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German Pages 338 Year 2014
Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hg.) Das Mögliche regieren
Edition Kulturwissenschaft | Band 5
Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hg.)
Das Mögliche regieren Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse
Gedruckt mit der Unterstützung des Österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung.
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INHALT
Das Mögliche regieren. Einleitung ROLAND INNERHOFER & KATJA ROTHE 9
LITERARISCHER MÖGLICHKEITSSINN IN DER MODERNE EINLEITUNG VON BURKHARDT WOLF 19 Das Mögliche denken. Musils Möglichkeitssinn, die Mystik und Foucaults Konzept der Kritik NIKLAUS LARGIER 31 Die Organisation des Möglichen. Poetologien kapitalistischen Organisationswissens bei Robert Musil FLORIAN KAPPELER 49 Kontingenzregulierung? Zur Poetik funktionaler Gesellschafts organisation in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften DAVID WACHTER 73 Askese, Querulantentum und weitere Lebensstrategien in Franz Kafkas Romanfragment Das Schloss MALTE KLEINWORT 93
VERWORFENE SELBSTENTWÜRFE EINLEITUNG VON KARIN HARRASSER 113 Duell im Moderne-Labor. Re(a)gieren im Ring: Der Boxer als Repräsentationstypus in der Zeit der Weimarer Republik WOLFGANG PATERNO 119
Männer ohne Eigenschaften. Ernst Mach und Gilles Deleuze zwischen medialer Selbst-Empfindung und ‚unschlüssigem‘ Selbst-Entwurf KATHI HOFER 135 „[…] denn das Sichopfernkönnen beweist das Sich-Haben“. Zum paradoxen Freiheitsentwurf bei Schiller, Foucault und in der selbstverletzenden Body Art ROSEMARIE BRUCHER 151 „Better living through death“. Zur Gouvernementalität medialer Trauerarbeit in Six Feet Under DOMINIK MAEDER 169
UTOPISCHE RÄUME EINLEITUNG VON INGO LAUGGAS 187 Inselgeschichte. Johann Karl Wezels Robinson Krusoe MICHAEL DOMINIK HAGEL 195 Noch einmal „Acheronta movebo“. Theodor Herzls zionistische Utopie als Lenkungstechnologie CLEMENS PECK 209 Regierung der Nichtgeeigneten und Machtunwilligen. Zur gesellschaftspolitischen Ordnung in Franz Werfels Stern der Ungeborenen CHRISTIAN ZEMSAUER 231 Stadt am Netz. Virtuelle Gemeinschaften regieren CLEMENS APPRICH 249
SOZIALE UND ÖKONOMISCHE SZENARIEN EINLEITUNG VON SABINE MÜLLER 271 Gesteuerte Entwicklungen. Lebensläufe und Laufbahnen in Franz Kafkas Der Verschollene LUCIA IACOMELLA 279 Unendliche Rationalisierung und unfertige Gesellschaft. Edgar Zilsels Epistemologie der Massenerscheinungen MONIKA WULZ 295 „Suppose you wanted to change the entire course of economic policy ...“. Neoliberale Utopie und Regierungskunst LEA HARTUNG 317 Autorinnen und Autoren 333
Das Mögliche regieren. Einleitung ROLAND INNERHOFER & KATJA ROTHE
Das Verb regiert den Satz. Wenn „regieren“ im Titel dieses Bandes als Verb verwendet wird, so zeigt dies an, dass das Mögliche nicht von seiner Formung, Organisation und Lenkung zu trennen ist. Das Bedeutungsspektrum des vom Lateinischen „regere“ entlehnten Verbs „regieren“ ist sprachgeschichtlich breit gefächert. Nach Johann Christoph Adelungs Grammatisch-Kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart bedeutet „regieren“ „die Richtung einer Bewegung nach seinem Willen bestimmen und in dieser Bestimmung erhalten“1. In diesem Sinn lassen sich Schiffe und Wagen ebenso wie Länder, Menschen, ihr Verhalten und ihre Gefühle regieren. Das Deutsche Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm hebt neben der „kunst der obrigkeitlichen gesamtleitung“2 besonders die Leitung der Familie und des Hauses sowie die pädagogische und didaktische Lenkung hervor. Außerdem wird hier die Regierung der Gefühle hervorgehoben, und zwar nicht nur die anderer, sondern, im reflexiven Gebrauch von „sich regieren“, auch die der eigenen. Benennt also der Begriff des Regierens eine Fertigkeit und Fähigkeit, so weist diese eine Affinität zum Begriff des Möglichen auf: denn dieses Wort bezeichnet nicht nur einen ontologischen Status – im Sinn von Kants Definition: „Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung übereinkommt, ist möglich“3 – sondern auch eine Fähigkeit: was jemandem möglich ist, wozu jemand fähig ist. Grimms Wörterbuch definiert: „mit meiner kraft und in meiner lage zu erstellen“4. Das Mögliche eröffnet Optionen, Alternativen und es bezeichnet Fähigkeiten, Eigenschaften. Im Möglichen verbindet sich das Denken der Veränderung, des Zukünftigen, Potentiellen mit der
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Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Dritter Theil, Wien 1808, Sp. 1024. Grimm, Jakob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 14, Leipzig 1893, Sp. 527. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, zit. n.: Jakob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Leipzig 1885, Sp. 2467. Ebd. Sp. 2465.
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Das Mögliche regieren Potenz zur Veränderung, zur Intervention, ja zur Regierung des Möglichen.5 Eben auf diese Relation von Möglichkeit und Regierung weist Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität hin.6 Denn „gouverner“ bedeutet im Sinne Foucaults eine Form der Lenkung und Steuerung, deren Kunst gerade darin besteht, die den gelenkten Objekten und Individuen innewohnenden Eigenheiten und Dynamiken zu entfalten, ihre Kräfte und die Kräfte ihrer Umwelt – wie der erfahrene Steuermann, der Kybernetes oder Gubernator – zu berücksichtigen und geschickt zu nutzen. Der Gouvernementalität liegt also ein doppelter, ineinandergreifender Gestus zugrunde: der der Ermöglichung, die, mit Foucaults Wort, biopolitisch die Kräfte der Bevölkerung entbinden und steigern, ihre Produktivität und Reproduktivität optimieren will; und der der Regulierung, die eben von dieser Freisetzung der Potentialitäten angestachelt wird. Das Potentielle und Latente gilt es frühzeitig zu erkennen und für biopolitische Optimierungen nutzbar zu machen. Ein ‚normalisierendes‘ Regulierungswissen trachtet danach, die freigesetzten Energien durch Sicherheitsdispositive (wie Risikoabschätzung, Gesundheitsvorsorge, Verdurchschnittlichung von Verhalten) zu kanalisieren. In liberalen Regierungskonzepten werden Steuerungsversuche nicht als direktes Regieren gedacht, sondern als Selbstregulierung, die – von Adam Smiths Idee einer ‚unsichtbaren Hand’ inspiriert – ökonomisch konzipiert wird und das Konzept des Interesses strategisch nutzt. Regieren wird damit zur „Führung der Führungen“7 – einer Führung, die, im Doppelsinn von „anführen“ und „sich auf5
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Vgl. dazu auch Ernst Blochs Aristoteles folgende Unterscheidung von „Nach-Möglichkeit-Seiendem“ und „In-Möglichkeit-Seiendem“: „Die Materie ist so zu definieren: Sie ist nach dem implizierten Sinn der Aristotelischen Materie-Definition sowohl das Nach-Möglichkeit-Seiende (kata to dynaton), also das, was das jeweils Geschichtlich-Erscheinen-Könnende bedingungsmäßig historisch-materialistisch bestimmt, wie das In-Möglichkeit-Seiende (dynamei on), also das Korrelat des objektiv-real-Möglichen oder rein seinshaft: das Möglichkeits-Substrat des dialektischen Prozesses.“ Bloch, Ernst: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt a.M. 1963, S. 233. Zur Gouvernementalität: Foucault, Michel: „Die ‚Gouvernementalität‘. Vorlesung vom 1.Februar 1978“, in: Ders.: Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Ulrich Bröckling, Frankfurt a.M. 2010; Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 19771978. Aus dem Französischen von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, Hg. von Michel Sennelart, Frankfurt a.M. 2004. Foucault, Michel: „Warum ich die Macht untersuche? Die Frage des Subjekts“, in: Dreyfus, Hubert L./Rabinov, Paul (Hg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1987, S. 243-261, S. 255.
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Innerhofer & Rothe: Einleitung führen“, den Hebel an der Selbstkontrolle und den Selbsttechnologien der Geführten ansetzt. Die gouvernementale Regierungskunst verbindet Formen politischer Regierung mit den „Techniken des Selbst“.8 Für das politische Subjekt hat dies weitreichende Konsequenzen, da es nicht weiter in einem verrechtlichten Akt (sei dieser als Übereinkunft oder als Akt der Unterwerfung gedacht) einen Teil seiner Handlungsfähigkeit abgibt, sondern in umfassendem Sinn Anlass und Objekt von Regierungskünsten wird, in denen sich Machttechniken mit Wissensformen überkreuzen.9 Das Denken des Möglichen scheint eine bestimmte Erkenntnisform zu favorisieren: das Experiment. Betrachtet man die Zwischenkriegszeit in Europa – eine Zeit, die viele der Beiträge des vorliegenden Bandes bearbeiten –, dann springt jene Affinität zwischen dem Denken des Möglichen zu experimentellen Formen der Wissens-generierung ins Auge. Autoren wie Robert Musil und Franz Kafka, Philosophen wie Ludwig Wittgenstein und Edgar Zilsel oder Gesellschaftstheoretiker wie Theodor Herzl beschäftigen sich mit der ‚versuchsweisen‘ Erforschung von Noch-Nicht-Gewusstem und überschreiten dabei die intellektuellen, kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Begrenzungen ihrer Disziplinen.10 Die experimentelle Erkundung des Möglichen eröffnet immer neue Konzeptualisierungsversuche von Denken und Handeln. Wissen wird ‚fluide‘, dynamisch. Tatsächlich treiben oftmals gerade Dinge, die dem Wissen entgegenstehen, es hindern oder die wir gar nicht wissen wollen, die Produktivität des Denkens des Möglichen voran. An diesen Schwellen des Wissens11 operieren Experimentalanordnungen, die in einem Prozess der ständigen Revision Wissen performativ erzeugen.12 Möglichkeitsdiskurse des „Als-ob“ entwerfen dabei ein unsicheres Wissen auf eine mögliche Zukunft hin. Dieser Entwurf kann einem Denken der Prognose und Vorsorge folgen und ein Wissen pro-
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Foucault, Michel: Die Regierung des selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, aus dem Französischen von Jürgen Schröder, , Frankfurt a. M. 2009. 9 Lemke, Thomas: Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden 2007, S. 3. 10 Zu den „Denkkollektiven“ des Möglichen siehe Griesecke, Birgit: „Statt einer Einleitung. Autokorrektur. Möglichkeitsdenken im Umkreis des Wiener Kreises“, in: Dies. (Hg.): Werkstätten des Möglichen 1930-1936. L. Fleck, E. Husserl., R. Musil, L. Wittgenstein, Würzburg 2008, S. 13-44. 11 Knorr Cetina, Karin D.: Wissenskulturen: Wie Wissen produziert wird, Frankfurt a.M., S. 94. 12 Dazu Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001.
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Das Mögliche regieren duzieren, das vorwegnimmt, was kommen soll.13 Hier wird Mögliches mit Wirklichem verschränkt. Denn das Mögliche zu regieren bedeutet, Fiktionen für die Produktion von auf die Zukunft gerichteten Handlungsanweisungen, Optimierungskonzepten und Sinnformierungen nutzbar machen zu können. In so einem Kontext werden gerade in der Zwischenkriegszeit Konzepte des Regierens wie z.B. (Selbst-)Regulation, (Selbst-)Steuerung, System und Homöostase neu überdacht (Kurt Goldstein, Jakob von Uexküll, Kurt Lewin).14 Möglichkeitsdenken ist hier mit Intervention verbunden und es wird versucht, von der gewünschten Zukunft her in die Gegenwart zu intervenieren. Andererseits und oftmals gleichzeitig steht quer zu diesem Begehren nach dem Regieren des Möglichen eine ‚Verfilzung‘ des Möglichkeitssinns, wie sie exemplarisch in Robert Musils unabgeschlossenem Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften zu beobachten ist. Aber auch bei Ludwig Wittgenstein, Edmund Husserl oder etwa Ludwik Fleck verhindert die Anforderung des Möglichkeitsdenkens, alles in der Schwebe halten zu müssen, den Abschluss ihrer im Medium des Buches gestalteten Narrative des Möglichen.15 Hier begegnet man einem Denken des immer nur Möglichen, das nicht aktualisiert wird, sich immer wieder der Gegenwart entwindet und sich „zahllosen Zukünften entgegen“16 verzweigt. Im Nachdenken über die Regierung des Möglichen geht der Band über die Zwischenkriegszeit, in der der Modus Potentialis epidemisch wurde, hinaus und fragt nach den Konsequenzen dieses frühen Möglichkeitsdenkens innerhalb künstlerischer, ökonomischer und medialer Konstellationen für das 20. Jahrhundert. Aus einer heutigen Perspektive scheint es, als wäre das ehemals revolutionäre Denken des Möglichen mittlerweile Bestandteil medialer und ökonomischer Kalküle der Selbststeuerung, die mit neoliberalen Regulierungsweisen korrespondieren. Der Band untergliedert sich in vier Teile, von denen jeder gesondert eingeführt wird. Die jeweiligen Einführungen gehen über eine bloße Zusammenfassung hinaus und verstehen sich als Kommentar der Beiträge. Dieses Konzept ist der Form der mündlichen Respondenz nachempfunden und soll eine gezieltere Auseinander13 Über Worst-Case-Szenarien, die einer solchen Logik folgen, siehe: Horn, Eva: „Der Anfang vom Ende. Worst-Case-Szenarien und die Aporien der Voraussicht“, in: Engell, Lorenz/Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph (Hg.): Gefahrensinn, München 2009, S. 91-100. 14 Innerhofer, Roland/Rothe, Katja: „Regulierung des Verhaltens zwischen den Weltkriegen. Robert Musil und Kurt Lewin“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33, 2 (im Erscheinen). 15 Griesecke: „Autokorretur“, S. 31f 16 Borges, Jorge Luis: „Der Garten der Pfade, die sich verzeigen“, in: Ders.: Fiktionen, Frankfurt a.M. 1992, S. 77-89. S. 88f.
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Innerhofer & Rothe: Einleitung setzung mit den Texten ermöglichen. Gemeinsam ist allen vier Teilen, dass sie ein fächer- und disziplinübergreifendes Wissen vom strategischen Einsatz des Möglichen skizzieren, das wissenschaftliche Fragestellungen mit gesamtgesellschaftlichen Interessen und ästhetischen Fragen verbindet. Nichtsdestotrotz thematisieren die Beiträge die jeweiligen ‚Poetologien des Wissens’ ihrer Gegenstandsbereiche als spezifische Inszenierungsweisen des Möglichkeitsdenkens. Film, Literatur, Performance, Sport, empirische Forschung, wissenschaftliche Studie und politisches Programm formieren ein je eigenständiges Wissen, lassen durch bestimmte Institutionen und Medienarrangements unterschiedliche Wissensformen effektiv werden und transportieren und transformieren Wissen auf ihre spezifische Art und Weise.
Literarischer Möglichkeitssinn in der Moderne Die Tragweite und -fähigkeit des Foucaultschen Gouvernementalitätskonzepts lotet der erste Teil des Bandes in Hinblick auf Robert Musils „literarischem Möglichkeitssinns“, dessen zeitgenössischer Resonanz sowie besonders auf Parallelen bei Kafka aus. So manifestiert sich, wie Niklaus Largier in seinem Beitrag für diesen Band hervorhebt, in der Mystikrezeption zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Konzept des Möglichen, das sich rationalistischen und irrationalistischen Totalisierungen gleichermaßen widersetzt. Mystik wird beim jungen Georg Lukács, bei Karl Mannheim, Béla Balázs und Robert Musil als rhetorisches Manöver und Reflexionsmedium verstanden, in dem die Ordnung des Wirklichen herausgefordert wird. Damit kann dieses neu wahrgenommen, als Material behandelt und transformiert werden. Für Robert Musil waren zeitgenössische Ordnungskonzepte, wie sie etwa die Psychophysik, die topologische Psychologie oder die im Wiener Kreis diskutierten Verfahren gesellschaftstechnischer Konstruktion anboten, durchaus bedenkenswert, er setzte sie immer wieder polemisch gegen den Anti-Rationalismus und die Ideologien des neoromantischen, nietzscheanischen Geniekults ein: Als „sachliche“ und pragmatische Zugänge sind sie Korrektive der „erhabene[n] Hohlheit“ von „Personenverehrung“ und Instrumente zur „Entthronung der Ideokratie“17. Zugleich werden in Musils Schriften, insbesondere im Mann ohne Eigenschaften, Wissens-ordnungen, die auf Ordnungswissen zulaufen, historisch situiert, relativiert und damit in Frage gestellt. Aus dem Versuch, alle Wissensgebiete zu in-
17 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und Zweites Buch, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 407.
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Das Mögliche regieren tegrieren und experimentell zu konfigurieren, resultiert hier ein unabschließbarer Schreibprozess. Alles Niedergeschriebene ist vorläufig und revisionsbedürftig: Resultat des Steuerungsversuchs in einem offenen Kräftefeld, in dem weder Richtung noch Ziel festgelegt werden können. Richtet also der Roman seine erzählerische Energie darauf, das Kontingente zu regulieren, so geht aus dem Schreibprozess die Erkenntnis hervor, dass sich das Gesamtsystem nicht steuern lässt. Im Umgang mit dem „Gefilz von Kräften“18, das das Individuum vorfindet, bildet das Essayistische nicht nur ein literarisches Programm, sondern zugleich eine Verhaltenstechnik. Im Modus des Essayistischen unterzieht Musil die Begriffe von Subjekt, Geschichte und nicht zuletzt des Erzählens einer Korrektur, welche die Kontingenzbewältigung in unüberschaubar komplexen, flexiblen Systemen voraussetzt. Das (Über-)Leben, ja das Überlebt-Haben in einer undurchsichtigen und undurchschaubaren Situation ist auch die Aufgabe, vor der sich die Figuren in den späten erzählerischen Texten Kafkas gestellt sehen. Diese Situation ist eingeschrieben in einen topologischen Raum, der sich aus beweglichen Positionen und komplexen Beziehungen konstituiert. Da diese auf asymmetrischen Kräfteverhältnissen beruhen, ist solcher Raum Effekt von Machtbeziehungen. Das Paradox von Kafkas Texten – mit einem Wort Musils: ihre „phantastische Genauigkeit“19 – liegt darin, dass solche Kräfteverhältnisse dem Handeln einen Rahmen geben und damit den Handlungsspielraum begrenzen, dieser Rahmen und diese Grenzen aber zugleich nirgends festzumachen sind. Kafkas Raum ist kein festgefügter, sondern ein diffuser, er konstituiert sich aus den Positionen der Gegenstände und Bewegungen der Personen in ihm. Der Ort der Dinge und Figuren ist nicht festgelegt, sondern resultiert erst aus der Relation zu den anderen Orten und Positionen. Der Raum ist damit Produkt von Feldkräften, er verändert sich mit den Zuständen der Dinge, ihrer Lage zueinander und ihren Kräfterelationen. In einem solchen literarisch konstituierten Kräftefeld wird den Figuren eine permanente hermeneutische Tätigkeit und ein hohes Maß an Selbstregie abverlangt, um die in ihrem Umfeld gültigen Spielregeln zu erkennen, sich flexibel an sie anzupassen oder ihnen wirkungsvoll zu begegnen. Sie agieren in einer theatralen Situation, in die die Vorgänge der Regierung, der Kontrolle und der Normalisierung eingeschrieben sind. Machteffekte sind daher im literarischen Raum Effekte einer Inszenierung, in der die Akteure als Darsteller ihrer selbst auftreten. Leben wird unter solchen Bedingungen 18 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und Zweites Buch, S. 16. 19 Ebd., S. 247. Dazu auch Vogl, Joseph: Über das Zaudern, Zürich 2007, S. 71.
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Innerhofer & Rothe: Einleitung zu einem beständigen „Sich-Aufführen“, zur permanenten Selbstführung. Es herrscht Spielzwang: Der spielerische Umgang mit Vorlagen und Rollen, Finten, Täuschungen und Mimikry sind die Verhaltensweisen, die dem Postulat der Flexibilität und der daraus folgenden Volatilität und Liquidität der Identitätszuschreibungen entsprechen.
Verworfene Selbstentwürfe Wie solche Techniken der Selbstführung „mögliche Körper“ –in Sport, Kunst und Film – prägen, ist Thema des zweiten Teils des Bandes. Riten der Selbstauflösung20 hieß ein Kultbuch der Intellektuellen in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Zelebriert wurde hier ein neuer Dandyismus, der auf das diagnostizierte Zerbröckeln der bürgerlichen Persönlichkeit mit einer geradezu heroischen Selbst-Verneinung reagierte. Die jedes Ziels entkleideten und jedes Sinns entleerten Automatismen des Verhaltens wurden affirmiert und als Ausgangspunkt eines nonkonformistischen Experimentierens mit der Steuerung eigenen und fremden Verhaltens betrachtet. Seine Inszenierung, Manipulation, Irritation und Brechung waren das Programm und die Praktiken, die durch den Auflösungsprozess angestoßen werden sollten. Das Paradox einer gewollten Selbstbeurlaubung, das ein Selbst voraussetzt, das sich dafür entscheidet, sich von sich selbst zu verabschieden, wird schon in Musils Mann ohne Eigenschaften reflektiert. In der Unschlüssigkeit zwischen Selbstbehauptung und Selbstnegation wird der heroische Mann zum unpersönlichen „man“ depotenziert. In dieser paradoxen Bewegung ist der Roman paradigmatisch für die Dialektik von Selbstbehauptung und Selbstverneinung, die die Kunst der Moderne durchzieht. Michel Foucault stellt die Verbindung von Autonomiekonzept und Selbsttechnik als Merkmal einer Subjektivierungsform im Kontext gouvernementalen Regiertwerdens heraus, hält aber an der Differenz und Spannung zwischen Selbst- und Herrschaftstechnologien fest. Eben in diesem Spannungsfeld operiert etwa die avantgardistische Kunst der Selbstverletzung. Denn wenn sich nach Foucault die Macht im Innern der Körper ansiedelt, so demonstriert die Selbstverletzung diesen Zugriff und entzieht sich ihm zugleich, indem sie die Aggressorrolle selbst übernimmt. Wendet sich HansGeorg Gadamer mit der Formulierung: „Das Selbst, das wir sind, besitzt sich nicht selbst. Eher könnte man sagen, dass es sich ge-
20 Heyden-Rynsch, Verena von der: Riten der Selbstauflösung, München 1982.
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Das Mögliche regieren schieht“21 gegen die dualistische Illusion einer Verfügungsmacht des Selbst über sich selbst und damit auch über den Körper, so bekräftigt der Besitzanspruch, den die Aktionisten durch Eingriffe in den eigenen Körper radikal stellen, gerade die Spaltung von Geist und Körper, welche die Moderne vorantreibt. Unter Bedingungen der Moderne „geschieht sich“ das Selbst – als Spielball kontingenter Ereignisse und Umstände. Vor diesem Hintergrund erscheint die selbst verletzende Kunst als Versuch, sich das Selbst über den Körper wenn nötig gewaltsam und zerstörerisch anzueignen.22
Utopische Räume Von Versuchen, die Differenz zwischen Selbst- und Herrschaftstechniken einzuebnen, handeln die von modernen und postmodernen Utopien und Gesellschaftstheorien entworfenen „möglichen Welten“, mit denen sich der dritte Teil des Bandes beschäftigt. Wenn pastorale und biopolitische Führungsmethoden im gemeinsamen Ziel einer Regierung, die zugleich auf den Einzelnen und auf die Bevölkerung ausgerichtet ist, konvergieren, zeigen die modernen utopischen, heterotopischen und dystopischen Diskurse, dass solche Konvergenz nur gewaltsam herzustellen ist. So wird in Franz Werfels als Utopie maskiertem satirischem Roman Stern der Ungeborenen der Thanatopolitik, die sich als Euthanasie präsentiert, die stoische melete thanatou, die Einübung in die schwerwiegende Unausweichlichkeit des Todes entgegengestellt. Beispielhaft ist Werfels Einspruch gegen eine Auffassung der Gouvernementalität, welche die Techniken der Selbstbemeisterung mit der Kunst der Regierung gleichsetzt. Hier wird es möglich, die Frage zu überprüfen, ob der „Möglichkeitssinn“, die Techniken der Selbstkultivierung notwendig mit der Rationalisierung des (staatlichen) Regierens gekoppelt sind. Jack Goody etwa sieht in seiner Kritik an Norbert Elias diesen Nexus als Teil eines eurozentristischen Narrativs und weist auf alternative Modelle der Selbstkontrolle und Verhaltensregulierung hin, die auf Reziprozität und oraler Kommunikation beruhen, von lokalen sozialen Gegebenheiten abhängig und kontextuell differenziert
21 Gadamer, Hans-Georg: Philosophie. Hermeneutik, zit. n.: Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, S. 202. 22 So erscheinen diese Aktionen auch als parodistischer Kommentar zum Modell eines „unternehmerischen Selbst“. Vgl. dazu Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007.
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Innerhofer & Rothe: Einleitung sind, daher ohne Staat und ohne die Kulturtechniken der europäischen Moderne auskommen.23 Eben solch kritisches Ferment widerständiger Selbsttechnologie verflüchtigt sich in der medialen Selbstregulierung der sich als Speerspitze der Demokratisierung verstehenden „Netzkultur“. Die virtuellen Gemeinschaften der 90er Jahre sind ein Beispiel für die Funktionsweise flexibler Normalisierung: Indem die Akteure sich im digitalen Raum inszenieren, führen sie vor, was diesem Raum angemessen, und stecken damit die Felder dessen ab, was in der Community praktikabel und akzeptabel ist.
Soziale und ökonomische Szenarien Von hier aus schlägt der vierte Teil des Bandes, der nach den sozialen und ökonomischen Technologien zur Formung „möglicher Gesellschaften“ fragt, den Bogen zurück zu Kafka. In seinem ersten Romanfragment, Der Verschollene (1911-14), bemächtigen sich die Institutionen des Kontingenten, indem sie es registrieren, sortieren und verwalten. Der Protagonist scheitert aber gerade daran, dass er gegenüber den Instanzen der Verdurchschnittlichung auf der eigenen Besonderheit beharrt, die ironischerweise weniger in der Abweichung als im Übereifer der Normerfüllung liegt. Wenn die modernen Institutionen die Mannigfaltigkeit empirischer Singularitäten in den Griff zu bekommen suchen, so richten Edgar Zilsel zufolge die Natur- wie Kulturwissenschaften ihr Rationalisierungsbegehren darauf, den Bereich des Zufälligen, „Irrationalen“ zu reduzieren, die immense Menge des Unbekannten und Nicht-Wissens zugunsten des Wissens zu verkleinern. Rationalisierung qua Präzisierung ist demnach die Mission der Wissenschaft. Besteht das empirisch Gegebene aus der endlosen Dispersion heterogener Einzelheiten, seien es Individuen, Dinge oder Ereignisse, so gründet Zilsels Hoffnung, ihre Veränderungen nicht nur vorhersehen, sondern auch beeinflussen zu können, auf den Glauben an die „glückliche Verteilung der Unbestimmtheiten“24, die es ermöglicht, Beziehungen zwischen den Singularitäten zu erkennen. Moderne wissenschaftliche Erkenntnisformen zielen damit auf den steuernden Eingriff nicht nur in Naturvorgänge, sondern auch in den Verlauf gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Das dem zugrunde liegende „Gesetz der großen Zahlen“, die statistische Normalverteilung, ist aber nicht erst, wie bei Zilsel, der Ansatzpunkt einer utopi-
23 Goody, Jack: The Theft of History, Cambridge 2006, S. 164. 24 Zilsel, Edgar: Das Anwendungsproblem. Ein philosophischer Versuch über das Gesetz der großen Zahlen und die Induktion, Leipzig 1916, S. 169.
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Das Mögliche regieren schen Gesellschaftstechnik, sondern ein wesentliches Instrument des zeitgenössischen Verwaltungsapparates und der bürokratischen Regierung. Dagegen beruht das Konzept der Think Tanks25 auf der Annahme, dass Geschichte nicht von Massenphänomenen und bewegungen, sondern von der wirkungsvollen Verbreitung der Ideen einiger weniger Individuen abhängt. Der von Zilsel ideologiekritisch historisierte bürgerliche Geniebegriff erfährt in der liberalistischen „Programm-Utopie“ der 1947 gegründeten Mont Pèlerin Society eine Wiederauferstehung im Zeichen eines zügellosen Kapitalismus. Geschichte wird, ganz im Zeichen des Kalten Krieges, zur „Schlacht der Ideen“, in der der unversöhnliche Gegensatz zwischen Individualismus und Kollektivismus, Privateigentum und Verstaatlichung, durch Eigennutz angetriebenem Leistungsdenken und sozialstaatlichem ‚Schmarotzertum‘ auf eine alles entscheidende Lösung drängt. Dem elitären Netzwerk der MPS mit seinem hierarchischen Steuerungsmodell und der von Zilsel angestrebten, von den Massen ausgehenden sozialen Revolution ist bei aller grundsätzlicher Differenz das Bestreben gemeinsam, die Definitionsmacht darüber zu erhalten, was möglich und was unmöglich ist. Beiden geht es um Steuerungsversuche in einem offenen Feld der Kräfte. Die vom Think Tank angebotenen und beworbenen Ideen sollen, ganz im Sinne gouvernementaler Regierung, einen Vektor vorgeben: Bewegungen anstoßen und auslösen, ohne sie selbst ausführen zu müssen. Der Lauf der Geschichte und der Aufbau der Gesellschaft soll durch die Bereitstellung der ‚richtigen‘ Ideen für Politiker, Intellektuelle und Pädagogen indirekt beeinflusst werden. Damit werden diese zu Vollzugsorganen von ‚Ideokraten’, die sich ihrerseits in ihren Regierungskonzepten nach dem nicht weiter begründeten Parametern des Marktes richten. Ein Mögliches aber, das nach alleiniger Maßgabe liberaler Marktwirtschaft urbar gemacht werden soll, ist nichts anderes als das Altbekannte – mit Robert Musil gesprochen: „Seinesgleichen“.
Die Herausgeber danken dem Österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, dem PhD-Net „Das Wissen der Literatur“ und der Universität Wien für die großzügige Unterstützung der Graduiertenkonferenz Das Mögliche regieren, 2. – 4.7.2009 in Wien. Wir danken dem Österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung außerdem für die Förderung der Publikation dieses Bandes.
25 Brandstetter, Thomas/Pias, Claus/Vehlken, Sebastian (Hg.): Think Tanks. Die Beratung der Gesellschaft, Zürich, Berlin 2010.
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Literarischer Möglichkeitssinn in der Moderne EINLEITUNG VON BURKHARDT WOLF
‚Modernität‘, das sagt bereits die Wortgeschichte, ist eine Frage des Tempus, aber auch des Modus. Abgeleitet hat man modernus von lat. modo, „eben noch, eben erst“, und vielleicht ist damit bereits jene Art Zwischenzustand bezeichnet, in dem sich, seitdem zum historischen Begriff geworden, das Moderne präsentiert: als etwas, das sich eben noch aus dem Gegebenen und Gewissen herausgeschält und eben erst in das Künftige und Kommende eingeschrieben hat. Was seit der Wende zum 18. Jahrhundert als schlechtweg „moderne Epoche“ beschrieben wurde, gewinnt seine Eigentümlichkeit an exakt diesen zwei Momenten. Als „modern“ gilt nämlich zunächst die Orientierung an einem novum im fundamentalen Sinne, womit nicht mehr nur die – vormals bestenfalls verdächtige – Abweichung vom Ewigen oder Kanonisierten gemeint ist. Vielmehr wird durch diese Orientierung ein gänzlich neues Zeitverhältnis gestiftet. Denn indem sich die Modernen immerzu an der eigenen Zukunft ausrichten, greifen sie in diese bereits ein – und setzen damit auch ihre eigene Vergangenheit laufend in ein neues Licht. Mit der Entscheidung zur Entscheidung über das Zukünftige werden nicht nur Zukunft und Vergangenheit ‚kontingent‘, werden sie zu etwas, das so oder so (gewesen) sein kann, aber keineswegs muss. Zirkulär mit seiner jeweiligen Zukunft verknüpft, wird das Handeln und Entscheiden selbst kontingent.1 Hatte es eben noch zureichende Gründe, so müssen sich diese eben erst als solche erweisen. Weniger vor einer bestimmten Wirklichkeit, als vielmehr gegenüber jenen Möglichkeiten hat sich also Modernität zu bewähren, die sie selbst eröffnet und unablässig zu bestimmen sucht. Und weil sie dieser als ‚fiktiver‘ oder ‚wahrscheinlicher‘ Realitäten gewahr und habhaft zu werden sucht, stützt sich die Moderne in ihren Entscheidungen und Handlungen immer schon auf die Kunst, den Schein und die Fiktion.2 Derart ist es alles andere als ein Zufall,
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Vgl. Luhmann, Niklas: Soziologie des Risikos, Berlin/New York 1991, S. 83. Vgl. hierzu Esposito, Elena: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Frankfurt a.M. 2007.
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Literarischer Möglichkeitssinn dass „modern“ erst durch die Selbstbeschreibung von Künstlern zum modernen Epochenbegriff geworden ist. Von Michel Foucault stammt eine verwandte Epochencharakteristik, die freilich von der Selbstbeobachtung weniger der Kunst als der Philosophie ausgeht. Anlässlich von Kants Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“ (1784) bestimmt er die Moderne nicht über eine zeitliche oder typologische Abgrenzung, sondern vielmehr als Öffnung und „Ausgang“3. Will man sie aber „eher als eine Haltung denn als eine Geschichtsperiode ansehen“, erscheint sie als Epoche im Sinne der epoché: des Anhaltens und Ansichhaltens, das gerade durch die Suspension vermeintlich fester Eigenschaften seiner eigenen Möglichkeiten gewahr wird. „Dieses philosophische ethos lässt sich als eine Grenzhaltung charakterisieren“, schreibt Foucault, „als eine historisch-praktische Erprobung der Grenzen, die wir überschreiten können“4. Solcher, wie Foucault sagt, „experimentellen“ Überschreitung liegt zum einen ein gewisser Zeitsinn zugrunde, das Bewusstsein um die Historizität des eigenen Denkens, Erkennens und Schreibens; zum anderen die Bereitschaft, dessen spezifisch geschichtlichen Moment in den schöpferischen Dunstkreis des Unhistorischen zu überführen und somit „das schwierige Spiel zwischen der Wahrheit des Wirklichen und der Ausübung der Freiheit“ 5 aufzunehmen. Was Foucault unter einer „kritischen Ontologie unserer selbst“ versteht, charakterisiert Aufklärung und Moderne also gleichermaßen über ihre eigentümliche Unterscheidungs- und Experimentierkunst, die sich um die doppelte Frage dreht, was wir sind und was wir sein könnten. In dieser Perspektive wird Kants kritisches Projekt zum Projekt einer – im besten Sinne – unvollendeten Moderne. Die reine Vernunft nämlich öffnet sich auf ein unbegrenztes Spektrum diverser Wissensformen, die sich in unterschiedlichsten institutionellen Fassungen ausprägen und in vielgestaltigen Technologien der Erkenntnis und Darstellung vermitteln können. Die praktische Vernunft betrifft sowohl kollektive als auch individuelle Akte, in denen sich die Vernunftsubjekte als Handelnde, aber ebenso als bloße Elemente übergreifender Prozesse zur Geltung bringen. Und die reflek3
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Foucault, Michel: „Was ist Aufklärung?“, in: Dits et Écrits. Schriften, Bd. IV: 1980-1988. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Frankfurt a.M. 2005, S. 687-707, hier: S. 689. Ebd., S. 695 u. 702f. [Herv. i.O.]; vgl. auch ebd., S. 695: „Mit Haltung meine ich einen Beziehungsmodus im Hinblick auf die Aktualität; eine freiwillige Wahl, die von einigen getroffen wird, und schließlich eine Art und Weise zu denken und zu fühlen, und auch eine Art und Weise zu handeln und sich zu verhalten, die zugleich eine Zugehörigkeit bezeichnet und sich als eine Aufgabe darstellt.“ Ebd., S. 703 u. S. 697.
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Wolf: Einleitung tierende Urteilskraft unterstellt die aufgeklärten Subjekte einer Art ‚kategorischen Konjunktiv‘, der Freiheit als ein ernsthaftes Spiel der Wahrheit und der Wirklichkeit erkennbar macht und deren experimentelle Öffnung „an einem anderen Ort“ erwartet: dem der „Kunst“. Die Mannigfaltigkeit des Wissens, die Mentalität des Regierens und die Möglichkeit der Kunst: dies sind die drei Domänen, denen Foucaults ‚kritische Ontologie‘ der Moderne gilt. Und worauf die Kunst eine Antwort zumindest verspricht, ist nicht weniger als die Schlüsselfrage einer modernen Aufklärung und aufgeklärten Moderne: „Wie lassen sich das Anwachsen der Fähigkeiten und die Intensivierung der Machtbeziehungen entkoppeln?“6 Nicht nur als Erzählautor, auch als Essayist und Mathematiker, als Physiker und Experimentalpsychologe hat Robert Musil unablässig an der Verhältnisbestimmung dessen gearbeitet, was den gewachsenen Kompetenz- und Leistungsrahmen aufgeklärter Subjekte einerseits, den Organisations- und Effizienzspielraum moderner Regierungstechnologien andererseits betrifft. Wie Niklaus Largier in seinem Beitrag darlegt, betreibt Musil ganz im Sinne von Foucaults ‚kritischer Ontologie‘ eine Art genealogischer Forschung an der Moderne, um damit Kants Postulat der Freiheit in Figuren der Potenzialität auszubuchstabieren. Musil geht es keineswegs darum, ‚der Wirklichkeit‘ und ihren festen Fügungen ein mit chiliastischer Intensität erwartetes, kontrafaktisch Utopisches entgegenzusetzen. Utopistik besteht weniger in der Ausmalung entlegener oder eingebildeter Zukünfte als in der eindringlichen und vielgestaltigen Beobachtung und damit der fantastischen, mehr fiktionalen als fiktiven Freisetzung jener Möglichkeiten, die in das gegenwärtig Wirkliche und den Bestand seiner Positivitäten eingelagert sind. Solche Plausibilisierung von Möglichkeiten besorgt Musil am konsequentesten, nämlich qua narrativer Durchführung, in seinem unvollendeten ‚Epochenroman‘ Der Mann ohne Eigenschaften. Wie Largier zeigt, liegt diesem Romanprojekt und seiner Poetik des „Möglichkeitssinns“ ein sowohl ethischer als auch ästhetischer Entwurf zugrunde, der die Entledigung von „Eigenschaften“ mit einer besonderen Erkenntnishaltung und Lebensführung verquickt. Denn was später die „Heiligen Gespräche“ zwischen Ulrich und Agathe aufnehmen und zu einer Epistemologie, Klassifikation und Modalanalyse der Ekstatik vorantreiben werden,7 geht auf Musils Eckhart-Lektüre und allgemein auf jenes – nur vermeintlich unzeitgemäße – Interesse zurück, das nach der Jahrhundertwende auch 6 7
Ebd., S. 703, S. 698 u. S. 705. Vgl. hierzu etwa das 57. Kapitel „Die Wirklichkeit und die Ekstase“ in Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. I. Erstes und Zweites Buch/II. Aus dem Nachlass. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978 [im Folgenden: MoE], Bd. II, S. 1189-1196.
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Literarischer Möglichkeitssinn Denker wie Karl Mannheim oder Georg Lukács an der mittelalterlichen Mystik nahmen. Fand Eckharts negative Theologie im unprädizierbaren, inkommensurablen Phänomen ‚Gott‘ ihren Fluchtpunkt und leitete so zur Selbsttechnik einer mystischen ‚Entwerdung‘ und ‚Nichtserfahrung‘ an, so sucht Musil das radikal Unbestimmbare und Eigenschaftslose in – wenn nicht gottlosen, so doch gottfreien – Denk- und Wahrnehmungsprozessen. Jene, mit Eckhart gesprochen, „Möglichkeit und Empfänglichkeit, die doch bereits der Wirklichkeit nicht ermangelt“8, sucht er freilich nicht nur in den mystischen Partizipationserfahrungen der Religion. Profane Erleuchtungen können sich überall dort einstellen, wo „die Formelhaftigkeit des Daseins […] der Sinne und Begriffe“9 obschon nicht dauerhaft, so doch in einem Nu zu sprengen ist. Am ‚anderen Ort‘ der Romanfiktion wird dieser ‚andere Zustand‘ eine Modalität der Politik so sehr wie der Liebe sein, der exakten Wissenschaften nicht minder als des Verbrechens. Zuvorderst jedoch ist für Musil das Mögliche in einer Denkbewegung zu erschließen, die in der aisthesis moderner Medien und Künste ihren Ausgang nimmt. Die „Mystik des Films“, die Musil zufolge der Eckhart-Übersetzer Béla Balázs herausgearbeitet hat, besteht nicht allein in einer kinematografischen Abstraktion und Reduktion, die den Dingen ein Eigenleben verschafft und der Wahrnehmung „schon dadurch auch Zusammenfassung zu einem neuen Zusammenhang“ ermöglicht.10 Überdies befreit sie die Sinne von ihrer empirischen Ausübung und führt sie – ‚kritisch-ontologisch‘ – auf ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen zurück. Man kann mit Largier auch von einem „Perspektivismus des Möglichen“ sprechen, in dem sich Musil gleichermaßen experimentalpsychologisch (etwa mit Blick auf Erich Moritz von Hornbostels Konzept des ‚Invertierens‘), essayistisch (zur wiederholten Partiallösung eines Problems aus vielerlei Hinsichten) und erzählerisch (etwa in Triëdere, dem narrativen Protokoll eines Wahrnehmungsexperiments) geübt hat. Jedenfalls ist es für Musil in erster Linie die – sei es bildende, sei es kinematografische oder literarische – Kunst, die von der Erfahrungsseite her zu einer ‚kritischen Ontologie‘ zwingt. Zu dieser mag neben dem Mystiker auch 8
Meister Eckeharts Schriften und Predigten. Hg. v. Herman Büttner, Jena 1912, Bd. I, S. 69. Vgl. hierzu Spreitzer, Brigitte: „Meister Musil. Eckharts deutsche Predigten als zentrale Quelle des Romans ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 119 (2000), S. 564-588, hier: S. 566. 9 Musil, Robert: „Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. VIII: Essays und Reden. Hg. v. Adolf Frisé. 2. Auflage, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 1137-1154, hier: S. 1147. 10 Vgl. ebd., S. 1139.
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Wolf: Einleitung „der Forscher oder der Gesetzgeber“ beitragen.11 Mündet deren Ethos jedoch unweigerlich in bloße Unbestimmtheit (der, wenn auf Dauer gestellt, krankhafte ‚andere Zustand‘ des Mystikers) oder reine Exaktheit (das Theorem und der Rechtssatz), so stellt allein die Kunst „eine paradoxe Verbindung von Genauigkeit und Unbestimmtheit“ her. Erhält sie dabei „den Anschluß an das gewöhnliche Verhalten“, ohne in diesem ganz aufzugehen, dann weil sie per definitionem „ein hypothetischer Grenzfall“, ein anderer Ort zwischen Realem und Imaginärem, Wirklichem und Möglichem ist, der sich als solcher „nicht zur Totalität ‚strecken‘“ lässt.12 Totalität, und zwar die Zusammenfassung des gesamten Wirklichen, reklamieren hingegen jene Entwürfe, die seit der Jahrhundertwende unter der Leitmaxime der ‚Organisation‘ maximale Regierungseffektivität versprochen haben. Musils Mann ohne Eigenschaften nimmt sie, wie Florian Kappelers Beitrag zeigt, in doppelter Hinsicht auf, betreffen sie doch – thematisch – die zahllosen Versuche, ein aus den Fugen geratendes und zusehends entwirklichtes ‚Kakanien‘ wieder zu einer lebendigen Einheit zu vergegenwärtigen, ebenso wie – poetologisch – die Kohärenz und Konsistenz des Romangebildes selbst. Was ‚Organisation‘ nach Hans Blumenberg jedoch zu einem „Unbegriff“ macht, ist, dass sie „das Organische als Produkt einer Konstruktion voraussetzt“13, mithin die systemische Kontingenzverarbeitung, die man bei natürlichen und vitalen Prozessen beobachten kann, entweder für verzichtbar hält, oder sie planmäßig konzeptualisierten Struktureinheiten und Abläufen einfach zuschreibt. Doch schaffen, wie die von Kappeler untersuchten Organisationstheoretiker rasch feststellen mussten, bloße Reglements noch keine Ordnungen, die mit den selbstorganisierenden Abläufen auch nur der Wirtschaft konkurrieren könnten: Nicht allein, dass der kapitalistische Markt seine Dynamik und Einheit aus ebenjener Kontingenz bezieht, die der Handel mit Zahlungsversprechen und virtuellen Leistungen hervorbringt; seine (Re-)Produktivität wurzelt in semiotischen Prozessen der Stellvertretung und des Aufschubs sowie in der Kunst, mit künftigen Möglichkeiten und möglichen Zukünften zu spekulieren. Paul Arnheim – für den Walter Rathenau, laut Musil eine Art Großkapitalist des Geistes und des Geldes, Pate stand – verweist deshalb gegenüber allen geistlosen organisatorischen Großentwürfen auf die innige Verwandtschaft von Geschäft und Dichtung, aber auch von Markt und Politik. „Der Kapitalismus, als Organisation 11 Vgl. ebd., S. 1152. 12 Vgl. ebd., S. 1154 u. S. 1147, und MoE, Bd. I, S. 246. 13 Blumenberg, Hans: „Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem“, in: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt a.M. 2001, S. 253-265, hier: S. 265.
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Literarischer Möglichkeitssinn der Ichsucht nach der Rangordnung der Kräfte, sich Geld zu verschaffen, ist geradezu die größte und dabei noch humanste Ordnung“14, weil er am Menschen, seinen Begierden und Interessen ansetzt, weil er die Formen sozialer Ordnung aus dem Menschverkehr selbst emergieren lässt und weil sich seine Organisation darauf beschränkt, optimale Bedingungen für die ökonomische Selbstorganisation herzustellen. Politische Organisation, und besonders solche, die wie die ‚Parallelaktion‘ auf repräsentativer und ideeller Ebene ansetzt, ist ineffizient, ja wirkungslos, wenn sie dynamische makroökonomische Ordnungen durch strikte Reglements zu formieren versucht, anstatt jenen Punkt zu suchen, an dem deren systemische Rationalität erfasst und deren Selbstregulierung ihrerseits gesteuert werden kann. Nicht die sozialen Systeme sind zu organisieren. Vielmehr ist es die Organisation des Regierungswissens selbst, seine penible und laufende Produktion, seine zuverlässige Speicherung, rasche Verfügbarkeit und effiziente Übertragung, die regelrechte ‚Regierungstechnologien‘ und damit jene „Gouvernementalität“ (Foucault) ermöglicht, die das Potenzial des und der Regierten am Ort und im Moment seiner Entstehung ausschöpft. Vordergründig bietet Musils Roman eine Satire auf die Stockungen und Reibungsverluste in Habsburgs Bürokratie und Militär. In der Sache aber protokolliert er die Transformation überkommener Organisations- und Führungsmodelle in neuere Regelungskonzeptionen und in ein Steuerungswissen, das von psychotechnischen Optimierungsmaßnahmen bis hin zu globalen Entwürfen eines social engineering reicht. Arnheim mag ein Mann mit vielen Eigenschaften und daher prädestiniert sein zur modernen Führerschaft. Ulrich indes ist ein Mann ohne Eigenschaften, dessen zahlreiche Eignungen (vom Sport über die Mathematik bis hin zur Mystik) ihm eine Mannigfaltigkeit hypothetischer Lebensformen ermöglichen, für die wiederum Regierungsformen allererst zu schaffen wären. Das „Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele“, das er anstelle der ‚Parallelaktion‘ einzurichten empfiehlt, würde exaktes Wissen von seelischen Tatsachen wie auch von den Tatsachen der Beseelung produzieren: auf der Ebene psychotechnischer Mikroökonomien wie auf der Ebene sozialtechnischer Makroökonomien. Für die Regierungskunst würde dies kein illusorisches Organisations-, sondern ein reales Regulierungswissen zeitigen. Für die Romankunst aber heißt es: „die Wirklichkeit abschaffen“, „sich der Unwirklichkeit bemächtigen“ sowie dem „Essayismus und Möglichkeitssinn“ Raum geben.15 So sehr Musils Schreiben also das individuelle ‚Anwachsen der Fähigkeiten‘ und die ‚Intensivierung der Machtbeziehungen‘ in ihrer Kopplung perspektiviert – es registriert innerhalb einer exzessiv und 14 MoE, Bd. I, S. 508. 15 Vgl. ebd., S. 590, S. 592 u. S. 597.
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Wolf: Einleitung vielgestaltig produzierten Wirklichkeit exakt den Punkt, an dem sich aus ihr neue Möglichkeiten freisetzen. Im Sinne von David Wachters Beitrag könnte man von einer Poetik des Möglichkeitswissens sprechen, die Musils Erzählen von Anbeginn beherrscht. Denn nicht feste und zureichende Gründe, nicht lineare und berechenbare Verläufe sind es, die hier das erzählte und Erzählgeschehen prägen. „Der Weg der Geschichte ist“, wie es programmatisch heißt, „nicht der eines Billardballs, der, einmal abgestoßen, eine bestimmte Bahn durchläuft, sondern er ähnelt dem Weg der Wolken“. Und dies führt der Roman bereits in seiner Eröffnung am „Menschenbehältnis der Stadt“16 vor: Selbst kein bloßer Schauplatz, sondern etwas, das als komplexer Gegenstand allererst narrativ entfaltet werden muss, zeigt sich die Metropole mit ihrer spezifischen Atmosphäre und Dynamik, mit ihren Zirkulationen und Zufällen als ein diskursives Objekt, das seinerseits auf die wissenschaftliche Konstitution eines schlechthin flüchtigen Gegenstandsbereichs verweist. Wenn nämlich Musil an den Anfang seines Romananfangs das Wetter und dessen meteorologische Erfassung stellt, ruft er eine Unzahl potenzieller Faktoren (etwa die Erdrotation, Höhenunterschiede, die Wärmekapazitäten von Meer und Festland), komplexe und disproportionale Kausalitätsmuster (etwa die maximaler Effekte nach kleinsten Auslösungen) sowie entropische Gesetze (die Thermodynamik der globalen Wetterentwicklung) auf – kein Newton’scher Determinismus, wie er den Konstellationen klassischer Astronomie und Erzählkunst noch entsprochen haben mag, sondern eine probabilistische Verteilung möglicher Zustände steht am Beginn allen Erzählens.17 Zu einem offenen Labor, in dem mit virtuellen Verlaufsformen der Geschichte zu experimentieren ist, wird der städtische Raum durch eine Radikalisierung von Präzision, die zuletzt in „phantastische Genauigkeit“ umschlägt. Ist der „Möglichkeitssinn“ die Fähigkeit, „alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“18, so erkundet er bevorzugt das Kontingente. Sein Gegenstand ist nicht das bloß Fiktive oder Irreale, das, was onto-logisch nicht sein kann, weil es lediglich einer entfesselten Einbildungskraft entspringt. Vielmehr nimmt Musils Erzählkunst, mit Foucault gesagt, eine ‚historischpraktische Erprobung der Grenzen‘ von Wirklichkeit vor, indem sie durch deren präzise Beobachtung das, was sein, aber auch nichtsein kann, hervortreten lässt. Conjunctivus potentialis heißt der ent16 Ebd., S. 360f. 17 Vgl. hierzu Kassung, Christian: EntropieGeschichten. Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ im Diskurs der modernen Physik, Köln 1999, S. 263-297. 18 MoE, Bd. 1, S. 16.
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Literarischer Möglichkeitssinn sprechende Sprach- und Existenzmodus. Denn so wie die philosophische Anthropologie den Menschen in der Art eines „doppelt“, körperlich wie sprachlich „gebrochenen weltoffenen Wesens“ konzipiert, das in zweifacher Hinsicht einem ‚kategorischen Konjunktiv‘ untersteht, begreift ihn Musil „als Inbegriff seiner Möglichkeiten“. Der „potentielle Mensch“ fasst „die Wirklichkeit“ nicht als seinen unvordenklichen Daseinsgrund auf, sondern – sprachlich wie körperlich – „als Aufgabe und Erfindung“.19 Zum einen betrifft dies neben den Romanfiguren auch die Figur des Autors, stellt doch, wie Musil sagt, das schöpferische „Ich“ der Literatur weder „den Verfasser“ dar noch „eine von ihm erfundene Person, sondern ein wechselndes Gemisch von beiden.“20 Zum anderen betrifft es das Denken und Schreiben selbst, schließlich werden in Musils Gedankenexperimenten variierte Umstände als mit bestimmten Folgen verknüpft vorgestellt sowie in seinem Essayismus ethische oder ästhetische Beziehungen auf ihre okkassionellen Varianzen hin perspektiviert, sodass beide nicht nur abstrakte Möglichkeiten erkunden, sondern deren ‚Kompossibilität‘ mit bestimmten Lebensformen. Der Möglichkeitssinn ist stets mit Fragen des Handelns, aber auch des Darstellens verknüpft. Denn „Gedanken dürfen“, wie Musil notiert, weder in einem Erzähltext noch in einem theoretischen Text „um ihrer selbst willen darin stehen […]; sie sind ‚Teile‘ einer Gestalt.“21 Zur Geltung bringt sich der Möglichkeitssinn in der Gestaltung. Dies ist seit der Aufklärung die raison d’être aller Erzähl- und Wissenspoetik, die die „immanente Konsistenz“ einer Wirklichkeitsdarstellung als „die einzige, aber auch die zureichende ‚Adäquation‘ zu der gegebenen Wirklichkeit“ ansetzt.22 Gerade diese Prämisse, die Wirklichkeit als Sein- und Nichtsein-Können mit Darstell- und Erzählbarkeit assoziiert, gestattete es Leibniz, wie im Schlusstableau seiner Theodizee der unendlichen Vielzahl möglicher und kontingenter Welten ontologische Dignität zuzusprechen. Freilich koordinierte dieser noch barocke und bereits aufgeklärte Daseinsentwurf die möglichen Welten, indem er sie entsprechend Gottes Wahl der besten aller Welten gewichtete. Die wirklichste Welt war 19 Vgl. Plessner, Helmut: „Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft“, in: Ders.: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982, S. 94-109, hier: S. 109; und MoE, Bd. I, S. 16 u. S. 251. 20 Musil, Robert: Tagebücher. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1983, Bd. I, S. 643. 21 MoE, Bd. II, S. 1942. 22 Vgl. Blumenberg, Hans: „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen“, in: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt a.M. 2001, S. 47-73, hier: S. 63.
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Wolf: Einleitung hier zugleich die anschaulichste. Sobald indes der letzte und damit schlechthin zureichende Grund allen Seins seinerseits zu einer bloßen Möglichkeit oder Hypothese geworden war, trat an die Stelle des einstmals absoluten Möglichkeitssinns Gottes der bedingte des Menschen: Die nicht mehr göttliche, aber ‚kritische Ontologie‘ eröffnet statt einer transzendent perspektivierten Hierarchie möglicher Welten die multiperspektivische Immanenz einer endlichen Welt alles Möglichen. Und die unverkennbaren ‚Inkompossibilitäten‘ einer globalen Weltansicht werden nicht mehr durch die ‚prästabilierte Harmonie‘ zwischen verwirklichten und nichtverwirklichten Möglichkeiten kompensiert, sondern als Zufallsvariablen einer „prästabilierten Disharmonie“ verstanden, aus denen die „stabilierende Durchschnittlichkeit“ des Wahrscheinlichen hervorgeht.23 Das, wie es Ulrich nennt, „Prinzip des unzureichenden Grundes“ verpflichtet zu einer „phantastischen Genauigkeit“, die die exakten Wissenschaften – wie im Falle der statistisch operierenden Meteorologie – auf das „nicht-ratioide“ Feld der Ausnahmen, des intangibel Atmosphärischen und der obliquen Zusammenhänge verweist, die traditionellen Künste des Möglichen – wie im Falle des essayistischen Erzählens – aber auf das Terrain des „Ratioiden“, des Tatsächlichen und Systematisierbaren, des Gesetz- und Regelmäßigen.24 „Der Weg der Geschichte ist also nicht der eines Billardballs“, er ähnelt „dem Weg der Wolken“, aber ebenso „dem Weg eines durch die Gassen Streichenden“, wie der Mann ohne Eigenschaften hinzufügt. „Es liegt im Verlauf der Weltgeschichte ein gewisses SichVerlaufen.“25 Und wenn Ulrich im Zuge seiner Selbstbeobachtung feststellen muss, „dass das Gesetz dieses Lebens […] kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung“26, so schreibt er einen seit Ausgang des Barock zusehends variierten Topos fort, dem zufolge erzählter Weg und Lebensweg koinzidieren. Hielten ältere Narrative irdisch zufälligen Sich-Verlaufens (von der Odyssee bis hin zu den mittelalterlichen Aventiuren) stets die Option einer definitiven Heimund Einkehr bereit, so erschloss das neuzeitliche Erzählen zahlreiche Topografien systematischer Verwirrung: zusehends multikursale Labyrinthe, die sich immer weniger mit einem definiten Richtungssinn durchqueren ließen, die stattdessen Verzweigungsstrukturen mit Weggabelungen bestimmter Übergangswahrscheinlichkeit und schließlich eine Pluralität gleichmöglicher Welten zutage förderten.27 Wovon das moderne biographein handelt, ist zuletzt ‚ein ge23 Vgl. MoE, Bd. II, S. 1207f. 24 Vgl. Musil, Robert: Skizze der Erkenntnis des Dichters, in: Ders.: Prosa und Stücke, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1025-1030, hier: S. 1026-1029. 25 MoE, Bd. I, S. 361. 26 Ebd., S. 650. 27 Vgl. hierzu Pias, Claus: Computer Spiel Welten, München 2002, S. 164-183.
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Literarischer Möglichkeitssinn wisses Sich-Verlaufen‘, ein unausweichlicher random walk, der abweichende Verläufe nicht als katastrophische Ausnahme, sondern vielmehr als Normalfall des Lebens zu erkennen gibt. Das Erzählen liefert seither nicht mehr die Leit-Topoi der wirklichsten Wirklichkeit, sondern entwirft eine verwirrende Topografie von aktualisierten oder bloß virtuellen Möglichkeiten. Alliiert ist es darin nicht mehr mit transzendenten Instanzen der Wirklichkeitsgarantie, sondern mit irdischen Institutionen der Kontingenzbearbeitung. Hinsichtlich der Erzähltexte insbesondere Franz Kafkas hat man vom „Institutionenroman“ gesprochen: von einer Erzählform, die – durch den metapoetologischen Bezug auf neuere Regierungsinstitutionen, auf deren modalisierte Machtausübung und entsprechend verschlungene topologische Struktur – moderne Lebensformen am Punkt ihrer Formierung zu beobachten weiß.28 Hier wird nicht nur der Mensch als ‚potenzielles‘ und imperfektes Wesen begriffen, das seine natürlichen Mängel mittels künstlicher Institutionen zu kompensieren hat. Sein Leben steht den Instanzen und Agenturen der Macht nicht einfach gegenüber, vielmehr ist es selbst ein institutionelles Faktum, eine institutionelle Aktualisierung jener Möglichkeiten, die der Mensch darstellt. Gerade im Akt des vitam instituere kommunizieren hier politische und poetische Form, sodass die moderne Biopolitik am genauesten mit der Erzählpoetik des „Institutionenromans“ korreliert. Wie Malte Kleinwort in seinem Beitrag zeigt, registrieren Kafkas Texte sehr präzise die Modalitäten und Verschiebungen im Feld modernen Regierens: Drehen sie sich zunächst um die familiären Agenten und alsdann um die juridischen und bürokratischen Ausprägungen einer aus vermeintlich transzendenter Gesetzeskraft rekrutierten Macht, so fördern die späteren Texte, insbesondere der Roman Das Schloss, einen Rückzug der Institutionen zutage. Weniger strafend, disziplinierend oder intervenierend tritt die Macht nun auf den Plan. Sie stellt von repräsentativer und repressiver Potenz auf einen doppelten Potentialis um: Einerseits erhält sich Macht gerade dadurch, dass sie Ressourcen an Zwang und Gewalt anlegt, ohne diese auszuschöpfen; andererseits wirkt sie intransitiv, indem sie durch Rückstellung von Interventionen die Selbstregierung, die Sorge der Subjekte um die Wahrung und Wahrnehmung ihrer eigenen Potenziale, stimuliert. Narrativ kommt bei Kafka die, wie Kleinwort sagt, selbstständige „Lebensführung“, die laufend korrigierte Steuerung des eigenen Lebensgangs, zunächst in einer unablässigen Neuperspektivierung 28 Vgl. hierzu Campe, Rüdiger: „Kafkas Institutionenroman“, in: Ders./Niehaus, Michael (Hg.): Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider, Heidelberg 2004, S. 197-208; und Ders.: „Kafkas Fürsprache“, in: Höcker, Anne/Simons, Oliver (Hg.): Kafkas Institutionen, Bielefeld 2007, S. 189-212.
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Wolf: Einleitung der eigenen Biografie zum Austrag. Im Prozess ist es noch der Abstand zwischen einer institutionell provozierten Fallgeschichte und Josef K.s Kampf um deren Korrektur und Rechtfertigung, in dem sich der Möglichkeitsspielraum des biographein abzeichnet. Im Schloss hingegen spielen biografische Belange und deren Legitimität kaum mehr eine Rolle. Wenn sich Kafkas Protagonist K. hier gegenüber einer verborgenen und doch ubiquitären Macht unermüdlich zu repositionieren sucht, so dient dies weniger der zielstrebigen Ausrichtung an bestimmten Agenten oder Institutionen als vielmehr dazu, deren komplexe Topologie und jene Möglichkeitsspielräume, die sie den Subjekten gewähren, allererst zu erschließen. Sein Kampf um die Anerkennung seiner fachlichen Fähigkeiten, um eine berufliche Anstellung oder überhaupt um einen Daseinsgrund führt dazu, dass gerade er, als Landvermesser, sich innerhalb der eigentümlichen Topografie von Schloss und Dorf verläuft. Denn einmal – nämlich mit dem Romananfang – in deren Bannkreis eingetreten, gibt es hier keine Umwelt und auch keine Grenzen mehr, die zu überschreiten wären: Perspektivisch wie institutionell zieht sich das Schloss bei jeder Annäherung in einen verwirrenden, halb labyrinthischen, halb virtuellen Raum zurück, ohne dass es sich hierzu abzuschotten hätte. Seine Topologie könnte man als Schwellenraum bezeichnen, als Zone der Potenzialität, die, um als Raum der Machtausübung wirksam zu sein, keiner institutionellen Grenzen oder Repräsentanten, aber auch keiner Disziplinarmaßnahmen oder Gesetze mehr bedarf. Die Maßgaben dieser Macht haben sich dermaßen in den Konjunktiv übersetzt, dass sie eigentlich nur in den Mutmaßungen der Dorfbewohner (ja selbst der Schlossangestellten) über ihren vermeintlichen Gehalt bestehen – Mutmaßungen, zu denen die seltenen und dabei stets gestörten Kommunikationen zwischen Schloss und Dorf Anlass bieten. Die Macht erhält sich zum einen in den Spekulationen der Dorfgemeinschaft über das, was Vorschrift sein und was deren Verletzung zur Folge haben könnte. Sie erneuert sich zum anderen aber dadurch, dass sich die Dorfbewohner untereinander kontrollieren und die Unsicherheit ihrer Stellung zum Anlass nehmen, eine Vielzahl flexibler Lebensformen und Subjektivierungsweisen – Kleinwort stellt die des Asketen und Querulanten heraus – zu entwerfen, für sich und mit den anderen auszutesten. So wie sich die Macht nur mehr gouvernemental, nämlich als Regulator für die Autoregulation des biopolitischen Felds zum Ausdruck bringt, muss der Landvermesser nach Rückzug der Institutionen von deren Topografierung ablassen und zum Feldforscher eines grundlosen, weil nur mehr in sich selbst begründeten sozialen Raums werden. Kafka, als Versicherungsangestellter ein Spezialist für die statistisch-probabilistische Bewältigung von Kontingenzen
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Literarischer Möglichkeitssinn und die biopolitische Formierung selbstverantwortlicher Subjekte, protokolliert mithin zuletzt unterschiedliche Anläufe dessen, was Foucault als die schwierige Entkopplung subjektiver Freiheit von der Wahrheit des Wirklichen beschrieben hat. Wurde der „Möglichkeitssinn“, wie man pauschal sagen kann, in neuzeitlichen Regierungskünsten mehr und mehr – bis hin zur institutionellen epoché – institutionalisiert, so ist es sein nicht-institutionalisierbarer Rest, der am diskursiven Unort der Literatur immer wieder neu verhandelt wird. Als funktionslos exzentrisches Beobachtungsmedium immunisiert sie (sich) möglicherweise gegen jene Machtstrukturen, in die sie sich im selben Zug gewiss verstrickt. Eben dies ist jedoch die aufgeklärte ‚Grenzhaltung‘ moderner Literatur: das ethos, im Möglichkeitssinn den Ausgang aus dem eigenen Modus bloßer Möglichkeit anzubahnen.
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Das Mögliche denken. Musils Möglichkeitssinn, die Mystik und Foucaults Konzept der Kritik1 NIKLAUS LARGIER
In einer Reihe von Texten und Fragmenten, die Georg Lukács zwischen 1910 und 1913 verfasste, als er in Heidelberg studierte, verweist dieser wiederholt auf seine Lektüre der Schriften Meister Eckharts. Dabei spricht er im Kontext ausgedehnter Exzerpte zur Ethik Kants – ziemlich überraschend und rätselhaft – an einer Stelle auch von „Eckeharts Lehre von der Möglichkeit“. Was Lukács damit genau – oder auch bloß ungefähr – meint, wird unmittelbar weder aus dem Kontext klar, noch aus dem beistehenden Verweis auf die 1903-1909 erschienene Übersetzung Meister Eckeharts Schriften und Predigten von Herman Büttner, die er benutzte.2 Dennoch wirft die Passage aus den Notizheften, die Lukács 1917 in einem Safe der Deutschen Bank hinterlegt hatte und die erst 1973 wieder zum Vorschein kamen, Licht auf die Bedeutung der Eckhartlektüre für den jungen ungarischen Gelehrten. Dieser hatte sich bekanntlich nach seiner Wende zum Kommunismus gezielt „die ganze Frühge1
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Der vorliegende Aufsatz ist die erweiterte und überarbeitete Fassung eines Essays, der unter dem Titel „Mystik als Medium: Robert Musils ‚Möglichkeitssinn‘ im Kontext“ erscheinen wird in Kleihues, Alexandra/Naumann, Barbara/Pankow, Edgar (Hg.): Intermedien: Zur kulturellen und artistischen Dynamik, Zürich (im Druck); vgl. auch Largier, Niklaus: „A Sense of Possibility: Robert Musil, Meister Eckhart, and the ‚Culture of Film‘“, in: Vries, Hent de (Hg.): Religion. Beyond a Concept, New York 2008, S. 739749. Der Wortlaut der Stelle: „Vgl. Eckeharts Lehre von der Möglichkeit ([Büttner Ausgabe] II. 178) und seine Christusauffassung.“ (Lukács, Georg: Heidelberger Notizen (1910-1913). Eine Textauswahl. Hg. v. Béla Bacsó, Budapest 1997, S. 135.) Während die Stelle, auf die Lukács verweist, Auskunft über Eckharts „Christusauffassung“ gibt, ist von einer „Lehre von der Möglichkeit“ hier nichts zu lesen. Lukács wird andere Stellen im Auge gehabt haben, die, wie wir sehen werden, auch in Musils Eckhartlektüre eine wichtige Rolle spielen.
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Literarischer Möglichkeitssinn schichte seiner theoretischen Entwicklung“ und sein damals noch „idealistisches“ Denken „verschattet“.3 Damit ist auch die Bedeutung Eckharts und der sogenannten „Deutschen Mystik“ für den jungen Lukács in den Hintergrund getreten. Was die zitierte Stelle zudem belegt und mit dem Thema dieser Tagung verbindet, ist ein zeittypisches und in seiner Intensität signifikantes Interesse am Begriff der Möglichkeit, das in vergleichbarer Form auch bei anderen zeitgenössischen Autoren begegnet. So ist es bemerkenswert, dass die „Möglichkeit“ in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften in prägnanter Weise Bedeutung erlangt. Wie bei Lukács ist die Verwendung des Begriffs auch hier im Kontext der Musil’schen Eckhartlektüre zu sehen, baut doch Musil immer wieder Textstücke aus seiner Mys tikerlektüre um die Stellen herum, an denen das Konzept der Möglichkeit und die Spannung zwischen Wirklichem und Möglichem in den Vordergrund rückt. Nun geht es mir hier nicht darum, eine Linie der Rezeption zu konstruieren, die von Eckhart zu Lukács und von diesem zu Musil führt. Wir wissen, dass Musil Lukács’ frühes Werk – etwa Die Seele und die Formen – gekannt und dass er den ungarischen Philosophen schließlich auch beim Tee im Wiener Haushalt Béla Balázs’ persönlich kennengelernt hat.4 Was mich an dieser Stelle interessiert, ist indes nicht so sehr die anekdotische Spielerei oder die historische Genealogie der Verwendung des Begriffs der Möglichkeit, als vielmehr die Lesarten einer Denkfigur, die sich an dieser Stelle öffnen und die den damals wie nie zuvor populären Begriff der „Mystik“ in ein bestimmtes Licht rücken. „Mystik“ ist hier, bei aller Unschärfe des Begriffs, um ein Wort Musils aufzugreifen, grundsätzlich verbunden mit dem „Möglichkeitssinn“ und mit einem „theoretischen“ Blick auf die Welt, den Musil auch in seiner Rezension zu Béla Balázs’ filmtheoretischem Buch Der sichtbare Mensch prominent verwendet. Wie wir sehen werden, ist es zudem beachtenswert, dass die Begriffe „Mystik“ und „Möglichkeit“, die Lukács und Musil der neuhochdeutschen Übersetzung einiger Werke Eckharts entnehmen und aus der Eckhartlektüre weiter entwickeln, in nuancierter Weise theoretische, ethische und politische Aspekte verbinden – und dass „Mystik“ dabei nicht so sehr ans Numinose oder überhaupt ans Religiöse gebunden ist, sondern als Denkfigur fungiert, die einer rhetorischen Freisetzung des Möglichen weniger gegen das rationalisierte Wirkliche als vielmehr inmitten des Wirklichen dient. Der Rekurs auf die Mystik ist Kritik an der spezi3 4
So das Urteil des Herausgebers der Heidelberger Notizen, Béla Bacsó (ebd., S. 7). Vgl. Musil, Robert: Tagebücher. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1983, Bd. 2, S. 511, Anm. 217.
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Largier: Das Mögliche denken fischen Kontrolle und Lokalisierung des Möglichen in der Moderne. Dieses „Mögliche“ wird von den genannten Autoren – so viel sei zusammenfassend vorweggesagt – nicht so sehr auf eine Zukunft als vielmehr auf eine Gegenwart bezogen, die als Denkmöglichkeit einer zeitgenössischen Kulturkritik entspringt und deren utopischer Charakter noch nicht der Positivität einer konkreten Utopie geopfert wird, auf die etwa Georg Lukács und Ernst Bloch später einschwenken werden – und die man, zugegebenermaßen polemisch, mit Michel Foucault als die Fortsetzung der Biopolitik und der Gouvernementalität mit anderen Mitteln bezeichnen kann. „Möglichkeitssinn“, der die Ordnung des Wirklichen „mystisch“ herausfordern soll, ist vielmehr für diese Generation von Eckhartlesern auf eine Kunst gleichzeitiger Distanzierung und Intervention bezogen, die in der Überwindung der „Eigenschaft“, auch dies ein Eckhartscher Begriff, kritisch und negativ zu gewinnen ist. Dies impliziert, und das ist mir hier wichtig, nicht so sehr den Rekurs auf eine romantische Gefühlslage und die Identifizierung des „Mystischen“ mit einem Einheitsgefühl oder einer Rückkehr zum Mystischen, sondern eine rhetorische Verwendung des Begriffes des Mystischen, die auf eine spezifische Übertragung des Möglichen ins Wirkliche und die Herausforderung des Wirklichen zielt. Wichtig ist zudem, dass in diesem Konzept des Möglichen das Eschatologische fehlt, das später etwa bei Bloch und anderen in der Vision des Utopischen ultimativ verwirklicht werden soll. So schreibt Musil im Blick auf die Rationalität seines Begriffs von Mystik: „Man darf nicht vergessen, dass die exakte Geistesverfassung im Grunde gottgläubiger ist als die schöngeistige […].“5 Gleichzeitig ist diese – nicht bloß ironische – Übertragung der Rationalität auf die Mystik ganz im Sinne Eckharts entfaltet, insofern sie eine kritische Distanzierung im Blick auf die Dinge und den Menschen meint, die alles nicht im Licht einer vermeintlichen Eigentlichkeit, sondern genuiner Bedeutungslosigkeit und offener Möglichkeit erscheinen lässt. Das heißt in Eckharts Worten, dass dem Menschen Gott und damit das Undenkbare, in dem alles Mögliche konvergiert, gleichermaßen in einem Stück Holz oder in einer Fliege gegenwärtig ist, die er betrachtet.6 Dass gerade dies nach dem 5
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Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. I. Erstes und Zweites Buch. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978 [im Folgenden: MoE], S. 256. Vgl. dazu: Beriaschwili, Mamuka: „‚Eigenschaft‘ in Selbst- und Gotteserkenntnis. Überlegungen zu Eckhart, Hegel, Heidegger und Musil“, in: Kobusch, Theo/Mojsisch, Burkhard/Summerell, Orin F. (Hg.): Selbst – Singularität – Subjektivität. Vom Neuplatonismus zum deutschen Idealismus, Amsterdam 2002, S. 279-296. Vgl. Meister Eckhart: Werke. Bd.1. Texte u. Übersetzung v. Joseph Quint. Hg. u. kommentiert v. Niklaus Largier, Frankfurt a.M. 1993, S. 146-147.
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Literarischer Möglichkeitssinn Filmtheoretiker und Eckhartübersetzer Béla Balázs – und nach seinem Rezensenten Musil – vorzüglich im Kino geschehen soll, mag man als eine weitere, gleichzeitig amüsante und faszinierende Fußnote in der Geschichte der Mystikrezeption kurz nach der Jahrhundertwende betrachten. Diese ist denn auch nicht, wie es in der Forschung oft geschieht, als Rückkehr zu einer in der modern rationalisierten Welt verschütteten Unmittelbarkeit zu sehen, sondern als Denkfigur, die es erlaubt, auf die der Moderne eigene Form der Zeitlichkeit zu reflektieren.
„Philosophie der Möglichkeit“ Dass Lukács Eckhart gelesen hat, überrascht keineswegs, ist doch das Interesse an der „Mystik“ um 1910 in der deutschsprachigen Kultur allgegenwärtig.7 Mit „Mystik“ meint man natürlich nicht nur, aber doch sehr bestimmt auch Meister Eckhart. So wird etwa am Ersten Deutschen Soziologentag in Frankfurt „im Anschluss an den Vortrag von Ernst Troeltsch über die historische Bedeutung der Mystik für die Genese der modernen Welt und ihre Selbstbeschreibungen ebenso gestritten […] wie über ihre typlogische Einordnung.“8 An der Diskussion nahmen unter anderen Georg Simmel, Max Weber und Martin Buber teil, die alle Eckhart in der Übersetzung Büttners lasen. Auch der Soziologe Karl Mannheim liest zu dieser Zeit Eckhart. Wenn er das erste Mal mit Georg Lukács in Kontakt tritt, geschieht dies mit dem expliziten Ziel, über Lukács Schriften und eine eigene „Abhandlung über die Mystiker“ zu sprechen.9 Man hat zu Recht festgehalten, dass sich bei dieser Mystiker-Lektüre und der Übernahme bestimmter Begriffe aus den Eckharttexten fast alles durch
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Zur Mystik-Mode um 1900 vgl. die Beiträge in: Bassler, Moritz/Châtellier, Hildegard (Hg.): Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne autour de 1900, Strasbourg 1998. Laube, Reinhard: Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 196), Göttingen 2004, S. 316. Vgl. Karl Mannheim, Tagebucheintrag vom 23.4.1911. Zitiert nach ebd., S. 305. Bei Laube ist die Beschäftigung der ungarischen Intellektuellen dieser Zeit mit der Mystik eindrücklich aufgearbeitet. Ich folge seiner Darstellung weitgehend. Vgl. auch: Karádi, Éva/Vezér, Erzsébet (Hg.): Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis, Frankfurt a.M. 1985; Congdon, Lee: The Young Lukács, Chapel Hill 1983; Keller, Ernst: Der junge Lukács. Antibürger und wesentliches Leben: Literatur- und Kulturkritik, 1902-1915, Frankfurt a.M. 1984.
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Largier: Das Mögliche denken „eine schillernde Unschärfe“ auszeichne.10 Vieles verweist denn auch beim jungen Karl Mannheim zunächst in Bereiche der „Einheit“ im „Gefühl“ und im „Symbolischen“, die explizit einer diagnostizierten Herrschaft des Begriffs und der rationalen Kontrolle des Wirklichen gegenübergestellt werden.11 Dennoch zeichnet sich bereits in diesen Versuchen etwas ab, was für die Eckhartlektüre Lukács’, Balázs’ und Musils kennzeichnend ist. Man kann davon sprechen, dass dabei „Mystik zum Reflexionsmedium“12 wird, in dem Wirkliches und Mögliches, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeitsbegriff ins Spiel gebracht und aufeinander bezogen werden. „Mystik“ meint, so darf man wohl sagen, nicht primär ein Irrationales, das dem Rationalen gegenübergestellt wird, sondern vielmehr die Bedingung der Möglichkeit, Wirkliches und Mögliches in ein Spannungsverhältnis treten zu lassen und das Mögliche, Ungedachte und Unbestimmte ins Wirkliche zu transferieren, ohne das labile Verhältnis zwischen beidem preiszugeben. Dies ist selbst dort der Fall, wo das „Mystische“ scheinbar ausschließlich mit dem „Gefühl“ verbunden wird, geschieht dies doch nicht um der Erneuerung einer Privilegierung des Gefühls willen, sondern mit dem Ziel, die Frage nach der Möglichkeit kritischer Reflexion und Intervention angesichts einer etablierten Rationalität zu stellen und damit das sogenannte „Wirkliche“ herauszufordern, wie die Figur Ulrichs in Musils Der Mann ohne Eigenschaften es unentwegt tut, wenn er im Gespräch seine vielfältigen Genealogien der Moderne entwirft. Dabei bildet das Mögliche die Kippfigur, charakterisiert sich doch die Moderne gerade dadurch, dass weder die Schrift (wie im Mittelalter) noch die Stabilität von Gesetz und Souverän (wie in der Frühen Neuzeit) im Zentrum steht, sondern die Produktivität der Macht im Fortschritt, der die Zeitachse als Möglichkeitsachse der Kontrolle, Transformation und Neukonfiguration von Rationalisierungsformen des Wirklichen, d.h. als expansive Wirklichkeitsproduktion sieht, die selbst immer schon auf dem Möglichkeitsbegriff aufruht. Das moderne Wirkliche, so könnte man – wohl etwas zu dialektisch – sagen, wendet sich hier gegen sich selbst, wenn das Mögliche durchbricht. Wie schon so oft seit dem 18. Jahrhundert, bildet auch in den Diskussionen Lukács’ und Mannheims der alte Gemeinplatz deutscher Philosophie, dass nämlich nach der Zeit der vorsokratischen Griechen nur noch Wirklichkeitsverlust herrsche, eine der Folien kulturkritischer Imagination. In den Worten Mannheims in einem 10 Vgl. Laube: Karl Mannheim (2004), S. 306. 11 Vgl. Mannheim, Karl: Jegyzetek a mysticusokról (Notizen über die Mystiker). Zitiert nach der Übersetzung einzelner Stellen bei Laube: Karl Mannheim (2004), S. 308-310. 12 Ebd., S. 315.
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Literarischer Möglichkeitssinn an Lukács gerichteten Brief heißt dies: „Ich glaube, es wäre eine Lüge zu behaupten, wir hätten ein ebensolches Wirklichkeitsgefühl für die Dinge, die Formen, wie die präsokratischen Griechen. Es ist ja der Verlust dieses starken Wirklichkeitsgefühls, das uns vor unsere tiefsten Tiefen gestellt hat.“13 Genau im Blick darauf wird „Mystik“, die gleichzeitig Ausdruck und Kompensationsfigur solcher „Tiefen“ sein soll, denn auch zum Medium einer Reflexion, die das „Mögliche“ ins „Wirkliche“ zu übertragen sucht, ohne jedoch das immer konservative Moment dieser Griechenland-Sehnsucht und Lamentation zu erben. Mystik ist das Gegenbild gerade dazu, denn der Begriff klagt keine verlorene Vergangenheit ein. Dies gilt auch für Béla Balázs’ Theorie des Films, die auf dieser Basis die Erfahrung des Menschen und der „Dinge“ – und des Menschen inmitten der Dinge – neu konzipiert. Damit ist „Mystik“ wiederum nicht restaurativ, nostalgisch oder romantisch gedacht. Der Begriff ist hier keineswegs religiös gebraucht, sondern als Formel, die auf die Ermöglichung nicht so sehr einer „anderen“, vermeintlich wesentlicheren Wahrnehmungsform zielt, sondern auf deren Pluralisierung im Rekurs auf eine Brüchigkeit, die der Moderne immer schon eigen ist. Die „Mystik“ gehörte denn auch zu den Dingen, die in den Zusammenkünften des sogenannten Sonntagskreises im Hause von Béla Balázs seit 1915 am häufigsten diskutiert wurden. Dabei spielte als historisches Paradigma die von Lukács „gezogene Linie von Hegel über Marx zur Mystik“14 eine Rolle, aber es ging doch, wie sich die Teilnehmer erinnern, hauptsächlich und immer wieder um „Eckhart, Dostojewski, Kierkegaard“. In den Namen und Vorlieben verrät sich bereits hier die Spannung zwischen System und Essay, historischer Teleologie und kontrapunktischer Orientierungslosigkeit in der Zeit. Die des Deutschen mächtigen Teilnehmer des Sonntagskreises haben dabei Eckhart in der Büttner-Ausgabe gelesen. Eckhart wurde aber auch fleißig übersetzt. Béla Balázs hat 1911 der BüttnerAusgabe einen Eckhart-Text entnommen und unter dem Titel „Von der ewigen Geburt“ für die Zeitschrift A Szellem übersetzt, die auch Lukács’ von Eckhart inspirierten Essay „Von der Armut am Geiste“ druckte. Einen Leittext der Budapester Diskussionen bildete dabei Eckharts Predigt zu Lukas 10, 38, die sogenannte „Maria-und- Martha-Predigt“. Lukács rekurriert darauf wiederholt im Kontext seiner Lektüre und Diskussion von Kants Ethik.15 Karl Mannheim ent-
13 Ebd., S. 315. 14 Ebd., S. 324. 15 Für Lukács vgl. neben dem Essay „Von der Armut am Geiste“ (Lukács, Georg: „Von der Armut am Geiste. Ein Gespräch und ein Brief“, in: Neue
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Largier: Das Mögliche denken nimmt dieser Predigt den nicht gerade überraschenden Gedanken, dass die „Seele“ nur durch „eine fremde Materie zu sich selbst zu gelangen“16 vermag. So öffnet sich die aus der Eckhartlektüre gewonnene Terminologie bei Mannheim – anders als bei Lukács – auf einen Horizont der Vermittlung, der im zeitgebundenen alltäglichen Leben des Menschen nicht überschritten werden kann. Eckharts sogenannte „Mystik“, so möchte man Mannheim verstehen, wird dabei zur Chiffre, die nicht nur einen spekulativen Begriff von „Möglichkeit“ evoziert, sondern gleichzeitig die Unüberschreitbarkeit alltäglicher Vermittlungsordnungen indiziert und Eckharts Modell der Befreiung in die Zeit und Geschichte projiziert und zum medialen Projekt macht. „Möglichkeit“, die sich im Wirklichen einnistet und sich von diesem absetzt, entspringt damit immer neu dem ausschließlich negativ gefassten Reflexionsmedium der „Mystik“. Diese ist Rekurs auf eine Negativität und oft auch närrische Intervention,17 in dem das Denken das Wirkliche kritisch unterläuft und es zur Materie macht, die neu wahrgenommen und bearbeitet werden kann. So wird das Wirkliche als Ort ethischer, philosophischer, politischer Postulate qualifiziert, die auf den Horizont nicht der Utopie, sondern der Möglichkeit rekurrieren. Bei Mannheim heißt dies, dass Mystik Evokation von Möglichkeit und Perspektivierung und Pluralisierung der Welt und Lebensformen bedeutet. Anders verhält es sich bei Georg Lukács. Dieser deutet Eckhart im Sinne eines ethischen Rigorismus, der nicht „ungezählte Möglichkeiten“ und damit die Pluralität des Alltäglichen als Ort ethischer Gestaltung sieht, sondern nur noch die „Aktivität“, die dem „fruchtbaren und furchtbaren Wüten der Besessenheit des Werkes [entspringt], das nach Realisation hungert.“18 Man kann dies, wie es Reinhard Laube in seiner großen Arbeit über Mannheim tut, auf die Divergenzen zwischen dem liberalen Mannheim und dem zunehmend einen ethischen Rigorismus fordernden Lukács beziehen.19 Laube bemerkt dazu, dass Mannheim am „Oszillieren zwischen ei-
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Blätter, Berlin 1912, S. 67-92) auch die Heidelberger Notizen (Lukács: Heidelberger Notizen (1997), S. 135, S. 137f., S. 167-171 u. S. 177-182). Mannheim, Karl: „Seele und Kultur“ [1918], in: Ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk Hg. v. Kurt H. Wolff, Neuwied 1964, S. 66-84, hier S. 70. Vgl. Largier, Niklaus: Diogenes der Kyniker: Exemplum, Erzählung, Geschichte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Mit einem Essay zur Figur des Diogenes zwischen Kynismus, Narrentum und postmoderner Kritik (= Frühe Neuzeit, Bd. 36), Tübingen 1997. Lukács: „Von der Armut“ (1912), S. 88f. Siehe dazu: Catucci, Stefano: Per una filosofia povera. La grande guerra, l’esperienza, il senso, a partire da Lukács, Turin 2003. Vgl. Laube: Karl Mannheim (2004), S. 334-339.
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Literarischer Möglichkeitssinn ner grundsätzlichen Reflexivität des Wissens und dem Wissen um die Sehnsucht nach einer Auflösung dieser reflexiven Spannung“ interessiert sei und damit eine „Perspektivierung der Mystik“ betreibe.20 Diese stand Lukács’ Interesse an einer historisch einlösbaren Figur der Erlösung äußerst ablehnend gegenüber. „Mystik“ wurde so bei Mannheim zu einer Denkfigur, die weniger Erlösung vorwegnimmt oder im Gang der Geschichte erzwingen will, als vielmehr den Blick auf die medialen Momente von Latenz und Emergenz richtet, ohne diese eschatologisch oder messianisch zu bestimmen. Die Diskussionen über Form und Formlosigkeit, die bei Lukács wie bei Mannheim ebenfalls auf Eckhart rekurrieren, werden damit bei Mannheim wissenssoziologisch entfaltbar, nämlich als Emergenz „neuer Welten“, die nicht wie bei Lukács einer Erlösungsphantasie, sondern kritischer Intervention und damit – Musil vergleichbar – der Projektion des Möglichen ins Wirkliche entspringen. Die irreduzible Natur der Vermittlungsordnung, auf die Eckhart (nach Mannheim) mit der Privilegierung der in der Küche beschäftigten Marthafigur verweist, ist so nicht einfach Ausdruck innerer Haltung, sondern als „Tat“ und „Werk“ Konvergenz von Wirklichkeit und Möglichkeit. Damit ist bei Mannheim – gegen Ernst Bloch, gegen Lukács, gegen eine Lösung im „chiliastischen Erleben“, gegen „das absolute Gegenwärtigsein, die absolute Präsenz“21 – die Kategorie der Möglichkeit auf konkrete Geschichtlichkeit als Welt der Differenz und der immer neuen Entfaltung dieser Differenz aus dem Horizont der im Denken und im Medium des sogenannt „Mystischen“ gewonnenen Möglichkeit bezogen.
Der „Möglichkeitssinn“ Robert Musil hat in seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften nicht nur Eckharts Idee der Eigenschaftslosigkeit eingearbeitet22 und „zu einer tragenden Idee des Romanganzen“23 gemacht, wie die Forschung immer wieder betont hat, sondern auch eine ganze Reihe weiterer Begriffe. Dazu ist derjenige der „Möglichkeit“ und v.a. des
20 Vgl. ebd., S. 346. 21 Ebd., S. 354. 22 Vgl. Schmidt, Jochen: Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff, Tübingen 1975. Zu Musils Mystikerlektüre vgl. Goltschnigg, Dietmar: Mystische Traditionen im Roman Robert Musils. Martin Bubers Ekstatische Konfessionen im Mann ohne Eigenschaften, Heidelberg 1974. 23 Spreitzer, Brigitte: „Meister Musil. Eckharts deutsche Predigten als zentrale Quelle des Romans Der Mann ohne Eigenschaften“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 119 (2000), S. 564-588, hier S. 566.
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Largier: Das Mögliche denken „Möglichkeitssinnes“ zu zählen,24 den Musil schon am Anfang seines Romans einführt. So schreibt er: „Wenn es aber einen Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.“ 25 Musil fährt fort: „So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. Man sieht, dass die Folgen solcher schöpferischer Anlage bemerkenswert sein können, und bedauerlicherweise lassen sie nicht selten das, was die Menschen bewundern, falsch erscheinen und das, was sie verbieten, als erlaubt oder wohl auch beides als gleichgültig.“26
Was hier zunächst in der Figur einerseits der Transgression des Wirklichen, andererseits des Jenseits von Gut und Böse auftritt, wird später auch im Blick auf einen Begriff des Ekstatischen entfaltet, wenn es heißt, „es würden aus dem Bild des Lebens die faden Abzugbilder verschwinden, die aus der blassen Ähnlichkeit entstehen, welche die Handlungen mit den Tugenden haben, und an ihre Stelle deren berauschendes Einssein in der Heiligkeit treten.“27 Auf den denkbaren Einwand, dass es sich bei diesem „Einssein in der Heiligkeit“ um eine Utopie handle, antwortet Musil: „Gewiss, es ist eine. Utopien bedeuten ungefähr so viel wie Möglichkeiten; darin, dass eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als dass die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit; löst man sie nun aus ihrer Bindung und gewährt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie.“28
Ein anderer Ausdruck, der für den Transfer des Möglichen und der Utopie ins Wirkliche steht, ist der „Konjunktiv“ oder „das Wort ‚hypothetisch leben‘“29, schließlich aber auch der „Essay“: „In Ulrich war später, bei gemehrtem geistigen Vermögen, daraus eine Vorstellung geworden, die er nun nicht mehr mit dem unsicheren Wort Hypothese, sondern aus bestimmten Gründen mit dem eigentümlichen Begriff eines Essays verband.“30 So ist der Essay in gewisser Weise der Ort, wo das Denken sich in Möglichkeiten entwirft und erprobt, die weder beliebig noch „vor- oder nebenläufiger Ausdruck 24 Es ist das Verdienst Brigitte Spreitzers, darauf hingewiesen zu haben. Stellennachweise im Werk Eckharts und Musils finden sich in ihrem Aufsatz. 25 MoE, S. 16. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 246. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 249. 30 Ebd., S. 250.
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Literarischer Möglichkeitssinn einer Überzeugung“ oder „subjektiv“ sind, sondern „die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt.“31 Gerade dass Musil in diesem Zusammenhang alle Überzeugung und Subjektivität zurückweist, macht den Essay zur theoretischen Gattung per se, durch die im Feld der Möglichkeiten der „Geist die Dinge in sich verwandelt“. Auch in diesem Zusammenhang zitiert Musil nochmals Eckhart, und zwar in seinen Tagebüchern: „Eckehart: ‚Das Feuer verwandelt in sich, was ihm zugeführt wird, und wird dessen Natur. Nicht das Holz verwandelt das Feuer in sich, sondern nur das Feuer das Holz!‘ Der Geist verwandelt die Dinge in sich, nicht die Dinge den Geist. Das heißt: wir verstehen an den Dingen nur was unser ist. Spuren davon aber auch im Rationalen. Erkennen ist Wiedererkennen. Lernen durch selbständiges Nacherzeugen. Früher versteht man etwas nicht wirklich. Und dabei verändert man den Gedankengang immer etwas. Das ängstliche Sich nach den Dingen Richten der Tatsachenwissenschaften ist falsch. Der Geist verwandelt die Dinge in sich und wird deren Natur. Erkennen ist ein Vorgang mit zwei Richtungen. Ein Ineinanderfließen. Eine Grenze wird aufgehoben, ein Schleier hebt sich und der Geist versteht das Ding, das im gleichen Augenblick sein ist. Es sind zwei Richtungen der gleichen Handlung: ich erkenne das Ding und das Ding anerkennt mich. Dies ist das Denken in Liebe. Der Fortschritt liegt nicht in einem immer weiter getriebenen materiellen Ausspionieren der Dinge, sondern in der fortschreitenden Innigkeit dieses Akts.“32
Musil, Balázs und Eckhart Dass diese denkende „Innigkeit“ gerade in der relativ jungen Kunst des Kinos zu finden sein soll, beschreibt Musil in seiner Rezension von Béla Balázs‘ Filmtheorie. Balázs’ Buch Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films erschien 1924, Musils Rezension dazu unter dem Titel „Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films“ kurz danach in Der Neue Merkur (März 1925). Was Musil an Balázs’ Theorie des Films schätzt, ist zunächst, dass diese wirklich „Theorie“ ist und damit, wie Balázs schreibt, für die „Kunst die weiten Perspektiven der Freiheit bedeutet.“33 Musil zitiert diese Aussage zustimmend,34 um sie gleich auch 31 Ebd., S. 253. 32 Musil: Tagebücher (1983), Bd. 2, S. 1165. Vgl. die ähnliche Beobachtung S. 897. 33 Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt a.M. 2001, S. 9. 34 Vgl. Musil, Robert: „Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films“ [1925], in: Balázs: Der sichtbare Mensch (2001), S. 148-167, hier S. 148.
