich den authentischsten Bericht über die Anfänge des Waldensertum enthält, war der Gründer der Bewegung ein Mann namens Waldes, der zu Beginn der siebziger Jahre des 12. Jahrhunderts in Lyon lebte und durch Wucher reich geworden war. Nach einem oder mehreren Bekehrungserlebnissen entledigte er sich seines unrechtmäßig erworbenen Geldes und legte ein Armutsgelübde ab. Die Abkehr vom Reichtum scheint bei Waldes von Anfang an mit einem gewissen Bekenntnisdrang verbunden gewesen zu sein, er wollte auch die anderen an seiner Umkehr teilhaben lassen, er wollte predigen und zur Buße aufrufen. Er fand in der Tat bald Gefährten, die seinem Beispiel folgten, ihren Besitz den Armen schenkten, sich zu ihren Sünden und zur freiwilligen Armut bekannten und auch die anderen dazu aufforderten. Während das Armutsgelübde völlig unproblematisch - und
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auch nichts Außerordentliches - war, stieß Waldes mit seinem Griff nach der Predigt bald auf den Widerstand der kirchlichen Hierarchie. Als er auf dem Dritten Laterankonzil von 1179 erschien, soll ihn der Papst persönlich, Alexander III., zwar umarmt und sein Armutsgelübde gutgeheissen, aber ihm und seinen Gefährten das Predigen verboten haben. 6 Auf dem Dritten Laterankonzil war auch der Engländer Walter Map zugegen. Er berichtet, daß hier «Valdesier» aufgetaucht seien, die dringend um die Bestätigung der Predigtvollmacht ersucht hätten, obwohl sie sehr ungebildet gewesen und auch glatt über eine von ihm gestellte dogmatische Fangfrage gestolpert seien. Obwohl er sich über sie lustig machte, hat Walter Map doch die Anziehungskraft, welche von diesen Leuten ausging, nicht unterschätzt, und damit auch die Gefahr für die Amtskirche nicht. An seinen Bericht über den angeblich mißglückten Auftritt der «Valdesier» auf dem Konzil schließt er eine Beschreibung und Bewertung an, die motivhaft über der ganzen Geschichte der Waldenser stehen könnte: «Sie haben keinen festen Wohnsitz, sondern gehen zu zweit umher, mit nackten Füßen, in wollene Gewänder gekleidet, ohne eigenen Besitz, alles gemeinsam wie die Apostel, nackt dem nackten Christus folgend. Sie beginnen auf demütigste Weise, weil sie den Fuß noch nicht drinnen haben; wenn wir sie zulassen, werden wir hinausgeworfen werden». 7 Weil sie sich nicht an das Predigtverbot hielten, wurden die Waldenser durch die Synode von Verona von 1184 exkommuniziert und durch das Vierte Laterankonzil von 1215 für häretisch erklärt. Nichtsdestoweniger hatten sie - wie von Walter Map befürchtet - großen Erfolg und fanden rasch Anhänger über ganz Europa, und dies obwohl sie spätestens seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts von der Inquisition unbarmherzig bekämpft und verfolgt wurden. Dies brachte unter vielem anderen mit sich, daß die Waldenser nicht mehr öffentlich, sondern nur mehr heimlich und unter großen Gefahren predigen konnten. Es brachte auch mit sich, daß nicht mehr alle predigten - insbesondere auch die Frauen nicht mehr - , sondern nur mehr einige wenige, die späteren Häresiarchen. Diese waren
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E x chronico universali anonymi Laudunensis, hg. von G. Waitz (MGH SS 26), Leipzig 1909, S. 444-457, insbes.: 447f., 449.
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Walter Map, De nugis curialium, ed. and translated by Montague Rhodes James, revised by C. N. L. Brooke and R. A. B. Mynors, Oxford 1983, S. 124129 (insbes.: 126): Hii certa nusquam habent domicilia, bini et bini circueunt(!) nudi pedes, laneis induti, nicbil habentes, omnia sibi communia tanquam apostoli, nudi nudum Christum sequentes. Humillimo nunc incipiunt modo, quia pedem inferre nequeunt; quos si admiserimus, expellemur.