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Largier: Das Mögliche denken auf die „Kunst“ als „Verneinung des wirklichen Lebens“ zu beziehen, die Ulrich ja auch im Mann ohne Eigenschaften, etwa in den Gesprächen mit Clarisse und Walter, zum Ausdruck bringt. Kunst ist demnach nicht „Schnörkel“ oder Dekor, sondern eine Form der „Partizipation“ und „ein andres Verhalten zur Welt“. Es geht um ein „Verhältnis“, eine Relation, die im Film etwa dort zum Ausdruck kommt, wo die „Dinge“ eine neue, besondere Bedeutung erlangen. Musil zitiert Balázs, der schreibt: „In der Welt des sprechenden Menschen sind die stummen Dinge viel lebloser und unbedeutender als der Mensch. Sie bekommen nur ein Leben zweiten und dritten Grades und das auch nur in den seltenen Momenten besonders hellsichtiger Empfindlichkeit der Menschen, die sie betrachten … In der gemeinsamen Stummheit werden sie mit dem Menschen fast homogen und gewinnen dadurch an Lebendigkeit und Bedeutung. Das ist das Rätsel jener besonderen Filmatmosphäre, die jenseits jeder literarischen Möglichkeit liegt.“35
Musil besteht darauf, dass es sich bei dieser Veränderung der Wahrnehmung keineswegs nur um einen „Aufmerksamkeitsakzent“ handle, sondern, wie Balázs betont, um die Entdeckung des „Physiognomischen“, des „symbolischen Gesichts“ der Dinge. „Man könnte“, so schließt er, „in der Tat dieses symbolische Gesicht der Dinge, wenn es im Schattenreich der lebendigen Photographie mehr als eine Episodistenrolle spielte, die Mystik des Films oder zumindest seine Romantik nennen. Das Merkwürdige ist, dass ein Buch aus der Praxis des Films überhaupt dahin kommt und voll bewusst diese Grenze zweier Welten berührt.“36
Worum es jedoch Musil im Anschluss an Balázs geht, ist nicht so sehr der Symbolismus und die Physiognomik, die hier zur Sprache kommen, sondern die Veränderung der Wahrnehmung, in der wiederum das Wirkliche vom Möglichen infiziert wird, das so bisher nicht zu sehen war und das sich im Verstummen gewissermaßen aus dem wohlgeordneten und sprachlich verwalteten Wirklichen herausschält, dem es immer schon innewohnte. Was der „Film“ evoziert, ist die „Innigkeit“ des Denkens, in der diese innerhalb des Wirklichen das Mögliche produziert und davon absorbiert wird. Dabei müssen wir natürlich im Auge behalten, dass es hier um den Stummfilm und die durch den Stummfilm herbeigeführte Veränderung des Blicks auf die Welt, die Dinge und den Menschen geht. Doch stellt Musil klar:
35 Ebd., S. 153. 36 Ebd., S. 154.
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Literarischer Möglichkeitssinn „Man würde sich irren, wollte man in der plötzlich erblickten Physiognomik der Dinge bloß die Überraschung durch das isolierte optische Erlebnis bemerken; die ist nur Mittel, es handelt sich auch da um die Sprengung des normalen Totalerlebnisses. Und diese ist ein Grundvermögen jeder Kunst.“
Damit sind wir nicht so sehr auf das Verhältnis zwischen Rationalität und Irrationalität verwiesen, auch wenn Musil davon spricht, dass hier an Stelle aller berechnenden „Beziehungen […] ein geheimnisvoll schwelendes und ebbendes Zusammenfließen unseres Wesens mit dem der Dinge und anderen Menschen“ trete.37 Dieses scheinbar romantische Bild ist indes bei Musil gerade nicht als „gegen den ‚Verstand‘ gerichtete[r] Ausbruchsversuch der ‚Seele‘“ zu lesen, sondern als Votum für das Denken als Moment und Modus der Intervention, die nicht „den Menschen vom Verstand zu befreien und wieder in ein unmittelbares Verhältnis zur Schöpfung einzusetzen“ sucht.38 Das „Mystische“, von dem auch im Blick auf die Erscheinung der Dinge im Film die Rede ist, wird damit wiederum nur als Reflexionsfigur verständlich, die zum Ausdruck bringt, dass sich der Mensch im „Denken […] von dem praktischen und faktistischen Normalzustand […] zu befreien“ vermag. Mit anderen Worten, das „Mystische“ meint bei Musil ein Moment der Negativität, es ist Chiffre der Übertragung, in der das Denken sich vom Gegebenen löst und befreit, wobei es sich selbst als Möglichkeit sieht und das Wirkliche transfiguriert. Dies ist, so darf man wohl sagen, dem Verstummen des Menschen im Film analog, durch das die Dinge neu in den Blick treten und so eine Möglichkeit ins Wirkliche einbricht. „Mystik“, so möchte man sagen, ist ein Begriff, der diesen Einbruch des Möglichen ins Wirkliche meint und eine zeitlich nach vorne offene Rhetorik der Übertragung freisetzt, die auf jede Eschatologie und paradoxerweise auch auf die Wahrheit verzichtet. Dass dabei alles Denken ganz konkret von Erlebnisqualitäten und Affekten begleitet wird, ist für den Psychologen Musil selbstverständlich. Doch ist es keineswegs so, dass das Denken sich darauf reduzieren ließe und im „mystischen“ Gestus auf den Affekt rekurrieren würde. Gerade die Theorie des Films, d.h. hier des Stummfilms, zeigt nach ihm vielmehr, dass das Erlebnis, das im Kino evoziert wird, eine Bewegung des Denkens meint, in dem dieses vom bestimmten Wirklichen weg und auf den Grund seiner Möglichkeit zurückgeführt wird. Es wird der Bestimmtheit beraubt und „zunichte“, d.h., es wird zur Möglichkeit, die es im Grunde ist und die sich im „Möglichkeitssinn“ Raum und Distanz schafft. Damit befreit der Film in exemplarischer Weise von der Fixierung aufs Erlebte zugunsten einer intellektuellen Bewegung, die die Möglichkeit privile37 Vgl. ebd., S. 156. 38 Vgl. ebd., S. 157.
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Largier: Das Mögliche denken giert und diese nicht dem Erleben des Einzelnen und Bestimmten opfert. Im Zunichtewerden und Verstummen fasst das Denken sich vielmehr in seiner Unbestimmtheit als Möglichkeit der Möglichkeit, also als Ort, wo im noch Unbestimmten und letztlich Ungedachten – und damit gerade nicht im bestimmten Erleben – die Dinge neu Gestalt anzunehmen vermögen. Musil verweist dabei auf Nietzsche mit den folgenden Worten: „Nietzsche hat dies sehr schön auf die Formel gebracht, die Einzelheit verdunkle das Ganze und wachse auf seine Kosten. Das gilt geschichtlich vom Briefeschreiben bis zum Kriegführen, und von der Lyrik bis zum Coitus und zur Gastronomie. Es belastet jeden Versuch, der den Wert des Kunstwerks ästhetisch, in sich, formal, am augenblicklichen Erlebnis bestimmen will.“39
So ist denn der Stummfilm, trotz vieler gegenläufiger Momente, nicht eine Form der „Darstellung“, sondern gewissermaßen eine intellektuelle Experimentanordnung, in der die Bindung des Denkens an ein bestimmtes Wirkliches durch die Bewegung unterlaufen wird, die der Film dem Denken als Überschreiten seiner diskursiven „Formelhaftigkeit“40 und der Kontrolle des Konjunktivs „was wäre wenn“ nahelegt. Das heißt, es wird offen für Perpektivierungseffekte, die sich einzunisten vermögen. Diesen „hypothetische[n] Grenzfall“ und seine „reine Aktualität“ im Denken nennt Musil „Mystik“, und er ist der Perspektive des Schöpfergottes analog, von dem Musil sagt, „dass wahrscheinlich auch Gott von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis spreche […], denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut auch anders sein.“41 Er ist, wenn man so will, die Bedingung der Möglichkeit der Kunst, die der Stummfilm vor Augen führt. So fährt Musil fort: „Bekanntlich ist dieser Zustand, außer in krankhafter Form, niemals von Dauer; ein hypothetischer Grenzfall, dem man sich annähert, um immer wieder in den Normalzustand zurückzufallen, und eben dies unterscheidet die Kunst von der Mystik, dass sie den Anschluss an das gewöhnliche Verhalten nie ganz verliert, sie erscheint dann als ein unselbständiger Zustand, als eine Brücke, die vom festen Boden sich so wegwölbt, als besäße sie im Imaginären ein Widerlager.“42
Damit ist Kunst, anders als die hier nun als singuläres Ereignis verstandene „Mystik“, reale und alltägliche Übertragung des Möglichen ins Wirkliche, welche ohne die Negativität, für die das „Mystische“ steht, jedoch nicht machbar wäre.
39 40 41 42
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
163. 165. 19. 167.
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Literarischer Möglichkeitssinn
Foucaults Konzept der Kritik So kommt „Mystik“ hier, beim jungen Lukács, bei Mannheim, Balázs und Musil, zu stehen für einen Perspektivismus des „Möglichen“, der die Wirklichkeit und die Kontrolle des Möglichen in der Neuzeit unterläuft, ohne sie – wie beim späteren Lukács oder auch bei Bloch, der sich über Mannheim gerade in dieser Sache lustig machen wird – einer konkreten, bestimmten, historisch vermeintlich realisierbaren Utopie zu opfern. „Mystik“ ist in den Augen der hier angeführten Stimmen nicht die Wahl des „Irrationalen“ gegen das „Rationale“, sondern das Denken im Konjunktiv (ein Ausdruck Musils), das als „exaktes“ Denken vom Unbestimmten der Möglichkeit ausgeht und darin die vom Wirklichen verordnete Kontrolle und Regulierung herausfordert. Der Begriff der Möglichkeit als endlose Übertragung des Möglichen ins Wirkliche verbietet geradezu die konkrete Utopie, stellt er doch alles Denken unter den Vorbehalt notwendiger und unaufhebbarer medialer Vermittlung – und zwar unter den Vorbehalt der Vermittlung, der im Reflexionsmedium „Mystik“ im Blick auf seine Unaufhebbarkeit bedacht wird (und bei Musil in der Kunst und in seinem Roman einen Ausdruck findet). Lukács, Mannheim und Musil scheinen sich damit auf eine Art negative Theologie als Kritik des Wirklichen zu beziehen, wenn sie Eckharts „Mystik“ als „Lehre von der Möglichkeit“ verstehen. Wenn sie dabei zudem die Theologie außer Geltung setzen, wird die „Mystik“ zum Medium nicht der Übertragung des Göttlichen ins Alltägliche, sondern des Möglichen ins Wirkliche. Was sich dann auftut, ist nicht zuletzt die Ebene der Essayistik, die Musils Roman vielfach auslotet und in der er multiple Genealogien der Moderne dem Konjunktiv aussetzt, der ihre Geltung zumindest punktuell ins Schwanken bringt. Was sich hier auch auftut, ist eine überraschende Verbindung zu Momenten der Kritik, die Foucault v.a. in zwei Texten entworfen hat: dem Vortrag „Qu’est-ce que la critique?“ von 1978 und seiner Relektüre von Kants „Was heißt Aufklärung?“ unter dem Titel „Qu’est-ce que les Lumières?“ aus dem Jahr 1984. Begreift Foucault in diesem letztgenannten Text die „Aufklärung“ und damit die Moderne im Sinne Kants als „Haltung“, als „Ethos“, das sich an der Schnittstelle von Wissen, Geschichte und Reflexion auf den historischen Moment ansiedelt, so bricht er zunächst mit der Auffassung, dass es sich bei der Aufklärung um eine „Epoche“ handle. Foucault identifiziert darin vielmehr einen Habitus und einen Gestus der Intervention.43 Man könnte auch hier mit Musil davon sprechen, dass ein „Konjunktiv“ ins Wirkliche einbricht, dass ein Differenzmoment
43 Foucault, Michel: Dits et écrits, Paris 1994, Bd. 4, S. 562-567.
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Largier: Das Mögliche denken zum Zuge kommt, das die Gegenwart nicht als Totalität oder als Ort eines eschatologischen Versprechens begreift. Um dies zu illustrieren, rekurriert Foucault bekanntlich auf Charles Baudelaire und seine, so Foucault, „ironische Heroisierung der Gegenwart“. Diese besteht nicht darin, im als Schwindel erlebten Fluss der Zeit, der für die Moderne charakteristisch ist, den Moment stillzustellen und in ihm das Heilige oder Wahre zu finden. Anstelle dieser Stillstellung macht Baudelaire nach Foucault zwei Dinge sichtbar, nämlich eine bestimmte Haltung zur Gegenwart und eine Haltung des Menschen zu sich selbst, die beide Kants Postulat der Freiheit in Figuren der Potenzialität umschreiben. Keine Metaphysik der Geschichte ist hier gefordert, und auch keine Metaphysik des autonomen Selbst, keine Eschatologie und keine Selbstfindung, sondern eine „Produktion“ von „Möglichkeit, nicht länger zu sein, zu tun, zu denken was wir sind, tun, oder denken“. Konkret heißt dies, dass eine „experimentelle“ Haltung den „leeren Traum der Freiheit“ ersetzt, und dass eine „permanente Kritik unserer selbst“ in Form „genealogischer“ Analysen der Gegenwart die Metaphysik der Freiheit ersetzt. „Im Gegensatz“ zur Zurückführung der Gegenwart auf eine einzige oder auch bloß dominante Ursache, also im Gegensatz zum Modell von Kausalität und Teleologie handelt es sich hier, wie Foucault schreibt, „um eine Genealogie: es handelt sich darum, die Erscheinungsbedingungen einer Singularität in vielfältigen bestimmenden Elementen ausfindig zu machen und sie nicht als deren Produkt sondern als deren Effekt erscheinen zu lassen. Also ein Einsichtigmachen – das aber nicht in der Art einer Schließung vorgeht“ und auch nicht auf die „Natur der Dinge abzielt“, sondern die „Basis dieses Netzes“ in der „eigenen Logik eines Spiels von Interaktionsbeziehungen mit seinen ständig wechselnden Margen von Ungewissheit“ ausarbeitet.44 Diese kritische Analyse der Gegenwart zielt darauf ab, aufzudecken, „[...] welche Verbindungen, welche Verschränkungen zwischen Zwangsmechanismen und Erkenntniselementen aufgefunden werden können, welche Verweisungen und Stützungen sich zwischen ihnen entwickeln, wieso ein bestimmtes Erkenntniselement – sei es wahr oder wahrscheinlich oder ungewiss oder falsch – Machtwirkungen hervorbringt und wieso ein bestimmtes Verfahren rationale, kalkulierte, technisch effiziente Formen und Rechtfertigungen annimmt.“45
Liest man diese und andere Stellen in Foucaults Schriften, verblüfft es durchaus, dass Verweise oder doch zumindest leise Reminiszenzen in Bezug auf Musil und den Mann ohne Eigenschaften bei Fou44 Foucault, Michel: Was ist Kritik? Übersetzt v. Walter Seitter, Berlin 1992, S. 37. 45 Ebd., S. 31.
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Literarischer Möglichkeitssinn cault, soweit ich sehe, ganz fehlen. Dies überrascht, hat doch Maurice Blanchot schon 1958 in einem Essay zunächst in La Revue Française, dann in Le Livre à venir auf Musil hingewiesen und Ulrich als „den Mann des noch nicht“ gezeichnet, der „nichts als im Wirklichen fixiert betrachtet und der so handelt, als ob die Welt – die Welt der Wahrheit – immer erst später beginnen würde“46. Steht Ulrich so am Rand der Moderne, so tut er es nicht als einer, der eine andere Wirklichkeit fordert, sondern als derjenige, der ihre Brüchigkeit dort zum Austrag bringt, wo er sie in genealogischer Reflexion, d.h. im Essay und im Gespräch über „Umstände“ (wie es Musil nennt), dauernd unterläuft und damit die Möglichkeiten ins Spiel bringt, die ihm in der Paradoxie von Distanz und Innigkeit in den Sinn kommen.
Literatur Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt a.M. 2001. Bassler, Moritz/Châtellier, Hildegard (Hg.): Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne autour de 1900, Strasbourg 1998. Beriaschwili, Mamuka: „‚Eigenschaft‘ in Selbst- und Gotteserkenntnis. Überlegungen zu Eckhart, Hegel, Heidegger und Musil“, in: Kobusch, Theo/Mojsisch, Burkhard/Summerell, Orin F. (Hg.): Selbst – Singularität – Subjektivität. Vom Neuplatonismus zum deutschen Idealismus, Amsterdam 2002, S. 279-296. Blanchot, Maurice: Le livre à venir, Paris 1999. Catucci, Stefano: Per una filosofia povera. La grande guerra, l’esperienza, il senso, a partire da Lukács, Turin 2003. Congdon, Lee: The Young Lukács, Chapel Hill 1983. Meister Eckhart: Werke. Bd. 1. Texte u. Übersetzung v. Joseph Quint. Hg. u. kommentiert v. Niklaus Largier, Frankfurt a.M. 1993. Foucault, Michel: Dits et écrits, Paris 1994. —: Was ist Kritik?. Übersetzt v. Walter Seitter, Berlin 1992. Goltschnigg, Dietmar: Mystische Traditionen im Roman Robert Musils. Martin Bubers Ekstatische Konfessionen im Mann ohne Eigenschaften, Heidelberg 1974. Karádi, Éva/Vezér, Erzsébet (Hg.): Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis, Frankfurt a.M. 1985.
46 Blanchot, Maurice: „D’un art sans avenir. Musil“, in: Ders.: Le livre à venir, Paris 1999 [1959], S. 204.
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Largier: Das Mögliche denken Keller, Ernst: Der junge Lukács. Antibürger und wesentliches Leben: Literatur- und Kulturkritik, 1902-1915, Frankfurt a.M. 1984. Largier, Niklaus: Diogenes der Kyniker: Exemplum, Erzählung, Geschichte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Mit einem Essay zur Figur des Diogenes zwischen Kynismus, Narrentum und postmoderner Kritik (= Frühe Neuzeit, Bd. 36), Tübingen1997. —: „A Sense of Possibility: Robert Musil, Meister Eckhart, and the ‚Culture of Film‘“, in: de Vries, Hent (Hg.): Religion. Beyond a Concept, New York 2008, S. 739-749. Laube, Reinhard: Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 196), Göttingen 2004. Lukács, Georg: „Von der Armut am Geiste. Ein Gespräch und ein Brief“, in: Neue Blätter, Berlin 1912, S. 67-92. —: Heidelberger Notizen (1910-1913). Eine Textauswahl. Hg. v. Béla Bacsó, Budapest 1997. Mannheim, Karl: „Seele und Kultur“ [1918], in: Ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Hg. v. Kurt H. Wolff, Neuwied 1964, S. 66-84. Musil, Robert: Tagebücher. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1983. —: Der Mann ohne Eigenschaften. I. Erstes und Zweites Buch. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978. —: „Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films“, in: Balázs: Der sichtbare Mensch (2001), S. 148167. Schmidt, Jochen: Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff, Tübingen 1975. Spreitzer, Brigitte: „Meister Musil. Eckharts deutsche Predigten als zentrale Quelle des Romans Der Mann ohne Eigenschaften“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 119 (2000), S. 564-588.
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Die Organisation des Möglichen. Poetologien kapitalistischen Organisationswissens bei Robert Musil FLORIAN KAPPELER
Der Begriff der „Organisation“ bezeichnet zugleich intentional konstruierte gesellschaftliche Einrichtungen und planvolle Einwirkungen auf soziale Verhältnisse.1 Er ist für kapitalistisch geprägte Gesellschaften von zentraler Bedeutung: Diese zeichnen sich immer durch die Formen des Marktes und der Organisation aus.2 Während liberalistische Diskurse die Irrationalität insbesondere staatlicher Organisation zugunsten einer unterstellten Rationalität des Marktes eindämmen möchten, ist es bei Organisationsdiskursen zumindest im frühen 20. Jahrhundert umgekehrt. Michel Foucaults Konzept der „gouvernementalité“ beschreibt z.B. einen liberalistischen Diskurs, welcher die Möglichkeiten kapitalistisch geprägter Gesellschaften ausschöpfen möchte, indem staatliche Eingriffe in die Ökonomie stark begrenzt werden.3 Nicht die Gesellschaft ist demnach 1
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Begriffsgeschichtlich instruktiv dazu ist noch immer Dohrn-van Rossum, Gerhard: Politischer Körper, Organismus, Organisation. Zur Geschichte naturaler Metaphorik in der politischen Sprache. Diss. phil. (2 Bde.), Bielefeld 1977, z.B. S. 17ff. u. S. 327ff. Bidet, Jacques: „Foucault und der Liberalismus. Rationalität, Revolution, Widerstand“, in: Lindner, Urs/Nowak, Jörg/Paust-Lassen, Pia (Hg.): Philosophieren unter anderen. Beiträge zum Palaver der Menschheit. Frieder Otto Wolf zum 65. Geburtstag, Münster 2008, S. 130-144; Türk, Klaus/Lemke, Thomas/Bruch, Michael: Organisation in der modernen Gesellschaft. Eine historische Einführung, Wiesbaden 2006 [im Folgenden: Türk]. Der im Folgenden gebrauchte Terminus „kapitalistisch geprägte Gesellschaften“ soll in diesem Zusammenhang auf die grundlegende Bedeutung der Imperative kapitalistischer Verwertung und Konkurrenz für moderne Gesellschaften hinweisen, ohne diese darauf zu reduzieren. Vgl. Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978-1979. Aus d. Französischen v. Jürgen Schröder. Hg. v. Michel Sennelart. Frankfurt a.M. 2006 [im Folgenden: Foucault GdB II], S. 40f. u. S. 235.
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Literarischer Möglichkeitssinn von den irrationalen Auswirkungen des Kapitalismus zu befreien, sondern der Kapitalismus von den irrationalen Auswirkungen staatlicher Interventionen. Im Organisationsdiskurs gilt dagegen die Form des Marktes als irrational, unkontrolliert/krisenhaft und zugleich unzureichend männlich, die Form der Organisation aber als rational, kontrolliert und zugleich vorbildlich männlich. Dementsprechend sollen die männlich codierten organisatorischen Möglichkeiten kapitalistisch geprägter Gesellschaften ausgeschöpft und intensiviert werden, während ihre krisenfälligen Seiten auszuschließen oder zumindest zu manipulieren sind.4 Nicht erst in konservativen Reaktionen auf die aktuelle Finanzkrise und in organisationstheoretischen Debatten der letzten Jahre wird die „Bedeutung strategischer Führung“5 betont und gefordert, „[...] externe Ordner zu entwickeln, um die sich gegenwärtig in Form von Unternehmensverflechtungen oder sogar -zusammenschlüssen verstärkenden Konzentrationsprozesse ihres chaotischen Potentials zu entkleiden und einer gesellschaftlichen Steuerung zugänglich zu machen, die sich […] gerade durch den Zuwachs an ökonomischer Leistungsfähigkeit selbst stabilisieren könnte.“6
Vielmehr war die liberalistische „Regierung“ bereits seit Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts zumindest in Deutschland keineswegs hegemonial.7 Im Vordergrund stand der Versuch, die Möglichkeiten kapitalistisch geprägter Gesellschaften gerade durch planvolle (zumeist staatliche) Einrichtungen und Einwirkungen zugleich auszuschöpfen und zu kontrollieren, ohne die höchst ungleichen Eigentumsverhältnisse, die für kapitalistisch geprägte Gesellschaften konstitutiv sind, abzuschaffen und damit die Gestaltungsmöglichkeiten bei der Produktion von Gütern zu demokratisieren. Der zeitgenössische Diskurs der Organisation ist dabei weder mit systemtheoretischen oder kybernetischen noch mit normativen oder bürokratietheoretischen Ansätzen in der späteren Organisationssoziologie gleichzusetzen. Im Anschluss an Foucaults Konzept
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Vgl. Türk, S. 52ff. Dieser gendertheoretische Fokus ist auch für die folgende Analyse konstitutiv, vgl. methodologisch dazu v.a. Braun, Christina von/Stephan, Inge (Hg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der GenderTheorien, Köln 2005; Haraway, Donna: Modest_Witness@Second_Millennium. FemaleMan_Meets_OncoMouse: Feminism and Technoscience, New York 1997. Sydow, Jörg/Windeler, Arnold (Hg.): Steuerung von Netzwerken. Konzepte und Praktiken, Wiesbaden 2000, S. 21. Kappelhoff, Peter: „Komplexitätstheorie und Steuerung von Netzwerken“, in: Sydow/Windeler: Steuerung (2000), S. 347-389, hier S. 377. Foucault GdB II, S. 156ff.
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Kappeler: Die Organisation des Möglichen einer „Archäologie des Wissens“8 kann er vielmehr als eine der Vorformen solch wissenschaftlicher Diskurse angesehen werden, die gleichwohl durch eigene Regeln strukturiert wird. Im Folgenden wird dies in Anlehnung an den Forschungsansatz einer „Poetologie des Wissens“ zur These zugespitzt, dass das Wissen der Organisation Bedingungen der epistemischen Produktion und der Darstellung impliziert, die beide in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (im Folgenden: MoE) eine wichtige Rolle spielen.9 Dabei gehen gesellschaftliche Praxis, Wissen und Darstellungsweisen eine Konfiguration ein, die sich besonders für geschlechtliche Codierungen und vergeschlechtlichte Subjektmodelle als folgenreich erweist. In einem ersten Schritt sollen deshalb Beispiele historischen Organisationswissens und deren geschlechtliche Implikationen diskutiert werden, die – strukturell oder vermittelt durch Exzerpte und Rezensionen Robert Musils – mit dem MoE explizit in Verbindung stehen.10 Dazu werden besonders Schriften des Volkswirtschaftsund Staatswissenschaftsprofessors Johann Plenge, des Psychiaters und Soziologen Franz Müller-Lyer und des Industriellen und Politikers Walter Rathenau herangezogen. In der Analyse geht es weniger darum, den deskriptiven oder erklärenden Charakter dieser Ansätze zu beurteilen, als zu zeigen, wie sie ein bestimmtes Objekt der Organisation und einen bestimmten Typus vergeschlechtlichender Subjektivierung, den Wissensorganisator, mit hervorbringen. Im Anschluss daran wird dann der Zusammenhang organisatorischen Wissens mit bestimmten historischen Darstellungsweisen und -medien thematisiert. Bereits in theoretischen Schriften zur Organisation wird ein Darstellungsproblem angesprochen, das die Organisation dieses Wissens selbst betrifft. Johann Plenge schreibt
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Vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981, z.B. S. 258ff. 9 Zum Organisationsdiskurs im MoE vgl. bisher besonders Kümmel, Albert: Das MoE-Programm: eine Studie über geistige Organisation, München 2001. Zur Methode einer „Poetologie des Wissens“, die Wissen und Darstellungsformen in ihren Zusammenhängen untersucht, vgl. z.B. Vogl, Joseph: „Robuste und idiosynkratische Theorie“, in: Kulturpoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 7/2 (2007), S. 249-258. 10 Zu Plenge vgl. Musil, Robert: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann u. Karl Corino, Klagenfurt, DVD-Version 2009 [im Folgenden: Musil KA], Transkriptionen, H. 10, S. 20-21; zu Müller-Lyer ebd., Transkriptionen, H. 21, S. 55-61, H. 19, Einlagen 2 u. 3, und H. 10, S. 105; zu Rathenau vgl. Musils Rezension zu Rathenaus Buch Zur Mechanik des Geistes in ebd., Lesetexte, Bd. 12, Essays, Anmerkungen zu einer Metapsychik, S. 556-560, und die Exzerpte in ebd., Transkriptionen, Heft 2.
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Literarischer Möglichkeitssinn z.B. in seinen Drei Vorlesungen über die allgemeine Organisationslehre: „Organisation ist ohne Sprache unmöglich. Die wechselseitige Mitteilung trägt die Organisation, und darum bedeutet alle Steigerung der Organisation Steigerung der Mitteilungsmittel von der Sprache zur Schrift, zum Druck, zur Botschaft, zur Drahtmeldung, zur Organisationspresse usw.! [...] Alle die Kunst der besonderen Formulare und Schemata, die Kunst des Befehls und die Kunst der Meldung gehört ja zur Organisation.“11
In einem zweiten Schritt wird also ein Darstellungsproblem diskutiert, das die Organisation des Wissens selbst betrifft. Gerade der MoE, so die These, expliziert in besonderem Maße, inwiefern Formen der Wissensorganisation bestimmte geschlechtliche Typen des Wissensorganisators eingeschrieben sind: Der General, der Ökonom und der (General-)Sekretär. Geht es also im ersten Teil der folgenden Ausführungen um ein Wissen der Organisation, so im zweiten um die Organisation des Wissens.
Das Wissen der Organisation Der Homo organisator bei Johann Plenge Johann Plenge, Mitglied der SPD und Doktorvater des späteren SPD-Vorsitzenden Kurt Schuhmacher, hat sich in mehreren Schriften mit der Frage der Organisation befasst, so im für Musil zentralen Text Die Revolutionierung der Revolutionäre12, der erstmals 1917 in der Zeitschrift Die Glocke erschien, dem damaligen Organ des promilitaristischen und nationalistischen Flügels der SPD.13 Nach dem Ersten Weltkrieg versuchte er in seinen Drei Vorlesungen über die allgemeine Organisationslehre ein solches Wissen systematisch zu präsentieren. Das Wissen von der Organisation ist demnach zwischen Volkswirtschaftslehre und Staatswissenschaft angesiedelt und durchquert die Gegenstandsbereiche dieser beiden Wissenschaften.14 Es betrifft bei Plenge somit primär die Bereiche von Öko-
11 Plenge, Johann: Drei Vorlesungen über die allgemeine Organisationslehre, Essen 1919 [im Folgenden: Plenge DvaO], S. 36. 12 Plenge, Johann: Die Revolutionierung der Revolutionäre, Leipzig 1918 [im Folgenden: Plenge RdR]. 13 Diese als „Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe“ bekannte Fraktion war eine Vorläuferorganisation des „Seeheimer Kreises“ innerhalb der SPD, zu dem heute u.a. Gesine Schwan, Ulla Schmidt und Sigmar Gabriel gezählt werden können. 14 Vgl. Plenge DVaO, S. 26f.
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Kappeler: Die Organisation des Möglichen nomie und Staat, nicht aber die Sphäre des Haushalts. So wird der gesamte gesellschaftliche Bereich der (insbesondere generativen) Reproduktion in Haushalt und Familie aus der Analyse organisatorischen Wissens ausgeschlossen. Mittels Organisationswissens soll der Staat planmäßig in die ökonomischen Abläufe intervenieren, etwa in Fragen der Organisation von Arbeitsteilung und Kapitaleinsatz. Diese Intervention bedarf eines „Generalstabswissens“ als Handlungsgrundlage organisatorischer Politik, welche „die planvolle Vorherüberlegung aller konstruktiven Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer Neuordnung unserer Gesellschaft gerade aus wissenschaftlichen Gründen verlangt“15. Sie richtet sich gegen die „Desorganisation“ durch die „Konjunktur“, „die aus dem Zusammenwirken zahlloser Einzelwillen in ewiger Erneuerung ungewollt herausgeborene Gesamtverumständung“16. Trotz dieser eher umständlichen Ausdrucksweise kann unterstellt werden, dass der kapitalistische Begriff der „Konjunktur“ gemeint ist. Marxistisch ausgedrückt, impliziert dieser gerade deshalb zyklische Schwankungen und Krisen, weil die Verbindung (lat. conjungere, „verbinden“) der Entscheidungen einzelner Kapitalisten („Zusammenwirken zahlloser Einzelwillen“) erst durch die „invisible hand“ des Marktes („ungewollt herausgeborene Gesamtverumständung“) hergestellt wird.17 Entsprechend solcher Voraussetzungen schreibt Plenge der Konjunktur nur die Stiftung rein zufälliger Verbindungen, der Organisation aber die planvoller Einheit zu. Im expliziten Gegensatz zu kommunistischer Politik ist er aber bestrebt, die Kräfte der kapitalistischen Konjunktur für die Organisation zu nutzen: „Wahre Organisationskunst weiß die zentrifugalen eigenstrebigen Kräfte zu benutzen“18. Die desorganisierenden Faktoren kapitalistisch geprägter Gesellschaften werden nicht nur als Störungen, sondern auch als zu nutzende Möglichkeiten begriffen. Nicht-nutzbare Kontingenzen der Konjunktur sollen dagegen organisatorisch ausgeschlossen oder zumindest reduziert werden: „Je
15 Plenge RdR, S. 4 [Herv. F.K.]. 16 Plenge DVaO, S. 24. 17 Vgl. z.B. Heinrich, Michael: Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition. Überarbeitete u. erweiterte Neuauflage, Münster 2001, S. 311ff. Als wichtigste Schrift für seinen Ansatz nennt Plenge gleichberechtigt neben Friedrich Lists Schrift Nationales System der Politischen Ökonomie Karl Marx’ Kommunistisches Manifest. (Vgl. Plenge DVaO, S. 16.) 18 Plenge DVaO, S. 63.
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Literarischer Möglichkeitssinn mehr die Organisation fortschreitet, desto mehr treten die mehr zufälligen Möglichkeiten der Konjunktur zurück“19. Damit erscheint sie als „nach [ihrer] eigentlichen Grundnatur [...] männliche Erfahrenheit und Selbstbeherrschung“20. Das Subjekt des Organisationswissens bedarf dementsprechend einer „innere[n] Haltung“, die „eisigste Kälte“ impliziert und unbeirrt an seiner „objektive[n] Erkenntnisaufgabe“ festhält: der „kalte[n] und nüchterne[n] Erörterung“ jenseits aller Gefühle oder Wünsche.21 Organisation ist also eine durchgängig männliche Angelegenheit, und es ist u.a. diese geschlechtliche Zuschreibung, die es Plenge erlaubt, die kapitalistische Ökonomie prinzipiell zu verteidigen. Denn sie besitzt genau wie das Subjekt des Organisationsdiskurses männliche „kalte Härte“22. Dem entspricht eine anthropologische Voraussetzung: Der Mensch ist die „kluge unter sich zwingende Herrenart. Der Mensch als solcher ist Herr, Ausbeuter und Wertgewinner“, seine im Kapitalismus gesteigerten Eigenschaften sind also zugleich männlich codiert und „artgemäß“.23 „Es ist ganz tief im Wesen der Menschheit begründet, daß sie gleichzeitig in Konjunkturen und Organisationen lebt“24: Kapitalistische Ökonomie und Organisation gehören zusammen.25 Trotzdem ist der Homo organisator etwas anderes als der Homo oeconomicus. Nur die Politik und das Wissen des Ersteren zielen auf Totalität, und das sowohl hinsichtlich des Umfangs seiner möglichen Interventionen als auch seiner totalen Identifikation mit der eigenen Nation.26 Das Gegenbild solcher Organisation ist für Plenge der Liberalismus, dessen ökonomischem Diskurs er vorwirft, im Gegensatz zu seiner eigenen androzentrischen Konzeption das Bild der „mütterlich nährenden Natur“ auf den Begriff der Arbeit übertragen und zum Vorbild des „Mechanismus des freien Spiels der Marktkräfte“ gemacht zu haben.27 Analog dazu betrachtet Plenge in sei-
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Ebd., S. 50. Plenge RdR, S. 9. Vgl. ebd., S. 38. Ebd., S. 78 u. S. 84. Vgl. ebd., S. 78f. Plenge DVaO, S. 24. Entsprechend korrespondierte der zunehmende Einfluss des Staates historisch mit einem verstärkten Einfluss der Unternehmer auf den Staat: So übernahm der Reichsverband der Deutschen Industrie bereits im Krieg hoheitliche Funktionen und staatliche Planungs- und Lenkungskompetenzen. 26 „Der Mensch gliedert und gestaltet seine gesamte Umwelt als das formende [...] Tier“ (Plenge RdR, S. 98 [Herv. F.K.]); „Der Mensch ist Volk und als Volk Rasse, Nation und Staat“ (ebd., S. 119 [Herv. i.O.]). 27 Vgl. ebd., S. 58ff.
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Kappeler: Die Organisation des Möglichen nem Text Von der Diskontpolitik zur Herrschaft über den Geldmarkt den Kredit als „das empfindlichste System“ und als vaterlandslos.28 Nur die organisierenden und organisierbaren Seiten kapitalistisch geprägter Gesellschaften werden als männlich aufgefasst, nicht aber diejenigen, welche die Organisation stören, indem sie sich ihr durch „Empfindlichkeit“ und „Vaterlandslosigkeit“ tendenziell entziehen. Walter Rathenau und die männliche Intuition der Organisation Bei der praktischen Durchsetzung organisatorischer Paradigmen hat in Deutschland Walter Rathenau eine zentrale Rolle gespielt.29 Rathenau, der Vorsitzende des Aufsichtsrates des Großunternehmens Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG) und von 80 weiteren Aufsichtsräten, machte zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf die unzureichende wirtschaftliche Vorbereitung des Deutschen Reiches auf die Kriegssituation aufmerksam und empfahl die rasche Errichtung einer Abteilung zur zentral geplanten Bewirtschaftung kriegswichtiger Rohstoffe. Damit hatte er entscheidenden Anteil an der darauffolgenden staatlichen Beaufsichtigung der deutschen Industrie durch sogenannte Kriegswirtschaftsgesellschaften, deren Leitung er zeitweise übernahm. Auch in Rathenaus Schriften, die sich im Spannungsfeld von Wissenschaft, Philosophie und Kunst bewegen, spielt der Begriff der „Organisation“ eine wichtige Rolle, so in dem von Musil rezensierten Buch Zur Mechanik des Geistes (1913). Dort werden die „Netze zweckmäßiger Organisationen“ als zentrales Kennzeichen der heutigen Gesellschaft aufgefasst: „Alle Mächte des Denkens und Fühlens sind in den Dienst des Gesamtorganismus eingespannt [...], im Dienst materieller Produktion“ und des „Marktes“.30 Ursache davon ist Rathenau zufolge eine fortschreitende „Mechanisierung“, der er kritisch gegenübersteht, insofern sie im Gegensatz zum Bereich der „Seele“ und der „Intuition“ stünde. Andererseits kann die moderne Organisation aber auch „die Massen vereinigen und durch Organisation beleben“31. Diese ‚lebendige‘ Form der Organisation begreift 28 Vgl. Plenge, Johann: Von der Diskontpolitik zur Herrschaft über den Geldmarkt, Berlin 1913, S. 274 u. S. 29f. 29 Vgl. Krajewski, Markus: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt a.M. 2006, S. 196ff. Für Krajewski ist Rathenau ein Beispiel für einen „Weltprojektemacher“ um 1900; solche Weltprojekte werden jedoch so häufig mit dem Vokabular der Organisation charakterisiert (vgl. allein ebd., S. 196, S. 200 u. besonders S. 235), dass seine Studie die hier vertretenen Thesen zum Organisationsdiskurs stärkt. 30 Vgl. Rathenau, Walter: Zur Mechanik des Geistes, Berlin 1913 [im Folgenden: Rathenau MdG], S. 54. 31 Ebd., S. 297.
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Literarischer Möglichkeitssinn Rathenau als Zeichen „zunehmender Mannhaftigkeit“32 und analogisiert sie historisch mit dem Aufstieg des Bürgertums, der einen „fast unbegreiflichen Zuwachs an Mannhaftigkeit“ bedeutet habe.33 „Organisation“ wird bei Rathenau genau dann affirmiert, wenn sie die Faktoren der Belebtheit/Beseeltheit/Intuitivität und der Mannhaftigkeit impliziert. Die organische Organisation ist ein männliches (Wissens-)Objekt. Aber nicht nur die Organisation, sondern auch die Organisatoren müssen über bestimmte männlich codierte Eigenschaften verfügen. Dabei ist es wichtig, dass „die Staatswirtschaft über der Einzelwirtschaft steht“34. Dies impliziert aber wie bei Plenge keinesfalls „Verstaatlichung der Arbeitsmittel oder eine andere Art kommunistischer Gesetzgebung“, sondern eine „mäßige [...] Lebensführung“, gepaart mit „hoher Verantwortung und weitem Verfügungsbereich der zur Führung Berufenen“35: So werden „aus Händlern Organisatoren, aus Unternehmern Staatsleute“36. Es geht nicht darum, kapitalistische Herrschaftsverhältnisse zu überwinden, nur sollen die Herrscher/Organisatoren über bestimmte positiv bewertete Eigenschaften verfügen. Es ist darum von großer Bedeutung, diese „menschlichen Eigenschaften“, welche zugleich als „männliche Eigenschaften“ bezeichnet werden, zu erkennen und zu trainieren.37 „Energie, [...] Geduld und Zähigkeit“38 sowie Schöpfungskraft und Intuition werden als männlich aufgefasst.39 Letzteres erscheint vielleicht auf den ersten Blick nicht als selbstverständlich – man denke nur an die alltagssprachliche Rede von der „weiblichen Intuition“. In Rathenaus Text gelten Frauen dagegen als „erregbar, aber nicht sachlich“40, und bspw. in der Kunst als epigonal und rein technisch orientiert, „dem Phantastischen und Kraftvollen fremd“.41 Das Intuitive und Schöpferische sind genau die Elemente, welche die belebte, organische von der weniger männlichen, rein mechanischen Form der Organisation unterscheiden. Die geschlechtliche Zuschreibung ermöglicht also die Differenz von Or-
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Ebd., S. 301. Vgl. ebd., S. 308. Ebd., S. 306. Ebd. Ebd., S. 309. Vgl. ebd., S. 317. Ebd., S. 332. Vgl. zur „Intuition“ auch Musils Notizen über Rathenaus mündliche Ausführungen über deren Bedeutung innerhalb der Ökonomie (Musil, Robert: Tagebücher. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1983 [im Folgenden: Musil Tgb], S. 295). 40 Rathenau MdG, S. 280. 41 Ebd., S. 277.
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Kappeler: Die Organisation des Möglichen ganik und Mechanik. Erst durch die Vereinnahmung traditionell weiblich codierter Eigenschaften kann es für Rathenau eine positive organische Form der Organisation geben, die sich dann sogar ‚fortpflanzt‘.42 Es kann hier also keineswegs, wie tendenziell bei Plenge, von einem Ausschluss des Weiblichen gesprochen werden, sondern eher von einer männlichen Vereinnahmung ansonsten zumeist weiblich codierter Bereiche. Bei Plenge und bei Rathenau stellt „Organisation“ aber einen männlich codierten Gegenentwurf zu den unwägbaren, irrationalen und unmännlich codierten Seiten kapitalistischer Ökonomie dar, der diese rationalisieren will und sich dabei einer maskulinistischen Rhetorik bedient. Unterschiede gibt es nur bezüglich der Frage, inwieweit traditionell weibliche Elemente vereinnahmt oder ausgeschlossen werden. Organisation und Haushalt bei Franz Müller-Lyer In der mehrere tausend Seiten und sechs Bände umfassende Schrift Die Entwicklungsstufen der Menschheit. Eine systematische Soziologie in Überblicken und Einzeldarstellungen (1908-1916) des ausgebildeten Mediziners, Experimentalpsychologen und Psychiaters Franz Müller-Lyer wird das Verhältnis von Geschlecht und Organisation explizit thematisiert.43 Wie Plenge und Rathenau versteht Müller-Lyer „Organisation“ als praktisch intervenierendes Regulierungswissen. Der Begriff der Organisation wird bei ihm aber auf das gesamte System der Einrichtungen gesellschaftlicher Differenzierung und Arbeitsteilung ausgeweitet. In der Einleitung zum zweiten Band der Entwicklungsstufen werden als grundlegende Faktoren aller Gesellschaften im Anschluss an Karl Marx und Friedrich Engels die materielle Reproduktion durch die Ökonomie, die generative Reproduktion im Haushalt und die soziale Organisation bezeichnet.44 Der dritte Faktor umfasst „die Beziehungen der einen gesellschaftlichen Körper bildenden Individuen zueinander, ihre Beziehungen zum Gesellschaftsganzen und schließlich die Beziehungen der ein42 Vgl. ebd., S. 136. Noch deutlicher ausgeprägt sind solche Zuschreibungen zu dieser Zeit etwa bei Rudolf Pannwitz (Pannwitz, Rudolf: Die Krisis der europäischen Kultur, Nürnberg 1917), der den Staat durchgängig mittels Fruchtbarkeitsmetaphern metaphorisiert. 43 Dieses Verhältnis wurde nicht nur von Musil, sondern zu Beginn des 20. Jahrhunderts insgesamt sehr stark rezipiert. Vgl. zu Müller-Lyer insgesamt Curth, Sigrid: Soziologie als Programm sozialer Reform. Evolutionstheorie und demokratische Aktion: F. Müller-Lyer, Marburg 1986. 44 Vgl. Müller-Lyer, Franz: Die Entwicklungsstufen der Menschheit. Eine systematische Soziologie in Überblicken und Einzeldarstellungen, München 1908-1916, Bd. 2, S. 42ff; vgl. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Marx-EngelsWerke, Berlin 1956ff., Bd. 3, S. 21 u. S. 32.
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Literarischer Möglichkeitssinn zelnen Gesellschaftskörper“45. Im weiteren Verlauf des Werkes wird die Organisation dann nicht mehr als eigenes System gesellschaftlicher Relationen thematisiert, sondern scheint der materiellen und generativen Reproduktion grundlegend immanent zu sein. MüllerLyer erweitert damit den Organisationsbegriff um den Faktor des Haushalts, der zumindest in Plenges allein auf Ökonomie und Staat fokussierter Schrift ausgeblendet und bei Rathenau metaphorisch vereinnahmt wird. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Reproduktion ist MüllerLyer zufolge bestimmt vom „Grundgesetz“ der zunehmend komplexeren gesellschaftlichen Differenzierung und Organisation. Nachdem diese bisher in kapitalistisch geprägten Gesellschaften allein den Männern vorbehalten war, ist das aktuell „wichtigste und [...] bedeutungsvollste“ Phänomen die „Frauendifferenzierung“.46 Die Emanzipation der Frauen ist jedoch bei Müller-Lyer keineswegs deren eigener politischer Organisation geschuldet, sondern primär durch die wiederum eher männlich geprägte strukturelle und technische Reduktion der Haushaltsarbeiten im Kapitalismus bedingt. Die Frauenbewegung hat dagegen angeblich keinerlei neue Organisationsformen geschaffen.47 Zudem hält Müller-Lyer eine grundlegende Veränderung der Arbeitsteilung im Haushalt nicht für möglich. Die Reduktion der Haushaltsarbeit soll allein – wie in der deutschen Familienpolitik heute noch propagiert – zu einer Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen führen. Während also der Arbeitsmarkt für Frauen geöffnet wird, bleiben die Bereiche des Haushalts und der Familie eindeutig weiblich, der Organisationsdiskurs aber männlich codiert.
Organisation im Mann ohne Eigenschaften Kapitalismus, Krise und Organisation Im MoE werden die meisten Aussagen über die kapitalistisch geprägte Gesellschaft und deren Organisation der Figur des preußi45 Müller-Lyer: Entwicklungsstufen (1908-1916), S. 43. 46 Vgl. ebd., S. 243. Müller-Lyer bezieht sich dabei stark auf Statistiken z.B. der Gewerbezählung und des Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik zur Differenzierung der Frauen in Berufe, denen zufolge die Berufstätigkeit von Frauen um die Jahrhundertwende massiv zugenommen hat – 1895-1907 in absoluten Zahlen um 60% –, sodass zu Beginn des 20. Jahrhunderts über 30% der Frauen erwerbstätig sind – allerdings, ähnlich wie heute zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in den allermeisten Fällen in prekären Teilzeitstellen. (Vgl. ebd., S. 218ff.) 47 Vgl. ebd., S. 232ff.
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Kappeler: Die Organisation des Möglichen schen Industriellen Paul Arnheim in den Mund gelegt, der explizit Züge Rathenaus und in den frühen Entwürfen des Romans sogar dessen Namen trägt.48 Die Figur des Arnheim stellt jedoch nicht einfach eine Personifizierung oder gar Personalisierung kapitalistischer Verhältnisse dar. Da der Kapitalismus „in hohem Grade unabhängig vom Persönlichen“ ist, bleibt Arnheim dessen „Gefangener“.49 In Verbindung mit grundlegenden kapitalistischen Kategorien findet dabei auch die Fortpflanzungsmetaphorik Rathenaus Eingang in den MoE. Mitunter tendiert die Figur Arnheim (nicht der MoE insgesamt) zu einer Substanzialisierung kapitalistischer Verhältnisse mittels biologischer, besonders botanischer und zoologischer Vergleiche: „Das Geld zirkuliert [...] wie der Saft in einer Blüte“, nämlich der „Blüte“ der Banken und des Kredits, darum ist er ohne „Bankkonto und Kredit [...] eine abgewelkte Blume“.50 Noch deutlicher wird die Dynamik kapitalistischer Gesellschaften mittels naturalisierender Zuschreibungen dargestellt: Die „Natur des Geldes [...] will die Vermehrung genau so, wie die Natur des Tieres die Fortpflanzung anstrebt“51. Der Kapitalismus verfügt also über die Fähigkeit sich fortzupflanzen: Wie bei Rathenau wird der Bereich der Fortpflanzung zur Charakterisierung kapitalistischer Organisationsformen herangezogen. Zudem wird konstatiert: „Es gibt auch für Geschäfte [...] eine geheimnisvolle Grenze des Wachstums wie für alles Organische“52. Diese hier als „organisch“ imaginierte Wachstumsgrenze referiert auf die besonders bei Plenge angesprochenen konjunkturellen Krisen im Kapitalismus. So ist das Geld laut Arnheim zwar „hart und genau wie ein Fallbeil“, kann aber ebenfalls „empfindlich wie ein Rheumatiker sein – man denke bloß an das Ziehen und Lahmen in den Kursen beim geringsten Anlaß!“53 Die Gründe, die für solche Krisen im MoE angeführt werden, sind die gleichen wie in den organisationstheoretischen Texten: Es sind die irrationalen und kontingenten Seiten kapitalistischer Ökonomie, welche nur durch den Einsatz organisatorischen Wissens überwunden werden können. Im MoE werden diese besonders auf den Komplex von Kredit und Krise sowie auf die Intuitivität bzw. Poetizität ökonomischen Wissens zu48 Vgl. Musil KA, Lesetexte, Bd. 4, Der Mann ohne Eigenschaften, Die Vorstufen, Der Spion. Skizzen und Szenarien 1919/20 sowie Der Erlöser, z.B. Kap. VII. 49 Vgl. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. I. Erstes und Zweites Buch. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978. [im Folgenden: MoE], S. 638 u. S. 393. 50 Vgl. ebd., S. 419. 51 Ebd., S. 420. 52 Ebd., S. 270. 53 Ebd., S. 389.
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Literarischer Möglichkeitssinn rückgeführt. So spricht Arnheim über den „Zusammenhang zwischen Geschäft und Dichtung [...]. Es ist verwandt mit der Dichtung, es besitzt irrationale, ja geradezu mystische Seiten; ich möchte sogar sagen, besonders das Geschäft besitzt sie“54. Kapitalisten lernen demzufolge ihre „wirklich erfolgreichen Einfälle als etwas betrachten, das jeder Berechnung spottet, ähnlich wie es der persönliche Erfolg des [...] Künstlers tut“: als „etwas Irrationales“.55 Hier klingt Rathenaus Theorem von der intuitiven Seele an, die ihm zufolge allerdings gerade ein wichtiges Element der von ihm affirmierten organischen Organisation darstellt.56 Der Intuition kommt nun nicht nur Rathenau, sondern auch aktuellen soziologischen Ansätzen zufolge innerhalb der kapitalistischen Ökonomie eine bedeutende Funktion zu.57 Da nämlich die Entscheidungen einzelner Kapitalisten nicht planvoll, sondern durch die Kontingenzen des Marktes aufeinander bezogen werden, ist niemals absehbar, ob Investitionsentscheidungen sich als rational erweisen werden. Sie begründen immer nur die Möglichkeit der Verwertung, ihre Realisierung wäre erst der Verkauf der produzierten Waren, für den es keine Garantie gibt, sondern auf den, teilweise intuitiv, spekuliert werden muss. Intuition ist also eine Kategorie, die nicht nur der Dichtung, sondern auch der Ökonomie zugeschrieben werden kann.58 Der Kapitalismus und das ihm immer immanente Element der Spekulation haben irrationale Seiten, die sich nicht nur ‚schöpferisch‘, sondern auch in Krisen äußern können. Der in der Forschung oft vage und inflationär gebrauchte Begriff der „Krise“ besitzt im MoE also durchaus auch einen präzisen sozioökonomischen Sinn. Er bezeichnet die Grenzen rein ökonomischer Rationalität, an welchen dann der Ruf nach organisatorischer Rationalität aufkommt. Durch „[...] Organisation der ihm zugänglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und durch Gedanken über Führung und Aufbau des ganzen Staats wollte er [Arnheim – F.K.] einer neuen Zeit in die Arme wirken, wo die durch Geschick und Natur ungleichen Gesellschaftskräfte richtig und fruchtbar geordnet sind.“59
54 55 56 57
Ebd., S. 269. Vgl. ebd., S. 274. Vgl. z.B. Rathenau MdG, S. 56. Urs Stäheli argumentiert zu Recht, dass dabei die Dynamik kapitalistisch geprägter Gesellschaften in ökonomischen Texten meist als weiblich erscheint, nicht aber die Kapitalisten, selbst wenn ihre Spekulationen intuitiv angeleitet sind. (Vgl. Stäheli, Urs: Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie, Frankfurt a.M. 2007, S. 352f. u. S. 296.) 58 Vgl. ebd., S. 273ff. 59 MoE, S. 389, vgl. auch S. 639.
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Kappeler: Die Organisation des Möglichen
Die organisatorische Regulierung der kapitalistischen Ökonomie erscheint als das einzige Mittel gegen deren Krisen, und sie folgt antiliberalen und zentralistischen Paradigmen. Die Möglichkeit konjunktureller Krisen kann, auch im MoE, als Kontrastfolie und als Einsatzpunkt für den Diskurs der Organisation begriffen werden. Wunsch und Organisation: Die Parallelaktion Auf der Handlungsebene des MoE werden solch organisatorische Pläne besonders im Kontext der sogenannten „Parallelaktion“ verhandelt, jenes nationalen Zentralausschusses, der die Feiern des 1918 anstehenden 70. Regierungsjubiläums des österreichischen Kaisers parallel zum 30. des deutschen Kaisers organisieren soll. Die Parallelaktion fungiert dabei selbst als Organisation: Zum einen folgt sie dem Vorbild der „Reichsstellen“ und „Kriegsgesellschaften“ im Ersten Weltkrieg, welche Vertreter gesellschaftlicher Organisationen, besonders Unternehmer, in die Planungsprozesse leitender staatlicher Stellen einbezogen.60 Zum anderen ist es das Ziel der Parallelaktion, eine dynamische Organisation zu werden, d.h. die Wünsche und Ziele der Bevölkerung zu integrieren: Diese wird aufgefordert, die Ausschüsse der Parallelaktion bzw. die extra zu diesem Zweck eingerichtete „Enquete zur Fassung eines leitenden Beschlusses und Feststellung der Wünsche der Bevölkerung“ durch Zuschriften von ihren Wünschen zu unterrichten. Hierbei geht es nicht allein um das anstehende Regierungsjubiläum, sondern auch um die dynamische Neuordnung und planvolle Synthetisierung der Möglichkeiten der kapitalistisch geprägten Gesellschaft. Seitens der Parallelaktion werden allerdings nur Vorschläge berücksichtigt, die wiederum von bereits bestehenden kollektiven Organisationen bzw. „staatlich anerkannten [...] Korporationen“61 unterbreitet werden. Ein schönes Beispiel solcher von Organisationen des „Volks“ vorgeschlagenen, aber leider von der Parallelaktion nicht realisierten Ziele, ist das Kurzschriftsystem „Öhl“, das in Fragen der Organisation und der „Volksgesundheit“, aber auch der Ästhetik ihrem Verfechter zufolge „Zeitersparnis, Ersparnis geistiger Energie“ fördere sowie zu „Präzision, Willensanspannung und männlicher Haltung erziehe“62 – also zu männlich-organisatorischer Optimierung. Die Parallelaktion erweist sich auch insgesamt als männlich dominierte Organisation. Stärker noch, als es Müller-Lyer für die Gegenwart konstatiert, verweist sie Frauen in den Bereich des Nicht-Organisierten und des Haushalts. Eine Ausnahme bildet v.a. 60 Türk, S. 201f., vgl. Krajewski: Restlosigkeit (2006), S. 243. 61 Türk, S. 226. 62 Vgl. ebd., S. 350.
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Literarischer Möglichkeitssinn der Salon Diotimas, in dem die maßgeblichen Protagonisten der Aktion zu Sitzungen zusammenkommen. Dabei handelt es sich aber nicht nur um eine historisch weiblich codierte, sondern auch weniger für die wissensgesteuerte Organisation als für ideologischpolitische Repräsentation sowie Wissenszirkulation und -vermittlung zuständige Einrichtung. Die ideologische Rolle von Frauen in diesem Kontext ist es, „den Intellekt mit Seinskräften zu umschlingen“ und „eine menschliche Einheit vorzutäuschen“.63 So versucht Diotima nicht so sehr, das von der Parallelaktion antizipierte Moment organisatorischer Einheit als Subjekt organisatorischen Wissens in der gesellschaftlichen Praxis zu realisieren, sondern verleiht ihm eher im symbolischen Sinn „Bedeutung“. Die Parallelaktion ist allerdings in ihrer Praxis kein vorbildliches Modell der Organisation. Das liegt u.a. daran, dass es ihr an effizientem Organisationswissen gerade mangelt. Eine Koordination der verschiedenen organisatorischen Instanzen gelingt ihr z.B. nicht. Desorganisation in der Kriegswirtschaftsplanung entsteht einer Erzählung von Diotimas Gatten Tuzzi zufolge etwa dadurch, dass die Abteilungen des Kriegsministeriums sich über ihre Zuständigkeit bei der Belieferung von Befestigungsanlagen nicht einigen können.64 Folgt der Organisationsdiskurs bei Plenge dem Vorbild der Kriegswirtschaft und bei Müller-Lyer zumindest einem funktionalen System der Arbeitsteilung, so ist für die Parallelaktion eher der lähmende Sog der Bürokratie prägend. In der sozialen Realität war es Plenge, der nach dem Ersten Weltkrieg die deutsche Niederlage damit begründete, dass „Organisation zu äußeren Zwangsvorschriften der Behörden“65 verkommen sei und „dadurch zur Bürokratie entartete“66.
Die Organisation des Wissens Diese Probleme der Bürokratisierung verweisen auf die Organisationsformen des Wissens selbst. So war der Erste Weltkrieg für Musil „Ausdruck einer bestimmten ideologischen Lage: das völlige Gewährenlassen gegenüber den an der Staatsmaschine stehenden Gruppen von Spezialisten [...]: Mangel an geistiger Organisation“.67 63 64 65 66 67
Vgl. ebd., S. 100f. u. S. 109. Vgl. ebd., S. 586. Plenge DVaO, S. 9. Ebd., S. 28. Vgl. u.a. Musil, Robert: Gesammelte Werke. 2 Bde. Bd. II: Essays und Reden. Kritik. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978 [im Folgenden: Musil GW], S. 1089.
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Kappeler: Die Organisation des Möglichen Geistige Organisation in Musils Sinne meint dabei nicht nur eine intellektuelle Tätigkeit gegen die staatlichen Expertenkulturen, sondern auch eine Effektivierung der Datenverarbeitung. Wesentlicher Bestandteil des Organisationsdiskurses sind die Organisationsformen des Wissens selbst. Diese Organisationsformen betreffen nicht zuletzt die Darstellungsweisen von Wissen, d.h. dessen mediale Voraussetzungen und Präsentationsformen, Schreibweisen und Fragen der Anordnung und Koordination von Daten. Genau diese Bedeutung darstellerischer Medien, Genres und Techniken wird, wie im Folgenden gezeigt werden soll, im MoE anhand verschiedener Arten der Wissensorganisation explizit diskutiert. Dort werden diese Darstellungsweisen zugleich mit bestimmten vergeschlechtlichten Modellen der Subjektivierung verbunden: den Wissensorganisatoren.68 General Stumm und die militärische Organisation des Wissens Während Musil eher den wissenschaftlichen und ästhetischen Aspekt der Organisation akzentuiert,69 fordert Plenge in militärischem Duktus, das Chaos der „Ideen“ müsse „innerlich durchorganisiert werden, wie die Arbeiterbataillone oder das Heer straffe Gliederung braucht“70. Müller-Lyer ist wie Musil von der Bedeutung von Wissenschaft und Kunst für die Frage der Organisation überzeugt; seine Methode impliziert aber Elemente militärischer Rhetorik, die eher an Plenges Konzeption erinnern. Um „in das ungeheure Chaos des geschichtlichen Stoffes Ordnung“71 zu bringen, versucht er, bestimmte „Phasen“ der historischen Entwicklung gesellschaftlicher Organisation zu konstruieren, sodass die historischen Ideen „auf den gesetzmäßigen Takt siegreicher Richtungslinien gestimmt sind“72, wobei er sich teils grafischer Darstellungsmittel bedient. Die Rhetorik der siegreichen Richtungslinie besitzt neben einer grafischen eine militärische Konnotation. Der Ökonom Rudolf Goldscheid bezeichnete in einer Denkschrift für Müller-Lyer dessen Schriften insgesamt als „Generalstabswerk“73. 68 Männliche Wissensorganisatoren werden im MoE, anders als in ‚wissenschaftlichen‘ Texten, nicht als idealtypische Modelle konfiguriert, sondern als Romanfiguren innerhalb narrativer Abläufe dargestellt. Dabei erscheint ihre Subjektivität oft eher als brüchig denn als komplett mit einem bestimmten Wissen identisch und wird gerade in ihren geschlechtlichen Codierungen auch problematisiert. 69 Vgl. Musil GW, S. 1019. 70 Plenge RdR, S. 8f. 71 Müller-Lyer: Entwicklungsstufen (1908-1916), Bd. 5, S. 218. 72 Ebd., S. 219. 73 Zit. nach Curth: Soziologie (1986), S. 15.
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Literarischer Möglichkeitssinn Im MoE ist es General Stumm von Bordwehr, der einem grafischen und militärischen Modell der Wissensorganisation folgt: Er und seine Mitarbeiter erstellen Listen der Namen kanonischer Autoren und Schlagworte und ordnen diese „nach der Art eines Meldezettels oder eben der militärischen Verzeichnisse durch Kreuz- und Querlinien in Felder geteilt“74, also tabellarisch an. Diese Darstellungsform erweist sich aber als ungeeignet, die Beziehungen, d.h. die Verknüpfungen und Übergänge sowie die Abgrenzungen zwischen den verschiedenen ‚Wissensbezirken‘ zu erfassen. Stumm wechselt daher die „Darstellungsart“ und unternimmt nun mittels Karten geografische Darstellungsversuche, um „wenigstens einen festgegliederten Operationsraum zu gewinnen“.75 Die so erstellten kartografischen Medien verfügen allerdings über keine Dimension der Zeit, sodass sie als Medien der Wissensorganisation raumzentriert und statisch bleiben: Auch sie, so beklagt Stumm, können den „Sauhaufen“76 modernen Wissens nicht in befriedigender Weise organisieren. Die Darstellungsmodelle General Stumms verfügen über einen geschlechtlichen Subtext, der schon darin anklingt, dass sie „der General mit Mannesmut ausführte“77. Es ist nämlich die Schwärmerei für Diotima, die seinen Willen zur Organisation des Wissens antreibt: Er versucht, „den bedeutendsten Gedanken, den Diotima sucht, ihr zu Füßen zu legen“. Darum „dringt [er] in die Staatsbibliothek ein“78, wie es im weiteren Verlauf in der Überschrift des 100. Kapitels des Romans in zugleich militärischer und maskulin sexualisierter Formulierung heißt. Weder diese schwärmerische Form der Liebe noch Stumms Modelle der Wissensorganisation sind auf dem organisatorischen Stand des frühen 20. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt ging man nicht mehr von semantisch oder normativ ‚bedeutenden‘ Schlagworten oder Autoren aus, die dann grafisch angeordnet werden, sondern z.B. von statistischen Organisationssystemen (etwa entsprechend der Häufigkeit von Buchstaben: SchamSchaz, Wies-Will etc.) oder semantisierten Einteilungen per Aktenzeichen.79 In Stumms Darstellungsversuchen geraten dagegen Kanonisierung und Formalisierung in Konflikt. Der Bibliothekar der Staatsbibliothek verrät ihm schließlich ein in der heutigen Informa-
74 75 76 77 78 79
MoE, S. 372. Vgl. ebd., S. 374. Ebd. Ebd., S. 375. Ebd., S. 459. Vgl. Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a.M. 2000, S. 295f.
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Kappeler: Die Organisation des Möglichen tik und Germanistik wohlbekanntes Geheimnis der formalen Verarbeitung von Schriftmassen: Man darf sie nicht lesen.80 Es gibt im MoE aber zumindest zwei Wissensorganisatoren, die modernere Modelle der Männlichkeit verkörpern – nämlich solche, „die auf Fachwissen oder technischem Know-how beruh[en]“81. Solche Männlichkeit lebt, wie es im MoE heißt, „nicht nur im Forscher, sondern auch im Kaufmann, im Organisator“82. Der Organisator aber lebt besonders im Ökonomen und Universalgelehrten Arnheim und im (General-)Sekretär Ulrich. Paul Arnheim: Ökonomie und Wissensorganisation Es ist Arnheim, der im MoE explizit auf die Bedeutung der Wissensorganisatoren hinweist. So betont er, dass „nur einzelne starke Menschen, mit Erfahrung sowohl in der Wirklichkeit als auch im Gebiet der Ideen, [...] die Aktion lenken können“83. Ein solcher Organisator, der über Macht und Wissen sowohl auf dem Gebiet der Ökonomie wie auch auf dem der Ideen bzw. des Wissens verfügt, ein „Mann, der mit jedem in seiner Sprache reden konnte, [...] das war Arnheim“84. Er wird als eine Art Universalgelehrter bezeichnet: „Seine Tätigkeit breitete sich über Kontinente der Erde wie des Wissens aus. Er kannte alles“85. Dies bewerkstelligt Arnheim z.T. mittels eines ökonomischen Prinzips, das eine Konvertierung von allem in alles zu leisten vermag: des Austausches nicht nur von Waren, sondern auch von Worten und Wissen. Es geht dabei aber keineswegs nur um ökonomische Tauschprozesse. Ökonomie und Organisation schließen sich nicht aus, sondern ein. „Zuweilen schwebte ihm [Arnheim – F.K.] eine Art Weimarer oder Florentiner Zeitalter der Industrie und des Handels vor, die Führerschaft starker, den Wohlstand mehrender Persönlichkeiten, die befähigt sein müßten, die Einzelleistungen der Technik, Wissenschaften und Künste in sich zu vereinen und von hohem Standpunkte zu lenken.“86
Die Begriffe der Lenkung, der Führerschaft und der Synthetisierung ordnen das Arnheim’sche Modell eindeutig dem Organisationsdiskurs zu. Es handelt sich nicht um ein liberalistisches, sondern ein
80 Vgl. MoE, S. 462. 81 Connell, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 2000, S. 214. 82 MoE, S. 247. 83 Ebd., S. 109. 84 Ebd., S. 188. 85 Ebd., S. 190. 86 Ebd., S. 194.
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Literarischer Möglichkeitssinn „kollektives [...], den veralteten Individualismus verlassend[es] [...] abwechslungsreiches modernes Programm“87. Die Ökonomie soll eine gewisse Dynamik der Organisation ermöglichen, die Organisation aber die kollektive Synthetisierung des Wissens. Das Subjekt dieses Projekts ist ein lenkender und führender Mann. Mit diesem Modell sind nun aber nicht allein Führung, Einheit und ökonomisch kalkulierende Rationalität verbunden, sondern auch ein Begehren, das die Männlichkeit des Wissensorganisators in ihrer Souveränität scheinbar infrage stellt. Es steht im Gegensatz zu seiner sonstigen männlichen „eisigen Überlegenheit“88, dass Arnheim „zuweilen das Bedürfnis nach Umarmungen und Küssen [hatte] wie ein Knabe, der sich, wenn sein Wunsch nicht erfüllt wird, leidenschaftlich zu Füßen der Versagenden stürzt“89. Solchen weniger männlich codierten Elementen kommt aber durchaus eine konstitutive Funktion für das männliche Subjektmodell zu, das Arnheim repräsentiert: „Sobald er die Überlegenheit seiner männlichen Verhältnisse über die träumerisch jugendlichen erkannte, ging er daran, unter Führung der neuen Manneserkenntnisse eine Verschmelzung beider Erlebnisgruppen zu bewerkstelligen“90. So versteht Arnheim „Hingabe“ teilweise auch als „männliche Tugend“, die keiner Frau gilt, sondern der „Pflicht“, einem „Führer“ oder „dem Leben selbst, in [...] seiner Mannhaftigkeit“.91 Wie viele andere Eigenschaften hält er diese nur bei Frauen für fragwürdig. Das männliche Subjekt des Wissensorganisators wird durch die eher feminin codierten Elemente nicht grundsätzlich infrage gestellt, sondern kann sie, ganz wie in Walter Rathenaus bereits diskutierter Schrift Zur Mechanik des Geistes, integrieren und durch diese „Vereinigung von Seele und Wirtschaft“92 an Stärke gewinnen. Der männliche Wissensorganisator verhält sich damit zu den nicht-männlichen Elementen wie das Organisationswissen zu den nicht-organisierten Seiten kapitalistischer Ökonomie: Deren unkalkulierbare Elemente werden soweit wie möglich integriert und genutzt.
87 88 89 90 91 92
Ebd., S. 409. Ebd., S. 393. Ebd., S. 383. Ebd., S. 387. Vgl. ebd., S. 382. Ebd., z.B. bereits die Überschriften von Kap. 26, S. 107, u. Kap. 86, S. 380. Die Soziologin Eva Illouz hat die These vertreten, genau diese Inklusion eher „weiblicher“ Elemente habe seit den 20er Jahren des 20. Jahrhundert zunehmend zu einer Emotionalisierung gerade der Subjektivierungskonzepte in kapitalistischen Unternehmen geführt. (Vgl. Illouz, Eva: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2006, z.B. S. 29f.)
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Kappeler: Die Organisation des Möglichen Ulrich, der Generalsekretär Arnheim organisiert ausschließlich Wissen, das bereits in Buchform vorliegt, und er schreibt seine Bücher so wenig alleine, wie er seine Produkte erzeugt oder vermarktet. Dafür bedarf er eines Subjekts, welches die Organisation des Wissens materiell und technisch bewerkstelligt: des Sekretärs. Dieser stellt im MoE eine zwar unauffällige und in der Forschung kaum bemerkte, jedoch allgegenwärtige Instanz dar. So ist, wie bereits erwähnt, die Frage der Organisation von Aktenmassen, nämlich der Massen von Zuschriften, mit denen die Organisationen des Volkes ihre Wünsche an sie richten, ein zentrales Problem der Parallelaktion. Dafür zuständig, diese Zuschriften zum „Akt“93 zu erheben, aufzubewahren und dann „ad acta“ zu legen, sind die Sekretäre. Die Sekretäre der Parallelaktion schreiben grundsätzlich auf alle Akten den Vermerk „Ass.“: asserviert (aufbewahrt), was im MoE auch mit „zu späterer Entscheidung aufgeschoben“ übersetzt wird.94 Da fast alle Zuschriften aufbewahrt und aufgeschoben werden, weiß Graf Leinsdorf, der Initiator der Parallelaktion, bald nicht mehr, wie er Herr der Schriftmassen werden soll:95 „In dieser Lage sehnte er sich immer heftiger nach Ulrich, der ihm gerade als der Mann empfohlen worden war, den er gebraucht hätte, denn sein Sekretär oder überhaupt jeder gewöhnliche Sekretär war solchen Anforderungen natürlich nicht gewachsen.“96 93 Im Mann ohne Eigenschaften wird konsequent die männliche Formulierung vom „Akt“ (im Gegensatz zu weiblich „die Akte“) verwendet, welche den Doppelcharakter von Akten als Aktionen und Beschreibungsverfahren auf der einen und archivierten Schriftstücke auf der anderen Seite betont und zugleich mit dem Sexualakt verbunden wird, bei dem die aktive Rolle dem Mann zugeschrieben wird, etwa wenn General Stumm in die Staatsbibliothek „eindringt“ (s.o.). 94 Vgl. MoE, S. 225. 95 Dies ist keine Erfindung Robert Musils, sondern ein zeittypisches Problem. Cornelia Vismann hat darauf hingewiesen, dass es seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer immensen Zunahme von Akten kommt, u.a. weil seitdem alle Handlungen von Staatsbeamten als Verwaltungsakte begriffen werden und weil der Anspruch einer umfassenden Archivierung aller Vorkommnisse und Entwicklungen sich zunehmend durchsetzt. Der Effekt in der sozialen Realität ist der gleiche wie in der Parallelaktion: Eine überwuchernde Schriftlichkeit legt die Verwaltung lahm. Darum verstärkt sich die Forderung nach selbstständig handelnden Beamten, die dann um 1920 in einer Welle der Rationalisierungsversuche der Sekretärstätigkeit und der Büroorganisation gipfelt: Es kommt zu einer Übernahme von Rationalisierungspraktiken aus der Kriegswirtschaft und zur Einführung von sogenannten „Vereinfachungsreferenten“. (Vgl. Vismann: Akten (2000), S. 232ff. u. S. 27.) 96 MoE, S. 141.
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Literarischer Möglichkeitssinn Ulrich verfügt also über Kompetenzen, die andere Sekretäre nicht besitzen. Graf Leinsdorfs Sekretär spielt eine ‚tragende Rolle‘ nur insofern, als er Bücher und Aktenmappen zu seinem Chef trägt. Allerhöchstens kann er sie dem Grafen vorlesen sowie „Rundschreiben abfassen“.97 Der Sekretär Arnheims ordnet immerhin dessen Akten, kann zudem stenografieren und nach Diktat Schreibmaschine schreiben.98 Anders als die anderen Sekretäre verfügt Ulrich aber nicht nur über Arme zum Ordnen und Tragen von Akten, Augen und eine Stimme zum Lesen sowie eine Hand zum Schreiben, sondern über Kompetenzen der Wissensorganisation. Er ist nicht nur eine körperliche und technische Hilfskraft, die Wissen aufzeichnet, archiviert und präsentiert, sondern ein Organisator, der es selbstständig vernetzt und systematisiert. Als solcher weiß er im Gegensatz zu General Stumm z.B., dass effiziente Datenverarbeitung nicht der semantischen und normativen Bedeutung von Schriftzeichen folgen darf, und gliedert die Zuschriften an die Parallelaktion nach einem Aktenzeichen, das einem binären Code folgt: „Zurück zu...!“ und „Vorwärts zu...!“99 Ulrichs Funktion als Organisator geht nicht darin auf, dass er als einziger einen solch einfachen (und ironischen) Umgang mit den Aktenmassen der Parallelaktion findet. Die Prinzipien der Organisation des Wissens durch dynamische Planung, Synthetisierung und Vereinfachung werden von ihm zumindest im Gedankenexperiment auf alle zeitgenössischen Wissensarten übertragen. Kollektive Wissensorganisation lautet dabei sein Ziel, das „Keltern und Kellern und Eindicken des geistigen Saftes“100. Damit meint Ulrich keinesfalls nur die Organisation bereits bestehender Wissensbestände, sondern deren Reorganisation durch „eine ganz und gar offene, […] im Großen experimentierende und dichtende Gesinnung“101. Diese Verbindung einer planvollen Sichtung bestehenden Wissens und eines experimentierenden Umgangs damit bezeichnet exakt das Ziel zeitgenössischen Organisationswissens. Sie unterscheidet sich aber von der Konzeption Arnheims. Dieser kritisiert Ulrichs „offene, experimentierende und dichtende Gesinnung“ mittels einer Konstruktion ökonomischer Knappheit: „Der menschliche Geist [...] hat leider die Beschränkung, daß sich seine Lebensformen nicht wie die Versuchsmäuse im Laboratorium züchten lassen, sondern daß ein großer Kornboden höchstens ausreicht, um ein paar Mausfamilien zu tragen“102. Im Gegensatz zu einem solch substanzialistischen und 97 98 99 100 101 102
Vgl. ebd., S. 87; vgl. ebd., S. 851. Vgl. ebd., S. 381, S. 390, S. 392 u. S. 400. Ebd., S. 233f. Ebd., S. 365. Ebd. Ebd., S. 597.
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Kappeler: Die Organisation des Möglichen ahistorischen Argument sind für Ulrich auch die nicht-realisierten Möglichkeiten Teil der Welt, sodass ihn „das Verwirklichte jederzeit weniger anzieht als das Nichtverwirklichte, und ich [Ulrich – F.K.] meine damit nicht nur das der Zukunft, sondern ebenso das Vergangene und Verpasste“103. Ulrich ist ein Wissensorganisator des Möglichen. Doch auch dieses kritische Konzept erweist sich als Modell männlicher Dominanz. Im frühen 20. Jahrhundert differenziert sich die Tätigkeit des Sekretärs geschlechtlich aus. Untergeordnete Sekretariatstätigkeiten werden zunehmend Frauen überlassen. Nach der Einführung von Telefon und Schreibmaschine werden diese oft von Frauen, von Stenotypistinnen bedient, die allerdings im Gegensatz zu männlichen Sekretären meist nur prekäre Arbeitsverhältnisse eingehen können.104 Der „organisierende Sekretär“105 oder Generalsekretär ist dagegen eine Ausprägung hegemonialer Männlichkeit. Ein Generalsekretär ist, trotz des Namens, weniger ein militärischer als ein politischer Organisator. Generalsekretäre bilden Schnittstellen zwischen der politischen Leitung (etwa Ministern oder auch Parteichefs) und den Abteilungen oder Generaldirektionen oberster Regierungsbehörden oder Parteien. Sie sind als höchste Verwaltungsbeamte für das Tagesgeschäft zuständig und zugleich Berater der politischen Leitung mit eigenständiger Handlungskompetenz. In dieser Weise wird Ulrich zeitweise für die Parallelaktion tätig. Im 116. Kapitel des MoE stellt er explizit die Forderung eines umfassenderen „Generalsekretariats der Genauigkeit und Seele“106 auf, das eine „Generalinventur“, also eine Erfassung aller Bestände des Wissens vornehmen soll. Ein Mann, der eine solche organisatorische Schaltstelle besetzt und über Kapazitäten dynamischer Synthetisierung von Wissen verfügt, bedarf genau der Eignungen, die Ulrich vorzuweisen hat: „Mit der seelischen Beweglichkeit, die einfach eine sehr mannigfaltige Anlage zur Voraussetzung hat, ver-
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Ebd., S. 275. Vgl. z.B. Kittler, Friedrich A.: Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986, S. 289. Ein bekanntes Beispiel für die Darstellung solch weiblicher Sekre tärinnen in der zeitgenössischen Literatur ist Irmgard Keuns höchst er folgreicher Roman Gilgi – eine von uns (1931). Thomas Zaunschirm benutzt diese treffende und inspirierende Formulie rung an einer Stelle, führt sie aber leider nicht weiter aus. (Vgl. Zaun schirm, Thomas: Robert Musil und Marcel Duchamp, Klagenfurt 1982, S. 82.) Die Funktionen von Staatssekretären überschneiden sich mit de nen von Generalsekretären, sie sind aber i.A. stärker auf den Staatsappa rat im engeren Sinne bezogen. MoE, S. 583.
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Literarischer Möglichkeitssinn bindet sich bei ihm noch eine gewisse Angriffslust. Er ist ein männlicher Kopf.“107
Möglichkeiten Das organisatorische Subjektmodell des Generalsekretärs, das durch Ulrich repräsentiert wird, kann als neueres Modell hegemonialer Männlichkeit begriffen werden und reproduziert somit Geschlechterherrschaft. Auf der Darstellungsebene des Romans bleibt es allerdings nicht unhinterfragt: Der MoE stellt nicht nur ein Archiv von (z.B. organisatorischem) Wissen dar, sondern ist auch eine Art „experimental essay“, und die allwissende, heterodiegetische Erzählinstanz kontextualisiert das Sprechen der Figuren, auch das von Ulrich.108 Die Zuweisung einer männlich-dominanten Subjektposition, wie sie das Modell des Generalsekretärs vorgibt, wird im Roman dynamisiert, historisch situiert und infrage gestellt.109 Auch das Konzept der Möglichkeit im MoE folgt keinesfalls allein historischen Organisationsdiskursen, sondern erweist sich gerade als Medium ihrer Situierung und Hinterfragung. Damit antizipiert es eine Überwindung von liberalistischer Regierung und zentralistischer Organisation. So betrachtet, erwiese sich der Kapitalismus insgesamt nur als eine Möglichkeit, die andere Möglichkeiten ausschließt. Das „Vergangene und Verpasste“110 ist für solch ein Möglichkeitsdenken zugleich das aktuellste Ziel: nicht die maskulinistisch geprägte Ausschöpfung der Möglichkeiten kapitalistisch geprägter Gesellschaften wie etwa bei Plenge, Rathenau oder Müller-Lyer, sondern die Freisetzung der gesellschaftlichen Möglichkeiten jenseits ihrer kapitalistischen und maskulinistischen Prägung. Zu Recht heißt es im MoE: „Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt“111.
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Ebd., S. 151. Z.B. ebd., S. 276f. u. S. 877. Vgl. umfassend dazu Martens, Gunther: Be obachtungen der Moderne in Hermann Brochs Die Schlafwandler und Ro bert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität, München 2006. Vgl. etwa MoE, S. 825. Ebd., S. 275. Ebd., S. 17.
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Kappeler: Die Organisation des Möglichen
Literatur Bidet, Jacques: „Foucault und der Liberalismus. Rationalität, Revolution, Widerstand“, in: Lindner, Urs/Nowak, Jörg/PaustLassen, Pia (Hg.): Philosophieren unter anderen. Beiträge zum Palaver der Menschheit. Frieder Otto Wolf zum 65. Geburtstag, Münster 2008, S. 130-144. Braun, Christina von/Stephan, Inge (Hg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln 2005. Connell, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 2000. Curth, Sigrid: Soziologie als Programm sozialer Reform. Evolutionstheorie und demokratische Aktion: F. Müller-Lyer, Marburg 1986. Dohrn-van Rossum, Gerhard: Politischer Körper, Organismus, Organisation. Zur Geschichte naturaler Metaphorik in der politischen Sprache. Diss. phil. (2 Bde.), Bielefeld 1977. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981. —: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978-1979. Aus d. Französischen v. Jürgen Schröder. Hg. v. Michel Sennelart. Frankfurt a.M. 2006. Haraway, Donna: Modest_Witness@Second_Millennium. FemaleMan_Meets_OncoMouse: Feminism and Technoscience, New York 1997. Heinrich, Michael: Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition. Überarbeitete u. erweiterte Neuauflage, Münster 2001. Illouz, Eva: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2006. Kappelhoff, Peter: „Komplexitätstheorie und Steuerung von Netzwerken“, in: Sydow/Windeler: Steuerung (2000), S. 347-389. Kittler, Friedrich A.: Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986. Krajewski, Markus: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt a.M. 2006. Kümmel, Albert: Das MoE-Programm: eine Studie über geistige Organisation, München 2001. Martens, Gunther: Beobachtungen der Moderne in Hermann Brochs Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität, München 2006. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Marx-Engels-Werke, Berlin 1956ff.
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Kontingenzregulierung? Zur Poetik funktionaler Gesellschaftsorganisation in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften DAVID WACHTER
Im berühmten Kapitel 4 des Mann ohne Eigenschaften wird der „Möglichkeitssinn“, Musils literarische Formel für die essayistische Selbst- und Welthaltung seines Protagonisten Ulrich, wie folgt eingeführt: „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“1
Als kreative Phantasie befindet sich dieser „Möglichkeitssinn“ indes nicht in einem rein ästhetischen Raum jenseits gesellschaftlicher Wirklichkeit. Vielmehr reflektiert er einen spezifischen historischen Kontext, dem Musils Interesse gilt: die für die Klassische Moderne (1890-1933) charakteristische Destabilisierung tradierter sozialer Ordnungen wie normativer Weltbilder, die mit einer Vervielfältigung individueller und gesellschaftlicher Möglichkeitshorizonte einherging. Komplexe gesellschaftliche Phänomene wie die zunehmende Urbanisierung und beschleunigte Technisierung der Lebenswelt, aber auch die Katastrophenerfahrung des Ersten Weltkrieges brachten besonders in der Zwischenkriegszeit eine Veränderung der Wirklichkeitsauffassung mit sich, die auch als „Ausweitung des Kontingenzbewusstseins“ beschrieben werden kann.2 1 2
Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, I. Erstes und Zweites Buch. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978 [im Folgenden: MoE], S. 16. Zur Bedeutung des Kontingenzbegriffs für das Modernitätsbewusstsein besonders der 1920er Jahre siehe Makropoulos, Michael: Modernität und Kontingenz, München 1997.
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Literarischer Möglichkeitssinn Mit dem Begriff „Kontingenz“ bezeichnete die griechisch-römische Antike Handlungen und Zufälle, die weder notwendig noch unmöglich, also stets auch anders möglich sind.3 In der Neuzeit weitete sich dieses Möglichkeitsbewusstsein dann auf den Handlungsrahmen selbst aus, um – wie von Reinhart Koselleck mehrfach beschrieben – in der ‚Sattelzeit‘ Ende des 18. Jahrhunderts ein Auseinandertreten von ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ zu bewirken.4 Erst für die Klassische Moderne kann jedoch von einer umfassenden „Kontingenzkultur“5 gesprochen werden, in der sich intellektuelle Zeitdiagnosen mit Strategien produktiver Gesellschaftsorganisation verbanden. Für den Möglichkeitshorizont der Klassischen Moderne war dabei ein Krisenbewusstsein prägend, das in einem Ensemble von publizistischen, philosophischen und weltanschaulichen Diskursen zur Sprache kam. Es bewegte sich zwischen den Polen von Verlustangst und Gestaltbarkeitseuphorie, nostalgischer Vergangenheitssehnsucht und aktivem Zukunftsbezug, Untergangspessimismus und Möglichkeitsoffenheit.6 Parallel zur diskursiven Selbstverständigung der Zeitgenossen entstanden dabei gesellschaftliche Praktiken einer Kontingenzorganisation, die erweiterte Handlungsspielräume nicht nur auslotete, sondern sozialtechnisch produktiv machte. Den struktursoziologischen Modernisierungstheorien sind diese Sozialtechniken unter den Leitbegriffen „Rationalisierung“ und „funktionale Differenzierung“ bekannt; aus kultursoziologischem Blickwinkel lassen sie sich als jene Verbindung aus Sozialdisziplinierung und Selbstregulierung begreifen, die – in Anknüpfung an Foucaults Begriff der „Gouvernementalität“ – einen Fokus der Wiener Konferenz zur „Regierung des Möglichen“ ausmachte. Im folgenden Beitrag möchte ich in aller Kürze einige Schlaglichter auf die Reflexion dieses Kontextes in Musils MoE werfen. Dabei gehe ich von der Annahme aus, dass der Roman nicht nur eine luzide Kulturanalyse der k.u.k-Monarchie und ihrer geistigen Situation am Vorabend des Ersten Weltkrieges leistet, sondern zugleich – im präzisen Sinne des Wortes – das literarische ‚Denkexperiment‘ 3 4
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Zur historischen Semantik des Kontingenzbegriffs siehe ebd., besonders S. 7-33. Vgl. Koselleck, Reinhart: „‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien“, in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 349-375. Makropoulos, Michael: „Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts“, in: Graevenitz, Gerhart von/Marquard, Odo (Hg.): Kontingenz (= Poetik und Hermeneutik 17), München 1998, S. 55-79. Für eine Diskursanalyse des Krisenbegriffs in der Zwischenkriegszeit siehe Graf, Rüdiger: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933, München 2008.
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Wachter: Kontingenzregulierung einer konstruktiven Krisenbewältigung unternimmt. Wenn Musil in einem Interview mit Oskar Maurus Fontana von 1926 davon spricht, er wolle mit dem Roman „Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt“7 geben, so kann man diese Selbstbeschreibung durchaus ernst nehmen. Von einer „Kontingenzregulierung“ kann dabei, so scheint mir, in mehrfacher Hinsicht die Rede sein. Zum einen artikuliert der „Möglichkeitssinn“ des Protagonisten Ulrich ein intellektuelles Selbstverständnis, das zeitgenössische Wissenschaft und Technik auf ihre Potenziale für neue Lebensformen hin befragt und dabei die Zukunftsoffenheit der Klassischen Moderne so bewusst bejahen wie reflexiv durchdringen will. Zum anderen greifen die ersten beiden Teile des Romans vornehmlich auf zeitgenössische Strategien der Gesellschaftsorganisation zurück, die Disziplinierungstechniken des Körpers, funktionale Leistungsorganisation und statistisches Wissen der Bevölkerungsregulierung umfassen und die mit Reizwörtern wie „Psychotechnik“, „Taylorismus“ und „Amerikanismus“ öffentlichkeitswirksam diskutiert wurden. Mit seiner Aneignung dieser Strategien wendet sich der fröhliche Avantgardismus Ulrichs gegen deren intellektuelle Verächter, die einer immer komplexeren gesellschaftlichen Moderne allenfalls schale Weltanschauungen irrationaler Prägung entgegenzusetzen vermochten und dabei ein buntes Feld widersprüchlicher Identitätsentwürfe von der Nietzschereligion bis zum Astralmythos produzierten. Wenn Musils Roman diese defizitären Weltanschauungen in pointierter Satire entlarvt, wird er damit freilich nicht zur Apologie futuristischer Technikbegeisterung oder gar kapitalistischer Technokratie. Vielmehr betreibt der „Möglichkeitssinn“ ein literarisches Spiel, das sich die Potenziale sozialer Regulierungstechniken aneignet und sie zugleich dekonstruiert. Wenn im Titel dieses Beitrags von einer „Poetik“ funktionaler Gesellschaftsorganisation die Rede ist, dann nicht aus Gründen literaturwissenschaftlicher Konvention, sondern weil Musils Roman in der Tat mit verschiedenen Textstrategien von Mehrdeutigkeit, Ironisierung und Perspektivierung arbeitet. Diese Techniken bilden Bestandteile eines literarischen Denkexperiments, das die Optionen möglicher Kontingenzregulierung gezielt durchdenkt und zugleich in der Schwebe hält. Der „Möglichkeitssinn“ steht nicht nur im Zentrum eines ‚programmatischen‘ Essayismus, für den der MoE mit Recht bekannt geworden ist. Vielmehr macht er zugleich die Funktionsweise eines ‚performativen‘ Essayismus aus, einer Textbewegung, in der die Grenzen zwischen Erzähler, Protagonist und Gegenfiguren – und zuletzt auch zwischen Romanhandlung und Autorposition – verschwimmen. Daraus entsteht eine strategische Indifferenz, die sich programmati7
Musil, Robert: Gesammelte Werke. 2 Bände. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 2 [im Folgenden: Musil GW], S. 942.
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Literarischer Möglichkeitssinn scher Festlegung entzieht und sich weigert, einer bestimmten Position das Wort zu reden. Der MoE bildet so den Modellfall einer ‚Poetologie des Wissens‘, verstanden als spezifisch literarische Aneignung diskursgeschichtlicher Wissensformate und entsprechender gesellschaftlicher Praktiken im Umfeld klassisch-moderner Kontingenzregulierung.8
Krisenbeschreibungen der „Gestaltlosigkeit“ Musils Essays kreisen ebenso wie der MoE um ein Krisenszenario gesellschaftlicher Modernität. Die Schreibgegenwart der zwanziger Jahre, die sich im Roman mit der dargestellten Zeit 1913/14 überlagert, erscheint dabei als Ordnungsvakuum zwischen der Vergangenheit eines untergegangenen bzw. im Untergang begriffenen Österreich der k.u.k.-Zeit und einer noch zu gestaltenden Zukunft: „Wir leben in einer Durchgangszeit“9, wie Ulrich in einem Gespräch mit Walter und Clarisse betont. Bei der Darstellung dieser Zwischenzeit lässt sich ein deutliches Kontingenzbewusstsein beobachten. Auch wenn der Begriff „Kontingenz“ selbst nicht fällt, so erscheint doch die Moderne als eine lang andauernde Situation der Möglichkeitsoffenheit, in der ganz neue Potenziale kultureller „Fruchtbarkeit“10 zum Ausdruck kommen, aber orientierungsstif8
Mit der Deutung des Romans als Experiment der Kontingenzregulierung beziehe ich mich explizit auf einen Aufsatz des bereits zitierten Kultursoziologen Michael Makropoulos: „Kontingenz – Technisierung – ‚Möglichkeitssinn‘. Über ein Motiv bei Robert Musil“, in: Feger, Hans/Pott, HansGeorg/Wolf, Norbert Christian (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs in der Zwischenkriegszeit, München 2009, S. 279-299. Anders als Makropoulos interessiert mich jedoch die spezifische Poetik, mit der die Thematik der funktionalen Gesellschaftsorganisation in Musils Roman Eingang findet. Dieser Aspekt scheint mir wesentlich. Denn viele diskursgeschichtliche Arbeiten, welche die Textphilologie klassischer Musilforschung zugunsten einer stärkeren Fokussierung auf das im Roman präsente Disziplinierungs- und Regulierungswissen überschreiten, klammern die Frage der literarischen Gestaltung dieser Kontexte bewusst aus. Wenn der literarische Text selbst nur noch als Diskursmaterial gelesen wird, entstehen problematische Deutungen wie die Christoph Hoffmanns, der nicht nur die medientechnischen Apparaturen und psychotechnischen Organisationsmodelle rekonstruiert, die in den Roman Eingang gefunden haben, sondern den Roman selbst als eine Art Disziplinardispositiv nach Machart von Ernst Jüngers Der Arbeiter liest. (Vgl. Hoffmann, Christoph: „Der Dichter am Apparat“. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899-1942, München 1997.) 9 MoE, S. 215. 10 Ebd., S. 458.
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Wachter: Kontingenzregulierung tende „Ordnungsbegriffe“11 fehlen. In den Essays Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922) und Der deutsche Mensch als Symptom (1923) charakterisiert Musil diese Situation mit seinem „Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit“12, das anthropologische, geschichtstheoretische und gegenwartsanalytische Aspekte miteinander verbindet. In anthropologischer Hinsicht bezeichnet „Gestaltlosigkeit“ jenes Substanzvakuum der menschlichen Gattung, jene Leerstelle, die auch die philosophische Anthropologie der Zeit – von Plessner bis Gehlen – umgetrieben hat.13 Es ist die Erkenntnis, dass der Mensch als ‚exzentrisches Tier‘ weder durch ein positives Handlungsprogramm noch durch moralische Eigenschaften als Ideal erfasst werden kann, sondern in verschiedenen historischen und sozialen Kontexten unterschiedliche Ausprägungen annimmt, die stets umkehrbar und damit instabil bleiben. In den Worten des Romans, der diese Position aufgreift: „Wahrscheinlich gehört gar nicht so viel dazu, wie man glaubt, um aus dem gotischen Menschen oder dem antiken Griechen den modernen Zivilisationsmenschen zu machen. Denn das menschliche Wesen ist ebenso leicht der Menschenfresserei fähig wie der Kritik der reinen Vernunft; es kann mit den gleichen Überzeugungen und Eigenschaften beides schaffen, wenn die Umstände danach sind, und sehr großen äußeren Umständen entsprechen dabei sehr kleine innere.“14
Auch wenn Musils gestalterische Phantasie weit davon entfernt bleibt, diese Nichtfestgelegtheit als Defizit zu vermerken, so betont er doch – in überraschender Nähe zu Gehlens Institutionentheorie – die Notwendigkeit sekundärer Ordnungsstiftung durch gesellschaftliche Strukturen: „Gerade die Ungestalt seiner Anlage nötigt den Menschen, sich in Formen zu passen, Charaktere, Sitten, Moral, Lebensstile und den ganzen Apparat einer Organisation anzunehmen.“15 Der Mensch erscheint damit als ein Möglichkeitswesen, das je nach historischer und sozialer Situation unterschiedliche Ausprägungen annehmen, diese Offenheit aber auch selbst institutionell regulieren und gestalten kann. Indes bleibt Kontingenz bei Musil auch aus anthropologischer Perspektive ambivalent. Denn die Substanzlosigkeit des Menschen bringt einerseits eine aktive ‚Veränderbarkeit‘, andererseits aber auch eine passive ‚Veränderlichkeit‘ mit sich. Deutlich wird dies in Musils Blick auf die Geschichte. Hat-
11 Musil GW, S. 1086. 12 Ebd., S. 1371. 13 Zu Musils Anthropologie vgl. Vatan, Florence: Robert Musil et la question anthropologique, Paris 2000. 14 MoE, S. 361. 15 Musil GW, S. 1374.
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Literarischer Möglichkeitssinn te der Historismus des 19. Jahrhunderts noch versucht, ihr nach dem Ende der großen Geschichtsphilosophien Hegels oder Marx’ einen geheimen Sinn abzulauschen, so diagnostiziert Musil illusionslos ihre Ziel- und Ordnungslosigkeit. Die Logik geschichtlicher Ereignisse erscheint aus diesem Blickwinkel nicht als kausaler Wirkmechanismus, sondern als ein dezentrales Netzwerk, als „Prinzip des unzureichenden Grundes“16, das keine Unterscheidung zwischen ‚wichtigen‘ und ‚unwichtigen‘ Ereignissen mehr erlaubt. Als dezentrale Verkettung scheint die Geschichte somit keiner erkennbaren Steuerung zu folgen: „Der Weg der Geschichte ist also nicht der eines Billardballs, der, einmal abgestoßen, eine bestimmte Bahn durchläuft, sondern er ähnelt dem Weg der Wolken, ähnelt dem Weg eines durch die Gassen Streichenden, der hier von einem Schatten, dort von einer Menschengruppe oder einer seltsamen Verschneidung von Häuserfronten abgelenkt wird und schließlich an eine Stelle gerät, die er weder gekannt hat, noch erreichen wollte. Es liegt im Verlauf der Weltgeschichte ein gewisses Sich-Verlaufen.“17
Wenn Musils Protagonist Ulrich die dezentrale Logik der Verkettung auch als „Seinesgleichen geschieht“18 benennt, begreift er Geschichte als eine Art chaotische Regelmäßigkeit, die sich zu erstarrten Ordnungen ohne Sinnzusammenhang einschleift. „Kontingenz“ erscheint dabei als eine bedingt gestaltbare, in wesentlichen Aspekten unverfügbare Möglichkeitsoffenheit. Gerade diese Spannung macht auch die Ambivalenz der gesellschaftlichen Moderne im MoE aus. „Gestaltlosigkeit“, nach Musil ohnehin Kennzeichen der conditio humana, kommt hier als Auflösung tradierter Gesellschaftsordnungen und als Krise des Subjekts in den Blick. Bereits in der literarischen Darstellung des Anfangskapitels bildet die Metropole ein abstraktes Feld von Energieströmen, das als „kochende Blase“19 einer dezentralen Spannung ohne menschliche Akteure folgt und konsequent in Metaphern eines thermodynamischen Systems beschrieben wird.20 In einem solchen Kraftfeld steht für Musil die Einheit der individuellen Person zur Disposition. Erscheint sie in der alltäglichen Lebenswelt nur noch als verschwindendes Etwas in einem „Gefilz von Kräften“21, so arbei-
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MoE, S. 314. Ebd., S. 361. Ebd., S. 351. Ebd., S. 10. Vgl. Meisel, Gerhard: „‚Während einer Zeit, für die es kein Maß gibt‘. Zur Zeitproblematik in Musils Mann ohne Eigenschaften“, in: DVjs 70/1 (1996), S. 98-119. 21 MoE, S. 13.
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Wachter: Kontingenzregulierung tet besonders die zeitgenössische Experimentalpsychologie an einer „Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens“22, einer Reduzierung personaler Integrität zu einem rein quantitativen Ensemble von Leistungs- und Reaktionskomplexen, die eben eine „Welt von Eigenschaften ohne Mann“23 zur Folge hat.
„Geistige Organisation“ als Möglichkeitsoffenheit In dieser historischen Situation trägt die intellektuelle Kulturkritik nach Musil erheblich zu jenem Krisenbewusstsein bei, zu dessen Bewältigung sie gerade auf den Plan getreten ist. Wenn in Das hilflose Europa von einem „Mangel an geistiger Organisation“24 die Rede ist, kritisiert Musil die Rückständigkeit eines kulturellen Selbstverständnisses, das sich in irrationalistischer Ablehnung der wissenschaftlich-technischen Moderne auf einen neoromantischen Mystizismus (etwa bei Ludwig Klages), einen kulturkonservativen Idealismus (etwa bei Walter Rathenau) oder einen raunenden Kulturpessimismus (etwa bei Oswald Spengler) kapriziert und damit ohne jede Aktualität bleibt. Ihm stellt Musil die Forderung geistiger Reflexion am Leitfaden wissenschaftlicher Rationalität entgegen, deren Grenzen es auszuloten gälte: „Wir haben nicht zuviel Verstand und zuwenig Seele, sondern wir haben zuwenig Verstand in den Fragen der Seele.“25 Diese Haltung kehrt im MoE wieder. Dort steht der „Möglichkeitssinn“ seines Protagonisten im eklatanten Widerspruch zu jenen populären Beiträgern der „Parallelaktion“, die in ihrer ablehnenden Haltung zur Gegenwart gegen jede gesellschaftliche wie weltanschauliche Unbestimmtheit Front machen und den Wiedergewinn einer absoluten geistigen Position von vermeintlich eindeutigen Weltanschauungen, verbindlichen Identitätsentwürfen und entsprechend forschen Parolen erhoffen. Ihre Phantasien zur Aufhebung einer durchweg negativ gesehenen Gegenwart bewegen sich dabei im bunten Feld zwischen der nostalgischen Vergangenheitssehnsucht eines „Los von...“ und abstrakten Zukunftsentwürfen eines „Vorwärts zu...“26 – eine verwirrende Antitypik, die im Roman satirisch ad absurdum geführt wird. Deren Sehnsucht nach Totalität und Eindeutigkeit steht Ulrichs Möglichkeitsoffenheit entgegen. Sie entzieht sich den verlockenden Heimatangeboten der Weltanschauungen, um die Potenziale der wissenschaftlich-technischen Moderne für ein geistiges Selbstver22 23 24 25 26
Ebd., S. 150. Ebd. Musil GW, S. 1089. Ebd., S. 1092. MoE, S. 271.
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Literarischer Möglichkeitssinn ständnis mit Aktualitätsgehalt überhaupt erst einmal zu erkunden. Dabei muss jedoch von Anfang an eine Einschränkung gemacht werden. Denn auch der neugierige, sich voreiliger Festlegungen enthaltende Protagonist tritt nicht als ein Kontingenzeuphoriker auf, der die Vervielfältigung weltanschaulicher Sinnangebote, politischer Orientierungen, ästhetischer Strömungen und (sozial-)technischer Wirklichkeitsgestaltungen als fröhliches Spiel entgrenzter Perspektiven bejahen würde. Zumindest auf der Ebene von Ulrichs programmatischem Essayismus ist der Roman kein postmoderner, sondern ganz seinem historischen Kontext verhaftet. Denn bei aller Möglichkeitsoffenheit begreift der MoE das Zusammenspiel widersprüchlicher Orientierungsangebote und vielfältiger Identitätsentwürfe nicht rundweg als Offenheit des Pluralen, sondern zugleich als Krisensituation, in der eine rationale Durchdringung und zugleich eine Entlarvung defizitärer Weltanschauungen notwendig wird. Organisation als Strukturierung des Möglichen hat dabei zwei Bedeutungshorizonte: ‚Geistige Organisation‘ im Sinne der Weltanschauungskritik, zugleich aber auch ‚Gesellschaftsorganisation‘ als literarisches Experiment der Kontingenzregulierung. Ihm geht es um eine Reflexion, die Unbestimmtheit und Prägnanz verbindet und die im Roman mit der Formel einer „phantastische[n] Genauigkeit“27 eingeführt wird. Weitgehend bekannt und in der Musilforschung seit langem diskutiert ist das Tableau an populären Strömungen, das in die satirische Überzeichnung des Romanpersonals – von Ulrichs ‚wagnerndem‘ Jugendfreund Walter über den Großschriftsteller Arnheim bis zum so tumben wie bedrohlichen General Stumm von Bordwehr – Eingang gefunden hat.28 Stattdessen soll im Folgenden die Frage diskutiert werden, in welcher Form klassischmoderne Strategien rationaler Gesellschaftsorganisation im MoE aufgegriffen und reflektiert, aber auch an ihre Grenzen geführt werden.
Disziplinierungs- und Rationalisierungswissen Bereits im Titel verweist Der Mann ohne Eigenschaften auf eine Krise des Subjekts, dem seine individuellen Charaktereigenschaften, seine abgeschottete Innerlichkeit und damit seine personale Identität im Sog experimentalpsychologischer Durchringung und funktiona27 Ebd., S. 247. 28 Exemplarisch für eine umfangreiche Forschung zum Romanpersonal und dessen Bezügen zu den kulturkritischen und weltanschaulichen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts siehe Blasberg, Cornelia: Krise und Utopie der Intellektuellen. Kulturkritische Aspekte in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, Stuttgart 1984.
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Wachter: Kontingenzregulierung ler Rollendifferenzierung abhandengekommen sind. Der Roman entwirft ein Kaleidoskop von Perspektiven auf diese Auflösung, die zugleich als Abschied von einer anthropozentrischen Wissensordnung erscheint. Wird das Ich auf ein Aggregat von Leistungskomplexen und Energieströmen reduziert, denen jede substanzielle Einheit fehlt, so besteht das Denkexperiment des Romans gerade darin, diese „Eigenschaftslosigkeit“ nicht revidieren oder kompensieren zu wollen, sondern sie avantgardistisch zu überbieten. In seinem „Urlaub vom Leben“29, während dessen er als Sekretär der „Parallelaktion“ fungiert, kreisen Ulrichs Reflexionen und Gespräche um „Bruchstücke einer neuen Art zu denken und zu fühlen“30. In ihnen geht es um die Frage, wie sich im Kontext einer Krisensituation mit offenem Ausgang die wissenschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Möglichkeitsräume der Gegenwart konstruktiv aneignen ließen. Dabei inszeniert sich der Protagonist als so leidenschaftlicher wie unbeteiligter Beobachter, als kalte Person, die sich den Wärmeströmen weltanschaulicher Sinnangebote entzieht und aus einer Position der aktiven Distanz – „gleich nah und gleich weit zu allen Eigenschaften“31 – die Potenziale wissenschaftlich-technischer Modernität für eine neue Lebensform durchspielt. Der konstruktive Essayismus der ersten beiden Romanteile verhandelt dabei sowohl das existenzielle Selbstverständnis des Individuums als auch die Organisation gesellschaftlicher Strukturen. In diesem Zusammenhang tritt der Protagonist als Avantgardist der Sachlichkeit in Erscheinung; in seiner konstruktiven Leidenschaft begreift er die Gesellschaft als Laboratorium eines gigantischen Sozialexperiments, das sich im Zuge dynamischer Modernisierung auf konfuse Weise vollzieht und das in einer so reflektierten wie aktiven Haltung angeeignet werden müsste: „Der Vergleich der Welt mit einem Laboratorium hatte in ihm nun eine alte Vorstellung wiedererweckt. So wie eine große Versuchsstätte, wo die besten Arten, Mensch zu sein, durchgeprobt und neue entdeckt werden müßten, hatte er sich früher oft das Leben gedacht, wenn es ihm gefallen sollte. Daß das Gesamtlaboratorium etwas planlos arbeitete und die Theoretiker des Ganzen fehlten, gehörte auf ein anderes Blatt.“32
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MoE, S. 47. Ebd. Ebd., S. 151. Ebd., S. 152. Zum Überbietungsgestus einer neusachlichen Einstellung in den ersten beiden Romanteilen siehe Becker, Sabina: „Von der ‚Trunksucht am Tatsächlichen‘: Robert Musil und die neusachliche Moderne“, in: MusilForum 29 (2005/2006), S. 140-160; zur Bedeutung des „Experiments“ für den MoE, besonders aber für Musils kulturkritisch-ästhetische Essayistik,
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Literarischer Möglichkeitssinn Ihren Ausgang nimmt dieses Sozialexperiment von der Begeisterung des jungen Ulrich für Sport, Technik und Mathematik. Seine Faszination für die Rationalisierung von Bewegungsanläufen im sportlichen Training reflektiert nicht nur die Konjunktur neuer Körperkultur in der Weimarer Republik, sondern bringt eine darüber hinausreichende Optimierungslogik zum Ausdruck.33 In ihr erscheint der Körper als ein Ensemble von Reaktionskomplexen, dessen Leistungsfähigkeit durch synthetische Berechnung seiner Funktionsweise gesteigert werden kann. Damit reflektiert der Roman ein zeitgenössisches Disziplinierungswissen, das in den Begriffen „Taylorismus“ und „Psychotechnik“ zusammengefasst werden kann – und unter diesen Schlagworten auch von der zeitgenössischen Öffentlichkeit heftig diskutiert worden ist.34 Frederick Taylor hatte in seinen Principles of Scientific Management von 1911, bereits zwei Jahre später in deutscher Übersetzung erschienen, als früher Vertreter einer systematischen Arbeitswissenschaft die Bewegungsabläufe von Arbeitern untersucht und ein Regime zur Optimierung ihres Leistungs-Outputs entwickelt.35 In der experimentellen Psychologie wiederum hatte Hugo Münsterberg die Methode des Eignungstests entwickelt, die eine psychologische Prüfung durch detaillierte ReizReaktions-Tests ermöglichen sollte.36 Im Rahmen einer solchen „bio-
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siehe Neymeyr, Barbara: Utopie und Experiment. Zur Literaturtheorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays, Heidelberg 2009. Zur Bedeutung des Sports bei Musil siehe Fleig, Anne: Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports, Berlin/New York 2008. Das Verdienst von Fleigs Arbeit besteht nicht zuletzt darin, nicht nur die wesentlichen Diskurse zur Körperrationalisierung nachzuzeichnen, die in den MoE eingehen, sondern zugleich eine Poetik des Sports zu entwickeln, die Musils literarischen Umgang mit diesem Kontext sehr genau untersucht. Zur Bedeutung dieses Disziplinierungswissens für die „drei Versuche, ein bedeutender Mann zu werden“ und das in ihnen zum Ausdruck kommende Selbstverständnis des Protagonisten vgl. Kappeler, Florian: „Versuche, ein Mann zu werden. Psychotechnik, Psychiatrie und Männlichkeit in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften“, in: Zeitschrift für Germanistik 18/2 (2008), S. 331-347. Vgl. Taylor, Frederick W.: Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung (1913). Neu hg. u. eingeleitet v. Walter Volpert/Richard Vahrenkamp, München/Weinheim/Basel 1977. Vgl. Münsterberg, Hugo: Grundzüge der Psychotechnik, Leipzig 1928 [1913]. Zum historischen Kontext dieses Disziplinierungswissens vgl. Rabinbach, Anson: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Berkeley/Los Angeles 1990; des Weiteren Sarasin, Philipp: „Die Rationalisierung des Körpers. Über ‚Scientific Management‘ und ‚biologische Rationalisierung‘“, in: Jeismann, Michael (Hg.): Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt a.M. 1995, S. 78-115.
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Wachter: Kontingenzregulierung logischen Rationalisierung“ – so die charakteristische Bezeichnung Philipp Sarasins – gerät der menschliche Körper an die Schnittstelle zwischen Natur und Technik und erscheint als Organismus, der doch bereits Aspekte des Maschinellen aufweist. Musil reflektiert diesen Kontext, indem er den sportbegeisterten Ulrich in den „drei Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden“, zugleich als Technik-Fanatiker auftreten lässt.37 Aus dessen Perspektive stellt der Körper nur noch einen „Mechanismus“38 dar, dessen Bewegungsabläufe diszipliniert und dessen Effizienz in einem organisatorischen Kalkül optimiert werden könnte. Ausgesprochen rasch übersetzt der Überbietungskünstler Ulrich zwischen Körper und Maschine. Dabei beschränkt sich seine neusachliche Leidenschaft nicht allein auf eine ästhetische Bewunderung des „Turbodynamo[s]“39 und dessen neuer Schönheit, sondern erweitert seine Technikvisionen zum avantgardistischen Experiment eines social engineering, das den Ingenieur zum Ausgangspunkt seines Möglichkeitsdenkens macht. Ausgehend von der Kritik, „daß der Mensch in allem, was für das Höhere gilt, sich weit altmodischer benimmt, als es seine Maschinen sind“40, will Ulrichs „Möglichkeitssinn“ die Logik technischer Effizienz auf deren gesellschaftsorganisatorische Horizonte hin entgrenzen und sympathisiert mit der Vorstellung, „gelegentlich aus dem technischen Denken einen Ratschlag für die Einrichtung und Lenkung der Welt zu nehmen.“41 Zur literarischen Vermittlung dieses Wissens gehört, dass Musil derlei Überbietungen als Phantasien eines noch etwas ungestümen jungen Mannes ironisiert – der zudem der hochtrabenden Vorstellung nachhängt, ein großes „Genie“ werden zu wollen. So ist es erst die Erkenntnis, dass eine von physischer Leistung besessene Gesellschaft bereits ein Reitpferd als „Genie“ zu begreifen bereit ist, die Ulrichs Bewegung hin zur „Eigenschaftslosigkeit“ recht eigentlich in Gang bringt. Zur literarischen Vermittlung dieses Disziplinierungswissens gehört aber auch, daß sich die neusachliche Einstellung des Protagonisten in ihrer überschäumenden Leidenschaftlichkeit immer wieder selbst überschreitet. Wie schon die Wendung von Ul37 Vgl. das Kapitel „Sport und Moderne – Körper, Technik und Naturwissenschaften“ in Fleig: Körperkultur (2008), S. 28-84, das die Rolle von Taylorismus und Psychotechnik für Musils Ästhetik des Sports aufzeigt. Siehe auch Mackenzie, Michael: „Maschinenmenschen, Athleten und die Krise des Körpers in der Weimarer Republik“, in: Föllmer, Moritz/Graf, Rüdiger (Hg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a.M./New York 2005, S. 319-345. 38 MoE, S. 28. 39 Ebd., S. 37. 40 Ebd. 41 Ebd.
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Literarischer Möglichkeitssinn richs „Trunksucht am Tatsächlichen“42 andeutet, bringen seine Loblieder auf die Technik ein exzessives Erleben mit sich, in dem sich ‚kalte‘ Nüchternheit und ‚heiße‘ Leidenschaft bis zur Unkenntlichkeit vermischen. Und so hat auch der leistungsphysiologische Blick auf einen per Training disziplinierten Körper und dessen psychotechnisch optimierte Bewegungsabläufe sein exzessives Gegenüber. Denn das Einschleifen automatisierter Bewegungsabläufe bringt in den Passagen zum Sport keinen technoiden, streng anonymen Leistungskörper hervor. Vielmehr schlägt sie, wie Ulrich selbst im Gespräch mit Bonadea hervorhebt, in das „Erlebnis der fast völligen Entrückung oder Durchbrechung der bewußten Person“43 um, sodass die Disziplinierung des Körpers in eine unerwartete Nähe zum mystischen Erlebnis gerät – das ja in der Herkunft des Begriffs „Eigenschaftslosigkeit“ aus der spätmittelalterlichen Mystik enthalten ist. Wie Anne Fleig mit ihrer Formulierung von einer „Psychotechnik der Transzendenz“44 sehr zutreffend betont, konvergieren im MoE technikaffines Überbietungsdenken und entgrenzte Wahrnehmung, schlägt neusachlicher Avantgardismus scheinbar urplötzlich in ein Erlebnis um, das der dritte Teil des Romans dann ausführlich als „anderen Zustand“ verfolgt. Damit aber erhält der Begriff „Eigenschaftslosigkeit“, wie viele andere Grundbegriffe Musils auch, eine kaum aufzulösende Mehrdeutigkeit. Denn er changiert zwischen einer sozialtechnischen Semantik der Eignungsoptimierung und einer mystischen Semantik des ‚Außersichseins‘, die sich in der essayistischen Textbewegung miteinander verbinden.
Poetologien funktionaler Gesellschaftsorganisation „Ich weiß nicht, was zum Schluß von uns übrig bleiben wird, wenn alles rationalisiert wird. Vielleicht nichts, aber vielleicht gehen wir dann, wenn die falsche Bedeutung, die wir der Persönlichkeit geben, verschwindet, in eine neue ein wie in das herrlichste Abenteuer.“45
Das Scharnier zwischen den „drei Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden“, und der essayistischen Denkbewegung im Zeichen forcierter „Eigenschaftslosigkeit“ bildet das Prinzip der Genauigkeit, das im Kapitel 61 zur „Utopie des exakten Lebens“ erhoben wird. Dabei impliziert der Begriff „Exaktheit“, wie „Laboratorium“ und „Experiment“ auch, die Doppelbedeutung von wissenschaftlicher Forschung und analytischer Erkenntnis einerseits, technischer 42 43 44 45
Ebd., S. 215. Ebd., S. 29. Fleig: Körperkultur (2008), S. 205. MoE, S. 572.
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Wachter: Kontingenzregulierung Anwendung und Optimierungskalkül andererseits. Mit dem „Ideal der drei Abhandlungen“ entwirft der Erzähler dementsprechend eine sozialtechnische Perspektive, in der die modere Gesellschaft als „Ameisenstaat“46 erscheint und eine Gesellschaftsorganisation durchgespielt wird, bei der sich der Einzelne mit seiner fokussierten „Leistungsfähigkeit“47 ganz an einer kollektiven Dynamik der Produktivitätssteigerung orientiert. In der Ausweitung rationalen Denkens auf die Existenz des Einzelnen geht die „Utopie der Exaktheit“ mit einer funktionalen Moral einher, die sich nicht für die Gesamtpersönlichkeit, sondern für die situative Bewertung von Handlungen in variablen gesellschaftlichen Kontexten interessiert: „Gut und bös, oben und unten sind für ihn nicht skeptisch-relative Vorstellungen, wohl aber Glieder einer Funktion, Werte, die von dem Zusammenhang abhängen, in dem sie sich befinden.“48 Das Experiment einer rationalen Gesellschaftsorganisation führt den Erzähler dabei an den Rand einer Normierungsvorstellung, die in der Terminologie Jürgen Links auch als „Protonormalismus“ bezeichnet werden könnte.49 Denn das Ideal der Exaktheit wird durch eine Ordnungskonzeption ergänzt, nach der alle Bereiche des Lebens, in denen eben nicht „die persönliche Leistungsfähigkeit aufs Äußerste gesteigert ist“50, nach schematischen Kategorien abzulaufen hätten: „Es würde ein nützlicher Versuch sein, wenn man den Verbrauch an Moral, der (welcher Art sie auch sei) alles Tun begleitet, einmal auf das Äußerste einschränken und sich damit begnügen wollte, moralisch nur in Ausnahmefällen zu sein, wo es dafür steht, aber in allen anderen über sein Tun nicht anders zu denken wie über die notwendige Normung von Bleistiften oder Schrauben.“ 51
Wenn das Ideal der Exaktheit jedoch mit „Ausnahmefällen“ verbunden wird, überschreitet der Text die Frage einer rationalen Gesellschaftsorganisation und wird zur Meditation über das „berauschende Einssein in der Heiligkeit“52, ein gesteigertes Erleben, das nun mit einer Ethik der besonderen Leistung verbunden wird. „Exaktheit“ verliert damit seinen sozialtechnischen Bedeutungsgehalt, artikuliert vielmehr eine Logik der Ausnahme und des gesteigerten Erlebens, bei dem die vermeintlich bereits ad acta gelegte Person er-
46 47 48 49
Ebd., S. 218. Ebd., S. 246. Ebd., S. 153f. Zum Begriff des „Protonormalismus“ und dessen Unterschied gegenüber einem „flexiblen Normalismus“ siehe Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 2006, S. 51-60. 50 MoE, S. 246. 51 Ebd. 52 Ebd.
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Literarischer Möglichkeitssinn neut, nun als ästhetisches Wahrnehmungssubjekt, in ihr Recht gesetzt wird. Wie bei der Assoziation von Boxen und Mystik beginnt die Passage mit einem sozialtechnischen Denkexperiment, einem konstruktiven Blick auf gesellschaftliche Rationalisierungsstrategien – um alsbald in die Evokation eines exzentrischen „anderen Zustands“ umzuschlagen. Eine solche Spannung zwischen dem Entwurf einer funktionalen Gesellschaftskonzeption und einer Textbewegung, die sich konzeptioneller Festlegungen durch Unbestimmtheit entzieht, ist charakteristisch für den Prozess einer Regulierung des Möglichen im MoE. Deutlich wird dies etwa in der Vision „eine[r] Art überamerikanische[n] Stadt“53 aus dem frühen Kapitel 8 „Kakanien“, dem vielleicht eindrucksvollsten Szenario einer funktional organisierten Metropole. Dabei greift der Roman offenkundig den zeitgenössischen „Amerikanismus“-Diskurs der zwanziger Jahre auf und projiziert diesen als Zukunftstraum ins Jahr 1913 der Romanhandlung zurück.54 Die „überamerikanische Stadt“ erscheint dabei als Raum potenzierter Energie und zugleich als funktionales Ensemble, ein gigantisches Netzwerk, das in Bildern dynamisch gesteigerter Betriebsamkeit und kollektiver Bewegung vorgestellt wird: „Eine solche soziale Zwangsvorstellung ist nun schon seit langem eine Art überamerikanische Stadt, wo alles mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andere [...].“55
Das Kapitel zur „überamerikanischen Stadt“ gestaltet in literarischer Form die Vision einer Optimierungsgesellschaft am Leitfaden des Gedankens, „daß aus einer Summe von reduzierten Individuen sehr wohl ein geniales Ganzes bestehen kann.“56 Mit seinen Metaphern der Dynamik, der Energie, des Maschinellen und des Verkehrs erinnert es an eine futuristische Technikbegeisterung, die im atemlosen Stil der Passage zweifellos konnotiert wird. Doch fügt sich das Szenario nicht zu einem konsistenten Modell funktionaler Gesellschaftsorganisation. Vielmehr zeigt schon ein et-
53 Ebd., S. 31. 54 Zum „Amerikanismus“ als kulturellem Phantasma der klassischen Moderne vgl. Klautke, Egbert: Unbegrenzte Möglichkeiten. „Amerikanisierung“ in Deutschland und Frankreich (1900-1933), Wiesbaden 2003; sowie Nolan, Mary: Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, New York/Oxford 1994. 55 MoE, S. 31. 56 Ebd., S. 32.
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Wachter: Kontingenzregulierung was genauerer Blick, wie widersprüchlich der Text seine Thematik der Gesellschaftsorganisation als Kontingenzregulierung verhandelt. Auf der einen Seite steht das Bild einer präzise austarierten Struktur von rationaler Funktionalität, das zentrale Planung andeutet: „Spannung und Abspannung, Tätigkeit und Liebe werden zeitlich genau getrennt und nach gründlicher Laboratoriumserfahrung ausgewogen.“57 Dem steht das Bild eines diffusen Netzwerks entgegen, das in permanenter Bewegung bleibt und sich zugleich, ganz ohne jedes Kalkül, in dezentraler Weise selbst zu organisieren scheint: „Stößt man bei irgendeiner dieser Tätigkeiten auf Schwierigkeit, so läßt man die Sache einfach stehen; denn man findet eine andre Sache oder gelegentlich einen besseren Weg, oder ein andrer findet den Weg, den man verfehlt hat [...].“58 Zu dieser irreduziblen Mehrdeutigkeit kommen Textverfahren der Ironisierung und Perspektivierung hinzu. Die urbanistische Vision der „überamerikanischen Stadt“ diskutiert einerseits die Frage funktionaler Gesellschaftsorganisation, die im Rahmen des konstruktiven Essayismus der ersten beiden Romanteile experimentell durchdacht wird. Andererseits wird sie von Anfang an als unreife, maßlos übertriebene Phantasie einer – ob individuellen oder kulturellen – Jugendzeit dargestellt, gleichsam als Auswuchs einer kollektiven Pubertät, „wo man noch alle Schneider- und Barbierangelegenheiten wichtig nimmt“59. Zugleich erscheint sie als hochdynamische Zukunftsvision eines sich in „Reiseträumen“60 ergehenden Kakanien, als eine Kollektivutopie der Modernisierung, die jedoch zugleich unterlaufen wird, wenn sie als unverfügbare und unkontrollierbare Eigendynamik perspektiviert und ihr zugleich ein „Heimweh nach Aufgehaltenwerden“61 entgegengestellt wird, dem ebenfalls die Sympathie des Erzählers gilt. Die Spannung zwischen zentraler Planung und dezentraler Selbststeuerung prägt zahlreiche weitere Passagen zur Frage der funktionalen Gesellschaftsorganisation, etwa das bekannte Kapitel 83 „Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte?“. Jener unverfügbaren Ereignisverkettung, in der Ulrich die Kontingenz geschichtlicher Prozesse im Zeichen des „unzureichenden Grundes“ erblickt, wird dort die Idee einer aktiven Aneignung des Auch-anders-Möglichen durch eine zentrale Planung gegenübergestellt. Kontingenzregulierung erscheint nach diesem Denkmodell als synthetische Konstruktion einer „richtige[n] und to-
57 58 59 60 61
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 32. Ebd.
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Literarischer Möglichkeitssinn tale[n] Lösung“62, die hochgradig spezialisierte „Einzellösungen“63 gezielt kombiniert und so die gesellschaftliche „Gesamtleistung“64 produktiv steigert. Dem steht im Kapitel 103 „Die Versuchung“ Ulrichs Skepsis gegenüber, Prozesse des „unzureichenden Grundes“ überhaupt organisatorisch steuern zu können. Wenn dort vom „Gesetz der großen Zahlen“65 die Rede ist, dann erscheinen geschichtliche Prozesse als eine selbstläufige Verschiebung von Durchschnittswerten, bei denen sich große Gesellschaftsprojekte auf „irgendeinen wahrscheinlichen Mittelwert“66 reduzieren. Im Gespräch mit Gerda und Hans Sepp, dem diese Passage entstammt, bleibt Ulrich weit entfernt davon, diese dezentrale Dynamik überwinden zu wollen. Vielmehr begreift er das Sich-Einschleifen als eine Form der Stabilisierung, die gesellschaftliche Ordnung zur Folge haben kann: „jedenfalls ruht auf diesem Gesetz der großen Zahl die ganze Möglichkeit eines geordneten Lebens“67. Und mehr noch – der Text öffnet sich für die Möglichkeit, den „höchsten Sinn“68 ganz jenseits einer Kontingenzorganisation als etwas zu begreifen, „das durch den Durchschnitt der tiefsten Sinnlosigkeit erreichbar ist.“69
Grenzen einer „großen konstruktiven Gesinnung“ In aller Kürze sollte deutlich geworden sein, dass sich Ulrichs „Möglichkeitssinn“ ebenso der Festlegung auf ein bestimmtes Programm funktionaler Gesellschaftsorganisation entzieht wie der performative Essayismus der Textbewegung. Seine Denkexperimente greifen zeitgenössisches Disziplinierungs-, Organisations- und Regulierungswissen auf, spielen es durch und führen es an seine Grenzen, ohne einer einzelnen Gesellschaftskonzeption das Wort zu reden. Ulrichs konstruktiver Zugang zu Fragen der Gesellschaftsorganisation steht dabei in Konstellation zu einem „anderen Zustand“ als der Komplementärseite der Eigenschaftslosigkeit – eben zu seinem ‚Anderen‘, von dem er nur um den Preis einer reduktiven Lektüre des Musil’schen Essayismus getrennt werden kann. Indifferenz bildet das grundlegende Merkmal von Ulrichs „aktivem Passivismus“70 und zugleich den Effekt eines literarischen Verfahrens, dessen ironische 62 63 64 65 66 67 68 69 70
Ebd., Ebd. Ebd. Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd. Ebd.,
S. 358.
S. 488. S. 489. S. 488. S. 356.
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Wachter: Kontingenzregulierung Perspektivierung des Erzählten und dessen Konstellationen gegensätzlicher Denkansätze Mehrdeutigkeit zur Folge haben. Man kann darin die Stärke eines Autors sehen, dessen nie nachlassende Bereitschaft zur permanenten Reflexion und Selbstkritik sich wohltuend vom Dezisionismus so zahlreicher Zeitgenossen unterscheidet. Man kann den Roman aber auch als ein Protokoll seines eigenen Scheiterns lesen. Denn nicht nur an einzelnen Figuren wie Moosbrugger und Clarisse – Zerrbilder eines „anderen Zustands“ und Prototypen psychiatrischer Anormalität –, sondern in seinem experimentellen Gesamtverlauf gerät der Roman an die Grenze einer Deregulierung, die jede Möglichkeitsorganisation an deren Rändern bedroht. Denn die Möglichkeitsoffenheit droht sich in ihrer permanenten Selbstrevision zum Leerlauf eines immer wieder anders Denkbaren zu entgrenzen und dabei gerade eine organisatorische ‚Regulierung‘ des Möglichen zu versäumen. Mir scheint, daß der Roman selbst die Grenzen der „phantastischen Genauigkeit“ reflektiert – nämlich indem jene erstarrten Ordnungen und jene „erkalteten Wände“71, gegen die Ulrichs essayistische Reflexion angeht, immer wieder betont werden und die „Parallelaktion“ zuletzt auf eine Situation äußerer Stagnation bei erhöhter innerer Bewegung zuläuft. In diesen Kontext gehört auch, dass das essayistische Denkexperiment von vornherein im Zeichen des Ersten Weltkrieges steht. Wie eine Analyse des apokryphen Romanendes zeigt,72 skizzieren die nachgelassenen Fragmente ein mögliches Finale im Rausch der Kriegsbegeisterung. Doch bereits in der publizierten Romanhandlung selbst ist der Krieg als Vorahnung der Protagonisten und in expliziten Kommentaren des Erzählers als geheimer Fluchtpunkt allgegenwärtig.73 So würde es verlohnen, insbesondere dem Verhältnis zwischen Ulrichs Utopien funktionaler Gesellschaftsorganisation und dem Krieg nachzugehen – und zu fragen, ob nicht die sozialtechnischen Phantasien des Protagonisten, so ironisch sie auch gebrochen sein mögen, bereits den Kollaps sinnvoller Ordnung und das Auftauchen sinnloser Ordnung in Disziplinarmacht und technischer Logistik des Stellungskrieges als Zerrbild mitenthalten.
71 Ebd., S. 128. 72 Vgl. Fanta, Walter: „Krieg & Sex – Terror & Erlösung im Finale des Mann ohne Eigenschaften“, in: Feger, Hans/Pott, Hans-Georg/Wolf, Norbert Christian (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs in der Zwischenkriegszeit, München 2009, S. 209-225. 73 Vgl. Honold, Alexander: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktionen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, München 1995.
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Literarischer Möglichkeitssinn
Literatur Becker, Sabina: „Von der ‚Trunksucht am Tatsächlichen‘: Robert Musil und die neusachliche Moderne“, in: Musil-Forum 29 (2005/2006), S. 140-160. Blasberg, Cornelia: Krise und Utopie der Intellektuellen. Kulturkritische Aspekte in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, Stuttgart 1984. Fanta, Walter: „Krieg & Sex – Terror & Erlösung im Finale des Mann ohne Eigenschaften“, in: Feger et al: Terror (2009), S. 209-225. Feger, Hans/Pott, Hans-Georg/Wolf, Norbert Christian (Hg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs in der Zwischenkriegszeit, München 2009. Fleig, Anne: Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports, Berlin/New York 2008. Graf, Rüdiger: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933, München 2008. Hoffmann, Christoph: „Der Dichter am Apparat“. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899-1942, München 1997. Honold, Alexander: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktionen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, München 1995. Kappeler, Florian: „Versuche, ein Mann zu werden. Psychotechnik, Psychiatrie und Männlichkeit in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften“, in: Zeitschrift für Germanistik 18/2 (2008), S. 331-347. Klautke, Egbert: Unbegrenzte Möglichkeiten. „Amerikanisierung“ in Deutschland und Frankreich (1900-1933), Wiesbaden 2003. Koselleck, Reinhart: „‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien“, in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 349375. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 2006. Mackenzie, Michael: „Maschinenmenschen, Athleten und die Krise des Körpers in der Weimarer Republik“, in: Föllmer, Moritz/Graf, Rüdiger (Hg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt a.M./New York 2005, S. 319-345. Makropoulos, Michael: Modernität und Kontingenz, München 1997. —: „Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts“, in: Graevenitz, Gerhart von/Marquard, Odo (Hg.): Kontingenz (= Poetik und Hermeneutik 17), München 1998, S. 55-79.
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Wachter: Kontingenzregulierung —: „Kontingenz – Technisierung – ‚Möglichkeitssinn‘. Über ein Motiv bei Robert Musil“, in: Feger et al: Terror (2009), S. 279-299. Meisel, Gerhard: „‚Während einer Zeit, für die es kein Maß gibt‘. Zur Zeitproblematik in Musils Mann ohne Eigenschaften“, in: DVjs 70/1 (1996), S. 98-119. Münsterberg, Hugo: Grundzüge der Psychotechnik, Leipzig 1928. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. I. Erstes und Zweites Buch. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978. —: Gesammelte Werke. 2 Bände. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978. Neymeyr, Barbara: Utopie und Experiment. Zur Literaturtheorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays, Heidelberg 2009. Nolan, Mary: Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, New York/Oxford 1994. Rabinbach, Anson: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Berkeley/Los Angeles 1990. Sarasin, Philipp: „Die Rationalisierung des Körpers. Über ‚Scientific Management‘ und ‚biologische Rationalisierung‘“, in: Jeismann, Michael (Hg.): Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt a.M. 1995, S. 78-115. Taylor, Frederick W.: Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung. Neu hg. u. eingeleitet v. Walter Volpert u. Richard Vahrenkamp, München/Weinheim/Basel 1977. Vatan, Florence: Robert Musil et la question anthropologique, Paris 2000.
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Askese, Querulantentum und weitere Lebensstrategien in Franz Kafkas Romanfragment Das Schloss MALTE KLEINWORT
Wie zu leben und zu überleben sei – Kafka stellt in seinem Romanfragment Das Schloss sehr unterschiedliche Strategien des Lebens und Überlebens in einer verwalteten Welt dar.1 Trotz der archaischen Implemente und Reminiszenzen an ein Dorfleben, das sich gegenüber gesellschaftlichem Fortschritt resistent erweist,2 lassen sich die Rätsel, die die Macht des Schlosses aufgibt, mithilfe der Analyse moderner Machtstrukturen wenn schon nicht lösen, so doch besser verstehen. Bevor ich mich einigen markanten Lebens-
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Der Terminus „verwaltete Welt“ wurde von Theodor W. Adorno geprägt und zum kulturkritischen Kampfbegriff erhoben. Er lässt sich v.a. auf Adornos soziologisches Interesse für den Fordismus und dessen gesellschaftliche Auswirkungen zurückführen. Auch wenn im Schloss keinerlei Hinweise auf industrielle Produktionsweisen zu finden sind und die Reduktion des Romanfragments auf Kultur- oder Gesellschaftskritik dasselbe trivialisieren würde, eignet sich der Begriff zur Charakterisierung der Welt im Schloss. Wie die Macht des Schlosses kann sich bspw. auch die „Autorität“ der verwalteten Welt nach Adorno „auf nichts“ stützen „als aufs Faktum der Verwaltung selber“ (vgl. Adorno, Theodor W.: „Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien“, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 5: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel. Hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1970, S. 7-245, hier S. 42). Weitere Parallelen lassen sich in Adornos Schrift Verwaltung und Kultur finden (vgl. Adorno, Theodor W.: „Verwaltung und Kultur“, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 8. Hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1972, S. 122-146). So fungiert das Telefon nach Meinung des Vorstehers im Dorf als kaum mehr als ein „Musikautomat“, während es im Schloss „ausgezeichnet“ funktioniert und „das Arbeiten sehr beschleunigt“. (Vgl. Kafka, Franz: Das Schloss, in: Born, Jürgen/Neumann, Gerhard/Pasley, Malcolm/Schillemeit, Jost (Hg.): Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, Frankfurt a.M. 1982, S. 57.)
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Literarischer Möglichkeitssinn strategien in Kafkas Schloss-Welt zuwende, möchte ich im Folgenden das Gegenwärtige der Macht des Schlosses herausarbeiten. Es gibt mittlerweile schon eine Reihe von Arbeiten, welche die Bedeutung moderner Regierungstechniken für Kafkas Texte herausgearbeitet haben.3 Die Spuren biopolitischer Diskurse und Techniken ziehen sich durch seine Texte von ihren Anfängen bis zum Ende. Das reicht von der Auseinandersetzung mit Adolphe Quételets Theorie des Durchschnittsmenschen in der frühen Beschreibung eines Kampfes4 über die Verwandlung der Hollerith-Maschine in einen tödlichen Apparat in der Strafkolonie5 oder der Überkreuzung von Biopolitik und Ethnopolitik in Beim Bau der chinesischen Mauer,6 einem der für diese Zusammenhänge ertragreichsten Erzählfragmente Kafkas, bis zu den eigentümlich hybriden Institutionen Gericht und Schloss in den Romanfragmenten Der Process und Das Schloss.7 In Kafkas späten Texten von 1922-24 – um kurz einige zu nennen: neben dem Schloss die Forschungen eines Hundes, Ein Hungerkünstler, Erstes Leid und Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse – erscheint der in seinen früheren Texten narrativ erschlossene Widerstreit zwischen einer eher disziplinierenden Macht wie bspw. dem alten grausamen Kommandanten aus In der Strafkolonie und einer bloßen Kontrollmacht wie dem neuen, weniger auf archaische Strafpraktiken setzenden Kommandanten aus derselben Erzählung zugunsten der letzteren Machtformation entschieden. Augenfällig wird das v.a. daran, dass die in seinen früheren Texten präsenten juristischen oder juridischen Diskurse zugunsten von solchen der Lebensführung aufgegeben wurden. Die dominanten Fragestellungen sind nicht mehr juristische, sondern 3
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Joseph Vogl versammelt in einer Fußnote einige der wichtigsten Arbeiten, siehe Vogl, Joseph: „Lebende Anstalt“, in: Balke, Friedrich/Vogl, Joseph/Wagner, Benno (Hg.): Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka, Zürich/Berlin 2008, S. 21-33, hier S. 30, Fußnote 18. Vgl. Wagner, Benno: „Zarathustra auf dem Laurenziberg. Quételet, Nietzsche und Mach mit Kafka“, in: Krause, Marcus/Pethes, Nicolas (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005, 225-242. Vgl. z.B. Wolf, Burkhard: „Zwischen Tabelle und Augenschein. Abstraktion und Evidenz bei Franz Kafka“, in: Peters, Sibylle/Schäfer, Martin Jörg (Hg.): „Intellektuelle Anschauung“ – unmögliche Evidenz, Bielefeld 2006, S. 239257. Vgl. Wagner, Benno: „‚[…] zuerst die Mauer und dann den Turm‘. Der Widerstreit zwischen Biopolitik und Ethnopolitik als berufliches Problem und schriftstellerischer Einsatz Franz Kafkas“, in: brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei 2007, S. 41-70. Vgl. Campe, Rüdiger: „Kafkas Institutionenroman“, in: Ders./Niehaus, Michael (Hg.): Gesetz. Ironie, Heidelberg 2004, S. 197-208.
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Kleinwort: Askese, Querulantentum pragmatische. Die Institutionen greifen nicht mehr direkt und disziplinierend auf den Körper des einzelnen Menschen zu, sondern strukturieren das Feld der Handlungsmöglichkeiten und Selbstverhältnisse vor, ohne am Einzelnen interessiert zu sein. Durch den Wegfall verbindlicher Normen gewinnen Techniken und Instanzen der Normalisierung an Bedeutung, die weniger repressiv als positiv funktionieren. Michel Foucault schreibt über diese Unterscheidung: „Das 18. Jahrhundert hat mit dem System ‚Disziplin mit Normalisierungseffekt‘, mit dem System ‚Normalisierungsdisziplin‘ etwas eingeführt, was mir nicht als repressive, sondern als produktive Macht erscheint – wobei die Repression nur als Neben- und Sekundäreffekt im Hinblick auf die Mechanismen fungiert, die ihrerseits im Verhältnis zur Macht zentral sind.“ 8
Gilles Deleuze hat in seinem oft zitierten „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ Kafka an der „Nahtstelle“ (charnière) zwischen Disziplinar- und Kontrollgesellschaften positioniert und zur Veranschaulichung auf „zwei sehr unterschiedliche juristische Lebensformen“ in Kafkas Der Process verwiesen: den scheinbaren Freispruch der Disziplinargesellschaften und den unendlichen Aufschub der Kontrollgesellschaften.9 Tatsächlich lässt sich im Process der juristische Widerstreit beider Gesellschaftsordnungen besonders gut nachvollziehen. In seinen späten Texten geht Kafka aber noch einen Schritt weiter und verlässt das juristische Feld der Disziplinierung, auf dem sich im Process zentrale Szenen wie die Verhaftung, die vorgeführte Prügelstrafe oder die Ermordung abspielen. Durch das Verschwinden oder Unsichtbarwerden klassischer Institutionen der Disziplinierung wie Gericht und Polizei rückt das Neue der modernen Regierungstechniken in den Mittelpunkt: In ihrer Verknüpfung mit Selbsttechniken sind sie in der Lage, an der Oberfläche Freiheit von starren Normen und graduelle Sicherheit zu ga8 9
Foucault, Michel: Die Anormalen. Aus d. Franz. v. Michaela Ott u. Konrad Honsel, Frankfurt a.M. 2007, S. 74. Vgl. Deleuze, Gilles: „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, in: Ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Aus d. Franz. v. Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 1993, S. 254-262, hier S. 257. Jürgen Link weist zu Recht darauf hin, dass der Begriff der Kontrollgesellschaft insofern irreführend ist, als dass bei Foucault das Feld der Kontrolle v.a. ein disziplinarisches ist, wie z.B. in Überwachen und Strafen; indes räumt er am Ende ein, dass die Kontrollfunktion im Hinblick auf die Normalisierung die Massen nicht nur durch Verdatung und statistische Transparenz die Massen „kartografiert“, sondern hernach „sehr verschiedene Strategien“ der Normalisierung zulässt (vgl. Link, Jürgen: „Disziplinartechnologien/Normalität/Normalisierung“, in: Kammler, Clemens/Parr, Rolf/Schneider, Ulrich Johannes (Hg.): FoucaultHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2008, S. 242-246, hier S. 246).
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Literarischer Möglichkeitssinn rantieren und zugleich permanent Risiken und Überwachungsszenarien zu produzieren.10 Die Veränderung, die für Kafkas späte Texte charakteristisch ist, hat auch einen historischen Index. Selten wird in der KafkaForschung darauf Bezug genommen, dass eine ganze Reihe seiner wichtigsten Schriften, unter ihnen Texte wie Der Process und In der Strafkolonie, im Ersten Weltkrieg verfasst worden sind. Der Grund liegt sicherlich darin, dass es Kafka vermochte, in seinen Texten politische und gesellschaftliche Strukturen in einer Weise darzustellen, welche die einfache Rückführung auf tagespolitische Ereignisse erschwert. Nichtsdestotrotz ist auffällig, dass es im Process um einen rechtlichen Ausnahmezustand geht, der von Wächtern und Aufsehern durchgesetzt und per Gericht verfügt wird. Zwar bleiben die Hintergründe im Dunkeln, der Protagonist steht indes unter der andauernden Gefahr, Opfer einer Disziplinarmaßnahme zu werden, sei es einer Verhaftung in den eigenen vier Wänden, einer gerichtlich verfügten Tracht Prügel oder schließlich der Hinrichtung. Rechtliche Ausnahmezustände, die für Kriegssituationen charakteristisch sind, bestimmen eine Welt, die vom Krieg nichts zu wissen scheint. So könnte die plötzliche morgendliche Verhaftung auch als Zerrbild einer Einberufung gelesen werden. Tatsächlich wünschte sich Kafka zeitweilig, was selten erwähnt wird, als Soldat in den Krieg zu ziehen.11 Ein in hohem Grad durch feste Normen, Disziplinierung und Befehlswillkür geprägtes Leben, wie es beim Militär zu finden ist, verbindet sich im Process mit einem Leben, das durch permanente Kontrolle auf diffuse Weise normalisiert wird. Im Schloss dagegen gibt es kein Gericht, es gibt keine Polizei, keine Instanzen, die Disziplinarmaßnahmen verfügen, sondern nur eine gewaltige Institution der Kontrolle und Verwaltung. In der noch jungen tschechischen Republik nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zerfall der k.u.k.-Monarchie demgegenüber werden viele staatliche Maßnahmen wie die neue SprachenPolitik und der Umgang mit Minderheiten für die Bevölkerung keinen anderen Eindruck gemacht haben als Entscheidungen des Schlosses in Kafkas letztem größeren Romanfragment. Von beiden Politikfeldern war Kafka in der Prager Arbeiter-Unfall-VersicherungsAnstalt für das Königreich Böhmen (AUVA) unmittelbar betroffen.12 Wie die AUVA den von ihren Beschlüssen betroffenen Unternehmern und Antragstellern, so erscheint das Schloss der Bevölkerung 10 Zur Risikoproduktion vgl. Ewald, Francois: Der Vorsorgestaat. Aus d. Franz. übersetzt v. Wolfram Bayer u. Hermann Kocyba, Frankfurt a.M. 1986. 11 Vgl. Binder, Hartmut (Hg.): Kafka-Handbuch. Bd. 1: Der Mensch und seine Zeit, Stuttgart 1979, S. 458-462. 12 Vgl. Kafka, Franz: Amtliche Schriften. Hg. v. Klaus Hermsdorf u. Benno Wagner, in: Born et al.: Kafka (2004), S. 90-104.
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Kleinwort: Askese, Querulantentum im Dorf als ein riesiger Verwaltungsapparat, der v.a. mit sich selbst beschäftigt ist, mit der Bewältigung der Anfragen aus dem Dorf und der Aktenberge sowie der Selbstkontrolle. Im Desinteresse des Schlosses am einzelnen Dorfbewohner spiegelt sich das Desinteresse der Statistik für den Einzelfall, er ist wie jeder andere nur empirisches Datenmaterial. Effizient ist das Wirken des Schlosses im Dorf, weil die Dorfbevölkerung den Gehorsam gegen ein bloß in der Projektion der Bevölkerung existierendes Regelwerk des Schlosses verinnerlicht hat und sich selbst ständig im Hinblick auf die Einhaltung dieser Regeln kontrolliert. Die einen Großteil der zweiten Hälfte des Romanfragments bestimmende Geschichte von Amalia zeugt davon, dass es keiner Weisung oder gerichtlichen Verfügung des Schlosses bedarf, um einzelne Mitglieder der Dorfgemeinschaft zu bestrafen. Amalia hatte sich dem Werben des Schlossbeamten Sortini widersetzt und wurde daraufhin mitsamt ihrer Familie vom Dorf geächtet, gemieden und verstoßen. Gestraft wird im Dorf aus vorauseilendem Gehorsam gegenüber ungeschriebenen Gesetzen des Schlosses. Diese Gesetze – oder besser: Verhaltensregeln – sind in der Welt der Dorf-Gespräche und -Gerüchte bloße Projektionen der Dorf-Bevölkerung.13 Lässt sich die Macht des Schlosses also auf moderne Regierungstechniken zurückführen? Kafkas Text ist in dieser Hinsicht trotz einiger Andeutungen wie der an statistische Operationen erinnernden Aktenverteilung am Ende von Das Schloss14 sehr zurückhaltend. Das Unnahbare und Diffuse des Schlosses, seiner Entscheidungsträger und seiner Entscheidungen erschwert die Identifikation bestimmter Techniken; allein jene Undeutlichkeiten, wenn es um die Vorgänge und Strategien innerhalb der Schlossbehörden geht, sind eindeutig und dafür verantwortlich, dass die brodelnde Gerüchteküche des Dorfes am Laufen gehalten wird, die dem
13 Diese Aufgabenverteilung zwischen Dorf und Schloss ist vorgezeichnet in einer Erzählung von Kafkas Freund und Mentor Max Brod aus dem Jahr 1913, die in dem „Örtchen Wlaschim“, das „in seiner Mitte ein gutsherrliches Schloß mit einem schönen Park“ hat, ihren Anfang nimmt. (Vgl. Brod, Max: „Notwehr“, in: Ders.: Notwehr. Frühe Erzählungen. Hg. v. Mathias Heydenbluth, Berlin 1990, S. 56-82, hier S. 56.) Obwohl „alle Rechte der Herrschaft seit Jahrzehnten abgelöst sind“, hält sich das Gerücht, „der Schloßherr habe es streng verboten, den in der Mitte des Parkes stehenden chinesischen Pavillon jemals zu betreten“. (Vgl. ebd.) Als der Protagonist der Erzählung dieses Verbot auf die Probe stellt, erfährt er, „daß dem übereinstimmenden Willen einer Gemeinschaft, auch wenn man ihn unverständlich findet, irgendeine heilige, unverletzliche Bekräftigung anhafte“. (Vgl. ebd., S. 59.) 14 Vgl. Kafka: Schloss (1982), S. 430-441.
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Literarischer Möglichkeitssinn Schloss seine zentrale Rolle in den im Dorf kursierenden Schlossgeschichten sichert. K. beweist seinen Spürsinn, wenn er das über ihn angefertigte Protokoll als bloßen „Klatsch“ bezeichnet, und gewährt einen Einblick in die geschlechtliche Rollenverteilung der Schlosswelt, wenn er erläutert, es sei „aufgeputzter leerer, trauriger, weibischer Klatsch“, und der Verfasser müsse „weibliche Mithilfe“ gehabt haben.15 Die lücken- und rätselhaften „Schlossgeschichten“ sind, wie es Benno Wagner einmal formuliert hat, für die Dorfbevölkerung eine „Droge“16, sie halten als eine Art narratives Opium für das Volk den Normalisierungsdruck aufrecht.17 Während die Kommunikationswege zwischen Dorf und Schloss von einer permanenten Störung betroffen sind, was in der Forschung schon häufig bemerkt worden ist,18 funktionieren die Kommunikationswege innerhalb des Dorfes reibungslos. Gerüchte verbreiten sich in Windeseile. Schon vor der Ankunft des Landvermessers verbreitet sich die Nachricht von seiner Ankunft.19 Die Herrschaft des Schlosses, das dem Schloss eigene indirekte Regieren des Möglichen über die Selbstdisziplinierung der Dorfbevölkerung, ist an das Gelingen jener Kommunikationsprozesse gebunden. In diesen gelungenen Kommunikationen ist in meinen Augen die Verbindung moderner Regierungsformen mit einer massenmedial konstituierten Öffentlichkeit vorgezeichnet. Auf den ersten Blick scheint Kafka im Schloss lediglich Kommunikationen zwischen Dorf und Schloss, die durch Medien gestört werden, und Kommunikationen innerhalb des Dorfes, die durch Mund-zu-Mund-Propaganda funktionieren, gegenübergestellt und damit die aus seinem ‚Gespensterbrief‘20 bekannte Medienkritik umgesetzt zu haben. Auf den zweiten Blick indes nimmt er mit der dörflichen Gemeinschaft Kommunikationsformen unter die Lupe, die sich nicht auf Verlautbarungen von höheren Gesetzen zurückführen lassen, sondern als Austausch über mögliche Verhaltensregeln und mögliche Konsequenzen bei deren Nichtbefolgung funktionieren. Jene Kommunikationen gelingen einerseits in der räumlichen Enge des Dorfes, sie können aber auch in der Weite des Inter15 Vgl. ebd., Apparatband, S. 275. 16 Wagner, Benno: „Der Unversicherbare. Kafkas Protokolle“ (Manuskript), Siegen 1998, S. 421. 17 Über die „Schlossgeschichten“ sagt Amalia: „Es gibt hier Leute, die sich von solchen Geschichten nähren, sie setzen sich zusammen, so wie Ihr hier sitzt, und traktieren sich gegenseitig“ (Kafka: Das Schloss (1982), S. 323). 18 Vgl. z.B. Murnane, Barry: „Verkehr mit Gespenstern“. Gothic und Moderne bei Franz Kafka, Würzburg 2008, S. 111-118. 19 Vgl. Kafka: Das Schloss (1982), Apparatband, S. 116. 20 Vgl. Kafka, Franz: Briefe an Milena. Hg. v. Jürgen Born u. Michael Müller, Frankfurt a.M. 1986, S. 301-304, Brief aus dem März 1922.
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Kleinwort: Askese, Querulantentum nets oder in der Weite einer durch Funk und Fernsehen vernetzten Öffentlichkeit funktionieren. Wenn Bernard Stiegler jüngst recht plakativ die aktuelle Ablösung der Biomacht durch die „Psychomacht“ proklamiert hat,21 so zeichnen sich in Kafkas Schloss bereits Konturen einer psychotechnologisch normierten Gesellschaft ab, ohne dass die von Stiegler offensiv gebrandmarkten Medien auf der Bildfläche erscheinen. Zurückhaltender formuliert, illustriert das Verhalten normalisierende Gerede im Dorf, welche Folgen es hat, wenn sich die eigentlich auf religiöse Institutionen beschränkte Pastoralmacht auf die gesamte Gesellschaft ausbreitet.22 Kafkas späte Texte zeichnet aus, dass sie die Handlungsspielräume in einer derart verfassten Gesellschaft narrativ erkunden.23 Im Folgenden möchte ich diesen Raumerkundungen am Beispiel der Schloss-Figuren K., der Gehilfen Artur und Jeremias, Otto Brunswick und Hans Brunswick nachgehen. K., der Landvermesser, steht für ein Verhalten, das grundsätzlich darauf ausgerichtet ist, Konflikte in direkter Konfrontation zu lösen. Das wird schon gleich zu Beginn des Schlosses deutlich, wenn er „gleichmütig“ fragt, ob es denn nicht möglich sei, sich um Mitternacht vom Grafen die Erlaubnis zur Übernachtung einzuholen.24 Vor allem wird es deutlich an seinen fortwährenden Versuchen, (direkten) Kontakt mit dem Schlossbeamten Klamm aufzunehmen. Das Scheitern dieser Versuche, die als Kommunikationsversuche zwischen einem einzelnen Menschen mit einem singulären Anliegen und einer Institution zu lesen sind, die an derartigen Kommunikationen kein Interesse hat, sondern Anliegen wie jene von K. nur zum Anlass der Datenverarbeitung und Selbstkontrolle nimmt, bildet den roten Faden des Romanfragments. Hervorzuheben ist die Tatsache, dass sich das Schloss gegen jene Annäherungsversuche weder offensiv zur Wehr setzt noch Disziplinarmaßnahmen verfügt oder körperliche Gewalt aufwendet. Vielmehr ist es K., der sich bei der Auseinandersetzung mit dem
21 Vgl. Stiegler, Bernard: Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien. Aus d. Franz. v. Susanne Baghestanie, Frankfurt a.M. 2008. 22 Vgl. Foucault, Michel: „Subjekt und Macht“, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV: 1980-1988. Aus d. Franz. v. Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Herrmann Kocyba u. Jürgen Schröder. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange, Frankfurt a.M. 2005, S. 269-294, hier S. 279. 23 Zum Begriff des „Spielraums“ bei Foucault vgl. Richter, Norbert Axel: Grenzen der Ordnung. Bausteine einer Philosophie des politischen Handelns nach Plessner und Foucault, Frankfurt a.M./New York 2005, S. 126-144. 24 Vgl. Kafka: Das Schloss (1982), S. 9.
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Literarischer Möglichkeitssinn Dorfsekretär Momus gewaltsam Einblick in seine Akten verschafft.25 Bezeichnenderweise entzieht sich der Dorfsekretär erst noch K. bei seinem ersten Versuch, sich des Protokolls zu bemächtigen, überlässt es ihm dann aber bereitwillig, als K. ein zweites Mal mit Entschlossenheit danach greift.26 Nicht Momus, sondern die Wirtin, gewissermaßen die Mutter aller Gerüchte und Hetzkampagnen des Dorfes, wirft K. seine gewalttätige Strategie vor und ächtet ihn mit den Worten: „Böser, schrecklicher Mensch!“27 Als aufmüpfiger Fremder, der wenig weiß von den Sitten und Bräuchen im Dorf, ist K. indes wenig empfänglich für die Drohungen, welche K. gegenüber bei einer Nichtbefolgung jener aus der Schloss-Projektion entstandenen Verhaltensregeln ausgesprochen werden. Diese Immunität des Fremden erklärt die geradezu messianischen Hoffnungen, die mit K.s Ankunft verbunden werden, z.B. wenn Hans Brunswick über K. meint, dass dieser „in einer allerdings fast unvorstellbar fernen Zukunft [...] alle übertreffen werde.“28 Die Kafka-Forschung hat sich bereits ausgiebig mit der Frage beschäftigt, ob und in welcher Weise der Landvermesser (hebr. maschoach) als (falscher) Messias (hebr. maschiach) angesehen werden könnte.29 K. sucht die Nähe zum Schloss, da er in direkter Konfrontation mit den Entscheidungsträgern hofft, sein Recht auf Anstellung als Landvermesser durchsetzen zu können. Diese Strategie, die auf so etwas wie einen allgemeinen Menschenverstand setzt, ist in der Welt des Schlosses, in der die Behörden kaum mit einzelnen Rechtssubjekten zu tun haben, sondern mit komplizierten Verwaltungsvorgängen und amourösen Verwicklungen mehr als ausgelastet sind, zum Scheitern verurteilt. Bemerkenswert ist bei dieser Auseinandersetzung das schon erwähnte Fehlen juristischer Institutionen. Scheint es doch so, als wäre K. die prototypische Figur eines notorisch Aufsässigen, den Anfang des 20. Jahrhunderts eine Zucht- oder Irrenhauskarriere erwartet hätte. Im Schloss gibt es aber keine Strafverfolgungsorgane, keine Gerichte, keine Gefängnisse; die vermeintlichen Gesetze und Strafen sind nichts weiter als ungeschriebene Verhaltens- und Verfahrensregeln des Dorfes. Über K. kann kein Gerichtsgutachten erstellt werden wie über diejenigen, die Foucault in seiner Vorlesung über Die Anormalen untersucht hat, weil es keine Richter, keine Psychiater, kein Gericht und damit auch keine gerichtlich verfügten Gutachten gibt. Mögen sich die Protokolle, die über K. ange25 26 27 28 29
Vgl. ebd., Apparatband, S. 271f. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 272. Vgl. Kafka: Das Schloss (1982), S. 237. Vgl. Robertson, Ritchie: Kafka. Judentum, Gesellschaft, Literatur. Übersetzt v. Josef Billen, Stuttgart 1985, S. 297-306.
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Kleinwort: Askese, Querulantentum fertigt werden, auch lesen wie gerichtliche Gutachten über ein korrektionsbedürftiges Individuum,30 fehlt ihnen doch der institutionelle und praktische Rahmen. Sinn und Zweck der Protokolle bleiben im Dunkeln. Auch wenn sich die Protokolle über K. auf Kafkas Arbeit in der AUVA und das Verfassen gerichtsrelevanter Schriftsätze zurückbeziehen lassen,31 ist die Löschung des institutionellen und juristischen Rahmens konstitutiv für die Protokolle im Schloss. Damit verlässt Kafka in historischer Hinsicht Foucaults Untersuchungsrahmen, insofern die Auseinandersetzung zwischen K. und Schloss weniger auf ältere Praktiken der Strafverfolgung und Rechtsprechung verweist als vielmehr auf von Kafka aus gesehen gegenwärtige und auch heute noch aktuelle Probleme der Lebensorganisation. Wie im Mittelpunkt vom Process ein Rechtsstreit steht, so im Schloss der Kampf um eine Arbeitsstelle. Trotz seiner offensichtlichen Engstirnigkeit lässt sich K. in seinem Verhalten durch die Dorfbevölkerung inspirieren. Mit seiner Fähigkeit, Elemente aus den Lebensstrategien derjenigen Dorfbewohner, denen er begegnet, in seine eigene einzubauen, erweist sich K., obwohl er derart fokussiert auf die Arbeit als Landvermesser ist, bereits als literarische Frühform eines flexiblen Menschen.32 Als erstes lässt er sich von seinen beiden Gehilfen, Artur und Jeremias, inspirieren, deren Leben durch eine fortwährende Verstellung und spielerische Leichtigkeit geprägt wird,33 die es ihnen nichtsdestotrotz ermöglicht, ihre berufliche Aufgabe, die Begleitung von K., zu erfüllen. Das Leben im Schloss wie im Dorf ist in hohem Maße durch tatsächliche oder zumindest nicht auszuschließende Verstellung geprägt, was sich nicht zuletzt an der überdeutlichen Atmosphäre des Misstrauens zeigt.34
30 Foucault unterscheidet in seiner Vorlesung drei Elemente oder Figuren der Anomalie: das Monster, den Onanisten und das korrektionsbedürftige Individuum. (Vgl. Foucault: Die Anormalen (2007), S. 76-85.) 31 Vgl. z.B. Kafka: Amtliche Schriften (2004), S. 575-612 (zu beachten ist auch der Kommentar zu den Schriftsätzen auf S. 917-932). 32 Der Begriff der „Flexibilisierung“ gewann Ende des 20. Jahrhunderts im Anschluss an postfordistische Theorien der Arbeitsorganisation an Popularität. (Vgl. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Übersetzt v. Martin Richter, Berlin 1998.) 33 Selbst natürliche Phänomene wie der Wind sind nicht davor sicher, von den Gehilfen zum Spaß nachgeahmt zu werden: „[S]o vergnügten sie sich lange,“ indem sie „abwechselnd hinter Barnabas’ Schultern […] mit einem leichten dem Winde nachgemachten Pfeifen“ aufstiegen. (Vgl. Kafka: Das Schloss (1982), S. 191.) Den Hinweis auf die Bedeutung der Verstellung verdanke ich der Responsion von Roland Innerhofer. 34 Schon früh ist K. „wie ermüdet von soviel Misstrauen“. (Vgl. ebd., S. 64.)
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Literarischer Möglichkeitssinn Kurz nachdem sich Artur und Jeremias gegenüber K. fälschlicherweise als seine alten Gehilfen vorgestellt haben,35 verstellt sich K. beim Telefongespräch mit dem Schloss und gibt sich als Josef, der alte Gehilfe des Landvermessers, aus.36 Ein derartig spielerischer Umgang mit Identitäten erleichtert zwar den Umgang mit dem Schloss, steht allerdings im Widerspruch zu K.s Wunsch nach einer festen Identität und Anstellung als vom Schloss bestellter Landvermesser. Im Hinblick auf Aktivität und Vitalität steht die Verstellung mit der Verbindung von spielerischer Experimentierfreude und Zurückhaltung gegenüber allen Formen von Ernsthaftigkeit und Nachdrücklichkeit gewissermaßen zwischen Querulantentum und Askese, den anderen beiden Lebensstrategien, die K. zumindest zeitweilig adaptiert und denen ich mich im Folgenden zuwenden möchte. Von Otto Brunswick, dem Prototypen des Querulanten im Schloss, erfährt K. im Gespräch mit dem Vorsteher. Brunswick unterhält nach Auskunft des Vorstehers „verschiedene persönliche Verbindungen mit den Behörden“ und bringt diese „mit immer neuen Erfindungen seiner Phantasie in Bewegung“.37 Brunswick weiß, wie eine Angelegenheit in den Behörden durch Insistenz am Laufen gehalten werden kann. Zugleich macht sich Brunswick im Dorf zwar unbeliebt, gewinnt mit seinen Querulanzen und Intrigen aber auch an „Einfluss“38 und geht aus der Affäre um Amalia als klarer Gewinner hervor. Er übernimmt als Einzelkämpfer und ehrgeiziger Emporkömmling von der nach der Affäre deklassierten BarnabasFamilie das Haus und die angesehene gesellschaftliche und berufliche Position des Verantwortlichen für die Erledigung von SchusterArbeiten. Vom Schustergehilfen steigt er auf zum Unternehmer für Schuhe und Schuhreparaturdienste, der seinen vormaligen Chef im Niedriglohnsektor für sich arbeiten lässt. Sein Querulantentum ist einerseits Auslöser für die Expansion behördlicher Vorgänge und Apparate – darin zeigt sich die die wechselseitige Beförderung von Querulantentum und Verwaltungswesen – und andererseits Schlüssel für seinen persönlichen Erfolg.39 35 36 37 38 39
Vgl. ebd., S. 31f. Vgl. ebd., S. 36f. Vgl. ebd., S. 109. Vgl. ebd. Während der Querulant vonseiten der Justiz normalerweise als unnützer Störenfried ausgegrenzt und psychopathologisiert wird (vgl. z.B. Dinger, Andrea/Koch, Uwe: Querulanz in Gericht und Verwaltung, München 1991), behauptet Helmut Höge in einem Zeitungsartikel in Der Freitag die Nützlichkeit des Querulanten durch den unbelegten Verweis darauf, dass 80% der höchstrichterlichen Entscheidungen, die ja in praktischer Hinsicht Gesetzeskraft haben, durch Querulanten erwirkt seien (vgl. Höge, Helmut:
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Kleinwort: Askese, Querulantentum Durch das Wissen über behördliche Vorgänge schafft es der Querulant, weiteres Wissen über behördliche Vorgänge einzuholen, und erhöht dadurch die Chance, dass er Nutznießer einer günstigen Gelegenheit wird. Der Querulant, wenn er seine Kunst auf eine solche Höhe gebracht hat wie Otto Brunswick, ist die Made im Speck einer Kontrollgesellschaft. Er stimuliert immer neue Kontrollvorgänge, um aus seinem Wissen über deren Funktionsweise irgendwann persönlich Kapital zu schlagen. Vom Schloss ist er nicht zu fassen wegen seiner Beweglichkeit, durch die er dem Zugriff einer gewissenhaft arbeitenden Behörde immer wieder entschlüpft: Um sich von den immer wieder neuen Erfindungen Brunswicks, wie der Vorsteher erläutert, „nicht täuschen zu lassen, waren neue Erhebungen nötig und noch ehe sie beendigt waren, hatte Brunswick schon wieder etwas neues ausgedacht, sehr beweglich ist er ja“40. Die immer wieder neu in Gang gebrachten langwierigen Prozeduren der Wahrheitsfindung sind eine Folge von Brunswicks strategischer Beschäftigungstherapie für gewissenhaft arbeitende Institutionen. In einer klassischen Disziplinargesellschaft wäre ein aufbrausender, wild phantasierender und ausgesprochen unhöflicher Mensch wie Brunswick ein beliebtes Ziel der Ausgrenzung und sozialen Disziplinierung geworden. In einer ohne Justiz und Gefängnis auf bloße Kontrolle setzenden Gesellschaft wie der im Schloss hingegen schafft er trotz durchaus bemerkbarer Ab- und Ausgrenzungsbemühungen der Dorfbewohner – „wenn wir ihn aus der Gemeinde ausschließen könnten, wären wir fast alle glücklich“41 – den sozialen Aufstieg. Die Behörden hält er mit seinen Eingaben beständig auf Trab, setzt deren Rädchen der Selbstregulierung in Gang, ohne selbst unter die Mühlen der Verwaltung zu geraten, das Dorf achtet und fürchtet ihn wegen seines Einflusses beim Schloss, und schließlich weiß er jede Gelegenheit zur Verbesserung seiner Einkommenssituation schlau zu nutzen. Das uramerikanische Märchen „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ wird von Brunswick neu geschrieben als ein Märchen nicht von harter Arbeit und Redlichkeit, sondern vor allem vom guten Spürsinn für den günstigen „Augenblick.“42 Otto Brunswick steht mit seinem Querulantentum für die effektivste Nutzung von Handlungsspielräumen im Schloss, die gleichwohl nicht die im Schloss institutionalisierte Macht infrage „Querulanten. Von Nervensägen, Erfindern und der Poesie des Leserbriefs“, in: http://www.freitag.de/2007/40/074001901.php [Stand: 31. Januar 2010]). 40 Kafka: Schloss (1982), S. 109. 41 Ebd., S. 108. 42 „Brunswick kam und kündigte dem Vater, er wolle sich selbstständig machen, sagte er ganz ehrlich, ein kluger Kopf, der den Augenblick zu nützen verstand“ (ebd., S. 319).
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Literarischer Möglichkeitssinn stellt, sondern – im Gegenteil – ihre Erweiterung und Aufteilung in weitere Behörden, die weitere Behörden kontrollieren, die weitere Behörden kontrollieren usw. usf., befördert, zugleich aber auch Otto Brunswicks beruflichen Erfolg begründet. K. hört sehr aufmerksam zu, als der Vorsteher ihm von Brunswick berichtet, und fügt sich kurze Zeit später, als Momus ihn zur Ergänzung seines Protokolls über K. verhören will, nicht, sondern verweigert sich, bleibt aufsässig und widerspenstig, wird in einer längeren gestrichenen Passage gar gewalttätig.43 Mit seiner Insistenz und Unbeugsamkeit gegenüber den Schlossbehörden in seiner eigenen Angelegenheit hat K. durchaus etwas von einem Querulanten. Er gibt sich auch nicht mit der Stelle als Schuldiener zufrieden, sondern verfolgt weiterhin konsequent das Ziel, die ihm versprochene Stelle als Landvermesser offiziell bestätigt zu bekommen. Im Gegensatz zu Brunswick will sich bei K. allerdings kein beruflicher Erfolg einstellen, weil ihm das praktische Wissen über die Funktionsweise der Schlossbehörde fehlt und ihm die geistige Beweglichkeit von Brunswick abgeht. In der zweiten Hälfte des Romanfragments bleibt K. zwar auch auf die Anstellung als Landvermesser fokussiert, ändert aber seine Umgangsweise mit der Dorfbevölkerung, legt seine Aggressivität und sein Besserwissertum ab. Damit ähnelt er sich Hans Brunswick an, einer der interessantesten und zu Unrecht kaum beachteten Figuren des Schlosses. Während sein Vater, Otto Brunswick, ein rücksichtsloser Schreier und ein auf seine eigene Karriere ausgerichteter Egomane ist, ist Hans Brunswick, obwohl „auch etwas Befehlshaberisches in seinem Wesen“44 war, ein eher zurückhaltender Leisetreter, der sich um sich selbst wie um seine Nächsten sorgt, ohne offensiv und offensichtlich eigene Interessen zu verfolgen. Zugleich hat er ein Talent, in kontrollierten Bereichen, die bestimmte Verhaltensweisen verhindern sollen, Schlupflöcher zu finden. So schleicht er sich „wie ein Deserteur“ aus dem Unterricht zu K. und Frieda selbst „auf die Gefahr großer Strafe hin“45, und so entwickelt er mit K. gemeinsam einen Plan, der es K. ermöglicht, in das von Otto Brunswick kontrollierte Haus zu gelangen und dort mit Ottos Frau bzw. Hans’ Mutter ohne vorherige Zustimmung von Otto Brunswick sprechen zu können.46 Hans entwickelt im Verlauf des Kapitels eine Sogwirkung, von der sowohl der Landvermesser als auch der Text selbst erfasst werden. Während in früheren Texten wie dem Process oder dem Brief an den Vater die väterliche Disziplinarmacht als eine Macht im Zent43 44 45 46
Vgl. ebd., S. 170-185, u. ebd., Apparatband, S. 260-289. Kafka: Schloss (1982), S. 224. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 233-236.
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Kleinwort: Askese, Querulantentum rum steht, der man sich kaum entziehen kann und die v.a. durch einzuhaltende Normen und durchgeführte Bestrafungsaktionen gekennzeichnet wird, erscheint die Macht im Hans-Kapitel als eine bloß kontrollierende, die durch überlegte Pläne umgangen werden kann. Die Normen der väterlichen Macht sind weniger zwingend als üblich, vielmehr sind es Normen im Konjunktiv, für deren Nichtbefolgung zwar Strafen angedroht werden, diese Strafen aber können verhindert werden, sind nicht unvermeidlich.47 In Hans’ Spekulation darüber, was der Vater gewiss niemals erlauben würde, und in der mütterlichen Intervention gegen die väterliche Strafaktion erscheint die väterliche Macht als eine, die weniger auf explizite Verbote denn auf flexiblen Normalismus setzt und die nicht nach dem Prinzip funktioniert, dass jede Normverletzung eine disziplinierende Strafe zur Folge haben muss. Normen erscheinen v.a. als internalisierte, die einen Prozess der Selbstüberprüfung in Gang setzen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die personalen Konstellationen im Schloss einfachen Identitätszuschreibungen zuwiderlaufen. Einerseits – und diese Zusammenhänge sind von der Kafka-Forschung erstaunlicherweise bislang noch nicht bemerkt worden – kehrt Otto Gross, der Psychoanalytiker und Gesellschaftskritiker, in dem von der väterlichen Macht gefährdeten Sohn Hans Brunswick wieder, andererseits in dem allen Schloss-Autoritäten gegenüber aufmüpfigen Vater Otto Brunswick.48 Einerseits scheint der seinen Sohn mit Zwangsmaßnahmen bedrohende Hans Gross, der Strafrechtler, der dafür sorgte, dass sein Sohn Otto Gross in eine Anstalt eingewiesen wurde, bei der Gestaltung der Figur Otto Brunswick Pate gestanden zu haben, andererseits als bedächtig argumentierender Jurist bei der Figur vom Sohn Hans, der bei seinen Überlegungen zum Besuchsplan von K. alle Eventualitäten mitzubedenken bemüht ist und sich darüber hinaus in einer Weise vorzustellen vermag, die kein in der Beschäftigung mit Akten geschulter Jurist treffender hätte formulieren können: „‚Hans Brunswick‘ sagte der Junge, ‚Schüler der vierten Klasse, Sohn des Otto Brunswick, Schustermeisters in der Madeleingasse.‘“49 Der zunehmend spielerische Umgang mit Vorlagen, Rollen, Identitäten und sogar der Psychoanalyse selbst ist charakteristisch für die Texte des späten Kafka. Statt durch geradezu schicksalhafte Va47 So wird Otto Brunswick von seiner Frau abgehalten, K. „wegen seines Benehmens zu strafen“. (Vgl. ebd., S. 229.) 48 Zur Bedeutung von Otto und Hans Gross für Kafka gibt es neben den Arbeiten von Wolf Kittler und Thomas Anz einen empfehlenswerten Ausstellungskatalog (Dienes, Gerhard M./Rother, Ralf (Hg.): Die Gesetze des Vaters. Problematische Identitätsansprüche. Hans und Otto Gross, Sigmund Freud und Franz Kafka. Ausstellungskatalog, Wien/Köln/Weimar 2003). 49 Vgl. Kafka: Schloss (1982), S. 223.
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Literarischer Möglichkeitssinn ter-Sohn-Konstellationen, die in der Kafka-Forschung weiterhin Konjunktur haben (wie bspw. jüngst an der viel beachteten Studie Der ewige Sohn von Peter-André Alt abzulesen ist)50, werden die Figuren durch fluide Identitätszuschreibungen bestimmt, die zwar grundsätzlich ein Problem darstellen – K. will auf der narrativen Ebene vor allem anderen vom Schloss als Landvermesser identifiziert und anerkannt werden –, die aber auch wie im Hans-Kapitel als Chance angesehen werden können. Indem K. die Wandelbarkeit seiner Identität als Möglichkeit versteht, Prozeduren der Identitätsfindung in Gang zu setzen, ermächtigt er sich selbst, über seine eigene Zukunft zumindest mitzubestimmen. Wenn es über Hans Brunswick heißt, „er überlegte in langen Gesprächen mit K. welche Schwierigkeiten zu überwinden seien“51, damit K. seine Mutter besuchen könne, so ist damit die Fähigkeit von Hans Brunswick umrissen, in gedanklichen Übungen, die vom Grad der Konzentration her durchaus an meditative Praktiken erinnern, Lösungen für lebenspraktische Probleme zu finden. Seine Fähigkeiten der Selbstkontrolle zeigen sich nicht zuletzt an der Fähigkeit, einfach still dazusitzen und zu schweigen: „Er konnte dann lange Zeit stillsitzen mit aufrechtem Körper, gesenktem Kopf, aufgeworfener Unterlippe. Frieda gefiel das so, dass sie ihm öfters Fragen stellte, von denen sie hoffte, dass sie ihn auf diese Weise verstummen lassen würden.“52 Hans führt die Askese als eine Denkübung vor, die sich auf das Wesentliche beschränkt, sich nicht aus der Ruhe bringen lässt und so lange die Argumente hin und her wiegt, bis eine Lösung gefunden wird. Als eine Selbsttechnik der Sezession scheint die Askese Hans die Möglichkeit zu geben, sich von den gesellschaftlichen Zwängen, mit denen er konfrontiert wird, zu befreien.53 Wenn Foucault schreibt: „Wir müssen nach neuen Formen von Subjektivität suchen und die Art von Individualität zurückweisen, die man uns
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Vgl. Alt, Peter-André: Der ewige Sohn, München 2005. Kafka: Schloss (1982), S. 233. Ebd., S. 226. Nicht nur für die Konzeption des Schlosses im Ganzen (s. Fußnote 13), sondern auch für die antagonistischen Lebensstrategien und -einstellungen von Otto und Hans Brunswick gibt es eine Vorlage in einer kurzen Erzählung von Brod aus dem Jahr 1903 (vgl. Brod, Max: „Tyrann und Asket“, in: Ders.: Notwehr. Frühe Erzählungen. Hg. v. Mathias Heydenbluth, Berlin 1990, S. 5-6, hier S. 5). Obwohl wiederholt auf die Bedeutung von Brods Schriften für Kafkas Arbeiten hingewiesen wurde, ist die komplexe intertextuelle Beziehung erst in Ansätzen aufgearbeitet. Ein hoffnungsvoller Impuls für diese Aufgabe geht aus von Wedemeyer, Arnd: „Diesseitswunder. Kafka as a Political Saint“, in: Journal of the Kafka Society 30:1-2 (2006).
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Kleinwort: Askese, Querulantentum seit Jahrhunderten aufzwingt“54, so könnte der eigentümliche Hans, der sich durch seine gedanklichen Fähigkeiten gegenüber Ein- und Übergriffen von Außen immunisiert, für eine neue Form von Subjektivität stehen, wie sie Foucault im Blick gehabt hat. Diese hoffnungsvolle Deutung ist in zweierlei Hinsichten einzuklammern: 1. Das Verhältnis von Hans zu sich selbst ist kein praktikables, gegenwärtigen Problemen angemessenes Selbstverhältnis. Das Hans-Kapitel aus dem Schloss und die Erzählung Ein Hungerkünstler wurden beide Mitte 1922 geschrieben, und den Übungen oder Askesen im Bereich des Denkens entsprechen in der Erzählung klassische Hungeraskesen. In Ein Hungerkünstler stellt Kafka indes das Unzeitgemäße und Unangebrachte bestimmter asketischer Techniken dar, der Verlust der Aufmerksamkeit am Hungerkünstler geht einher mit dem Niedergang der Hungerkunst generell.55 Das trifft sich mit der oft wiederholten Feststellung, dass die von Foucault analysierten antiken Techniken des Selbst keine Lösung für gegenwärtige Probleme sind.56 2. K.s Übertragung der Gesprächs- und Denktechniken aus dem Gespräch mit Hans auf weitere Gespräche hat nicht zur Folge, dass praktische Lösungsmöglichkeiten für K.s prekäre Existenz entwickelt werden können, sondern dass er sich zunehmend in die Schlossgeschichten verstrickt, ermüdet und den Überblick verliert. Statt einer Selbstkontrolle jenseits der Macht des Schlosses kommt es wie bspw. im Zusammenhang mit der Bürgel-Episode zu Kontrollverlusten – K. schläft ein, als ihm vielleicht entscheidende Hilfestellungen für seine Angelegenheit mitgeteilt werden –57 und Orientierungslosigkeit: K. glaubte zuerst, nachdem er sich im Anschluss an den Besuch im Zimmer von Bürgel hingelegt hatte, er habe „kaum geschlafen“. Tatsächlich waren es „weit über 12 Stunden“ gewesen,58 und der für den folgenden Tag – „Also übermorgen“59 – groß geplante Besuch bei der Mutter von Hans und der Frau von Otto Brunswick ist so sehr in Ver-
54 Foucault: Subjekt und Macht (2005), S. 280. 55 Vgl. Kafka, Franz: „Ein Hungerkünstler“, in: Ders.: Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch u. Gerhard Neumann, in: Born et al.: Kafka (1994), S. 333-349, hier: 342f. 56 Foucault selbst bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: „[M]an findet nicht die Lösung eines Problems in der Lösung eines anderen Problems, das in einer anderen Epoche von anderen Leuten gestellt wurde“ (Foucault, Michel: „Zur Genealogie der Ethik. Ein Überblick über die laufende Arbeit“, in: Defert, Daniel/Ewald, Francois (Hg.): Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a.M. 2007, S. 191-219, hier S. 194). 57 Vgl. Kafka: Schloss (1982), S. 424. 58 Vgl. ebd., S. 451. 59 Ebd., S. 238.
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Literarischer Möglichkeitssinn gessenheit geraten, dass er im Text nicht einmal mehr erwähnt wird. Der Handlungsspielraum, der durch das sehr bedächtige, hoch konzentrierte und geradezu meditative Denkverfahren von Hans Brunswick erschlossen wird, kann im Einzelfall Bereiche umfassen, die jenseits des Normalen liegen. Grundsätzlich läuft die intensive Form des Durcharbeitens der durch moderne Formen der Regierung hervorgerufenen Probleme Gefahr, sich in die Machtstrukturen zu verstricken, gegen die sie sich eigentlich immunisieren wollte. Gerade dadurch, dass die Aktionen von Hans Brunswick auf ein Kapitel beschränkt werden und es unklar bleibt, ob der ausgeklügelte Plan für K.s Besuch bei seiner Mutter gelingt und was im weiteren Sinne aus Hans Brunswick wird, behalten Selbsttechniken, die auf ein Jenseits der Macht ausgerichtet sind, bei Kafka ihre Faszinationskraft. Die Faszinationskraft reicht bis heute, wie an dem von Slotderdijk jüngst proklamierten Manifest für den Ko-Immunismus abzulesen ist, welcher durch gezielte Anwendung geeigneter „Anthropotechniken“ – Sloterdijks Begriff für das, was Foucault als „Techniken des Selbst“ bezeichnet – verwirklicht werden soll.60 Um ja nicht in den Umkreis gesellschafts- oder kapitalismuskritischer Theorien zu geraten, unterschlägt Sloterdijk völlig, dass die vermeintlich gegenüber dem Zugriff der Gesellschaft immunisierten Individuen qua Immunisierung gut auf die Anforderungen einer auf Flexibilisierung und permanente Selbstverbesserungsprogramme der Beschäftigten setzenden Arbeitswelt vorbereitet werden. Mit markigen Worten grenzt Sloterdijk derartige Sichtweisen aus, indem er bspw. den „deutlichsten Gegensatz“ zwischen Sport und Arbeitswelt behauptet, „mochte auch eine verdumpfte Soziologie noch so oft behaupten, der Sport sei nur das Trainingslager für die Fabrik und die Vorschule der kapitalistischen Konkurrenzideologie.“61 Mit Hans Brunswick, bei dem die berufliche Situation aufgrund seines Alters im Gegensatz zu K. und Otto Brunswick nicht von Belang ist, lässt sich der kindliche Traum einer Subjektivität oder der Traum einer kindlichen Subjektivität träumen, die jenseits moderner Regierungsformen auf alternative Selbsttechniken zurückgreift. Wie weit solche Träume reichen und wohin sie führen, wird deutlich, als er von Frieda gefragt wird, was er denn werden wolle: „[E]r überlegte nicht viel und sagte, er wolle ein Mann werden wie K.“62 Also ein mittelloser Schuldiener, der erfolglos versucht, eine vage versprochene Anstellung als Landvermesser gegen einen unwilligen
60 Vgl. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M. 2009, S. 713. 61 Vgl. ebd., S. 331f. 62 Vgl. Kafka: Schloss (1982), S. 236.
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Kleinwort: Askese, Querulantentum kommunalen Arbeitgeber durchzusetzen? Man hat schon von Jugendidolen gehört, die schillernder waren.
Literatur Adorno, Theodor W.: „Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien“, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 5: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel. Hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1970, S. 7-245. —: „Verwaltung und Kultur“, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 8. Hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1972, S. 122-146. Alt, Peter-André: Der ewige Sohn, München 2005. Binder, Hartmut (Hg.): Kafka-Handbuch, Bd. 1: Der Mensch und seine Zeit, Stuttgart 1979. Born, Jürgen/Neumann, Gerhard/Pasley, Malcolm/Schillemeit, Jost (Hg.): Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, Frankfurt a.M. 1982. Brod, Max: Notwehr. Frühe Erzählungen. Hg. v. Mathias Heydenbluth, Berlin 1990. —: „Notwehr“, in: Ders.: Notwehr (1990), S. 56-82. —: „Tyrann und Asket“, in: Ders.: Notwehr (1990), S. 5-6. Campe, Rüdiger: „Kafkas Institutionenroman“, in: Ders./Niehaus, Michael (Hg.): Gesetz. Ironie, Heidelberg 2004, S. 197-208. Deleuze, Gilles: „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, in: Ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Aus d. Franz. v. Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 1993, S. 254-262. Dienes, Gerhard M./Rother, Ralf (Hg.): Die Gesetze des Vaters. Problematische Identitätsansprüche. Hans und Otto Gross, Sigmund Freud und Franz Kafka. Ausstellungskatalog, Wien/ Köln/Weimar 2003. Dinger, Andrea/Koch, Uwe: Querulanz in Gericht und Verwaltung, München 1991. Ewald, Francois: Der Vorsorgestaat. Aus d. Franz. übersetzt v. Wolfram Bayer u. Hermann Kocyba, Frankfurt a.M. 1986. Foucault, Michel: Die Anormalen. Aus d. Franz. v. Michaela Ott u. Konrad Honsel, Frankfurt a.M. 2007. —: „Subjekt und Macht“, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV: 1980-1988. Aus d. Franz. v. Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Herrmann Kocyba u. Jürgen Schröder. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange, Frankfurt a.M. 2005, S. 269-294. —: „Zur Genealogie der Ethik. Ein Überblick über die laufende Arbeit“, in: Defert, Daniel/Ewald, Francois (Hg.): Ästhetik der
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Literarischer Möglichkeitssinn Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a.M. 2007, S. 191-219. Höge, Helmut: „Querulanten. Von Nervensägen, Erfindern und der Poesie des Leserbriefs“, in: http://www.freitag.de/2007/40/074 001901.php (Stand: 31. Januar 2010). Kafka, Franz: Amtliche Schriften. Hg. v. Klaus Hermsdorf u. Benno Wagner, in: Born et al.: Kafka (1982). —: Briefe an Milena. Hg. v. Jürgen Born u. Michael Müller, Frankfurt a.M. 1986. —: Das Schloss. Hg. v. Malcolm Pasley, in: Born et al.: Kafka (1982). —: „Ein Hungerkünstler“, in: Ders.: Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch u. Gerhard Neumann, in: Born et al.: Kafka (1994), S. 333-349. Link, Jürgen: „Disziplinartechnologien/Normalität/Normalisierung“, in: Kammler, Clemens/Parr, Rolf/Schneider, Ulrich Johannes (Hg.): Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2008, S. 242-246. Murnane, Barry: „Verkehr mit Gespenstern“. Gothic und Moderne bei Franz Kafka, Würzburg 2008. Richter, Norbert Axel: Grenzen der Ordnung. Bausteine einer Philosophie des politischen Handelns nach Plessner und Foucault, Frankfurt a.M./New York 2005. Robertson, Ritchie: Kafka. Judentum, Gesellschaft, Literatur. Übersetzt v. Josef Billen, Stuttgart 1985. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Übersetzt v. Martin Richter, Berlin 1998. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M. 2009. Stiegler, Bernard: Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien. Aus d. Franz. v. Susanne Baghestanie, Frankfurt a.M. 2008. Vogl, Joseph: „Lebende Anstalt“, in: Balke, Friedrich/Vogl, Joseph/Wagner, Benno (Hg.): Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka, Zürich/Berlin 2008, S. 21-33. Wagner, Benno: „Der Unversicherbare. Kafkas Protokolle“ (Manuskript), Siegen 1998. —: „Zarathustra auf dem Laurenziberg. Quételet, Nietzsche und Mach mit Kafka“, in: Krause, Marcus/Pethes, Nicolas (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 225-242. —: „‚[…] zuerst die Mauer und dann den Turm‘. Der Widerstreit zwischen Biopolitik und Ethnopolitik als berufliches Problem und schriftstellerischer Einsatz Franz Kafkas“, in: brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei 2007, S. 41-70.
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Kleinwort: Askese, Querulantentum Wedemeyer, Arnd: „Diesseitswunder. Kafka as a Political Saint“, in: Journal of the Kafka Society 30:1-2 (2006). Wolf, Burkhard: „Zwischen Tabelle und Augenschein. Abstraktion und Evidenz bei Franz Kafka“, in: Peters, Sibylle/Schäfer, Martin Jörg (Hg.): „Intellektuelle Anschauung“ – unmögliche Evidenz, Bielefeld 2006, S. 239-257.