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weiterhin zur Armut verpflichtet und hatten keinen festen Wohnsitz, sondern besuchten ihre Anhänger, die ihrerseits Besitz haben durften und seßhaft waren. Bei diesen Besuchen wurde gepredigt und konnten die Gläubigen sich den Häresiarchen in der Beichte anvertrauen. Diese trat in ihrer Bedeutung gewissermaßen an die Stelle der Predigt, obwohl bei den nächtlichen Zusammenkünften weiterhin auch gepredigt wurde. 8 Dies war ganz grob der Stand der Dinge zu Beginn des 14. Jahrhunderts, als der französische Inquisitor Bernard Gui sein Inquisitorenhandbuch verfaßte. Er warf den Waldensern - und meinte damit vor allem die Häresiarchen - insbesondere vor, daß sie behaupteten, sie hätten die Macht, Beichte zu hören, zu absolvieren und Bußen zu verhängen, und zwar «von Gott und niemandem anderen, wie die Apostel sie von Christus hatten». Dabei «seien sie nicht Priester noch Kleriker, die von irgendeinem Bischof der Römischen Kirche ordiniert seien, sondern schlicht und einfach Laien». Er warf ihnen des weiteren vor, daß «sie ihren Gläubigen aus den Evangelien, den Episteln und anderen heiligen Schriften predigten und diese bei der Auslegung verderben würden», und dies «obwohl das Predigen den Laien ganz und gar verboten sei». 9 Nach Bernard Gui hätten die Häresiarchen nicht nur Armut, sondern auch Gehorsam und Keuschheit gelobt (aber vor allem letztere nicht immer gehalten). Weil sie keinen Besitz haben durften, lebten sie von den Spenden ihrer Gläubigen, die sie unter sich aufteilten. Jedes Jahr hielten sie ein oder zwei Generalkapitel in irgendeiner wichtigen Stadt ab, so heimlich wie möglich, in irgendeinem Haus, das von ihren Gläubigen lange vorher gemietet worden sei, wie wenn sie Kaufleute wären. Von hier würden sie in alle Himmelsrichtungen zu den Gläubigen ausgeschickt, um Beichten zu hören und Kollekten zu machen. 10 Bei den Gläubigen fielen sie nicht gleich mit ihren «Irrtümern» in das Haus, vielmehr führten sie zuerst aus, «wie nach den Worten der Evangelien und der Apostel wahre Jünger Christi beschaffen sein müßten und daß nur diese Nachfolger der Apostel seien, welche auch ihr Leben nachahmten und hielten. Daraus zögen sie den Schluß, daß der Papst, die Bischöfe, Prälaten und Kleriker, welche die Reichtümer dieser Welt hätten und die Heiligkeit der Apostel nicht nach-
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Gabriel Audisio, Les «Vaudois». Naissance, vie et mort d'une dissidence (XII e XVI e siècles), Turin 1989, insbes.: 7-63. Siehe auch Jean Gönnet, Amedeo Molnàr, Les vaudois au moyen âge (Studi storici), Turin 1974, insbes.: 41-210. Bernard Gui, Manuel de l'inquisiteur, éd. et trad. par Gabriel Mollat, t. 1 (Les classiques de l'histoire de France au moyen âge 8), Paris 1964, S. 42, 48. Ebd., S. 50f„ siehe auch S. 58.