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Verworfene Selbstentwürfe EINLEITUNG VON KARIN HARRASSER
Entgegen der Rede von angeblich erst neuerdings fraglich gewordenen Identitäten schlägt dieser Band einen Zugang zu Subjektivierungsformen vor, der das Selbst weniger als eine in der Moderne destruierte, anthropologische Substanz denn als einen Effekt neuzeitlicher Wissens- und Regierungsformen begreift. Die Beiträge in dieser Sektion, die sich mit künstlerischen und massenmedial produzierten Selbstentwürfen des 20. und 21. Jahrhunderts beschäftigen, testen gewissermaßen die These Michel Foucaults, dass das „Regieren des Selbst und der anderen“1 als historisch variable, miteinander verflochtene Prozesse verstanden werden müssen. Mit Robert Musil könnte man auch statt vom Selbst von verschiedenen „Ichbautypen“ sprechen, an deren „Bauplänen“ sich ablesen lässt, in welchem Verhältnis Körper und Geist, Selbst- und Fremdbestimmung, Wille und Trieb jeweils stehen. Diese Begriffe bringen die Diskussion jedoch bereits auf eine schiefe Ebene, denn sie müssten zunächst selbst historisch situiert werden. Dies kann hier nicht geleistet werden, es muss an dieser Stelle der Hinweis darauf reichen, dass die Probleme, die bei der Beantwortung der Frage „Was ist ein Selbst?“ auftauchen, mit einer spezifisch abendländischen Konstellierung des Verhältnisses von individueller Autonomie, Handlungsfähigkeit und Politik verknüpft sind. In anderen Beschreibungssystemen – etwa dem buddhistischen, mit seinem Streben nach Selbstverlust, oder im hinduistischen, mit seinen feinen Abstimmungen unterschiedlicher ‚Aspekte‘ des Selbst – ist bspw. die Frage nach Autonomie weniger zentral und „Handlungsfähigkeit“ ist von vorne herein nicht auf menschliche Akteure zentriert. In letzter Zeit ist die „moderne Verfassung“2 und ihre Version der Verknüpfung von Handlungsfähigkeit, Politik und Epistemologie von unterschiedlichen Seiten befragt worden. Exemplarisch für eine innereuropäische Ethnografie dessen ist Bruno Latours „politische 1 2
Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, Frankfurt a.M. 2009. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 1998.
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Verworfene Selbstentwürfe Epistemologie“3, in der eine Dezentrierung des voluntaristischen Subjekts durch die Politisierung „nicht-menschlicher Wesen“ vorgeschlagen wird. Als kulturvergleichende Perspektive wäre Eduardo Viveiros de Castros Vorschlag einer „animistischen“ Kollektivität zu nennen.4 Aber auch Michel Foucault hat unterschiedliche Zugänge vorgeschlagen, um den politisch-epistemologischen Knoten namens Subjekt zu durchtrennen. Beginnend mit seinen Studien zum Wahnsinn und zur Geschichte der Humanwissenschaften bis hin zu seinen späten Studien zur „Sorge um sich“ und zu gouvernementalen Formen der (Selbst-)Regierung hat er das Thema immer wieder aufgegriffen. Das Selbst verstehen die vorliegenden Beiträge deshalb als einen Brennspiegel, in dem sich „Formen eines möglichen Wissens“, „normative Verhaltensmatrizen der Individuen“ und „virtuelle Existenzmodi für mögliche Subjekte“5 als Erfahrung treffen. Was überhaupt als Wahlmöglichkeit in den Horizont eines Individuums oder einer Gruppe tritt, ob und wann „wählen zu können“ als erstrebenswert oder als Belastung erfahren wird, steht damit ebenso zur Disposition, wie die Frage nach den politischen Technologien, die mit den Konzepten und Praktiken des „Selbstentwurfs“ und der „Selbstführung“ assoziiert sind. Die Rede von einem Selbst, der reflexive Modus der Ichwahrnehmung, muss – dies wäre eine erste These – als Symptom einer notorischen Fraglichkeit dessen, was so bezeichnet ist, verstanden werden. Fraglich ist dieses Selbst quer durch die Geschichte des Abendlandes, das 20. Jahrhundert zeichnet sich jedoch durch eine Dialektik von erhöhtem diesbezüglichen Krisenbewusstsein und vielfältigen Versuchen der Einhegung des Ich-Zerfalls aus. „Verworfene Selbstentwürfe“ müssen mithin als Signatur des 20. Jahrhunderts gelten. So sind auf der einen Seite Versuche zu verzeichnen, dem dauerhauft unsicheren, dem konjunktivischen Selbst ein Trainingsprogramm zu verschreiben: Von Apologien des Ent-wurfs (Heidegger, Flusser, Sloterdijk) als einer riskanten Projektion des Daseins in eine unbekannte Zukunft über diverse psychotherapeutische, emanzipative und esoterische Exerzitien der „Selbsthilfe“ bis hin zu den von Domink Maeder analysierten Medienritualen fächern sich Deutungsangebote und Übungsprogramme auf. Auf der anderen Seite stehen Anti-Trainingsprogramme, solche Denkfiguren, die sich von vorneherein als verworfene präsentieren, solche ohne Hoffnung auf Erfolg, Errettung, Fortschritt oder Lösung. Als exempla3 4
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Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in de Actor-Network-Theorie, Frankfurt a.M. 2007, S. 428-434. Viveiros de Castro, Eduardo: „Exchanging Perspectives. The Tranformation of Objects into Subjects in Amerindian Ontologies“, in: Franke, Anselm (Hg.): Animisme. Volume 1, Bern 2010, S. 227-242. Foucault: Die Regierung des Selbst (2009), S. 15.
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Harrasser: Einleitung risch hierfür können Robert Walser und Franz Kafka gelten, die angesichts der Vielfalt möglicher Welten eine Einschmelzung des Selbst auf seine verworrene und verwirrende Gegenwärtigkeit vornehmen. So schreibt Kafka, der Mensch wäre auf drei Arten frei: Erstens, weil er sein aktuelles Leben zwar einmal gewollt habe, es jetzt aber nicht mehr rückgängig machen könne, da er nicht mehr der ist, der er war, als er es wollte. Freiheit ist dementsprechend die permanente, retroaktive Herstellung von Begründungszusammenhängen, denen das Subjekt – mit Badiou gesprochen – die Treue hält. Zweitens, indem er die Gangart und den Weg dieses Lebens wählen kann; und drittens ist er frei, „indem er als derjenige, der er einmal sein wird, den Willen hat, sich unter jeder Bedingung durch das Leben gehen und auf diese Weise zu sich kommen zu lassen und zwar auf einem wählbaren, aber jedenfalls derart labyrinthischen Weg daß er kein Fleckchen dieses Lebens unberührt lässt.“6 Zu-sich-kommen ist bei Kafka kein Prozess einer Annäherung an ein „wahres Ich“, sondern eine paradoxe Bewegung, in der mögliche und tatsächliche „Selbste“, vergangene und zukünftige Handlungen und Entscheidungen einander auf verwirrende Art und Weise begegnen, bekräftigen, aushebeln und in Paradoxien treiben. Ein weiterer, berühmt gewordener Typus des Lebens im Konjunktiv, eines potenziellen Menschen, wäre der von Kathi Hofer untersuchte und von ihr mit Selbst-Bildern von Ernst Mach und Gilles Deleuze kontextualisierte „Mann ohne Eigenschaften“ Ulrich. Hofer hebt auf eine in den verzerrten Selbst-Porträts sich konturierende „Ethik des Selbstverlusts“7 ab, zu fragen wäre aber bei Robert Musil ebenso nach den Funktionsweisen einer Ästhetik des heroischen Selbstverlusts. Was sind die milieu- und geschlechtsspezifischen Bedingungen der Möglichkeit eines „Urlaubs vom Leben“? Was ist die Funktion der Umcodierung des Selbstverlusts und der Identitätskrise zu einer ästhetischen Existenz? Und wie verhält sich die Grammatik des Verworfenen zur Hegemonie eines (neo-)liberalen Imperativs des Selbstentwurfs? Die frühen Studien von Gilles Deleuze und Félix Guattari zu Kapitalismus und Schizophrenie bieten sich an, um sich solchen Fragen zu nähern. Deleuze/Guattari argumentieren hier dafür, den Kapitalismus als Subjektivierungsform durch die Intensivierung seiner Aufspaltungstechnik analysierbar zu machen. Der Schizophrene, derjenige, dessen Ich-Management versagt, figuriert als zeitdiagnostische Matrix, um das fatale Zusammenspiel von das Individuum in Kapitalformen aufteilender Ressourcenpolitik und bürgerlichen Subjektivierungsformen, die mit dem ödipalen Dreieck als Naturalisierungsmaschine operieren 6 7
Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a.M. 2002, S. 94-95. Vgl. Kathi Hofers Beitrag „Männer ohne Eigenschaften“ in diesem Band.
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Verworfene Selbstentwürfe und die auf einem Mängelmodell des Menschen fußen, aufzudecken. Ein Hauptkritikpunkt – und Ausgangspunkt für ihr Konzept der Wunschmaschine – war, den Menschen nicht als ein Mängelwesen, als ein Wesen mit mangelnder Gerichtetheit der Triebe, das deshalb kulturell und gesellschaftlich eingehegt und geführt werden muss, zu begreifen, sondern als ein Wesen mit überströmenden Wünschen, die ausschließlich innerhalb von Kulturalisierung und Vergesellschaftung existieren und immer weiter angeregt werden; der Mensch als eine sich gewissermaßen selbst aussteuernde Wunschmaschine. Aus Freuds These der Selbstbildung als notwendiger Domestikation des Trieblebens wird damit ein Modell des Selbst, dessen Wünsche und Begehren einem immer schon gesellschaftlich strukturierten Lebensvollzug immanent sind. Wie bei Kafka ist dieser Lebensvollzug im Hin und Her der Wünsche, Pläne, Projektionen, Vergangenheiten und Zukünfte ein Wirrwarr an Linien, der ein eher fadenscheiniges Gebilde hervorbringt. Deleuze/Guattaris Konzepte waren jedoch – und bedenkt man ihre politische Zielrichtung, ist dies fatal – bemerkenswert anschlussfähig für inzwischen als „Soziale Netzwerke“ bezeichnete Organisationsformen, die die freie Entfaltung des Einzelnen und seiner (Produkt-)Ideen propagieren. Inwiefern aktuelle Formen des Netzwerkopportunimus mit den skizzierten „verworfenen Selbstenwürfen“ einen Echoraum bilden, dieser Frage gehen alle vier Beiträge dieser Sektion nach. Parallel zu den unterschiedlichen Versuchen einer Kritik des Selbst als überwachender Ich-Zentrale und der Entwicklung antiessentialistischer Selbstkonzepte wurde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das Wissen um den menschlichen Körper umgebaut: In der Psychophysik, später in der Psychotechnik und in der Gestalttheorie, verlor der menschliche Körper seine klaren Konturen und v.a. seinen Charakter als analytisch zerteilbare und neu zusammensetzbare Maschine, die erzogen, trainiert und optimiert werden konnte. Disziplinarische Körpermodelle und ihre Institutionen (Schule, Militär) verloren ihre gesellschaftsformierende Prägekraft und wurden ergänzt (oder auch: intensiviert) durch ein Verständnis, das den Körper als eigendynamisches, sich selbst justierendes, signalverarbeitendes System konzipierte. Die von Rosemarie Brucher analysierten künstlerischen Selbstverletzungen der 1960er und 70er Jahre muten vor dem Hintergrund eines solchen „kybernetischen“ Körperverständnisses beinahe archaisch an. Der Märtyrer, der in seiner Fähigkeit, Schmerz zu ertragen, die Macht verhöhnt und die gesellschaftlichen Zurichtungen des Körpers implodieren lässt, scheint auf den ersten Blick ein völlig unzeitgemäßes Medium der Kritik zu sein. Dass der Wiener Aktionismus, dass die körperbezogenen Performances von VALIE
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Harrasser: Einleitung EXPORT und anderer so Furore gemacht haben, zeigt vielmehr, dass wir in Bezug auf Körper- und Selbstkonzepte nicht von chronologisch aufeinanderfolgenden Epochen ausgehen können, sondern von mannigfaltigen Ungleichzeitigkeiten und Überlagerungen: Im Kontext des als erstickend und konservativ empfundenen Nachkriegsklimas in einem tief katholischen Land konnte in den 1960er Jahren der Körper nicht wie in Kalifornien einfach ‚befreit‘ werden, und auch eine Rückkehr zum „Naturkörper“ der Lebensreformbewegung des frühen 20. Jahrhunderts war versperrt. Die Sprache der Selbstdestruktion, des Exponierens der Verwundungen, sprach hingegen ebenso deutlich wie Woodstock von dem Wunsch, „nicht so regiert werden“ zu wollen.8 Die Performances erzählen, ähnlich wie Rockkonzerte und Drogenrausch, davon, den Körper, den einem die Gesellschaft zugesteht, nicht haben zu wollen. Der Körper ist somit Zeuge (dies ist bekanntlich die erste Bedeutung des Begriffs „Märtyrer“) des Unvernehmens mit dem status quo. Dieses Exponieren der Verwundbarkeit und Fragilität des Körpers kontrastiert auffällig mit den „posthumanistischen“ Überschreitungsgesten von Künstlern wie STELARC, in dessen robotischen oder inzwischen transplantativen Kunstwerken am eigenen Körper die Informatisierung des Körpers mit der perfekten Vermarktung des Künstler-Ichs korrespondiert. Eine weitere Spielart des heroischen Selbstverlusts analysiert Wolfgang Paterno. Sein Beitrag macht deutlich, dass die auf den ersten Blick männliche Souveränität und Identität stabilisierende Körpertechnik des Faustkampfs in der Weimarer Republik als Austragungsort von Debatten über die Verfasstheit des „modernen“ Menschen gelesen werden kann. In einer Situation, in der stabile Verhaltenscodes fraglich geworden waren, wurde der Boxer zu einer Chiffre des Tatmenschen. Weil er schneller agiert, als er denkt, verspricht die Figur Handlungsfähigkeit auch bei größtmöglicher Unsicherheit und Bedrohtheit. Er repräsentiert damit einen dezisionistischen Ichbautyp als Gegenmodell zum Politiker, der in unübersichtlichen und langwierigen Prozessen der Entscheidungsfindung permanent zu versagen droht. Die Boxer der Zwischenkriegszeit verkörperten einen Zustand der Daueralarmiertheit und sie exponierten einen Körper, der jederzeit zu Boden gehen kann und der nicht stillstehen kann. Unschlüssige und einäugige Selbstentwürfe, ‚eigenschaftslose‘ Männer, die zum Scheitern verurteilte Annäherung an eine in Medienbildern phantasierte Normalität, Selbstdestruktion als Modus des Einspruchs und die tänzelnde Selbsteinrichtung im Ring. Lässt sich darin ein einheitlicher Problemzusammenhang erkennen? Es lässt 8
Vgl. Foucault, Michel: Was ist Kritik?. Übersetzt v. Walter Seitter, Berlin 1992, S. 12.
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Verworfene Selbstentwürfe sich auf jeden Fall sagen, dass das Selbst (und sein Leib) immer noch ein Austragungsort für Politik und Epistemologie ist, da sich an seiner Definition entscheidet, welche Disziplinen (die Theologie, die Psychologie, die Biologie?) und welche gesellschaftlichen Institutionen (die Kirche, die Schule, die Familie, der Markt?) ihre Zuständigkeit bekennen und ihre mehr oder weniger subtilen Manipulationen ansetzen. Von der Konzeption des Selbst hängen aber auch Fragen einer politischen Anthropologie ab, bspw. die danach, was überhaupt über den Menschen als zoon politicon gewusst werden kann, wer denn überhaupt handelt, wenn gehandelt wird, oder auch, welche politische Form welchem Handlungstyp gerecht wird. Harald Fricke hat für die 1990er Jahre konstatiert, dass sie „den einzelnen so viel Mut zur Lebensphilosophie und so viel Kraft bei den Bemühungen um eine praktikable Selbsttechnik“ kosten würden, dass „kein Platz für Ideologien übrigbleibt.“9 Um die Ideologien, so könnte man für die gegenwärtige Situation konstatieren, ist es vielleicht nicht schade, aber dass die allgemeine Auslastung und Erschöpfung zu groß ist, um sich ins Unvernehmen zu setzen, das bewirkt Formen der Fremdführung, die in ihrer postideologischen Verfasstheit selbst wieder ideologisch sind. Die Beiträge in dieser Sektion sind deshalb eine Verführung zur Befragung dessen, was uns das Vertrauteste und Fremdeste zugleich ist: das Selbst als rätselhafte Instanz der Wahlmöglichkeiten inmitten des Durcheinanders des Lebensvollzugs.
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Fricke, Harald: „In aufrechter Ekstase (1992)“, in: Ders.: Texte 1990-2007. Hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Bettina Allmoda et al., Berlin 2010, S. 18.
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Duell im Moderne-Labor. Re(a)gieren im Ring: Der Boxer als Repräsentationstypus in der Zeit der Weimarer Republik WOLFGANG PATERNO
Die Proklamation erfolgt mit quasireligiöser Intention. „Es gibt nur einen Gott“, verkündet der Berliner Schriftsteller Paul Gurk 1927 die Frohbotschaft des gesellschaftlichen Subsystems Sport. In seinem Roman Berlin, der die Irrfahrt eines betagten Mannes durch die gleichnamige Stadt in den 20er Jahren auffächert, findet sich der Kern der Weimarer Körperkulturkonfession formuliert: „Muskel! Und Tempo ist sein Prophet!“1, exemplifiziert Gurk zwei sportive Glaubenssätze der Epoche.2 Für seine Behauptung nimmt Gurk eine Sportart in Dienst, die in der Zeit des Interbellums Symbolcharakter und Signalhaftigkeit gewinnt. Der in der Stadt umherstreifende Buchtrödler Eckenpenn stößt, halb freiwillig, halb gezwungen, in die auratisch aufgeladene Atmosphäre eines Boxkampftages vor; die regelmäßig ausgerichteten Berliner Boxveranstaltungen sind Stadtgespräch.3 Joseph Roth mokiert sich über den zeitgemäßen Boxfanatismus, indem er anmerkt, dass selbst Gott im Vergleich „mit dem, der Runden schlägt“, wie ein „kleiner Mühlenaushilfstreter“4 wirke. Der Boxring, über dem „der neue Gral, die Jupiterlampe, die mit ihrem bläulichen Lichtgezisch von unerhörter Helligkeit“ die Fläche von gut sechs mal
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Gurk, Paul: Berlin, Darmstadt 1980 [1927], S. 303. Vgl. Bienert, Michael: Die eingebildete Metropole. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik. Stuttgart 1992, S. 66ff.; Blom, Philipp: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914, München 2009, S. 266ff. Vgl. Haerdle, Stephanie: Darstellungen von Boxsport und Boxsportlern in der Literatur der Weimarer Republik, Dipl. Berlin 2003, S. 20f. Roth, Joseph: „Lobgedicht auf den Sport“ [1924], in: Ders.: Werke. Das journalistische Werk 1924-1928. Hg. v. Klaus Westermann, Köln 1990, Bd. 2, S. 8.
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Verworfene Selbstentwürfe sechs Metern erhellt, erscheint in Gurks Berlin als „Altar“; das Geschehen im Seilgeviert, die – wie Joyce Carol Oates mit ungebrochen expressionistischem Pathos formuliert – „Kommunion des Körpers mit sich selbst“5 lässt die Zuschauer in den Rängen ekstatisch „in Zungen reden“6. Unter Verzicht auf die Anwendung neusachlicher Objektivitätsgebote wird hier eine spiritual-singuläre Atmosphäre zu erzeugen versucht, als wohne man der Ankunft eines höheren Wesens bei, dem Erscheinen der Proponenten im Ringquadrat. Unvorbereitet ist Eckenpenn in die spezielle, von Gurk exemplarisch entworfene Modernitätskulisse der urbanen Weimarer Wirklichkeit allerdings nicht geraten. Bevor der Buchantiquar in seiner Funktion als eine Art Platzanweiser in der bis auf den letzten Platz besetzten Halle von den Ereignissen gleichsam hinweggeschwemmt wird, fragte er sich, angeregt durch die Lektüre von Zeitungsschlagzeilen, vor Betreten der Arena: „Wurde nicht zehnmal, tausendmal mehr gedruckt von einem großen Boxer oder einem Baseballspieler als von den sublimsten Werken des einsamen und erlesenen Geistes?“7 Es ist v.a. der Leistungs- und Wettkampfsport, so die neusachlich-schnittig formulierte Botschaft, der den modernen Menschen formt: Der Körper wird zum Bedeutungsträger für vorgebliche Willens- und Widerstandskraft, Leistungsfähigkeit, Härte, Fitness, Dynamik und Durchhaltevermögen. Besonders die Figur des Boxers gilt als „der große Mann eines Volkes“8, zumal in einer Zeit, „deren Helden der Preisboxer und Kinostar sind“9. 1923 findet sich in einem populären Boxfachblatt ein Holperreim als nachdrückliche Verhaltensanleitung: „Weg mit allem Bücherknast“, notiert der Verfasser: „Meld‘ dir an im Sportpalast.“10 In den 1920ern konturiert sich der Typus des Boxers als ein Ausdrucksträger der Zeit: In den Metropolen, im fortwährenden Funkenregen an Unterhaltung und Ablenkung, verdichtet sich das
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Oates, Joyce Carol: Über Boxen. Ein Essay, Zürich 1988, S. 23. Ebd. Gurk: Berlin (1980), S. 100. Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik, in: Ders.: Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944. Bd. 40, Frankfurt a.M. 1983, S. 41. 9 Mann, Thomas: „Rede zur Eröffnung der ‚Münchner Gesellschaft 1926‘“ [1926], in: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Von Deutscher Republik. Politische Schriften und Reden in Deutschland. Bd. 17. Hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a.M. 1984, S. 236240, hier S. 239. 10 Zitiert nach Behrendt, Dieter: „‚Boxen musst de, boxen, boxen‘“, in: Arenhövel, Alfons (Hg.): Arena der Leidenschaften. Der Berliner Sportpalast und seine Veranstaltungen 1910-1973, Berlin 1990, S. 84-89, hier S. 84.
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Paterno: Duell im Moderne-Labor Wettkampfgeschehen im Ring via Institutionalisierung, Propagierung und Popularisierung zu emblematischer Bedeutung. Boxen wird zu einer allgemeinen Volksbelustigung – und bildet einen wesentlichen Bestandteil des sportiven Taumels im „Zeitalter der Tat“11. Die Suprematie des Kämperichen erobert Bühne und Ring: Berlin wird zur „Boxhochburg“12, der Sport selbst als zirzensisches Spektakel arrangiert; im Ring vollzieht sich die Transgression der Grenzen von bürgerlicher Elite- und Massenkultur; der für die Sportler oft ruinös endende Schlagabtausch avanciert zum ästhetisch-kulturell Valorisierten.13 Aktive Boxprofis wie Paul SamsonKörner, Ludwig Hayman, Hans Breitensträter, Franz Diener, Hein Domgörgen, Rudi Wagener, Kurt Prenzel oder Erich Brandl werden bereitwillig-bedenkenlos als kunstaffine Lichtgestalten gefeiert.14 Der Boxer erscheint als athletischer Phänotyp, „als Inbegriff des modernen Mannes“: „rational, selbstbeherrscht, völlig auf sich gestellt, mutig, stark und erotisch höchst attraktiv“15. Die Begeisterung für die inkommensurablen, auf ihre äußerlich sichtbare Form reduzierten Reize der Ring-Realität ersetzt in Box-Texten der Weimarer Zeit nur allzu oft die sachlich-dokumentarische, in unterschiedlichen Graden der Objektivierung vorgenommene Beschreibung; auf die Entlarvung und Entschleierung des Geschehens im Kampfquadrat als künstliches, medial vermitteltes Produkt wird weitgehend verzichtet: Der literarisierte Boxer erscheint als beispielloses Zwitterwesen aus dem Labor eines Demiurgen.
11 Roth, Joseph: „Der Kampf um die Meisterschaft“, in: Ders.: Werke. Das journalistische Werk 1924-1928. Hg. v. Klaus Westermann, Köln 1989, Bd. 2, S. 72-74, hier S. 74. 12 Kohr, Knud/Krauss, Martin: Kampftage. Die Geschichte des deutschen Berufboxens, Göttingen 2000, S. 46. 13 Vgl. Pawlowski, Dieter: „Plaudereien über Prominente – mit Prominenten“, in: Arenhövel, Alfons (Hg.): Arena der Leidenschaften. Der Berliner Sportpalast und seine Veranstaltungen 1910-1973, Berlin 1990, S. 100-105. 14 Vgl. Natonek, Hans: „Bruder Boxer“ [1927], in: Jäger, Christian/Schütz, Erhard (Hg.): Glänzender Asphalt. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik, Berlin 1994, S. 230-231, hier S. 231; vgl. auch Bathrick, David: „Max Schmeling on the Canvas: Boxing as an Icon of Weimar Culture“, in: New German Critique (Special Issue on Weimar Mass Culture), H. 51 (1991), S. 113-136, hier S. 119; vgl. auch Sicks, Kai Marcel: „‚Der Querschnitt‘ oder: Die Kunst des Sporttreibens“, in: Cowan, Michael/Sicks, Kai Marcel (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933, Bielefeld 2005, S. 33-47, hier S. 43f. 15 Berg, Günter: „‚Die Männer boxen im Salatgarten‘. Brecht und der Faustkampf“, in: Silberman, Marc (Hg.): The Other Brecht II. The Brecht Yearbook 18, Madison 1993, S. 1-24, hier S. 6.
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Verworfene Selbstentwürfe Boxen, fordert Joseph Roth in ironischer Absicht, „schreit nach einem Dichter!“16: Der Faustkampf ist Ausgangs- und Mittelpunkt zahlloser Texte (Zeitungsinterviews, Sportlerporträts, Trivia, Werbeeinschaltungen, Programmhefte) und literarischer Darstellungen; dem Sport kommt dabei, als bestimmendem Topos wie als Phantombild, die Funktion eines zentralen metaphorischen Bildspenders zu. Das aggressiv-sportive Konkurrenzverhalten wird zu einer gültigen Chiffre von Modernität synthetisiert.17 Ebenso dient Boxen als schillernde Projektionsfläche, als spezifisches Mittel der Distinktion. „Wenn die stabilen Außenhalte der Konvention wegfallen und eine Diffusion der vertrauten Abgrenzungen, Rollen, Sozialcharaktere und Fronten gefürchtet wird, antwortet die symbolische Ordnung mit einem klirrenden Schematismus, der allen Gestalten auf dem nebligen Feld des Sozialen wieder klare Konturen verleiht.“18 Den Ambiguitäten und Ambivalenzen der Weimarer Gegenwartsphysiognomie wird der boxerische Komment – der räumlich und zeitlich exakt determinierte Kampf zweier Kontrahenten in derselben Gewichtsklasse unter festgelegten Regeln und Rahmenbedingungen – gegenübergestellt: Der Krise des analytischen Geistes hält der Kampfsport radikale Vereinfachung und heroische Klischeebilder entgegen. Das Verschwinden des Individuums in der Weimarer Massengesellschaft wird mit der einzelkämpferischen Identitätskonstruktion des Boxers unter dem Vorzeichen einer „prinzipiellen Bejahung der modernen Massenkultur aufgrund ihres demokratischegalitären und systematisch geordneten Charakters“19 in paradoxer Absicht konfrontiert. Was trug zu dieser symbolischen Überlegenheit des Boxens bei? Woher rührt, neben Disziplinen wie Sechstagerennen und Fußball, die zeittypische Dominanz des Faustfechtens – abgesehen von der Tatsache, dass „alle ‚langweiligen‘ Sportarten, die keinen Wettkampfcharakter hatten“20, in der Publikumsgunst ohnehin merklich zurücktraten? Welche Erfahrungszusammenhänge sind an jenem Prozess beteiligt, der das Vorstellungsbild vom Faustkampf als do16 Roth, Joseph: „Der Boxer“, in: Ders.: Werke. Das journalistische Werk 19151923. Hg. v. Klaus Westermann, Köln 1989, Bd. 1, S. 142-144, hier S. 144. 17 Vgl. Meinhardt, Birk: Boxen in Deutschland, Hamburg 1996, S. 18; Kohr/Krauss: Kampftage (2000), S. 65. 18 Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994, S. 40f. 19 Cowan, Michael/Sicks, Kai Marcel: „Technik, Krieg und Medien. Zur Imagination von Idealkörpern in den zwanziger Jahren“, in: Dies. (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933, Bielefeld 2005, S. 13-29, hier S. 21. 20 Hermand, Jost/Trommler, Frank: Die Kultur der Weimarer Republik [1978], Frankfurt a.M. 1988, S. 75.
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Paterno: Duell im Moderne-Labor minanter Komponente „dieses physischen Jahrhunderts“21 hervorbringt? Der freie Fluss des Amüsements, das Spiel mit Schaulust und Spektakel, die Nähe zum Performativen erklären die Beliebtheit des Boxsujets, den breiten Raum, den dieser Sport in Literatur und Medien besetzt, nur zum Teil. In Anlehnung an Michel Foucault lassen sich Thesen ableiten, die zum Boxen als einem Kondensat der Moderne beitragen, verstanden als Möglichkeit, durch den Boxsport neue körperbezogene Technologien und Selbstregulierungsmechanismen zu etablieren und damit einhergehend Austragungsorte und -formen für gesellschaftliche Konfliktfelder zu erschließen. Mithilfe dieser an Foucaults Geschichte der Gouvernementalität angelehnten Prämissen soll die Figur des Boxers, gleichsam im Kreuzungspunkt der Blickführungen in einer imaginären Ringmitte positioniert, als ein von Literatur und Medien favorisierter Typus beleuchtet werden, der kontrolliert praktizierte physische Gewalt übt.
Tanz den Taylor! Fortschrittsglaube und Apokalypse, moderne Lebenswelt und Traditionalismus, Amerikanismus und Ganzheitssehnsucht, Demokratisierung und Gegenmoderne, Verunsicherung und Ordnungswut, Elitedenken und Massenkultur: Das „Gefühl der Unsicherheit, Paranoia und Verfolgungsangst“22 sickert in der Weimarer Republik tief in die Lebens- und Alltagswelt der „Republik ohne Gebrauchsanweisung“23 ein; „der Polarisierungsdruck entmischt die Figuren in die mobilen Bewohner der kalten Systemwelt und die Ansässigen der Lebenswelt, in Trennungskünstler und Beharrungswesen“24. Auf die einfachste Formel gebracht: „Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende.“25 Boxen gewinnt folglich Kontur in einer Epoche ideologischer Unentschieden- und Unsicherheit. „1914 hatte die westliche Welt 21 Hrdlicka, Alfred: „Roll over Mondrian“, in: Breicha, Otto/Fritsch, Otto/Fritsch, Gerhard (Hg.): Aufforderung zum Misstrauen. Literatur, Bildende Kunst, Musik in Österreich seit 1945, Salzburg 1967, S, 526-528, hier S. 527. 22 Kaes, Anton: Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918–1933, Stuttgart 1983, S. XL. 23 Döblin, Alfred: „Der deutsche Maskenball von Linke Poot“ [1921], in: Ders.: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Hg. v. Walter Muschg, Freiburg i.B./Olten 1972, Bd. 15, S. 10-124, hier S. 100. 24 Lethen: Verhaltenslehren (1994), S. 43. 25 Kästner, Erich: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1979 [1931], S. 47.
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Verworfene Selbstentwürfe eine Kriegspsychose erlebt. Der Krieg erschien als Erlösung von Langeweile, als Aufforderung zum Heldentum, als Heilmittel gegen Dekadenz.“26 Nach „Materialschlacht“ und Humankatastrophe gibt man sich betont kühl, lässig, sportlich; unbeteiligt der Umwelt gegenüber. Man trägt mit den Augen Georg Simmels die Blasiertheit vor sich her,27 gibt sich der „Selbstvergessenheit“28 hin und liefert sich bereitwillig den epochalen Signaturen Tempo und Rastlosigkeit aus. Vor der Folie von Diskontinuität und kalter gesellschaftlicher Umgangsform werden die klaren und konzisen Kampfregeln des Boxens und dessen zeitlich strukturierte Choreografie zu Metaphern für Direktheit und Verbindlichkeit; der Sport wird bedenkenlos mit Bedeutung besetzt und für außersportliche Zwecke in Dienst genommen. Die aus der Sportwelt, insbesondere aus dem Boxen bezogenen Bilder und Bezüge übertragen sich als „,Sinnschemata‘ auf andere Bereiche menschlicher Tätigkeit“.29 Die Feststellung, Boxen diene der Lebens- und Weltbewältigung, erstarrt zur phrasenhaften Formel. „Hier wurde, oft nur Minuten während, komprimiert, die Härte des Lebenskampfes demonstriert.“30 - „‚Kampf ums Dasein!‘, wer kennt nicht dieses Schlagwort!“31 Aus der Quelle von Demokratieverweigerung und Georges Sorels Gewaltstudien speist sich das zuschauerseitige Verlangen nach der buchstäblichen Inthronisierung des mit atavistischen Formen der Macht ausgestatteten, aus der Masse herausragenden Boxchampions; die politische Vereinnahmung des Individualkampfsports mündet in fragwürdige nationalistische Großmachtphantasien.32 Die sich nach 1918 vollziehenden Spaltungstendenzen in ein nationalistisch-konservatives und sozialistisches politisches Lager werden ebenfalls von neusachlichantagonistischer Terminologie bestimmt, geht es doch darum, „die modernen Ideale von Energie, Kraft und Leistung stets für das Bild
26 Gay, Peter: Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918 - 1933, Frankfurt a.M. 1987 [1968], S. 29. 27 Vgl. Bienert: Die eingebildete Metropole (1992), S. 123f. 28 Faktor, Emil: „Kräftespiel“ [1924], in: Jäger, Christian/Schütz, Erhard (Hg.): Glänzender Asphalt. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik, Berlin 1994, S. 227-230, hier S. 228. 29 Vgl. Becker, Franz: „Sport bei Ford: Rationalisierung und Symbolpolitik in der Weimarer Republik“, in: Stadion. Internationale Zeitschrift für Geschichte des Sports, H. XVII, 2 (1991), S. 207-229, hier S. 207. 30 Kortner, Fritz: Aller Tage Abend, München 1959, S. 399. 31 Blom: Der taumelnde Kontinent (2009), S. 388. 32 Vgl. Luckas, Manfred: „So lange du stehen kannst, wirst du kämpfen“. Die Mythen des Boxens und ihre literarische Inszenierung, Berlin 2002, S. 29.
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Paterno: Duell im Moderne-Labor vom eigenen Körper zu beanspruchen und den Gegner dementsprechend als schwach, müde, erschöpft und krank zu diffamieren“33. Das Boxen in den 20er Jahren folgt zudem einer Entscheidungslogik, die in Kontrast zum „grauen Alltag dieser Republik“ steht, deren politisches Tagesgeschäft der „parlamentarische[n] Methode des Kompromissdenkens, der Konsensbildung und des Interessensausgleich“34 folgt. Boxen soll demnach die symbolische Ordnung für die Dauer eines Ringgefechts auf den Kopf stellen; die „Erwartungshaltung in Hinblick auf einen unsicheren Ausgang“ lässt „das Boxen zu einem der faszinierendsten Zuschauersports der industriellen Epoche“35 werden. Der Ring verwandelt sich durch Bau- und Blicklogik – von jedem Punkt der Arena muss das Geschehen einsehbar sein – in ein vorgeblich demokratisiertes Repräsentationsfeld konstruktiver Konfliktaustragung. Das Agieren der Athleten im Ring wird dabei zu einem authentischen Akt hochstilisiert. Bestimmte Charakterzüge von Boxern werden in zahlreichen Texten der pugilistischen Trivialliteratur besonders hervorgehoben, bspw. Aufrichtigkeit und Widerstand gegen festgelegtes Rollenverhalten.36 Der Boxer erscheint als Garant für (kommerziell und marketingtechnisch durchorganisierte) Glaubwürdigkeit und als ein mit den semantischen Feldern „Ordnung“, „Energie“, „Klarheit“, „Durchsetzungsvermögen“ und „Messbarkeit“ verkoppelter Vermittler, als Verkörperung eines expressiven Sportmodells, das sich an den rasanten Modernisierungen im ökonomischen Bereich – Stichwort Fordismus und Taylorismus – orientiert. Das „Ideal war ein Sport, der ganz im Zeichen der Stoppuhr steht und sich daher fast als ,taylorisierter‘ Sport“37 definieren lässt. Vor allem anderen verlangt Boxen in Training und Wettkampf nach steter Körperzurichtung, nach Technologien und Techniken. Der Boxer soll sich durch Anstrengung und Ausbeutung zum „Physikalisten“ hochentwickeln: „Ein Wort, das die Menschheit auf ihre Zukunftsfahne schreiben sollte! Es lebt und atmet die Naturprominenz dieses Vorläufers, in dem der Mensch nach Jahrhunderten wieder kühn aus dem Individuellen ins Gattungsmäßige, sozusagen Zoologische, vorschreitet […]“38, zeigt sich Anton Kuh von der 33 Cowan/Sicks: „Technik, Krieg und Medien“ (2005), S. 22. 34 Kaes: Weimarer Republik (1983), S. XXI. 35 Eichberg, Henning: Leistung, Spannung, Geschwindigkeit. Sport und Tanz im gesellschaftlichen Wandel des 18./19. Jahrhunderts, Stuttgart 1978, S. 86. 36 Vgl. Haerdle: Darstellungen (2003), S. 89f. 37 Hermand: Weimarer Republik (1988), S. 78. 38 Kuh, Anton: „Wie schreibt man über einen Boxer?“, in: Ders.: Von Goethe abwärts. Aphorismen, Essays, Kleine Prosa, Bern/Hannover/Wien 1963, S. 71-73, hier S. 73.
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Verworfene Selbstentwürfe Vorstellung des effizienten, zoologisch klassifizierbaren Körpers enthusiasmiert. Der repetitive Charakter des Trainings und die wettkampfmäßige Erprobung der eingeschliffenen Verhaltensweisen sollen, als Folge des „Sichzusammennehmen“39, den Körper zum bloßen Werkzeug des Willens formen: Der Opponent in der gegenüberliegenden Ringecke soll niedergestreckt, bewusstlos geschlagen werden; der Boxer versucht, in den Mann zu gehen. Boxen stellt die zeitgenössischen, Technik, Ökonomie und Industrie betreffenden Diskurse gleichsam auf ein von Jupiterlampen grell angestrahltes Podium, indem der Sport in den Begriffen von Ökonomie und Mechanik die Körper der Faustkämpfer und die boxerischen Codes normiert und inszeniert.
Vom Wappnen Die Sprache der Neuen Sachlichkeit sei, schreibt Kurt Pinthus, dem Trend zur schneidigen Formulierung huldigend, „ohne lyrisches Fett, ohne gedankliche Schwerblütigkeit, hart, zäh, trainiert, dem Körper des Boxers“ zu vergleichen.40 In den Zeugnissen der ‚Boxliteratur‘41 lassen sich Konstanten in der literarischen Rede erkennen – Themen, Metaphern, Reizworte, Attitüden, Motive, Tonlagen, Topoi. In den Strategien der Beschreibung der Duellanten nimmt die „taylorisierte“ Darstellung der Körperbilder, die strukturelle Koppelung der Boxphysis ans Maschinenhafte, besonders breiten Raum ein. „Aber dann hatte er plötzlich ein Tempo wie ein Propeller“, veranschaulicht Brecht das Kräftepotenzial des Boxers Freddy Meinke mit Motorenmetapher und motivischer Engführung der Bildfelder Mensch und Maschine.42 Die „Brust zwei genietete Stahlplatten, die Arme hängende Kurbelstangen auf gespreizten Trägern“43, überzeichnet Paul Gurk den imaginierten Idealkörper des Faustkämpfers; das Weimarer Boxpublikum zeigt sich vom deutschen Schwergewichtsmeister Hans Breitensträter fasziniert: „ein mechanisiertes Wunder“, zum „Bewundern sachlich hingestellt.“44
39 Brecht, Bertolt: „Der Kinnhaken“, in: Ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt a.M. 1976, Bd. 11, S. 117f. 40 Vgl. Pinthus, Kurt: „Männliche Literatur“ [1929], in: Kaes: Weimarer Republik (1983), S. 328-335, hier S. 328. 41 Zur Diskussion des Begriffs vgl. Luckas: „So lange du stehen kannst“ (2002), S. 86f. 42 Vgl. Brecht: „Der Kinnhaken“ (1976), S. 117f. 43 Gurk: Berlin (1980), S. 311. 44 Zitiert nach Rase, Karin: Kunst und Sport. Der Boxsport als Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse, Frankfurt a. M. 2003, S. 118.
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Paterno: Duell im Moderne-Labor Der Protagonist aus Robert Musils Erzählung Der Riese Agoag versucht, angeregt durch „Boxnachrichten […] über Schwergewichte“45, ebenfalls den „Aufstieg zur Kraft“46, indem er seinen Körper nicht nur trainiert, sondern sich durch selbsterfundene Übungsmethoden psychophysisch zu wappnen versucht, „weil Sport ohnedies nach neuer Auffassung nicht mehr das verächtliche Talent eines Leibes, sondern ein Triumph der Moral und des Geistes ist“47. Der nach Kraftzugewinn sich verzehrende Neo-Sportler geht auf Zehenspitzen spazieren, „das An- und Auskleiden beschäftigte seinen Geist“, er verschafft sich selbst, einem mit der Praxis der Selbstzüchtigung vertrauten Boxsportler gleich, bei „jeder Bewegung die unsagbarsten Schwierigkeiten“.48 Nach absolviertem Übungsparcours, an dessen Ziel und Ende er „einer Frau Eindruck machen“49 will, „lag er in seinen eigenen Muskeln wie ein Stückchen fremdes Fleisch in den Fängen eines Raubvogels“50. Bevor der präsumtive Muskelmann allerdings „unüberwindlich stark“51 wird, nimmt seine „Seele Schaden“52 in einem Straßenkampf. In einer weiteren Verwandlungsszenerie, für die Musil märchengleiche Erzählelemente für die Darstellung nutzt, kriecht der konfuse Kraftkünstler „in den Leib eines Riesen“53, indem er seine Zeit fortan im Innenraum eines Autobusses namens „Agoag“ zubringt und sich auf diese Weise „vergeistigt“54. Musil tritt hier als singulärer Parodist neusachlicher Glaubenssätze auf: Sportlicher Automatismus und sportive Aktion befreien nicht zwingend von der Tyrannei des Logos, auch wenn der sich selbst totalisierende Sport die Hoffnung des Ichs auf schier unbegrenzte Leistungsfähigkeit und Körperkraft kurzzeitig zu wecken vermag. Das „Gerede vom ,Geist des Sports‘, von einer ,SportKultur‘ […] übertüncht in Musils Augen lediglich die faktische Ungeistigkeit der Epoche.“55
45 Musil, Robert: „Der Riese Agoag“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 7, S. 585-587, hier S. 585. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Vgl. ebd., S. 585f. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 586. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 587. 55 Rothe, Wolfgang: „Sport und Literatur in den zwanziger Jahren. Eine ideologiekritische Anmerkung“, in: Stadion. Zeitschrift für Geschichte des Sports und der Körperkultur, H. 7 (1981), S. 131-151, hier S. 148.
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Verworfene Selbstentwürfe
Körper im Kampf „Ich erklärte ihm, daß dieses nur ein Teil eines neuen Lebensgefühls, einer neuen Lebensauffassung sei, die in Deutschland nach dem Kriege siegreich vorgedrungen sei“, hält Harry Graf Kessler am 4. Juni 1930 über ein Treffen mit dem französischen Bildhauer Aristide Maillol in seinem Tagebuch fest, „man wolle wirklich leben, Licht, Sonne, Glück, seinen eigenen Körper genießen. Es sei eine nicht auf einen kleinen, exklusiven Kreis beschränkte, sondern eine Massenbewegung, die die ganze deutsche Jugend ergriffen habe.“56 An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erfahren Körpersemantik und Körperselbstbild völlig neue Akzentuierungen; auf die wilhelminische Ära der Körperfeindlichkeit und Triebunterdrückung in Permanenz folgt der Kult der Körperlichkeit. „Der Zeitgeist streckt den Bizeps.“57 Eine „Stehkragenzivilisation“58 wird von dem Ideal der elastischen bzw. kraftstrotzenden Statur herausgefordert, mit „wilden Tänzen“59 und entfesseltem, vom „Körperpanzer“60 befreitem Athletismus. „Der Körper will seine Exerzitien, sonst reagiert er mit Mißbehagen und Rückgang der Maße“61, trifft Frank Thiess in symptomatischer Totalitätsphraseologie eine Bewertung des Physischen. Die „Bewohner der zwanziger Jahre […] [waren] mehr von ihren Körpern besessen […] als irgendeine Generation vor oder nach ihnen in der westlichen Kultur.“62 Sportliche Aktivität wird als „kleine Andacht für das uns nächste Naturstück, unseren Körper“63 verklärt, denn am Seelisch-Geistigen nage der „Ausschlag links und rechts“64. Ökonomisch eingesetzte Körpertechnologie soll, so der sportliche Imperativ, die „Befreiung von einem Treibhaus des
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Kessler, Graf Harry: Tagebücher 1918-1937, Frankfurt a.M. 1979, S. 625. Roth, Joseph: „Lobgedicht auf den Sport“ (1990), S. 8. Kohtes, Michael: Boxen. Eine Faustschrift, Frankfurt a.M. 1999, S. 62. Maase, Kaspar: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M. 2007, S. 132. Ebd.; vgl. auch Cowan/Sicks: „Technik, Krieg und Medien“ (2005), S. 19. Frank Thiess: „Dichter sollten boxen“ [1926], in: Caysa, Volker (Hg.): Sport ist Mord. Texte zur Abwehr körperlicher Betätigung, Leipzig 1996, S. 1418, hier S. 16. Gumbrecht, Hans Ulrich: „Protokoll einer Rettung (Vorwort)“, in: Cowan, Michael/Sicks, Kai Marcel (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933, Bielefeld 2005, S. 9-12, hier S. 9. Meisl, Willy: „Der Sport am Scheidewege“, in: Ders. (Hg.): Der Sport am Scheidewege. Heidelberg 1928, S. 60. Gurk: Berlin (1980), S. 99.
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Paterno: Duell im Moderne-Labor ,Seelischen‘“ bewirken, mit dem Ziel der „Flucht in die kühle, klare Luft“65. Die Figur des Faustkämpfers wird in diesem Zusammenhang in ihrer Typisierung kenntlich als ein Repräsentant des Öffentlichen, als Exponent eines normativen Körperbilds, das zugleich das kollektive Erleben von Körperlichkeit mitprägt. Die scheinbar physische Idealität der Athleten eröffnet parallel dazu ein weites Feld dialektischer Momente: Die auf Höchstleistung programmierten Boxer, denen in der öffentlichen Wahrnehmung das zeitgemäß geforderte Talent zur Selbst- und Subjektkonstituierung generös zugestanden wird, opponieren auf anderer Ebene gegen die gesellschaftliche Modernisierung, indem sie in ihrem Ringverhalten in der Epoche der „Entmythologisierung“66 phantasierten vormodernen Vorbildern folgen – „moderne Mythologie als Reduktion von innovatorischer Komplexität auf archaischen Schematismus“67. Die spezifische Imagination der Körper der Ringprotagonisten als so funktionale wie nahezu unverwüstliche Präzisionsinstrumente lässt die Boxathleten nicht zuletzt als heilverkündende Idealgestalten erscheinen, die vom Status der im vorangegangenen Krieg als „Kanonenfutter“ in die Schlacht geführten Soldaten ablenken sollen: „Obwohl der Krieg deutschen Boden kaum berührt, sind noch einige Jahre nach Kriegsende körperliche Verstümmelung und Entstellung ehemaliger Soldaten sowie die Abgezehrtheit der Zivilbevölkerung im Alltag permanent präsent.“68 Der Boxring erscheint so konsequenterweise als Plattform der Möglichkeiten, es ist eine Plattform zur Neuerfindung einer im Krieg ruinierten Männlichkeit. Der Aktive übt einen durch gesellschaftliche Anerkennung respektierten Beruf aus, der soziale Aufstiegschancen, eine vergleichsweise hohe Entlohnung und regelmäßige Auftritte vor großem Publikum bereithält und die Vorstellung vom Boxen als rohes, allein triebgebundenes Aggressionsverhalten widerlegt. Dem Zuschauer in den Rängen, der mitunter „Misstrauen
65 Matzke, Frank: „Sport“, in: Ders.: Jugend bekennt: So sind wir!, Leipzig 1930, S. 144. 66 Vgl. Lethen, Helmut: „Der Habitus der Sachlichkeit in der Weimarer Republik“, in: Weyergraf, Bernhard (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Literatur der Weimarer Republik 1918-1933, München/Wien 1995, Bd. 8, S. 371-446, hier S. 419. 67 Sloterdijk, Peter: „Weltanschauungsessayistik und Zeitdiagnostik“, in: Weyergraf, Bernhard (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Literatur der Weimarer Republik 1918-1933, München/Wien 1995, Bd. 8, S. 309-339, hier S. 310. 68 Cowan, Michael/Sicks, Kai Marcel (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933, Bielefeld 2005, S. 19.
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Verworfene Selbstentwürfe dem ‚inneren Selbst‘ gegenüber“69 empfindet, offeriert der Sport Leitbilder für eine mögliche „Stilistik der Existenz“70: In dem von Seilen umspannten Repräsentationsraum werden Machtspiele, Zukunftsversprechen und Verhaltenslehren ebenso versinnbildlicht wie vermeintlich archaische Erfahrungsdimensionen, die außerhalb von Sporthalle und Sportevent zumeist abstrakt und wirklichkeitsfern bleiben. „Beim Boxen tun zwei Leute das, was sich die Mehrheit ihrer Mitmenschen im Alltag nicht zu tun traut, obwohl so mancher es tun möchte: Sie schlagen dem, der ihnen im Weg steht, einfach ins Gesicht.“71 Die Praxis der Täuschung gelangt in der Arena sanktionsfrei zur Anwendung, zur Durchsetzung des Eigeninteresses ist die boxerische Irreführung des Gegners durch Scheinattacken, Finten und territoriale Gefechtsstrategien ausdrücklich erlaubt; eine örtlich verankerte und zeitlich begrenzte Kultur des Misstrauens kann sich entfalten. Der Boxer muss sich dabei auf mehreren Operationsfeldern bewähren: Vermeintlich Archaisches mischt sich im Ring mit zeitgenössischen Verhaltenslehren und dem bereits in der Barockdichtung beliebten Verwirrspiel von Sein und Schein, Spiel und Ernst. Der Mann auf dem Boxpodium erscheint in den Augen der Zeitgenossen als Agent (kontrollierter) roher Vitalität und Virtuose der „Vortäuschungen, Umbiegungen, Unzuverlässigkeiten“72, ausgestattet mit neusachlichem Merkmalskatalog: „Der Boxer ist die Vollendung der ,kalten persona‘“73, einer Zentralgestalt des literarischen Diskurses der Weimarer Republik.74 „Die Zeiten sind unsicher! Drum lerne Boxen!!“75, illustriert zur Blütezeit der Weimarer Boxbegeisterung ein Werbeplakat die Fluchtbewegung in die Gegensphäre des Körperlichen. Elias Canetti weist in seinen Erinnerungen an das Jahr 1928 der Verkoppelung von Körper und Kampf ebenfalls positive Bedeutung zu. „Was ist eine Glanzzeit?“, fragt Canetti: „Eine Zeit vieler großer Namen, in nächster Nähe voneinander, und zwar so, daß ein Name den anderen nicht erstickt, obwohl sie einander bekämpfen. Wichtig
69 Schütz, Erhard: Romane der Weimarer Republik, München 1986, S. 73. 70 Foucault, Michel: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt a.M. 2007, S. 97. 71 Kohr/Krauss: Kampftage (2000), S. 12. 72 Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1964 [1931], S. 76. 73 Sicks: „‚Der Querschnitt‘“ (2005), S. 45. 74 Vgl. Lethen: Verhaltenslehren der Kälte (1994), S. 11ff. 75 Arenhövel, Alfons: „Die Sportschule Sportpalast“, in: Ders. (Hg.): Arena der Leidenschaften. Der Berliner Sportpalast und seine Veranstaltungen 19101973, Berlin 1990, S. 97.
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Paterno: Duell im Moderne-Labor daran ist die ständige Berührung, die Stöße, die das Glänzende sich gefallen läßt‚ ohne zu erlöschen. Ein Mangel an Empfindlichkeit, wenn es um diese Stöße geht, eine Art Verlangen nach ihnen, die Lust, sich ihnen auszusetzen.“76
Anton Kuh gelingt schließlich die Pointierung der Zustände. „,Dös Eigene muß wegtrainiert werden!‘“, lässt er einen Boxer in der Umgangssprache anschaulich äußern: „,Jeder Mann sei Watschen!‘“77
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76 Canetti, Elias: Die Fackel im Ohr, Frankfurt a.M. 1982, S. 281. 77 Kuh: „Wie schreibt man“ (1963), S. 73.
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Männer ohne Eigenschaften. Ernst Mach und Gilles Deleuze zwischen medialer Selbst-Empfindung und ‚unschlüssigem‘ Selbst-Entwurf KATHI HOFER
Männer ohne Eigenschaften Der Titel legt zunächst eine etwas irrige Fährte; sie führt eine Referenz ein, die hier nicht primär diskutiert werden soll. Der Mann ohne Eigenschaften wird nicht die Hauptfigur dieses Essays geben, sondern gewissermaßen die Perspektive auf das Thema definieren: Robert Musils literarische Figur soll, zumal als Denkfigur, die folgenden Überlegungen anführen und einige Stichworte soufflieren, um eine bestimmte ästhetisch-philosophische Figur einzuführen. Mit ‚Figur‘ meine ich zunächst einen grob umrissenen Subjektbegriff im Sinne einer vergesellschafteten Identität – einen bestimmten „Ichbautyp“, um mit Musil zu sprechen. Dieser ‚Typ‘ trägt bei Musil den Namen Ulrich, er tritt 1913 in Österreich-Ungarn auf den Plan und wird in dem Roman so vorgestellt: „Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne Mann“1. Als historisches Subjekt gehört Ulrich einer Generation an, die im Gefolge politischer, industrieller, medialer und territorialer Umwälzungen die prekäre Erfahrung völliger Beliebigkeit teilt; deren Vertreter sich selbst bloß als Summe einzelner Weltzustände erfahren, die sich ihrerseits nicht zu einem sinnvollen Ganzen verbinden lassen: „kein Ich, keine Ordnung“ 2, schreibt Musil. Die rhetorische Umstülpung vom „Mann ohne Eigenschaften“ in „Eigenschaften ohne Mann“ ist dabei gleich zweifach auffällig: Nicht 1 2
Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. I. Erstes und Zweites Buch. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978 [im Folgenden: MoE], S. 148. Ebd., S. 154. Siehe auch Vogl, Joseph: Über das Zaudern, Zürich/Berlin 2007, S. 57–75, hier v. a. S. 57–61.
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Verworfene Selbstentwürfe nur, dass die Terme dieser Relation ohne jede Vorrangigkeit völlig gleich-gültig, flach und beliebig umkehrbar zueinander stehen, sondern es ist dies gleichzeitig ein zutiefst widersprüchliches Verhältnis des gegenseitigen Ausschlusses. Wie ist ein „Mann ohne Eigenschaften“ vorstellbar? Und woran lassen sich Eigenschaften festmachen, wenn nicht am Mann (am ‚Typ‘, am Subjekt- oder Identitätsbegriff)? An anderer Stelle charakterisiert Musil seinen Protagonisten als jemanden, dessen „persönliche[n] Eigenschaften [...] mehr zueinander als zu ihm gehörten“3, der an der Kippe „zwischen Allgemeinheit und Personhaftigkeit“4 lebe; kurz: als einen „potentiellen Menschen“ – „Inbegriff seiner Möglichkeiten“5. Die Identitätskrise, die Musil an Ulrich festmacht, ist keine individuelle, sie liegt gewissermaßen ‚in der Luft‘. Der „Mann ohne Eigenschaften“, so ließe sich folgern, personifiziert v.a. ein unpersönliches ‚Man‘ ohne Eigenschaften. In dieser Unschlüssigkeit zwischen ‚gemeinem‘ Mann und allgemeinem ‚Man‘ möchte ich kurz verharren, um einen Ausblick auf den folgenden Essay zu geben: (1) Es wird mir im Folgenden um Identitätskrisen gehen, die gewissermaßen von einem ähnlichen ‚Bautyp‘ sind wie die eben beschriebene. Dabei ist der Fokus weniger ein sozialhistorischer oder politischer als ein ästhetisch-philosophischer in einem politisierbaren Sinn. Ich möchte mich v.a. auf zwei Philosophen und deren Subjektbegriffe beziehen – Ernst Mach und Gilles Deleuze –, wobei in diesem Zusammenhang weniger deren Schriften interessieren als deren Bildpraxis: Ich werde mir Handzeichnungen ansehen, in denen Mach und Deleuze die Subjektkrise buchstäblich skizziert haben. Es sind Selbstbildnisse, die seltsame perspektivische Brüche aufweisen und die in dieser gebrochenen Repräsentativität die Krise im Moment der Bildbetrachtung auf den Betrachter zurückspiegeln. (2) Die Subjektfragen, die sich im Folgenden stellen werden, sind immer geschlechtersensibel zu denken; das ostentative ‚Männer‘ im Titel drängt geradezu auf ein Gender Mainstreaming. Gleichzeitig geht die Problematisierung des selbst-identen Ich mit dem Poröswerden einer Ordnung einher, die ursprünglich eine patriarchale ist. So beziehe ich mich hier nicht auf eine unsichtbare, universale Subjektkategorie, sondern – im Sinne eines markierten ‚Untersuchungsgegenstands‘ – auf ein Syndrom krisenhafter Zustände. (3) Ich habe mit Musil nun eine historische Perspektive aufgemacht, die ich noch eine Weile beibehalten möchte, dabei allerdings 3 4 5
Ebd., S. 148. Ebd., S. 149. Ebd., S. 251.
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Hofer: Männer ohne Eigenschaften mit dem Anspruch, dass diese Sichtweise in aktuellen Debatten über Identitäts- und Repräsentationskrisen mitreden kann, etwa wie sie im Kontext der Bild- und Lebenswissenschaften gegenwärtig geführt werden. Bevor ich am Schluss des Aufsatzes auf einen Teilbereich dieser Debatten blicken werde, möchte ich den Fokus noch einmal auf jene Generation einzoomen, die dem ereignishaften Anbruch des 20. Jahrhundert beiwohnte.
Figur 1 Ich habe eingangs gefragt: Wie sieht ein „Mann ohne Eigenschaften“ aus? Der Physiker und Philosoph Ernst Mach, ein Zeitgenosse, Landsmann und Mentor6 Musils, veröffentlichte 1886 eine Zeichnung, deren Konturen sich gleichsam mit Musils erzählerisch umrissenem „Ichbautyp“ verschränken:
Abb. 1: Ernst Mach
6
Musil promovierte 1908 mit einer Dissertation über Ernst Mach.
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Verworfene Selbstentwürfe Das Bild frappiert zunächst wohl durch die eigentümliche Perspektive: Es ist die subjektive Sicht eines Einäugigen, dessen Blick durch das linke Auge am rechten Rand von hereinragenden Gesichtsteilen begrenzt und gelenkt wird: in einer Linie entlang der Augenbraue, der Nase und des Schnurrbartes, über die untere Körperhälfte in den Bildraum hinein. Hier trifft der Blick auf ein Zimmer mit Regal, einem Fenster, einer Chaiselongue, auf der, nur teilweise sichtbar, der Blickende selbst liegt. Von rechts kommt eine Hand mit Bleistift ins Bild; offenbar hat sich dieser einäugige Jemand im Moment des Betrachtens selbst betrachtet – und gezeichnet. Das Bild taucht erstmals in Machs Schrift Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis vom Physischen zum Psychischen7 (1886) auf. Darin ist es schlicht Fig. 1 betitelt und mit folgender Fußnote versehen: „Aufgabe: Die Selbstschauung ‚Ich‘ auszuführen. Auflösung: Man führt sie ohne weiteres aus“8. Die „Ausführung“ der „Selbstschauung“ – das ist in anderen Worten ein Selbstporträt. Bei diesem hier ist v.a. ein Detail auffällig: Das Gesicht des Porträtierten fehlt. Eine Irritation, die uns gleichsam vor den Kopf stößt, da wir im Bild vergeblich nach einem subjektiven Ausdruck suchen, in dem wir eine bestimmte Person erkennen oder uns selbst wiedererkennen können. Mach hat hier gegen eine Darstellungskonvention des Selbstporträts verstoßen, wonach er sein Gesicht so hätte abbilden müssen, wie er es etwa im Spiegel sieht. Stattdessen hat Mach auf Spiegel und Gesicht verzichtet und dafür sein subjektives Gesichtsfeld abgebildet, wodurch eine seltsam „umgestülpte“ Optik entsteht. So wurde Machs Darstellung bisweilen als „inverses Selbstbildnis“9 oder als „Selbstportrait ohne Spiegel“10 bezeichnet. Durch die „Umstülpung“ oder „Entspiegelung“ ergeben sich nun zwei mögliche Sichtweisen im und auf das Bild: Die eine besteht in einem ‚objektiven‘ Ausblick auf ein Zimmer von einem subjektiven Standpunkt aus; in einer zweiten erscheint dieser Ausblick als Einblick ins Innere des Selbst – als Introspektion. So gesehen formen Braue und Nase gleichsam den ‚Rahmen‘ dessen, was hier abgebil7
Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis vom Physischen zum Psychischen, Jena 1922 [1886]. 8 Ebd., S. 16. 9 Sommer, Manfred: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung, Frankfurt a.M. 1996, S. 21. 10 „[E]in Ohnekopf, ein Décapité ist der angeschaute Mensch vor sich selbst. [Machs] kopflose Zeichnung des Zeichnenden ist ein Novum in der Geschichte des Selbstportraits. [...] Nicht einmal ein surrealistischer Maler ist auf diese Entspiegelung [...] gekommen.“ (Bloch, Ernst: „Selbstportrait ohne Spiegel“, in: Ders.: Verfremdungen I, Frankfurt a.M. 1962, S. 14.
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Hofer: Männer ohne Eigenschaften det ist: eine subjektive Perspektive, ein verkörperter Blick, eine momentane Wahrnehmung vom Zimmer. Derart entwickelt sich im Bild ein Vexierspiel, von dem auch wir Betrachter immersiv erfasst werden: Die Point-of-view-Perspektive zwingt uns unweigerlich, uns an die Stelle der „zeichnend gezeichneten Figur“11 zu setzen; als Bildbetrachter werden wir selbst zu Selbstschauern. Wir erfahren uns – mit Mach – gleichzeitig als Subjekte und Objekte der eigenen Wahrnehmung und somit als Gespaltene. Ernst Mach inszeniert diese ‚Ich-Spaltung‘ ganz ohne Ressentiment. In seiner Analyse der Empfindungen wie in begleitenden Kommentaren argumentiert er, dass sich Subjektivität – genauso wie objektive Weltinhalte – in elementare Teilchen zerlegen ließe, die „weder physisch noch psychisch, sondern neutral, indifferent“12 seien und die Mach „Empfindungen“ nennt. Für ihn gibt es keinen Grund, ein ‚Ich‘ vorrangig zu setzen, das zwischen sich und der Welt unterscheiden und zu ihr bestimmte Haltungen beziehen könnte; viel eher sei die Unterscheidung zwischen Ich und Welt selbst eine Frage der Positionierung. „Physisch oder psychisch“, schreibt Mach, „werden [Empfindungen] erst durch die besondere Art der Abhängigkeit, die wir in Betracht ziehen“13. Ich und Welt, Subjektivität und Objektivität sind aus dieser Sicht lediglich unterschiedliche Zusammensetzungen desselben sensiblen Materials, verschiedene Aggregatszustände und ‚Aufteilungen‘ des Sinnlichen. Dementsprechend lautet auch Robert Musils Auslegung der Mach’schen Empfindungslehre: „[Die] vermeintliche Doppelstellung zwischen Physischem und Psychischem beruht nur auf einem Wechsel und einer Verwechslung der Perspektive.“14 Bedeutsam an Machs Figur 1 ist in diesem Zusammenhang zum einen, dass Mach die Problematisierung von Identität als bloßes Konstrukt, das sich in repräsentativen Formkonventionen nicht nur widerspiegelt, sondern überhaupt darin konstituiert, im Bruch mit diesen Formkonventionen – jener der Spiegelbildlichkeit wie der Figur-Grund-Trennung im Porträt – verbildlicht; und zweitens, dass Mach, indem er sich selbst als unreflektierte, unbegründete Figur zeichnet, den ‚Selbstverlust‘ in der ‚Selbstschauung‘ gleichsam auf
11 Clausberg, Karl: Neuronale Kunstgeschichte. Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip, Wien/New York 1999, S. 13. 12 Blackmore, John/Hentsche, Klaus (Hg.): Ernst Mach als Außenseiter. Machs Briefwechsel über Philosophie und Relativitätstheorie mit Persönlichkeiten seiner Zeit, Wien 1985, S. 47f. 13 Ebd. 14 Musil, Robert: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs. InauguralDissertation an der Friedrich-Wilhelms-Universität, Berlin 1908, S. 112. [Herv. K.H.]
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Verworfene Selbstentwürfe sich selbst abbildet un nd somit nicht nur illustriert, sondern pe erformativ ausagiert. ende Funktion ist derweil bildlich-media al geDie identitätsstifte worden: In der einäug gigen Sicht, das ist ein optisches Gesetz,, verflacht der Bildraum;15 Form und Fond, Nah- und Fernsicht fallen f zur Fläche zusamme en; aktives Schauen und passives AngeA schautwerden sind blloß unterschiedliche Konzentrationen de esselben Prozesses. Machs optischer Einfall der Einäugigkeit setzt letztd auf die Bildoberfläche: als Schnitts stelle, lich die ‚Empfindung‘ direkt Medium, an dem Subjjektivität und Objektivität – je nach Betrrachtung – ineinander umspringen können. Im Vexierbild der etisch ‚Selbstschauung‘ wird Machs Empfindungstheorie somit ästhe wahrnehmbar und sin nnlich aktiv.
Vex xierbilder, Affektbilder es ohne Eigenschaften“ irritierte zunächs st vor Die Figur des „Manne allem durch deren rhe etorische ‚Umstülpung‘ in „Eigenschaften ohne Mann“. – Wie kann so etwas aussehen? Mit einem zeitlichen Sp prung von gut 100 Jahren, ans Ende des 20. Jahrhunderts, möchte ich vorschlagen, etwa so:
Abb. 2: Gilles Deleuze
15 Vgl. Mach, Ernst: „Wo ozu hat der Mensch zwei Augen?“, in: Ders.: Populärwissenschaftliche Vorlesungen, Wien/Köln/Graz 1987 [1896], S. 78–99 9.
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Hofer: Männer ohne Eigenschaften Die Zeichnung stammt von Gilles Deleuze und wurde 1994 unter dem Titel Chambre de Malade – ‚Krankenzimmer‘ – in der Zeitschrift Chimères veröffentlicht. In der eigentümlichen Perspektive wie auch im Sujet ist das Bild Machs ‚inversem Selbstbildnis‘ ziemlich ähnlich: Es zeigt ein Zimmer mit beliebigem Interieur – einem Stuhl, zwei Tischen, Heizkörper, Wandleuchter, Vase und Wasserkrug. Rechts an der Wand ein geöffnetes Fenster. Im Vordergrund ragt ein Bett ins Bild, das einige Gebrauchsspuren aufweist: In knappen Linien sind Ausbeulungen, zerknüllte Stellen an Decke oder Laken angeführt, die, vexierbildartig, die Konturen eines Körpers hervortreten lassen – ein von rechts hereinragender Arm sowie angewinkelte Knie scheinen sich vom Bettlaken abzuzeichnen und dabei gleichsam in dieses ‚eingewoben‘. Alles in allem wirkt Deleuze’ Zeichnung noch einen Tick anonymer als jene Machs: Hier hat jemand offenbar nicht nur sein Gesicht ‚verloren‘, sondern ist gänzlich aus der Darstellung verschwunden bzw. im Bild lediglich als materielle Spur sichtbar. Der Clou unterdessen ist – genau wie bei Mach –, dass sich die Blickrichtung beliebig umkehren, das Bild sowohl als Ausblick auf den Umraum (des Zimmers) wie auch als Einblick in eine Innenwelt (der Gedanken) lesen lässt. Betrachtet man es nämlich, wie Henning Schmidgen in einem Essay über „die philosophische Konzeptkunst von Gilles Deleuze“ vorschlägt, als eine Art „Bild des Denkens“16, dessen Elemente nicht faktische Bestandteile eines Zimmers abbilden, sondern Bedeutungen und Beziehungen innerhalb des eigenen Denkens sichtbar machen, dann stellt uns diese Lesart frei, neben dem objektiven einen radikal subjektiven Standpunkt zu wählen: Während das Subjekt von jenem aus gesehen zum beliebigen Teilelement des Zimmers zerdröselt – zur Ausbeulung im Bettzeug etwa –, so verschmilzt das
16 Konkret bezeichnet Schmidgen die Zeichnung als ein „neues Bild des Denkens“ in Abgrenzung vom „Bild des Denkens“ des frühen Deleuze. (Vgl. Schmidgen, Henning: „Begriffszeichnungen. Über die philosophische Konzeptkunst von Gilles Deleuze“, in: Gente, Peter/Weibel, Peter (Hg.): Deleuze und die Künste, Frankfurt a.M. 2007, S. 26–53, hier S. 32 u. S. 53.) An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Bildbegriff bei Deleuze durchweg ambivalent ist: Während dieser Bilder zunächst als Vorurteile, Klischees und verallgemeinernde Repräsentationen verwirft und für ein „bildloses“ (ein voraussetzungsloses) Denken plädiert, wird er sich in späteren Schriften einer ästhetisch-philosophischen Bildpraxis verschreiben, etwa in den beiden Kino-Büchern (1983/1985) oder in Logik der Sensation (1984), seinem ‚Close reading‘ der Malerei Francis Bacons. Zum „Bild des Denkens“ vgl. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München 1992 [1969], S. 169–215.
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Verworfene Selbstentwürfe Rauminventar aus solipsistischer Sicht mit der subjektiven Wahrnehmung oder Kognition. Eingespannt in diese Wendeperspektive bemerkt Schmidgen, wie im Bild „das Fenster [...] zum geöffneten Auge wird – und zugleich zur Nase, zum Mund, zur Lunge des Körperzimmers, des Zimmerkörpers.“17 Deleuze würde sagen: Das Zimmer hat „‚ein Gesicht bekommen‘ (visagéifiée), und nun starrt [es] uns an (dévisage)“18. Ich möchte noch einen dritten Standpunkt vorschlagen, von dem aus das Vexierbild des Krankenzimmers als ein Deleuze’sches „Affektbild“ sichtbar wird. Betrachtet man nämlich den Kippmoment des Vexierspiels in einer zeitlichen Perspektive, so lässt es sich zum „Intervall“ im Sinne Deleuze’ zuspitzen: Das „Intervall“ markiert bei Deleuze einen kurzen Moment der Unschlüssigkeit in der filmischen Logik der Bewegungs-Bilder, nach der bestimmte Aktionen unmittelbar auf bestimmte Wahrnehmungen folgen. Passivität und Aktivität wechseln einander in einem Takt ab, der die Körper und Bilder vereinheitlicht und ihre Interaktionen in routinierte Bahnen lenkt.19 Das „Intervall“ markiert nun eine Unterbrechung in diesem sensomotorischen Fluss: einen Moment der Irritation, aber auch der Potenzialität, denn die Unterbrechung ermöglicht es, innezuhalten, die Verlaufs- oder Blickrichtung umzukehren, den Standpunkt zu wechseln. Für Deleuze ist dieser Moment, kurz bevor sich ein Subjekt für einen Gesichtspunkt entscheidet und dadurch selbst definiert, mit dem „Affekt“ besetzt; er zeigt sich im „Affektbild“ in der Art, wie das Subjekt seine Unbestimmtheit und Entscheidungsfreiheit wahrnimmt: als Krise und als Chance. Das Sujet des Krankenzimmers hat in dieser Hinsicht metaphorische Qualitäten als Zone des Aufschubs der Alltagsroutine, als Destination eines „Urlaubs vom Leben“20.
Das Figur-Grund-Problem Es wurde einleitend der Anspruch formuliert, über den Rahmen einzelner Bildbetrachtungen hinaus und von historischen Sichtweisen her auf gegenwärtige Debatten an den Schnittflächen von Medien-, Bild- und Lebenswissenschaften zu blicken. Die Metapher des ‚Vexierbildes‘ soll schließlich erlauben, von der exemplarisch interpretativen zur allgemein diskursiven Ebene und, auch in zeitlichen
17 Ebd. S. 31. 18 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M. 1997 [1983], S. 124. 19 Vgl. ebd., S. 91–97. 20 MoE, S. 256.
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Hofer: Männer ohne Eigenschaften Sprüngen, von bild- zu biopolitischen Gesichtspunkten zu wechseln. Derartige Perspektivwechsel gehören etwa auch zum Repertoire des Kunsthistorikers und Bildwissenschaftlers Tom Holert, der in seinem Buch Regieren im Bildraum (2008) beschreibt, wie Bilder gegenwärtig (und allgegenwärtig) den Lebensraum bevölkern, kolonisieren – und regieren. In der völligen Durchdringung von Bildern und Körpern, wie sie heute mittels digitaler Immersionsmedien realisiert ist, sieht Holert eine moderne Utopie verwirklicht, die Walter Benjamin mit politischer Emphase in den „Bildraum“ des frühen Kinos projizierte: einen Erfahrungsraum, „‚in welchem der politische Materialismus und die physische Kreatur‘ die Reste der Psychologie des bürgerlichen Subjekts untereinander aufteilen“21. Diese kulturgeschichtliche Perspektive setzt Holert in Relation zu jüngeren Formen der (Bild-)Kulturtheorie, die angesichts des Zerfalls jeglicher ‚objektiver‘ Subjektivität in „eine zufällige und doch weitreichende Auswahl von Empfindungen, Affizierbarkeiten und Irritationen“22 durch neueste Visualisierungstechnologien zwischen harscher Kritik und unbedingter Affirmation schwanken. Unter den Fürsprechern einer Entdifferenzierung von Subjekt und seiner Repräsentation hört Holert einen gewissen Deleuzianismus anklingen, der in der Krise des Selbst, wie sie gegenwärtig nicht nur in Bildern dar-, sondern durch diese hergestellt wird, lediglich die ursprüngliche Kontingenz subjektförmiger Identität manifest werden sieht. In derartige Debatten, die die Identitätskrise v.a. als ‚Figur-GrundProblem‘ verhandeln, sollen sich noch einmal exemplarische Bilder einschalten. Sie stammen aus der jüngeren Filmgeschichte; durch sie hindurch sollen die Selbst-Entwürfe Machs und Deleuze’ rekapituliert und abschließend um eine bio- und genderpolitische Pointe zugespitzt werden.
21 Holert, Tom: Regieren im Bildraum, Berlin 2008, S. 18. Holert entlehnt den Begriff des „Bildraums“ von Walter Benjamin und zitiert aus Walter Benjamin: „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“ [1928], in: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. 2, Frankfurt a.M. 1977, S. 295–310, hier S. 309. 22 „[A]esthetic attention finds itself transferred to the life of perception as such abandoning the former objekt that organized it and returning into subjectivity, where it seems to offer a random and yet wide-ranging sampling of sensations, affectabilities and irritations [...]“ (Jameson, Fredric: The Cultural Turn. Selected Writings on the Postmodern, 1983–1998, London/New York 1998, S. 112.). Zit. nach der Übersetzung Tom Holerts, in Holert: Regieren im Bildraum (2008), S. 19.
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Verworfene Selbstentwürfe Es sind Bilder aus Ju ulian Schnabels Film Schmetterling und Taucherglocke (Le Scapha andre et le Papillon, F/USA 2007), der VerfilV mung der gleichnamig gen Autobiografie von Jean-Dominique Ba auby, seinerseits Chefredaktteur des französischen Hochglanzmagazin ns Elle – bis er mit 43 Jahren einen Schlaganfall erlitt und von da an n mit Locked-in-Syndrom“ lebt, das heißt in einem e einem sogenannten „L Zustand geistiger Klarrheit, dabei ganzkörpergelähmt und stu umm. Einzig durch sein link kes Auge kann Bauby sehen und mit derr Außenwelt in Kontakt trreten. Im Krankenhaus lernt er, sich durch d Blinzeln zu verständig gen, indem er einmal für „Ja“, zweima al für „Nein“ zwinkert und einzelne e Wörter durch Blinzeln buchstab biert. Auf diese Weise schreiibt Bauby seine Memoiren, die Schnabels Film erzählt. g sind hinlänglich bekannt: Wir haben n ein Figur und Setting Krankenzimmer und darin d einen Mann ohne Gesicht, dessen AnweA senheit lediglich als Sehstörung S ins Bild kommt. Das Blinzeln n verbildlicht hier eine in ih hren sensorischen und motorischen Fähiigkeiten maximal gestörte Subjektivität, und es versinnlicht gleichzzeitig k des als Deleuze’sches ‚Inttervall‘ die mediale Reiz-Reaktions-Logik Films. Die ‚Eigenschafften‘ und ‚Empfindungen‘, die das krisenhafte Subjekt ‚verloren‘ hat, sind gleichsam in den Film gewandertt: Sie teilen sich als ‚Affektbilder‘ – in Bildstörungen, Unschärferelatiionen n – mit. und Schockmomenten An einer Stelle de es Films bekommt Bauby Besuch von seiner Physio- und seiner Logotherapeutin, L ein traumhaft-ohnmäch htiges Erlebnis: Bauby, der als a Redakteur und heimlicher Frauenheld d v.a. den unsichtbaren Sta andpunkt des Voyeurs kennt, dem die ungeu trübte Sicht auf weibliche Körper jederzeit zur Verfügung steht, wird nun selbst von seinen Therapeutinnen beäugt, ist ihren Bliicken und Berührungen willlfährig ausgeliefert. Er weigert sich, sein Blick zoomt auf ein Dekolletté, doch sofort schwenkt der Fokus wiede er auf ihn zurück. Baubys Selbst-Empfinden S als Subjekt und Objek kt der gegenseitigen Bescha au ist filmisch-medial in sensomotoris schen Aussetzern inszeniert.
Abb. 3: Julian Schnabel, Le Scaphandre et le Papillon 144
Hofer: Männer ohne Eigenschaften Die Sequenz zeigt, wie im und durch das einäugige Blinzeln gleichsam auf subkutane Weise Perspektivwechsel stattfinden. Mit Blick auf diese Filmbilder wird plötzlich eine ungeahnte Allianz sichtbar: In der verkörperten und daher begrenzten Perspektive trifft der ‚unreflektierte‘, „unscharfe Typus Mensch“23 auf ein emphatisch feministisches Selbstbild, das, wie die Biologin und Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway schreibt, die „historische Kontingenz aller [...] Wissenssubjekte in Rechnung stelle[...]“ und dessen Grundlage „Aufspaltung, nicht Sein“24 sei. In ihrem Aufsatz Situiertes Wissen (1995) entwickelt Haraway eine „Standpunkttheorie“, die das ‚Problem‘ der Subjektivität in ihrer vorausgesetzten, dabei falsch verstandenen Objektivität begreift: Die Problematik gründe auf der Annahme eines gleichwohl universellen wie unsichtbaren subjektiven Blicks, der, unter Ausblendung seiner Verkörperung und Partikularität, als objektiv erscheine. Stabilisiert werde diese ‚objektive Subjektivität‘ in ihrer Oppositionsstellung zur Welt und deren Objekten; eine Distanz, die durch das visuelle System der (binokularen) Optik gewährleistet sei. Der Feministin allerdings fehlt diese Distanz – genau wie dem Einäugigen: In der partialen, weil monokularen Sicht, so lautete die Lektion Ernst Machs, fällt die blickende Figur mit ihrem Blickfeld zur Fläche (des Bildraums) zusammen; in der einäugigen ‚Selbstschauung‘ verschmilzt das Subjekt mit seiner Repräsentation; es wird sich dabei nicht nur seiner selbst bewusst, sondern ferner seiner eigenen Begrenzt- und Vermitteltheit.25 So gesehen erschaut die Einäugige letztendlich mehr: Feministischer Erkenntnistheorie, so Haraway, gehe es um „das multiple [...] Subjekt [...] mit (mindestens) doppelter Vision“26. Das Subjekt ‚vervielfältige‘ sich in der Pluralität und Beweglichkeit seiner Stand-
23 MoE, S. 249. 24 Haraway, Donna: „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, in: Dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M. 1995, S. 73–97, hier S. 78 u. S. 86. 25 Über die Überheblichkeit objektiv subjektiver Optik mokierte sich Mach bereits in seiner scheinbar lapidaren, zum Vortrag aufgebauschten Frage nach dem Grund der Binokularität des Menschen – und in seiner augenzwinkernden Antwort darauf: „Damit [der Mensch] sich die Natur recht genau ansehe, damit er begreifen lerne, dass er selbst mit seinen richtigen und unrichtigen Ansichten, mit seiner haute politique bloß ein vergängliches Stück Naturerscheinung, dass er, mit Mephisto zu sprechen, ein Teil des Teils sei, und dass es gänzlich unbegründet, ‚wenn sich der Mensch, die kleine Narrenwelt/Gewöhnlich für ein Ganzes hält’.“ (Mach: „Warum hat der Mensch zwei Augen?“ (1987), S. 99.) 26 Ebd., S. 88.
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Verworfene Selbstentwürfe punkte; seine unmittelbare Sicht verdopple sich um die Einsicht in die Generativität von Medien, von Visualisierungs- und Wahrnehmungstechnologien, durch die Subjektivierungen erst erfolgen. Diese Position kann eine ästhetisch-epistemologische oder eine politisch-ethische Ausrichtung haben: In der ersten bedeutet sie die Bereitschaft zur Öffnung auf unvorhergesehene Blickwinkel; in der zweiten zielt sie auf nicht vorgesehene Solidarität: auf ein subjektives Interesse am objektivierenden Blick des Du. Eine ähnliche ‚Ethik des Selbstverlusts‘ hat die Filmphänomenologin Vivian Sobchack im Auge, und auch sie entwickelt ihre Haltung aus einer ‚Ästhetik der kippenden Perspektive‘. Sobchack sieht in der Fähigkeit, sich selbst nicht nur als „objektives Subjekt“ zu reflektieren, sondern auch als „subjektives Objekt“ zu empfinden, die Basis für verantwortliches Erkennen und Handeln.27 Als „subjektive Objektivität“ bezeichnet Sobchack eine spezifische Erfahrung, wie sie etwa unter dem Eindruck äußerer Gewalteinwirkung – durch Naturkatastrophen, Krankheit oder Krieg – entsteht und in der die subjektive Überwältigung in die Einsicht in die eigene Objekthaftigkeit gegenüber äußeren Zwängen und anderen Subjekten münden kann. Im Umschlag zwischen beiden Sichtweisen liege nun die Möglichkeit, aus der zunächst degradierenden Erfahrung bloßer Reaktionsfähigkeit („response-ability“) die Fähigkeit zu Verantwortlichkeit („responsibility“) zu entwickeln. Und auch hierin liegt eine epistemologische wie eine politisch-ethische Pointe: Die Erkenntnis, selbst Objekt für andere zu sein, verbindet sich mit der Anerkennung der Subjektivität dieser Anderen; sie erfordert sowohl Vorsicht wie Fürsorge („caring“) gegenüber den Anderen (Subjekten, Gegenständen und Konfigurationen), die wir in unkritischen Situationen habituell objektivieren.28 Sobchack hatte in ihren Betrachtungen weder Schnabels filmische Krankenhausszenen im Blick noch Deleuze’ Vexierbild des ‚Krankenzimmers‘/‚Zimmerkranken‘; umso mehr ist die Ähnlichkeit ihrer Bezüge beachtlich. Ein Vorbild für ihre Ausführungen ist The Furniture Philosopher – Ed Weinberger mit bürgerlichem Namen; ein Sohn österreichisch-ungarischer Emigranten in New York, ein Parvenü als Risikokapitalist der 1980er Generation, der eines Morgens plötzlich jede motorische Kontrolle über seinen Körper verliert: Parkinson. Ein Zeitschriftenporträt im New Yorker erzählt die Biografie dieses Mannes, dessen Problem nicht so sehr die Gefangenschaft im eigenen Körper ist, sondern eine völlige Selbstentäußerung an die
27 Vgl. Sobchack, Vivian: „The Passion of the Material. Toward a Phenomenology of Interobjectivity“, in: Dies.: Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture, Berkeley/Los Angeles/London 2004, S. 286–318. 28 Vgl. ebd., S. 288.
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Hofer: Männer ohne Eigenschaften Umwelt.29 Unfähig zum Selbstbezug beginnt Weinberger, auf Dinge außerhalb seiner selbst zu fokussieren: als Möbeldesigner. Er entwirft Konstruktionen gemäß seines eigenen ‚Ichbautyps‘ – Stühle mit unmöglicher Statik; Tische, die sich in ihrer horizontalen und vertikalen Ausrichtung widerstreben – nicht, um sich in den anthropomorphen Formen widerzuspiegeln, sondern weil er sich selbst als Möbel empfindet und, umgekehrt, die Möbel als seinesgleichen: Subjekte, Individuen. Das Porträt Ed Weinbergers beschreibt den Haltungsunterschied zwischen passiver Hinnahme (der eigenen Verdinglichung) und aktiver Hingabe (an das Dinghafte), ein Kippmoment, das laut Sobchack ästhetisch bedingt ist: Es ist ein unmittelbar sinnliches Verständnis („sense-ability“) von der Verkörperung und perspektivischen Verkürzung einer jeden Wahrnehmung und Handlung („sensibility“).30 Diese ethische ‚Verantwortlichkeit‘ und ästhetische ‚Sensibilität‘ vereint Sobchack schließlich in einem epistemologischen wie politischen Programm, das sie in Abgrenzung von den selbstherrlichen Konzepten von ‚Subjektivität‘ und ‚Intersubjektivität‘ „Interobjektivität“ nennt und worin sie eine Erweiterung des materiellen Selbst ins sensible Weltmaterial sieht.
Gruppenporträt im Bildraum Eine rückblickende Bilanz der vorangegangenen (Bild-)Betrachtungen muss notgedrungen enttäuschen – zumal das narzisstische Wissenssubjekt. In den ‚gesichtslosen‘ (Selbst-)Porträts spiegelt sich, auch retrospektiv, v.a. Unschlüssigkeit darüber, wie die gegenwärtig ausgerufene Identitäts–als–Repräsentationskrise letztendlich zu bewerten sei; im Gruppenporträt der ‚Eigenschaftslosen‘ und ‚Objektiven‘ erscheint der Identitätsbegriff allenfalls verzerrt: wie „‚eine seltsame Spiegelung‘, in der ‚das Leben, wie es ist, in allem gebrochen erscheint durch ein Leben, wie es sein könnte‘“31, um noch einmal mit Musil zu sprechen. Deutlich wurde indes, dass Bildproduktion und -betrachtung politisch-utopische Praktiken sind, die das Potenzial haben, identitätsbasierte Politiken zu demontieren. Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen die medienkritischen Gegenwartsdiagnosen, wie etwa die 29 „I collapse in on myself, am lost to the world, but then the drugs – everything in parkinsonism being paradox and contradiction – have this tendency to blow me outward, pell-mell, infinite scatter, inability to focus at all, complete loss of sense of self.“ (Weschler, Lawrence: „The Furniture Philosopher“, in: The New Yorker, 8. November, 1999, S. 66–79, hier S. 68.) 30 Vgl. Sobchack: „The Passion of the Material“ (2004), S. 290. 31 Zit. nach Vogl, Joseph: Über das Zaudern (2007), S. 73.
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Verworfene Selbstentwürfe oben zitierte Fredric Jamesons, neben Machs ‚Selbstschauung‘ von 1886 in einem geradezu konservativen Licht: Während jene den Verlust ‚objektiver‘, d.h. distanz- und daher kritikfähiger Subjektivität vor dem Hintergrund der medialen Globalisierung und der digitalen Reproduzierbarkeit von Bildinformation beklagen und diese Schwunderfahrung der Übermacht der Bilder zuschreiben, inszenierte sich dieser in heiterer Distanzlosigkeit in und durch die Selbst-Abbildung. Um nicht in der kritischen Pose zu erstarren, braucht es utopische Perspektiven; fassen wir diese im Rückbezug auf Musils Figur des Möglichkeitsmenschen abschließend zusammen: Was bei Haraway „situiertes Wissen“ heißt, ist bei Musil in etwa der „Essayismus“. Ihm huldigt der Mann ohne Eigenschaften – nicht im Sinne einer subjektiven Praxis des ‚Versuchs‘, der immer noch auf allgemeine Beglaubigung harrt, sondern tatsächlich als einer Utopie. Als „Essay“ bezeichnet Ulrich/Musil einen „selbstgewissen Augenblick“, ein „ganz Begreifen“ im Ergriffensein, eine „grenzenlose Rührung“, die „untätig bewegt“ und die jeder Ausführung oder Formung widersteht.32 In diesem Augenblick erkennt sich der ‚potenzielle Mensch‘ als Abbild seiner realen Existenzbedingungen, und er anerkennt, dass sein Wille immer nur so ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ sein kann wie der „Bewusstseinszustand der Welt“33. Bleibend an diesem Eindruck ist eine Geisteshaltung, die potenziell in zwei Richtungen ausschlägt: In ihr steckt ebenso die zahme Bereitschaft, sich „der Beweglichkeit der Tatsachen [anzuschmiegen]“34 – denn alles andere wäre Anmaßung –, wie die „Möglichkeit eines motivierten Lebens am Leitfaden induktiver Gesinnung“35, die je nach Perspektive sowie situativ Momente der Verantwortlichkeit und Entschiedenheit wahrnimmt. In Machs und Deleuze’ Selbstinszenierungen wird diese ‚Ethik des Essayismus‘36 ästhetisch wirksam. In der vexierbildhaften Unschlüssigkeit dieser Entwürfe insistiert - als Antwort auf Jameson die Frage, ob objektiv subjektive Kritikfähigkeit in der globalen Bildherrschaft Formen des Einspruchs entwickeln kann, oder ob sich in ihr die Herrschaftsform nicht einfach 'einstülpt', verinnerlicht. Mit Haraway betrachtet, wurde in diesen Selbstbildnissen offensichtlich, dass diese ‚objektive Subjektivität‘ immer schon optisch konstruiert und perspektivisch verkürzt ist. Deren Umstülpung in ‚subjektive Objektivität‘, das zeigte schließlich ein einfacher Perspektivwechsel, vermag indes einen ethischen und politischen 32 33 34 35 36
Vgl. MoE, S. 255. Ebd., S. 251. Ebd., S. 252. Vogl: Über das Zaudern (2007), S. 67. Vgl. MoE, S. 250–257.
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Hofer: Männer ohne Eigenschaften Handlungsraum zu eröffnen, der seinerseits Formen des Weltbezugs Platz macht, die nicht auf Entdeckung und Aneignung basieren, sondern auf Empfindung und Austausch. Im ‚Bildraum‘ begegnen sich schließlich Subjekte, Objekte und deren Repräsentationen auf gleicher Ebene, um den Identitätsbegriff auseinanderzunehmen; im – manchmal melodramatisch, manchmal slapstickhaft – inszenierten ‚Gesichtsverlust‘ erfährt die Krise eine Wendung, die frei von Ressentiments ist, dabei von einer ästhetisch-politischen Sensibilität.
Literatur Blackmore, John/Hentsche, Klaus (Hg.): Ernst Mach als Außenseiter. Machs Briefwechsel über Philosophie und Relativitätstheorie mit Persönlichkeiten seiner Zeit, Wien 1985. Bloch, Ernst: Verfremdungen I, Frankfurt a.M. 1962. Clausberg, Karl: Neuronale Kunstgeschichte. Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip, Wien/New York 1999. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M. 1997. —: Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 169–215. Haraway, Donna: „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, in: Dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Hg. u. eingeleitet v. Carmen Hammer u. Immanuel Stieß, Frankfurt a.M. 1995, S. 73–97. Holert, Tom: Regieren im Bildraum, Berlin 2008. Jameson, Fredric: The Cultural Turn. Selected Writings on the Postmodern, 1983–1998, London/New York 1998. Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis vom Physischen zum Psychischen, Jena 1922. —: „Wozu hat der Mensch zwei Augen?“, in: Ders.: Populärwissenschaftliche Vorlesungen, Wien/Köln/Graz 1987. S. 7899. Musil, Robert: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs. Inaugural-Dissertation an der Friedrich-Wilhelms-Universität, Berlin 1908. —: Der Mann ohne Eigenschaften. I. Erstes und Zweites Buch. Hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978. Schmidgen, Henning: „Begriffszeichnungen. Über die philosophische Konzeptkunst von Gilles Deleuze“, in: Gente, Peter/Weibel, Peter (Hg.): Deleuze und die Künste, Frankfurt a.M. 2007, S. 26–53. Sobchack, Vivian: „The Passion of the Material. Toward a Phenomenology of Interobjectivity“, in: Dies.: Carnal Thoughts. Embodi-
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Verworfene Selbstentwürfe ment and Moving Image Culture, Berkeley/Los Angeles/London 2004, S. 286–318. Sommer, Manfred: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung, Frankfurt a.M. 1996. Vogl, Joseph: Über das Zaudern, Zürich/Berlin 2007. Weschler, Lawrence: „The Furniture Philosopher“, in: The New Yorker, 8. November, 1999, S. 66–79.
Abbildungsnachweise Abb. 1 : Ernst Mach, Fig. 1, Holzstich, in: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis vom Physischen zum Psychischen, Jena 1886, S. 15. Abb. 2 : Gilles Deleuze, Chambre de Malade, Zeichnung, in: Peter Gente und Peter Weibel (Hg.), Deleuze und die Künste, Frankfurt a. M. 2007, S. 27. Abb. 3 : Julian Schnabel, Le Scaphandre et le Papillon, F/USA 2007, Filmstills.