Muhum abhorrerem confiteri homini laico
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ahmten, nicht die wahren Hirten und Lenker der Kirche Gottes seien, sondern reissende Wölfe, denen Christus seine Braut, die Kirche, nicht anvertraut habe und denen man deshalb keinen Gehorsam schuldig sei». 11 Seine Ausführungen über die Waldenser schließt Bernard Gui mit einem speziellen Fragekatalog für die einfachen Gläubigen, welcher auch denjenigen Peter Zwickers inspiriert haben dürfte. 12 Bernard Gui legte seinen Finger auf einen ganz wunden Punkt, wenn er feststellte, daß die Häresiarchen der Waldenser Laien seien und daß den Laien sowohl das Beichtehören als auch das Predigen verboten sei. Damit hatte er ein äußerst zukunftsträchtiges Argument in die Debatte geworfen, welches geeignet war, die Guten von den Bösen zu scheiden. Wie wir noch sehen werden, hatten es sich spätestens im 15. Jahrhundert auch die katholischen Laien zu eigen gemacht und verwendeten es gegen ihre waldensischen Mitchristen. Vielleicht war es dieses Argument, welches die waldensischen Häresiarchen veranlaßte, in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts selber nach dem Priestertum zu greifen. Zunächst scheinen sie sich jedoch noch mit der Apostelnachfolge begnügt und diese zu Bernard Guis Ärger erfolgreich gegen das etablierte Priestertum ins Feld geführt zu haben. Dabei ließ sich freilich nicht übersehen, daß auch die etablierte Hierarchie sich in der Nachfolge der Apostel sah. Es galt also andere Unterscheidungskriterien zu finden. Zu diesem Zweck scheinen die Häresiarchen, welche in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts im Piemont wirkten, ihren Anhängern die folgende hübsche Geschichte erzählt zu haben: «Als Christus in den Himmel fuhr, ließ er zwölf Apostel in der Welt zurück, die seinen Glauben predigen sollten. Davon behielten vier seine Bücher, die anderen acht aber gingen, um Gärten anzulegen, und sangen mit anderen Büchern, und keiner verstand sie. Die anderen vier aber sangen aus den Büchern Christi, und alle verstanden sie. Als jene acht dies hörten, wurden sie stärker und vertrieben jene vier aus der Kirche. Und als die vier auf die Straße gingen und dort sangen, waren die anderen wieder stärker und warfen sie auch von der Straße. Und dann begannen jene vier heimlich und nachts zu gehen». Besser läßt sich eigentlich nicht ausdrücken, warum die einen Apostelnachfolger «heimlich und nachts» wirken mußten, während die anderen öffentlich ihre Gärten pflegen konnten. Einen ähnlichen Zweck erfüllte die Legende vom regelmäßigen Gang der Häresiarchen zum
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Ebd., S. 58f. (hier David von Augsburg, , folgend). Ebd., S. 78f.
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Paradies, die ebenfalls in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Österreich auftauchte. 13 Aber auch die Gegenseite scheint nicht untätig geblieben zu sein (wie ja schon das Beispiel Bernard Gui zeigt). Man warf den waldensischen Häresiarchen vor, «daß ihr Orden [!] nicht das richtige Fundament und den richtigen Anfang habe und daß er nicht von den Aposteln herkomme, weil sie nicht alle Sakramente verwalteten, und versuchte sie damit um ihre Autorität zu bringen». Zum Beweis, daß der «Orden» doch von den Aposteln herkomme, führten die Häresiarchen an, «daß zur Zeit Kaiser Konstantins des Großen, als Papst Silvester den Schatz empfing, dessen Gefährten ablehnten und sagten: Wir haben ein Gebot von Gott, daß wir nichts Weltliches besitzen sollen. Silvester aber antwortete: Wenn ihr nicht bei mir bleibt, dann verbiete ich euch die Erde. Jene freuten sich und sagten: Dafür danken wir Gott, denn wenn du uns die Erde verbietest, weil wir die Gebote Gottes beachten, dann bietest du uns nach Verdienst den Himmel an, denn Christus hat gesagt: usw. (Mt 19, 28). In der Nacht auf den Streit mit Silvester wurde eine Stimme vom Himmel gehört, die sagte: Heute ist in der Kirche Gottes Gift ausgegossen worden. Als die Armen Christi diese Stimme hörten, vollendeten sie das Begonnene nur umso entschlossener, und so wurden sie