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„[…] denn das Sichopfernkönnen beweist das Sich-Haben“. Zum paradoxen Freiheitsentwurf bei Schiller, Foucault und in der selbstverletzenden Body Art ROSEMARIE BRUCHER
„Aber man muss es sich auferlegen, nicht auferlegen lassen. Nicht einmal vom Tode. Dass wir womöglich ein Übel selbst wählen, ist die einzige Verteidigung gegen dieses Übel […]. Im Vorteil sind die Menschen, die ihrer Anlage nach zu leiden wissen in ungestümer und totalitärer Art: So entwaffnet man das Leiden […].“1
In der Tagebucheintragung Paveses aus dem Jahr 1938 spiegeln sich wesentliche Elemente des abendländischen Freiheitsentwurfes wider. Bereits der erste Satz etabliert ein handelndes Subjekt, das aktiv über sich selbst verfügt, das auferlegt und sich nicht auferlegen lässt. Ein Subjekt also, welches so weit über seine Kreatürlichkeit erhaben sein muss, dass ihm nicht einmal der Tod gebieten kann. Und doch ist sich Pavese der defensiven Endlichkeit des Menschen nur allzu bewusst. So hofft er nicht auf die Möglichkeit, leidvolle Übel oder gar den Tod tatsächlich von sich abzuwenden. Die von ihm suggerierte Souveränität besteht vielmehr darin, sich aktiv dem Leid zu stellen, es sogar in totalitärer Art zu suchen. Das „man“ des ersten Satzes kann sich folglich nur dann als frei erfahren, wenn es in sich eine Aufspaltung vornimmt zwischen den aktiven, heroischen, freien Aspekten seiner selbst und seiner endlichen Kreatürlichkeit. Es handelt sich somit um eine paradoxe Freiheit, in welcher die Selbsterhebung die Selbstvernichtung impliziert oder, um auf C. G. Jung zu rekurrieren: Erst „das Sichopfernkönnen beweist das Sich-Haben.“2 1
2
Pavese, Cesare: Das Handwerk des Lebens. Tagebuch 1935-1950, Hamburg 1956, S. 145, zitiert nach Sontag, Susan: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt a.M. 1982, S. 95. Jung, Carl G.: „Das Wandlungssymbol in der Messe“ [1941], in: Ders.: Psychologie und Religion, Olten 1971, S. 163-267, hier S. 225.
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Verworfene Selbstentwürfe Dieses paradoxe Moment von Freiheit steht nun anhand dreier ,Stationen‘ zur Diskussion. Die erste Station bildet Friedrich Schillers theoretische Schrift Über das Erhabene aus dem Jahr 1801, deren Auseinandersetzung mit menschlicher Autonomie angesichts existenzieller Determiniertheit prägend für das Ideengut der Moderne geworden ist.3 Anhand dieses Textes wird aufzuzeigen sein, dass bereits hier die Möglichkeit der Freiheit eine dialektische ist, da auch sie autoaggressive Momente der Selbstüberwindung impliziert. Danach soll der Idee der Freiheit in Foucaults Theorie der „Gouvernementalität“ nachgegangen werden. Insbesondere dem Entwurf der „Selbsttechnologien“ als Möglichkeit des Verfügens über sich selbst und dem für den Neoliberalismus typischen Zusammenspiel von Fremdherrschaft und Selbstregulierung wird hierbei Aufmerksamkeit zuteilwerden. Der dritte Abschnitt schließlich setzt sich mit dem Phänomen künstlerischer Selbstverletzung unter dem Gesichtspunkt forcierten Autonomiestrebens auseinander. Die Interpretation künstlerischer Selbstverletzung in der Tradition des abendländischen Freiheitskonzepts wirft dabei die Frage nach ihrer Einordnung innerhalb gesellschaftlicher Machtstrukturen auf und stellt somit eine Brücke zwischen den ersten beiden Abschnitten dar. Anhand einer Gegenüberstellung früher Aktionskunst und den Arbeiten des Performancekünstlers STELARC soll abschließend aufgezeigt werden, wie die Utopie möglicher Freiheit, zunächst als politischer Widerstand gedacht, nun mit neoliberalen Regulierungsphantasien sowie Optimierungsstrategien in Einklang gebracht ist.
Selbsterhebung mittels Selbstüberwindung „Alle andere[n] Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen welches will.“4
Schillers Postulat eines uneingeschränkten, freien Willens des Menschen wird in seiner Schrift Über das Erhabene weniger auf politischer Ebene elaboriert – er hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits von den Entwicklungen der französischen Revolution resigniert distan3
4
Das in diesem Text dargelegte Freiheitskonzept Schillers basiert in wesentlichen Zügen auf der kantischen Freiheitsphilosophie, welche die gewaltsame Überwindung der sinnlichen Neigungen durch das moralische Gesetz als notwendige Bedingung der Freiheit des Subjekts benennt. Schillers Auseinandersetzung mit dem Erhabenen unterscheidet sich damit von vielen seiner anderen Texte zur Ästhetik, wo er, sich bewusst von Kant abhebend, Sinnlichkeit und Moral eher zu versöhnen trachtet. Schiller, Friedrich: „Über das Erhabene“, in: Ders.: Vom Pathetischen und Erhabenen. Schriften zur Dramentheorie. Hg. v. Klaus L. Berghahn, Stuttgart 1995, S. 83-100, hier S. 83.
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Brucher: Zum paradoxen Freiheitsentwurf ziert –, als vielmehr unter existenziellen Gesichtspunkten betrachtet: Es ist keine geringere als die Freiheit von der Kreatürlichkeit und somit Endlichkeit des Menschen, um welche seine Gedanken kreisen. Ohne auf eschatologische Heilsversprechen zurückzugreifen, entwirft er das Bild eines gänzlich auf sich allein gestellten Wesens Mensch, welches lediglich in und durch sich zur Freiheit finden kann. Diese Vorstellung impliziert jedoch zugleich, in Anbetracht der Evidenz körperlicher Verletzlichkeit und Endlichkeit, eine Aufspaltung von Geist und Körper, von res cogitans und res extensa, im Rahmen welcher die Freiheit des Subjekts ausschließlich metaphysisch gedacht werden kann. Diese dualistische Aufspaltung, welche bei Descartes noch weitgehend in eine stabile Gottesvorstellung eingebettet war, erhält mit der fortschreitenden Säkularisierung ein gewissermaßen tragisches, da selbstzerstörerisches Moment. Angesichts der aufklärerischen Aneignung des keinem übermenschlichen Wesen mehr verpflichteten Selbst erscheint dessen Sterblichkeit nun mehr denn je als Affront, gegen welchen, ganz im Sinne Paveses, aktiv gehandelt werden muss.5 Dementsprechend fragt Schiller, auf die Endlichkeit des Leibes Bezug nehmend, was denn der ganze Wille des Menschen sei, wenn es nur einen Fall gebe, wo er müsse, wenn er auch nicht wolle, und kommt zu dem Schluss: „[...] [s]eine gerühmte Freiheit ist absolut nichts, wenn er auch nur in einem einzigen Punkt gebunden ist.“6 Um diese Konsequenz zu vermeiden, bleibe nichts anderes übrig, als sich der überlegenen Gewalt in scheinbarer Einstimmigkeit freiwillig zu unterwerfen und sie so zumindest dem Begriff nach zu vernichten. Denn erst in der freiwilligen und selbstbewussten Annahme des Todes, erst wenn sich der Wille des Menschen über dessen bedrohte Leibund Sinnlichkeit hinwegzusetzen vermag, erlangt dieser eine erhabene Unbezwingbarkeit. Unter diesem Gesichtspunkt gesehen ist nichts, was die Natur am Menschen auszuüben vermag, als Gewalt zu betrachten, denn „eh’ es bis zu ihm kommt, ist es schon seine eigene Handlung geworden [...].“7 Diese aktive Resignation, getarnt als scheinbare Überwindung von Fremdgewalt, birgt in der freiwilligen Auslieferung des Körpers an zerstörerische Kräfte zwecks Bewahrung von Souveränität bereits in ihrem Ursprung Momente der Aggression und v.a. der Autoaggression. Das Paradox aus Selbsterhöhung und Selbstvernichtung, wie es zu Beginn in Paveses Zitat deutlich zutage trat, findet somit schon bei Schiller innerhalb eines Freiheitskonzepts 5
6 7
Zum Prinzip der Selbsterhaltung im Rahmen neuzeitlicher Subjektkonstitution vgl. Ebeling, Hans (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt a.M. 1996. Schiller: „Über das Erhabene“ (1995), S. 84. Ebd. [Herv. i.O.]
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Verworfene Selbstentwürfe Ausdruck, welches die - zumindest „idealische“ - Überwindung des Körpers als notwendig impliziert, um sich zu versichern, nicht bloß Körper zu sein. Die letztlich autoaggressive Unterwerfung ist also nicht primär Folge des Dualismus, sondern vielmehr Bedingung, um überhaupt eine aus dem Dualismus geborene Freiheit denken bzw. erfahren zu können. Eine Freiheit, die aufgrund ihres dialektischen Charakters ein fortwährendes Streben nach dem nie Erreichbaren, da lediglich ideell Möglichen bleiben muss, denn die endgültige Freiheit von der Kreatürlichkeit würde letztlich nur der Tod bringen, ein Gedanke, den Jean Améry im 20. Jahrhundert konsequent zu Ende denkt.8 Und auch Schillers Aufsatz lässt sich in solcher Weise lesen, wenn er bezüglich dieses menschlichen Dilemmas resümiert: „[...] wohl ihm also, wenn er gelernt hat, zu ertragen, was er nicht ändern kann, und preiszugeben mit Würde, was er nicht retten kann!“, und an anderer Stelle rät er in begrifflich auffälliger Analogie: „[…] sich moralisch zu entleiben“ 9, ehe noch eine physische Macht es tue.
Foucaults Technologien des Selbst „Heute ist vom unvollkommenen Körper zu sagen, dass jeder selber schuld ist, wenn er ihn hat.“10
Wie sich anhand Schillers Schrift Über das Erhabene aufzeigen ließ, ist das moderne Subjekt durch sein eigenes Streben nach Freiheit bereits in sich beides: Erhabenes und subiectum, Unterworfenes zugleich. Dieses Paradox aus Macht und Unterwerfung, aus Autonomie und Kontrolle spiegelt sich auch in Foucaults Theorie zur liberalen Gouvernementalität auf zweifache Weise wider: Um die fragile, unablässig bedrohte Freiheit des Einzelnen zu garantieren, kommt der Liberalismus zum einen nicht umhin, regulierend zu intervenieren. Dieser organisiert somit die Bedingungen, unter denen Individuen weitestmöglich frei sein können – er „fabriziert“11, so Lemke, gewissermaßen Freiheit – reguliert sie aber damit zugleich. Zum anderen sei in Anlehnung an Foucaults Theorie zum 8
Vgl. Améry, Jean: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Stuttgart 1979. 9 Schiller: „Über das Erhabene“ (1995), S. 97. 10 Jelinek, Elfriede: Ein Sportstück, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 83. 11 Lemke, Thomas/Krasmann, Susanne/Bröckling, Ulrich: „Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 7-40, hier S. 14.
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Brucher: Zum paradoxen Freiheitsentwurf Neoliberalismus die These geäußert, dass sich insbesondere das abendländische Konzept von Freiheit durch seinen paradoxen Charakter im Sinn der „Regierungskunst“ zur Manipulation und Regulation anbietet. Die Bereitschaft, sich zwecks Autonomie selbst zu unterwerfen, zu disziplinieren und zu beherrschen, korreliere demnach mit Foucaults Interpretation des Neoliberalismus als Führung durch Selbstführung. Anders als in seinen früheren Schriften, in denen er das Subjekt als ein gesellschaftlichen Zwängen unterworfenes Produkt moderner Machtmechanismen betrachtete, betont Foucault in seinem späteren Werk dessen Möglichkeit zu Selbstentwurf und Selbstge-staltung. Diese Möglichkeit des Einzelnen, „aus eigner Kraft […] eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt“12, nennt Foucault „Technologien des Selbst“. Der Begriff der „Selbsttechnologie“ führt somit die Möglichkeit von Selbstbestimmung mit einem Verfügen über sich zwecks Erhebung über die Natur, was der Terminus „Unsterblichkeit“ nahelegt, zusammen. Darüber hinaus verweist Foucault jedoch auf die Verwobenheit abendländischen Autonomiestrebens mit Herrschaftsund Machtstrukturen. Gerade der Neoliberalismus sei demnach dadurch gekennzeichnet, mittels des Zugeständnisses größtmöglicher Autonomie quasi indirekt zu führen, präziser: den Menschen zu einer künstlich arrangierten Freiheit zu verführen, dem „unternehmerischen Verhalten der ökonomisch-rationalen Individuen.“13 So wurde in zahlreichen weiterführenden Arbeiten zu Foucaults Theorie der Gouvernementalität, wie etwa bei Ulrich Bröckling14 oder Thomas Lemke15, aufgezeigt, dass gerade den Modellen von Autonomie und Selbstmanagement der Imperativ zur ständigen Leistungsoptimierung zugrunde liegt. Das Selbst wird zum, so Bröckling, „unternehmerischen Selbst“ erzogen, welches sowohl für seinen Erfolg als auch für sein Scheitern die alleinige Verantwortung zu tragen hat. Die daraus resultierende ,Unterwerfung‘ wäre eine doppelte: Den „Technologien individueller Beherrschung“16 entspricht die „subtile 12 Foucault, Michel: „Technologien des Selbst“, in: Ders.: Technologien des Selbst. Hg. v. Luther H. Martin et al., Frankfurt a.M. 1993, S. 24-62, hier S. 26. 13 Lemke et al: „Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien“ (2000), S. 15. 14 Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007. 15 Lemke, Thomas: Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden 2007. 16 Foucault: „Technologien des Selbst“ (1993), S. 27.
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Verworfene Selbstentwürfe Technik der sozialen Unterwerfung“17 unter äußere Herrschaftsstrukturen bzw. unter Prinzipien des Marktes. Man könnte sogar im Sinne Freuds und Webers argumentieren, dass erst diese subtile Forcierung der mit dem abendländischen Freiheitskonzept einhergehenden Selbstdisziplinierungs- und Moralisierungsarbeit eine Liberalisierung von äußeren Zwängen erlaubte. Oder, anders ausgedrückt: Ist das qua Selbsttechnologien geführte Regime nur streng genug, und dazu trägt der ständige Appell, sich und sein Glück in festen Griff zu bekommen, das Seinige bei, so kann die Kandare der Regierung ruhig etwas lockerer genommen werden. Davon abgesehen lässt sich im Sinne Foucaults fragen, inwieweit nicht bereits jegliches Konzept der Willensfreiheit, und darüber hinaus auch jedwede Form von Selbsttechnologie, als historischkulturell konstruiert und somit letztlich als potenziell manipulativ gedacht werden muss. Gerade die Freiheitskonzepte der Moderne, von Descartes über Spinoza, Kant oder auch Schiller, gehen von einer rigiden Annahme von Freiheit aus, welche sie dem Subjekt als einzig wahre Haltung suggerieren. Freiheit korreliere also mit einer völligen Gebundenheit an das jeweilige Konzept von Freiheit, das Abweichen davon – also die freiwillige Unmündigkeit – wird angesichts des allgegenwärtigen Bemächtigungsimperativs einem Versagen gleichgesetzt. Parallel zu Foucaults Vorhaben, „[…] den Menschen zu zeigen, dass sie weit freier sind als sie meinen“18, führt er diesen folglich vor Augen, dass sie gerade in ihrer Autonomie geführt werden bzw. dass bereits ihre Vorstellung von Autonomie eine von Herrschaftsstrukturen besetzte ist. Und dennoch hieße es Foucault misszuverstehen, gelte es nun, die Möglichkeit einer Autonomie des Subjekts gänzlich zu verwerfen. Analog zu seinem Bekenntnis, er „glaube an die Freiheit der Menschen“19, weist er wiederholt darauf hin, dass trotz der Untrennbarkeit von Herrschafts- und Selbsttechnologien eine Übereinstimmung der beiden ebenso wenig gegeben sei. Es bleibt somit eine Gratwanderung, bei der letztlich kaum näher zu bestimmen ist, wo eine tatsächliche Autonomie, eine im Foucault’schen Sinne selbstbestimmte Sorge um sich selbst, als Möglichkeit gedacht werden kann, und, wo sich gerade unter dem Eindruck von Autonomie bereits Herrschaftsstrukturen etabliert haben. Dieses Moment des Übergangs soll nun mithilfe des Phänomens künstlerischer Selbstverletzung näher beleuchtet werden. Betrach17 Maasen, Sabine: „Bio-ästhetische Gouvernementalität – Schönheitschirurgie als Biopolitik“, in: Villa, Paula-Irene (Hg.): schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld 2008, S. 99-119, hier S. 113. 18 Foucault: „Technologien des Selbst“ (1993), S. 16. 19 Ebd., S. 21.
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Brucher: Zum paradoxen Freiheitsentwurf tet man das Verfügen der Künstler und Künstlerinnen über ihre Körper als Technologien des Selbst, so tut sich die Frage auf, in welchem Verhältnis diese Technologien zu äußeren Herrschaftstechnologien stehen. Anhand der Gegenüberstellung früher, in erster Linie politisch motivierter Aktionskunst und der gegenwärtigen Arbeiten des Performancekünstlers STELARC gilt es aufzuzeigen, wie neoliberale Herrschaftstechniken sich des bürgerlichen Autonomiestrebens bedienen, um unternehmerisch-leistungsorientiertes Verhalten zu motivieren, d.h. wie das Streben nach einer möglichen Überwindung von Endlichkeit an Regierungsziele gekoppelt wird.
Künstlerische Selbstverletzung „[...] nur wenn die weibliche Identität sich vom Körper trennt und aufhört, sich auf den Attributen und Funktionen des weiblichen Körpers zu begründen [...] dann bricht die Blockade zusammen und die Frau (als Souverän) beginnt zu existieren.“20
Abb. 1: Günter Brus: Der helle Wahnsinn – Architektur des hellen Wahnsinns 1968 vollzieht der Wiener Aktionist Günter Brus im Aachener Reiffmuseum seine erste „Körperanalyseaktion“ Der helle Wahnsinn,
20 EXPORT, VALIE: Das Reale und sein Double: Der Körper, Bern 1987, S. 41f.
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Verworfene Selbstentwürfe im Rahmen derer er sich Verletzungen mit einer Rasierklinge zufügt. Das Vorgehen des Künstlers, das nicht nur die Öffentlichkeit verstört, sondern darüber hinaus so manche an seinem Verstand zweifeln lässt, ist eines der frühesten Beispiele selbstverletzender Body Art, einer Kunstform, die sich in den 1970er Jahren etabliert und in variierter Form bis in die Gegenwart fortsetzt. Internationale Künstler und Künstlerinnen wie VALIE EXPORT, Gina Pane, Chris Burden, Marina Abramović, Bob Flanagan oder Ron Athey bearbeiten in der Folge ihre Körper im Zuge teils radikaler Aktionen mit Schnittgegenständen, Nadeln, Nägeln, Schusswaffen oder auch Stromschlägen. Ab den 1990er Jahren kommt es durch Einbeziehung plastischer Chirurgie zunehmend zu einem ersten Wandel selbst verletzender Body Art, der bei Künstlern und Künstlerinnen wie ORLAN, Yang Zhichao oder Genesis P. Orridge eine nunmehr artifizielle Gestaltung des Kunstmediums Körper zur Folge hat. Als eine zweite wesentliche Modifikation kann die jüngste Entwicklung hin zur künstlerisch-technischen ,Hervorbringung‘ des posthumanen Körpers betrachtet werden. Fortschritte auf dem Gebiet der Biotechnologie erlauben nun ein Verwischen der Grenze zwischen Körper und Technik bzw. zwischen Mensch und Maschine, was v.a. in den Arbeiten des abschließend behandelten Körperkünstlers STELARC seinen Ausdruck findet. Doch zunächst zur politisch motivierten Aktionskunst der 1960er Jahre.
Künstlerische Selbstverletzung als Moment des Widerstands Die politischen Bewegungen der späten 1960er Jahre, insbesondere die 2. Frauenbewegung, schufen ein Bewusstsein für die Fremdbestimmung der Subjekte via Normierung und Tabuisierung ihrer Körper, welchem ein forciertes Streben nach Selbstermächtigung, nicht zuletzt durch ein selbstbestimmtes Verfügen über die eigene Leiblichkeit, entgegengesetzt wurde. Der Körper wird somit – quasi als gesellschaftspolitisches Pendant zu Schillers existenzieller Fragestellung – als Schauplatz der Unterdrückung, zugleich aber auch der Souveränität des Menschen wahrgenommen. Durch ihn erfährt der Einzelne sowohl die Repression der Welt als auch durch dessen ,Inbesitznahme‘ die Möglichkeit zur Freiheit. Dieser schon von Schillers Aufsatz her vertraute Mechanismus der Ermächtigung durch Unterwerfung findet in dem Phänomen künstlerischer Selbstverletzung eine radikale Reaktualisierung. In den 1960er und 1970er Jahren ist es in erster Linie der politisch korrumpierte, klerikal tabuisierte und durch den männlichen Blick einer Norm un158
Brucher: Zum paradoxen Freiheitsentwurf terworfene sowie konstruierte Körper, welchem in teils riskanten Aktionen Sichtbarkeit verliehen wird. Analog zu der frühen Machtanalyse Foucaults, welche die Konstitution der sozialen Ordnung als eine „Materialität der Macht über den Körper“21 beschreibt, verstehen Künstler und Künstlerinnen wie Günter Brus oder VALIE EXPORT ihre Körper als Austragungsorte von Herrschaftsansprüchen mit dem Ziel, durch vehementen Selbstanspruch den Staat als Institution der Macht bzw. gesellschaftliche Normierungen anzugreifen und zu subvertieren. Dieser Versuch einer existenziellen ,Rückgewinnung‘ macht nicht nur im Sinne Theweleits bewusst, dass unsere Körper „Kolonialgebiete, kolonialisiertes Geschehen [...], besetzte Gebiete, die wir mit uns herumschleppen“22 sind, sondern stellt zugleich eine Machtdemonstration des Widerstand mittels des Protestmediums Körper dar, denn, so Foucault: „Die Macht ist in den Körper vorgedrungen, sie sieht sich im Körper selbst Angriffen ausgesetzt.“23 Ähnlich argumentiert Oliver Jahraus, wenn er bezüglich Günter Brus vermerkt: „Wenn der Staat den Körper für die Positionierung funktionalisiert, instrumentalisieren die Wiener Aktionisten den Körper aktionistisch für die Dispositionierung des Staates.“24 Mit der vorgeführten Selbstpeinigung vollziehe der Künstler bzw. die Künstlerin demnach Praktiken, die Assoziationen zu Disziplinierungsakten auslösen, zwar aktionistisch nach, tue dies jedoch „im Umkehrverfahren auf eine Weise, mit der zugleich die Aufhebung der Disziplinierung mitvollzogen wird.“25 Dagegen lässt sich einwenden, dass zwar mit Mitteln der Selbstdisziplinierung jene äußere bewusst gemacht und somit angegriffen werden kann, dass damit jedoch weniger die von Jahraus postulierte Aufhebung mitvollzogen wird, als vielmehr eine Verschiebung der Aggressorrolle stattfindet: „Im Moment der Selbstverletzung beansprucht und demonstriert der Künstler die alleinige Herrschaft über seinen materialisierten Körper, er übersetzt das Interaktionsgefüge Täter-Opfer in autoaggressive Selbstreferentialität.“26 Es findet da-
21 Foucault, Michel: „Macht und Körper. Ein Gespräch mit der Zeitschrift Quel Corps?“, in: Ders.: Mikrophysik der Macht. Michel Foucault über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 105-113, hier S. 105. 22 Theweleit, Klaus: Männerphantasien 1+2, München u.a. 2005, Bd. 1, S. 433f. 23 Foucault: „Macht und Körper“ (1976), S. 106. 24 Jahraus, Oliver: Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins. Bd. 2: Das Problempotential der Nachkriegsavantgarden, München 2001, S. 342. 25 Ebd., S. 233. 26 Brucher, Rosemarie: „Selbstkontrolle versus Selbstverlust. Die Transformation des Subjektentwurfs von Günter Brus’ Aktionskunst zum Irrwisch“, in:
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Verworfene Selbstentwürfe her letztlich weniger die proklamierte Befreiung des Körpers als vielmehr der Versuch einer Befreiung des wollenden Subjekts anhand der selbstbestimmten Unterwerfung seiner eigenen Materialhaftigkeit statt. Sowohl in Schillers Konzeption als auch im Rahmen künstlerischer Selbstverletzung wird somit in erster Linie der Körper, sei es durch dessen Endlichkeit oder seine politische Korrumpierbarkeit, als unfrei empfunden, die gewaltsame Distanzierung von diesem birgt zumindest die Möglichkeit einer einseitigen Autonomie. Auf diese Einseitigkeit und den daraus resultierenden Entscheidungszwang nimmt auch die österreichische Performanceund Medienkünstlerin VALIE EXPORT Bezug, wenn sie lakonisch feststellt: „In unserer Kultur und in ihrem Repräsentationssystem [...] hat die Frau nicht die Möglichkeit, Autonomie des Körpers und Autonomie des Selbst gleichzeitig zu erreichen.“27 Wenn sie sich in Aktionen wie etwa Remote Remote (1973) oder Hyperbulie (1973) folglich selbst verletzt, so ist es die geopferte Autonomie des Körpers, anhand welcher sie die Autonomie ihres Selbst zu demonstrieren sucht.
Abb. 2: VALIE EXPORT: Hyperbulie, 1973 Die blutende Wunde der Body-Art-Künstler und –Künstlerin ist somit beides: Garant und Denunziant zugleich, sie bürgt einerseits für
manuskripte. Zeitschrift für Literatur 49 (2009), Heft 184, S. 23-31, hier S. 24. 27 EXPORT: Das Reale und sein Double (1987), S. 41.
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Brucher: Zum paradoxen Freiheitsentwurf die Möglichkeit der Erhebung über die Kreatürlichkeit, macht aber zugleich die selbstdestruktive Dialektik abendländischer Erhabenheit bewusst.
Künstlerische Selbstverletzung als neoliberale Selbstoptimierung „Fundamentale Freiheit heißt für Individuen: ihr eigenes DNA-Schicksal zu bestimmen.“28
Auch STELARC beginnt mit seinen Performances Mitte der 1960er Jahre, anders jedoch als Brus oder EXPORT interessieren ihn weniger Momente künstlerischen Widerstands als vielmehr die Symbiose von Körper und Technik zwecks Leistungssteigerung des Subjekts. Nicht Revolution, sondern eine radikal neue Richtung der Evolution hin zum hybriden Menschen ist sein Anliegen. Dabei äußert er explizit die Zielsetzung, den Körper aus seiner biologischen Schicksalhaftigkeit zu befreien, d.h. dessen Verletzlichkeit und Endlichkeit zu überwinden, um innerhalb der zunehmend technologisierten Umwelt das Überleben des Menschen zu sichern. In einer Stellungnahme aus dem Jahr 1996 findet er hierzu klare Worte: „It is time to question whether a bipedal, breathing body with binocular vision and a 1440cc brain is an adequate biological form. It cannot cope with the quantity, complexity and quality of information it has accumulated; it is intimidated by the precision, speed and power of technology and it is biologically illequipped to cope with its new extraterrestrial environment […] It is no longer a matter of perpetuating the human species by REPRODUCTION, but of enhancing male-female intercourse by human-machine interface. THE BODY IS OBSOLETE. We are at the end of philosophy and human physiology. Human thought recedes into the human past.“29
Berühmt wurde STELARC Anfang der 1980er Jahr mit Aktionen, in denen er sich an durch seine Haut gestochenen Fleischerhaken auf Straßen, in der Natur sowie in Galerien aufhängen ließ. Auch in diesen sogenannten Suspensions ist die Überwindung des Körpers, den er als „zu modifizierende Struktur […], als Objekt des Ent-
28 STELARC: „Von Psycho- zu Cyberstrategien. Prothetik, Robotik und TeleExistenz“, in: Kunstforum International (1996). Bd. 132, S. 72-81, hier S. 76. 29 STELARC: „OBSOLETE BODY“, in: http://www.stelarc.va.com.au/obsolete/ob solete.html (Stand: 22. Januar 2010).
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Verworfene Selbstentwürfe wurfs“30 definiert, bereits als Überwindung von dessen biologischer Grenzen zu verstehen. So evoziert die scheinbare Schwerelosigkeit des Körpers den Eindruck außer Kraft gesetzter physikalischer Gesetze, welche lediglich noch in der gedehnten Haut sichtbar werden. Die künstlerische Überwindung des Körpers kann demnach, ganz im Sinne neoliberaler Gesundheitspolitik, wo angesichts wachsenden genomanalytischen Wissens Krankheit zunehmend als Symptom nachlässiger Selbstverantwortung gewertet wird,31 als Überwindung von dessen defizitärer Anfälligkeit verstanden werden. Zu diesem Zwecke beginnt STELARC bereits in den 1970er Jahren, seinen Körper mit Technologie in Verbindung zu setzen, denn, so der Künstler, wenn dieser „auf modulare Art neu gestaltet werden kann […], dann GIBT ES TECHNISCH KEINEN GRUND FÜR DEN TOD.“32 Vor allem durch Prothesen soll der Körper daher zur biotechnischen Synthese erweitert und, wie der Künstler sagt, verbessert werden.33 In der Aktion Exoskeleton (1998) wird STELARC in einen 6-beinigen, druckluftbetriebenen Gehroboter, der die Begrenzung des Körpers sowie seinen Bewegungshorizont erweitern soll, eingespannt. In The Third Hand, einem Projekt, das zwischen 1976 und 1994 in mehrfach modifizierter Weise auf verschiedenen Kontinenten realisiert wird, lässt sich der Künstler einen dritten Unterarm anbringen, mit welchem er eigenständige Bewegungen durchzuführen vermag. Die Fertigkeiten der mit taktilen Feedbacksystem, Greif-, Handgelenks- und Rotationsfunktionen ausgestatteten Handprothese, deren Steuerung über die Messung von muskulären Anspannungen aus dem Bauch- und Beinbereich erfolgt, werden jenen der realen Hände gegenübergestellt, welche dadurch, so STELARC, „clumsy and jerky“34 erscheinen. 30 STELARC: „Gesteigerte Gebärden/Obsoletes Begehren“, in: Gerbel, Karl/ Weibel, Peter (Hg.): Ars Electronica 1992, Linz 1992, S. 233-239, hier S. 233. 31 Vgl. Lemke, Thomas: Die Regierung der Risiken. Von der Eugenik zur genetischen Gouvernementalität, in: Lemke, Thomas/Krasmann, Susanne/Bröckling, Ulrich (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 227-264. 32 STELARC: „Von Psycho- zu Cyberstrategien“ (1996), S. 78. [Herv. i.O.] 33 STELARCs Konzept der Vervollkommnung des Körpers im Sinne einer Unlimitiertheit organischer sowie mechanischer Effizienz erinnert an Freuds Beschreibung des Menschen als Prothesengott und seine Prognose, die Steigerung dessen „Gottähnlichkeit“ betreffend. (Vgl. Freud, Sigmund: „Das Unbehagen in der Kultur“, in: Ders.: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt a.M. 1994, S. 31-108.) 34 STELARC: „Event for Obsolete Body“, in: Paffrath/STELARC: Obsolete Body, S. 61f., zitiert nach: Goodall, Jane: „The Will to Evolve“, in: Smith, Marquard (Hg.): STELARC. The Monograph, Cambridge/London 2005, S. 1-32, hier S. 8.
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Brucher: Zum paradoxen Freiheitsentwurf
Abb. 3:: STELARC: HANDSWRITING, 1982 g des Körpers durch Hinzufügen von Tec chnik Neben der Erweiterung ermöglicht die Gentech hnologie STELARC in jüngeren Aktionen n eine Art ‚innere Erweiterun ng‘. So etwa in Extra Ear (2003), wo er sich h ein aus seinem eigenen Zellmaterial Z gezüchtetes Ohr in den Unte erarm einpflanzen lässt. er Jahre kommt es zunehmend zum Einb bezug Ab Mitte der 1990e von Computertechnik und Internet in die Arbeit STELARCs. War W es bisher der Künstler se elbst, der seinen um Technologie erweite erten Körper mittels Muskellansteuerung kontrollierte, so versteht err diesen nun konsequent als leeres Behältnis, als Wirt, „not onlly for or remote agents.“35 In diesem Sinne lässt er in technology, but also fo Aktionen wie Ping Bod dy (1996) oder Stimbod (1995-98) Teile se eines Körpers mittels eines computergesteuerten Muskelstimulationssysn via Touchscreen in Bewegung setzen, um m die tems von Teilnehmern Erfahrung einer aufge espaltenen Physiologie zu machen. Inde em er die Aktionen des Körp pers dem eigenen Willen entzieht und somit s Teile seines Selbst als s automatisiert erlebt, stellt er zugleich h das über sich selbst verffügende cartesianische Bewusstsein inffrage. Dies jedoch nur, so möchte m man meinen, um es auf einer Meta aebene desto nachhaltigerr zu etablieren: Die „transition from psy ychobody to cybersystem“36 beschreibt letztlich die gänzliche Aus sliefes künstliche Intelligenz bzw. an n ein rung des Körpers an sogenannte systemisches Bewussttsein mit der Hoffnung, durch die Identifiikation mit diesen eine metaphysische m Unbezwingbarkeit zu erlan ngen.
35 STELARC: „PARASITE VISIONS ALTERNATE, INTIMATE AND INVOLUN NTARY EXPERIENCES“, in: htttp://www.stelarc.va.com.au/parasite/paravisions s.html (Stand: 22. Januar 201 10). 36 Ebd.
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Verworfene Selbstentwürfe Oder, anders formuliert: Die Selbsttechnologien des Subjekts werden angesichts des scheinbar unvermeidbaren Wettstreits zwischen Technologie und Humanem gänzlich der „großen Macht“37 der Technologie angeglichen. Der Preis metaphysischer Freiheit ist der posthumane, fremdbesetzte Körper. Groteskes Sinnbild dieser Fremdbesetzung ist STELARCs Utopie eines internen Überwachungssystems, das in Gestalt einer „Kolonie von Robotern in Nanogröße“38 das frühzeitige Erkennen von Verfallserscheinungen sowie deren sofortige Behebung vor Ort erlauben soll. STELARCs Zurückführung immer neuer Körper-TechnikKonstellationen auf, so Preckel, die „Erfahrung seines eigenen Körpers als Störfaktor und mangelhaft angesichts technischer Perfektion, Effizienz und Haltbarkeit“39 macht die Genese selbstverletzender Körperkunst aus dem fortschrittsorientierten Ideengut der Moderne sichtbar. Zugleich lässt sich an STELARCs Arbeiten erkennen, wie die Möglichkeit existenzieller Freiheit mit Prinzipien des Neoliberalismus korreliert. Das Streben nach stetiger Selbstoptimierung zwecks Leistungssteigerung und verbesserter Belastungsfähigkeit der Maschine Mensch, das vorauseilende Anpassen an die technologisierte Umgebung und v.a. die freiwillige Unterwerfung des Subjekts unter eine entpersonifizierte, instrumentelle Vernunft mit der Hoffnung auf Unsterblichkeit kennzeichnen STELARC als „unternehmerisches Selbst“. Sein Freiheitsstreben kollidiert nicht mehr mit äußerer Führung, sondern wird mit dieser scheinbar deckungsgleich, ein Umstand, der nicht zuletzt in der Finanzierung sowie Unterstützung seiner Arbeit durch öffentliche Forschungsinstitute seinen Ausdruck findet. So etwa bei The Third Hand durch Ingenieure der Wasad University und dem Tokyo Institute of Technology oder bei Exoskeleton durch das F 18, institute for art, information and technology Hamburg. Das Zusammenspiel von Technologie und Macht sowie der damit einhergehende Imperativ zur Rationalisierung und Effektivierung wird von STELARC nicht kritisch hinterfragt. Im Gegenteil, die Paranoia „in our Foucauldian present“40 vor Machteinschreibungen in den Körper wird angesichts der Cyberkomplexität als inadäquates Festhalten am biologischen Körper und an einem individuellen Ich-Akteur kritisiert. Im Gegenzug dazu bleiben jedoch auch die möglichen negativen Folgewirkungen einer absolut gesetzten in37 STELARC: „Von Psycho- zu Cyberstrategien“ (1996), S. 78. 38 Ebd., S. 80. 39 Preckel, Anne: „Entgrenzte Haut und vervielfachte Glieder. Die KörperTechnik-Inszenierungen des australischen Medienkünstlers Stelarc“, in: http://www.avinus-magazin.eu/html/preckel_-_stelarcs_inszenierun.html (Stand: 22.01.2010). 40 STELARC: „PARASITE VISIONS“.
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Brucher: Zum paradoxen Freiheitsentwurf strumentellen Vernunft, wie sie Adorno und Horkheimer aufzeigten, unerwähnt.
Conclusio Sowohl STELARC als auch Brus und Export, Pavese und Schiller streben oder strebten folglich nach einer Autonomie des Subjekts, welche durch ein aktives Verfügen über den Körper zumindest dialektisch erreicht werden soll. Sind Konzept und Mittel, um sowohl sich als auch seiner Umwelt ein gelungenes, da selbstbestimmtes Menschsein vor Augen zu führen, somit letztlich auch dieselben, so lassen sich in dem Kräfteverhältnis von Selbst- und Herrschaftstechnologien dennoch Abweichungen erkennen. Wurde das subversive Potenzial radikaler Selbsttechnologien in den 1960er und 1970er Jahren noch als Angriff auf eine eindeutig als repressiv empfundene Staatlichkeit intendiert, so zeigen aktuelle Modifikationen dieser Kunst, dass regulierende Strukturen ihren Feindbildcharakter weitgehend verloren haben. Die Autonomie des Subjekts scheint daher nicht länger ein untersagtes und somit zu erkämpfendes Gut, sondern avanciert vielmehr zu einer Pflicht, der ein selbstverantwortliches, umsichtiges und rationales Individuum nachzukommen hat. Dem lässt sich allerdings hinzufügen, dass gerade das vehemente Einfordern des selbstbestimmten Verfügens über den eigenen Körper dazu beigetragen haben könnte, jene Pflicht zur neoliberalen Selbstverantwortung durchzusetzen. Der scheinbare Widerstand mittels selbstverletzender Körperkunst wäre demnach nicht dichotomisch zu Herrschaftsstrukturen, sondern bereits immer schon in deren Transformationsprozess integriert zu denken. Das Recht auf Freiheit bzw. die Pflicht zu dieser scheinen gegenwärtig nahezu deckungsgleich, was eine Differenzierung von Fremd- und Selbsttechnologien zunehmend erschwert. Statt daher einen aus STELARCs Sicht geradezu naiven Machtkampf gegen von dem Selbst ununterscheidbare Herrschaftsstrukturen zu führen, zelebriert er in Anlehnung an den trans- bzw. posthumanen Cyborgdiskurs die Möglichkeit einer wahrhaft metaphysischen, damit jedoch zugleich metahumanen Existenz. Die gänzliche Überwindung des Kreatürlichen, einhergehend mit der Vorstellung eines computergenerierten, übermenschlichen Bewusstseins, stellt somit STELARCs Antwort auf Schillers Frage nach der Freiheit des Wesens Mensch dar: In seinen Cyborgphantasien kulminiert die Auslöschung des Subjekts mit dessen Unsterblichkeit.
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Verworfene Selbstentwürfe
Literatur Améry, Jean: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Stuttgart 1979. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007. Brucher, Rosemarie: „Selbstkontrolle versus Selbstverlust. Die Transformation des Subjektentwurfs von Günter Brus’ Aktionskunst zum Irrwisch“, in: manuskripte. Zeitschrift für Literatur 49 (2009), H. 184, S. 23-31. Ebeling, Hans (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt a.M. 1996. EXPORT, VALIE: Das Reale und sein Double: Der Körper, Bern 1987. Foucault, Michel: „Macht und Körper. Ein Gespräch mit der Zeitschrift Quel Corps?“, in: Ders.: Mikrophysik der Macht. Michel Foucault über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 105-113. —: „Technologien des Selbst“, in: Ders.: Technologien des Selbst. Hg. v. Luther H. Martin et al., Frankfurt a.M. 1993, S. 24-62. Freud, Sigmund: „Das Unbehagen in der Kultur“, in: Ders.: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt a.M. 1994, S. 31-108. Jahraus, Oliver: Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins, München 2001. Jelinek, Elfriede: Ein Sportstück, Reinbek bei Hamburg 1999. Jung, Carl G.: „Das Wandlungssymbol in der Messe“ [1941], in: Ders.: Psychologie und Religion, Olten 1971, S. 163-267. Lemke, Thomas: „Die Regierung der Risiken. Von der Eugenik zur genetischen Gouvernementalität“, in: Lemke et al.: Gouvernementalität der Gegenwart (2000), S. 227-264. —: Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden 2007. Lemke, Thomas/Krasmann, Susanne/Bröckling, Ulrich: „Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung“, in: Dies.: Gouvernementalität der Gegenwart (2000), S. 7-40. — (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000. Maasen, Sabine: „Bio-ästhetische Gouvernementalität – Schönheitschirurgie als Biopolitik“, in: Villa, Paula-Irene (Hg.): schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld 2008, S. 99-119. Pavese, Cesare: Das Handwerk des Lebens. Tagebuch 1935-1950, Hamburg 1956.
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Brucher: Zum paradoxen Freiheitsentwurf Preckel, Anne: „Entgrenzte Haut und vervielfachte Glieder. Die Körper-Technik-Inszenierungen des australischen Medienkünstlers Stelarc“, in: http://www.avinus-magazin.eu/html/preckel__ stelarcs_inszenierun.html (Stand: 22. Januar 2010). Schiller, Friedrich: „Über das Erhabene“, in: Ders.: Vom Pathetischen und Erhabenen. Schriften zur Dramentheorie. Hg. v. Klaus L. Berghahn, Stuttgart 1995, S. 83-100. STELARC: „Event for Obsolete Body“, in: Paffrath/STELARC: Obsolete Body, S. 61f., zitiert nach: Goodall, Jane: „The Will to Evolve“, in: Smith, Marquard (Hg.): STELARC. The Monograph, Cambridge/London 2005, S. 1-32. —: „Gesteigerte Gebärden/Obsoletes Begehren“, in: Gerbel, Karl/Weibel, Peter (Hg.): Ars Electronica 1992, Linz 1992, S. 233-239. —: „OBSOLETE BODY“, in: http://www.stelarc.va.com.au/obsole te/obsolete.html (Stand: 22. Januar 2010). —: „PARASITE VISIONS ALTERNATE, INTIMATE AND INVOLUNTARY EXPERIENCES“, in: http://www.stelarc.va.com.au/par asite/paravisions.html (Stand: 22. Januar 2010). —: „Von Psycho- zu Cyberstrategien. Prothetik, Robotik und TeleExistenz“, in: Kunstforum International (1996). Bd. 132, S. 7281. Theweleit, Klaus: Männerphantasien 1+2, München u.a. 2005.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Günter Brus: Der helle Wahnsinn – Architektur des hellen Wahnsinns, Reiffmuseum Aachen, 1968, Foto: Wolters, in: Günter Brus, Mobika Faber: Werkumkreisung, Köln 2003, S. 113. Abb. 2: VALIE EXPORT: Hyperbulie, Wien 1973, video, s/w, Kamera: Hermann Hendrich, in: www.valieexport.at (Stand: 22. Januar 2010). Abb. 3: STELARC: HANDSWRITING (Writing One Word With Three Hands Simultaneously), Maki Gallery Tokyo, 1982, Foto: Keisuke Oki, in: http://www.stelarc.va.com.au (Stand: 22. Januar 2010).
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„Better living through death“. Zur Gouvernementalität medialer Trauerarbeit in Six Feet Under DOMINIK MAEDER
Medien, Subjektivität, Ästhetik „Nicht viele, die den Apparat benutzen“, schreibt Walter Benjamin in seiner kultursoziologischen Miniatur Das Telefon, „wissen, welche Verheerungen einst sein Erscheinen in den Familien verursacht hat. Der Laut, mit dem er zwischen zwei und vier, wenn wieder ein Schulfreund mich zu sprechen wünschte, anschlug, war ein Alarmsignal, das nicht allein die Mittagsruhe meiner Eltern sondern das Zeitalter, in dessen Herzen sie sich ihr ergaben, gefährdete.“1 In der Berliner Wohnung der Jahrhundertwende einst zwischen Schmutzwäsche und Gasspeicher platziert, ist an Benjamins Erinnerungsfragment, dieser „rückwärtsgewandte[n] Prophetie“2, medienhistorisch zunächst die Ambivalenz ablesbar, mit der das Großbürgertum dem neuen Medium als einem Eindringling begegnete, dessen Domestizierung das erneute Austarieren der zentralen Differenzierung zwischen Öffentlichem und Privatem notwendig werden ließ. Und eine der Pointen dieser Abbreviatur der Mediengeschichte der Moderne liegt dabei in dem Umstand, dass dieses „einem sagenhaften Helden“ gleichende Möbelstück seinen „königlichen Einzug“ ins Zentrum der Wohnbehausung erst „einem jüngeren Geschlecht“ verdankt,3 dessen Subjektivierungsform bereits rückhaltlos von der individualistischen Moderne durchzogen ist.4 Das Telefon stellt für
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Benjamin, Walter: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Frankfurt a.M. 1987, S.18. Witte, Bernd: Walter Benjamin, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 8. Vgl. Benjamin: Kindheit (1987), S.18. „Ihm wurde er der Trost der Einsamkeit. Den Hoffnungslosen, die diese schlechte Welt verlassen wollten, blinkte er mit dem Licht der letzten Hoffnung. Mit den Verlaßnen teilte er ihr Bett.“ (Ebd.)
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Verworfene Selbstentwürfe das moderne Ich – welches auch das ‚Ich‘ von Benjamins Text ist – nicht weniger als einen „Zwillingsbruder“5 dar. Medien, so ließe sich aus Benjamins emblematischem Prosatext folgern, verweisen nicht nur auf die Subjekte, die sich ihrer bedienen, sondern fungieren v.a. auch selbst als – in weiterreichende Dispositive verstrickte – Agenten der (De-)Konstitution von Subjektivität und Gemeinschaft. Erscheint es dabei für eine Fortschreibung der Mediengeschichte im Benjamin’schen Sinne einigermaßen evident, dass das Fernsehen als gleichsam die Konstruktion von öffentlichem und privatem Raum adressierendes Medienmöbel sowohl den Gegenstand vielfältiger Aneignungspraktiken im sozialen Rahmen der Familie wie das Movens der Transformation desselbigen bildet, so ist jedoch der gegenwärtige technisch-mediale Bedingungsraum des Televisiven durch die transmediale Konvergenz von Fernsehen und Digitalmedien charakterisiert. Im deutschsprachigen Diskurs üblicherweise unter den Termini „CyberTV“6, ‚Neues‘ oder ‚Digitales Fernsehen‘7, in den Television Studies „Television after TV“8 oder „TVIII“9 rubriziert, stellt dieser Paradigmenwechsel für das Fernsehen deswegen einen bedeutsamen Einschnitt dar, weil das TV als genuines Übertragungsmedium die Modalität seiner Übertragung zu ändern beginnt und sich damit – mit noch nicht absehbarem Ausgang – in der Krise, im „Fin de siècle“10 seiner eigenen Medialität befindet. Von der Kontinuität und Spezifität seines optisch-elektrischen Stroms nunmehr entbunden,11 ist das Fernsehen in seiner Transmission multimodal, in seinen Produkten aber gleichsam distinkt geworden: In Einzelclips und –ausschnitten auf multiplen Wiedergabegeräten abruf- wie speicherbar, scheint Raymond Williams klassische Charakterisierung der Fernsehphänome-
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Ebd. Todtenhaupt, Anja: „CyberTV. Die Zukunft des Fernsehens zwischen 0 und 1“, in: Münker, Stefan/Roesler, Alexander (Hg.): Televisionen, Frankfurt a.M. 1999, S. 127-147. 7 Vgl. Stauff, Markus: Das neue Fernsehen. Machtanalyse, Gouvernementalität und digitale Medien, Münster 2005. 8 Vgl. Spigel, Lynn/Olsson, Jan (Hg.): Television after TV. Essays on a Medium in Transition, Durham/London 2004. 9 Vgl. Nelson, Robin: „Quality TV Drama: Estimations and Influences Through Time and Space“, in: McCabe, Janet/Akass, Jim (Hg.): Quality TV. Contemporary American Television and Beyond, London/New York 2007, S. 38-51. 10 Bergmann, Kerstin/Zielinski, Siegried: „‚Sehende Maschinen‘. Einige Miniaturen zur Archäologie des Fernsehens“, in: Münker, Stefan/Roesler, Alexander (Hg.): Televisionen, Frankfurt a.M. 1999, S. 13-38, hier S. 38. 11 Vgl. Abramson, Albert: Die Geschichte des Fernsehens, München 2002, S. 1ff.
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Maeder: Zur Gouvernementalität medialer Trauerarbeit nologie unter dem Begriff des televisuellen „flows“12 nur mehr medienhistorische Anekdote zum Analogzeitalter zu sein.13 Mit Markus Stauffs Analysen zur Gouvernementalität des Fernsehens lässt sich dabei formulieren, dass das Fernsehen auf seine im Verlust seines genuinen Übertragungsmodus wurzelnde Krise mit der Implementierung neuer Regierungstechnologien antwortet. ‚Regieren‘ meint dabei im Foucault’schen Sinne ein „Ensemble von Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten“14, im vorliegenden Kontext also genau jene Prozesse, die auf die Steuerung, Anleitung und Führung spezifischer Aneignungspraktiken hinsichtlich der Fernsehnutzung – und damit implizit auf die durch den Einzug des Mediums virulent gewordene Frage nach der Konstruktion von Subjektivität und Gemeinschaft hinsichtlich der Verschränkung von Privatheit und Öffentlichkeit – gerichtet sind. Wie Stauff dabei argumentiert, stellt das ‚Neue Fernsehen‘ die Anleitung des Zugriffs auf seine Produkte vom Paradigma der Familientechnologie, die durch die Domestizierung des Fernsehmöbels dazu anleitete, ‚Familie‘ durch den – zumeist weiblich15 – gesteuerten Medienkonsum als Schaltstelle zwischen Privatem und Öffentlichem herzustellen16, auf den dispositiven Modus der (neo-)liberalen Gouvernementalität der Subjektivierungstechniken um und lenkt damit seine eigene Aneignung hinsichtlich der optimierten individuellen Wahl.17 Die Herstellung der ‚Zwillingsbruderschaft‘ – und sicherlich auch der ‚Zwillingsschwesternschaft‘ – zwischen Medium und Nutzer ist 12 Williams, Raymond: „Programmstruktur als Sequenz oder flow“, in: Adelmann, Ralf/Hesse, Jan O./Keilbach, Judith et al. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz 2001, S. 33-43. 13 Die medienhistorische Ironie dieser Diagnose liegt dabei in dem Umstand begründet, dass die Durchsetzungskraft des Televisiven selbst auf seiner Konvergenzfunktion, d.h. der Integrierbarkeit älterer medialer Formen vom Theater über das Radio bis zum Film, beruhte. (Vgl. Hickethier, Knut: „Das Fernsehen – Als Modell für die Medientheorie in der digitalen Gesellschaft“, in: Gendolla, Peter/Ludes, Peter/Roloff, Volker (Hg.): Bildschirm – Medien – Theorien, München 2002, S. 119-131.) 14 Foucault, Michel: „Subjekt und Macht“, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV: 1980-1988. Aus d. Franz. v. Michael Bischoff, HansDieter Gondek, Herrmann Kocyba u. Jürgen Schröder. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange, Frankfurt a.M. 2005, S. 269-294, hier: S. 286. 15 Vgl. Spigel, Lynn: „Fernsehen im Kreis der Familie. Der populäre Empfang eines neuen Mediums“, in: Adelmann, Ralf/Hesse, Jan O./Keilbach, Judith et al. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz 2001, S. 214-252. 16 Vgl. Stauff: Fernsehen (2005), S. 242ff. 17 Vgl. ebd., S. 256ff.
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Verworfene Selbstentwürfe damit selbst zum politisch-ökonomischen Einsatz einer Machtbeziehung geworden, deren Ziel darin besteht, „Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen.“18 Haben die Produkte des Fernsehens dabei die Konstruktion von Familiarität immer spiegelbildlich begleitet und insbesondere durch die Kreation des Topos der „Fernsehfamilien“19 deren Habitualisierung immer wieder problematisiert, so versucht der vorliegende Beitrag, anhand der von 2001 bis 2005 auf dem amerikanischen PayTV-Kanal HBO ausgetrahlten Bestatterfamilien-Serie Six Feet Under die Genese einer fernsehästhetischen Praxis zu konturieren, deren narrative und poetische Konstellationen als Implementierung der Konstitutionsbedingungen des ‚TVIII‘ und damit auch als Immunisierungen gegen die Krisenhaftigkeit der medialen Form gelesen werden können. Die ästhetischen Praktiken des Fernsehens werden dabei als stetige und performative Reflexion des Mediums auf sich selbst begriffen20 und formieren so die Darstellbarkeit desjenigen Wissens, welches das Medium über sich selbst generiert. Sie operieren damit auf jener Ebene einer „Poetologie des Wissens“, auf der „jede epistemologische Klärung mit einer ästhetischen Entscheidung verknüpft [ist]“21, und erschaffen damit jene Bühne, jenen Schauplatz, an dem sich die liberale Gouvernementalität der Subjektivierungsformen effektiv zur Aufführung bringt.
„You can count on me“: Unsichtbare Räume letalen Wissens Weihnachten: Fest einer Familiarität, deren Artifizialität längst zum allfälligen Gegenstand konsensueller Kulturkritik geworden ist. Der 24. Dezember in Los Angeles: Wie ein Theatervorhang hebt sich in der Pilotfolge der US-amerikanischen TV-Serie Six Feet Under22 der in der Sonne funkelnde Schmuck der Straßenlaternen, legt den Blick der sich gen Erdboden bewegenden Kamera auf einen Leichenwagen frei: the very best in style and comfort – wie zuvor ein fiktiver Werbespot das Gefährt pries. Am Steuer: Nathaniel Fisher, 18 Foucault: „Subjekt und Macht“ (2005), S. 286. 19 Vgl. Mikos, Lothar: „Fernsehfamilien“, in: Brinker-von der Heyde, Claudia/Scheuer, Helmut (Hg.): Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur, Frankfurt a.M. 2004, S. 201-224. 20 Vgl. Fahle, Oliver/Engell, Lorenz (Hg.): Philosophie des Fernsehens, München 2006. 21 Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich/Berlin 2008, S. 13. 22 Six Feet Under (TV-Serie), Staffel 1, Episode 1 [im Folgenden: SFU Staffel;Episode].
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Maeder: Zur Gouvernementalität medialer Trauerarbeit Patriarch der Bestatterfamilie Fisher, auf dem Weg, seinen ältesten Sohn Nate vom Flughafen abzuholen, die Zigarette unprätentiös im Mundwinkel, singend: „I’ll be home for christmas. You can count on me.“23 Doch gemäß der prophetischen Ahnung des jüngsten Sohns David wird das Gefährt bald nur noch „a total waste of money“24 sein. Der Patriarch, von einem Bus ins Jenseits befördert, wird nur noch durch den Kellereingang ins Heim der Bestatterfamilie zurückkehren. Zwei Ereignisserien eröffnet dieses initiale, multiserialisierende25 Szenario, welches die Rationalität einer mit der Zeit rechnenden Lebensführung mit der Logik des Instantanen buchstäblich kreuzt, den Unfall im Wortsinne als Figuration des Akzidentiellen einführt. Denn der Tod prozessiert hier zunächst nicht in der televisuell etablierten Ordnung indexikalischer Referentialität. Er stellt keine Spur des Lebens dar, die kriminalpsychologisch oder medizinisch – z.B. in TV-Serien wie CSI, Crossing Jordan, Grey’s Anatomy oder Emergency Room – archiviert und analysiert, dann mittels Klassifikation durch die Polizisten und Ärzte zu einem Täter- oder Krankheitsprofil verdichtet und letztlich auf ein deviantes oder pathologisches Element als transzendentalen personalen oder somatischen Signifikanten dieser semiotischen Rekonstruktion zurückgeführt werden könnte. Die „Fälle“, die Woche für Woche ins Haus der Bestatterfamilie Fisher einkehren, sind keine Glieder finiter Zeichenketten und lassen sich dementsprechend nicht lösen, aufklären oder zum Guten wenden. In fatalistischer und makabrer Regelmäßigkeit tritt das Ableben hier vielmehr jede Woche als Nullpunkt der Handlung zu Beginn einer jeden Episode in Erscheinung, markiert durch eine lange Weißblende, innerhalb derer im Stil einer Todesanzeige mit schwarzen Lettern Name, Geburts- und Todesjahr des Verstorbenen festgehalten sind. Auf der Ebene der Invarianz erscheint das Sterben damit nicht innerhalb einer Epistemologie des Zeichens, sondern als quantifizierbares Geschehen, als berechenbare Größe innerhalb der Gleichung „Ein Leben – ein Tod“: keine hermeneutische Herausforderung, sondern empirische Regelmäßigkeit; keine Krise des Sinns, sondern Aufgabe der Verwaltung. Das epistemologische Paradigma dieser temporalen Verteilung ist mithin die Statistik – als Form ontologischer Gleichgültigkeit gegenüber dem Ereignis.26 Six Feet Un23 24 25 26
SFU 1;01. Ebd. Vgl. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, Frankfurt a.M. 1993, S. 57. Barbieri, Alessandro/Vogl, Joseph: „Historische Epistemologie und Medienwissenschaft. Ein Gespräch mit Joseph Vogl“, in: tele visionen. historiografien des fernsehens. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 14 (2001), S. 115-128, hier S. 117f.
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Verworfene Selbstentwürfe der fungiert auf der basalen Ebene narrativer Komposition als verzeitlichter Raum der Verteilung von Probabilität, als visuelle Performanz einer „normalen Morbidität oder Mortalität“27. Pro Woche ein Tod: damit lässt sich rechnen. Insofern prozessiert die Serie in ihrer medialen Performanz zugleich innerhalb eines ökonomisch verfassten Raums, der eine Allianz der Bestattungsarbeit und der seriellen Struktur der Serie selbst zeitigt. Verweist dabei der Begriff des undertakers seit jeher sowohl auf die Tätigkeit des Totengräbers als auch auf diejenige des Unternehmers,28 so führt Six Feet Under diese etymologischen Bestimmungen in der Fisher-Familie wieder zusammen: Als Bestattungsunternehmen führen die Fishers buchstäblich Buch über den Tod. Dass das Pendel der biologischen Uhr irgendwann ausklingt, ist aus ihrer Perspektive zunächst keine subjektive Tragödie, sondern Ressource, mit der sich kalkulieren und wirtschaften lässt. Ihre Arbeit teilt sich dabei – personifiziert durch die Brüder David und Nate – recht präzise entlang der von Foucault beschriebenen Struktur pastoraler Sorge, d.h. der kalkulierenden Verantwortung für eine Gesamtheit und der individuellen Sorge um jeden Einzelnen.29 „Nach dem heiligen Amt des Geistlichen“, formuliert bereits das Gründungsdokument der National Funeral Directors Association von 1884, gebe es „zweifellos keinen anderen Beruf als den des funeral director, in dem ein so hohes Maß an moralischem Bewußtsein so unabdingbar notwendig ist.“30 Der jüngere, zum Bestatter ausgebildete und im Verlauf der ersten Staffel nicht zufällig zum Diakon in seiner episkopalischen Kirche gekürte Sohn David verkörpert dabei den pastoralen Blick auf die Gesamtheit der Kunden im Fisher Funeral Home. Er ist es, der je nach Religionszugehörigkeit des Verstorbenen sofort die adäquaten Kreuzchen auf den Bestellbogen kritzelt, die richtige Seite im Sargkatalog aufschlägt, wenn er die PKW-Präferenzen des Verstorbenen in Erfahrung bringt, die Namen von Rabbinern kennt, um Lieferanten für buddhistischen Beerdigungsbedarf weiß oder das finanzielle Potenzial von Motorrad-Liebhabern einzuschätzen vermag. Am Grab stößt Six Feet Under in Person von David auf die Sozialordnung der Gesell-
27 Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978-1979. Aus d. Französischen v. Jürgen Schröder. Hg. v. Michel Sennelart. Frankfurt a.M. 2006, S. 97. 28 Vgl. Bröckling, Ulrich: „Unternehmer“, in: Ders./Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004, S. 271-276, hier S. 271. 29 Vgl. Foucault, Michel: „‚Omnes et singulatim‘: zu einer Kritik der politischen Vernunft“, in: Ders.: Schriften (2005). Bd. IV, S. 165-198. 30 Zit. nach Ariès, Philippe: Geschichte des Todes, München 2005, S. 766.
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Maeder: Zur Gouvernementalität medialer Trauerarbeit schaft.31 Ebenso wie dieses sozio-thanatologische Fallwissen gehören aber auch die Kenntnisse um die Verwesungsprozesse des toten Körpers zu Davids Kapitalien, die an der Schnittstelle vom Handwerk des Thanatopraktikers und des wirtschaftlichen Wissens des Unternehmers angesiedelt sind. Mit der unsichtbaren ZahlenOrdnung der Betriebswirtschaft korrespondiert dabei die gleichsam der Sichtbarkeit entzogene Arbeit des Leichenpräparators – der bei seiner kosmetischen Körper-Arbeit im Keller des Fisher-Hauses das überschüssige Blut gegen Einbalsamierungsflüssigkeit austauscht und qua postmortaler Schönheitschirurgie das abjekte, mit einem gespenstischen biologischen Nachleben geschlagene Körperding in ein kommensurables Leichenobjekt, in ein Bild des schlafenden Lebens transformiert.32
Doctors of Grief: Sichtbare Räume affektiven Wissens Der dritte wesentliche Arbeitsbereich der Bestatter – und damit die Komplementärfigur in diesem pastoralen Szenario – verkörpert sich hingegen im ältesten Sohn Nate, der erst nach dem Tod des Vaters das nie angestrebte Firmenerbe antritt. Eine wahrhaft heilige, weil immaterielle und augenscheinlich vom profitorientierten Restgeschäft abgesonderte Dienstleistung: die – um mit Hardt und Negri zu sprechen – affektive Arbeit, bei der tatsächlich das Wohlergehen jedes Einzelnen auf der Agenda steht.33 Im Beratungsraum des Hauses – der strikt getrennt ist vom Büro als selbstredend auch vom Keller – nehmen die Kunden dabei auf einer Couch Platz, zwei Sessel sind ihnen gegenüber für die Bestatter reserviert, zwischen ihnen ein Tisch samt Taschentuchhalter, auf einem Beistelltisch Prospekte für Blumenarrangements, im hinteren Bereich eine – analog zum Supermarktregal konstruierte – Sargwand mit der Palette verfügbarer Beerdigungsbehältnisse. Zwischen Verkaufsstand und Therapiezimmer situiert, dient dieser Raum zunächst dem Vertragsabschluss, aber auch einer Art Visite, bei der die Bestatter den emotionalen Zustand der Angehörigen eruieren, um ihnen schließlich adäquate Angebote (Beerdigung/Krematorium; geschlossener/offener Sarg; Trauerfeier im Haus/Gottesdienst in der Kirche; Friedhofswahl; Blumendekoration; Sterbeanzeigen; Sargbeigaben; Einkleidung des Verstorbenen etc.) zu offerieren. Alle nachfolgenden Arbeiten – das Handwerk des Thanatopraktikers als auch die Orga31 Vgl. Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 158. 32 Vgl. Ariès: Geschichte des Todes (2005), S. 768. 33 Vgl. Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M./New York 2003, S. 304.
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Verworfene Selbstentwürfe nisation des Betriebswirts – können in der Folge auch als nachgeordnete Tätigkeiten bestimmt werden, die dieser ursprünglichen Dienstleistung beim Erstkontakt mit dem Kunden und damit der durch die Bestatter angeleiteten „Handhabung und Erzeugung von Affekten“34 der Trauer verpflichtet bleiben. Die emotionalen Reaktionen der Angehörigen sind dabei so weit gefächert und zugleich stereotyp wie die Sargpalette im Hintergrund: Mal brechen sie in Tränen aus, unterbreiten den Bestattern ihre gesamte Lebensgeschichte, ergehen sich in Schuldzuweisungen, werden von Wutanfällen heimgesucht oder zeigen apathische Gleichgültigkeit. Nate, der über kein thanatopraktisches Können sowie nur über rudimentäres betriebswirtschaftliches Wissen verfügt, reagiert darauf zumeist empathisch: Schiebt David den weinenden Kunden bloß routiniert den Taschentuchhalter über den Tisch und warnt den Lehrling – den therapeutischen Charakter des Raumes durchaus antizipierend – vor ‚Gegenübertragungen‘, so lockert Nate das Gespräch durch Small-Talk auf, hält Händchen, erteilt Ratschläge, erzählt Persönliches, nimmt in den Arm und gibt nebenbei – anfangs zu Davids Ärger – allerlei Rabatte. Im Bestatter findet sich somit, wie schon Ariès bemerkte, zugleich ein Psychotherapeut: „Doch obwohl sie [die funeral directors – D.M.] den Todesmarkt abgrasten wie jeden anderen ökonomischen Markt auch und obwohl sie das kapitalistische Geschäftsgebaren bruchlos übernahmen, verstanden sie sich von Anfang an als eine Art Priester oder Ärzte mit einer moralischen Funktion. […] Sie wollten doctors of grief sein, mit einer Berufung zur grief therapy. Ihnen fiel jetzt die Aufgabe zu, den Schmerz der trauernden Familien zu lindern.“35
Die Ökonomien des Letalen – wie Six Feet Under sie vorführt – entspringen somit jener biopolitischen Wende, die Foucault in der berühmten Schlusspassage von Der Wille zum Wissen beschreibt36 und die Roberto Esposito wie folgt zusammenfasst: „Wenn das alte souveräne Recht, so könnte man sagen, das Leben vom Standpunkt der Verteilung des Todes betrachtet, so funktionalisiert die neue biopolitische Ordnung sogar den Tod im Rahmen der Erfordernis der Reproduktion des Lebens.“37
34 Ebd. 35 Ariès: Geschichte des Todes (2005), S. 766f. 36 Vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983, S. 131ff. 37 Esposito, Roberto: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, Berlin 2004, S. 190.
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Maeder: Zur Gouvernementalität medialer Trauerarbeit Es ist genau diese Wende, diese zweite Ereignisserie, welche der deutschen Übersetzung des Untertitels der Serie entgeht: „Gestorben wird immer“, heißt es hier unter Betonung des verzeitlichten Raums ökonomischer Probabilität. Die amerikanische Version führt hingegen das Motto „Better living through death“ an und akzentuiert damit den auch von Produzent Alan Ball unmissverständlich vorgebrachten Umstand, dass der basale und mehr-als-ironische Gestus der Serie auf einer Umfunktionierung des Todes für die Belange der Lebenden zielt. In der seriellen Rhythmik von Reprise und Transgression inventarisiert Six Feet Under daher nicht nur die ökonomisch verfasste Struktur eines invarianten Milieus, sondern führt sogleich in einem Prozess des Wiederholens und Durcharbeitens38 auf der Ebene dysfunktionaler Subjektivierungsprozesse sowie der Familie als prekär gewordenem Gemeinschaftszusammenhang Variabilitätsbahnungen ein, die zum einen psychopathologische Konsequenzen der persistenten Sterblichkeitsdrohung darstellen, zum anderen aber auch deren quasi-therapeutische Behandlung narrativieren.39 Die Frage, die in dieser Engführung der beiden Ereignisserien verborgen liegt und deren Beantwortung die Geschichte der Fisher-Familie selbst ist, ließe sich dementsprechend wie folgt formulieren: Kann der Tod – sowohl der eigene als auch der der anderen – Gegenstand eines Trauer-Managements sein, das analog zum unternehmerischen Tun der funeral directors funktioniert? Lässt sich also dieses BeinaheNichts40 der Sterblichkeit als Ressource, Movens oder Wert für eine Ökonomie des Selbst abschöpfen? Six Feet Under situiert sich daher – mit ergiebiger selbstreflexiver Ironie – im Bereich all jener posttheologischen self-helpTraditionen, die psychotherapeutische, religiöse, esoterische, emanzipatorische und nicht zuletzt ökonomische Diskurse zu einem überaus wirkmächtigen globalkulturellen Narrativ amalgamieren.41 Dieser Kontext wird dabei innerhalb der Serie beständig und bei
38 Vgl. Freud, Sigmund: „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten (Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse, II)“, in: Ders.: Zur Dynamik der Übertragung. Behandlungstechnische Schriften, Frankfurt a.M. 2006, S. 8596. 39 Vgl. Merck, Mandy: „American Gothic. Undermining the uncanny“, in: Akass, Kim/McCabe, Janet (Hg.): Reading Six Feet Under. TV to die for, London 2005, S. 59-70, hier S. 69. 40 Vgl. Jankélévitch, Vladimir: Der Tod, Frankfurt a.M. 2005. 41 Vgl. Sayeau, Ashley: „Americanitis: self-help and the American dream in Six Feet Under“, in: Akass, Kim/McCabe, Janet (Hg.): Reading Six Feet Under. TV to die for, London 2005, S. 94-105; des Weiteren Illouz, Eva: Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe, Frankfurt a.M. 2009.
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Verworfene Selbstentwürfe unzähligen Gelegenheiten anhand von Protagonisten, Produkten und Institutionen der self-help herbeizitiert. Das Spektrum reicht dabei von Trauergruppen, Survival Trainings, Anti-Aggressionstrainings, Selbsthilfegruppen von Sexsüchtigen, Selbstoffenbarungs-Talkshows und Selbsterfahrungsseminaren über konsumbasierte Life-Management-Systeme, Eheberatung, Guidance Counselor, zahllose Psychiater, Psychologen und Pastoren, Mediation, Gebet, Ratgeberliteratur mit vielsagenden Titeln wie „No death, no fear“, „The 7 Habits of Highly Effective People“ und „Coherent Narrative“ bis zu einem Floristinnen-Seminar mit implementierten Yogaund Atemübungen oder einem Strickzirkel mit dem sprechenden Namen „Knitting for your body and soul“. Im Foucault’schen Sinne können diese augenscheinlich mannigfaltigen Phänomene als auf unterschiedlichsten Ebenen ansetzende und in divergierenden medialen Konstellationen operierende Machtpraktiken bestimmt werden, die mittels verschiedenster Anleitungs-, Beratungs- und Führungskonzepte weniger präskriptiv oder prohibitiv, sondern eher produktiv auf das Selbstverhältnis der partizipierenden Subjekte einwirken. Sie stellen damit Regierungstechniken dar, die affektive wie narrative Selbstverhältnisse produzieren, indem sie das Subjekt als Manager oder Unternehmer seiner eigenen Subjektivität setzen.42
Subjektivierungsachsen: Empowerment, Doing Gender, Kreativität Die bifokale Logik von Repetition und Sukzession, die das serielle Denken von Six Feet Under grundiert, produziert dementsprechend in der sich über fünf Jahre und 63 Episoden erstreckenden Narration Subjektivierungstechniken, welche in der Folge personal wie programmatisch zugespitzt werden sollen. Verwalterin des viktorianisch anmutenden Fisher-Hauses mit seinen schweren Möbeln und seiner übersteigerten Biederkeit ist Ruth, deren hochgeschlossene Kleider nicht nur mit den Tapetenmustern verschmelzen, sondern die zu Beginn der Serie mit Handfeger und Putzlappen noch jede Spur von Affektivität fortzuwischen versucht, ihre Wut auf den verstorbenen Gatten nur eruptiv zu äußern vermag und sich außer Stande zeigt, eine nicht auf infantilisierender Kontrolle basierende Beziehung zu ihren Kindern aufzubau42 Vgl. dazu Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007; des Weiteren ders./Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas: „Einleitung“, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004, S. 9-15.
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Maeder: Zur Gouvernementalität medialer Trauerarbeit en. Den Untergang des hysterisch-neurotischen Hausfrauenmodells inszeniert die Serie dabei nicht als Triumphzug, sondern als sich in, mit und durch Ruth selbst ereignenden, prekären Transformationsprozess eines marginal gewordenen, abhängigen Lebens in ein selbstverantwortliches Dasein, als feministisches Programm einer Substitution des mütterlichen Subjekts der Sorge durch das weibliche Subjekt der Begierde.43 Vermittelt durch eine neue Arbeitsstelle, mehrere Lieb- und Freundschaften sowie nicht zuletzt ein Selbsterfahrungsseminar namens The Plan, das seinen Teilnehmern die Neubeschreibung des eigenen Lebens anhand einer BauhandwerksSemantik ermöglicht und sie dazu anleitet, ‚Architekten‘ ihres eigenen Selbst-Gebäudes zu werden, kann dieser Transformationsprozess, der noch in der letzten der 63 Episoden nicht abgeschlossen scheint, als eine Art Empowerment-Programm charakterisiert werden, das Stein für Stein oder in diesem Falle Episode für Episode ein handlungsmächtiges Selbst entstehen lässt, aus dessen anfänglicher Ohnmacht Baustoffe für die frisch renovierte Ich-Immobilie gefertigt werden.44 Folgt auch die Subjektivierungsachse der jüngsten Tochter Claire dem aktivierenden Narrativ der Kreativität45 – sowie dem damit verbundenen Regime des Nonkonformitätswettbewerbs – und erscheint auch Davids Coming Out entlang der subjektivierenden Bahnen eines Doing Gender zu verlaufen, das im Dogma der Verantwortung für die eigene Geschlechtsidentität eine voluntaristische Komponente beinhaltet – auch wenn es darin nicht aufgeht –46, so stellt doch erst der Subjektivierungsprozess des ältesten Sohns Nate einen prägnanten Komplementärkontrast zu den genannten Narrativen der Selbstermächtigung dar.
43 Vgl. Gorton, Kristyn: „Domestic Desire. Older Women in Six Feet Under and Brothers & Sisters“, in: Gillis, Stacy/Hollows, Joanne (Hg.): Feminism, Domesticity and Popular Culture, New York/London 2009, S. 93-105. 44 Bröckling, Ulrich: „Empowerment“, in: Ders./Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004, S. 55-62, hier S. 59. 45 Vgl. McCabe, Janet: „‚Like, whatever‘: Claire, female identity and growing up dysfunctional“, in: Akass, Kim/McCabe, Janet (Hg.): Reading Six Feet Under. TV to die for, London 2005, S. 121-134. 46 Vgl. Chambers, Samuel A.: „Telepistemology of the Closet; or, The Queer Politics of Six Feet Under“, in: The Journal of American Culture 26,1 (2003), S. 24-41.
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Verworfene Selbstentwürfe
Das konjunktivische Selbst und die Depression Im einzigen staffelübergreifenden Cliffhanger der Serie verlassen wir Nate am Ende von Staffel 2 inmitten einer durch die fehlende Medikation eines Aneurysmas im Gehirn nötig gewordenen Kraniotomie. Wir wissen zu diesem Zeitpunkt, dass er sich von seiner Verlobten Brenda getrennt hat und mit Lisa, seiner Ex-Freundin aus Seattle, ein nicht-geplantes Kind erwartet. Weil wir außerdem gewahr sind, dass jede Episode mit einem Todesfall beginnt, ahnen wir nichts Gutes, als Staffel 3 uns zu Beginn der ersten Episode wieder in den OP führt. Und in der Tat: Die in milchigem Licht gefilmte OP-Sequenz mündet in der vertrauten Weißblende, die Nates Namen, sein Geburts- und schließlich sein Todesjahr aufführt. In mehr als formaler Anlehnung an die Endsequenz aus 2001 – A space odyssey zeigen die folgenden Szenen Nate zunächst beim gemeinsamen Restaurantbesuch mit dem toten Vater, dann beim Besuch seiner eigenen Beerdigung, anschließend in rascher Folge als an globaler Aphasie Erkrankten, als fürsorglichen Ehemann von Lisa, als sorglosen Partner von Brenda, als Vorzeige-Sohn, als ewigen Rebellen, als dickbäuchigen TV-Junkie. Wie in Kubricks Meisterwerk führt dabei jeder Perspektivwechsel in einen anderen Raum des Fisher-Hauses, jedoch nicht als Prozess des Alterns und der Neugeburt nach dem Tod des Menschen, sondern als Panorama der Lebens-Szenarien, der potenziellen Selbste. Es ist dies wohl die dichteste Szene, in der die Serie ihre eigene Serialität als Form „konjunktivischen Erzählens“47 reflektiert. Signifikanterweise flüchtet Nate aus dem Mögliche-Welten-Szenario, als er sich selbst als couch potato beim Fernsehschauen erblickt. Gemäß der in dieser Sequenz ostentativen Referenz auf die Quantentheorie nimmt er dabei den unwahrscheinlichen, sowohl lebenden als auch toten Status von Erwin Schrödingers zur prominenten populärkulturellen Figur gewordener hypothetischer Katze ein,48 bis er wieder in die intelligible Position eines Lebens zurückkehrt; eines Lebens als kontingentem Raum simultaner Möglichkeiten, in welchem die Zwänge linearer Zeitlichkeit nicht nur aus den Fugen geraten, sondern als Unfug entlarvt sind.
47 Kirchmann, Kay: „Philosophie der Möglichkeiten. Das Fernsehen als konjunktivisches Erzählmedium“, in: Fahle: Philosophie des Fernsehens (2006), S. 157-172, hier S. 162f. 48 Vgl. Laughlin, Robert B.: „Schrödingers Problem. Oder: Was bei der Erfindung der Quantenmechanik nicht logisch zu Ende gedacht wurde“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich et al.: Geist und Materie – Was ist Leben? Zur Aktualität von Erwin Schrödinger, Frankfurt a.M. 2008, S. 44-56, hier S. 54.
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Maeder: Zur Gouvernementalität medialer Trauerarbeit Gemäß der konservativen Kosmologie „We all end up in a universe in which we exist“49 wird Six Feet Under in der Folge jedoch an Nate zeigen, dass die Persistenz der Sterblichkeitsdrohung keine Befreiung des Lebens bedeuten muss, das sich ob seiner ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ der immanenten Sinnbehausungen gleich mitentledigen könnte. Im Verlauf der dritten Staffel bietet die Serie vielmehr eine Genese der Depression. Nate, nun doch Lisa Ehemann geworden, erscheint uns zunehmend apathisch, Flashbacks zum Kontingenzspiel an der Schwelle von Leben und Tod suchen ihn heim. „I’m lucky, so fucking lucky“50 wird er in Bezug auf sein Überleben sagen, sein Gesicht dabei jedoch hinter seiner Tochter Maya versteckend, die er auf dem Arm trägt. Das Damoklesskalpell der möglichen Welten stets über und in seinem Kopf spürend, wird ihm in der Folge die soziale Existenz selbst – samt amouröser Bindung zu seiner Frau – zu einer Anstrengung, die er nur schlecht eskamotieren kann. Am tragikomischen Siedepunkt dieser heißkalten Ehe streckt Nate seine Fühler vorsichtig aus dem Schneckenhaus des Ich und bringt Lisa ein Liebesgeständnis dar, das doch letztlich nur seine eigene Verzweiflung offenbart: „I’m really proud of us. For making this work. For being present. For showing up each day. For being committed to being a family.“ Lisas verblüffte Reaktion: „Is it that hard for you?“51 In der Tat formuliert Nate hier die Beziehung zu Lisa und zu seiner Tochter als Leistung, nicht als Gegebenheit, als Gegenstand einer Verwirklichung oder besser noch: eines stets zu verwirklichenden sozialen oder Selbst-Projekts, als ein sich selbst enthusiasmierendes „Leben im Entwurfsstadium.“52 Dass Nate hier als ein Subjekt erscheint, das in der konjunktivischen Erfahrung möglicher Welten keine Befreiung, sondern nur latent depressive Beklemmung findet,53 muss folglich im Rahmen von Alain Ehrenbergs Genealogie der Depression als Leitmotiv psychopathologischer Krankheitslehre in der Gegenwart gelesen werden, charakterisiert Ehrenberg doch die Depression als „a means of expressing the problems, conflicts, and dilemmas, which have accompanied this process of generalization of values of autonomy
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SFU 3;01. Ebd. SFU 3;04. Klopotek, Felix: „Projekt“, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004, S. 216-221, hier S. 220. 53 Munt, Sally R.: „A Queer Undertaking: Anxiety and Reparation in the HBO Television Drama Series Six Feet Under“, in: Feminist Media Studies 6,3 (2006), S. 263-279, hier S. 265.
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Verworfene Selbstentwürfe which now permeates the whole of social life“54. Die Depression schreibt sich daher als Negativkomplement zum unternehmerischen Selbst konzis in das skizzierte Gefüge der Selbstsorgepraktiken ein: „Die Neurose ist die Krankheit des Individuums, das durch seine Konflikte gespalten wird, das durch die Spaltung zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen zerrissen wurde. Die Depression ist die Krankheit des Individuums, das sich scheinbar von den Verboten emanzipiert hat, das aber durch die Spannung zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen zerrissen wird. Wenn die Neurose das Drama der Schuld ist, so ist die Depression die Tragödie der Unzulänglichkeit. Sie ist der vertraute Schatten des führungslosen Menschen, der des Projekts, er selbst zu werden, müde ist und der versucht ist, sich bis zum Zwanghaften Produkten oder Verhaltensweisen zu unterwerfen.“55
In der Depression begegnen wir damit einem Subjekt, das an seiner eigenen Regierbarkeit krankt. Im Spiegel des Selbst entdeckt es sich in seiner Endlichkeit nicht als ökonomische Ressource, sondern als Projekt, dessen Verwirklichung nicht mehr gelingen mag. Dazu noch einmal Ehrenberg: „Wenn, wie Freud dachte, der Mensch neurotisch wird, weil er das Ausmaß des Verzichts, das die Gesellschaft fordert, nicht ertragen kann, so wird er depressiv, weil er die Illusion ertragen muss, dass ihm alles möglich ist.“56
Die Trauerarbeit des Fernsehens Six Feet Under portraitiert im Modus des TV Serials Subjektivität und Gemeinschaft damit nicht als Stabilitäts- oder Strukturprinzip, sondern als Gegenstand einer Arbeit. Subjektivität ist für die Serie Movens, Material und Telos zugleich, wobei die serielle narrative Ordnung nicht im Dienste dieser Denkfigur steht, sondern sie allererst hervorbringt. Im spiralförmigen Doppelschritt aus Wiederholung und Differenz, episodischer Kohärenz und epischem Erzählbogen erscheint das Serielle hier als modularisierte narrative Form, deren Binnenökonomie prinzipiell kontingente Ereignisserien miteinander in Inteferenzverhältnisse setzt. Die Serie zeigt somit nicht nur die serielle Technizität, das wiederholende wie durcharbeitende Prozessieren der Selbstsorgepraktiken – das mit der seriellen Struk-
54 Ehrenberg, Alain: „Depression: Discontent in the Civilization or New Style of Sociality“, in: between two deaths. Ausstellungskatalog Center for Art and Media Karlsruhe. Hg. v. Ellen Blumenstein/Felix Ensslin, Ostfildern 2007, S. 61-65, hier S. 62. 55 Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2008, S. 22f. 56 Ebd., S. 305.
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Maeder: Zur Gouvernementalität medialer Trauerarbeit tur von Psychotherapie und zahlreicher anderer self-help-Formate korrespondiert –, sondern generiert zugleich einen verzeitlichten Raum televisuellen Wissens, dessen visuelle Enge aus der gleichmäßigen Normalverteilung von Probabilität, dessen epische Weite aus der technizistischen Verarbeitung kontingenter Selbst- und Sozialverhältnisse auf der Ebene dysfunktionaler Subjekte wie prekärer Gemeinschaften und dessen Kohärenz aus der narrativen Steuerung dieser miteinander interferierenden Möglichkeitsverkettungen entsteht. Transversal durchquert werden diese Dimensionen durch die Logik des Affektiven, das den Gegenstand der ökonomischtherapeutischen Trauerarbeit bildet, im Fokus der Destitution der Familie als disziplinarischem, prohibitivem Ort der Pflichtverteilung sowie ihrer Restitution als Möglichkeitsraum der Freiheitspflichten steht, als Abwesendes ständig von der Struktur der Depression umkreist wird und schließlich – aber nicht zuletzt – das dramatische Mittel zur Generierung von Zuschauerbindung darstellt. In der Art und Weise ihres narrativen und poetischen Prozessierens ist die Serie damit vollends absorbiert von der Funktionsweise des ‚TVIII‘, das nicht nur auf die affektiven Rezeptionsprozesse rekurriert, sondern sie zunehmend in sein ästhetisches Prozessieren integriert. Der Anspruch, den Untergang des televisuell etablierten Familienmodells im Rahmen der Disziplinargesellschaft nicht nur vorzuführen, sondern zugleich die hier unmögliche Substitution gemeinschaftlicher Bande durch optimierte, Affekt-Management betreibende Individuen vorzuführen, grundiert die narrativen Verästelungen sowie die poetischen Modi ihrer Darstellung. Six Feet Under ist mithin die ambivalente Form, in der das Fernsehen zu sich selbst in ein Verhältnis der Zwillingsbruderschaft eintritt, indem es seine eigene Transformation zeigt, denkt und – vor allem auch – betrauert.
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Utopische Räume EINLEITUNG VON INGO LAUGGAS
Der Begriff der Utopie ist ein räumlicher. Wo von einem Nicht- oder von einem Nirgendort die Rede ist, wird seit dem frühen 16. Jahrhundert eine räumliche Perspektive eingenommen; von „utopischen Räumen“ zu sprechen ist demnach des Pleonastischen verdächtig. Überlegungen zum Räumlichen am Utopischen, wie sie auf den nächsten Seiten einleitend angestellt werden, sollten sich daher das analytische Potenzial in Bezug auf Politisierung und Symbolisierung anwendungsorientiert zunutze machen, das dem viel zitierten „spatial turn“ in den Kulturwissenschaften innewohnt. Die Kritik an diesem ‚Label‘ ist Legion1 und braucht an dieser Stelle nicht über die Feststellung hinaus diskutiert zu werden, dass RaumMetaphern wie „Grenze“ und „Territorium“, „Rand“ und „Peripherie“ fraglos dazu geeignet sind, sich den grundlegendsten kulturwissenschaftlichen Problemstellungen zu nähern: dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, der Definitionsmacht über Ein- und Ausschlüsse, der Dialektik von Realem und Imaginiertem, Praxis und Repräsentation. Im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch v.a. von Bedeutung, dass zu einem gegenwärtigen Zeitpunkt, an dem von Ortlosigkeit keine Rede mehr sein kann und gern das Lokale im Verhältnis zum Globalen thematisiert wird, auch außerhalb des utopischen Denkens zum Thema wird, wie gesellschaftliche Widersprüche nicht nur thematisiert oder repräsentiert, sondern v.a. auch gelöst werden. Der Gattung Utopie ist freilich per defintionem eigen, Gegenbilder zur bestehenden gesellschaftlichen Wirklichkeit zu entwerfen, in welchen diese Widersprüche beseitigt oder zumindest reduziert werden. In der Literaturwissenschaft gilt neben einer sich im Text selbst zeigenden Fiktionalität dieses Verhältnis zwischen Wirklichem und Möglichem als konstitutiv für das Genre: Utopien antworten auf Geschichte – nicht anders als in Musils Mann ohne Eigenschaften die Gegenüberstellung von „Wirklichkeits1
Vgl. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan: „Was lesen wir im Raume? Der spatial turn und das geheime Wissen der Geographen“, in: Dies. (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 7-45, hier S. 12ff.
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Utopische Räume sinn“ und „Möglichkeitssinn“ konstitutive Voraussetzung für die Entfaltung eines utopischen Projekts ist. Zwei Beiträge des folgenden Abschnitts setzen sich mit Werken auseinander, die explizit in der Geschichte der literarischen Utopie zu verorten sind und sich demnach auch von der namenstiftenden ersten Ausformulierung, Thomas Morus’ Utopia (1516), absetzen. Michael Dominik Hagel untersucht mit Johann Karl Wezels Robinson Krusoe eine der zahlreichen „Robinsonaden“ und damit einen insularen Raum, in welchem der oben angesprochene Vorsatz, eine Gesellschaft frei von Widersprüchen zu zeichnen, zumindest vordergründig umgesetzt scheint. Auch in der Welt, die Franz Werfel in Stern der Ungeborenen entwirft und deren gesellschaftspolitische Ordnung Christian Zemsauer rekonstruiert, scheinen ökonomische und soziale Unterschiede aufgehoben, es herrscht Gewaltfreiheit und Harmonie. Clemens Apprich hingegen untersucht mit städtischen Inszenierungen im Cyberspace einen der meistdiskutierten Räume der letzten beiden Jahrzehnte, und auch hier begegnen wir wieder dem Traum von der idealen Gesellschaftsordnung, diesmal genährt von der in die vernetzte demokratische Selbstregierung gesetzten Hoffnung. Theodor Herzl hingegen grenzte sich nicht nur von den literarischen Sozialutopien seiner Zeit ab, sondern sogar vom Begriff der Utopie selbst, die sein Judenstaat eben genau nicht sein sollte. Clemens Peck liest in seinem Beitrag die zionistische Utopie im Lichte der Theorien Foucaults zur pastoralen Lenkung, wie sie in der Geschichte der Gouvernementalität entwickelt werden. Bemerkenswert in einem Zusammenhang, der von Räumen handelt, ist der Umstand, dass zu den spezifischen Zügen, die Foucault bezüglich der pastoralen Macht herausarbeitet, just ihre nicht ortsgebundene Wirksamkeit gehört: Es geht um „die Vorstellung einer Macht, die eher auf eine Multiplizität als auf ein Territorium ausgeübt wird“2. Den Gesellschaftskörper, auf den die Bio-Macht wirkt, und der ebenso wenig über ein Territorium zu definieren ist, macht übrigens auch Christian Zemsauer zum Thema, indem er die Macht der astromentalen Gesellschaft über Geburt und Tod, zentrales Element in Werfels Stern der Ungeborenen, in diesem Sinne rekonstruiert. Die Übertragung gesellschaftlicher Organisationsprinzipien in die digitale Welt hingegen kommt ohne Räumlichkeit kaum aus, doch paradoxerweise wird ausgerechnet der ‚Cyber-space‘ häufig als Symptom gegenwärtiger Enträumlichungs- und Entortungsten-
2
Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Übersetzt v. Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, Frankfurt a.M. 2006, S. 192.
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Lauggas: Einleitung denzen herangezogen.3 Die Analyse seines utopischen Potenzials, die Clemens Apprich im Folgenden vornimmt, schließt an einen Diskurs der 1990er Jahre an, dem das Internet als Dorado „für die Verfechter eines Begriffs von Freiheit, der idealiter ohne Gesetz und Staat auskommt“, erschien, tauge es doch mit seiner „unhierarchischen Struktur zur Verteidigung eines strikt staats- und regulierungsfeindlichen Begriffs von Freiheit“.4 Der Cyberspace erscheint so als treffliche Antwort auf die Rede vom Ende der Geschichte, kehren mit ihm doch die „Grundmuster der utopischen Rhetorik zurück“5. Mit Manuel Castells spricht Apprich von einer Dominanz des „Raums der Ströme“ über jenen der Orte und von einer Verdichtung von Raum und Zeit in der digitalen Welt, wodurch – ähnlich wie im Beitrag von Michael Dominik Hagel über Wezels Robinson, der sich durch die Simulierung einer Evolution von den klassischen Utopien der frühen Neuzeit abhebt, die stets einen statischen Entwurf zum Gegenstand haben – der Faktor Zeit ins Spiel kommt. Dieser wird jedoch gemeinhin in eigentümlicher Weise entweder einigermaßen unreflektiert an den des Raumes gebunden, wenn nicht gar von ihm abgeleitet, oder ihm aber komplementär als die eigentlich „entscheidende Dimension“6 gegenübergestellt: sei es in der Konstatierung einer Wende in der Geschichte literarischer Utopien weg von Raum-, hin zu Zeitutopien im 18. Jahrhundert, sei es auf den Spurensuchen des „spatial turn“, die selten ohne das selbst schon klassisch gewordene Foucault-Zitat auskommen, wonach die Geschichte als „große Obsession des 19. Jahrhunderts“ abgelöst worden sei von einem „Zeitalter des Raumes“7. Man könne vielleicht sogar sagen, so Foucault weiter, „einige der ideologischen Konflikte hinter den aktuellen Auseinandersetzungen werden zwischen den frommen Abkömmlingen der Zeit und den hartnäckigen Bewohnern des Raumes ausgetragen“8. Die Konstruktion eines solchen Dualismus ist naheliegenderweise von zentraler Bedeutung, wo es um den Möglichkeitssinn geht, denn für die Möglichkeit von Fortschritt und Verände3 4 5 6
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8
Vgl. exemplarisch Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 287f. Bredekamp, Horst: „Politische Theorien des Cyberspace“, in: Konersmann, Ralf: Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 320-339, hier S. 327. Ebd., S. 328. Becker, Ralf: Sinn und Zeitlichkeit. Vergleichende Studien zum Problem der Konstitution von Sinn durch die Zeit bei Husserl, Heidegger und Bloch, Würzburg 2003, S. 11. Foucault, Michel: „Von anderen Räumen“. Übersetzt v. Michael Bischoff, in: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften Band IV, Frankfurt a.M. 2005, S. 931-942, hier S. 931. Ebd.
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Utopische Räume rung ist Zeit zumindest auf den ersten Blick die wesentlichere Kategorie. Der Dualismus von Raum und Zeit ließe sich damit in jenen von Sein und Werden übersetzen: „time as Becoming and space as Being, time as action and space as context“9. Zeit und Raum sind mithin weder beschreibend noch konzeptuell plausibel voneinander zu trennen, vollzieht sich doch alle Handlung in Zeit-Räumen, „time-spaces“10. An einem kleinen Beispiel sei illustriert, wie sich die verschiedenen Spielarten des impliziten Wissens, des Möglichkeitssinns, die den vorliegenden Band inspirieren, mit zeitlichen ebenso wie mit räumlichen Begriffen fassen lassen, mehr noch: diese in der Konzeption des Utopischen konvergieren können, zumal wenn dieses mit Bloch „einer unterdrückten oder erst sich anbahnenden Tendenz der bevorstehenden gesellschaftlichen Stufe“11 gleichkommt, d.h. in der bestehenden Realität in Form von „ungleichzeitigen Inhalte[n]“12 also schon angelegt ist. Ähnliches nämlich formuliert Raymond Williams bei seinem Versuch, die in der Gesellschaft wirksamen kulturellen Kräfte zu benennen, und im vorliegenden Zusammenhang sticht ins Auge, wie diese augenscheinlich auf einer Zeitachse verortet werden. Williams spricht bekanntlich von residualen, dominanten und emergenten Kräften und konstatiert: „what we have to observe is in effect a pre-emergence, active and pressing but not yet fully articulated“13, und zwar mit Augenmerk auf den Unterschied zwischen den Elementen, die lediglich neue Erscheinungsformen der dominanten Kultur sind, und jenen, die in tatsächlicher Opposition zu dieser stehen. Ich habe an anderer Stelle bereits die (auch innerhalb der Cultural Studies) unterschätzten theoretischen Verwandtschaften zwischen Williams und Antonio Gramsci herauszuarbeiten versucht, die weit über die explizite Übernahme einzelner Konzepte des Letzteren durch Ersteren hinausgehen, und dabei auf den Schlüsselstatus verwiesen, der einer Kategorie wie dem Emergenten in der Theoretisierung von GegenHegemonie zukommt.14 Nun ist man schon so sehr daran gewohnt,
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Crang, Mike: „Time : Space“, in: Cloke, Paul/Johnston, Ron (Hg.): Spaces of Geographical Thought. Deconstructing Human Geography's Binaries, London u.a. 2005, S. 199-220, hier S. 205. Ebd., S. 217. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. 2. Teil, Frankfurt a.M. 1977, S. 556. Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1962, S. 158. Williams, Raymond: Marxism and literature, Oxford 1977, S. 126. Lauggas, Ingo: „Empfindungsstrukturen und Alltagsverstand. Implikationen der materialistischen Kulturbegriffe von Gramsci und Raymond Williams“, in: Merkens, Andreas/Rego-Diaz, Victor (Hg.): Mit Gramsci arbeiten. Texte
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Lauggas: Einleitung dass auf folgenden Umstand erst wieder hingewiesen werden muss, um ihn sichtbar zu machen: Es ist ganz im Sinne des „spatial turn“ eine räumliche Terminologie, in der üblicherweise beschrieben wird, welches der soziale Ort (sic) ist, an welchem Hegemonie nach Gramsci verhandelt wird: der Raum der Zivilgesellschaft. Im Herbeidenken dieses Ringens hat demnach, was erst kommt, bereits jetzt einen benennbaren Ort. Auch Bloch spricht ja bekanntlich von einer „Geometrie des Ungleichzeitigen“15 und damit von einem Phänomen, das gewissermaßen das Potenzial der utopischen Funktion als solche dokumentiert.16 Im vorliegenden Zusammenhang lässt sich die hier beobachtete Konvergenz von Zeit- und Räumlichem in die grundlegende Feststellung übertragen, dass an Räumen, sollen sie tatsächlich eine Kategorie von kulturwissenschaftlichem Nutzen sein, das „soziale Gemacht-sein“ wesentlich ist.17 Damit lässt sich die oben getroffene Unterscheidung zwischen Raum als Seiendem und Zeit als Werdendem abermals ausdifferenzieren, etwa indem man Michel de Certeaus Theorem aufnimmt, der Raum als solcher werde durch das Handeln historischer Subjekte erst konstituiert und abgesteckt: „der Raum [ist] ein Ort, mit dem man etwas macht“18. Nur noch für den „Ort“, wie de Certeau ihn definiert, gilt die Zuschreibung des Statischen, während er im Raum „ein Geflecht von beweglichen Elementen“ sieht, „ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen“19. Die Kunst des Handelns interessiert uns hier v.a., wo dieses Ausdruck eines Möglichkeitssinns ist, Teil der Taktiken der „Antidisziplin“20, die in einer vorgegebenen Raum- und Zeitordnung Lücken und Inkonsistenzen aufspüren und nutzen, wodurch „sich die Benutzer den Raum wieder-aneignen, der durch die Techniken der soziokulturellen Produktion organisiert wird“21. In Bezug auf die von Foucault beschriebenen Machtstrukturen der Disziplinargesellschaft, deren Mechanismen ihre Wirksamkeit just aus dem Verhältnis zwischen den Differenzierungs-, Klassifizierungs- und Hierarchisierungsverfahren einerseits und dem von ihnen dadurch aufgeteilten Raum andererseits beziehen, wirft de
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zur politisch-praktischen Aneignung Antonio Gramscis, Hamburg 2007, S. 85-97, hier S. 92. Bloch: Erbschaft der Zeit (1962), S. 160. Vgl. Becker: Sinn und Zeitlichkeit (2003), S. 240ff. Vgl. Döring/Thielmann: „Was lesen wir im Raume?“ (2008), S. 25. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Übersetzt v. Ronald Voullié, Berlin 1988, S. 218 [Herv. i.O.]. Ebd. Ebd., S. 16. Ebd.
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Utopische Räume Certeau die Frage auf, welches Handeln im Raum, welche Umgangsweisen mit dem Raum aufzuzeigen wären, die sich der panoptischen Kontrolle entziehen und sich als nachhaltige und unauffällige Taktiken „in einer wuchernden Gesetzwidrigkeit“22 gegenseitig verstärken. Dem Kontrollregime im urbanen Raum setzt er die Untersuchung von „vielgestaltigen, resistenten, listigen und hartnäckigen“ Vorgehensweisen entgegen, „die der Disziplin entkommen, ohne jedoch ihren Einflußbereich zu verlassen“23. Die durch die Praktiken im Raum geschaffenen antidisziplinären Räume des Alltags könnten freilich ihrerseits Teil des gouvernementalen Selbstregierens sein. Doch auch wenn man sie nicht unkritisch für per se subversiv hält, haben sie mit der Utopie gemein, dass sie durch ihren Bezug zu den realen Verhältnissen diese einerseits erst lesbar machen, sie aber gleichzeitig aussetzen, entkräften oder ins Gegenteil verkehren. Im Alltag schaffen diese Praktiken einen realen „Gegenort“ und lassen damit an Heterotopien denken, jenen „tatsächlich verwirklichte[n] Utopien, in denen […] all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden“24. Diese berühmte Definition Foucaults, in denen er die Räume – „wie man sie nennen könnte“25 – der Utopien von jenen der Heterotopien scheidet, verführt im vorliegenden Zusammenhang zu dem Gedankenspiel, sich zu fragen, ob die Utopie des Judenstaats, wenn sie in Israel Jahrzehnte nach ihrer Formulierung ihren realen Ort findet, zu einer Art Makro-Heterotopie wird:26 ein Staat als Konsequenz und letztlich Antithese der Vernichtung des Judentums, dessen schiere Existenz den Gesellschaften, die dieses gescheiterte Großprojekt getragen haben, permanent einen Spiegel vorhält und ein Stachel im Fleisch seiner ihm mehr oder minder feindlich gesinnten Umgebung ist. Einige der Merkmale, die Foucault den Heterotopien zuschreibt, ließen sich auf dieses Konstrukt durchaus anwenden – denken wir an ihren Zusammenhang mit historischen Brüchen oder ihre relative Abgeschlossenheit –27, doch würde dieses Gedankenexperiment wohl zu weit führen. Jenes im Folgenden von Clemens Peck unternommene hingegen, Herzls aus der erlittenen Erfahrung des Antisemitismus hervorgegangene Utopie im Lichte der Foucault’schen Theorie der pastoralen Lenkung zu betrachten, führt 22 23 24 25 26
Ebd., S. 186. Ebd., S. 187. Foucault: „Von anderen Räumen“ (2005), S. 935. Ebd. In der Tat wurden israelische Schüler und Schülerinnen anlässlich des 150. Geburtstags Theodor Herzls dazu angehalten, seine Utopien mit ihrem real existierenden Staat zu vergleichen (vgl. Der Standard, 30.4.2010). 27 Vgl. Foucault: „Von anderen Räumen“ (2005), S. 939ff.
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Lauggas: Einleitung uns zu der grundsätzlichen Frage, ob eine Utopie sein kann, was ohne Alternative ist. Dem kann der Grundsatz des Utopischen an sich entgegengehalten werden, dass nämlich seine Ferne, sei sie nun zeitlich oder räumlich, lediglich Ausdruck des Möglichkeitssinns ist, also signalisiert, dass die Utopie zwar noch nicht von dieser Welt ist, ihr aber immer der Appell innewohnt, „der Vernunft ihrem Recht in der Geschichte zu verhelfen. Die Realisierungstendenz ist der Utopie […] immanent“28. Womit sich der Kreis zur Gattung wieder schließt, deren Theoretisierung allerdings nur auf die Texte zu Wezel und Werfel anzuwenden ist. Gemeinsam ist den Aufsätzen des folgenden Abschnittes jedoch, dass sie jeweils zum einen die räumliche Dimension und zum anderen die dystopische Kehrseite einer jeden Utopie in den Blick nehmen. Die Robinsonade von Johann Karl Wezel ist eine Menschheitsgeschichte im insularen Kleinformat, die sich, wie Michael Dominik Hagel herausarbeitet, von vergleichbaren Texten unter anderem darin unterscheidet, bei der Darstellung der zivilisatorischen Ermächtigung den Raum, in dem dies geschieht, gleichermaßen zu beobachten. Am Ende der Erzählung bricht das System jedoch zusammen, und es obsiegt mitnichten ein „Eutopia“, das sämtliche Widersprüche hinter sich gelassen hat, sondern der Untergang. In Franz Werfels Stern der Ungeborenen führt die Reise zwar in eine ferne Zeit und nicht in einen Raum, dieser wird aber wiederholt thematisiert, etwa in seiner restlosen Aufhebung durch die technische Möglichkeit der Bewohner jener fernen Welt, ihn in kürzester Zeit zu überwinden: Das Ziel bewegt sich auf den Reisenden zu. Im Unterschied zu Robinson Krusoe wird zwar – in der Tradition des utopischen Romans – keine Entwicklung beschrieben, der Wandel eröffnet sich jedoch Zug um Zug bei der Lektüre der hier von Christian Zemsauer analysierten umfangreichen Erzählung: Die Utopie selbst erweist sich bei genauerem Hinsehen als Dystopie. Das Räumliche schließlich, konkret die Stadt, mag in den Anfängen eines breiten Zugangs zum Internet zunächst nur eine Metapher gewesen sein, die der Orientierung dienen und das Netz erst lesbar machen sollte. Doch ließe sich der behaupteten Enträumlichung die Frage entgegenhalten, wie das Netz der Netze denn anders als räumlich zu denken wäre, wenn auch nur annähernd stimmt, dass es Ausdruck der Loslösung des Raums von sozialen, kollektiven oder auch nationalen Bindungen sowie des Niedergangs herkömmlicher Grenzbegriffe ist, dass in der angeblichen Ortlosigkeit der globalen Verhältnisse der Raum sich ins Virtuelle verlagert. Jedenfalls stellt auch Clemens Apprich heraus, dass die Vision ei28 Gnüg, Hiltrud: Der utopische Roman, München/Zürich 1983, S. 8f. [Herv. i.O.]
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Utopische Räume ner idealen Gemeinschaftsordnung an ihre Grenzen stößt – hier die Vorstellung eines „Regierens durch Community“ –, weil auch der Cyberspace kein Utopia jenseits unserer Welt ist, sondern im Gegenteil durch seine technischen Möglichkeiten demokratischen Dissens sogar eher zu assimilieren als ihm zur Artikulation zu verhelfen vermag. Das Mögliche wird, auch hier, regiert.
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Inselgeschichte. Johann Karl Wezels Robinson Krusoe MICHAEL DOMINIK HAGEL
Mit Daniel Defoes Robinson Crusoe tritt im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts eine literarische Figur in Erscheinung, die wie keine andere den Modellfall des homo oeconomicus repräsentiert. Die wissenschaftlichen Arbeiten von Ökonomen, Anthropologen oder Literaturwissenschaftlern, die auf Robinson rekurrieren, sind ebenso unzählbar wie die Neubelebungen des Schiffbrüchigen, die jeder Generation und Altersstufe einen frischen Crusoe, der auf seiner Insel doch immer ein wenig der Alte bleibt, liefern. Ich möchte zunächst einen kleinen Ausschnitt aus dieser vielfältigen Geschichte der Robinsonaden vorstellen. Nach einigen kurzen Bemerkungen zu der sogenannten ‚Robinsonadenflut‘ des 18. Jahrhunderts und dem Hinweis auf einen (wenigstens für Ökonomen) idealtypischen Robinson – es ist nicht der Prototyp Defoes –, werde ich mich Johann Karl Wezels Variante der Geschichte zuwenden. Wezels Text verdient meines Erachtens aus zweierlei Gründen Aufmerksamkeit: Zum einen findet man in Wezels Fiktion eine Perspektive, in der Momente sichtbar werden, die Wissenschaftler erst sehr viel später an dem Individuum Robinson ausmachen werden. Zum anderen begnügt sich Wezel nicht damit, den Schiffbrüchigen in seiner Abgeschiedenheit wirtschaften zu lassen, sondern führt die Erzählung des geschäftigen Individuums weiter als Geschichte der Insel, als Geschichte der Kolonie „Robinsonia“ und liefert so eine zur Geschichte des in der Vereinzelung glücklich tätigen Individuums komplementäre Darstellung eines Kollektivs im Reich des homo oeconomicus. Wezels Text ist zuletzt als paradigmatische Äußerung einer fiktionalen Experimentalkultur in einer funktional differenzierten Gesellschaft verstanden worden. Ich werde mich bemühen, diese These vorzustellen und zu modifizieren.
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Utopische Räume
I. Robinson Crusoe ist einzigartig. Das Leben und die gantz ungemeinen Begebenheiten des weltberühmten Engelländers Mr. Robinson CRUSOE, welcher durch Sturm und Schiffbruch […] auf ein unbewohntes Eiland gerathen […] Göttlicher Providentz zum Preise […] ins Teutsche übersetzet1 – so der Titel der ersten deutschen Übersetzung, die 1720, ein Jahr nach dem englischen Text, erscheint – ist eine Erfolgsgeschichte in jeder Hinsicht. Nicht nur der Sklavenhändler Crusoe ist erfolgreich in der Rekapitulation einer Zivilisationsgeschichte, die ihn auf der öden Insel vom Jäger und Sammler zum Hirten und schließlich zum Ackerbauern macht. Erfolg bedeutet Robinsons Landnahme nicht zuletzt auch für seinen Autor Daniel Defoe, der aufgrund des ungeheuerlichen Absatzes dem Buch zwei Fortsetzungsbände folgen lässt. Der buchhändlerische Triumph des Seemanns aus York scheint allerdings sein Einzelgängertum zu beeinträchtigen. Nicht nur Defoe bemüht sich, Kapital aus seinem Helden zu schlagen; eine Horde von Robinsons zirkuliert unmittelbar nach dem Erscheinen des glücklichen Schiffbrüchigen auf dem Buchmarkt. Über 100 Titel, die sich die Marke Robinson zunutze machen, zählen die deutschsprachigen Bibliografien für das achtzehnte Jahrhundert. Ebenso früh regen sich aber auch Zweifel an der Erfolgsgeschichte des isolierten Individuums. Das klingt bspw. in einer anonymen Persiflage aus dem Jahr 1719 an, deren Titel Das Leben und die seltsamen überraschenden Abenteuer von Mr. D- De F- aus London, Strumpfwarenhändler, der mehr als fünfzig Jahre ganz allein in den Königreichen von Nord- und Süd-Britannien gelebt hat2, verspricht. Was hier, in der Vereinzelung des Autorsubjekts auf den keineswegs unbewohnten britischen Inseln anklingt, wird Marx ein gutes Jahrhundert später explizieren. Die Robinsonaden, so Marx, gehören zu den „phantasielosen Einbildungen des 18. Jahrhunderts“:
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Defoe, Daniel: Das Leben und die gantz ungemeine Begebenheiten des Weltberühmten Engelländers Mr. Robinson CRUSOE, welcher durch Sturm und Schiffbruch […] auf ein unbewohnte Eiland gerathen, Acht und zwanzig Jahr lang darauf gelebet, und zuletzt durch See=Räuber wunderbahrer Weise davon befreyet worden, Göttlicher Providentz zum Preise, und curiöser Gemüther besonderem Vergnügen nach der dritten Engelländis. Edition auf vornehmes Begehren ins Teutsche übersetzet, Hamburg 1720. Gildon, Charles: The Life and Strange Surprizing Adventures of Mr. D- De F[...], London 1719. Übersetzung des Titels angelehnt an Joyce, James: „Daniel Defoe“, in: Ders.: Kleine Schriften, Frankfurt a.M. 1974, S. 228-245, hier S. 234.
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Hagel: Inselgeschichten „Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein zoon poloticon, nicht nur ein geselliges Tier sondern ein Tier, das nur in Gesellschaft sich vereinzeln kann. Die Produktion des vereinzelten einzelnen außerhalb der Gesellschaft […] ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen sprechende Individuen. Es ist dabei sich nicht länger aufzuhalten.“ 3
Marxens Satz, wonach die politische Ökonomie Robinsonaden liebt,4 ist jedoch, so Philip Mirowskis 2004, nach wie vor gültig und Robinson ein fester Bestandteil ökonomischer Lehrbücher. Nun ist aus dem einen Robinson aber, wie angedeutet, sofort eine ganze Masse von Robinsons geworden. Glaubt man Mirowski, so gibt es einen Text, der für die Präsenz des Einsiedlers in gegenwärtigen Ökonomielehrbüchern verantwortlich ist: Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere, der in zwei Teilen in den Jahren 1779 und 1780 erschien. Tatsächlich dürfte dieser Text des Dessauer Pädagogen Campe die nachhaltig wirksamste und am weitesten verbreitete Robinsonbearbeitung sein; für Mirowski ist damit klar: „the Rational Economic Man is a German folk tale!“5 Campes Robinson der Jüngere ist dem Untertitel nach zur angenehmen und nützlichen Unerhaltung für Kinder verfasst. Die Bearbeitung bemüht sich, Defoes Text mit Berufung auf Rousseau pädagogisch zu korrigieren. Der Genfer Bürger hatte seinem fiktiven Schützling Emil kein anderes Buch als den Robinson Crusoe zugestehen wollen.6 Rousseaus Darstellung des Buches allerdings hat nur entfernte Ähnlichkeit mit dem Text Defoes. Campe befreit die Geschichte von „weitschweifigem, überflüssigem Gewäsch“, nimmt dem Schiffbrüchigen „alle europäischen Werkzeuge“, die der alte Robinson noch aus dem Wrack retten konnte, und lässt den Gestrandeten „sich bloß mit seinem Verstande und mit seinen Händen helfen“.7 Campes Robinson der Jüngere überholt den alten Robinson also durch eine Zuspitzung, die das vereinzelte Individuum auf einen Nullpunkt der Zivilisation versetzt, von dem aus es sich freilich umso eifriger entwickeln kann. 3 4 5
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Marx, Karl: Ökonomische Manuskripte 1857/1858, in: Ders./Engels, Friedrichs: Werke. 43 Bde., Berlin (DDR) 1956ff., Bd. 42, S. 20. Vgl. Marx, Karl: Das Kapital. Erster Band, in: Ders./Engels, Friedrichs: Werke. 43 Bde., Berlin (DDR) 1956ff., Bd. 23, S. 90. Mirowski, Philip: The Effortless Economy of Science?, Durham/London 2004, S. 47ff. Mirowski stützt sich auf White, Michael: „Reading and Rewriting: The Production of an Economic Robinson Crusoe“, in: Southern Review 15:2 (1982), S. 115-142. Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Emil oder über die Erziehung, Stuttgart 1963, S. 389f.; sowie Campe, Joachim Heinrich: Robinson der Jüngere zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder, Stuttgart 1981, S. 8ff. Vgl. Campe: Robinson der Jüngere (1981), S. 11.
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Utopische Räume Campe erzählt – der eben erwähnten Verbesserungen eingedenk – die bekannte Geschichte von Schiffbruch, isolierter Produktion und kannibalischen Befürchtungen. Der durch fiktive Autobiografie bezeugte ökonomische Lehrgang, den das Individuum auf seiner Insel absolviert, wird bei Campe zur pädagogischen Erzählstunde: Abendlich erzählt ein Vater seinen Kindern aus der Geschichte Robinsons, welcher über seiner Höhle „die beiden Worte: Arbeitsamkeit und Mäßigkeit“8 einmeißelt. Beide Teile von Robinson der Jüngere breiten diese tüchtige Geschichte aus, die bei Campe mit der Reintegration Robinsons in die europäische Gesellschaft endet. Die Insel hat Robinson hinter sich gelassen, nicht ohne sich gegenüber den britischen Meuterern und den spanischen Schiffbrüchigen, die auf der Insel zurückbleiben, vertraglich als Inselherr bestätigen zu lassen und abzusichern, dass seine Tugenden, wie sie über der nunmehr leeren Höhle eingemeißelt stehen, „zum Wohl des ganzen Staats“9 weiter in seinem Reich herrschen. Robinsons Vaterhaus wird bei der Rückkunft des Sohnes indessen „bald einem öffentlichen Versammlungsplaze gleich; und da half nichts, Robinson muste vom Morgen bis an den Abend erzählen. Bei diesen Erzählungen vergaß er dan nie, den Vätern und Müttern zuzurufen: Eltern, wenn ihr eure Kinder liebt, so gewöhnt sie ja frühzeitig zu einem frommen, mäßigen und arbeitsamen Leben!“10 Die Geschichte von Robinson Crusoe wird bei Campe also sehr nachdrücklich in einen Erziehungsdiskurs übernommen, in dem Nachrichten vom Wirtschaften auf fernen Inseln Nutzen für die Disziplin des Nachwuchses bringen. Lassen Sie mich zum Abschluss dieser kursorischen Einleitung zu Wezels Robinson Krusoe Jürgen Schlaeger zitieren, der Robinsons Insel als eine „frühbürgerliche ,Eutopia‘“ beschrieben hat, „ein[en] souverän beherrschte[en] von Widersprüchen freie[en] Raum, in dem der Einzelne nur seinem Gewissen und einem fernen, aber geneigten Gott verantwortlich ist, in dem […] nur solche Bewährung gefordert ist, die durch diszipliniertes Arbeiten erbracht werden kann.“11 Dass Robinson diesen Raum besiedelt, heißt, dass er dort arbeitet, rechnet und Buch führt – und weil er derjenige ist, der diese Tätigkeiten ausübt, fühlt er sich als Besitzer und Herrscher dieses Raumes.
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Ebd., S. 220. [Herv. i.O.] Ebd., S. 318. Ebd., S. 346. [Herv. i.O.] Schlaeger, Jürgen: „Die Robinsonade als frühbürgerliche ,Eutopia‘“, in: Voßkamp, Wilhelm (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 2, S. 279-298, hier S. 292.
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Hagel: Inselgeschichten „Er war“, wie Wezel schreibt, „ein kleiner König, Regent und Besitzer einer ganzen Insel, unumschränkter Monarch seiner Unterthanen, der Ziegen, Herr über ihren Tod und ihr Leben, ohne jemals in seiner Ziegenmonarchie Rebellion, Meuterei und Ungehorsam besorgen zu dürfen.“12 Dieser eutopische Raum wird, wie erwähnt, in den klassischen oder neoklassischen Robinsonaden in dem Augenblick, in dem sich ein Kollektiv auf der Insel zu formieren beginnt, von seinem Herrscher verlassen.
II. Gleichzeitig mit Campes Robinson der Jüngere erscheint Johann Karl Wezels Robinson Krusoe in den Jahren 1779 und 1780. Zwischen den beiden Texten besteht ein explizites Konkurrenzverhältnis, auf das ich hier nicht weiter eingehen kann.13 Wezel, obgleich auch bei ihm die pädagogische Absicht am Anfang der Bearbeitung stand, begnügt sich nicht mit der lehrreichen Geschichte des vereinzelten Individuums. Auch der erzieherische Duktus der Erzählstimme von Campes Hausvater14 findet keinen Widerhall in Wezels Text. Im Gegensatz zu dem Jüngeren Robinson gibt Wezel nicht Unterweisungen am Leitfaden der Zivilisationsgeschichte des isolierten Individuums, sondern schreibt eine Analyse des Prozesses, den Robinsons Geschichte umreißt. „Robinson, in seinen rechten Gesichtspunkt gestellt, in welchem ich ihn auch bearbeitet habe, ist eine Geschichte des Menschen im Kleinen, ein Miniaturgemälde von den verschiedenen Ständen, die die Menschheit nach und nach durchwandert ist, wie Bedürfniß und zufällige Umstände einen jeden hervorgebracht und in jedem die nöthigen Erfindungen veranlaßt oder erzwungen haben, wie stufenweise Begierden, Leidenschaften und Phantasien durch die äußerliche Situation erzeugt worden sind. In der Geschichte selbst habe ich diese Stufen der Entwicklung deutlich angegeben und hineinzubringen gesucht, so sehr der Plan des Originals es erlaubte. Es scheint nicht, daß Defoe diese philosophische Idee eigentlich dabei gehabt hat, und sein Schatten wird mir vergeben, daß ich ihm etwas andichte, woran er vielleicht nicht dachte.“ 15 12 Wezel, Johann Karl: Robinson Krusoe, Berlin (DDR) 1990, S. 83. 13 Dazu z.B. Pethes, Nicolas: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch, Göttingen 2007, S. 251-257. 14 Vgl. Blödorn, Andreas: „Erzählen als Erziehen. Die Subjektivierung der Utopie und Selbstreflexion der Aufklärung in den Robinsonaden Defoes, Campes und Wezels“, in: Bernáth, Árpad/Hárs, Endre/Plener, Peter (Hg.): Vom Zweck des Systems. Beiträge zur Geschichte literarischer Utopien, Tübingen 2006, S. 27-51. 15 Wezel: Robinson Krusoe (1990), S. 9f.
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Utopische Räume Was also bei Defoe angelegt war und von Campe als Unterweisung ausgebreitet wird, dient Wezel als Folie, auf der der Autor die „Stände“, „Stufen der Entwicklung“, die jeweils unterschiedliche „Begierden, Leidenschaften und Phantasien“ zeitigen, nur noch zu markieren braucht. Robinsons Inselaffären sind für Wezel also expressis verbis in erster Linie nicht Angelegenheit individueller Selbstermächtigung, sondern bündeln den Zug einer Zivilisationsgeschichte. Ich möchte das gestrandete Individuum an dieser Stelle vorübergehend sich selbst überlassen (es ist tüchtig genug). Denn nur der erste Teil von Wezels Robinson Krusoe beschreibt die Unternehmungen des Einzelnen auf der abgeschiedenen Insel. Der zweite Teil berichtet von der Geschichte des Inselreichs, die sich nach Robinsons erstmaliger Abreise entspinnt. Und hier liegt das Moment, das Wezels Text vor allen „kleinen und großen Robisnonaden“16 auszeichnet: nicht nur in der Darstellung von Robinsons Inselaufenthalt als Miniaturgemälde der Menschheitsgeschichte, sondern in der konsequenten Beobachtung des Raumes, in dem der Einzelne sich durch Arbeitsamkeit und Mäßigkeit behauptet. Schon Defoe hatte Robinson im zweiten Teil, den Farther Adventures of Robinson Crusoe (1719), zurück auf seine Insel reisen lassen, wo die schon erwähnte Gruppe spanischer und englischer Matrosen zurückgeblieben war. Allerdings war Robinsons Rückkehr bei Defoe nur eine Episode in einer Reihe weiterer Handlungsreisen des modernen Helden. Wezel muss feststellen, in diesem zweiten Band Defoes „auch nicht das mindeste für [s]eine Absicht brauchbar“17 zu finden. Der zweite Teil von Wezels Buch „liefert in der Geschichte der Colonie während Robinsons Aufenthalt in England, nach seiner Rückkehr auf die Insel und nach seinem Tode Beispiele von den Veränderungen in dem Zustande der Gesellschaft“.18 Dieser zweite Teil verhält sich somit komplementär zum ersten. Während dieser „Beispiele von den Veränderungen, die die vier Haupturheber der menschlichen Erfindungen: Noth, Zufall, Leidenschaft, Witz, in dem Zustande des Menschen hervorgebracht“ haben, erzählt, beschreibt jener ein gemeinschaftliches Gefüge. „[Ein] kleiner Menschenhaufen wird durch Noth, Zufall, Leidenschaft, Witz auf die verschiedenen Arten der Subordination, auf die Einführung richterlicher Gewalt, auf verschiedene politische Verfassungen, auf die Verschiedenheit des Vermögens, der Beschäftigung und des Standes, auf Handel, Geld und Verar16 Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/1858 (1956ff.), S. 19. 17 Wezel: Robinson Krusoe (1990), S. 133. 18 Ebd., S. 134.
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Hagel: Inselgeschichten beitung der Naturprodukte geleitet, erwächst zu einem eingerichteten Staate und stirbt.“19
Der Zufall, neben Not, Leidenschaften und Witz Haupturheber menschlicher Erfindungen, tritt bei Wezel an die Stelle, an der bei Defoe die Providenz stand – so freut sich Wezels Krusoe bspw. dort, wo sein Vorgänger die Vorsehung zitiert hatte, über den Zufall, vermittels dem aus einigen weggeworfenen Getreidekörnern die Agrarwirtschaft der Insel entsteht.20 Robinson reist bei Wezel also zurück und lässt sich zuerst die Geschichte der Insel während seiner Abwesenheit erzählen: Die Insulaner leben zunächst in Gütergemeinschaft, welche sich im Streit auflöst, woraufhin sich kleine Gruppen – die als Despotien, Aristokratien, handelnde Republiken, Familien und Monarchien beschrieben werden –21 über die Insel verteilen und in wechselnden Kriegs-, Handels- und Herrschaftsverhältnissen koexistieren. Robinson, der von seinen Untertanen nicht „Regent“, sondern „Vater“ genannt werden will,22 lenkt „seine Aufmerksamkeit ganz auf die Sorge für seinen kleinen Staat“23 und trägt sich mit verschiedenen Projekten, deren Scheitern seine gekränkte Abreise zeitigt. Der dauernde Kriegszustand wird auch nach dieser Abreise prolongiert. Mit Robinsons Sohn Karl Robinson, der den Vornamen seines Vaters als Gentilnamen trägt, kommt ein ebenso ungerechter wie unfähiger Despot nach ‚Robinsonia‘, der der Insel ein feudales System aufzwingt und selbst bald erschlagen wird. Mit der Ankunft des Sprosses des klassischen homo oeconomicus, der die Stadien der neolithischen Revolution ganz allein hinter sich gebracht hatte, beginnt auf der Insel die Rekapitulation einer Geschichte, über deren Parallelen zu europäischen Entwicklungen eine Zahl von Fußnoten keinen Zweifel lässt. Der letzte Abschnitt der „Geschichte der Kolonie“ 24 wird durch die Invasion spanischer Truppen eingeleitet. Robinsonia gerät unter spanische Herrschaft, und Gerüchte über unerschöpfliche Goldvorkommen machen die Insel zu „einem wahrhaften Ameisenhaufen […] von geschäftigen, tätigen Menschen“25. Damit, dass die ferne Insel ins Koordinatennetz des Kolonialismus tritt, verschiebt sich auch die Problemlage der Erzählung. Mit 19 Ebd. 20 Der Hinweis darauf findet sich in Peterson, Brent Orlyn: „Wezel and the genre of ,Robinson Crusoe‘“, in: Lessing Yearbook 20 (1988), S. 183-204. 21 Vgl. besonders Wezel: Robinson Krusoe (1990), S. 188. 22 Vgl. ebd., S. 196. 23 Ebd., S. 208. 24 Ebd., S. 223. 25 Ebd., S. 243.
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Utopische Räume der Einsetzung eines spanischen Statthalters bilden nicht mehr ökonomisch-politische Angelegenheiten die Angelpunkte der Inselgeschichte, und der Blick richtet sich auf die Sitten der Insulaner, die nun aus allen Weltteilen nach Robinsonia kommen. Ein letzter Entwicklungsschritt führt von der Distinktionssucht der Inselbevölkerung zum religiösen Fanatismus und schließlich zum totalen Untergang: „[A]n die Stelle der Unterdrückung trat die Anarchie: niemand regierte, und jedermann wollte regieren. Der Krieg dauerte unaufhörlich fort; jede Partei verwüstete, wohin sie kam; die Dörfer lagen in der Asche, die Städte waren Steinhaufen, die Äcker wurden nicht gebaut, der Handel stand, die Einwohner starben durch Schwert und Hunger; aus den vielen Leichnamen entstand eine Pest, und die Insel war eine menschenleere Wüste, wie ein tragisches Theater, auf welchem ein barbarischer Dichter gewürgt hat. Nichts blieb übrig als Spuren der Bevölkerung[.]“26
Regierungslosigkeit und Untergang also sind der Schluss von Wezels Darstellung der „Veränderungen in dem Zustande der Gesellschaft“27 auf Robinsons Krusoes Insel.
III. Torsten Hahn und Nicolas Pethes haben diesen von Wezel ausformulierten Entwurf einer Zivilisationsgeschichte als Äußerung einer literarischen Experimentalkultur beschrieben. Hahn und Pethes stellen Wezels Robinson Krusoe in den Kontext der literarischen Gattung Utopie, deren narrative Grundstruktur mit den Bedingungen experimentalwissenschaftlichen Forschens konvergiere. Während nun klassische utopische Texte von Thomas Morus’ Utopia bis Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg der ergebnisorientierten Kontrolle eines Gesellschaftsentwurfs entsprächen, folge Wezel einer neuen Logik des Experiments, die eine „unbekannte Zukunft des Wissens“ entwerfe.28 Im thematischen Kontext, der unter dem Titel Das Mögliche regieren steht, ist es verlockend, dieser These einer literarischen Experimentalkultur in der Gattung Utopie zu folgen.
26 Ebd., S. 263. [Herv. i.O.] 27 Ebd., S. 134. [Herv. i.O.] 28 Vgl. Hahn, Torsten/Petehs, Nicolas: „Das Zweifache Ende der Utopie. Literatur als Gesellschaftsexperiment in Wezels Robinson und Goethes Wahlverwandtschaften“, in: Krause, Marcus/Pethes, Nicolas (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 123-146, Zitat auf S. 130.
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Hagel: Inselgeschichten Man kann den Autoren insofern zustimmen, als die Isolation literarischer Utopien mit den Anforderungen eines Laborraums enggeführt werden kann; auch die Funktion der fiktiven optimalen Gesellschaften bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts mag als ein dem modernen Experiment gegenübergestellten, traditionellen Test analog zu verstehen sein. Von Isolation, nach Hahn und Pethes das Schibboleth der Utopie wie des Laborraumes, ist bei Wezel, wie eben referiert, allerdings gerade da kaum zu sprechen, wo die beiden Autoren Wezels Gesellschaftsexperiment ausmachen. Vielmehr setzt das Gesellschaftsexperiment gerade dort ein, wo die Isolation der Insel aufbricht, und kollabiert an der Stelle, an der die Insel Knotenpunkt eines Netzwerks geworden ist, das weit über die Insel hinausreicht. Gewiss kann Robinson Krusoe als „Metaerzählung der Utopie“ gelesen werden, insofern Wezel „die Evolution menschlicher Gesellschaften unter experimentellen Bedingungen“ simuliert.29 Diese Simulation einer Evolution ist aber keineswegs das Wesensmerkmal klassischer Utopien. Im Gegenteil schildert die klassische Utopie, bei Morus und anderen, einen Zustand. Die Utopie der frühen Neuzeit ist eine höchst statische Angelegenheit, die Schilderung einer Gemeinschaft, die, einmal etabliert, auf eine immer gleiche Vergangenheit zurückblickt und deren Zukunftsdimension in dieser Statik aufgehoben ist. Man kann zwar mit Hahn und Pethes in Wezels Erzählung die „Vernichtung des Schauplatzes der Utopie – die vollständige Nichtung des Nicht-Orts“ sehen, der Schluss allerdings, wonach „Kausalität ohne providentielle Steuerung […] in einen desaströsen Zustand führt“30, die Beschreibung der Gemeinschaft also aufgrund einer historischen Disposition notwendigerweise im kollektiven Tod endet, ist kaum haltbar. Dass es sich bei der vernichtenden Kausalkette, die Wezels Text durchzieht, keineswegs um eine von funktionaler Differenzierung und Aufgabe von Heilsgeschichte gezeitigte Zwangsläufigkeit handelt, beweisen die durchaus optimistischen Utopien, die gerade in der Zeit der Auflösung der stratifizierten Gesellschaft Konjunktur haben. So wird bspw. auch Robinsons Insel Ort einer solchen optimistischen Fiktion, wenn sich, in einer Schrift von Thomas Spence, ein gewisser Captain Wishit anschickt, die glückliche Kausalität zu beschreiben, durch die sich auf der Insel Crusoes ein System kommunistischer Gemeinden gebildet hat.31 29 Vgl. Ebd., S. 136. 30 Ebd. 31 Vgl. Spence, Thomas: A Supplement to the History of Robinson Crusoe, Being the History of Crusonia, or Robinson Crusoe’s Island, Down to the present Time, Newcastle 1782.
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Utopische Räume Ich zweifle an der These32, wonach sich im „Medium der Fiktion“ die Wissenschaft von Gesellschaft experimentell, gemäß einer naturwissenschaftlichen Logik fundieren kann – ich würde mit Frederic Jameson entgegenhalten, dass im Genre der Utopie Begriff und Realität des Phänomens, Ontologie und Repräsentation der Gemeinschaft zusammenfallen;33 dass eine literarische Experimentalkultur der Gesellschaft also nicht ergebnisoffen sein kann. Mit Sicherheit, das ließe sich an Spence und einer umfangreichen Serie anderer Texte zeigen, ist die Behauptung, eine „verschlimmerte“ Utopie sei „unter den Bedingungen des Providenzverlusts unumgänglich“34, zurückzuweisen.
IV. Man muss Wezels Robinson Krusoe aber nicht unbedingt von seinem Ende her lesen. Anstatt das Gewicht auf den fulminanten Schluss des Entwicklungsprozesses zu legen, um den Text dann als Ausdruck des „antizivilisatorischen Gestus“35 des Autors oder generisch, als Vernichtung des Schauplatzes der Utopie zu deuten, erscheint es mir sinnvoll, das Augenmerk darauf zu richten, dass bei Wezel die Insel der Ort einer dynamischen Zeitdimension geworden ist. Eben das unterscheidet Wezels Text, wie schon erwähnt, von der klassischen utopischen Literatur, die von einem Zustand, einem gleichbleibenden status berichtete. Die geschichtsphilosophische Imprägnierung der Insel unterscheidet Wezels Robinson Krusoe also von den utopischen Inseln, die seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts aufgetaucht waren. Unter seinen Zeitgenossen war Wezel mit der Historiografie einer fiktiven Gemeinschaft aber keineswegs allein. Auch für die Denkfigur, die gemeinschaftliche Gefüge auf einsame Inseln verlagert, ließen sich zahlreiche Belege aus dem 18. Jahrhundert anführen. Einzigartig allerdings ist die Koppelung der Geschichte des Individuums und der des Kollektivs. Oder vielmehr die Besetzung des Raumes, in dem sich die Geschichte des Kollektivs entfaltet, durch
32 Vgl. Hahn et al: „Das Zweifache Ende der Utopie“ (2005), S. 129. 33 Vgl. Jameson, Frederic: „The Politics of Utopia“, in: New Left Review 25 (Jan./Feb. 2004), S. 35-54, hier S. 35. 34 Hahn et al.: „Das Zweifache Ende der Utopie“ (2005), S. 129. 35 Schmidt, Christian: „Die Banalität des Negativen“, in: Kosenina, Alexander/Weiß, Christian (Hg.): Johann Karl Wezel (1747-1819), St. Ingebert 1997, S.197-215, hier S. 206.
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Hagel: Inselgeschichten jenes „nicht-austauschbare und irreduzible Interessensatom“36 des rationalen ökonomischen Menschen. Kommen wir also noch einmal zurück zu dem einzelnen Individuum, das ganz allein seine Insel bewirtschaftet: Unzweifelhaft ist Robinson – wie eingangs skizziert – der literarische Idealfall des homo oeconomicus. Man kann das z.B. daran festmachen, wie Robinson sich „höchst methodisch gemäß den Prinzipien der Kapitalrechnung über Gewinn und Verlust“37 auf die Jagd nach Geld macht und das Rechnen und Buch führen auch in der Einsamkeit nach dem Schiffbruch keineswegs aufgibt. Die Figur Robinson ist das Modell jenes Interessensubjets, das „die Wirklichkeit akzeptiert“, das jenes rationale Verhalten praktiziert, „das sensibel auf die Veränderungen in den Umgebungsvariablen reagiert und das auf nichtzufällige, also systematische Weise darauf reagiert“38. Ebenso unzweifelhaft ist für Robinson seine Herrschaft über die Insel, an deren Ufer er sich aus dem Schiffbruch gerettet hat. Mit der Landnahme besetzt der homo oeconomicus Crusoe also einen Raum, der ihm allein, einem einzigen und einzelnen Interessensubjekt, gehört. Der Rückschluss, durch seine Arbeit zum Besitzer und durch den Besitz zum Herrscher der Insel geworden zu sein,39 zeugt – das ließe sich im Rückgriff auf Locke zeigen – von dem bürgerlichen Charakter Robinsons. Michel Foucault hat diesen homo oeconomicus, das Interessenssubjekt, scharf vom Rechtssubjet, das im Vertrag sich mit anderen Individuen verbindet und Rechte abtritt, unterschieden.40 Das Rechtssubjekt, der homo legalis oder juridicus, fügt sich in seine Ganzheit durch eine Dialektik des Verzichts auf seine Rechte oder deren Übertragung; der homo oeconomicus hingegen fügt sich in sein Ganzes durch eine Dialektik der spontanen Vervielfachung.41
36 Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978-1979. Aus d. Französischen v. Jürgen Schröder. Hg. v. Michel Sennelart. Frankfurt a.M. 2004, S. 399. 37 Watt, Ian: Der bürgerliche Roman. Aufstieg einer Gattung. Defoe – Richardson – Fielding, Frankfurt a.M. 1974, S. 71. 38 Foucault: Die Geburt der Biopolitik (2004), S. 370. 39 Vgl. Schönert, Jörg: „Wezels und Campes Bearbeitungen des ,Robinson Crusoe‘. Zur literarischen Durchsetzung des bürgerlichen Wertkomplexes ,Arbeit‘ in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts“, in: Ders.: Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zu Theorie und Praxis, Tübingen 2007, S. 97-112; sowie Koller, Hans-Christoph: „Destruktive Arbeit: zur Auseinandersetzung mit der philanthropischen Arbeitserziehung in J.K. Wezels ,Robinson Krusoe‘“, in: Lessing Yearbook 22 (1990), S. 169-197. 40 Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik (2004), S. 379. 41 Vgl. ebd., S. 400.
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Utopische Räume Es ist in dieser Hinsicht eine aufschlussreiche Differenz zu den Texten von Defoe oder Campe, wenn Wezels Robinson bei seiner erstmaligen Abreise mit den auf der Insel Bleibenden kein schriftliches Abkommen schließt, in dem seine Herrschaft bestätigt wird. Der Schriftverkehr des Souveräns beschränkt sich stattdessen auf „Unterricht über die Art der Haushaltung“, wie und wann zu säen, ernten, backen, kochen „und überhaupt für […] Bequemlichkeit und […] Bedürfnisse“ zu sorgen sei;42 der pactum subjectionis, den bspw. Campe ausformuliert, ist bei Wezel durch ökonomische Unterweisung ersetzt. In den klassischen Robinsonaden hinterlässt der homo oeco nomicus also eine durch den Vertrag geeinte Insel, die höchstens noch im Zug der weiteren Handlungsreisen des Subjekts visitiert wird. Wezels Robinson geriert sich zwar als Souverän, unterlässt es aber, mit seinen Untertanen einen Unterwerfungsvertrag zu schließen. Anders formuliert, ist Wezels Robinsonia nicht mit Rechtssubjekten, sondern mit Interessensubjekten bevölkert. Wezel buchstabiert also die Geschichte einer Gemeinschaft von Interessenssubjekten in einem genuinen Raum des Interessenssubjekts aus. Der zweite Teil von Wezels Text schildert Serien jener spontanen Synthesen von Individuen, die ihrem Eigeninteresse folgen, die nach Foucault die bürgerliche Gesellschaft konstituieren. Aus diesem Mechanismus spontaner Synthesen resultiert die Triebkraft, die geschichtliche Entwicklung zeitigt. Homo oeconomicus und der „Motor der Geschichte“, die bürgerliche Gesellschaft, diese nach Foucault unzertrennlichen Elemente,43 werden in Wezels Text vorgeführt. Weder Souverän noch Vorsehung noch unsichtbare Hand regulieren den Gang der Ereignisse auf Robinsonia. Zu dem Zeitpunkt, als die Tugenden Robinsons zu pädagogischen Maximen erhoben werden, entwirft Wezel die Ausformungen dieser Tugenden, wenn sie der perfectibilité nicht des Individuums, sondern des Gemeinwesens zugrunde gelegt werden. Die Abwesenheit gouvernementalen Wissens, eines Regulierungswissens, das auf die Gemeinschaft zielt, macht die Insel nicht so sehr zu einer experimentellen Erprobung des Schicksals funktional differenzierter Gesellschaft als vielmehr zu einem spezifischen Entwurf einer bürgerlichen Versuchsstation des Weltunterganges. Zur tatsächlichen Erschließung einer fiktionalen Experimentalkultur der europäischen Sattelzeit müsste Robinson Krusoe in Beziehung zu gleichzeitigen utopischen Entwürfen, etwa Christoph Martin Wielands Der goldne Spiegel (1772) und dessen expliziter Sorge um die Bevölkerung, gesetzt werden. Die Geschichte der Insel 42 Vgl. Wezel: Robinson Krusoe (1990), S. 152. 43 Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik (2004), S. 406.
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Hagel: Inselgeschichten des isolierten Subjekts ist nur eine Linie einer solchen Geschichte fiktionaler Gouvernementalität in Zeiten der Geschichtsphilosophie. Wezel formuliert mit Kant gesprochen eine „terroristische Vorstellungsart der Geschichte“44 aus. Es ist kein Zufall, dass es ausgerechnet die Insel des homo oeconomicus ist, an dem dieser Terrorismus der Geschichte seinen Ort findet.
Literatur Blödorn, Andreas: „Erzählen als Erziehen. Die Subjektivierung der Utopie und Selbstreflexion der Aufklärung in den Robinsonaden Defoes, Campes und Wezels“, in: Bernáth, Árpad/Hárs, Endre/Plener, Peter (Hg.): Vom Zweck des Systems. Beiträge zur Geschichte literarischer Utopien, Tübingen 2006, S. 27-51. Campe, Joachim Heinrich: Robinson der Jüngere zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder, Stuttgart 1981. Defoe, Daniel: Das Leben und die gantz ungemeine Begebenheiten des Weltberühmten Engelländers Mr. Robinson CRUSOE, welcher durch Sturm und Schiffbruch […] auf ein unbewohnte Eiland gerathen, Acht und zwanzig Jahr lang darauf gelebet, und zuletzt durch See=Räuber wunderbahrer Weise davon befreyet worden, Göttlicher Providentz zum Preise, und curiöser Gemüther besonderem Vergnügen nach der dritten Engelländis. Edition auf vornehmes Begehren ins Teutsche übersetzet, Hamburg 1720. —: Robinson Crusoe. Zwei Teile in einem Band, München 1997. Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978-1979. Aus d. Französischen v. Jürgen Schröder. Hg. v. Michel Sennelart. Frankfurt a.M. 2004. Gildon, Charles: The Life and Strange Surprizing Adventures of Mr. D- De F- [...], London 1719. Hahn, Torsten/Petehs, Nicolas: „Das Zweifache Ende der Utopie. Literatur als Gesellschaftsexperiment in Wezels Robinson und Goethes Wahlverwandtschaften“, in: Krause, Marcus/Pethes, Nicolas (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 123146. Jameson, Frederic: „The Politics of Utopia“, in: New Left Review 25 (Jan./Feb. 2004), S. 35-54.
44 Kant, Immanuel: „Streit der Fakultäten“, in: Ders.: Werkausgabe. Hg. v. Wilhelm Weischedel. 12 Bde., Frankfurt 1964, Bd. 11, S. 265-398, hier S. 353.
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Noch einmal „Acheronta movebo“. Theodor Herzls zionistische Utopie als Lenkungstechnologie CLEMENS PECK
Michel Foucault beginnt seine zweite Vorlesung über die Geschichte der Gouvernementalität am Collège de France 1979 mit den Worten: „[Sie kennen] das Zitat von Freud: ‚Acheronta movebo‘. Nun, ich möchte die diesjährige Vorlesung unter das Zeichen eines anderen, weniger bekannten Zitats stellen, das von jemandem stammt, der auf gewisse Weise weniger bekannt ist, nämlich vom englischen Staatsmann Walpole, der in bezug auf seine eigene Regierungsweise sagte: ‚Quieta non movere‘: ‚Was in Ruhe ist, soll man nicht stören‘. In einem bestimmten Sinn ist das das Gegenteil von Freud.“1
Gemeint ist Sigmund Freuds berühmtes, Vergils Aeneis entnommenes Motto der Traumdeutung (1900), das „in einem bestimmten Sinn“ im denkbar weitesten Gegensatz zur „Regierungsweise“ des englischen Staatsmanns stehe. In der Aeneis wird der Hexameter „Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo“ der Göttin Juno in den Mund gelegt, die darum bemüht ist, Aeneas, Sohn der verhassten Venus, in Schwierigkeiten zu bringen. Nachdem sie Jupiter nicht dazu bewegen kann, der für Aeneas nachteiligen Heirat mit der Semitin Dido zuzustimmen, ruft Juno die den Unterweltfluss bewohnende doppelgeschlechtliche Höllengestalt Alekto auf den Plan: „Kann ich nicht beugen die höheren Mächte, so will ich den Acheron rühren.“2 Foucault hatte der Frage nach dem Dispositiv der Sexualität vor seinen Ausführungen zur Gouvernementalität selbst jenes „Acheronta movebo“ vorangestellt: „In der Tat ist diese in unserer Epoche so oft wiederholte Frage nur die jüngste Form einer gewaltigen Behauptung und einer jahrhundertealten Vorschrift: 1
2
Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978-1979. Aus d. Französischen v. Jürgen Schröder. Hg. v. Michel Sennelart. Frankfurt a.M. 2006, S. 13. Vergil: Aeneis. Dt. v. Rudolf Alexander Schröder, Frankfurt a.M./Hamburg 1963, S. 161.
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Utopische Räume dort unten liegt die Wahrheit, dort lauert ihr auf! Acheronta movebo: eine alte Entscheidung.“3 Walpoles Motto macht unmissverständlich klar, dass es Foucault in der Geschichte der Gouvernementalität nun nicht mehr um das acherontische ‚unten‘, sondern um eine weiter oben gelagerte Machtanalyse geht. Den folgenden, immer wieder zu Freud zurückkehrenden Ausführungen liegt die Annahme zugrunde, dass die Beschwörung des Acheron zu Walpoles 150 Jahre zuvor geäußertem politischen Credo nicht zwangsläufig in Opposition gedacht werden muss – v.a. wenn dieses wie bei Foucault Anlass zu Überlegungen zur Struktur und Geschichte der modernen Gouvernementalität gibt –4, sondern im fortschrittsutopischen Diskursfeld des europäischen Fin de Siècle eine durchaus nachbarschaftliche Beziehung unterhält. Als Gewährsmann dieser Disposition wird der Wiener Dandy, Dramatiker, Feuilletonist und Begründer des politischen Zionismus Theodor Herzl herangezogen, der während eines London-Aufenthalts im Juli 1896, wenige Monate nach der ersten öffentlichen Exposition des zionistischen Programms im Judenstaat, eine bereits hinlänglich bekannte Formel notiert: „Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo.“5 Die oben postulierte Korrespondenz des bewegten Acheron und der ruhenden Oberfläche organisiert, wie zu zeigen sein wird, Herzls zionistische Schriften (hier v.a.: Zionistisches Tagebuch, Der Judenstaat und Altneuland) in besonderer Weise. Dabei ist eine Spannung zwischen einer revolutionären Entfesselung des Kollektivs von ‚unten‘ und einer zur Individualität lenkenden bzw. normalisierenden Machttechnik von ‚oben‘ zu beobachten, die jenseits pragmatischer und rhetorischer Funktionalisierungen liegt. Nicht zuletzt durch die Langzeitwirkung des kulturgeschichtlichen Paradigmas „Wien 1900“, in dem Herzl und Freud spätestens seit Carl E. Schorskes Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle zu Kronzeugen des gegen die liberale Kulturhegemonie und Diskursmacht der Väter gerichteten, teils revolutionären Diskurses der Moderne avancierten,6 bezieht die hier vorgeschlagene Tour in den Acheron ihre Notwendigkeit und Aktualität. Demfolgend soll an Herzls Diskursivierungen der zionistischen Agenda gezeigt werden, dass gerade die scheinbar subversive Anrufung des Acheron eine gouvernementale Schlagseite bereithält bzw. den politischen ‚Göttern‘ mit erstaunlichem Pioniergeist entgegenarbeitet. Diese in der 3 4 5 6
Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983, S. 99. Vgl. Foucault: Geburt der Biopolitik (2006), S. 13ff. Herzl, Theodor: Briefe und Tagebücher. Bd. 2: Zionistisches Tagebuch 1895-1899, Berlin/Frankfurt a.M./Wien 1985 (im Folgenden: BT II), S. 397. Vgl. Schorkse, Carl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt a.M. 1982, S. 138-164.
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Peck: Theodor Herzls zionistische Utopie Forschungsliteratur und Herzl-Biografik oft nur mangelhaft erfasste und im rein personalen Verständnis durch Herzls „Führerprinzip“7 cachierte Disposition lässt sich im pastoralen Modell zionistischer „Lenkung“8 in eine dynamische Relation bringen und ermöglicht gegenüber gängigen kultur- und diskursgeschichtlichen Erzählweisen eine differenziertere historische Wahrnehmung.
Die Masse und das Unwusste – Herzl und Freud teilen ein Motto In Theodor Herzls Tagebuch ist Junos Aufruhr noch mehrfach anzutreffen. Es handelt sich sogar mit der eingangs erwähnten Variante in London um eines der am häufigsten verwendeten ‚klassischen‘ Zitate im Zionistischen Tagebuch (1895-1904).9 Dass Herzl mit Vergils geflügelten Worten für das Projekt der zionistischen „Massenpsychologie“10 dasselbe Motto wählt wie Freud in der Traumdeutung, verweist nicht allein auf verwandte Bildungswege und kulturelle Milieus von Herzl und Freud im Mitteleuropa des ausgehenden 19. Jahrhunderts.11 Der antike Paratext offenbart auch eine strukturelle Analogie der diskursiven Strategien: Im Rahmen der Freud’schen Seelen-Archäologie eröffnet Junos nach unten gerich7
Vgl. etwa Blumenthal, Ernst Pinchas: Diener am Licht. Eine Biographie Theodor Herzls, Frankfurt a.M./Köln 1977, S. 122. Schorske sieht in diesem „Führerprinzip“ einerseits eine libidinöse Triebfeder, die das jüdische Volk „als kollektives Liebesobjekt“ in den Blick nimmt, andererseits eine „Verwandtschaft“ zu den antisemtischen Wiener Politikern Georg von Schönerer und Karl Lueger. Dabei steht das „Verwerfen rationaler Politik“ unkommentiert neben „der Hinwendung zu einem noblen, aristokratischen Führungsstil“. Schließlich bemerkt Schorske in Bezug auf Herzls oft pathologisierende Wahrnehmung der Juden: „Ein anderes Band, das ihn mit seinen Gegnern verknüpfte, auch wenn er ganz andere Folgerungen daraus zog, war seine Abneigung gegen Juden.“ (Schorske: Wien (1982), S. 150.) 8 Vgl. Foucault, Michel: Sicherheit, Bevölkerung, Territorium. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Aus d. Französischen v. Claudia Brede-Konersmann u. Jürgen Schröder. Hg. v. Michel Sennelart. Frankfurt a.M. 2006, S. 239-269. 9 Vgl. BT II, S. 259 u. S. 584; vgl. auch Herzl, Theodor: Briefe und Tagebücher. Bd. 3: Zionistisches Tagebuch 1899-1904, Berlin/Frankfurt a.M./Wien 1985, S. 178. 10 Beller, Steven: Herzl, Wien 1996, S. 78ff. 11 Die Aeneis war beliebtes und im Fall von Freud wahrscheinliches Abiturprüfungsgebiet. Vgl. Starobinski, Jean: „Acheronta movebo. Nachdenken über das Motto der ‚Traumdeutung‘“, in: Ders./Grubrich-Simitis, Ilse/Solms, Mark: Hundert Jahre „Traumdeutung“ von Sigmund Freud. Drei Essays, Frankfurt a.M. 1999, S. 8-48, hier S. 9ff.
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Utopische Räume tete Invokation die Reise in das ‚innere Ausland‘, dessen Erkundung untrennbar mit der Genese und Rhetorik der Psychoanalyse selbst verbunden ist:12 „Das seelisch Unterdrückte, welches im Wachleben durch die gegensätzliche Erledigung der Widersprüche am Ausdruck gehindert und von der inneren Wahrnehmung abgeschnitten wurde, findet im Nachtleben und unter der Herrschaft der Kompromißbildungen Mittel und Wege, sich dem Bewußtsein aufzudrängen.“13
Herzl setzt die räumliche Anordnung Vergils durch die zionistische Agenda in ein äußeres, soziales Verhältnis: Als höhere Macht ist im innerjüdischen Kontext unschwer das westlich-assimilierte, großbürgerliche Judentum zu erkennen. Als Acheron dient dabei nicht das Unbewusste, sondern das Gespenst der ostjüdischen Massen, deren Präsenz in der sozialen Topografie Wiens bei den assimilierten Juden durchaus freudianische Verdrängungsmuster hervorrief und die Auffassung der eigenen jüdischen Wurzeln als „un pieux souvenir de famille“ (Theodor Gomperz) zweifellos gefährdete.14 Max Mandelstamm hat den acherontischen Osten in ein bekanntes literarisches Bild gestellt: „Die ‚Peter Schlemihle‘ des Westens möchten wohl sammt und sonders ihren Schatten vom Osten nicht nur nicht suchen, sondern verlieren, sie können ihn aber nicht loswerden […]“15. Dieser lange Schatten, der von der Wiener Leopoldstadt bis zu den osteuropäischen Ghettos reicht, verzahnt das Schicksal der Ostjuden mehr denn je mit jenem der assimilierten Westjuden und konfrontiert eine individualisierte mit einer – zumindest aus westlicher Perspektive – kollektivierten, dunklen Welt. Dass Freud auf die „seelische Konstruktion“ des „dunklen“ jüdischen Raumes und dessen Bedeutung für die Psychoanalyse hingewiesen hat, sei nur am Rande bemerkt.16 12 Vgl. Starobinski: „Acheronta movebo“ (1999), S. 11ff. 13 Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Bd. 2. u. Bd. 3: Die Traumdeutung. Über den Traum, Frankfurt a.M. 1999, S. I-642, hier S. 613. 14 Vgl. Beller: Herzl (1996), S. 27. 15 Mandelstamm, Max: „Rede des Herrn Dr. Max Mandelstamm. Beilage zu der Nr. 35 der ‚Welt‘“, in: Die Welt 2 (1898), Nr. 35, S. I. 16 „Was mich ans Judentum band, war […] nicht der Glaube, auch nicht der nationale Stolz […] Ein nationales Hochgefühl habe ich, wenn ich dazu neigte, zu unterdrücken mich bemüht, als unheilvoll und ungerecht, erschreckt durch die warnenden Beispiele der Völker, unter denen wir Juden leben. Aber es blieb genug anderes übrig, was die Anziehung des Judentums und der Juden unwiderstehlich machte, viele dunkle Gefühlsmächte, umso gewaltiger, je weniger sie sich in Worten erfassen liessen, ebenso wie das klare Bewußtsein der inneren Identität, die Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion.“ (Freud, Sigmund: „Ansprache im Verein B’nai
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Peck: Theodor Herzls zionistische Utopie Offenbar liegt, so kann zwischenzeitlich bemerkt werden, die Attraktivität von Junos revolutionärer Götterpolitik für die Moderne in einem Bild von gleichzeitiger Stagnation und Bewegung, oberflächlicher Paralyse und unterschwelligem Gärungsprozess – ein räumliches Ordnungsmuster, das mit Herzl und Freud gleich zwei Großprojekte der Wiener Jahrhundertwende imaginär verankert. 40 Jahre vor Herzl und Freud bemächtigte sich bereits der deutsche Sozialdemokrat Ferdinand Lassalle des Bilds der höheren Mächte und des Unterweltflusses. Lassalles politische Kampfschrift Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens (1859) trug mit „Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo“ jenen bekannten Hexameter unter dem Titel, der der preußischen Regierung die „revolutionäre Gewalt des Volkes“17 vor Augen führen sollte, falls diese sich weigerte, in eine gegen die Habsburgermonarchie gerichtete Allianz mit den nationalistischen Bestrebungen Italiens zu treten. Vor dieser Folie wird auch Herzls Verwendung klarer: wie sein neben Bismarck größtes politisches Vorbild Lassalle18 will er Junos Worte als Drohung verstanden wissen: „Wollen R[othschild]’s nicht, so bringe ich Sache vor Gesammtheit der Juden. Das hat ausser Länge noch Nachtheile für mich, dass ich meine tiefsten Pläne divulgieren, der Discussion (auch der Antisem[iten]) übergeben muss. Für R[othschild]‘s hat es den Nachtheil, dass Sache ruchbar wird, Stürme der Wuth hervorruft (die Juden wollen abziehen) und vielleicht zu schweren Unruhen auf Gassen und in Gesetzgebungen zu Repressalien führt.“19
Die Familie Rothschild steht in diesem Fall beispielhaft für die Angst, dass durch Bewegung bei den Ostjuden die soziale Balance gefährdet sein könnte. Zur Sicherung dieser Balance hatten die Rothschilds wie der jüdische Bankier Moritz von Hirsch vorzionistische Kolonien in Palästina und Südamerika unterstützt, standen Herzls Kolonisierung Palästinas im großen Stil und der damit verbundenen Gründung einer jüdischen Kolonialbank allerdings ablehnend gegenüber. Hinzu kommt der eingeschränkte Handlungsraum innerhalb der Neuen Freien Presse, als deren Feuilleton-Leiter Theodor Herzl ab 1896 tätig war:20 Die Herausgeber Moritz Benedikt
17 18 19 20
B’rith“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 17: Schriften aus dem Nachlaß 1892-1938, Frankfurt a.M. 1999, S. 51f.) Die Rede wurde anlässlich von Freuds 70. Geburtstag 1926 verlesen. Schorkse: Wien (1982), S. 188. Vgl. dazu Beller: Herzl (1996), S. 22 u. S. 79. BT II, S. 73. Vgl. zu dem Komplex Neue Freie Presse und Zionismus bzw. zur allgemeinen Aufnahme des Judenstaats in der Wiener Öffentlichkeit Elon, Amos: Theodor Herzl. Eine Biographie, Wien/München 1974, S. 162-174;
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Utopische Räume und Eduard Bacher hatten die Berichterstattung über zionistische Aktivitäten weitgehend unterbunden und Herzls zionistische Ideen als „Lassallsche Agitation“ klassifiziert.21 Bis zu diesem Punkt kann Herzl in formaler Hinsicht also problemlos als Junos Erbe verstanden werden, beschreibt doch die acherontische Rührung auf den ersten Blick die Auflehnung gegen zwei korrespondierende soziale Welten und deren politische Praxis: das liberale jüdische Bürgertum einerseits und den k.u.k.-Staat, demgegenüber sich erstere, v.a. durch die tägliche Lektüre der Neuen Freien Presse aktualisiert, loyal fühlte. Inwiefern gegenüber einer derartigen Lesart Vorsicht geboten ist, zeigen allerdings zeitgleich Herzls Verhandlungen mit dem wenig später verstorbenen Ministerpräsidenten Graf Eduard Taaffe über eine Umwandlung der vormaligen Presse zu einer Staatszeitung, für die Herzl zu einem Zeitpunkt als Chefredakteur gewonnen werden sollte, als er am Judenstaat arbeitete: Als oberste Bedingung forderte der acherontische Agitator, im prospektiven Staatsdienst der Donaumonarchie nun „comme un ambassadeur“ empfangen zu werden.22
Imponderabilien Abgesehen vom bedrohlichen Duktus, der Junos Anrufung des Unterweltflusses innewohnt, muss allgemeiner hervorgehoben werden, dass der Vergil’sche Acheron gegen die Götter nicht allein Kontingenz und Unkontrollierbarkeit beschwört, wie ein Blick in die Aeneis zeigt: Junos Eingriff ist vielmehr die langfristige Aussichtslosigkeit auf Erfolg eingeschrieben, da nach der strukturgebenden Prophezeiung die Heldengeschichte des Aeneas bereits feststeht. Vielmehr geht es um Umwege: So sieht Jean Starobinski in der Auseinandersetzung mit Freuds Verwendung des „Acheronta movebo“ Junos Schikanen deshalb vorwiegend als strukturierendes Element, das die Heldengeschichte (d.h. auch das Bestehen von Prüfungen) überhaupt erst hervorzubringen vermag und für das sowie Pollak, Michael: Wien 1900. Eine verletzte Identität, Konstanz 1997, S. 128-140. 21 Vgl. Bein, Alex: Theodor Herzl, Berlin 1983, S. 121. Herzl berichtet im Zionistischen Tagebuch auch über ein Gespräch mit Bacher, nachdem er im Feuilleton der Neuen Freien Presse einige hinterlassene Briefe Lassalles gebracht hatte: „‚Was meinen Sie, wäre Lassalle heute, wenn er lebte?‘ fragte ich. Bacher schmunzelte: ‚Wahrscheinlich preussischer Geheimrath.‘ Ich aber sagte: ‚Er wäre Führer der Juden; ich meine natürlich nicht den Lassalle im Alter das er heute hätte, sondern den in seiner damaligen Kraft.‘“ (BT II, S. 275.) 22 Vgl. Bein: Herzl (1983), S. 106.
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Peck: Theodor Herzls zionistische Utopie Auffinden alternativer Möglichkeiten gerade im epistemologischen Rahmen unumgänglich ist.23 Damit eröffnet das antike RaumModell nicht mehr nur allein den Einzug einer unkontrollierbaren Tiefe, sondern auch die durchgehende Reziprozität zwischen oben und unten, Telos und Tyche, in der sich eine bestimmte narrative Ökonomie bzw. ein Raum der Möglichkeiten manifestiert. Einerseits bekräftigt Herzls selbstbeschwörende Verwendung des aktiven Verbums „movebo“, dass er die von der Kulturgeschichtsschreibung konstatierte „Politik der neuen Tonart“24 beherrscht. Es ist die Kenntnis der von Herzl ins Feld (der Möglichkeiten) geführten „Imponderabilien“, die den Schriftsteller und Journalisten Herzl in den Massen-Psychologen verwandelt: „Glauben Sie mir, die Politik eines ganzen Volkes – besonders wenn es so in alle Welt zerstreut ist – macht man nur mit Imponderabilien, die hoch in der Luft schweben.“25 In der Naturwissenschaft, vornehmlich der Chemie, gelten jene Imponderabilien seit dem 18. Jahrhundert als unwägbare Stoffe, wie Dämpfe oder Rauch, solange sie sich noch nicht ‚gesetzt‘ haben. Gleichzeitig werden manche Stoffe umgekehrt erst dadurch imponderabel, dass sie jenem Behältnis entweichen, durch das sie wägbar sind. Wenn Herzl also die Rolle der Imponderabilien zur Voraussetzung der politischen Lösung der Judenfrage macht, steht kaum verwunderlich Richard Wagners zeitgenössisch als zu sinnnlich und gefährlich gebrandmarkter Sound bzw. dessen dramatische Inszenierung Pate: Der neue Exodus der Juden verhalte sich, so Herzl im Zionistischen Tagebuch, „zu Mosis’ Auszug wie ein Fastnachtspiel von Hans Sachs zu einer wagnerischen Oper.“26 Dass er dabei nicht nur Wagners Ästhetik, sondern auch Bismarck im Ohr hatte, zeigt der Nachsatz zu den Imponderabilien: „Wissen Sie, woraus das deutsche Reich entstanden ist? Aus Träumereien, Liedern, Phantasien, und schwarz-rot-goldenen Bändern. Und in kurzer Zeit. Bismarck hat nur den Baum geschüttelt, den die Phantasten pflanzten.“27 In Anlehnung an Bismarcks „Baum“ rekapituliert Herzl nachträglich seine Leistung am Ersten Zionistenkongress in Basel 1897:
23 „Man sieht, wie sich auf diese Weise eine Erzählkette bildet, deren Ergebnis es ist, die Gegner und die retardierenden Ursachen für Aeneas und seine Gefährten zu vervielfachen. Der Held, der so viele Proben bestanden hat, wird dadurch nur umso ruhmvoller.“ (Vgl. Starobinski: „Acheronta movebo“ (1999), S. 19.) 24 Schorske: Wien (1982), S. 138-164. 25 BT II, S. 65. 26 Ebd., S. 55. 27 Ebd., S. 65.
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Utopische Räume „Der Staat ist wesentlich im Staatswillen des Volkes, ja selbst eines genügend mächtigen Einzelnen… begründet. Territorium ist nur die concrete Unterlage, der Staat ist selbst, wo er Unterlage hat, immer etwas Abstraktes. … Ich habe also in Basel dieses Abstrakte und darum den Allermeisten Unsichtbare geschaffen. Eigentlich mit infinitesimalen Mitteln. Ich hetzte die Leute allmälig in die Staatsstimmung hinein u. brachte ihnen das Gefühl bei, daß sie die Nationalversammlung seien.“28
Bekräftigen Herzls Verwendung der Wörter „hetzen“, „Stimmung“ und der Hinweis auf das aktive ‚Beibringen‘ eines „Gefühls“ noch einmal eindrucksvoll die agitatorisch-revolutionäre Bedeutung der Imponderabilien, galt Herzl andererseits das politische Spiel mit irrationalen Elementen als verpönt. Demgemäß wurde er nicht müde darauf hinzuweisen, dass die zionistische Bewegung nicht auf Träume militärischer Eroberungen bauen dürfe, sondern vielmehr auf „dem Boden der Vernunft“ und der „praktischen Politik“ stehen müsse und – für die folgenden Ausführungen nicht unwesentlich – „nicht entschweben“ dürfe:29 Der Entfesslung folgt die Rationalisierung auf dem Fuß. Zu stark fand in ihm der „Lärm“ des französischen Abgeordnetenhauses, den er während seiner Korrespondentenzeit für die Neue Freie Presse in Paris erlebt hatte, und Karl Luegers ebensolche Politik der „neuen Tonart“30 im Wiener Landtag Nachhall: „Ein anhaltender Lärm ist an sich eine bemerkenswerthe Thatsache. Die ganze Weltgeschichte ist nichts als Lärm. Waffenlärm, Lärm fortschreitender Ideen. Den Lärm muss man sich dienstbar machen – und ihn doch verachten.“31 Herzl selbst macht keinen Hehl daraus, dass der Lärm eher auf der Seite seiner literarischen bzw. dramatischen Profession zu verorten und dadurch einer spezifischen Ökonomie verpflichtet sei, wenn er vor der Publikation des Judenstaats ausführt: „Und eigentlich bin ich darin immer noch der Dramatiker. Ich nehme arme, verlumpte Leute von der Straße, stecke sie in herrliche Gewänder und lasse sie vor der Welt ein wunderbares, von mir ersonnenes Schauspiel aufführen.“32 Damit tritt also das rationale Prinzip keineswegs in den Hintergrund, sondern lediglich in den Dialog mit dem literarischen Moment politischer Imagination. Im theatralischen Konstruktivismus des zionistischen body politic erscheint die acherontische Kontingenz der Imponderabilien demnach als notwendiges und strukturbildendes Beiwerk der Ponderabilien. Aus der acherontischen Bewegung resultiert damit allerdings selbst ein planmäßiger Staat, der, wie Herzl 28 29 30 31 32
Ebd., S. 538f. Vgl. Beller: Herzl (1996), S. 81. Vgl. Schorske: Wien (1982), S. 126-138; und Beller: Herzl (1996), S. 78. BT II, S. 584. Ebd., S. 19.
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Peck: Theodor Herzls zionistische Utopie in einer für den utopischen Diskurs der Moderne typischen Weise bekräftigt, eben keine Utopie sein will.33 Gegenüber dem imaginären Gehalt muss die zionistische Utopie gerade deshalb umso mehr diskursive Anstrengung aufbringen, um die ‚Lenkung der Bewegung‘ zu legitimieren und zu rationalisieren.
Lenkung und Individualisierung Im Folgenden soll jene rationale Arbeit im Spiegel des beschworenen Acheron etwas näher betrachtet werden; nicht zuletzt dort, wo sie sich einer revolutionären Entfesselungsrhetorik nachgerade entzieht und z.T. als normalisierende Instanz entgegensteht. Noch einmal sei diesbezüglich auf Sigmund Freuds Navigation im acherontischen Raum verwiesen: Bei Freud ist es der mehrfache Verweis auf die Analogie zwischen Psychoanalyse und Kriminalistik, der den Aspekt nahelegt, die Entfesselung des Unbewussten wäre v.a. dazu da, es zu benennen und in geordnete Bahnen des Bewussten zu überführen. Bereits früh benutzt Freud metaphorische Bezüge zum Verhör: Im 1906 vor Wiener Kriminalisten gehaltenen Vortrag Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse verdichtet Freud diesen Vergleich hinsichtlich der zu entlarvenden „Symbolhandlungen“34 im Verhör, die sich gegen den Zugriff des Kriminalisten wie des Analytikers wehren, wie der Hinweis auf den „Widerstand“35 der Analysanden bekräftigt. Freuds Schüler Theodor Reik wird diese Analogie später zum Programm erheben, wenn er ein sozialpolitisches Bildfeld evoziert, in dem psychische Szenerien mit „Landesverweisern“ und „Asylsuchenden“ besetzt werden: „Das Verdrängte erscheint in der Rolle eines ausgewiesenen Verbrechers, der, geplagt von Heimweh, ins verbotene Vaterland zurück will und im Psychoanalytiker den juristischen Vertreter seiner Sache zu finden glaubt.“36 Doch der Reik’sche Analytiker ist, wie Michael Rohrwasser vermutet, vielmehr auf der Seite des Staates zu finden, der die Tarnungen des Delin33 Vgl. Herzl, Theodor: „Der Judenstaat“, in: Ders.: Gesammelte Zionistische Werke. Bd.1: Zionistische Schriften, Tel Aviv 1934 (im Folgenden: JS), S. 19ff. 34 Freud, Sigmund: „Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 7: Werke aus den Jahren 1906-1909, Frankfurt a.M. 1999, S. 5. 35 Ebd., S. 9. 36 Rohrwasser, Michael: „Sigmund Freud, Hans Groß und Otto Groß. Neue Blicke durch alte Löcher“, in: „… da liegt der riesige Schatten Freuds nicht mehr auf meinem Weg“. Die Rebellion des Otto Gross. 6. Internationaler Otto Gross Kongreß. Wien, 8.-10. September 2006, Marburg a.d.L. 2008, S. 262.
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Utopische Räume quenten durchschaut und sich mit einer rigiden Sozialpolitik vor dessen Wiederkehr schützt.37 Dabei wird von Reik auch eine Aussage Freuds zitiert, in der dem Unbewussten ein nun nicht im acherontischen Raum, sondern horizontal verortbarer Stadtteil zugewiesen wird: „Wenn wir annehmen, daß die Wiener Polizei einige bestimmte Viertel und Straßenzüge der Stadt nicht betreten dürfte, glauben Sie, daß man dann die Sicherheit Wiens besonders hoch veranschlagen könnte?“38 Die Erkundung des acherontischen Stadtteils erscheint in dieser sozialen bzw. kriminalistischen Topografie als Voraussetzung der Sicherheit der ganzen Stadt. Auch bei Theodor Herzl finden sich Perspektivierungen der ostjüdischen Bevölkerung bzw. (in Korrespondenz mit Freuds Topografie) der ostjüdischen Ghettos in mitteleuropäischen Städten, die das – nicht zuletzt für Herzl selbst – unheimliche und bedrohliche Potenzial der Masse dadurch bannen, dass es ans Tageslicht befördert, benannt und individualisiert wird. Rationalisierbar – in Rekurs auf die Wägbarkeit: ponderabel – wird die ostjüdische Bevölkerung, das „menschliche Material“39 des Zionismus, erst dadurch, dass es „wie alte Gefangene“ aus dem Untergrund geborgen werden muss: „Alte Gefangene gehen nicht gern aus dem Gefängnis. Man muss sie locken und stossen und jeden Widerstand vor ihnen wie in ihnen hinwegräumen.“40 Die sich dahinter verbergende Lenkungspraxis, die auch „in ihnen“ ansetzen muss, kommt hinsichtlich der ‚Sicherheit‘ auf gesamteuropäischer Ebene, wie Herzl mehrfach betont, v.a. den ehemaligen „Wirtsvölkern“41 zugute. Konkret lässt sich dieses gegenrevolutionäre Lenkungsmoment des Zionismus an Herzls diplomatischem Verkehr in Deutschland und Russland festmachen. Sowohl gegenüber hochrangigen Diplomaten des zaristischen Russlands als auch gegenüber deutschen Repräsentanten und schließlich Kaiser Wilhelm selbst verfolgt Herzl die idente Argumentationsstrategie. Nach einem Gespräch mit Bülow reflektiert Herzl im Zionistischen Tagebuch diese Strategie folgendermaßen: „Auch er bestätigte mir, was schon Eulenburg gesagt: dass der Kaiser keineswegs ein Antisemit sei, wie man ihn verschrieen habe. Er sei nur gegen die destructiven Juden. Da waren wir beim Socialismus, ich gab ihm meinen Standpunkt klar, dass es eine Thorheit der Juden sei, sich dem Socialismus anzuschließen, der sich demnächst entjuden werde. Auch sei der Jude in jeder Faser
37 Vgl. ebd., S. 263. 38 Zitiert nach Rohrwasser: „Sigmund Freud“ (2008), S. 263. Vgl. dazu auch Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 112. 39 JS, S. 83f. 40 BT II, S. 221. 41 JS, S. 23.
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Peck: Theodor Herzls zionistische Utopie nicht Socialist. Ich erzählte ihm, was ich unlängst gelesen: wie das vormosaische Egypten ein socialistischer Staat gewesen sei. Moses schuf durch den Dekalog die individualistische Gesellschaftsordnung. Und die Juden seien u. blieben Individualisten. […] Die Juden, meinte Bülow, würden sich mit der Gleichmacherei nie abfinden. Er habe über den socialistischen Zukunftsstaat einmal mit einem Socialistenführer gesprochen. Das werde wie ein Mohnfeld sein, auf dem jede höhere Blume geköpft würde.“42
Wenn er daraufhin fortfährt, „[u]eber den socialistischen Theil der Frage haben wir uns gut verständigt,“ zeigt sich, dass Herzls Hauptargument gegenüber den mitteleuropäischen Regierungen v.a. jenes war, dem Sozialismus jüdische Proletarier abspenstig zu machen: „Es imponirte ihm, als ich die Thatsache erzählte, wir hätten an der Wiener Universität die Studenten dem Socialismus weggenommen.“43 Der biopolitische Gehalt zeigt sich v.a. auf der anderen Seite dieser Ab-Lenkung, denn gleichzeitig haben die assimilierten bürgerlichen Juden gerade durch die scheinbar gefährliche Bewegung von unten die Möglichkeit, ihren ostjüdischen Schatten inem von Charles Darwin entlehnten Anpassungsszenario loszuwerden: „Nun würde allerdings die staatsbildende Bewegung, die ich vorschlage, den israelitischen Franzosen ebenso wenig schaden wie den ‚Assimilierten‘ anderer Länder. Nützen würde sie ihnen im Gegenteil, nützen! Denn sie wären in ihrer ‚chromatischen Funktion‘, um Darwins Worte zu gebrauchen, nicht mehr gestört.“44
Der koloniale und im sozialutopischen Sinn universale Anspruch dementsprechender gestörter und durch die „Staatsbildung“ geregelter „Bewegung“ kann hier nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen soll im Folgenden Herzls Lenkungsmodell vor der Folie von Michel Foucaults Ausführungen zur Geschichte der Gouvernementalität, insbesondere der darin beschriebenen Technologie pastoraler Lenkung betrachtet werden. Der Begriff des Pastorats leitet sich als Modell von einem der jüdisch-christlichen Tradition entstammenden Verhältnis zwischen dem Hirten und dessen Herde ab, das sich Foucault zufolge nicht nur in der christlichen Seelsorge finden lässt, sondern auch in einer säkularisierten Form als „Gouvernementalität“45, die dadurch evident wird, dass die „Bevölkerung“ im 42 43 44 45
BT II, S. 613f. Ebd., S. 618. JS, S. 29f. Welchen „Machttypus“ der Begriff des „hässlichen Wort[es]“ Gouvernementalität abdeckt, lässt sich ex negativo zeigen: „Regieren“ ist zunächst „nicht dasselbe […] wie ‚Herrschen‘, nicht dasselbe wie ‚Kommandieren‘ oder ‚Befehlen‘“ (vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (2006), S. 173f.). Das Ziel der gouvernementalen Ratio ist die statistisch beschreib-
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Utopische Räume 17. Jahrhundert zur diskursiven Größe avanciert und als statistisch ermittelbarer, kalkulierbarer Wert erscheint. Gleichzeitig firmieren der Liberalismus und die politische Ökonomie des 18. und 19. Jahrhunderts als Gradmesser jener säkularisierten Pastoralmacht, da mit Foucault korrelativ zu den Freiheiten der Individuen ein „Sicherheitsdispositiv“ entsteht, um ebenjene Risiken zu bewältigen, die aus den Freiheiten einer ganzen Bevölkerung erwachsen.46 Davon ausgehend, lässt sich allerdings auch die gehäufte Moses- und Hirten-Referenz bei Theodor Herzl nicht allein religiösen Allusionen, sondern eben jener Reflexionsebene der Lenkung zuordnen, wie bereits die berühmte Einführung der „Society of Jews“ im Judenstaat evoziert: „Wenn wir heute aus Mizraim wandern, kann es nicht in der naiven Weise der alten Zeit geschehen. Wir werden uns vorher Rechenschaft geben von unserer Zahl und Kraft. Die Society of Jews ist der neue Moses der Juden.“47 Deutlicher kann der Hinweis nicht ausfallen, dass die neue Form der Lenkung die Konstruktion einer „Bevölkerung“ (Zahl und Kraft) braucht. Die spezifische „Macht des Hirten“ ist nach Foucault „eine Macht, die nicht auf ein Territorium ausgeübt wird, sondern eine Macht, die per definitionem auf eine Herde ausgeübt wird, genauer auf eine Herde in ihrer Fortbewegung, in der Bewegung, die sie von einem Punkt zu einem anderen laufen läßt.“48 Zur „Grundlage des Staates“ heißt es im Judenstaat: „Aber nicht die Länderstrecken sind der Staat, sondern die durch eine Souveränität zusammengefaßten Menschen sind es. Das Volk ist die persönliche, das Land die dingliche Grundlage des Staates. Und von diesen beiden Grundlagen ist die persönliche die wichtigere. Es gibt zum Beispiel eine Souveränität ohne dinglich Grundlage, und sie ist sogar die geachtetste der Erde: Es ist die Souveränität des Papstes.“49
Mit dem von Herzl verwendeten Begriff der „Bewegung“ ist auch ein weiteres Merkmal pastoraler Macht verbunden: nämlich die Vorstellung, „daß die pastorale Macht eine individualisierende Macht ist. Das heißt, es stimmt, daß der Pastor die gesamte Herde lenkt, doch er kann sie nur in dem Maße richtig lenken, wie ihm kein einziges
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bare Bevölkerung selbst: „Eher als die Macht des Souveräns erscheint die Bevölkerung also als Ziel und Instrument der Regierung“; als Zweck der Regierung erscheint damit das „Geschick der Bevölkerungen zu verbessern, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer, ihre Gesundheit zu mehren“ (ebd., S. 158). Vgl. Foucault: Geburt der Biopolitik (2006), S. 97f. u. S. 100ff. JS, S. 89. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (2006), S. 187f. JS, S. 86.
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Peck: Theodor Herzls zionistische Utopie Schaf entgehen kann.“50 Darin offenbart sich schließlich „dieses berühmte Paradox vom Hirten, der zwei Gestalten annimmt. Einesteils muß der Hirte ein wachsames Auge auf alles und auf jedes haben, omnes et singulatim […]“51. Im Judenstaat bewältigt Herzl dieses Paradox durch das „Lenkungsmodell“ einer „aufsteigenden Klassenbewegung“, die durch unterschiedliche Auswanderungsintervalle garantiert werden soll: „Erst die Verzweifelten, dann die Armen, dann die Wohlhabenden, dann die Reichen. Die Vorangegangenen erheben sich in die höhere Schicht, bis diese letztere ihre Angehörigen nachschickt. Die Wanderung ist zugleich eine aufsteigende Klassenbewegung.“52
Das Vertrauen in die Seelenführung des Pastors wird im Modell der individualisierenden Bewegung als Bedingung eingesetzt, denn, so Herzl in der Einleitung des Judenstaats, „dazu muß vor allem in den Seelen tabula rasa gemacht werden von mancherlei altem überholten, verworrenen, beschränkten Vorstellungen.“53 Erprobt wird das zionistische „omnes et singulatim“ schließlich am Strafvollzug des Judenstaats und den „Verlorenen“. So führt Herzl in Bezug auf jüdische Delinquenten aus: „[...] sie [werden] ohne jede Restriktion aufgenommen, es soll auch für die Verbrecher unter uns ein neues Leben beginnen. So kann für viele Juden die Auswanderung zu einer glücklich verlaufenden Krise werden. Die schlechten äußeren Bedingungen, unter denen mancher Charakter verdorben ist, werden behoben, und Verlorene können gerettet werden.“54
Die therapeutische Rede von der „glücklich verlaufenden Krise“ hält auch jene Bedeutung des „gouverner“ bereit, die auf Hygiene und ärztliche Führung verweist. Die therapeutische Funktion der Massenauswanderung und Einrichtung einer „öffentlich-rechtlichen Heimstätte für Juden“ außerhalb Europas würde nun genügen, so Herzl weiter, um nicht nur die Judenfrage, sondern damit auch die soziale Frage im Inneren der alten europäischen Staaten zu lösen: „Indem wir sie lösen, handeln wir nicht nur für uns selbst, sondern auch für viele andere Mühselige und Beladene.“55 Die Pastoraltechnologie des Judenstaats wird nun insofern mit den Regierungsweisen des europäischen Liberalismus verknüpft, da es sich beim Ju-
50 51 52 53 54 55
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (2006), S. 191. Ebd., S. 191f. JS, S. 32. Ebd., S. 24. Ebd., S. 97. Ebd., S. 25.
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Utopische Räume denstaat, wie Steven Beller festgestellt hat, nicht um ein Gegenmodell zu der den Juden im 19. Jahrhundert vom Liberalismus zur Verfügung gestellten sozialen und kulturellen Emanzipation handelt, sondern vielmehr um eine Form der „super-emancipation“56. Die Emanzipation, also die uneingeschränkte individuelle Inanspruchnahme des öffentlichen Rechts, wird damit einfach auf eine höhere – völkerrechtliche – Ebene transponiert. Herzl adressiert bereits zu Beginn des Judenstaats die pastorale Sorge der liberalen Fortschrittsgeschichte, wenn er feststellt, dass die „Judenfrage ein verschlepptes Stück Mittelalter“57 und die Zurückweisung absolutistischer Machttechniken erst durch die Lösung im Judenstaat garantiert sei. Indem der vormals bedrohliche jüdische Acheron den kolonialen Kanälen des liberalen Fortschrittsdiskurses zugeführt wird, profitieren beide Seiten voneinander. So avanciert die „öffentlich-rechtliche Heimstätte für Juden“ zu einem therapeutischen Relais für die Verbesserung der gesamteuropäischen wie binnenjüdischen „Zirkulationsfähigkeit“58 im ökonomischen wie politischen Sinn. Herzl spricht synonym zur „Bewegung“ vom „Abfluß“59 (eines im sozialen Sinn stehenden Gewässers) und inszeniert sich als oberster Wasserbauingenieur bzw. Verkehrs- und Hygienebeauftragter der politischen Moderne, wenn er in Anlehnung an seinen Jugendhelden und Planer des Suez-Kanals Ferdinand de Lesseps60 ausführt, die oben als Lenkungsinstanz vorgestellte „Society of Jews“ dürfe kein Panama, sondern „muss ein Suez werden“.61 Damit hat sich das Rühren des Acheron allerdings als Kanalisierung entpuppt, die wiederum einer größeren ökonomischen Zirkulation zugeführt werden kann, wie Herzls Ausführungen zum „Modernen
56 Beller: Herzl (1996), S. 15 u. passim. Beller spricht von Herzl als einem „super-emancipist“, „Über-Emanzipierer“. Er versteht diese Kategorie allerdings nicht im politisch-ökonomischen, sondern im ideengeschichtlichen Sinn. 57 JS, S. 25. 58 Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (2006), S. 78. 59 JS, S. 37. 60 Vgl. Beller: Herzl (1996), S. 20. 61 Vgl. BT II, S. 69. „Der Suezcanal, diese schimmernde Wasserlinie nach der Unendlichkeit gezogen, hat mir viel mehr imponirt, als die Akropolis. Menschenleben u. Geld wurden beim Suezcanal geraubt und verschwendet, aber doch ist der colossale Wille der diesen einfachen Gedanken des Sandabgrabens ausführte, zu bewundern. Bei Panama war dieser Wille schon senil […]“. (BT II, S. 674) Herzl spielt dabei auf den Korruptionsskandal und antisemitischen Diskurs rund um die Finanzierung von de Lesseps zweitem Projekt des Panamakanals an.
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Peck: Theodor Herzls zionistische Utopie Warenhaus“ in dem 1902 erschienen Utopie-Roman Altneuland62 verdeutlichen: „Diese Riesenbasare […] mit Zweigniederlassungen an vielen Orten mußten im Zeitalter der Dampfmaschinen und Eisenbahnen entstehen. […] Produktion und Konsumtion forderten das Moderne Warenhaus. […] wir konnten so die Seele und den Leib unserer kleinen Leute von gewissen alten, unwirtschaftlichen […] Formen des Handels heilen.“63
Vor dieser Folie ist auch Herzls Notiz zu verstehen, er verfolge „thatsächlich nur die Regulirung der Judenfrage“.64
Das lenkbare Luftschiff Da die Lenkung einer „Bewegung“, wie bereits angedeutet, in Herzls Verständnis nicht nur einer Etappe in der Chronologie des zionistischen Plans bzw. der Bewältigung einer Wegstrecke entspricht, sondern auch zur Grundlage jener „öffentlich-rechtlichen Heimstätte für Juden“ erklärt wird, kann abschließend noch auf ein anderes, der Lenkungspraxis verschriebenes Bild bei Herzl hingewiesen werden, das in den zionistischen Schriften ebenso oft zu finden ist, wie Junos „Acheronta movebo“: das zwar oft gesuchte, aber bis dato noch nicht entdeckte Modell des lenkbaren Luftschiffs. Dass Herzl das lenkbare Luftschiff mehrfach für die zionistische Agenda fliegen lässt, mag zunächst an einer als nicht lenkbar geltenden Imponderabilität liegen: In Rekurs auf den Ahasver-Mythos des herumirrenden, aus der Weltgeschichte ‚verbannten‘ Juden war v.a. das Bild der „Luftmenschen“ zur zentralen Metapher der jüdischen Diaspora-Existenz des 19. Jahrhunderts avanciert. Demgemäß müsse das „schwebende Proletariat“65 – so Herzl im Judenstaat – „festgemacht“ werden.66 Wie der folgende Tagebucheintrag zeigt, wähnt sich Herzl
62 Herzl, Theodor: „Altneuland“, in: Ders.: Gesammelte Zionistische Werke. Bd. 5: Das neue Ghetto/Altneuland/Aus dem Nachlass, Tel Aviv 1934 (im Folgenden: ANL). 63 Ebd., S. 98f. 64 BT II, S. 304. 65 JS, S. 30. 66 Davon ausgehend, lässt sich auch eine Fährte zur oben behandelten Ökonomie von Imponderabilien und Ponderabilien verfolgen: Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff der „Luftmenschen“ zusätzlich dadurch antisemitisch aufgeladen, als die „Luft“ in Analogie zum ahasverischen „Geist“ zugleich eine jüdische Disposition nicht nur zum Künstlertum, sondern auch allgemeiner zur überbordenden Phantasie evoziert. (Vgl. Berg, Nicolas: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Berlin 2008, S. 41f.)
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Utopische Räume mit dem lenkbaren Luftschiff allerdings einem Geheimnis auf der Spur, das jenes ‚Festmachen‘ wieder relativiert: „So kann ich den Judenstaat vielleicht ohne jeden sicheren Halt gründen und befestigen. Das Geheimnis liegt in der Bewegung. Ich glaube darüber hinaus wird auch irgendwo das lenkbare Luftschiff gefunden werden. Die Schwere überwunden durch die Bewegung; und nicht das Schiff, sondern dessen Bewegung ist zu lenken.“67
Wenn Herzl darauf Bezug nimmt, dass die Bewegung, nicht das Schiff zu lenken sei, wird ein aeronautischer Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufgerufen, der sich als öffentlichkeitswirksamer Widerstreit zwischen den Anhängern der „Leichter als Luft“-Theorie (Ballon) und der „Schwerer als Luft“-Theorie (Helikopter-Prinzip und das spätere, z.T. dem Vogelflugprinzip verschriebene Modell der Wrights) manifestiert hat.68 Mit dem Hinweis auf die Bewegung hat sich Herzl zweifellos auf die Seite der „Schwerer als Luft“-Aviatiker geschlagen. Jürgen Link hat auf die Binarität hingewiesen, die sich in der politischen subscriptio des Ballonsymbols im 19. Jahrhundert zwischen revolutionärer, träumerischer und antirevolutionärer, realistischer Aufladung zeige und sich auf einer vertikalen Ebene festsetzen lasse: Während erstere, der Gravität trotzend, in der Diskursivierung des Ballons den Fesseln zu entfliehen sucht und in die Höhe strebt, akklamiert letztere den Absturz, der in Ermangelung der Lenkbarkeit des Ballons unausweichlich wäre.69 Das „Schwerer als Luft“-Theorem, das Herzl in seiner Vorstellung von der Lenkbarkeit des Luftschiffs bedient, dynamisiert das binäre Modell des Ballonsymbols nun dahingehend, als bei ausreichender Kraft die Lenkbarkeit auf horizontaler Ebene ebenso gewährleistet ist wie der vertikale Aufstieg. Daraus lässt sich eine politische 67 BT II, S. 341. 68 Jules Verne hat diesem aviatischen (Wett-)Streit in seinem Roman Robur der Sieger ein Denkmal gesetzt. (Vgl. Verne, Jules: Robur der Sieger, Frankfurt a.M. 1987.) Herzl war mit den zeitgenössischen aviatischen Debatten vertraut, wie nicht zuletzt ein Feuilleton mit dem Titel „Das lenkbare Luftschiff“ deutlich macht. (Vgl. Herzl, Theodor: „Das lenkbare Luftschiff. Eine philosophische Erzählung“, in: Neue Freie Presse, 31.5.1896, S. 1ff.) Der darin porträtierte Erfinder orientiert sich ähnlich wie Lilienthal am Vogelflug. (Vgl. Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik, Berlin 1889.) Allgemeiner zu diesem Komplex vgl. Metz, Karl H.: Ursprünge der Zukunft. Die Geschichte der Technik in der westlichen Zivilisation, Paderborn/Wien 2006, S. 276ff. u. passim. 69 Vgl. Link, Jürgen: „‚Einfluß des Fliegens! – Auf den Stil selbst!‘ Diskursanalyse des Ballonsymbols“, in: Ders./Wülfing, Wulf (Hg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen, Stuttgart 1984, S. 152ff.
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Peck: Theodor Herzls zionistische Utopie subscriptio ableiten, die gegenüber der zementierten Opposition flexibler agieren kann. In Altneuland heißt es schließlich gegenüber den Verfassern literarischer Sozialutopien des ausgehenden 19. Jahrhunderts: „‚Nach Bellamy kam der Staatsromantiker Hertzka und entwarf seine Utopie ‚Freiland‘ […] Es sind schöne Träume oder wenn ihr wollt Luftschiffe, aber lenkbar sind sie nicht.“70 Das Problem sei, dass diesen Utopien „der feste Punkt, an dem Archimedes den Hebel einsetzen wollte“71, fehle. Der berüchtigte Arzt, Schriftsteller, Degenerationstheoretiker und Zionist Max Nordau führt in dem von Herzl angeregten und für die Neue Freie Presse verfassten Feuilleton Das lenkbare Luftschiff (1901) unmissverständlich aus, wo der archimedische Hebel anzusetzen ist und (wenngleich ironisierend) welche ökonomischen und politischen Sehnsüchte um 1900 am liberalen Kollektiv-Symbol des lenkbaren Luftschiffs hängen: „Die Luft hat keine Grenzen und keine Schlagbäume. Also unbegrenzter Freihandel auf dem ganzen Erdball, ungehinderter Wettbewerb aller gütererzeugenden Kräfte, höchste Differenzierung der Production, Concentrirung der Hervorbringung aller Güter an den Stellen, wo für die vortheilhaftesten natürlichen Bedingungen vorhanden sind, als Folge davon günstige Verwendung der Arbeitskraft, Ueberfluß, Wohlfeilheit und regster Austausch der Güter und eine Erleichterung des materiellen Lebens, die ihm paradiesische Formen gibt. Der Rahmen der Nationalitäten wird durchbrochen, derjenige der Staatsgebilde dehnbar und unsicher.“72
Mit Nordaus Katalog einer frühen Form der Globalisierung wird allerdings auch die politische Ökonomie in Herzls Hinweis klarer, dass nicht das Schiff, sondern die Bewegung zu lenken sei: Das lenkbare Luftschiff firmiert im utopischen Raum Herzls v.a. als Kritik nicht nur an nationalistisch-dirigistischen, sondern auch kommunitaristischen Wirtschaftsformen, die eben dadurch nicht mehr lenkbar bzw. reine „Wolken“ seien, wie Herzl in Absetzung von Bellamy und Hertzka feststellt: „Dort kann jeder aus der allgemeinen Schüssel so viel essen, als er mag. Der Wolf weidet neben dem Lamm. Schön, sehr schön! Nur sind dann die Wölfe keine Wölfe und die Menschen keine Menschen mehr.“73 Franz Oppenheimer74, zio70 ANL, S. 268. 71 Vgl. ebd., S. 269. 72 Nordau, Max: „Das lenkbare Luftschiff“, in: Neue Freie Presse, 17.8.1901, S. 2. 73 ANL, S. 268. 74 Oppenheimer war später in Frankfurt am Main der universitäre Lehrer des deutschen Nachkriegsministers Ludwig Erhard, der an der Entwicklung des für Foucault so zentralen „Ordoliberalismus“ maßgeblichen Anteil trug. Zu Erhard vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik (2006), S. 124.
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Utopische Räume nistischer Nationalökonom, Soziologe und Architekt der „neuen Gesellschaft“ Altneulands, hat in Absetzung von Modellen des allzu spürbaren kommunistischen wie nationalstaatlichen Dirigismus festgestellt: „Was ich aber will, ist nicht, etwas Kompliziertes aufzubauen, sondern etwas abzubauen; sozusagen den lebendigen Körper von einer Schlinge zu befreien, die ihn drosselt und zu erdrosseln droht.“75 Diesem Bedürfnis kommt v.a. die neue Gesellschaft Altneulands nach, die gemäß dem von Oppenheimer geforderten politischen Abbau76 keinen Staat mehr verkörpert, sondern eine dem Commonwealth folgende, größtmögliches ökonomisches Selbstinteresse und Beweglichkeit garantierende Wirtschaftsgenossenschaft;77 einzig Grund und Boden müssen, Oppenheimers Konzept der Bodenreform entsprechend, alle 50 Jahre neu vom „modernen Moses“ (im Roman folgt auf die „Society of Jews“ die genannte „neue Gesellschaft“) gepachtet werden. So betont ein Unternehmer in Herzls Roman, dass man sich im ökonomischen Sinn unter der neuen Gesellschaft keine „eisernen Regeln, keine unbeugsamen Grundgesetze, überhaupt nichts Hartes, Steifes, Doktrinäres“ vorzustellen habe, „sondern einen harmlos und natürlich fließenden Gebrauch“78. Der harmlose und natürliche Fluss stellt hinsichtlich der eingangs postulierten Nachbarschaft nicht das Gegenteil, sondern die andere Seite des acherontischen Rührens dar: Das „Quieta non movere“ ist von der oben gezeigten (eutopischen) Fortschreibung liberaler Ökonomie79 nicht mehr weit entfernt. Der Modus der Normalisierung erscheint in Altneuland also unter anderen Vorzeichen, indem nicht Disziplinartechniken, sondern die Zirkulation von Waren und Menschen die „Seele und den Leib“ der Bewohner Altneulands ‚heilen‘. Vor dieser Folie wird auch die „nach englischem Muster“80 turnende Altneuland-Jugend als ökonomische Korrektur des in Herzls zionistischem Umfeld proklamierten wehrhaften „Muskelju-
75 Oppenheimer, Franz: Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes. Lebenserinnerungen, Düsseldorf 1964, S. 151. 76 Vgl. Oppenheimer, Franz: Der Staat, Frankfurt a.M. 1907, S. 160. 77 Vgl. Adler, Joseph: The Herzl-Paradox. Political, Social and Economic Theories of a Realist, New York 1962, S. 86-113. 78 ANL, S. 209. 79 Vgl. Affeldt-Schmidt, Birgit: Fortschrittsutopien. Vom Wandel der utopischen Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 152ff. u. passim. Affeldt-Schmidt verweist gerade in Bezug auf Herzls Altneuland auf die für das ausgehende 19. Jahrhundert paradigmatische „idealisierende Anknüpfung“ an die „Erfahrungswelt“. Dabei werden im Gegensatz zur utopischen Negation älterer Utopien einzelne materielle und immaterielle Aspekte der Ausgangsgesellschaft eutopisch in die nahende Zukunft projiziert. 80 ANL, S. 203.
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Peck: Theodor Herzls zionistische Utopie dentums“81 verständlich. Es geht dem zionistischen „Manager der Freiheit“82 dabei nicht mehr um kollektive Disziplin und Wehrhaftigkeit,83 sondern um das „Wettspiel“84 als Initiationsritual der Ökonomie. Abschließend sei bemerkt, dass in Herzls Roman im Gegensatz zu anderen literarischen Utopien der Zeit85 kein lenkbares Luftschiff den utopischen Luftraum durchquert. Vielmehr stiftet das Luftschiff als abwesender Referent einen erzählerischen Reflexionsraum des Verhältnisses von Bewegung und Lenkung, Imponderabilien und Ponderabilien, Politik und Ökonomie, der dafür sorgt, dass der politische Zionismus eben nicht wie der Ballon „nach den ursprünglichsten Naturgesetzen immer ein Spiel der Luftströmungen“86 bleibt. Möglicherweise findet der von Foucault konstatierte Widerspruch des Liberalismus, die „Produktion der Freiheit“87, in Theodor Herzls zionistischer Fortschrittsutopie an der Schwelle zum durchaus acherontischen „Zeitalter der Extreme“ (Eric J. Hobsbawm) eine letzte deutliche Ausprägung.
Literatur Adler, Joseph: The Herzl-Paradox. Political, Social and Economic Theories of a Realist, New York 1962. Affeldt-Schmidt, Birgit: Fortschrittsutopien. Vom Wandel der utopischen Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1991. Bein, Alex: Theodor Herzl, Berlin 1983. Beller, Steven: Herzl, Wien 1996. Berg, Nicolas: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Berlin 2008.
81 Nordau, Max: „Muskeljudentum“, in: Ders.: Zionistische Schriften, Berlin 1909, S. 424-426, hier S. 424ff. 82 Foucault: Die Geburt der Biopolitik (2006), S. 97. 83 „Ein Kriegsheer gibt es nämlich in der neuen Gesellschaft nicht.“ (ANL, S. 203.) 84 Ebd., S. 203. 85 Vgl. etwa das vom „Erdmagnetismus“ angetriebene Luftschiff in Hertzka, Theodor: Entrückt in die Zukunft. Socialpolitischer Roman, Berlin 1895, S. 27ff. 86 Nordau: „Das lenkbare Luftschiff“ (1901), S. 1. 87 „Wenn dieser Liberalismus nicht sosehr der Imperativ der Freiheit, sondern die Einrichtung und Organisation der Bedingungen ist, unter denen man frei sein kann, dann wird im selben Zug im Zentrum dieser liberalen Praxis ein problematisches, ständig wechselndes Verhältnis zwischen der Produktion der Freiheit und dem hergestellt, was, in dem es sie herstellt, sie auch zu begrenzen und zu zerstören droht.“ Foucault: Die Geburt der Biopolitik (2006), S. 97f.
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Utopische Räume Blumenthal, Ernst Pinchas: Diener am Licht. Eine Biographie Theodor Herzls, Frankfurt a.M./Köln 1977. Elon, Amos: Theodor Herzl. Eine Biographie, Wien/München 1974. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983. —: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978-1979. Aus d. Französischen v. Jürgen Schröder. Hg. v. Michel Sennelart. Frankfurt a.M. 2006. —: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976. —: Sicherheit, Bevölkerung, Territorium. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Aus d. Französischen v. Claudia Brede-Konersmann u. Jürgen Schröder. Hg. v. Michel Sennelart. Frankfurt a.M. 2006. Freud, Sigmund: „Ansprache im Verein B’nai B’rith“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 17: Schriften aus dem Nachlaß 18921938, Frankfurt a.M. 1999, S. 49-53. —: „Die Traumdeutung“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2. u. Bd. 3: Die Traumdeutung. Über den Traum, Frankfurt a.M. 1999, S. I-642. —: „Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 7: Werke aus den Jahren 1906-1909, Frankfurt a.M. 1999, S. 1-15. Hertzka, Theodor: Entrückt in die Zukunft. Socialpolitischer Roman, Berlin 1895. Herzl, Theodor: „Altneuland“, in: Ders.: Gesammelte Zionistische Werke. Bd. 5: Das neue Ghetto. Altneuland. Aus dem Nachlass, Tel Aviv 1934, S. 125-420. —: Briefe und Tagebücher. Bd. 2: Zionistisches Tagebuch 18951899, Berlin/Frankfurt a.M./Wien 1985. —: Briefe und Tagebücher. Bd. 3: Zionistisches Tagebuch 18991904, Berlin/Frankfurt a.M./Wien 1985. —: „Das lenkbare Luftschiff. Eine philosophische Erzählung“, in: Neue Freie Presse, 31.5.1896, S. 1-5. —: „Der Judenstaat“, in: Ders.: Gesammelte Zionistische Werke. Bd. 1: Zionistische Schriften, Tel Aviv 1934, S. 17-105. Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik, Berlin 1889. Link, Jürgen: „‚Einfluß des Fliegens! – Auf den Stil selbst!‘ Diskursanalyse des Ballonsymbols“, in: Ders./Wülfing, Wulf (Hg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen, Stuttgart 1984, S. 149-163. Mandelstamm, Max: „Rede des Herrn Dr. Max Mandelstamm. Beilage zu der Nr. 35 der ‚Welt‘“, in: Die Welt 2 (1898), Nr. 35, S. I-IV.
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Peck: Theodor Herzls zionistische Utopie Metz, Karl H.: Ursprünge der Zukunft. Die Geschichte der Technik in der westlichen Zivilisation, Paderborn/Wien 2006. Nordau, Max: „Das lenkbare Luftschiff“, in: Neue Freie Presse, 17.8.1901, S. 1-3. —: „Muskeljudentum“, in: Ders.: Zionistische Schriften, Berlin 1923, S. 424-426. Oppenheimer, Franz: Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes. Lebenserinnerungen, Düsseldorf 1964. —: Der Staat, Frankfurt a.M. 1907. Pollak, Michael: Wien 1900. Eine verletzte Identität, Konstanz 1997. Rohrwasser, Michael: „Sigmund Freud, Hans Groß und Otto Groß. Neue Blicke durch alte Löcher“, in: „… da liegt der riesige Schatten Freuds nicht mehr auf meinem Weg“. Die Rebellion des Otto Gross. 6. Internationaler Otto Gross Kongreß. Wien, 8.-10. September 2006, Marburg a.d.L. 2008, S. 255-269. Schorkse, Carl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt a.M. 1982. Starobinski, Jean: „Acheronta movebo. Nachdenken über das Motto der ‚Traumdeutung‘“, in: Ders./Grubrich-Simitis, Ilse/Solms, Mark: Hundert Jahre „Traumdeutung“ von Sigmund Freud. Drei Essays, Frankfurt a.M. 1999, S. 8-48. Vergil: Aeneis. Dt. v. Rudolf Alexander Schröder, Frankfurt a.M./Hamburg 1963. Verne, Jules: Robur der Sieger, Frankfurt a.M. 1987.
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Regierung der Nichtgeeigneten und Machtunwilligen. Zur gesellschaftspolitischen Ordnung in Franz Werfels Stern der Ungeborenen CHRISTIAN ZEMSAUER
Einleitung Mithilfe von Konzepten, die Foucault zur Gouvernementalität ausgearbeitet hat, soll im folgenden Artikel die utopisch-fantastische Gesellschaftsordnung in Franz Werfels Stern der Ungeborenen (1946) analysiert werden. Als primärer Konnex dient das Konzept „Bio-Macht“, um die Macht über den Schrecken des Todes als wesentlichen Kern des „astromentalen“ Machtgefüges im Roman zu erklären. Stern der Ungeborenen ist ein umfangreicher und vielschichtiger utopisch-fantastischer Roman, der mehrere utopisch-fantastische Motive kombiniert. Zwei wesentliche Motive, die auf eine Tradition utopisch-fantastischer Werke verweisen, sind die Zeitreise und der Entwurf einer utopischen zukünftigen Gesellschaft. Während in frühen utopischen Staatsromanen1 der beschriebene Staat sich an einem noch nicht entdeckten Ort der Gegenwart befindet (z.B. auch noch in Erewohn (1872) von Samuel Butler), werden mit der immer vollständigeren Entdeckung der Kontinente utopische Staatsbeschreibungen in die Zukunft versetzt, etwa in Looking Backward (1888) von Edward Belamy, wo sich der Protagonist im Jahr 2000 wiederfindet, oder in H.G. Wells The Time Machine (1895), wo der Zeitreisende rund 800.000 Jahre in die Zukunft reist. Nicht ganz so
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Die in der Forschung meistgenannten Beispiele hierfür sind: Utopia (1516) von Thomas Morus, Der Sonnenstaat (1602) von Tommaso Campanella, Christianopolis (1619) von Johann Valentin Andreae und Das neue Atlantis (1627) von Francis Bacon.
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Utopische Räume weit, aber nichtsdestotrotz in eine enorm weit entfernte Zukunft verschlägt es den Erzähler in Stern der Ungeborenen. Einen weiteren Wandel in der utopisch-fantastischen Literatur kann man zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ausmachen: Vermehrt erscheinen Werke, deren Beschreibung der Zukunft nicht mehr utopisch (im Sinne einer besseren Zukunft, also ‚eutopisch‘), sondern dystopisch ist. Brave New World (1932) von Aldous Huxley und 1984 (1949) von George Orwell sind die bekanntesten Beispiele. Neben diesen englischsprachigen Werken fügt sich Stern der Ungeborenen in eine Reihe deutschsprachiger utopisch-fantastischer Romane der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die oft nicht oder nur am Rande dem Genre Science-Fiction zugeordnet werden: Alfred Döblin erzählt in Berge Meer und Giganten (1924) vom Aufeinanderprallen menschlicher Technologie und Naturgewalten in einer ebenfalls weit entfernten Zukunft, in Hermann Hesses Glasperlenspiel (1943) findet eine zukünftige Gesellschaft im Spiel ihr Glück, in Heliopolis (1949) von Ernst Jünger steht der Konflikt zwischen einer schwächelnden Staatsmacht und mächtigen Rebellen im Mittelpunkt des Geschehens.2 In Nein. Die Welt der Angeklagten (1950) beschreibt Walter Jens eine dystopische Zukunft, in der ein diktatorischer Staat vollkommene Kontrolle über die Bevölkerung ausübt – vergleichbar mit 1984, aber davon unabhängig entstanden. In Stern der Ungeborenen ergeht es dem Erzähler ähnlich wie dem Zeitreisenden in The Time Machine, der sich anfangs in einem „sozialen Paradies“ und dem „Goldenen Zeitalter“ wiederzufinden glaubt. Auch in Stern der Ungeborenen erscheint die zukünftige Gesellschaft zu Beginn überaus friedlich und harmonisch, um erst im Laufe der Handlung Schattenseiten zu offenbaren. Deshalb lässt sich der Roman weder als Eutopie noch als Dystopie eindeutig festlegen.3 Da im Roman einige Male auf Dantes La Divina Commedia verwiesen wird, mittlerweile – entgegen früheren Interpretationen – die Bedeutung der Divina Commedia für Stern der Ungeborenen be2
3
Zum Vergleich mit Stern der Ungeborenen siehe Stähle, Rudolf: Die Zeit im modernen utopischen Roman. Ernst Jüngers „Heliopolis“, Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ und Franz Werfels „Stern der Ungeborenen“, Diss., Freiburg i.Br. 1965; sowie Abels, Norbert: „Der neue Tag war noch nicht da. Zur Konstruktion von Zukunftswelten bei Alfred Döblin und Franz Werfel“, in: Reffet, Michael (Hg.): Le monde de Franz Werfel et la morale des nations/Die Welt Franz Werfels und die Moral der Völker, Bern 2000, S. 357392. Vgl. Meyer, Daniel: „Vom mentalen Schlaraffenland zur Apokalypse: Franz Werfels utopischer Roman Der[!] Stern der Ungeborenen“, in: Esselborn, Hans (Hg.): Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2003, S. 83-94.
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Zemsauer: Regierung der Nichtgeeigneten legt ist4 und der Aufbau in umgekehrter Reihenfolge jenem der Divina Commedia (dort: Hölle – Fegefeuer – Paradies) ähnelt, liegt es nahe, Stern der Ungeborenen als die Entwicklung einer Eutopie zu einer Dystopie zu lesen. Oder vielmehr noch: als die Bewusstwerdung des Erzählers, dass die scheinbare Eutopie eine Dystopie ist. Ich will im Folgenden versuchen, die Dystopie des Romans in Anlehnung an Michel Foucault als praemeditatio malorum, als Vorausdenken von Übeln, zu verstehen, weil sich in Stern der Ungeborenen die Dystopie mit einer Reflektion über den Tod – „dieses Ereignis als Übel par excellence“5 – paart, und die Ursache für die Übel an dem festzumachen, was Foucault „Bio-Macht“ nennt. Dazu gebe ich erst einen Überblick über den Roman und analysiere anschließend die gesellschaftspolitische Ordnung der „astromentalen Gesellschaft“ in Werfels Roman, wobei ich mich auf die politischen, ökonomischen und soziologischen Aspekte konzentriere. Stern der Ungeborenen ist Franz Werfels letzter Roman. Werfel schrieb ihn zwischen 1943 und 1945 im Exil in Kalifornien und vollendete ihn kurz vor seinem Tod im August 1945. Der Roman wurde posthum im Jahr 1946 veröffentlicht. Im Untertitel als Reiseroman bezeichnet, hebt sich der Roman von anderen Werken, die einem solchen Genre meist zugeordnet werden, dadurch ab, dass die beschriebene Reise keine Reise durch den Raum ist, sondern eine Reise in der Zeit. Es handelt sich um eine Reise in das elfte Weltengroßjahr der Jungfrau, was unserer Zeitrechnung etwa einem Sprung um 100.000 Jahre in die Zukunft entspricht. Das Kalifornien zu jener Zeit wird beschrieben als eisengraue Ebene ohne Erhebungen mit nur wenigen lederigen Pflanzen. Die Wohnstätten der stark geschrumpften Bevölkerung befinden sich unterirdisch. Erzählt wird aus der Perspektive eines „temporären wiedererweckten Toten“, „den man durch die frevelhaften Künste eines unglaublich hochentwickelten Spiritismus wieder in den Besitz seines Körpers gesetzt hatte“6. Dieses Gespenst wird zum Anlass einer Hochzeit als originelles Geschenk dem Brautpaar dargeboten und verbringt eine Zeitspanne von drei Tagen in der „astromentalen Welt“. Das Gespenst hat nicht nur die Initialen F.W., wie sich der Erzähler nennt, mit Franz Werfel gemeinsam: Unter F.W. ist ein Abbild des Autors selbst zu verstehen. Der Erzähler ist ein berühmter Schriftsteller aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der durch 4
5 6
Vgl. Hölter, Eva: „Der Dichter der Hölle und des Exils“. Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption, Würzburg 2002, S. 223-235. Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a.M. 2009, S. 581. [Herv. i.O.] Werfel, Franz: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman, Frankfurt a.M. 1992 [im Folgenden: SdU], S 182.
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Utopische Räume Wiederbelebung einen Blick in die Welt von Kalifornien in 100.000 Jahren werfen darf und dort als Attraktion dient, um den neugierigen „astromentalen Menschen“ aus den Anfängen der menschlichen Zivilisation zu berichten. Durch die „astromentale Welt“ geleitet den Erzähler F.W. ein alter, wiedergeborener – nicht wiedererweckter – Freund mit den Initialen B.H. (in Anspielung an Werfels Freund seit der Jugend Willy bzw. Billy Haas). Nach den drei Tagen, in denen F.W. allerlei über die astromentale Epoche erfährt und Zeuge ihres Niedergangs wird, kehrt der Erzähler zurück ins 20. Jahrhundert, wo er für seine Zeitgenossen diesen Reiseroman verfasst. Der Erzähler bezeichnet die beschriebene Welt durchgehend als „mentales“ oder „astromentales“ Zeitalter. Damit ist das Hauptmerkmal der Gesellschaft benannt: Es ist eine hauptsächlich durch das Mentale bestimmte Welt. Die Weiterentwicklung der Wissenschaften führte die Menschen des astromentalen Zeitalters von der materiellen Technik hin zu einer Technik, die vom Fortschritt mentaler Fähigkeiten bestimmt ist. Im Alltag macht sich das bemerkbar an Errungenschaften wie der „dynamischen Wandtapete“. Die dynamische Wandtapete ist eine Tapete, die geistige Bilder des Betrachters an die Wand projiziert. Als der Erzähler F.W. zum ersten Mal vor einer dynamischen Wandtapete steht, sieht er Bilder einer Landschaft aus seiner Vergangenheit. Überrascht wendet er sich an seinen Begleiter B.H.: „‚Siehst du dasselbe wie ich, B.H.‘, flüsterte ich, ‚dort an der Wand?‘ ‚Was siehst du, F.W.?‘ lächelte er. ‚Wir haben jeder eine andere Tapete, damit mußt du rechnen ...‘“7
Lebensbestimmend für die Menschen der astromentalen Gesellschaft ist ein Gerät, das als „Mentelobol“ bezeichnet wird. Mithilfe des Mentelobols reisen die astromentalen Menschen in kürzester Zeit durch den Raum. Dabei bewegt sich der Reisende nicht auf das Ziel zu, sondern das Ziel wird zum Reisenden bewegt: „Sie reisen auf mentalem Wege, indem Sie das Ziel mittels eines Spielzeugs [des Mentelobols – C.Z.] auf sich zu bewegen, was nicht die geringsten Kosten verursacht und keinen Dampf, kein Öl, keine Elektrizität oder sonstigen Kraftverbrauch in Anspruch nimmt.“8
Das Mentale ist die prägende Entität des astromentalen Zeitalters, in dem es sogar möglich ist, durch Gedankenkraft entfernte Planeten zu besuchen, was der Erzähler aus eigener Erfahrung erlebt.
7 8
SdU, S. 179. Ebd., S. 85.
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Zemsauer: Regierung der Nichtgeeigneten Die vollkommene Gewaltfreiheit und Harmonie der astromentalen Gesellschaft wird bei der Lektüre des Romans durch zweierlei getrübt. Zum Ersten ist das die Einrichtung des „Wintergartens“. Die Heilkunst in der astromentalen Welt ist so weit fortgeschritten, dass die Lebenserwartung der astromentalen Menschen deutlich höher ist als in unserer Zeit. Ein Alter von 200 Jahren ist möglich. Hat man in der astromentalen Gesellschaft ein solch hohes Alter erreicht, wird es jedoch Zeit über das Sterben nachzudenken. Irgendwann entscheiden sich die astromentalen Menschen zu sterben. Dazu begeben sie sich an einen dafür bestimmten Ort, den „Wintergarten“, wo sie in einem Vorgang, der als „Retrogenese“ bezeichnet wird, ihr kontrolliertes Ende erleben. Zum Zweiten existiert am Rande der astromentalen Gesellschaft eine sogenannte „Dschungelwelt“, in der Menschen leben, die sich den astromentalen Errungenschaften entziehen wollen und ihr Leben in einer dem 20. Jahrhundert ähnlichen Weise führen, die den Astromentalen als rückständig erscheinen muss. Im „Dschungel“ leben die Rebellen. Zwischen dem Dschungel und der astromentalen Gesellschaft kommt es während des Aufenthalts von F.W. zu einem alles erschütternden Zusammenprall, mit dem der Roman auch endet.
Die gesellschaftspolitische Ordnung in Stern der Ungeborenen Im folgenden Teil beschreibe ich die gesellschaftspolitische Ordnung in Stern der Ungeborenen, soweit sie sich aus den Beschreibungen im Roman darstellen lässt. Ich beginne mit einer kurzen Darstellung der Familienverhältnisse und beschreibe dann die Bereiche Politik, Ökonomie und Wissenschaft. Ein astromentaler Haushalt besteht aus Familienangehörigen und einer Art von Bediensteten. Letztere sind nicht wirklich Angestellte, sondern es sind „Junggesellen“, die für die Familie Dienst tun. Im Haushalt jener Familie, bei der F.W. zu Besuch geladen ist, sind dies der „Hausweise“, der „Wortführer“ und der „Beständige Gast“. Wir erfahren, dass „in mittleren Menagen“ der Hausweise und der Wortführer „ein und dieselbe Person“9 sind. Das bedeutet, die Familie des Io-Solip, des Bräutigamvaters, ist eine höhergestellte Familie, wobei nie klar wird, worauf diese Höherstellung beruht. Einmal beschreibt der Erzähler die Aufgaben von Wortführer, Hausweisem und Beständigem Gast zusammenfassend so:
9
SdU, S. 65.
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Utopische Räume „[D]iese Junggesellen, die recht eigentlich ein parasitäres Dasein führten, verdienten sich ihren Unterschlupf durch Witz, Vielwissen, Erzählerlust, Unterhaltsamkeit und kavaliersmäßig umständliche Galanterie, wodurch sie jeden Historiker teils an die Sykophanten, teils an die Abbes des ein wenig späteren achtzehnten Jahrhunderts gemahnen sollten, die ja allesamt auch nur Outsider und Mitesser der Gesellschaft gewesen sind.“10
Dadurch, dass die astromentalen Menschen deutlich älter werden, leben in den Familien oft mehrere Generationen zusammen, bilden aber zumindest einen größeren gemeinsamen Clan. Im Haushalt der Braut lebt etwa noch deren Urururgroßmutter, die sogenannte „Ahnfrau“. Verheiratete übernehmen mit der Hochzeit das Haus der Brauteltern.11 Die Hochzeit, die ja Anlass für F.W.s Wiedererweckung ist, wird generell als großes Fest gefeiert. Die Rollen zwischen den Familienmitgliedern scheinen strikt, jedoch recht zwanglos verteilt zu sein. Es besteht eine feste Tischordnung,12 und der Bräutigam Io-Do, der durch seine Aufmüpfigkeit auffällt, wird als respektlos empfunden. Für die Astromentalen ist es ganz natürlich, sich nackt umherzubewegen. Allerdings besteht eine gesetzliche, nach dem Alter differenzierende Perückenverordnung: Bis zum 120. Lebensjahr hat man das Recht, goldene Perücken zu tragen, danach muss man zu silbernen Perücken wechseln.13 Doch diese Unterscheidung in der Art der Kopfbedeckung geht noch weiter, so trägt der Bräutigam etwa einen goldenen Helm; der „Muterianer“, eine Art Zeremonienmeister für die Hochzeit, trägt jedoch gar keine Kopfbedeckung.14 Auch das Familienleben erscheint, wie das ganze gesellschaftliche System in Stern der Ungeborenen, harmonisch, doch streng reguliert und normiert. Die Hochzeit scheint dem Erzähler „beinahe zur Höhe der sakramentalen Heiligkeit, wie sie die katholische Kirche lehrte“15, erhoben. Bereits zehnjährigen Kindern wird der zukünftige Partner bzw. die zukünftige Partnerin „zugeordnet“: „Die Wahl war im hohen Grade vorherbestimmt durch gewisse äußere Zeichen und innere Eigenschaften.“16 In der astromentalen Gesellschaft gilt das Ein-Kind-System, das allerdings zahlreiche Ausnahmen kennt. Doch die kinderreichen Familien bilden die „untere Klasse der Gesellschaft“. Dass die Existenz einer „unteren Klasse“ den Darstellungen widerspricht, die astromentale Gesellschaft
10 11 12 13 14 15 16
Ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. Vgl. ebd., S. Vgl. ebd., S. Vgl. ebd., S. Ebd., S. 54. Ebd., S. 55.
101. 71. 60. 101 u. S. 123.
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Zemsauer: Regierung der Nichtgeeigneten „kenne keine ökonomischen noch sozialen Unterschiede“, darauf weist der Erzähler selbst hin.17 Weil die Erweckung des F.W. auch in der astromentalen Epoche ein besonderes Ereignis ist, wird er mit vielen bedeutenden Personen der astromentalen Gesellschaft bekannt gemacht. Was er in seinem ja nur dreitägigen Besuch von der gesellschaftlichen Ordnung zu verstehen glaubt, berichtet der Erzähler. Doch es bleiben viele Lücken in der Schilderung, für die er sich beim Leser auch mehrmals entschuldigt. Das politische Oberhaupt der „Mononation“, des astromentalen Staates ist der „Geoarchont“. Der Geoarchont wird auch „Major Domus Mundi“, „Welthausmeier“ oder „Erdballpräsident“ genannt. Die Wahl des Geoarchonten wird in Stern der Ungeborenen so ausführlich beschrieben wie sonst kein politisches Element. Sie ist deshalb zentral, um eine vage Vorstellung des politischen Systems in der astromentalen Gesellschaft zu erlangen.
Abb. 1: Die Wahl des Geoarchonten Die Wahl setzt sich zusammen aus einer Reihe sehr willkürlich und widersprüchlich wirkender Vorgänge und Kriterien. Prinzipiell wählt das Wahlvolk in direkter geheimer Wahl den Weltpräsidenten. Eine Sonderfunktion bei der Wahl übt ein „kleines Gremium von Chronosophen und Geistforschern“ aus: dieses Gremium setzt vor der Wahl fest, ob „derjenige als gewählt zu betrachten sein werde, der die meisten oder derjenige, welcher die wenigsten Stimmen auf sich vereinigte“18. Die Wählenden erfahren die Entscheidung dieses Gremiums aber erst nach der Wahl. Sie wissen also bei der Stimmenabgabe nicht, ob ihre Stimme dem Kandidaten nützt oder schadet. Zur Wahl stehen immer Personen, die bis zur Wahl nicht wis17 Vgl. ebd., S. 54. 18 Ebd., S. 161.
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Utopische Räume sen, dass sie kandidieren werden. Eine „geheime Kommission“ ist ständig auf der Suche nach möglichen neuen Kandidaten für das Amt des Weltpräsidenten. Bis zu 110 Personen befinden sich ständig in einem Kandidatenpool. Diese Personen werden nach gesetzlichen Vorschriften ausgewählt und sie werden ab dem fünften Lebensjahr überwacht. Über all das werden sie nicht informiert. Kommt es zu einer Wahl, nominiert die geheime Kommission nach den gesetzlichen Vorschriften elf „Mondgeweihte“ oder „Seleniazusen“, die dann bis zum Wahlergebnis in Klausur gehalten werden. Die Kriterien für die Auswahl der Mondgeweihten sind höchst eigentümlich. Einerseits werden willkürlich erscheinende Körpermerkmale gefordert, wie z.B., dass der Ringfinger der linken Hand um mehr als einen Zentimeter länger sein müsse als der Zeigefinger oder dass die Schilddrüse langsamer als normal funktioniere.19 Andererseits sind merkwürdige „geistige und seelische“ Eigenschaften vonnöten: „Langsames, aber wenn nötig tiefschürfendes Denken. Hang zu Träumerei und Geistesabwesenheit. Menschenscheu, Schüchternheit, Einsamkeitssucht, Neigung zu generösen Verallgemeinerungen und Abstraktionen.“20
Auch Biografisches ist für die Entscheidung, Mondgeweihter zu werden, ausschlaggebend: „Es war nicht etwa nur das einfache Zölibat, sondern eine ausgesprochen unglückliche Liebe (etwas, wie man sich denken kann, zur Zeit äußerst Seltenes), die der Präsidentabilis am bürgerlichen Wendepunkte seines Lebens zu leisten hatte, eine unglückliche Liebe ganz alten Stils, am besten mit durchweinten Kissen und schlechten Gedichten.“21
Der Erzähler erwähnt noch weitere ebenso schwer nachvollziehbare Kriterien und erklärt den Grund für die Kriterien folgendermaßen: „All diese Eigenschaften setzten eine zweifellose Schwäche des Tatsachen- und das Machtsinns voraus. Gerade diese Schwäche aber wurde (oder besser gesagt, sie wird einmal werden) vom Oberhaupt gefordert, vermutlich, um den machtstrebenden Typus von der Macht zu verdrängen, um dem Ehrgeizigen die Ehre zu versalzen und um Tyrannis und Despotie in der menschlichen Natur radikal zu brechen.“22
Der Kandidat sollte im Grunde nicht fähig und nicht willens sein, das Amt zu übernehmen. Die „Nichteignung zur höchsten Macht“ 19 20 21 22
Vgl. ebd., S. 157. Ebd., S. 158. Ebd. Ebd.
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Zemsauer: Regierung der Nichtgeeigneten soll „völlig erwiesen“ sein.23 Der Gewählte ist nie glücklich über seine Wahl, denn Grundvoraussetzung ist, dass der Amtsinhaber nie nach dem Amt strebte. Der gemeinhin Mächtigste in der astromentalen Gesellschaft ist jemand, der an der Macht leidet, ein „Ehrenreicher, der keine Ehre wollte“24. Eine ruhmlose Rolle spielt der zur Zeit der Anwesenheit von F.W. gewählte Geoarchont, als es am Ende zum Aufruhr der Verschwörer und zum Angriff der Leute aus dem Dschungel kommt. Entscheidungsfaul lässt der Geoarchont die Ereignisse passieren. Die „30 Zusammenstimmer oder Symphronisten“, die F.W. als die höchsten Weltbeamten bezeichnet, verhalten sich während des Umsturzes allseits kooperativ. Die „Zusammenstimmer“ sind jene, die Reisen mit dem Mentelobol ermöglichen und koordinieren. Die Produktion in der astromentalen Gesellschaft funktioniert klaglos. Alles, was gebraucht wird, ist vorhanden oder kann problemlos erzeugt werden. „Seit undenklichen Zeiten schon hat jedermann, was er braucht, und viel mehr als das. Jedermanns krankhafteste Gier könnte ohne weiters befriedigt werden. Schon aber dadurch, daß jedermann weiß, daß er alles haben kann, ist die Gier im Menschen so ziemlich versiegt. Es gilt im Gegenteil als fein und vornehm, weniger zu wollen, als man braucht.“25
Die astromentale Welt ist eine „Welt ohne Ökonomie“. Es wird nicht mehr gekauft und nicht mehr verkauft.26 Jeder „bekommt das zur Ernährung Notwendige ins Haus geliefert“27. Der Erzähler sieht die „Träume des Kommunismus“ erfüllt, „ohne marschierende Massen [...], Materialisten, Positivisten, Pragmatisten [...]“28. Es gibt keine Geschäfte, es gibt keinen Handel. Für die Produktion ist „der Arbeiter“ zuständig. Der Arbeiter produziert im „Park des Arbeiters“ mit seinen Gehilfen mental alles, was die astromentale Welt braucht. Der Arbeiter verfügt über unermessliche Produktionskraft. Er ist ein fröhlicher, Energie aussendender „strotzender Tagmensch“ im Vergleich zum Geoarchonten, einem „sanften Nachtmenschen“29. Beim Umsturz der astromentalen Gesellschaft ist es der Arbeiter, der den Kampf beendet. Seine Streikandrohung an die kämpfenden Parteien zeigt Wirkung und die Kampfhandlungen werden eingestellt.
23 24 25 26 27 28 29
Vgl. ebd. Ebd., S. 161. Ebd., S. 135. Vgl. ebd., S. 136. Ebd., S. 86. Ebd. S. 102f. Ebd., S. 238.
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Utopische Räume Die Wissenschaft ist in der astromentalen Epoche auf äußerst hohem Niveau. Es kann in Sekundenschnelle weit gereist werden, bis in andere Sonnensysteme; es kann fast alles Beliebige ohne Verbrauch von Rohstoffen mental produziert werden. Der astromentalen Wissenschaft kommt eine sehr große Bedeutung in der astromentalen Welt zu. Sie zählt der Erzähler zu einer der vier Hierarchien, die er in der astromentalen Gesellschaft auszumachen glaubt: die kirchliche, die aber tatsächlich sehr wenig Einfluss zu haben scheint, die staatlich-politische, die ökonomisch-produktive und als vierte die kosmologische. Letztere wird repräsentiert durch den „Djebel“ und den „Hochschwebenden“30. Ein riesiges Gebäude, groß wie ein Berg, beherbergt die Forschungsinstitute: der sogenannte Djebel. Dort arbeiten die verschiedenen Disziplinen der astromentalen Wissenschaft, die Bezeichnungen tragen wie „Chronosophie“, „Sternwandern“ und „kosmisches Turnen“. Der Vorsteher des Djebels ist der Hochschwebende, eine durchgeistigte Existenz, die das Wissen der Zeit verkörpert. Einmal im Leben dürfen alle Astromentalen dem Hochschwebenden „drei wohlerwogene und scharfdurchdachte Fragen“ stellen.31 Die kosmologische Wissenschaft der Zeit kennt zwar verschiedene Disziplinen, doch gibt es keine Unterscheidung wie in der Jetztzeit zwischen Natur- und Geistes- oder Humanwissenschaft. Alle Wissenschaft ist astromental. Dass beim Umsturz der astromentalen Gesellschaft der Djebel schwer beschädigt, beinahe zerstört wird, ist ein Sinnbild dafür, wie stark verbunden das Schicksal der astromentalen Kosmologie mit dem Schicksal der gesamten astromentalen Gesellschaft ist.
„Bio-Macht“ in der astromentalen Gesellschaft Foucaults Analysemethoden lassen sich freilich nur bedingt heranziehen, um den Kräften im gesellschaftlichen Gefüge der astromentalen Gesellschaft nachzuspüren, denn sie sind angelegt zur Analyse der – westlichen – Gesellschaft im 20. Jahrhundert und nicht jener astromentalen Gesellschaft im „elften Weltengroßjahr der Jungfrau“. Es fehlen auch einige Voraussetzungen im Roman, die eine Analyse wie in der nicht-fiktiven Welt zulassen würden. Zuallererst fehlt es an stichhaltiger Information über das astromentale Gesellschaftssystem. Der Erzähler F.W. berichtet über einzelne Elemente des Gesellschaftssystems und über einzelne Subjekte in diesem Gefüge, wovon einiges im vorigen Teil dargestellt wurde, aber aus diesen Einzelelementen lässt sich nur ungefähr auf das Gesamte
30 Vgl. ebd., S. 405. 31 Vgl. ebd., S. 404.
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Zemsauer: Regierung der Nichtgeeigneten schließen. Der Erzähler ist weiter – wie er selbst ja oft genug eingesteht – mit den Verhältnissen nicht wirklich vertraut. Darüber hinaus wird die Foucault’sche Analyse dadurch erschwert, dass in Stern der Ungeborenen die Machtdispositve oftmals einer allegoriehaften Darstellung folgen. Die Figur des Arbeiters steht für die produktiven Kräfte, der Hochschwebende für die astromentale Technik, und der Geoarchont repräsentiert die politische Kraft. Auffällig in der astromentalen Gesellschaft ist, dass Subjekte nicht in bestimmte Positionen drängen oder eine Richtung für sich auswählen, sondern dass sie durch ihre Anlagen auf ganz bestimmte Bereiche festgelegt sind. Es scheint, als sei das Subjekt „Arbeiter“ von allem Anfang an auf die Position des Arbeiters festgelegt, weil er über die Fähigkeiten verfügt, die zur Tätigkeit als Arbeiter notwendig sind, und andere über diese Fähigkeiten nicht verfügen. Besonders prägnant ist die Fremdbestimmtheit am Beispiel der Mondgeweihten und des aus ihren Reihen gewählten Geoarchonten beschrieben. Die geheime Kommission, von deren Zusammensetzung man überhaupt nichts erfährt, beobachtet die Bevölkerung und wählt aus ihr Individuen aus, die einem gesetzlichen Kriterienkatalog entsprechen. Die Individuen wissen nicht über die Beobachtung bescheid, und über ihre Auswahl werden sie erst in Kenntnis gesetzt, wenn die Entscheidung feststeht. Aber die Individuen fügen sich in ihre Fremdbestimmung ohne Widerstand. Zwar löst sich im Verlauf der Erzählung eine Gruppe von „Verschwörern“ aus dem astromentalen Kollektiv, was vorwiegend auf Harmoniemüdigkeit zurückzuführen ist und dennoch einer genaueren Analyse wert wäre, doch über eine lange Epoche hinweg ist die astromentale Gesellschaft eine stabile Einheit, die verdrängt, was sie zusammenhält. Insbesondere ein Element in Foucaults Gouvernmentalität scheint mir geeignet, um sich der Antwort auf die Frage, was die astromentale Gesellschaft zusammenhält, zu nähern: das Konzept „Bio-Macht“. Das Konzept „Bio-Macht“ wird bei Foucault den beiden Konzepten „Souveränität“ und „Disziplin“ hinzugefügt. Foucault findet das Element der Bio-Macht erst im modernen säkularen Staat, der sich nicht mehr nur über das Territorium definiert, sondern v.a. über den „Gesellschaftskörper“. Bio-Macht betrifft Körper und Leben der Bevölkerung als Individuen und als Gesamtheit. Bio-Macht hat nach Foucault nichts mehr zu tun mit dem „Recht über Leben und Tod“ des Herrschers über die Untertanen, sondern sie bezieht sich auf die Machtverhältnisse, die auf die Individuen über ihre Körper wirken.32
32 Vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983, S. 165-166.
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Utopische Räume „Foucault zufolge wird diese alte ‚Macht über den Tod‘ seit dem 17. Jahrhundert zunehmend von einer neuen Machtform überlagert, deren Ziel es ist, das Leben eines Kollektivs zu verwalten, zu sichern, zu entwickeln und zu bewirtschaften. Es ist diese Zieländerung, die die Transformation der Machtmechanismen bestimmt.“33
Geburtenkontrolle und Sterberate wurden erst im modernen Staat zu Machtfaktoren, haben sich aber als Elemente der Gouvernementalität etabliert. Die Kontrolle der astromentalen Gesellschaft über die Geburt und den Tod fügt sich in dieses Konzept. Schon bald nach Beginn seines Besuchs in der Zukunft erfährt F.W., dass große Änderungen auf der Erde auf ein Naturereignis, das „Sonnentransparenz“ genannt wird, zurückzuführen ist. Dieses Ereignis hatte eine leichte Verschiebung von Sonne und Erde zur Folge. Eine große Zahl an Menschen fiel dieser Naturkatastrophe zum Opfer, und sie veränderte das Klima auf der Erde grundlegend. F.W. berichtet auch: „Das Gebiet, auf dem sich der durch die ‚Transparenz‘ hervorgerufene Wandel am schärfsten spiegelte, war, wie nicht anders zu erwarten, das Gebiet der Fortpflanzung: Paarung, Zeugung, Empfängnis, Schwangerschaft, werdendes und hervortretendes Leben. Es sei nicht wahr, gestand B.H., daß alle Frauen nur einer einzigen Schwangerschaft im Leben fähig waren. Dies stimmte nur für die adeligste und verfeinertste Klasse unter ihnen.“34
Es wird nicht ausgeführt, was die unterschiedlichen Fortpflanzungsklassen unter den Astromentalen begründet hat oder welche Auswirkungen diese auf die Gesellschaft haben. Fest steht aber, dass sich eine Naturkatastrophe ereignete, die Folgen für die Menschen bis hinein in ihre Körper hatte. Was die Geburt und das Einkindsystem betrifft, werden keine konkreteren Anhaltspunkte gegeben. Aber es bietet sich an, die streng regulierende und normierende Bevölkerungspolitik der Astromentalen auch unter dem Aspekt der veränderten biologischen Bedingungen begründet zu sehen. Es ist einerseits für eine beträchtliche Masse an astromentalen Frauen gar nicht möglich, mehr als ein Kind zu gebären. Die astromentale Gesellschaft honoriert diesen Umstand offenbar dadurch, dass die Einkindfamilie höheren Status genießt und die Idealform einer astromentalen Familie darstellt. Sexualität funktioniert in der astromentalen Gesellschaft offensichtlich gänzlich anders; sie wirkt entkörpert. In einem Moment, in dem er „den Kopf verloren“ habe, küsst F.W. die junge Braut. Diesen Moment nutzt der Erzähler, um
33 Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 2003, S. 135. 34 SdU, S. 54.
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Zemsauer: Regierung der Nichtgeeigneten den Unterschied eines Kusses in seiner alten Welt und in jener der astromentalen Welt zu beschreiben. Zuerst zeigt er sich beruhigt, dass der Kuss nicht abgeschafft ist, bemerkt aber trotzdem eine große Diskrepanz: „Wiederum, wie so oft, fühlte ich mich, der ich eigentlich ein Gespenst war, als den grobmateriellen und brutalen Part in dieser astromentalen Gemeinschaft. Der Mädchenkörper, der in meinen Armen lag, war so geisterhaft, so schwerelos, so seelenzart, so überfeinert, wie es das Auge vorher gar nicht hatte voll erkennen dürfen. So auch war der Kuß nicht wie in der Vor- und Urzeit, ein leidenschaftliches Ineinanderschrauben der Lippen u.s.w., sondern nur hauchzarte, elfenmilde Kaum-Berührung der Münder, die der Seele zu empfinden überließ, was der Körper an direkter Befriedigung sich selbst versagte. [...] So viel Substanz und so wenig Materie als möglich.“35
Wie in allen anderen Bereichen des Lebens hat auch in der Sexualität das Mentale das Materielle weit zurückgedrängt, das Mentale hat an Bedeutung immens zugenommen, was F.W. mit der Unterscheidung zwischen Substanz und Materie dokumentiert. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau erscheint dem Naturtrieb entzogen. Es wird vielmehr durch objektive Kriterien bestimmt: Eheleute werden nach Eigenschaften ausgewählt und zum Zusammenleben bestimmt. Ihr Zusammenkommen ist bestimmten Regeln unterworfen, so dürfen einander versprochene Frauen und Männer sich nur dreimal „an bestimmten Lebenswenden begegnen, ehe das Verlöbnis geleistet wurde“36. Sehr viel ausführlicher als Geburt und Sexualität wird mit dem Fortschreiten der Erzählung das Sterben zum großen Thema in Stern der Ungeborenen. „Auf – man kann es kaum anders nennen – geniale Weise hat Werfel in seinem Roman über eine futuristische Welt dieser auch die Möglichkeit zugesprochen, die Menschen den Tod zwar nicht überwinden zu lassen, ihn für sie aber akzeptabel zu machen. Nicht nur wurde die Lebensdauer des Menschen unter Ausschaltung aller Krankheiten um ein Doppeltes und Dreifaches verlängert [...], ihm wurde auch die so ziemlich von allen vorgezogene Möglichkeit gegeben, sich freiwillig einer Retrogenese zu unterziehen, die dem Tod, indem man zuerst innerhalb weniger Stunden wieder zu einem Embryo wird, zumindest seinen ‚Stachel‘ genommen hat.“37
Die astromentalen Menschen entscheiden sich scheinbar freiwillig zu einem bestimmten Zeitpunkt für diesen Vorgang der Retrogenese. Die letzten Stunden davor werden ihnen von den sogenannten 35 Ebd., S. 502f. 36 Ebd., S. 55. 37 Paulsen, Wolfgang: Franz Werfel. Sein Weg in den Roman, Tübingen 1995, S. 277f.
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Utopische Räume „Animatoren“ nach Wunsch gestaltet. Der Tod – dieses Wort wird von Astromentalen vermieden – wird in der Bevölkerung als wunderschöne „Retrogeburt“ erwartungsvoll gefeiert. Von seinem Begleiter B.H. erfährt F.W.: „‚Es ist das Größte, was der Mensch errungen hat, es ist der Tod des Todes, es ist die Geburt aus dem eigenen Körper. Nichts, nichts, aber auch gar nichts soll angenehmer und süßer sein ...‘“38
Das Tückische am Vorgang der Retrogenese ist, dass die Technik nicht fehlerfrei ist und anstatt der völligen Rückentwicklung manchmal golemartige Rumpfwesen übrigbleiben, die auf unterirdischen Feldern ein trauriges Dasein fristen. Der astromentalen Bevölkerung wird dieser Umstand verschwiegen; F.W. erfährt es auf seiner Flucht aus dem Wintergarten. Gemeinsam mit B.H. entdeckt er einen Acker mit missglückten Retrogeburten: „Ich beugte mich rasch zu einer der Pflanzen nieder und zog niemanden andern aus der Erde als den Wortführer des Hauses Io-Fagor, den voltaire-ähnlichen Beherrscher der astromentalen Causerie, dem dieses Pech widerfahren war, anstatt zum Embryo in wenigen Stunden zum Rübenmännchen zu werden. Ich hielt das Rübenmännchen um die Hüfte gefasst, voll Ekel. Keine Spur von Rübe, es war nacktes, fieberndes Menschenfleisch, bei aller Kleinheit. Das große schwarze Mundloch geiferte.“39
F.W. berichtet, er habe neben wüstem schrillen Schimpfen die folgenden Worte vernommen: „Ich bin betrogen, ein Leben lang betrogen.“40 Der Wortführer hatte sich angesichts des Aufstands von Verschwörern und dem Angriff der Dschungelleute für die scheinbar süßliche Variante der Retrogeburt entschieden, so wie Massen der astromentalen Bevölkerung. In Anlehnung an Foucaults Konzept der Bio-Macht kann die Retrogenese als elementares Machtdispositiv der astromentalen Gesellschaft verstanden werden. Ein besonderer Aspekt von Bio-Macht ist jener, dass über die Regulierung der Bevölkerung Mechanismen der Macht ausgeübt werden. „Anders als die Disziplin richtet sie [die Regulierung – C.Z.] sich nicht auf den individuellen Körper, sondern auf den Gesellschaftskörper, der allerdings nicht in rechtlichen Kategorien als die Summe der (vertragsschließenden) Individuen konzipiert wird, sondern als eine eigenständige (biologische) Entität auftritt. Diese Technologie der Macht lässt neben Individuum und Gesellschaft einen vollkommen neuen ‚Körper‘ erscheinen: die Bevölkerung.“41 38 39 40 41
SdU, S. 583. Ebd., S. 631f. Ebd., S. 632. Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft (2003), S. 136.
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Zemsauer: Regierung der Nichtgeeigneten Insbesondere an der Einrichtung Wintergarten, wo die Retrogenese durchgeführt wird, lässt sich erkennen, dass die Institutionen ganz fundamental das Leben der Individuen und die Befindlichkeit des Gesellschaftskörpers steuern. Auch Normierung, die Foucault als wesentlichen Bestandteil zur Machtausübung durch Regulierung versteht, ist in hohem Grad in der astromentalen Gesellschaft erkennbar. Die Geburt und der Tod begrenzen das Leben eines Menschen und sind deshalb bestimmend für dessen Bewusstsein. Wenn es einer Institution gelingt, den Tod zu bewältigen, dann muss das eine immense Bedeutung für die Individuen haben, die dieser Institution unterworfen sind. Während die „Pastoralmacht“, nach Foucault, bis in die Neuzeit darauf beruht, dass ein jenseitiges Wohlergehen bei folgsamem Verhalten versprochen wird, gibt es dieses Versprechen in der astromentalen Welt ebenso wenig wie im säkularen modernen Staat, mit dem der astromentale Staat die Sicherung des diesseitigen Lebens teilt. Zur Sicherheit kommt im astromentalen Staat noch hinzu, dass gemeinschaftliche Harmonie geboten wird. Für die allumfassende Harmonie im Gemeinwesen sind zahlreiche Beschränkungen der Individuen notwendig. Um diese Beschränkungen akzeptabel zu machen, nutzt der astromentale Staat den Eindruck von Unverletzbarkeit, den die hoch entwickelte MentalTechnik schafft. Meiner Ansicht nach ist aber das Betörendste für die astromentale Bevölkerung, und eben auch der Grund für die Unterwürfigkeit, die Macht der Gemeinschaft über den Tod oder zumindest die Macht über das Sterben. Die Macht über den Tod der astromentalen Wissenschaft zeigt sich nicht nur im Vorgang der Retrogenese, sondern auch darin, dass F.W. – zumindest temporär – wiedererweckt wurde und am Ende gar sein Leben in seiner Zeit fortsetzen kann. Foucault schreibt: „Die Bevölkerung zu führen heißt nicht, allein die kollektive Masse an Phänomenen oder die Bevölkerung allein auf der Ebene ihrer globalen Befunde zu führen; die Bevölkerung zu führen heißt, sie gleichermaßen in der Tiefe, in der Feinheit und im Detail zu führen.“42
Weil die Astromentalen keine Krankheit mehr fürchten müssen und durch den Vorgang der geplanten Retrogenese der Schrecken des plötzlichen Todes abhandengekommen ist, kann in der astromentalen Welt die Tabuisierung des Wortes „Tod“ gelingen und damit auch die Unterwerfung der astromentalen Menschen.
42 Foucault, Michel: „Die Gouvernementalität“, in: Bröckling, Ulrich et al. (Hg.): Gouvernmentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 41-67, hier S. 63.
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Utopische Räume Wenn ich jetzt zum Schluss noch einmal den Gedanken vom Beginn aufnehme, dass die Dystopie ein Vorausbedenken von möglichen Übeln, eine praemeditatio malorum, sei, so hat das zwei Gründe. Der erste ist ein werkimmanenter: Werfel behandelt in Stern der Ungeborenen die Gefahr, die von einer Macht ausgeht, die vorgibt, den Tod – oder zumindest den Schrecken des Todes – durch Technik überwunden zu haben. Diese ultimative Utopie, auf der das Funktionieren des astromentalen Gemeinwesens gründet, führt die astromentale Gesellschaft angesichts eines Angriffs von Innen und Außen in ein selbst gewähltes Massensterben. Der zweite Grund betrifft die Entstehung des Romans. Schon zu Beginn der Arbeit an Stern der Ungeborenen litt Werfel an Angina pectoris; er überlebte mehrere Herzattacken nur knapp. Nach Santa Barbara, wo er nördlich von Los Angeles an dem Roman arbeitete, begleitete ihn stets sein Leibarzt, während seine Ehefrau Alma Mahler-Werfel im Haus in Beverly Hills zurückblieb.43 Es liegt deshalb nahe, die Dystopie des Romans auch als persönliche „Einübung des Todes“, als melete thanatou, in der „die Prämeditation der Übel ihren Höhepunkt“44 erreicht, zu begreifen. Am 17. August 1945 notierte Alma Mahler-Werfel in ihr Tagebuch: „Heute rief mich Franz Werfel strahlend an: er sei eben mit seinem Roman fertiggeworden.“45 Am 26. August erlag Werfel in Beverly Hills einem weiteren Herzanfall.
Literatur Abels, Norbert: „Der neue Tag war noch nicht da. Zur Konstruktion von Zukunftswelten bei Alfred Döblin und Franz Werfel“. In: Reffet, Michel (Hg.): Le monde de Franz Werfel et la morale des nations/Die Welt Franz Werfels und die Moral der Völker, Bern 2000. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983. —: „Die Gouvernementalität“, in: Bröckling, Ulrich et al. (Hg.): Gouvernmentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 41-67. —: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978. —: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a.M. 2009. 43 Vgl. Jungk, Peter: Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte, Frankfurt a.M. 1987, S. 304-337. 44 Foucault: Hermeneutik des Subjekts (2009), S. 581. 45 Mahler-Werfel, Alma: Mein Leben, Frankfurt a.M. 1963, S. 360.
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Zemsauer: Regierung der Nichtgeeigneten Hölter, Eva: „Der Dichter der Hölle und des Exils“. Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption, Würzburg 2002. Jungk, Peter: Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte, Frankfurt a.M. 1987. Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 2003. Mahler-Werfel, Alma: Mein Leben, Frankfurt a.M. 1963. Meyer, Daniel: „Vom mentalen Schlaraffenland zur Apokalypse: Franz Werfels utopischer Roman Der Stern der Ungeborenen“, in: Esselborn, Hans (Hg.): Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2003. Paulsen, Wolfgang: Franz Werfel. Sein Weg in den Roman, Tübingen 1995. Rode, Silvia: Franz Werfels Stern der Ungeborenen: Die Utopie als fiktionaler Genrediskurs und Ideengeschichte, Diss., University of California Los Angeles 1993. Stähle, Rudolf: Die Zeit im modernen utopischen Roman. Ernst Jüngers „Heliopolis“, Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ und Franz Werfels „Stern der Ungeborenen“, Diss., Freiburg i.Br. 1965. Werfel, Franz: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman, Frankfurt a.M. 1992.
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Stadt am Netz. Virtuelle Gemeinschaften regieren1 CLEMENS APPRICH
Mike Davis, Stadtsoziologe und Kommentator sozialer Transformationen in seiner südkalifornischen Heimat, beschrieb Anfang der 1990er Jahre in dem Bestseller City of Quartz2 das drohende Ende des „kalifornischen Traums“. Die Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles – so der etwas holprige Untertitel der deutschen Ausgabe – zeichnen den urbanen Verfall der Metropole nach und kratzen damit am millionenfach reproduzierten Image der „Stadt der Engel“. Das Handels-, Geschäfts- und Kulturzentrum des amerikanischen Westens, welches für eine Vielzahl weltweit rezipierter Trends verantwortlich zeichnet, laufe demnach Gefahr, zum Objekt der eigenen Simulation zu werden. Die mediale Inszenierung durch die „Traumfabrik Hollywood“ schafft dabei nicht nur eine idealisierte Wirklichkeit, welche von einem Millionenpublikum vor den global verteilten Bildschirmen konsumiert wird, sondern greift tief in die 1
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Der vorliegende Artikel entstand im Rahmen der internationalen Graduiertenkonferenz „Das Mögliche regieren“, welche vom 2. bis 4. Juli 2009 an der Universität Wien stattfand. Er ist Teil meines Dissertationsprojektes, welches eine historische Genealogie der Netzwerkgesellschaft umfasst und nach der Produktion von Macht und Wissen innerhalb dieses Feldes sowie der Konstitution und Aktivierung eines neuartigen Subjekts zu fragen versucht. Es geht weder darum, den „Ursprung“ des Internets oder seine „unbewussten Codes“ ausfindig zu machen, noch darum, das „Neue“ an den neuen Medien wiederzuentdecken, sondern die Netzkulturen der frühen 1990er Jahre als Experimentierfeld für neuartige Formen des Wissens zu bestimmen und deren Implikationen für unser heutiges Verständnis einer allgegenwärtigen Netzwerkgesellschaft nachzugehen. Die Stadt dient dabei einerseits zur Beschreibung des Schauplatzes und Vorstellung der jeweiligen Akteure, andererseits einer ersten Bestandaufnahme und Analyse des Materials. Ich danke in diesem Zusammenhang Katja Rothe, deren kritische Einwände dabei halfen, das Themenfeld weiter einzugrenzen und den theoretischen Rahmen zusätzlich zu schärfen. Davis, Mike: City of Quartz. Excavating the Future in Los Angeles, London 1992.
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Utopische Räume Architektonik der realen Stadt ein. So wurden als Antwort auf immer wiederkehrende soziale Unruhen in Downtown L.A. seit den 1960er Jahren öffentliche Förderprogramme dazu verwendet, alte Wohnblocks im Stadtzentrum abzureißen und durch ein hermetisch abgeriegeltes Bankenviertel zu ersetzen. Das Bunker Hill Redevelopment Project trägt dabei nicht nur im Namen die Züge eines neuen Sicherheitsdispositivs, zumal die Sanierungsmaßnahmen von Anfang an mit einer Verschärfung der Gesetze einhergingen. In einer Replik auf sein Buch, bezeichnet Davis daher Ridley Scotts Blade Runner von 1982 als „LAs eigenes dystopisches alter ego.“3 Die Zukunft von L.A. spiegelt sich in der dunklen Vision des Bladerunner, in welcher sich über das „Land des Sonnenscheins“ ein virtueller Schatten legt. Blade Runner bleibt für Davis demnach nur eine weitere Version in einer langen Reihe modernistischer Visionen (etwa Fritz Langs Metropolis von 1931 oder H.G. Wells’ The Future in America von 1906), welche sich die künftige Metropole lediglich als eine gigantische Fortsetzung der Gegenwart vorzustellen vermochten. Anstelle dieser „grotesken Vergrößerung der gegenwärtigen Technologien und Architektur“ versucht Davis, „existierende räumliche Tendenzen zu extrapolieren, um einen Blick auf das Muster zu werfen, das sie ergeben.“4 Und ein solches Muster zeigt sich für ihn in der „präfigurativen Gesellschaftstheorie“ von William Gibson, der in seinem Roman Neuromancer5 erstmals die politischen, sozialen, aber auch kognitiven Funktionen eines neuartigen, weil computergenierten Raums beschrieb. Hierzu greift Gibson selbst wiederum auf das urbane Bild zurück, indem er den Cyberspace mit den fliehenden Lichtern einer Stadt vergleicht. Es ist diese „consensual hallucination“6, welche einen neuen Sinnhorizont markiert und damit ein weites Diskurs- und Handlungsfeld eröffnet. Und es war v.a. die Metapher der Stadt, die zu Beginn der 1990er Jahre dieses Feld zu strukturieren und eine erste Orientierungshilfe innerhalb des digitalen Raums anzubieten versprach.7 Die City of Bits8 wurde zum vir3
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Davis, Mike: „Urbane Kontrolle – die Ökologie der Angst“, in: Iglhaut, Stefan/Medosch, Armin/Rötzer, Florian (Hg.): Stadt am Netz. Ansichten von Telepolis, Mannheim 1996, S. 41-63. Ebd., S. 43. Gibson, William: Neuromancer, New York 1984. Ebd., S. 51. In diesem Sinne enthält jedes Mensch-Computer-Interface den Versuch einer Deutung durch Metaphern (z.B. Laptop, Desktop, Ordner, Papierkorb, Fenster usw.), und diese legen schließlich fest, auf welche Weise der User nicht nur den Computer selbst, sondern auch die über diesen Computer betretene Welt erfährt. Jedes Mal, wenn wir bspw. das Internet nutzen, wird alles, was wir darin abrufen (z.B. Texte, Bilder, Fotos, Videos, Musik oder
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Apprich: Stadt am Netz tuellen Muster, um damit ein gänzlich neues Phänomen mit vertrauten Bildern zu beschreiben. Der Cyberspace als virtualisierte Realität, welche gleichsam den Möglichkeitsraum für bestehende Erwartungs- und Sinnstrukturen ausmacht – während das weltumspannende Computernetzwerk die hierfür nötige Infrastruktur liefert – bildet damit nicht nur ein strukturelles, sondern auch ein kulturelles Phänomen. Los Angeles als Metropole des Verfalls verweist dabei nicht nur auf die dystopischen Visionen einer kleinen Gruppe von Cyberpunks. Vielmehr markiert die Krise der Stadt eine allgemeine Krise des Regierens: So war die Diskussion um den Niedergang der Städte, wie sie in den frühen 1990er Jahren auch im deutschsprachigen Raum geführt wurde,9 von einer kontroversen Auseinandersetzung um einen möglichen Kontrollverlust geprägt. Dies erklärt, warum ausgerechnet in jene Technologien, welche für die vermeintliche Auflösung des urbanen Raums verantwortlich gemacht, zugleich auch die meisten Hoffnungen gelegt wurden. Wie zuvor schon in vergleichbaren Techno-Utopien10 galt der Cyberspace als konstruierund daher auch kontrollierbar. An der „Electronic Frontier“ verknüpften sich demnach Science-Fiction und High-Tech mit dem alten Traum von der idealen Gemeinschaftsordnung. Hinter den unzählbaren Kabeln und Serverräumen des weltweiten Computernetzwerkes verbarg sich für die „Netzpioniere“ ein neues Land, welches „nach einer Reihe neuer Metaphern, neuer Regeln und Verhaltensmuster verlangte.“11 Im Folgenden soll daher die Vorstellung dieses „Technotops“ bis in die Frühphase der Netzwerkbildung zurückverfolgt werden, um damit das „Medien-Werden“ bzw. „Un-
ganze virtuelle Umgebungen) durch diese „kulturellen Schnittstellen“ gefiltert. Vgl. Manovich, Lev: „Interface as the Key Category of Computer Culture“, in: http://interface.t0.or.at/levmlecture.html (Stand: 31. Januar 2010). 8 Mitchell, William J.: City of Bits. Space, Place, and the Infobahn, Cambridge 1996. 9 Vgl. Fuchs, Gotthard/Moltmann, Bernhard/Prigge, Walter (Hg.): Mythos Metropole, Frankfurt a.M. 1995; Iglhaut, Stefan/Medosch, Armin/Rötzer, Florian (Hg.): Stadt am Netz. Ansichten von Telepolis, Mannheim 1996; Maar, Christa/Rötzer, Florian (Hg.): Virtual Cities. Die Neuerfindung der Stadt im Zeitalter globaler Vernetzung, Basel 1997. 10 Z.B. Projekte zur Weltraumbesiedlung während der 1970er Jahre. Vgl. Pias, Claus: „Schöner leben. Weltraumkolonien als Wille und Vorstellung“, in: Zinsmeister, Anett (Hg.): welt[stadt]raum. Mediale Inszenierungen, Bielefeld 2008, S. 25-51. 11 Bollmann, Stefan: „Einführung in den Cyberspace“, in: Ders. (Hg.): Kursbuch Neue Medien. Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Köln 1995, S. 163-165, hier S. 164.
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Utopische Räume sichtbar-Werden“12 der Netzwerkgesellschaft nachzeichnen zu können. Der Blick auf Herkunft und Entstehung der digitalen Stadt sowie der darin enthaltenen Inszenierung virtueller Gemeinschaften erlaubt somit die Sichtbarmachung eines impliziten Wissens, welches die Grundlage einer Vielzahl heutiger Medientechniken darstellt und damit „Regierung“ innerhalb dieses neuen Sozialitätsmuster überhaupt erst möglich macht. So führten zu Beginn der 1990er Jahre – so die These – das Zusammentreffen von ökonomischen Bedürfnissen nach flexiblem Management mit den sozialen Forderungen nach individueller Freiheit sowie die technologischen Fortschritte im Computer- und Telekombereich zu einer spezifischen Medienfunktion, die das diffuse Kräfteverhältnis lokaler und widerstreitender Netzkulturen in die Superstruktur einer global vernetzten Gesellschaft zu übersetzen wusste. Das in diesem Transformationsprozess verlorengegangene Wissen, welches in den Praktiken digitaler Städte und ihrer virtuellen Gemeinschaften generiert wurde, gilt es aufzuspüren, um letztlich mögliche Bruchlinien innerhalb der Netzwerkgesellschaft ausfindig zu machen.
Im Raum der Ströme Mit der zunehmenden Vernetzung der Computer verwandelten sich die Maschinen einer diskreten Logik in ein kollektives Medium, d.h. von einem Speicher- in ein Verteilungsmedium.13 Der dadurch eröffnete Sinnhorizont verlangte schon früh nach der Konstruktion gemeinsamer Bedeutung, wie sie v.a. in der visuell realisierten Welt des Cyberspace14 zum Ausdruck kam. Angesichts der Tatsache, dass der digitale Raum lediglich eine Unmenge an Binärzahlen repräsentiert, gibt es freilich zahlreiche Möglichkeiten, wie dieser sichtbar gemacht werden kann. So prägte etwa Andreas Dieberger, zu Beginn der 1990er Jahre Doktorand an der Technischen Univer-
12 Vgl. Vogl, Joseph: „Medien-Werden: Galileis Fernrohr“, in: Engel, Lorenz/Vogl, Joseph (Hg.): Mediale Historiographien, Weimar 2001, S. 115123. 13 Vgl. Bunz, Mercedes: Die Geschichte des Internet. Vom Speicher zum Verteiler, Berlin 2008. 14 Der Begriff „Cyberspace“ wurde oft synonym verwendet mit jenem von der virtuellen Realität. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch in der Intersubjektivität bzw. Verstreuung der Subjekte. Vgl. Holmes, David: „Glossary“, in: Ders. (Hg.): Virtual Politics. Identity and Community in Cyberspace, London/Thousand Oaks/New Delhi 1997, S. 229-242.
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Apprich: Stadt am Netz sität Wien, den Begriff der „Information City“15, um damit eine räumliche Benutzerschnittstelle zu beschreiben. Um also dem Problem eines „getting lost in hyperspace“16 gerecht zu werden, wollte Diebergers Stadtmetapher die Struktur von Informationssystemen verständlicher machen, indem sie eine kognitive Landkarte des digitalen Raums zeichnet. In seinem Konzept werden HypertextDokumente durch eigene Gebäude innerhalb der „Information City“ sichtbar gemacht, um damit eine Informationsumgebung zu bauen, die durch den Datenraum führt.17 Damit wird der urbane Raum als Organisationsprinzip in den virtuellen Raum übertragen, zumal die Stadt „defines an ontology of spaces and connections that is useful […] to create structure in an unstructured information domain.“18 In diesem Sinn ist die Navigation durch den Cyberspace nur möglich, wenn die Struktur selbst dem Benutzer vermittelt werden kann: Wege, Stadtteile und Landmarken machen den Raum nicht nur sichtbar, sondern auch lesbar. Und so beinhaltet die Stadt eine urbane Grammatik, deren Codes in der gebauten Umgebung verständlich werden. Die moderne Architektur mit ihren Repräsentationsbauten aus Beton, Stahl und Glas wird dabei zunehmend von einer „postmodernen Architektur“ abgelöst, „whose forms are so neutral, so pure, so diaphanous, that they do not pretend to say anything.“19 Diese architektonische Stille, welche weniger einer Bedeutungslosigkeit entspricht, als vielmehr eine permanente Übercodierung impliziert, reagiert damit auf die räumlichen Veränderungen durch die neuen Informationstechnologien: „The dramatic changes in information technology deeply affect the core of our system, and in so doing lie at the very roots of its pattern of spatial change.“20 Und wie Manuel Castells in seinem frühen Buch The Informational City nicht müde wird zu betonen, handelt es sich hierbei um einen komplexen Vorgang, der
15 Dieberger, Andreas: „The Information City – A Metaphor for Navigating Hypertexts“, in: http://homepage.mac.com/juggle5/WORK/publications/ VRV.html (Stand: 31. Januar 2010). 16 Ebd. 17 Die Idee einer visuellen Struktur der Stadt findet sich bereits in der Arbeit von Kevin Lynch. Vgl. Lynch, Kevin: The Image of the City, Cambridge/London 1960. 18 Dieberger, Andreas: „A city metaphor for supporting navigation in complex information spaces“, in: Journal of Visual Languages and Computing 9 (1998), S. 597-622, hier S. 600. 19 Castells, Manuel: The Rise of the Network Society, in: Ders.: The Information Age: Economy, Society and Culture. Bd. I, Oxford/Malden 1996, S. 450. 20 Castells, Manuel: The Informational City. Information Technology, Economic Restructuring and the Urban-Regional Process, Oxford 1991, S. 126.
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Utopische Räume nichts mit einem technologischen Determinismus und seiner simplen Rede vom Verschwinden der Städte zu tun hat: „While the prophets of technological determinism have forecast the general dissolution of cities and metropolitan areas in an undifferentiated territorial sprawl, […] the actual processes at work are much more complex because technology is only an instrument, albeit a very powerful one, of the process of organizational restructuring dictated by economic, social, and institutional changes.“21
Diese Transformationsprozesse, zu deren Instrument, aber eben nicht einzigem Grund die Technologie zählt, verwandeln die „Informational City“ in einen sozial umkämpften Raum. Im Gegensatz zu Diebegers Konzept eines Containerraums, der lediglich mit Bedeutungen gefüllt werden muss, zeigt sich der (Daten-)Raum hier als soziales Produkt,22 welches von den jeweiligen Akteuren überhaupt erst hergestellt werden muss.23 In der „Informational City“ kommt es zu einer wesentlichen Verschiebung im Verhältnis von Raum und Gesellschaft, welches weniger durch eine spezifische Form als durch einen Prozess gekennzeichnet ist. In seinem dreibändigen Werk über das Informationszeitalter beschreibt Castells diesen Prozess als eine zunehmende Dominanz des „Raums der Ströme“ über den „Raum der Orte“, welcher für das bisherige Verständnis von Raumordnungen bestimmend war. So haben sich Kulturen schon immer über große Distanzen entwickeln können, jedoch nicht in Echtzeit. Und genau darin sieht Castells das historisch Neue: „The space of flows is the material organization of time-sharing practices.“24 In einer digitalen 21 Ebd. 22 Vgl. Lefebvre, Henri: „Die Produktion des Raums“, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 330-342. 23 Es geht also nicht um eine Gegenüberstellung zwischen einem chaotischen, unstrukturierten Datenraum auf der einen und den vernünftigen, strukturierenden Akteuren auf der anderen Seite. Vielmehr muss die Dichotomie im Sinne eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses aufgelöst werden, zumal das Netzwerk nicht unabhängig von den jeweiligen Akteuren existiert. So schreibt Bruno Latour in einer Stellungnahme zur AkteursNetzwerk-Theorie: „As I said […] there is not a net and an actor laying down the net, but there is an actor whose definition of the world outlines […] a trajectory that is called a network. No net exists independently of the very act of tracing it, and no tracing is done by an actor exterior to the net.“ (Latour, Bruno: „On actor-network-theory. A few clarifications plus more than a few complications“, in: Soziale Welt, Heft 47 (1996), S. 369381, hier S. 378.) 24 Castells: „The Rise of the Network Society“ (1996), S. 442.
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Apprich: Stadt am Netz Umgebung verdichten sich Raum und Zeit zu einer neuen materiellen Basis, auf welcher die dominanten sozialen Prozesse durch (Informations-)Ströme reorganisiert werden. Der „Raum der Ströme“ als das konstituierende Außen lokal verorteter Städte bildet damit die Grundlage jener sozialen Praktiken, welche für den Entwurf der ökonomischen, politischen und symbolischen Strukturen der Gesellschaft entscheidend sind. Eine der Schlüsselmerkmale der informationellen Gesellschaft ist somit die Vernetzungslogik ihrer Grundstruktur,25 wobei sich die jeweiligen Netzwerke entsprechend ihrer Funktion innerhalb der globalen Informationsströme an je spezifischen (urbanen) Orten verknüpfen: „The functions to be fulfilled by each network define the characteristics of places that become their privileged node.“26 Der „Raum der Ströme“ ist also nicht ortlos, aber seine strukturelle Logik ist es. Entsprechend der „theoretischen Bausteine“ Castells’27 lassen sich so drei Funktionsweisen des „Raums der Ströme“ festmachen: Erstens stellen die Netzwerke die technologische Infrastruktur zur Verfügung, also gleichsam die materielle Bedingung von Informationsströmen (Zirkulation); zweitens bilden sich an den jeweiligen Orten Netzwerkknoten, welche die Strommuster bestimmen (Relation); und drittens die gesellschaftlichen Akteure selbst, welche die Ströme mit ihren sozialen Praktiken am Laufen halten (Artikulation). Wesentlich sind hier nicht die einzelnen Funktionen für sich, sondern ihre Interaktion untereinander. So erlaubt das Zusammendenken von Zirkulation, Relation und Artikulation innerhalb des „Raums der Ströme“ eine funktionale Analyse der Netzwerkgesellschaft, die wiederum durch die Wechselwirkung globaler und lokaler Prozesse bestimmt ist. Die Dialektik aus Zentralisierung und Dezentralisierung, Lokalisierung und Globalisierung entspricht dabei einer räumlichen Transformation, die als Ausdruck eines tiefer liegenden sozialen Wandels verstanden werden muss: „Thus, the new urban world arises from within the process of formation of a new society, the network society, characteristic of the Information Age.“28 Die Netzwerkgesellschaft als spezifische Gesellschaftsstruktur des Informationszeitalters geht aus dem Wechselspiel von Produktions25 Hieraus ergibt sich der Begriff der „Netzwerkgesellschaft“, wobei Castells betont, dass dieser nicht die volle Bedeutung der „informationellen Gesellschaft“ – welche um Komponenten wie Staat und soziale Bewegungen erweitert werden müsste – umfasst. (Vgl. ebd., S. 21.) 26 Ebd., S. 444. 27 Vgl. Castells, Manuel: „Bausteine einer Theorie der Netzwerkgesellschaft“, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 4 (2001), S. 423-439. 28 Castells, Manuell: „Space of Flows, Space of Places: Notes Towards a General Theory“, in: Graham, Stephen (Hg.): The Cybercities Reader, London 2004, S. 82-93, hier S. 83.
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Utopische Räume und Konsumptionsverhältnissen, den Verhältnissen sozialer Erfahrung und bestehenden Machtverhältnissen vermittelt durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien hervor. Der darin erzeugte Sinn ist Gegenstand sozialer Auseinandersetzung, zumal die jeweilige Gesellschaftsstruktur die Handlungsoptionen der einzelnen Akteure zwar beschränkt, selbst aber durch jenes soziale Handeln produziert und infolge auch verändert wird.29 Castells zufolge führte Ende des 20. Jahrhunderts das Zusammentreffen dreier voneinander unabhängiger und historisch kontingenter Ereignisse zur Entstehung der Netzwerkgesellschaft: zunächst die Restrukturierung des Kapitalismus nach dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, welche neue Anforderungen der Wirtschaft nach flexiblem Management und einer Globalisierung von Kapital, Produktion und Handel weckte; dann die Forderung der Gesellschaft nach individueller Freiheit und offener Kommunikation, welche auf die libertären Strömungen der gegenkulturellen Bewegungen in den 1960er zurückgeht; und schließlich die Fortschritte im Computer- und Telekommunikationsbereich, welche die Entwicklung gänzlich neuer Mediensysteme erlaubten.30 Diese Transformationsprozesse, die v.a. in den Städten spürbar wurden, münden allerdings auch in einem Bedeutungswandel bisheriger Sinnstrukturen: „Räume werden bedrohlich und Erfahrung verliert an Sinn. In solchen turbulenten Zeiten wird Wissen zur einzigen Quelle, aus der sich erneut Sinn schöpfen lässt und die daher ein sinnvolles Handeln ermöglicht.“31 Das Netzwerk wird zur sinnstiftenden Struktur der neuen Gesellschaft und bestimmt damit auch die soziale und technische Konstruktion von Information und Wissen. Die Netzwerkgesellschaft benötigt zum einen eine technologische Infrastruktur zur Aufrechterhaltung ihrer Informationsnetzwerke, zum anderen einen neuen Sinnhorizont zur Produktion und Reproduktion symbolischer Interaktion: „Technologie als materielles Werkzeug und Sinn als symbolische Konstruktion sind […] die fundamentalen Bestandteile menschlichen Handelns, das letzten Endes die Gesellschaftsstruktur produziert und verändert.“32 Die „Kultur der realen Virtualität“ erlaubt ein strategisches Handeln zur Herstellung von Bedeutung, welche in der Netzwerkgesellschaft auf In29 Vgl. Castells: „Bausteine einer Theorie der Netzwerkgesellschaft“ (2001), S. 424. 30 Vgl. Castells, Manuel: Die Internet-Galaxie. Internet, Wirtschaft und Gesellschaft, Wiesbaden 2005, S. 10. 31 Castells, Manuel: „Die Städte Europas, die Informationsgesellschaft und die globale Wirtschaft“, in: Maar, Christa/Rötzer, Florian (Hg.): Virtual Cities. Die Neuerfindung der Stadt im Zeitalter globaler Vernetzung, Basel 1997, S. 101-116, hier S. 102. 32 Castells: „Bausteine einer Theorie der Netzwerkgesellschaft“ (2001), S. 426.
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Apprich: Stadt am Netz formations- und Kommunikationstechnologien beruht und in den digitalen Städten der frühen 1990er Jahre zum Ausdruck kam.
Digitale Städte /\ WELCOME TO THE... _! !_ _!__ __!_ __ ! ! _! !_ ! ! ! ! ! ! /\ ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! !___ ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! !_!_ ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! _! ! !_!_ ! ! !_ ! ! !_! ! ! ! ! ! CLEVELAND FREE-NET ! ! COMMUNITY COMPUTER SYSTEM ! !____________________________________! brought to you by Case Western Reserve University
Abb. 1: Begrüßungsseite des Cleveland Freenet Technologien verknüpfen sich mit anderen kulturellen Kräften zu sozialen Konstruktionen, welche wiederum eine spezifische physische und mythische Struktur erzeugen. So vermengten sich in der räumlichen Metapher von der „digitalen Stadt“ soziale mit technischen Utopien, die in Gestalt neuer Computerinterfaces (etwa dem Cleveland Freenet33) sichtbar wurden. Die virtuelle Vorstellung be33 Die Konzeption der digitalen Stadt geht im Wesentlichen auf das 1986 von dem Mediziner Tom Grundner initiierte und der Case Western Reserve University finanzierte „Cleeveland Freenet“ zurück. Zu Beginn als Mailbox für Gesundheitsfragen betrieben, verbreitete sich das Netzwerk aufgrund seiner Offenheit gegenüber anderen Themen sehr schnell. Zur Strukturierung dieses wachsenden Wissensraumes wurde ein textbasiertes Interface entworfen, welches sich an der Stadtmetapher orientierte und über ein eigenes Postamt, einen öffentlichen Platz, ein Verwaltungsgebäude sowie ein Kranken- und ein Künstlerhaus verfügte. Das „Bürger/innennetz“ wurde 1999 eingestellt. (Vgl. Schuler, Douglas: „Neue Bürgernetze. Aufruf zu einer neuen Gemeinschaft“, in: Leggewie, Claus/Maar, Christa (Hg.): Internet & Politik. Von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie?, Köln 1998, S. 300-315 u. S. 300ff.)
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Utopische Räume diente sich dabei reale er Bilder, indem Straßencafés, Postämter oder Schulen durch kleine Piktogramme am Bildschirm erschienen n und he zum Datenraum simulierten. Die urrbane so eine vertraute Näh Umgebung mit ihren verzweigten Gassen und öffentlichen Plä ätzen befand sich dabei allerrdings in direktem Widerspruch zur (vorzzugsweise männlichen) Ph hantasie von individueller Freiheit und un neingeschränkter Mobilitätt: „Die Datenautobahn, die den individu uellen Benutzer privilegiert, der einen relativ homogenen Informattionsraum erkundet, ist eiine andere Weise der Realisierung [elekttroni3 scher Technologien].“34 Gemäß der Stadtmetapher sei der Cy yberspace dagegen kollektiiv, heterogen, räumlich organisiert und viisuell verwirklicht. Und meh hr als die schlichte Geschichte vom „Inform mation Highway“35 als Anttwort auf einen zunehmend dezentralisie erten Raum, welche den tech hnophilen Wunsch nach leistungsfähigen n Maschinen (statt dem Au uto nunmehr der PC) lediglich fortschreibt, inszeniert sich die „dig gitale Stadt“ nicht nur als verheißungsv volles Land, das es zu erobe ern gilt, sondern bildet darüber hinaus auch den Ort einer idealen Gesellschaftsordnung. G
Abb. 2: Webba asiertes Interface von De Digitale Stad nd für Die Idee einer solchen Gemeinschaft war dann auch maßgeben w die Gründung von De Digitale Stad (DDS) in Amsterdam. Sie wurde 34 Bolter, Jay David: „Die Metapher der Stadt im elektronischen Raum m“, in: http://www.heise.de/ttp/r4/artikel/6/6000/1.html (Stand: 31. Januar 2010). 35 Mit der Wahl der Clinton-Administration im Jahr 1992 sollte sich der „Information Superhig ghway“ als Reaktualisierung des alten Traums nach individueller Freiheit mittels unbegrenzter Mobilität im US-amerikanischen Raum durchsetzen. Die D Datenautobahn galt dabei als Vollendung g der „Third Wave“, welche durch Demassifikation, Diversifizierung und wissensbasierter Prod duktion die bereits verebbende zweite Welle e des Industriezeitalters zu überrollen versprach. Vgl. Toffler, Alvin: The Third Wave, New York 1984.
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Apprich: Stadt am Netz am 15. Januar 1994 auf Betreiben des Kulturzentrums De Balie und dem Hackerkollektiv HackTick für die Dauer von zehn Wochen ins Leben gerufen. Anlass waren die gerade stattfindenden Kommunalwahlen, die als Gradmesser für die Revitalisierung demokratischer Öffentlichkeit dienen sollten.36 Obwohl die erhoffte Kommunikation mit Politikern großteils ausblieb, erfreute sich die DDS bei ihren „Bürgern“ einer solchen Beliebtheit, dass das Experiment mit finanzieller Unterstützung durch die Stadt Amsterdam und das Wirtschaftsministerium weitergeführt werden konnte.37 Neben den Informationsportalen öffentlicher Institutionen und dem Angebot von Handel- und Gewerbetreibenden stand insbesondere der Zugang zum als auch die Repräsentation im Internet im Vordergrund. So wurde mit der Einführung des WorldWideWeb das textbasierte System durch ein grafisches Interface ersetzt, welches als Orientierungshilfe dienen und dem ganzen Projekt eine eigene Identität geben sollte. Die Stadt-Metapher wurde dabei bewusst gewählt: „Die Stadt ist traditionell der Ort für die freie Meinungsäußerung, Kommunikation und Versammlung und erscheint deshalb am ehesten geeignet, die technischen Möglichkeiten des Internet in eine allgemein verständliche Form zu bringen und gleichzeitig auch die sozialen und politischen Aspekte des Mediums auszuloten.“38 Neben dieser ordnungsstiftenden Funktion enthält die Stadtmetapher allerdings auch nostalgische Züge, welche „den vergangenen Glanz der Stadt wieder zum Leben erwecken [wollen].“39 Denn „[s]elbst in der reaktionären Vorstellung des Stadtstaates sehen wir, daß die Stadt sich als eine verdichtete Infrastruktur redefiniert, zu der auch die weitentfernten Außenbezirke, Flughäfen, Industriegebiete, ,edge cities‘, Autobahnen, Handelszentren und Randgemeinden gerechnet 36 Vgl. Lovink, Geert: „The Digital City Amsterdam“, in: Mythos Information. Welcome to the Wired World. Ausstellungskatalog Ars Electronica 95, Linz. Hg. v. Karl Gerbel/Peter Weibel, Wien/New York 1995, S. 180-185. 37 Die Zuschüsse von offizieller Seite versiegten jedoch schon bald, weshalb sich die DDS früh zu einem eigenständigen Unternehmen entwickelte. Zu diesem Zweck wurden drei Teilbereiche geschaffen: erstens ein kommerzieller Geschäftsbereich, welcher für private Kund/innen webbasierte Dienstleistungen anbot; zweitens ein innovativ-technologischer Gestaltungsbereich, der neue Anwendungen für die Wirtschaft entwickelte; und drittens ein gesellschaftliches Experimentierfeld, welches den ursprünglichen Anliegen der DDS als virtueller Gemeinschaft gerecht werden sollte. (Vgl. Lovink, Geert: „Die Digitale Stadt Amsterdam“, in: Leggewie, Claus/Maar, Christa (Hg.): Internet & Politik. Von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie?, Köln 1998, S. 293-299, hier S. 295.) 38 Flint, Joost: „Das Amsterdamer-Freenet ,De Digitale Stad‘ (DDS)“, in: Maar, Christa/Rötzer, Florian (Hg.): Virtual Cities. Die Neuerfindung der Stadt im Zeitalter globaler Vernetzung, Basel 1997, S. 57-69, hier S. 58. 39 Lovink: „The Digital City Amsterdam“ (1998), S. 182.
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Utopische Räume werden“40, wie Geert Lo ovink auf dem Symposium der Ars Electro ronica 1995 feststellte.
Abb. 3: Orientierungskarte von De Digitale Stadt ktivismus“ ging allerdings nicht über die VerDer „digitale Konstruk doppelung der Einric chtungen und Institutionen der klassis schen Stadt hinaus. Dabei war w DDS weder eine Simulation der real existierenden Stadt Amstterdam noch die bloße Repräsentation ihrer Server, sondern sah sich s explizit als demokratisches Projekt einer computerbasierten Ge egenkultur: „All those ideas you had hearrd so often from the US about the new information society, telec citizenship, suddenly became a realitty on democracy, electronic DDS.“41 Und wie Marlleen Stikker, Mitbegründerin und erste „Bür„ germeisterin“ von DDS S, in dem Interview weiter ausführt, ersc chien gerade die Stadtmetap pher dazu geeignet, dieser Vorstellung eine es öffentlichen Raumes gerrecht zu werden. Doch wie schon in der griechischen Polis konnte e das digitale Forum keineswegs die Bev völkerung repräsentieren. Der D durchschnittliche Einwohner der digiitalen Stadt war um die 30 Jahre alt, zumeist männlich, gut ausgeb bildet demokratischen Partei nahe.42 Ein Umsttand, und stand der soziald
40 Ebd. 41 Tan, Shuschen: „Digital City, Amsterdam. An Interview with Marleen Stikker“, in: http://www..ctheory.net/articles.aspx?id=65 (Stand: 31. Januar J 2010). 42 Vgl. Hinssen, Peter: „Life in the digital city“, in: http://www.wired.com/ wired/archive/3.06/diigcity.html (Stand: 31. Januar 2010).
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Apprich: Stadt am Netz aufgrund dessen sich auch die ehemalige Bürgermeisterin von DDS The digital population has a long way to t go unzufrieden zeigte: „T before being a true rep presentation of the public at large.“43 Mitt dem Aufstieg Amsterdams zu z einer Medienhauptstadt, woran die dig gitale Stadt zwar nicht der unmittelbare Grund, aber doch ein dirrekter Ausdruck war, wandte e sich ein beträchtlicher Teil der aktiven DDSD Bewohner zunehmend d privatwirtschaftlichen Tätigkeiten im neuen n Mediensektor zu. Als schließlich s mit der explosionsartigen Aus sbreitung des WorldWideWe Web ein neues Angebot an kommerziellen InterI netprovidern entstand d, sah sich die DDS einem verstärkten ök konomischen Druck ausges setzt, dem sie in ihrer strukturellen Verffasstheit nicht mehr stand dhalten konnte. Und so ist die DDS seit 2001 eine kommerzielle Firm ma, deren „Einwohner“ nur mehr wenig g mit der anfänglichen Geme einschaft und ihren Belangen zu tun habe en.44
Abb. 4: Naviga ationssystem der Internationalen Stadt obalen Zirkulationsströmen und ihren lok kalen Im Widerstreit von glo Relationen entstanden n in der Amsterdamer Netz-Community schon s bald innere Strukturp probleme, welche dazu führten, dass die „digi„ tale Stadt“ in ihrer urrsprünglichen Form vom Netz gehen mu usste. Dennoch galt die DDS S lange Zeit als Vorbild einer Vielzahl von digitalen Städten, die wä ährend der 1990er v.a. in Europa gegrü ündet 43 Shuschen: „Digital City y, Amsterdam“. 44 Vgl. Lovink, Geert: „T The Rise and Fall of the Digital City Metapho or and Community in 1990s Amsterdam“, in: Graham, Stephen (Hg.): The Cy yberciNew York 2004, S. 371-377, hier S. 376. ties Reader, London/N
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Utopische Räume wurden. Neben Bologna, Kiew oder London entstand eine solche auch in Berlin. Die Internationale Stadt (IS) wurde im Sommer 1994 in einem sehr heterogenen Umfeld gegründet: „[E]in ehemaliger Sponsor, Erfahrungen aus dem Hackeruntergrund, selbstorganisierte, aber bankrotte Medienkunstveranstaltungen, gemischt mir einer gesunden Portion Pseudo-Wissenschaftlichkeit, führten zu dem eigenartigen, aber einzigartigen Gebräu Internationale Stadt.“45 Und obwohl diese ebenfalls die Stadtmetapher zur Strukturierung des Netzlebens verwendete, war ihr Ordnungsmuster auffallend abstrakt. Erinnerte das anfängliche Navigationssystem noch an ein städtisches U-Bahnnetz, so verabschiedete sich die IS in der Folge zunehmend vom gängigen Stadtbild.46 Die rund 600 Nutzer konnten nunmehr mittels einer selbst zu gestaltenden Toolbar durch die einzelnen Themenbereich (etwa Medien, Musik, Kommunales, Umwelt oder Markt) steuern und damit den Fallstricken einer allzu rigiden Metaphernbildung entgehen. Doch obwohl das Konzept auch auf andere deutsche Städte wie Bremen und Köln übertragen wurde, blieb die selbsternannte Anlaufstelle für Netzkultur, -kunst und -aktivismus letztlich in ihrer Selbstreferenzialität stecken. Ebenso wenig wie die DDS schaffte es die IS, sich als „selbst-organisierendes System“47 in den globalen „Raum der Ströme“ einzugliedern. Dort übernahmen zunehmend kommerzielle Anbieter die Aufgaben des unabhängigen Netzbetreibers, der bis zu seiner Schließung 1998 ohne finanzielle Unterstützung von staatlicher Seite auskommen musste. Und so fällt auch das Fazit von Joachim Blank, einem der Initiatoren der Internationalen Stadt, eher nüchtern aus: „Der lokale, ortsbezogene Ansatz der I.S. oder anderer Digitaler Städte funktioniert nur sehr eingeschränkt, weil die meisten Nutzer daran kein Interesse haben.“48 Mit dem Abschied von den „großen Theorien“49 schien nun auch der Wunsch nach egalitären Netzgemeinschaften einer weitgehenden Ernüchterung zu weichen.
45 Blank, Joachim: „Internationale Stadt Berlin. Notizen aus der Provinz“, in: Maar, Christa/Rötzer, Florian (Hg.): Virtual Cities. Die Neuerfindung der Stadt im Zeitalter globaler Vernetzung, Basel 1997, S. 70-74, hier S. 70. 46 Vgl. Baumgärtel, Tilman: „Just out of Beta – Die Internationale Stadt 2.0“, in: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/1/1096/1.html (Stand: 31. Januar 2010). 47 Baumgärtel, Tilman: „Netmalls statt digitalen Städten“, in: http://www.hei se.de/tp/r4/artikel/1/1359/1.html (Stand: 31. Januar 2010). 48 Baumgärtel, Tilman: „Die Zeit der digitalen Städte ist vorbei. Interview mit Joachim Blank von der Internationalen Stadt Berlin“, in: http://www.heise. de/tp/r4/artikel/3/3167/1.html (Stand: 31. Januar 2010). 49 Blank: „Internationale Stadt Berlin“ (1997), S. 74.
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Apprich: Stadt am Netz
Virtuelle Gemeinschaften Die ersten virtuellen Gemeinschaften entstanden im Umfeld sogenannter „Bulletin Board Systems“ (BBS), welche in Nordamerika bereits am Ende der 1970er Jahre installiert wurden. Im Gegensatz zu den später realisierten „Freenets“ und „digitalen Städten“ waren diese frühen Mailbox-Systeme zumeist privat betriebene Rechnernetze, die von einem „System Operator“ (Sysop) betrieben wurden. Der „Geburtsort der Online-Community“ lag dabei in der San Francisco Bay Area, wo 1985 Stewart Brand und Larry Brilliant den Whole Earth ’Lectronic Link (The WELL) gründeten. Dabei stand von Beginn an die kybernetische Vorstellung einer selbst gesteuerten, selbst verwalteten und sich selbst regierenden Gemeinschaft im Mittelpunkt: „People who where looking for a grand collective project in cyberspace flocked to the WELL. […] ,What it is is up to us‘ became the motto of the nascent WELL community.“50 Dieser kommunitäre Ansatz veränderte sodann auch die Definition des Cyberspace selbst: Nicht mehr der zu navigierende Datenraum, sondern die Verflechtungen (zwischen-)menschlicher Kommunikation mit Computer-Netzwerken waren von jetzt an bestimmend. Insbesondere John Perry Barlow, einer der ersten „Bewohner“ von The WELL und Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation (EFF), sah in den digitalen Netzwerken die technologische Weiterentwicklung des US-amerikanischen Pioniergeistes: „Cyberspace, in its present condition, has a lot in common with the 19th Century West. It is vast, unmapped, culturally and legally ambiguous, verbally terse […], hard to get around in, and up for grabs.“51 Und wie in den Grenzstädten des „Wilden Westens“ herrschte auch an der „digital frontier“ die libertäre Vorstellung von Freiheit und privatem (Selbst-) Unternehmertum. Mit der „Declaration of the Independence of Cyberspace“52 sollte nun der alte Traum von der unabhängigen Gemeinschaft mit technologischen Mitteln erreicht werden, zumal zu Beginn der 1990er ein „neues attisches Zeitalter“ als Effekt der neuen Informationsund Kommunikationssysteme ausgerufen wurde: „Cyberdemocracy oder elektronische Demokratie heißen die neuen Schläuche, welche die passive Zuschauerdemokratie in eine aktive Mitwirkungsdemo50 Rheingold, Howard: The Virtual Community. Homesteading on the Electronic Frontier, New York 1994, S. 43. 51 Barlow, John Perry: „Crime and Puzzlement“, in: http://w2.eff.org/Misc/ Publications/John_Perry_Barlow/HTML/crime_and_puzzlement_1.html (Stand: 31. Januar 2010). 52 Barlow, John Perry: „A Declaration of the Independence of Cyberspace“, in: http://w2.eff.org/Censorship/Internet_censorship_bills/barlow_0296.decla ration (Stand: 31. Januar 2010).
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Utopische Räume kratie verwandeln und zugleich eine globale Öffentlichkeit schaffen sollen.“53 Dieselben Technologien also, die zuvor noch für den „Tod der Stadt“54 verantwortlich gemacht wurden, sollten nun zur Rettung der demokratischen Polis beitragen und diese auf ein globales Niveau ausweiten. Und wie der deutsche Politologe Claus Leggewie in diesem Zusammenhang feststellt, ist die notwendige Voraussetzung einer solch „starken Demokratie“ der „gut informierte Bürger.“55 Hier verknüpft sich das Konzept von der digitalen Gemeinschaft mit jenem von der Informationsstadt, da alles Wissen zunächst einmal versammelt und über ein räumliches Ordnungsregime strukturiert werden muss, um letztlich für den digital aufgeklärten Bürger sichtbar und lesbar zu sein.56 Das Wechselverhältnis von Ideal- und Wissensstadt verweist dabei auf die Utopie einer egalitären, im globalen Maßstab kommunizierenden Gemeinschaft, die dem libertär-unternehmerischen Geist der neuen Datennetze folgt.57 Die „virtual communities“ beinhalten das Wir-Gefühl einer kollektiven Identität, die „durch Rituale der Selbstvergewisserung und gegenseitigen Binnenanerkennung verstärkt und nicht zuletzt durch die Abgrenzung von ‚Anderen‘ konstituiert wird.“58 Die neuen „netzwerkartigen Regulierungsmuster“ erlauben die Bildung von „Community Networks“ und wecken bei den zeitgenössischen Technokraten die Hoffnung auf eine „demokratische Selbstregierung.“59 Ähnlich der Debatte um den vermeintlichen Niedergang der Stadt zeigte sich der Diskurs über die Rolle und Funktion der neuen Medientechnologien äußerst ambivalent: Zum einen wurde be53 Leggewie, Claus: „Netizens oder: Der gut informierte Bürger heute“, in: Transit, Heft 13 (1997), S. 3-25, hier S. 5. 54 Vgl. Fuchs, Gotthard/Moltmann, Bernhard/Prigge, Walter: „Mythen der Stadt“, in: Dies. (Hg.): Mythos Metropole, Frankfurt a.M. 1995, S. 9-19. 55 Leggewie, Claus: „Demokratie auf der Datenautobahn“, in: Ders./Maar, Christa (Hg.): Internet & Politik. Von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie?, Köln 1998, S. 15-51, hier S. 40. 56 Ich folge hier der Arbeit von Kirsten Wagner, die als Erste den technoutopischen Zusammenhang zwischen „Idealstadt“ und „Wissensstadt“ herausgearbeitet hat. (Vgl. Wagner, Kirsten: „Architektonika in Erewhon. Zur Konjunktur architekturaler und urbaner Metaphern“, in: http://www-1.tucottbus.de/BTU/Fak2/TheoArch/Wolke/deu/Themen/981/Wagner/wagner_ t.html (Stand: 31. Januar 2010); Wagner, Kirsten: „Digitale Städte, InformationCities und andere Datenräume“, in: Zinsmeister, Anett (Hg.): welt[stadt]raum. Mediale Inszenierungen, Bielefeld 2008, S. 105-128.) 57 Dyson, Esther/Gilder, George/Keyworth, George/Toffler, Alvin: „Cyberspace and the American Dream: A Magna Carta for the Knowledge Age“, in: http://www.pff.org/issues-pubs/futureinsights/fi1.2magnacarta.html (Stand: 31. Januar 2010). 58 Leggewie: „Demokratie auf der Datenautobahn“ (1998), S. 43f. 59 Ebd., S. 38.
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Apprich: Stadt am Netz fürchtet, dass mit der Ausbreitung des Internets die Gemeinschaftsstruktur zerstört würde, auf der anderen Seite sollten gerade die Informations- und Kommunikationstechnologien zu einer Revitalisierung demokratischer Gemeinschaften führen. Dabei handelt es sich beim Internet nicht um ein isoliertes Phänomen, und die Gemeinschaft selbst kann – wenn sie aus ihrem lokalen Bezug gelöst wird – als ein (soziales) Netzwerk verstanden werden.60 Die Verflechtung von realem und virtuellem Raum schafft nunmehr ein Realitätsfeld, welches durch die neuen Kommunikationsnetze zwar symbolisiert, aber nicht hervorgerufen wird: nämlich das Auftreten eines neuen Systems von Sozialbeziehungen, in deren Zentrum das Individuum steht. Dieser „vernetzte Individualismus“ bildet für Castells die Grundlage eines neuen Sozialitätsmusters, welches mit der Verbreitung des Internets zur dominanten Form der westlichen Gesellschaftsstruktur geworden ist: „Es ist daher nicht das Internet, das das Muster des vernetzten Individualismus schafft, sondern die Entwicklung des Internet bietet eine angemessene materielle Stütze für die Verbreitung des vernetzten Individualismus als vorherrschende Form der Soziabilität.“61 Damit führte die Vision von der „virtuellen Gemeinschaft“ zu einer Neudefinition der Gemeinschaft als einem Netzwerk interpersonaler Beziehungen und löste damit die räumliche Gemeinschaft als die bisher bestimmende Form sozialer Interaktion ab. Und es ist die Praxis des vernetzten Individualismus, welche die Grundlage für neue Identitäten, Lebensstile und Regierungsweisen schafft. Die produktive Macht der neuen Medientechnologien erlaubt somit die Konstitution und Aktivierung neuer Subjektivitäts- und damit Wissensformen, die wiederum eigene, der Formation der Netzwerke entsprechende Kontrollregimes hervorbringen. Und dieses Regierungswissen, welches das „vernetzte Individuum“ überhaupt erst hervorbringt, verknüpft sich in der „digitalen Stadt“ mit einer neuen Regierungspraxis: Regieren durch Community. Wie der britische Soziologe Nikolas Rose in diesem Zusammenhang feststellt, zielt die „Community“ als urbane Regierungstechnik der Selbstverwaltung weniger auf die Gesellschaft als Ganzes ab als vielmehr auf die einzelnen, sich selbst regulierenden Individuen und sozialen Gruppen. Dabei beruhen deren Kräfteverhältnisse „auf der Instrumentalisierung persönlicher Loyalitätsbeziehungen und der Bereitschaft, aktiv Verantwortung zu übernehmen.“62 Wie in der 60 Vgl. Wellman, Barry: „The Network Community: An Introduction“, in: Ders. (Hg.): Networks in the Global Village. Life in Contemporary Communities, Boulder 1999, S. 1-47, hier S. 15ff. 61 Castells: Die Internet-Galaxie (2005), S. 144. 62 Rose, Nikolas: „Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens“, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas: Gou-
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Utopische Räume utopischen Vorstellung von der rational geplanten und sich selbst regierenden Stadt beruft sich die virtuelle Gemeinschaft nunmehr auf eine neue und d.h. vor allem netzwerkorientierte Regierungsweise, welche die Aktivierung und Verpflichtung, sprich die Konstituierung und Unterwerfung ihrer jeweiligen Mitglieder umfasst. Das kybernetische Versprechen sich selbst verwirklichender Gemeinschaften birgt allerdings die Gefahr in sich, „dass sozialer Wandel in einem gegebenen Netzwerk oder einem Netzwerk von Netzwerken nur eine geringe Chance hat.“63 Denn durch die Fähigkeit von Netzwerken, nicht-kompatible Knoten einfach auszuschalten bzw. Dissens in die eigene Funktionsweise zu integrieren, verringert sich das Artikulationsangebot von Gemeinschaften. Damit unterwandern ebenjene Technologien, auf welche die unerfüllten Hoffnungen einer demokratischen Telepolis gelegt wurden, die Bedingungen der Möglichkeit einer artikulatorischen Praxis und d.h. von Demokratie selbst. Im Kampf um die Festschreibung symbolischer Ordnungen, im „Krieg der Metaphern“64 kommt es somit zu einer beständigen Konfrontation unterschiedlicher Kräfte. Das Internet bietet demnach keine unerreichbare Substanz, sondern ist immer schon Teil des Spiels seiner eigenen Definition. So ist ja gerade die Stadt durch ihre Mauern definiert, ihre Tore bilden gleichsam das Interface zur restlichen Welt.65 Das hierarchische Konzept der Stadt liefert also ein organisatorisches Regime des Ein- und Ausschlusses, um damit die Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Sagbarem und Nicht-Sagbarem, Ordnung und Chaos zu ziehen. In diesem Wunsch nach einer strikten Informationskontrolle zeigt sich das Internet aber weniger als technisches Werkzeug denn als ein sozialer Raum: „The only way to define the technological effects of the Internet is to build the Internet, to set in place a series of relations which constitute an electronic geography.“66 So handelt es sich beim Cyberspace nicht um einen neuen Kontinent, der jenseits der elektronischen Grenze einen „unmarked space“ verspricht, als vielmehr
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vernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 72-109, hier S. 81. Castells: „Bausteine einer Theorie der Netzwerkgesellschaft“ (2001), S. 438. Marchart, Oliver: Die Verkabelung Mitteleuropas. Medienguerilla – Netzkritik – Technopolitik, Wien 1998, S. 72. Vgl. Lovink, Gert: „Virtuelle Städte und ihre Bewohner“, in: Maar, Christa/Rötzer, Florian (Hg.): Virtual Cities. Die Neuerfindung der Stadt im Zeitalter globaler Vernetzung, Basel 1997, S. 55-56, hier S. 55f. Poster, Mark: „Cyberdemocracy: The Internet and the Public Sphere“, in: Holmes, David (Hg.): Virtual Politics. Identity and Community in Cyberspace, London/Thousand Oaks/New Delhi 1997, S. 212-228, hier S. 216.
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Apprich: Stadt am Netz um „eine Projektionsfläche für unsere eigenen Phantasmen.“67 Der Informationsraum bildet also einen Schauplatz zur Inszenierung von individuellen und sozialen Praktiken, von Lebensweisen, kulturellen Mustern, Wissen, Macht und Herrschaft. Und in der Realisierung dieser Kräfte verfestigen sich die Identitätsfelder virtueller Gemeinschaften und damit die Regeln ihrer Regierung. Jedoch sind die Strategien zur Herstellung der Gemeinschaft sowie der Konstituierung und Aktivierung ihrer jeweiligen Subjekte selbst wieder riskant, denn „what they demand of citizens may be refused, or reversed and redirected as a demand from citizens for a modification of the games that govern them, and through which they are supposed to govern themselves.“68 In jedem Transformationsprozess entstehen also neue Bruchlinien, innerhalb derer sich neue Subjektivitäten bilden. Diese können sich aufgrund ihres Wissens gegenüber der Macht nun so oder so verhalten – um letztlich so oder anders regiert zu werden.69
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Utopische Räume Bollmann, Stefan: „Einführung in den Cyberspace“, in: Ders. (Hg.): Kursbuch Neue Medien. Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Köln 1995, S. 163-165. Bolter, Jay David: „Die Metapher der Stadt im elektronischen Raum“, in: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6000/1.html (Stand: 31. Januar 2010). Bunz, Mercedes: Die Geschichte des Internet. Vom Speicher zum Verteiler, Berlin 2008. Castells, Manuel: „Bausteine einer Theorie der Netzwerkgesellschaft“, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 4 (2001), S. 423-439. —: Die Internet-Galaxie. Internet, Wirtschaft und Gesellschaft, Wiesbaden 2005. —: „Die Städte Europas, die Informationsgesellschaft und die globale Wirtschaft“, in: Maar/Rötzer: Virtual Cities (1997), S. 101116. —: „Space of Flows, Space of Places: Notes Towards a General Theory“, in: Graham, Stephen (Hg.): The Cybercities Reader, London 2004, S. 82-93. —: The Informational City. Information Technology, Economic Restructuring and the Urban-Regional Process, Oxford 1991. —: The Rise of the Network Society, in: Ders.: The Information Age: Economy, Society and Culture. Bd. I, Oxford/Malden 1996. Davis, Mike: City of Quartz. Excavating the Future in Los Angeles, London 1992. —: „Urbane Kontrolle – die Ökologie der Angst“, in: Stefan Iglhaut/Armin Medosch/Florian Rötzer (Hg.): Stadt am Netz. Ansichten von Telepolis, Mannheim 1996, S. 41-63. Dieberger, Andreas: „A city metaphor for supporting navigation in complex information spaces“, in: Journal of Visual Languages and Computing, Heft 9 (1998), S. 597-622. —: „The Information City – A Metaphor for Navigating Hypertexts“, in: http://homepage.mac.com/juggle5/WORK/publications/VR V.html (Stand: 31. Januar 2010). Dyson, Esther/Gilder, George/Keyworth, George/Toffler, Alvin: „Cyberspace and the American Dream: A Magna Carta for the Knowledge Age“, in: http://www.pff.org/issues-ubs/future insights/fi1.2magnacarta.html (Stand: 31. Januar 2010). Flint, Joost: „Das Amsterdamer-Freenet ,De Digitale Stad‘ (DDS)“, in: Maar/Rötzer: Virtual Cities (1997), S. 57-69. Fuchs, Gotthard/Moltmann, Bernhard/Prigge, Walter (Hg.): „Mythen der Stadt“, in: Dies. (Hg.): Mythos Metropole, Frankfurt a.M. 1995, S. 9-19. —: Mythos Metropole, Frankfurt a.M. 1995. Gibson, William: Neuromancer, New York 1984.
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Soziale und ökonomische Szenarien EINLEITUNG VON SABINE MÜLLER
Mit der Frage nach real gewordenen sozialen und ökonomischen Szenarien führt der letzte Abschnitt des vorliegenden Bandes noch einmal zum theoretischen Kern des Konzepts der Gouvernementalität zurück, damit aber auch zu jener historischen Klammer zwischen Fürstenratgebern der Frühen Neuzeit und aktuellen Wirtschaftstheorien, auf deren Basis Foucault sein machtanalytisches Modell im Laufe der 1970er Jahre neu formulierte. Einer der Gründe hierfür war die zunehmende Akzeptanz neoliberaler Diskurse und Praktiken, denen die politische Linke Foucault zufolge deshalb hilflos gegenüberstand, weil sie mit Kategorien operierte, die derselben politisch-epistemologischen Tradition entstammten wie das Denken und Tun ihrer Gegner – der Tradition des klassischen Liberalismus. So sprechen gängige Diagnosen etwa von einer „Ökonomisierung des Sozialen“, einer „Privatisierung des Öffentlichen“ zugunsten einer „ungezügelten“ Herrschaft des Marktes, von einem „Rückzug des Staates“ oder gar „Verfall des Politischen“. Die Begriffspaare, die der Debatte zugrunde liegen und die Kontrahenten vereinen, sind freilich altbekannt – Flexibilität versus Sozialstaat, Individualität versus Solidarität, Freiheit versus soziale Sicherheit, oder schlicht: Markt gegen Staat. Bereits in Überwachen und Strafen (1975) hatte Foucault freilich gezeigt, dass es gerade mit den großen und einfachen Gegensätzen weniger einfach ist, als es auch dem kritischen Denken beizeiten lieb ist. Und bereits hier zielte er darauf ab, Teile der genannten Vorbegriffe und Fronten als Effekte historischer Kräfteverhältnisse erkennbar zu machen und als reduktionistische Prämissen wissenschaftlicher und politischer Argumente zu disqualifizieren. Mit dem Begriff der „Disziplinargesellschaft“, dem Bild des Benthamschen Panopticon und dessen genuin moderner „Mikrophysik des Macht“ schien der Fokus von Überwachen und Strafen auf dem Nachweis der absoluten Heteronomie des modernen Individuums in der „totalen Institution“ Gesellschaft zu liegen, der erzwungenen und ausnahmslos fremdbestimmten ‚Subjektivierung’. Die Konzepte des „Regierens“ und der „Gouvernementalität“ lassen jedoch an Foucaults disziplinaranalytischen Arbeiten Facetten sichtbar werden, 271
Soziale und ökonomische Szenarien die es naheliegender machen, von einer neuen Gewichtung, einem neuen Kontext zu sprechen als von einer theoretischen Wende.1 Mit seinen Überlegungen zu den Technologien der liberalen Gouvernementalität schließt Foucault vor allem an zwei Argumente aus Überwachen und Strafen an. Und in beiden Fällen werden Gegensatzpaare historisiert, die zu jenen Prämissen der Neoliberalismus-Debatte zählen, deren Korrektur das Gesamtprojekt der Geschichte der Gouvernementalität gewidmet ist. Bei der ersten der angesprochenen Oppositionen handelt es sich um den Dualismus von Freiheit und Zwang bzw. Gesetz, d.h. um die Möglichkeit, autonom zu handeln, Gesetze frei zu erlassen oder zu kritisieren. Dass hiermit das Grundparadoxon demokratischer Souveränität, die SelbstRegierung freier Bürger am Modell einer Gefängnisarchitektur diskutiert wurde, provozierte u.a. Hans Ulrich Wehler dazu, Foucault als „intellektuell unredliche[n], empirisch absolut unzuverlässige[n], krypto-normativistische[n] ‚Rattenfänger’ für die Postmoderne“2 zu bezeichnen. Das Einrücken der wechselseitigen Hervorbringung moderner Individuen und Institutionen in den Horizont der Gouvernementalität, das Verbinden der Dialektik von Individualisierung und Totalisierung mit Fragen der Geschichte des politischen und ökonomischen Denkens brachte freilich etwas Neues zum Vorschein. Es zeigte, dass die Effizienz des Panopticon und die Grundkoordinaten des klassischen Liberalismus für Foucault nur zwei Seiten desselben historischen Prozesses waren: der Erfindung eines über die Idee der Freiheit funktionierenden autonomen ökonomischen Systems und einer ebenso begrenzten, mittels Normen ‚regierender’ Sphäre des Politischen. Letzteres – der vermeintliche Gegensatz von Politik und Ökonomie – ist die zweite Dichotomie, deren Gemachtheit und hoch profitablen Nutzen Foucault in Überwachen und Strafen aufzeigte: Der neuen Macht der kapitalistischen Ökonomie war eine neue Ökonomie der Macht vorausgegangen, eine Disziplinierung der Körper, des sozialen Raums und nicht zuletzt jenes Wissens, das als „politische Ökonomie“ die Trennung von Politik und Ökonomie festzuschreiben und je nach ideologischem Blickwinkel auszubuchstabieren begann. Die entscheidenden Topoi von Foucaults theoretischer Neuausrichtung Ende der 1970er Jahre dürften zumindest im deutschen Sprachraum so manchen Leser überrascht haben. Noch 1983 polemisierte etwa Manfred Frank, dass Foucaults Kritik jeglicher Ord1
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Vgl. Thomas Lemke, Susanne Krasmann, Ulrich Bröckling: „Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M. 2000, S. 7–41, hier S. 26. Hans-Ulrich Wehler: Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, S. 91.
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Müller: Einleitung nung als „Ausschlußsystem schlechthin“ große Ähnlichkeit mit einem „blinden (prinzipienlosen) Um-Sich-Schlagen“, einem „Amoklaufen“ habe. Deshalb würden auch „die Staatshüter diesen neuen Typ von Ordnungsfeinden relativ gelassen“ beobachten: Da er „gegen alles [...] und nicht gegen dieses oder jenes insbesondere“ opponiere, sei „er letztlich staatserhaltend“.3 Mit der Geschichte der Gouvernementalität begann Foucault nun justament nach der „Genealogie“ bzw. der „Gouvernementalisierung des modernen Staates“ zu fragen, und als auf den ersten Blick logisches Komplement übernahm der Begriff des „Regierens“ – des Selbst wie der Anderen – eine zunehmend zentrale Rolle. Die Wahl dieser Termini lag jedoch keineswegs nahe, sondern beruhte auf einer exakt gegenläufigen Strategie: Foucault spricht nicht von Regieren, weil er es als Tätigkeit oder Befugnis des Staates versteht, sondern umgekehrt um zu zeigen, dass das soziale und ökonomische Szenario Staat nicht mehr ist als ein historisches Produkt bestimmter Techniken des Regierens, „der bewegliche Effekt eines Regimes vielfältiger Gouvernementalität“4. Der vom Szenario Staat losgelöste und über ein vermeintlich begrenztes Feld des Politischen hinausgehende Begriff des Regierens dient hingegen der Frage, wie und wann welche Verfahren der Selbst- und Fremdführung den modernen Staat hervorbringen und seine ‚Produktionsverhältnisse’ fixieren konnten. Das Konzept der Regierung delegitimiert somit zum einen die zur „zweiten Natur“ gewordene Kopplung von Staat und politischer Führung, zum anderen differenziert es das allegorisierte Panopticon, indem es die Dialektik von Individualisierung und Totalisierung in ihren historischen Szenarien greifbar macht. Dass dem Staat sein Status als ahistorische „politische Universalie“5 entzogen wurde und er als „bunt zusammengewürfelte Wirklichkeit“6 zum Schlüsselszenario der Geschichte der Gouvernementalität avancierte, ist vor allem deshalb zu betonen, weil er als essenzialisiertes Apriori in nahezu alle sozial- und humanwissenschaftlichen Disziplinen eingegangen ist. Genau diese Hypostasierung des Technologie-Effekts Staat blockiert Foucault zufolge eine angemessene Kritik jener neuen Praktiken, Institutionen und räumlichen Bezugssysteme, die sich mit der neoliberalen Gouvernemen-
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Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt/M. 1983, S. 238. Michel Foucault: „Staatsphobie“ [1984], in: Bröckling/Krasmann/Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart, S. 68–71, hier S. 70. Ebd., S. 69. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität. Bd. I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt/M. 2004, S. 163.
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Soziale und ökonomische Szenarien talität und der durch sie ausgelösten „Krise [geltender und eingeübter Technologien] der Regierung“7 entfalteten. Eine adäquate Analyse der aktuellen „Krise der Regierung“ verlangt jedoch nicht nur die Entzauberung der „mythifizierte[n] Abstraktion [Staat]“8. Ebenso wichtig wäre ein verstärktes Aufrollen des über die Figur des Staates implementierten Glaubens an ausdifferenzierte gesellschaftliche Sphären, die es einzeln und als Ensemble zu ‚regieren’ gelte. Mit der Entstehung des modernen Staates ging somit nicht nur die Herausbildung analoger Logiken des Politischen, Ökonomischen und – wie zu zeigen sein wird – des Sozialen einher. Diese begründeten auch je eigene bzw. ‚eigengesetzliche’ Systeme, deren Verhältnis die jeweils dominierende Rationalität bestimmte. So zielte etwa der klassische Liberalismus darauf ab, das Ökonomische und das Soziale in eine Relation wechselseitiger, nationaler Optimierung zu bringen, während die neoliberale Gouvernementalität die Unvereinbarkeit von Staat und Markt oder den Antagonismus von Ökonomie und Sozialem betont. Auch das soziale und ökonomische Teilsystem sind somit keine ahistorische Universalien, sondern Effekte derselben Regierungstechnologien, die auch die „bunt zusammengewürfelte Wirklichkeit“ Staat in ihren jeweiligen Szenarien hervorbringen. Was eine „Krise der Regierung“ erlebt, sind folglich jene Praktiken und Institutionen, die das Ökonomische und das Soziale als abgegrenzte, regierungsspezifisch in Relation gesetzte Sphären einer Erfindung erfinden, die sich Nationalstaat nennt.9 Genau genommen sei der Grundgedanke einer politischen Regierungskunst identisch mit der Vorstellung, „Macht in der Form und nach dem Muster der Ökonomie auszuüben“, resümiert Foucault in seiner vierten Vorlesung zur Geschichte der Gouvernementa-
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Michel Foucault: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori [1978], Frankfurt/M. 1996, S. 118, zitiert nach Lemke/Krasmann/Bröckling, „Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien“, S. 7. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität. Bd. I, S. 163. In seiner Skepsis gegenüber dem Apriori Staat stimmt Foucault u.a. mit der Kritik der transnationalen Geschichtsschreibung am „methodologischen Nationalismus“ (A. D. Smith) überein. Die hieraus gezogenen Folgerungen könnten jedoch kaum konträrer sein: Foucault verstand den Nationalstaat – und damit das Nationale als Ideologie – als sekundäres, der historischen Herausforderung moderner Staatsgründungen nachgelagertes Problem. Darüber hinaus antwortet das Konzept der Gouvernementalität auf die postmoderne Annahme eines in mikropolitischen Praktiken diffundierenden Politischen, die sich nicht selten auf den ‚frühen’ Foucault (etwa des Panoptismus) beruft.
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Müller: Einleitung lität.10 Die „Einführung der Ökonomie in die politische Amtsführung“ stelle wahrscheinlich sogar den wichtigsten Schritt auf dem Weg zur „Gouvernementalisierung des Staates“ dar. Parallel hierzu nahm der Begriff der Ökonomie seine moderne Form an: Er bezog sich immer weniger auf die gute Lenkung eines „ganzen Hauses“ (oikos), sondern begann ein „Interventionsfeld“11 zu bezeichnen, das durch seine – bald von der „politischen Ökonomie“ organisierte – Ausrichtung auf die Bevölkerung das staatliche „Territorium“, moderne Ökonomische und schließlich das moderne Soziale hervorbrachte. Dies deshalb, weil die klassische Nationalökonomie neben den Gesetzen der freien Marktwirtschaft auch eine Sphäre des Sittlichen definiert hatte. Über eben dieses Sittliche wurde das ‚ausdifferenzierte’ Soziale zum Maßstab für Eingriffe in das Marktgeschehen und etablierte sich als „Methode des Regierens“, die bis heute als kaum hinterfragtes Apriori des politischen Denkens fungiert.12 Die Gesellschaft, wie sie das 18. Jahrhundert erfand, deckt sich für Foucault somit weder mit einer Gesamtheit von Individuen, noch mit objektivierbaren Relationen. Sie konstituiert und reproduziert sich vielmehr aus all jenem, was mit der Berufung auf das Soziale bewirkt, institutionalisiert oder anvisiert wurde und wird. Der hierfür entscheidende Moment war die „Entdeckung“ der Bevölkerung als Humankapital, erhoben durch Straßenbenennungen, Hausnummerierungen und schließlich Volkszählungen, erforscht durch die Sozialstatistik und ihre Indikatoren. Gleich zwei der im Anschluss folgenden Beiträge setzen bei genau diesem Aspekt der Regierung des Möglichen an. LUCIA IACOMELLA wählt als Ausgangspunkt zwei signifikant konträre Leistungen der Sozialstatistik: die Hervorbringung der Gesellschaft als epistemisches Objekt und ihre Orientierungsfunktion für den paradoxen Selbstentwurf des „sozialstatistisch produzierten Durchschnittsmenschen“. Vor diesem Hintergrund geht sie der Frage nach, wie Franz Kafka, der literarische „Experte gouvernementaler Modernisierungsstrategien“, in seinem ersten Romanfragment Der Verschollene den Versuch unternimmt, Quételets abstrakte Figur des homme moyen zum Protagonisten einer Bildungs- bzw. „Laufbahn“-Geschichte zu erheben – ein poetologischer Versuch in Sachen Normalisierung. MONIKA WULZ rekonstruiert in ihrem Beitrag die Bemühungen des sozialdemokratischen Philosophen und Physikers Edgar Zilsel, auf der logischen Basis der Statistik eine anwendungsorientierte Epistemologie und einheitswissenschaftliche Methodologie zu entwerfen. Aus gouverne10 Ebd., S. 144. 11 Ebd., S. 145. 12 Vgl. Niklas Rose: „Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens“, in: Bröckling/Krasmann/Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart, S. 72–109, hier S. 89f. und S. 76.
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Soziale und ökonomische Szenarien mentalitätshistorischer Sicht bleibt von dem Versuch, die Widersprüche der bürgerlich-individualistischen Wissenschaft aufzuheben, freilich nicht mehr als das Dokument einer Hoffnung und ein weiterer Beleg für den langen, unaufgeklärten, auch die politische Linke blockierenden Schatten der Technologien des klassischen Liberalismus. Jean Baudrillard formulierte in einem Essay mit dem Titel „Death of the Social“ die These, dass das „vergangene“, präpostmoderne Soziale durch den contrat social und zwei seiner Implikationen gekennzeichnet gewesen sei: Er regelte einerseits das Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft, andererseits jenes zwischen Individuellem und Sozialem.13 Aus der Sicht des Gouvernementalitätskonzepts handelt es sich bei der ersten Relation darum, dass die liberale Rationalität einen Bereich kollektiver Sicherheit definierte, der vom Staat im Namen und in Vertretung der Bürger verwaltet wurde und von Risikoübernahmen (wie der Sozialversicherung) über gesetzliche Maßnahmen bis zur Durchsetzung entsprechender Verbote und Strafen durch eine von der Gesellschaft finanzierte Polizei reichte.14 Das zweite von Baudrillard genannte Verhältnis betrifft, in den Worten Foucaults, die Bestimmung dessen, „was öffentlich und was privat ist, was staatlich ist und was nicht staatlich ist“15, also Fragen der sozialen Verantwortung und den Aspekt der politischen Teilhabe an einer selbstbestimmten „Zivilgesellschaft“ oder „kritischen Öffentlichkeit“. Hier wird einmal mehr deutlich, dass auch das jeweilige „Regieren des Selbst“ ein soziales Szenario darstellt. Und eine der wichtigsten Selbsttechnologien der klassisch-liberalen Rationalität brachte den Bürger, den citoyen hervor, der sich in eine Matrix kollektiver, wechselseitiger Verpflichtung in einen das Nationale überdachenden Raum des Sozialen einschrieb. Niklas Rose zufolge deute vieles darauf hin, dass das Soziale oder die Gesellschaft, wie man sie bis ins 20. Jahrhundert verstand, zunehmend an Selbstverständlichkeit verliere, und dass auch jene Wissensform, die sie hervorgebracht und über lange Zeit bestätigt habe – die Soziologie und weitere Sozialwissenschaften – eine „Identitätskrise“ erlebe.16 Die aktuellen Neustrukturierungen des Neoliberalismus veränderten die Techniken des Regierens insofern, als das Soziale als Bezugsgröße und Argument an Bedeutung einbüße und durch das Prinzip der „community“ mit seiner mehrdimensio13 Jean Baudrillard: In the Shadow of the Silent Majorities. Or: „The Death of the Social“ and Other Essays, New York 1983; vgl. Rose, „Tod des Sozialen?“, S. 74. 14 Vgl. Rose, „Tod des Sozialen?“, S. 85. 15 Foucault, Geschichte der Gouvernementalität. Bd. I, S. 164. 16 Vgl. Rose, „Tod des Sozialen?“, S. 73.
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Müller: Einleitung nalen Raumstruktur einander überlappender, heterogener Netzwerke zurückgedrängt werde. LEA HARTUNG stellt mit der 1947 gegründeten Mont Pèlerin Society ein Beispiel für diese Transformation ins Zentrum ihres Beitrags, das sich beinahe als paradigmatisch bezeichnen ließe. Dies nicht nur, weil sie sich die der „Aktualisierung“ des Liberalismus und damit dem neoliberalen Kernprogramm verschrieb: dem Kampf gegen die Entmündigung des Individuums und die Zerrüttung der unternehmerischen Kreativität durch „Staatsinterventionismus“ und „Wohlfahrtsideologie“. Auch auf institutioneller Ebene war die Mont Pèlerin Society als einer der ersten internationalen think tanks zukunftsweisend: Netzwerkförmig und informell (nach dem o.g. community-Modell) organisiert, sub- wie suprastaatlich ausgerichtet und lokal wie global agierend, arbeitete sie bereits für jene Dialektik von Globalisierung und Partikularisierung, die den Handlungsspielraum des traditionellen ‚Regierens’ (im nicht-Foucaultschen Sinn) unterminiert. Dass die Mont Pèlerin Society dennoch auf ein klassisches Konzept von Regierung setzte und mit genau jenen Gegensatzpaaren von Markt und Staat, Freiheit und Zwang operierte, die Foucault aus der politischen und wissenschaftlichen Debatte verbannt wissen wollte, hebt die Bedeutung seiner Geschichte der Gouvernementalität noch einmal hervor. Diskussionen über die Vor- und und Nachteile des Sozialstaats oder die „Ökonomisierung des Politischen“ verfehlen die Herausforderung der Gegenwart: Die Transformation der Logik und Verfahren des Regierens zersetzt die Angemessenheit vertrauter analytischer Kategorien und erfordert eine Adjustierung der politischen Epistemologie. Hierzu gehört nicht zuletzt, den modernen Staat mit seinem spezifischen Sozialen und Ökonomischen als Szenario zu rekonstruieren, das in einem Jahrhunderte währenden Prozess erst möglich gemacht werden musste, um real zu werden. Auch wenn es zu bedenken gilt, dass die Technologien, die dieses Mögliche wahrscheinlich machten, im Denken gerne beständiger sind als in der Realität der „glokalen“, neoliberalen Restrukturierung.
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Gesteuerte Entwicklungen. Lebensläufe und Laufbahnen in Franz Kafkas Der Verschollene LUCIA IACOMELLA
„Jeder Mensch ist eigentümlich und kraft seiner Eigentümlichkeit berufen zu wirken, er muß aber an seiner Eigentümlichkeit Geschmack finden. Soweit ich es erfahren habe, arbeitete man sowohl in der Schule als auch zuhause darauf hin die Eigentümlichkeit zu verwischen.“1 Franz Kafkas Fragment aus dem Jahre 1916 handelt zunächst sehr allgemein von dem, was man den „anthropologischen Spielraum der Moderne“ nennen könnte. Nebenbei betrifft es Geschmacksfragen und damit auch sein eigenes Schreiben. Zuletzt weist es sich als eine Mutmaßung darüber aus, was Institutionen wie die Schule oder die Familie mit ‚eigentümlichen Menschen’ veranstaltet haben – eine Mutmaßung, die ihrerseits Folgen haben muss für die Erzählpoetiken um 1900. Um Kafkas Notiz zu verstehen, ist ein Blick auf die institutionelle ‚Verwischung’ von Eigentümlichkeit ebenso nötig wie ein solcher auf deren Implikationen für die narrative Gestaltung von Individualität. Daher sollen hier zunächst ein paar Anmerkungen über jene Figur vorausgeschickt werden, die seit 1835, und zwar seit Konzeption der Sozialen Physik des belgischen Statistikers Adolphe Quételet, das Gegenprogramm zu jeglicher Form der Eigentümlichkeit darstellt: der sozialstatistisch produzierte Durchschnittsmensch.2
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Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, in: Born, Jürgen/Neumann, Gerhard/Pasley, Malcolm/Schillemeit, Jost (Hg.): Franz Kafka. Kritische Ausgabe der Schriften und Tagebücher in 15 Bänden, Frankfurt a.M. 2002 [im Folgenden: KKA + Bandsigle], S. 7. Vgl. Quételet, Adolphe: Über den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten oder Versuch einer Physik der Gesellschaft, Stuttgart 1858, S. 20.
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Soziale und ökonomische Szenarien
Wie aus Zahlen Durchschnittsmenschen werden Zur Formulierung seiner Theorie der Mittelwerte wandte Quételet zum einen Theoreme aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Datenmaterial der Sozialstatistik an, zum anderen fundierte er seine Untersuchung auf das sogenannte „Gesetz der großen Zahlen“3. Die Bedeutung der Theorie der Mittelwerte und der Arbeit Quételets im Allgemeinen lässt sich erst vor dem Hintergrund der Emergenz von Menschenmassen und im Kontext sozialstatistischer Techniken bestimmen, die ihrer Verwaltung und Steuerung dienen sollten. Mit seiner Theorie entwickelte er eine eigene Methodik der Beobachtung, ein Programm sozialer Intervention und zugleich eine Art statistischer Anthropologie, die mit Figuren und Fiktionen arbeitet. Der homme moyen ist nämlich Quételet zufolge ein „fingiertes“ und „abstraktes Wesen“, dessen Wahrnehmung nur durch die Augen der Wissenschaft möglich ist.4 Unter den relevanten Aspekten, die mit der Herausarbeitung dieses statistischen Gegenstandes verbunden sind, lassen sich hier besonders zwei hervorheben. Die statistische Erzeugung des Durchschnittsmenschen geht erstens mit einem Abstraktionsverfahren einher, das auf Selektion, statistischer Kodierung und gewissen Techniken der Evidenzproduktion beruht, um damit zuletzt zum Effekt einer Homogenisierung und einer Verdichtung verstreuter Phänomene und heterogenen Datenmaterials zu gelangen. Diese Figur übersetzt Abstraktion in Anschauung und zeichnet sich zugleich durch ein hochgradig metaphorisches Potenzial aus. Denn wenn, auf einer rhetorischen Ebene, eine der metaphorischen Funktionen gerade darin liegt, überkomplexe Gegenstände zu erfassen, dann kann wiederum der mittlere Mensch als Metapher eines Wissens vom Sozialen gelten. Doch nicht nur spezifische Rhetoriken, auch etliche grafische Verfahren charakterisieren diese Wissensproduktion. Schließlich wird die ‚Fehlerkurve‘ der Sozialstatistik zum Darstellungsmedium der Gesellschaft, indem sie soziale Zusammenhänge zuerst produziert und dann sichtbar und letztlich regulierbar macht. Die Linie der statistischen Kurve zeichnet effektiv die Operationalisierung des Vielfältigen und Zufälligen nach und konkretisiert die Verbindung zwischen dem realen Zahlenmaterial und seiner fiktiven bzw. ästhetischen ‚Kon-Figuration‘. Sie produziert ein Wissen von der Gesellschaft, generiert damit allererst die Gesellschaft als epistemisches Objekt, um sie – mit Blick auf ihre Möglichkeitsspielräume – verwalten zu können. Der zweite Aspekt be3 4
Quételet, Adolphe: Soziale Physik oder Abhandlung über die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen. 2 Bde., Jena 1914/1921, Bd. I, S. 281. Vgl. Quételet, Adolphe: Soziale Physik (1914/1921), S. 165; und Ders.: Zur Naturgeschichte der Gesellschaft, Hamburg 1856, S. 75.
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Iacomella: Gesteuerte Entwicklungen trifft die Tragweite des statistischen Durchschnittsmenschen als prominent operative Größe. Denn die Funktion solch einer Figur beschränkt sich keinesfalls nur auf Aussagen über gesellschaftliche Zusammenhänge. Vielmehr zeigt sie sich zugleich rückwirkend durch ihre Orientierungsfunktion bei der Normalisierung des Individuums. Sei es in seiner bis zur Zeit um 1900 herausgebildeten „protonormalistischen“ Variante, d.h. gekennzeichnet durch die genaue Fixierung der Normalitätszone, sei es in seiner im Laufe des 20. Jahrhunderts etablierten „flexibelnormalistischen“ Form, nämlich geprägt durch die Dynamisierung der Normalitätsgrenzen – in beiden Fällen ermöglich die Feststellung bzw. Festlegung eines Mittelwertes und die sich um ihm gruppierende statistische Mitte eine basale Unterscheidung von Konstitutionen, eine grundsätzliche Diskriminierung des sozialen Feldes und damit die Bestimmung von Normalität und Abweichung.5 Statistische Erfassungen, flächendeckende Verdatungen und Wahrscheinlichkeitsprognosen gehören, wie Michel Foucault gezeigt hat, zu den Techniken der Normalisierung und somit zum Instrumentarium moderner Gesellschaften. Und in diesem Feld dient der Durchschnittsmensch als Bindeglied zwischen der ‚gouvernementalen‘ Entität der Bevölkerung und der ‚epistemischen‘ des wissenschaftlich positivierten Menschen.6 Von diesen beiden Prämissen ausgehend, soll im Folgenden herausgearbeitet werden, wie Kafka in seinem ersten Romanfragment, dem Verschollenen, diese fiktive, aus der Anwendung statistischer Praktiken resultierende imaginäre Größe in seinen Erzählprozess aufnimmt, und wie sich ihre ästhetische und poetologische Dimension in diesem Text entfaltet. Insbesondere scheint diese für moderne Normalisierungspraktiken zentrale und grundlegende Figur in Bezug auf jene literarische Gattung von Interesse zu sein, die per definitionem die graduelle Formierung einer Persönlichkeit verhandelt: den Bildungsroman. Kafka bedient sich etlicher Elemente dieser Romangattung, doch erzählt er von einer Entwicklung, die weniger autonom vonstatten geht, als dass sie vielmehr institutionellen Kräfteverhältnissen unterworfen ist. Über die Metaphorik einer vorgezeichneten Laufbahn entwirft er Szenarien und Konstellationen von Normalisierung und Subjektivierung: Nicht mehr die Bildung, sondern, wie man sagen könnte, die Laufbahn und Karriere beschreibt adäquat die moderne Entwicklung (oder auch Steuerung) des normalisierten 5 6
Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus, Opladen 2. Auflage 1999, S. 75ff. Vgl. Foucault, Michel: Sicherheit, Bevölkerung, Territorium. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Aus d. Französischen v. Claudia Brede-Konersmann u. Jürgen Schröder. Hg. v. Michel Sennelart, Frankfurt a.M. 2006, S. 120.
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Soziale und ökonomische Szenarien Menschen. Schon in dieser ersten Auseinandersetzung Kafkas mit der großen Form des Romans geht es nicht nur um Praktiken der Disziplinierung und Selbststeuerung, sondern auch – oder sogar in erster Linie – um jene Instanzen und Institutionen, die das (soziale) Leben selbst formen und regulieren.
„Für schlechte Lebensläufe gibt es keine Entschuldigung“ 7: Von der Bildung zur Karriere Als Vorlage für den Verschollenen dienten Kafka v.a. die um und nach 1900 vielgestaltigen deutschsprachigen Amerikadiskurse. In diesen verwoben sich mehrere Traditionsstränge des Mythos von der Neuen Welt, etwa die Vorstellung von einem primitiven und goldenen Zeitalter gegenüber demjenigen der Barbarei und der Kulturlosigkeit. Vor allem aber galt Amerika als Projektionsfläche für jene Phänomene, die den Umbau der europäischen Gesellschaften betrafen.8 Es diente als Leit-Imago „für alle Begleiterscheinungen der zivilisatorischen Moderne, für technologischen Fortschritt, Kapitalismus, Industrialisierung, Urbanisierung und moderne Massenmedien, – kurz: für die sozialen und kulturellen Umwälzungen, die sich vor der eigenen Haustür ereigneten“9. Gerade mit diesem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ und mit diesem „Land der Zukunft“ vor Augen, wie zwei 1902 und 1903 erschienene Reiseberichte betitelt sind, verfasste Kafka nicht nur einen Roman, in dem Menschen, Verkehrs- und Nachrichtentechnologien eng miteinander verzahnt sind, vielmehr stellte er – als Experte gouvernementaler Modernisierungsanstrengungen –10 hier regelrecht literarische Versuche in Sachen Verdurchschnittlichung und Normalisierung an. Auf den ersten Blick entspricht die Grundstruktur des Verschollenen der eines Bildungsromans, jenes Genres, das in der Tradition für den Versuch steht, das oder, besser gesagt, ein ‚Leben zu erzählen‘, die graduelle Entwicklung und somit den einzigartigen, eigentümlichen Bildungsgang eines Individuums zu beschreiben und 7
Im Verschollenen heißt es programmatisch: „Für schlechtes Laufen gibt es keine Entschuldigung“ (KKAV, S. 286). 8 Vgl. Heimböckel, Dieter: „‚Amerika im Kopf’. Franz Kafkas Roman Der Verschollene und der Amerika-Diskurs seiner Zeit“, in: DVJS 77 (I) (2003), S. 130-147, hier S. 132. 9 Ebd., S. 136. 10 Vgl. hierzu Kafka, Franz: Amtliche Schriften. Hg. v. Klaus Hermsdorf u. Benno Wagner, Frankfurt a.M. 2004; Wagner, Benno: Der Unversicherbare. Kafkas Protokolle, Siegen 1998 [unveröffentl. Diss.]; Ders.: „Poseidons Gehilfe. Kafka und die Statistik“, in: Koch, Hans-Gerd/Wagenbach, Klaus (Hg.): Kafkas Fabriken. Marbacher Magazin 100, Marbach 2002, S. 109-130.
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Iacomella: Gesteuerte Entwicklungen nachzuzeichnen. Von seinen Eltern aus Europa fortgeschickt, nachdem er von einem Dienstmädchen verführt worden war, ermöglicht für den jungen deutschen Einwanderer Karl Roßmann die Reise nach Übersee jedoch alles andere als eine Neugeburt, einen glücklichen Neuanfang unter amerikanischen Verhältnissen. Vielmehr gibt sie den Auftakt für einen unablässigen sozialen Abstieg. Der klassische Konflikt zwischen dem Helden und der Gesellschaft, zwischen den sozialen Normen und den persönlichen Neigungen der Hauptfigur im Bildungsroman und die darauffolgende Formierung einer Persönlichkeit und Individualität wird im Verschollenen nach ‚Außen‘ verlagert und ausschließlich auf der Ebene des beruflichen Lebens und der Sozialität verhandelt. Karl Roßmanns Entwicklung betrifft ihn nicht als ‚ganzen Menschen‘ und als autonome Person, vielmehr wird über sein ‚Schicksal‘ in einer Umwelt der Institutionen verfügt. Wenn, wie es Gerhard Neumann in seiner Parallellektüre von Goethes Wilhelm Meister und dem Verschollenen formuliert hat, im herkömmlichen Bildungsroman der Gang durch die Welt mit dem Gang zu sich selbst zusammenfällt und auf eine freie persönliche Entwicklung hinweist, dann lässt sich in Kafkas Roman eine Umkehrung dieses metaphorischen Komplexes der Wege und der Lebensläufe beobachten.11 Der Metapher des Lebenswegs, die die Geschichten und die Erfahrungen eines Lebens zusammenfasst und für eine kontinuierliche, progressive, wenn nicht gar geradlinige Entfaltung des Individuums steht, wird in eine Erzählung von Laufbahnen, von – sei es festgeschriebenen, sei es flexiblen – Karrieren umgewandelt. In Kafkas literarischem Versuch, das Leben des Einzelnen in und aus der homogenen Vielfalt, aus der, wie man sagen kann, uniformen Mannigfaltigkeit der Massengesellschaft zu schreiben, kommt zwar auch hier die herkömmliche Metaphorik der Wege zum Zuge, doch ist sie nicht nur auf die soziale Ebene verlagert, sie ist außerdem nur zu Beginn ungebrochen, als der Kapitän Karl Rossmann eine „glänzende Laufbahn“ prognostiziert.12 Was der Roman schildert, ist letztlich ein Entwicklungsgang, der gerade im Dementi dieser Prognose besteht. Die klassische Topik des allmählich beschrittenen singulären Lebensweges ist nach den Vorzeichen der Sozialstatistik und ihrer Verwaltungspraktiken zu einer vorgezeichneten Laufbahn geworden, die den normalisierten Lebenslauf eines
11 Neumann, Gerhard: „Der Wanderer und der Verschollene: Zum Problem der Identität in Goethes Wilhelm Meister und in Kafkas Amerika-Roman“, in: Stern, J.P./White, J.J. (Hg.): Paths and Labyrinths. Nine Papers from a Kafka Symposium, London 1985, S. 43-65, hier S. 43. 12 Vgl. KKAV, S. 37.
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Soziale und ökonomische Szenarien normalisierten Subjekts in einer genauso normalisierten Masse beschreibt. Die Metaphorik der Laufbahn lässt sich jedoch im Verschollenen nicht bloß auf einer thematischen Ebene beobachten. Schließlich prägt und organisiert sie die Struktur des Romans, sie übernimmt eine spezifisch poetologische Funktion in der Romankonzeption selbst. Gerade in diese Richtung hat Joseph Vogl argumentiert, indem er auf jene Gegenüberstellung zwischen Karl Roßmanns Vorstellung von einer „gesellschaftlichen ‚Laufbahn‘“ und „der zyklischen Form des Geschehens“ hingewiesen hat. Es ist dieser Widerstreit, der „den Protagonisten stets an den Nullpunkt seiner sozialen Existenz zurückführt“, sodass sich der Roman durch die konstante Unterbrechung von Entwicklungslinien, durch die Blockierung von Erkenntnisprozessen, durch eine wiederholte serielle Ordnung auszeichnet.13 Durchaus abgeleitet von der Tradition des Entwicklungsromans, bietet die Struktur des Verschollenen mit ihren Abbrüchen und Neuanfängen gerade das Gegenprogramm zu einer „stetigen Entwicklung, Durchgestaltung und Bildung der Protagonisten.“14 Innerhalb solch einer Konstellation bildet die Laufbahn – wie man sagen könnte – nicht nur die imaginär vorgezeichnete Linie, entlang derer sich die Handlung nach und nach strukturiert und gleichzeitig wiederholt, seriell zum sozialen Abstieg, zum Scheitern Karl Roßmanns führt. Vielmehr gewinnt sie somit im Verschollenen, analog zur Normal- oder Fehlerkurve in der statistischen Verteilung, eine Art diagrammatische Funktion, indem sie einerseits – nach Art einer Schicksalsmetapher – das (normalisierte) Leben Karl Roßmanns nach- bzw. vorzeichnet, andererseits aber gerade jenes scheinbar individuelle Leben als normalisiertes Leben, als normale Geschichte in der sozialstatistischen Ordnung der Masse beschreibt. Die Metapher der Laufbahn steht für keine singuläre Entwicklung, vielmehr verleiht sie dem normalistisch gesteuerten Schicksal Karls Sichtbarkeit. Die Aussichten auf eine erfolgreiche Zukunft in den neuen amerikanischen Verhältnissen täuschen eine Freiheit vor, die sich als trügerisch erweist, ist diese doch, wie Foucault beobachtet hat, die Bedingung der Möglichkeit von Macht selbst.15 Der Affe Rotpeter, ein echter Spezialist in Sachen Laufbahnen, Richtungen und Richtlinien, wird es im Bericht für eine Akademie Jahre später, 1917, in seinem Plädoyer für einen Ausweg sehr deutlich auf den Punkt 13 Vgl. Vogl, Joseph: Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München 1990, S. 149. 14 Ebd., S. 150. 15 Vgl. Foucault, Michel: „Das Subjekt und die Macht“, in: Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul (Hg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1987, S. 243-261, hier S. 255.
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Iacomella: Gesteuerte Entwicklungen bringen: „[M]it Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzu oft.“16 Dort wo – in den Worten Rotpeters – „alles offen liegt“, wo „nichts zu verbergen“ ist, d.h. dort, wo die statistische Ordnung mit ihren genauen Beobachtungen, Berechnungen und Prognosen die menschlichen Handlungen und Handlungsräume überlagert hat, bleibt für den Einzelnen nur die „freie Wahl“ der SelbstNormalisierung als möglicher Weg und Ausweg.17 Ausgerechnet darin, und zwar in jenem unverzeihlichen Missverständnis, in dem Versuch, sich diesem eisernen Gesetz der Normalisierung zu entziehen, in seinem zumindest zu Beginn zuversichtlichen Auftreten als Individuum mit einer unverwechselbaren Geschichte, liegt, im Gegensatz zu den optimistischen Prognosen des Kapitäns, Karls unglücklicher Abstieg in Amerika beschlossen. Bewegt von dem Wunsch, sich zu verbessern, sich zu entwickeln, und sich somit von der homogenen Gruppe, von der nivellierten Masse abzusondern und aus ihr herauszuragen, begehrt Karl gegen diese moderne Verdurchschnittlichung auf, scheitert aber offensichtlich. Ein Beispiel dafür stellt seine fleißige Beschäftigung mit dem Lehrbuch für kaufmännische Korrespondenz dar: Karl lernt nachts unter der Bettdecke und erfreut sich der Vorstellung, ein positives Vorbild für die anderen Liftjungen zu sein, die stattdessen schlafen oder Detektivromane lesen.18 Dabei wird ausgerechnet der sonst immer tüchtige Karl Roßmann derjenige sein, der gnadenlos aus dem Hotel entlassen wird, nachdem er wegen seines alten Bekannten Robinson ein einziges Mal seinen Posten kurz verlassen hat. Schließlich – so das Argument des strengen Oberportiers – könnte gerade er als negatives Beispiel die „ganze Bande“ der Liftjungen verderben.19 An dieser Stelle inszeniert Kafka das Gegenprogramm zu jenem Leistungsprinzip, auf dem die Erfolgsgeschichte Rotpeters beruhte und das im Roman von der Figur des Onkels als self-made man, als jemand, der es „weit gebracht“ hat, verkörpert wird.20 Und in diesem Kapitel, das „Der Fall Robinson“ überschrieben ist, verfasst Kafka eigentlich die Fallgeschichte Karl Rossmanns: die exemplarische Geschichte eines Einzelnen, in der ein kontingenter Fehler, ein (weiterer) peinlicher Unfall als unverzeihlicher Sündenfall und unabsehbar tiefer Fall Karls stilisiert, mit der aber letztlich nur das statistisch normale Phänomen des sozialen Abstiegs individualisiert wird. Permanent eingespannt zwischen juridisch-normativen und normalistisch organisierten Ordnungen, 16 17 18 19 20
KKAD, S. 304. Vgl. ebd., S. 302. Vgl. KKAV, S. 203f. Vgl. ebd., S. 231. Vgl. ebd., S. 67.
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Soziale und ökonomische Szenarien verfehlt Karl letztendlich seine Aufgabe, seine eigentliche notwendige Leistung, die in der steten Orientierung an der vorgezeichneten Bahn der Normalität und dadurch der steten Selbststeuerung besteht. In diesem Sinne scheitert er, wenn man so will, an einem unangemessenen Anspruch auf Eigentümlichkeit, auf Selbstbehauptung, der ihn dazu führt, überschüssige, unnötige Informationen abzuliefern, für alles die eigene Verantwortung, persönliche Gründe bzw. zureichende Gründe zu suchen – an einer alteuropäischen Hermeneutik der Tiefe und des entfaltet Persönlichen also.
„Das Theater von Oklahama“: Wie aus Lügen Personen werden Dem offenbar unaufhaltsamen sozialen Abstieg Karl Roßmanns, jenem – statistisch gesprochen – elenden Herausfallen aus dem Bauch der Normalkurve setzt Kafka im zweiten Schlussfragment „Das Theater von Oklahama“ ein Ende. Zumindest dem Anschein nach. Denn Kafka erzählt hier von der Geburt der Gemeinschaft aus der Masse, ein Geschehen, das durch eine eigentümliche Aufnahmeprozedur in Gang gebracht wird. Die Theater-Episode zeichnet sich zunächst durch einen unmittelbar ins Auge springenden idyllischen Aspekt oder besser: Prospekt aus, der für den Roman eine erlösende und beruhigende Wende verspricht.21 Als Fluchtpunkt für seinen – so Kafka in einem Brief an Felice Bauer vom 11. November 1912 – „ins Endlose angelegten“ Roman postiert Kafka nämlich auf dem Weg seines Helden jenes viel versprechende, obschon ominöse Werbeplakat, das eine klare und konkrete Antwort auf Karls Sorgen zu geben scheint.22 Dort heißt es:
21 Auf die Relevanz von Arthur Holitschers Buch Amerika. Heute und Morgen von 1912 für die Theater-Episode wurde schon von der Forschung mehrfach hingewiesen. Vgl. hierzu: Wolfgang Jahn, in: Binder, Hartmut (Hg.): Kafka-Handbuch in zwei Bänden, Stuttgart 1979, Bd. 2, S. 415; sowie Stach, Reiner: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt a.M. 2002, S. 76; Alt, Peter-André: Franz Kafka. Der ewige Sohn, München 2005, S. 370. Der Name „Oklahama“ ist der direkten Übernahme eines Schreibfehlers zu verdanken, der auf eine Fotografie im Buch zurückgeht. Das betreffende Bild zeigt eine Gruppe weißer Männer neben einem erhängten Schwarzen und ist lapidar mit dem zynischen Kommentar „Idyll aus Oklahama“ versehen. Das Fragment lässt vermuten, dass sich Kafka hier nicht nur des falsch geschriebenen Namens bedient hat, sondern auch den Begriff des Idylls – gerade vor dem Hintergrund der handfesten Realität sozialer und v.a. rassistischer Exklusion – beim Wort genommen hat. (Vgl. Holitscher, Arthur: Amerika. Heute und morgen. Reiseerlebnisse, Berlin 1912, S. 367.) 22 Vgl. KKAV, App., S. 54.
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Iacomella: Gesteuerte Entwicklungen „Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Teater in Oklahama aufgenommen! Das große Teater von Oklahama ruft Euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt Euch, damit Ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!“23
Und tatsächlich hält die bürokratische Maschinerie des Theaters ihr hoffnungsvolles Versprechen: Durch ungeschmälerte Inklusion, d.h. durch den Verzicht auf das Prinzip partieller Exklusion oder, besser gesagt, auf strenge Kriterien der Selektion wird jeder aufgenommen, wird für jeden ein Ort innerhalb der neu entstehenden sozialen Gemeinschaft bestimmt. Kerstin Stüssel hat in dieser Hinsicht auf die Unmöglichkeit hingewiesen, eine einzige Referenz für die TheaterEpisode zu bestimmen, und stattdessen gezeigt, wie sich hier mehrere Diskurse kreuzen und überlagern.24 Doch scheint jenseits der Diskurse, deren Spuren sich hier sichern lassen, gerade die Frage nach dem Charakter jenes seltsamen Theaters von Oklahama und v.a. nach seinen merkwürdigen Verwaltungspraktiken von besonderem Interesse. Es lässt sich nämlich zuerst eine schlichte, aber entscheidende Tatsache festhalten: Karl Roßmann, der keine ‚Legitimationspapiere‘ bei sich hat und sich deswegen nicht ausweisen kann, behauptet einfach, „Negro“ zu heißen und markiert damit dezidiert die bewusste Wahl einer Außenseiterposition. Er durchläuft zwar die Etappen einer komischen, weil rein formal geführten Aufnahmeprozedur und bekommt bzw. gibt sich eine – im strengen Sinne ‚unglaubwürdige‘ – neue Identität. Wie an anderen Stellen im Verschollenen steht hier die Begegnung zwischen dem Romanprotagonisten und einer jener wuchernden Verwaltungsinstitutionen im Vordergrund, die Kafka im Gegensatz zu seinen späteren Romanen weder in düsteren Gerichtsgebäuden noch in der Umgebung eines unzugänglichen Schlosses, sondern unter freiem Himmel und auf einer Laufbahn für Pferderennen inszeniert hat. Mit Rüdiger Campe könnte man Kafkas Verschollenen als einen „Institutionenroman“ bezeichnen, dessen Merkmale sich besonders
23 Ebd., S. 387. 24 Die möglichen Bezüge reichen vom allgemein-religiösen oder circensischen Aspekt bis hin zum kriegsrekrutierungstechnischen, dem zionistischen und der versicherungspropagandistischen Diskurs. (Vgl. Stüssel, Kerstin: In Vertretung. Literarische Mitschriften von Bürokratie zwischen früher Neuzeit und Gegenwart, Tübingen 2004, S. 132-133.)
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Soziale und ökonomische Szenarien deutlich im Theater-Fragment zu erkennen geben.25 Hat Campe diesen Begriff in Bezug auf den Prozeß und das Schloß geprägt, so wäre schon das erste Romanfragment Kafkas zu jener Gruppe von Romanen zu zählen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine narrative Reflexion institutioneller Gründungs- und Verfallsprozesse ermöglicht haben. Obschon oft auf den ersten Blick im Gewand biografisch modellierter Romane, handelt es sich laut Campe um Erzähltexte, die „ihren Formzusammenhang nicht am Leben der Protagonisten, sondern am Fortbestehen und Zerfall, am Dasein von sub- und prästaatlichen Institutionen haben. Von Institutionen freilich, die im Gegenzug das Leben von Menschen einrichten.“26 Nicht also die Erzählung eines sich entwickelnden Lebens, nicht die erzählte Entfaltung einer Persönlichkeit durch die Stationen des Lebens, sondern eine institutionenerzeugte Lebensgeschichte verleiht dieser Romantypologie ihre Struktur und ihre Form. Dem schließt sich Joseph Vogl an, wenn er in Bezug auf Kafkas Prozeß schreibt, dass „es sich hier allerdings nicht einfach um ein aufgeschriebenes Leben handelt, dass vielmehr die Aufschreibung des Lebens selbst verhandelt wird [...].“27 Im Vordergrund stehen hier also jene Verfahren, Mechanismen und Verwaltungspraktiken, die das Leben instituieren, und nicht zufällig spielen in der Aufnahmeprozedur gerade der Schreibakt und der Schreiber die entscheidende Rolle. Dieser ist nämlich derjenige, der seine Macht ausspielt, indem er, wider das Zögern des ihm vorgesetzten Kanzleileiters, Karls kühne Behauptung einfach sanktioniert und ihn mit einem Federstrich für aufgenommen erklärt.28 Der Schreiber verkörpert in dem Aufnahmeverfahren die letzte Machtinstanz. Die seine Geste charakterisierende Willkür scheint ausgerechnet die offenkundige Unglaubwürdigkeit von Karls behaupteter Identität zu annullieren. Indem die offensichtliche Diskrepanz (Verschiebung) zwischen dem angegebenen und angeblichen Namen und dem Aussehen Karl Roßmanns einfach unterlaufen bzw. nicht weiter überprüft oder problematisiert wird, lässt Kafka die in der Identifikationspraxis eingeschriebene fiktive Komponente in aller Deutlichkeit zutage treten. Er offenbart sie zuletzt als Kern all jener Erzählakte, die Personen allererst vor 25 Vgl. Campe, Rüdiger: „Kafkas Institutionenroman. Der Prozeß, Das Schloß“, in: Ders./Niehaus, Michael (Hg.): Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider, Heidelberg 2004, S. 195-208. 26 Campe, Rüdiger: „Robert Walsers Institutionenroman Jakob von Gunten“, in: Behrens, Rudolf/Steigerwald, Jörn (Hg.): Die Macht und das Imaginäre, Würzburg 2005, S. 235-250. 27 Vogl, Joseph: „Lebende Anstalt“, in: Balke, Friedrich/Ders./Wagner, Benno (Hg.): Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka, Zürich/Berlin 2008, S. 21-33, hier S. 24. 28 Vgl. KKAV, S. 402f.
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Iacomella: Gesteuerte Entwicklungen Institutionen auftreten lassen, wahrnehmbar, verwaltbar und steuerbar machen. Karl Roßmanns Erfahrung mit Institutionen prägt freilich schon das gesamte erste Kapitel und lässt sich dann den ganzen Roman hindurch beobachten. Am Anfang steht die Begegnung Karls mit unterschiedlichen Machtformen bzw. institutionelle Ordnungen, die nicht nur nach verschiedenen Prinzipien strukturiert sind, sondern als alte und neue Machtformen (etwa ‚Disziplinarmacht‘ und ‚juridische Macht‘) aufeinandertreffen. Der Kapitän, die Hafenbehörde und nicht zuletzt der Onkel – und Staatsrat – Jakob stellen gerade am Anfang des Romans eine Art Ballung unterschiedlicher institutioneller Ordnungen dar. Entscheidend für die Handlung und für das Schicksal des jungen Karl Roßmanns ist allerdings die zufällige und glückliche Begegnung mit dem Onkel Jakob, die ihm das statistisch nicht unwahrscheinliche Stranden „in einem Gässchen im Hafen von Newyork“29 erspart. Jenem für den Normalfall unspezifischen Zukunftshorizont setzt Kafka eine vertraute familiäre Figur entgegen und greift somit erneut auf ein typisches Element des Familienund Entwicklungsromans zurück. Dennoch handelt es sich auch hier um eine Kontaminierung zwischen dieser Erzählform und der des Institutionenromans. Denn der Onkel nimmt in der Konstellation die Schlüsselrolle ein, er befindet sich genau an der Schnittstelle zwischen Familie und Institution. Auf der einen Seite steht er für die familiäre Bande, er stellt die letzte Verbindung zur Familie bzw. die letzte Familieninstanz dar, während er auf der anderen Seite die Institution selbst zuerst als Staatsrat aber v.a. als strenge pädagogische Instanz verkörpert. Genau in seiner Funktion als ‚quasiVater‘, die die Rolle des Onkels im Prozeß antizipiert, bewegt er sich in und außerhalb der Familie. Er ist Agent der Familie und gleichzeitig Agent der Institution.30 Gerade in seiner Funktion als Familienagent verfügt er über Informationen zu Karls Biografie und versteht es, selbst aus fehlerhaften Details „eine große Geschichte zu machen“ und ein künftig zirkulierendes Narrativ zu erzählen.31 Um die Figur des Onkels gruppiert Kafka an dieser Stelle alles, was sich über Karl Roßmanns Vergangenheit, über seine persönliche Geschichte erfahren lässt. Mit der Wiedergabe der peinlichen und verhängnisvollen Verführungsgeschichte wird der Onkel als Familienagent zum Erzähler, genauso wie er als pädagogische Instanz, als Agent der Institution Karl die Zukunft bahnt, d.h. das Szenario der Sozialität erschließt.32 Er ist letztlich derjenige, der durch seine Er-
29 30 31 32
Ebd., S. 40. Vgl. Campe: „Kafkas Institutionenroman“ (2004), S. 203. Vgl. KKAV, S. 43. Vgl. hierzu KKAV, S. 39-41.
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Soziale und ökonomische Szenarien zählung die Möglichkeit der Institutionalisierung des Lebens eröffnet, das Leben in die Bahn der Institution zieht. Allgemein lässt sich beobachten, wie die Begegnung mit institutionellen Instanzen immer wieder nach Momenten der Identifizierung verlangt und gleichzeitig Momente der Identifizierung selbst produziert, sei es durch komplexere Narrative, sei es durch die einfache Vorlage von Ausweispapieren bzw. die Benennung des Eigennamens. Man kann hier vielleicht von einer doppelten Strategie der Individualisierung sprechen, des Umgangs mit jenen – im Laufe des Romans entweder von anderen geforderten oder von Karl selbst einem Machtvertreter regelrecht aufgedrängten – „Requisiten der Identifikation“, die durch den gesamten Roman kursieren.33 Anfangs beharrt Karl noch sowohl auf seinem Namen als auch auf seinen aus Europa hergebrachten Medien der Identifikation. Jedoch ist für ihn der Eigenname nur bei der ersten Begegnung mit dem Onkel, also innerhalb eines noch familiären Kontexts, ausschlaggebend. Im Verlauf des Romans sorgt die Namensnennung zunächst nur für Desinteresse, führt dann zur Irritation und am Ende gar zur kompletten Namensänderung.34 Dagegen spielen die Ausweispapiere, wo der Eigenname zu einer administrativen Signatur wird, eine immer größere Rolle, und Karl gerät sogar in polizeiliche Schwierigkeiten, als er sie nicht vorweisen kann.35 Genau dieser Übergang, diese Umkehrung im Verhältnis zwischen Eigennamen bzw. eigener Geschichte und administrativer Signatur steht im Mittelpunkt des Theater-Fragments und führt damit die fiktionale Komponente der Institutionen und v.a. ihrer Verwaltungstechniken verstärkt vor Augen. Im Gegensatz zur herkömmlichen Funktion des Theaters als Fluchtraum, als Ort, an dem sich die Kunst gegenüber dem Leben behaupten kann, korreliert Kafka Lebenswelt und Theater auf doppelte Art und Weise, indem er in dem Theater-Fragment gerade jene Praktiken sozialer Kontrolle und Disziplin inszeniert, die eben dort keinen Platz haben sollten.36 Karl Roßmanns Identität wird somit nicht nur durch den offenen, wörtlich zu nehmenden Verweis auf das Theater als Ort der Fiktion, der Möglichkeiten, der Aufgabe des Eigenen für die Dauer 33 Kremer, Detlev: „Verschollen. Gegenwärtig. Franz Kafkas Roman ‚Der Verschollene‘“, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Franz Kafka. Text und Kritik. Sonderband, München 1984, S. 238-253, hier S. 250. Christof Hamann weist auf den Eigennamen bis hin zur Namenswandlung hin, der im Laufe des Romans seine identifikatorische Funktion verliert. Vgl. Hamann, Christof: „Roßmanns Zerstreuung“, in: Bay, Hansjörg (Hg.): Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka, Freiburg 2006, S. 115-144, hier: 133f. 34 Vgl. KKAV, S. 76 u. S. 180. 35 Vgl. KKAV, S. 277ff. 36 Vgl. Kremer: „ Verschollen“ (1984), S. 249.
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Iacomella: Gesteuerte Entwicklungen der Aufführung verhandelt, sondern vielmehr wird sie durch jene schamlose Lüge Karls produziert, der selbst gegen jeden Anschein und jede Glaubwürdigkeit behauptet, „Negro“ zu heißen. Auch in diesem Fall verweigert Karl Roßmann genauere Auskünfte über seine Geschichte, doch beeinträchtigt das keinesfalls die Prozedur. Die seltsame Verwaltung des Theaters gibt sich mit unvollständigen und durchaus oberflächlichen Informationen zufrieden, sie operationalisiert die falsche Auskunft und verwandelt „Gesagtes in Gegebenes“.37 Kafka inszeniert die Begegnung zwischen dem Protagonisten seines Romans und der Verwaltung als ein Bewerbungsgespräch für das Theater, d.h. für den Ort der Travestie und der Fiktion schlechthin, und dies zudem am Rande einer Pferderennbahn, also dort, wo auf Möglichkeiten gewettet, wo diese verspielt oder mit ihnen gewonnen wird. Er verweist damit sowohl auf die fiktionale Komponente institutioneller Praktiken als auch auf ihre Funktion und Möglichkeit, Lebensläufe zu generieren. Damit verbindet er also exakt an diesem Ort Regierungspraktiken mit Literatur. In einem aufgesetzten, aber niemals abgeschickten Brief an den Direktor der Assicurazioni Generali Ernst Eisner aus dem Jahre 1909 - in dem es übrigens um die „schlechte Karriere“ Simon Tanners bzw. Robert Walsers und nicht zuletzt seiner selbst geht - entwirft Kafka eine aus dem Verschollenen wohlbekannte Szene. Dort heißt es: „Denken Sie doch, der Blick vom rennenden Pferde in der Bahn, wenn man seine Augen behalten kann, der Blick von einem über die Hürde springenden Pferde zeigt einem sicher allein das äußerste, gegenwärtige, ganz wahrhaftige Wesen des Rennbetriebs. Die Einheit der Tribünen, die Einheit des lebenden Publikums, die Einheit der umliegenden Gegend in der bestimmten Jahreszeit usw., auch den letzten Walzer des Orchesters und wie man ihn heute zu spielen liebt. Wendet sich aber mein Pferd zurück und will es nicht springen und umgeht die Hürde oder bricht aus und begeistert sich im Innenraum oder wirft mich gar ab, natürlich hat der Gesamtblick scheinbar sehr gewonnen. Im Publikum sind Lücken, die einen fliegen, andere fallen, die Hände wehen hin und her wie bei jedem möglichen Wind, ein Regen flüchtiger Relationen fällt auf mich und sehr
37 „Der fake“, so Bernhard Siegert mit Blick auf die bürokratischen Praktiken neuzeitlicher Migrationsbehörden, „ist nicht die Perversion des fact, die Ausnahme des Nichtigen oder Frivolen von der Regel des Referentiellen und Ernsthaften. Nein: Der fake haust im Inneren des fact. Das objektiv Gegebene ist nur Schein. [...] Registereinträge sind Erzählungen, die so tun, als seien sie weder Erzählungen noch Erfindungen, sondern die Sache selbst“ (Siegert, Bernhard: Passagiere und Papiere. Schreibakte zwischen Spanien und Amerika, München 2006, S. 78).
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Soziale und ökonomische Szenarien leicht möglich, daß einige Zuschauer ihn fühlen und mir zustimmen, während ich auf dem Grase liege wie ein Wurm.“38
Eine ‚schlechte Karriere‘ zu haben, heißt in diesem Brief, sich von der Normalität, von einer ‚guten Laufbahn’ abzusondern, plötzlich vom Pferd zu fallen und aus einer anderen Perspektive zu schreiben, also seine Eigentümlichkeit abseits von jedem Durchschnitt (und jeder Durchschnittlichkeit) zu behaupten. Dies wird hier als ein möglicher Lebensentwurf skizziert, der den Versicherungsangestellten Kafka zum Schriftsteller Kafka macht. Es sind also jene in der Wirklichkeit jederzeit wahrscheinlichen Unfälle und Abweichungen von der rechten Laufbahn, die in der Fiktion mit ihren erzählten Lebensläufen den Schein der Wahrheit entstehen lassen. Das Theater-Fragment zeichnet sich, so könnte man zusammenfassend sagen, durch die Überwindung jener humanistischen Perspektive aus, die auf den ersten Blick dazu tendiert, Karls soziale ‚Neugeburt‘ aus der Aufnahmeprozedur auf den Verlust des Eigennamens und der eigenen Vergangenheit, letztlich auf eine Entfremdung zu reduzieren.39 Schließlich kommt in ihm jene fiktive Komponente zum Zuge, die thematisch und poetologisch sowohl dem gesamten Gründungsakt der sozialen Gemeinschaft als auch der regelrechten Erzeugung ihrer Mitglieder durch die Institution zugrunde liegt. Wenn die Aufnahmeprozedur im Theater von Oklahama als Metapher sozialer Organisation zu lesen ist, dann lässt sich auch der Verweis auf das Pferderennen nicht so sehr als das Rennen selbst als vielmehr auf die Praktik der Wette verstehen, und zwar auf die gemeinsame Produktion von Gewinnchancen, die bei Aufgabe individueller Gewinnsansprüche und bei einer fortwährenden Neuverteilung letztlich allen zugute kommen werden. Es ist nicht zu übersehen, dass Kafka hier das Wettspiel in ein utopisches Gesellschaftsmodell bzw. in das Modell einer utopischen – wie es Ewald nennen würde – ‚Versicherungsgesellschaft’ verwandelt.40 Mit dieser Wendung werden ihre Verwaltungsinstrumente, die Statistik vorneweg, zur Fiktion und die Fiktion zu einer Utopie jener Verfahren selbst: zur Utopie der möglichen Eigentümlichkeit aller. Hierbei benötigt die neue Identität Karls keine Plausibilität im Sinne real existierender Menschen. Der Eigentümlichkeit eines jeden Menschen 38 Kafka, Franz: Briefe 1900–1912. Hg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a.M. 1999, S. 116. 39 Vgl. z.B. Hark, Sabine: „deviante Subjekte. Normalisierung und Subjektformierung“, in: Sohn, Werner/Mehrtens, Herbert (Hg.): Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft, Opladen 1999, S. 65-84, hier S. 66ff. 40 Vgl. Ewald, François: Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M. 1992.
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Iacomella: Gesteuerte Entwicklungen kann die Institution, zumindest die fiktive Institution, Raum geben, indem sie sie einfach ausstreicht, d.h. nicht in ihrer Plausibilität zum Aufnahmekriterium macht. Die fiktive oder besser fiktionale Verwaltung Kafkas gebiert keine Figuren des Durchschnittsmenschen, sondern nicht-wahrscheinliche, in diesem Sinne eben nichtdurchschnittliche Figuren – erst hier kommt jeder zu seiner Eigentümlichkeit und wirkt kraft ebendieser.
Literatur Alt, Peter-André: Franz Kafka. Der ewige Sohn, München 2005. Campe, Rüdiger: „Kafkas Institutionenroman. Der Prozeß, Das Schloß“, in: Ders./Niehaus, Michael (Hg.): Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider, Heidelberg 2004, S. 195-208. —: „Robert Walsers Institutionenroman Jakob von Gunten“, in: Behrens, Rudolf/Steigerwald, Jörn (Hg.): Die Macht und das Imaginäre, Würzburg 2005, S. 235-250. Ewald, François: Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M. 1992. Foucault, Michel: „Das Subjekt und die Macht“, in: Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul (Hg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1987, S. 243-261. —: Sicherheit, Bevölkerung, Territorium. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Aus d. Französischen v. Claudia Brede-Konersmann u. Jürgen Schröder. Hg. v. Michel Sennelart, Frankfurt a.M. 2006. Hamann, Christof: „Roßmanns Zerstreuung“, in: Bay, Hansjörg (Hg.): Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka, Freiburg 2006, S. 115-144. Hark, Sabine: „deviante Subjekte. Normalisierung und Subjektformierung“, in: Sohn, Werner/Mehrtens, Herbert (Hg.): Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft, Opladen 1999, S. 65-84. Heimböckel, Dieter: „‚Amerika im Kopf‘. Franz Kafkas Roman Der Verschollene und der Amerika-Diskurs seiner Zeit“, in: DVJS 77 (I) (2003), S. 130-147. Holitscher, Arthur: Amerika. Heute und morgen. Reiseerlebnisse, Berlin 1912. Jahn, Wolfgang, in: Binder, Hartmut (Hg.): Franz Kafka-Handbuch in zwei Bänden, Stuttgart 1979, Bd. 2., S. 407-420. Kafka, Franz: Amtliche Schriften. Hg. v. Klaus Hermsdorf u. Benno Wagner, Frankfurt a.M. 2004. —: Briefe 1900-1912. Hg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a.M. 1999. —: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, in: Born, Jürgen/Neumann, Gerhard/Pasley, Malcolm/Schillemeit, Jost
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Soziale und ökonomische Szenarien (Hg.): Franz Kafka. Kritische Ausgabe der Schriften und Tagebücher in 15 Bänden, Frankfurt a.M. 2002. Kremer, Detlev: „Verschollen. Gegenwärtig. Franz Kafkas Roman ‚Der Verschollene‘“, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Franz Kafka. Text und Kritik. Sonderband, München 1984, S. 238-253. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus, Opladen 1999. Neumann, Gerhard: „Der Wanderer und der Verschollene: Zum Problem der Identität in Goethes Wilhelm Meister und in Kafkas Amerika-Roman“, in: Stern, J.P./White, J.J. (Hg.): Paths and Labyrinths. Nine Papers from a Kafka Symposium, London 1985, S. 43-65. Quételet, Adolphe: Soziale Physik oder Abhandlung über die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen, 2 Bde., Jena 1914/1921. —: Über den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten oder Versuch einer Physik der Gesellschaft, Stuttgart 1858. —: Zur Naturgeschichte der Gesellschaft, Hamburg 1856. Siegert, Bernhardt: Passagiere und Papiere. Schreibakte zwischen Spanien und Amerika, München 2006. Stach, Reiner: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt a.M. 2002. Stüssel, Kerstin: In Vertretung. Literarische Mitschriften von Bürokratie zwischen früher Neuzeit und Gegenwart, Tübingen 2004. Vogl, Joseph: „Lebende Anstalt“, in: Balke, Friedrich/Ders./Wagner, Benno (Hg.): Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka, Zürich/Berlin 2008, S. 21-33. —: Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München 1990. Wagner, Benno: Der Unversicherbare. Kafkas Protokolle, Siegen 1998 [unveröffentl. Diss.]. —: „Poseidons Gehilfe. Kafka und die Statistik“, in: Koch, HansGerd/Wagenbach, Klaus (Hg.): Kafkas Fabriken. Marbacher Magazin 100, Marbach 2002, S. 109-130.
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Unendliche Rationalisierung und unfertige Gesellschaft. Edgar Zilsels Epistemologie der Massenerscheinungen MONIKA WULZ
Welche Art von Wissen kann über eine sich verändernde Gesellschaft formuliert werden? Welche Art von Wissen greift in gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen ein und verändert sie? Dieser Text beschäftigt sich mit der prozessorientierten Erkenntnistheorie von Edgar Zilsel1, ihrer Ausformung in einer Methodologie
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Geboren 1891 in Wien, studierte Philosophie, Mathematik und Physik and der Universität Wien. Ab 1917 Unterricht als Mathematik- und Physiklehrer am Gymnasium, 1918 Beitritt zur Sozialdemokratischen Partei, 1922-34 in den Bereichen Philosophie und Physik an den Wiener Volkshochschulen tätig. Beteiligt an zahlreichen philosophischen und politischen Diskussionszirkeln in Wien wie dem Heinrich-Gomperz-Kreis, dem Verein Ernst Mach, dem Otto-Bauer-Kreis oder der „Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft für Wirtschaft und Politik“. Zilsels Kontakt mit dem Wiener Kreis (Schlick-Kreis) war geprägt von der kritischen Diskussion gemeinsamer Problemstellungen. Er publizierte sowohl wissenschaftliche Artikel (z.B. in den Zeitschriften Die Naturwissenschaften und Erkenntnis) als auch politische Texte (z.B. in der sozialdemokratischen Monatsschrift Der Kampf sowie in der Arbeiterzeitung). Aufgrund antisemitischer und nationalsozialistischer Verfolgung emigrierte Zilsel 1939 nach New York, wo er in Anbindung an Max Horkheimers International Institute of Social Research zu den soziologischen Ursprüngen der modernen Wissenschaft forschte. Während seiner Zeit in den USA war Zilsel in engem Kontakt mit der „Unity of Science Movement“ und publizierte Artikel zur Wissenschaftsgeschichte. Er beging am 11. März 1944 in Oakland (Kalifornien) Selbstmord, wo er seit 1943 Wissenschaftsgeschichte unterrichtet hatte. (Vgl. Raven, Diederick/Krohn, Wolfgang: „Edgar Zilsel: His Life and Work [1891-1944]“, in: Zilsel, Edgar: The Social Origins of Modern Science, Dordrecht 2000, S. xx-xxvi; Stadler, Friedrich: Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt a.M. 1997, S. 630-635 u.
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Soziale und ökonomische Szenarien der Geschichts- und Sozialwissenschaften und ihrer Anwendung in einem politischen und kritischen Unternehmen. Zilsels erkenntnistheoretisches Vorhaben ist eine einheitliche Methodologie der Wissensproduktion auf der gemeinsamen empirischen Basis aller physikalischen, biologischen, historischen sowie sozialen Prozesse. Sein Ausgangspunkt ist dabei ein Verständnis von Untersuchungsobjekten als Massenerscheinungen im Prozess, die Veränderungen im irreversiblen Ablauf der Zeit unterliegen. Diese Perspektive auf Wissensobjekte als quantifizierte, veränderliche Phänomene bedingt eine Konzeption von Wissen als unendlichen Prozess der Rationalisierung mit Bezug auf eine in die Zukunft gerichtete Anwendung. Zilsel versteht sie in der Folge auch als eingreifende politische Praxis. Ausgehend von seinen wissenschaftstheoretischen wie gesellschaftspolitischen Überlegungen soll gezeigt werden, wie diese epistemologische Position nicht nur wissenschaftsinterne Konsequenzen fordert, sondern sich auch als Gegenentwurf zu jenen zeitgenössischen geisteswissenschaftlichen wie auch politischideologischen Diskursen konzipiert, welche Wirklichkeit durch ihre Begriffsbildungen als fixes Gebilde und gesellschaftliche Strukturen als fixierte Verhältnisse definieren.
Rationalisierung Zilsels Interesse an der Begründung der Möglichkeit von Erkenntnis äußert sich bereits in seiner Dissertation über Das Anwendungsproblem2. Er setzt dabei an der Frage nach dem epistemologischen Verhältnis zwischen Denken als einem rationalen, theoretischen Unternehmen und Empirie als der komplexen Vielfalt des ‚Gegebenen‘ an: Warum können Theorien über das ‚Gegebene‘ aufgestellt werden? Warum können rational hergestellte Theorien erfolgreich auf die Bedingungen des Empirischen angewendet werden? Zilsel verhandelt in seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen nicht die Frage, wie ein einzelner Gegenstand aufgrund korrekter Sinneswahrnehmung zu einem Wissensobjekt werden kann. Im Gegenteil ist seine erkenntnistheoretische Ausgangssituation eine mannigfaltige und stets veränderliche Menge empirischer Singularitäten. Zilsels epistemologische Fragestellung bezieht sich folglich auf das Problem, wie Wissen über das zukünftige Verhalten dieses konstanten und variierenden Flusses singulärer Gegebenheiten formuliert wird. Warum können wir theoretisches Wissen über die komplexe
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S. 802-817; Dvorak, Johann: Edgar Zilsel und die Einheit der Erkenntnis, Wien 1981, S. 19-31.) Zilsel, Edgar: Das Anwendungsproblem. Ein philosophischer Versuch über das Gesetz der großen Zahlen und die Induktion, Leipzig 1916.
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Wulz: Unendliche Rationalisierung Mannigfaltigkeit des Gegebenen erlangen, das rational, präzise, überprüfbar ist und das gleichzeitig Handlungsanweisungen für ein prognostiziertes Verhalten von Mannigfaltigkeiten gibt? Wissen über Wirklichkeit ist für Zilsel dabei nur als induktives Wissen möglich: als Häufigkeitsextrapolation aus Durchschnittswerten der Vielfalt des Empirisch-Gegebenen. Zilsel führt das „Gesetz der großen Zahlen“ als epistemologische Grundlage und heuristisches Prinzip der Erkenntnis über „die uns gegebene Wirklichkeit“3 ein. Das Gesetz der großen Zahlen geht davon aus, dass sich in einer sehr großen Anzahl von Fällen Unregelmäßigkeiten ausgleichen und Durchschnittswerte bilden.4 Wissen über reale Prozesse kann in diesem Sinn nie anhand singulärer empirischer Fakten produziert werden, sondern es muss als Ergebnis eines Extrapolationsverfahrens verstanden werden. Es stellt ein Verhältnis zwischen einer bekannten Datenmenge und dem noch unbekannten empirischen Verhalten her. Ziel der Wissensproduktion ist es, Aussagen über das noch Unbekannte, d.h. Prognosen über das Zukünftige zu machen. Untersuchungsobjekte sind für Zilsel daher keine stabilen Einheiten, sondern werden als veränderliche Prozesse des Empirisch-Mannigfaltigen gedacht. Ihr fortschreitender Horizont ist der unauflösbare Rest des noch nicht Definierten, des ‚Irrationalen‘ der singulären Gegebenheiten. Die Erkenntnistätigkeit ist nach Zilsel eine beständige Praxis der Rationalisierung. Sie rationalisiert das Unbekannte, d.h. sie transformiert das Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen5 in eine Theorie der zukünftigen Anwendungswirklichkeit und verwandelt damit die Tätigkeit der Wissensproduktion in ein unendliches Unternehmen der Reduktion des NochUnbekannten. Das Entscheidende ist hier Zilsels Konzeption der „uns gegebenen Wirklichkeit“, die in der Folge seine Erkenntnistheorie bestimmt und sich ebenso durch seine naturwissenschaftlichen Arbeiten wie durch seine Überlegungen zur Methodologie der Geschichtsund Sozialwissenschaften zieht: Die Wirklichkeit des Gegebenen un3 4
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Ebd., S. V. Das „Gesetz der großen Zahlen“ wurde in der Wahrscheinlichkeitstheorie erstmals von Poisson 1837 als eine den Rahmen der Mathematik überschreitende, physikalische Aussage formuliert. Poissons Formulierung des Gesetzes impliziert also, dass die Annäherung einer empirisch feststellbaren relativen Häufigkeit an die mathematische Wahrscheinlichkeit realiter stattfindet. Poissons Fassung des Gesetzes der großen Zahlen dient damit auch Zilsel als allgemeine Erfahrungsgrundlage von Serien- oder Massenerscheinungen. Zur Rolle des Nicht-Wissens im mathematisiert-empirischen Erkenntnisverfahren vgl. Serres, Michel: „Mathematisierung des Empirismus“, in: Ders.: Hermes II – Interferenz, Berlin 1992, S. 263-271.
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Soziale und ökonomische Szenarien terliegt permanenten Veränderungen, sie ist nicht starr und fixiert. Sie ist ein offener Prozess der Transformation, in dem beständig neues empirisches Material auftaucht. Jedes Individuum, jedes Ding, jedes Ereignis wird von Zilsel als „Umfang“ aufgefasst, jedes unterscheidet sich inhaltlich von allen anderen Individuen, Dingen, Ereignissen. Gerade für die ontologische Voraussetzung seiner Wirklichkeitskonzeption bezieht sich Zilsel auf Leibniz:6 Die grundsätzliche Verschiedenheit aller Individuen ist für Zilsel die Voraussetzung für die Erkennbarkeit der Welt. Ziel der Wissensproduktion ist es, Aussagen über diese „Allverschiedenheit“, das noch Unbekannte zu machen. Im Gegensatz zu Leibniz geht es Zilsel aber nicht um eine deduktive Erkenntnis der Ursachen aller Dinge, sondern seine Konzeption von Wissen impliziert die Herstellung induktiver Prognosen über das zukünftige Verhalten dieser Umfangseinheiten. Sein fortschreitender Horizont ist der unauflösbare Rest des noch nicht Definierten, des „Irrationalen“, der „Allverschiedenheit“ des Gegebenen. „Die Welt bleibt immer etwas Schwankendes, zum Teil ineinander Verfließendes, diese Schwankungen aber kompensieren einander gegenseitig immer mehr, diese Unbestimmtheiten sind so glücklich verteilt, dass wir Menschen in der Welt trotz aller Vagheiten ganz präzise Beziehungen feststellen können, freilich diese Beziehungen in infinitum zu ergänzen haben. Diese glückliche Verteilung der Unbestimmtheiten ist also Vorbedingung für die Erkennbarkeit der Welt.“7
Die hier von Zilsel sogenannte „glückliche Verteilung“ der Unbestimmtheiten ist ihre „Allverschiedenheit“. Sie bewirkt eine radikale Reduktion inhaltlicher Übereinstimmungen bei gleichzeitiger Vergrößerung des Umfangs und ermöglicht durch das korrespondierende regulative Prinzip des Gesetzes der großen Zahlen eine induktive Fokussierung auf die Häufigkeiten anhand von Durchschnittswerten. Diese Häufigkeiten müssen wiederum als fortlaufend veränderlich gedacht werden. Zilsels Erkenntnistheorie begründet einen unauflösbaren, wechselseitigen Zusammenhang zwischen seiner prozessorientierten epistemologischen Argumentation und seiner spezifischen ontologischen Sichtweise der Erkenntnisgegenstände: Diese unterliegen einem permanenten „Abwechslungsbedürfnis“8, die Wirklichkeit als Projekt der Erkenntnistätigkeit ist als „Allver-
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Vgl. Zilsel: Das Anwendungsproblem (1916), S. 38. Ebd., S. 169. Vgl. Zilsel, Edgar: „Versuch einer neuen Grundlegung der statistischen Mechanik“, in: Monatshefte für Mathematik und Physik 31 (1921), S. 118-156, hier S. 148.
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Wulz: Unendliche Rationalisierung schiedenheit“, „Dispersion“9, als essenzielle „Unordnung“10 gegeben. So offen wie die permanente Veränderung des Empirischen muss in der Folge auch das Wissen über Wirklichkeit selbst sein. Wirklichkeitserkenntnis ist also nicht das punktuelle Wissen über einzelne Objekte, die es zu erkennen gilt, sondern sie muss notwendig Aussagen über den Zusammenhang von Häufigkeitsphänomenen und ihr zukünftiges Verhalten treffen. Wissen selbst muss daher zu einem prozeduralen Verfahren werden, das einen permanenten Verarbeitungsprozess von neuem empirischen Material darstellt. Es ist niemals abgeschlossen, sondern muss sich als eine Methode konzipieren, fortlaufend neue Singularitäten, neues empirisches Material in sein rationalistisches Transformationsverfahren zu integrieren. Wissen muss aus der Mannigfaltigkeit des Gegebenen entstehen und eine praktische Erwartung des weiteren Verhaltens empirischer Phänomene darstellen. Es zielt darauf ab, in die zukünftige Wirklichkeit einzugreifen und damit Teil ihrer Veränderung zu werden. In diesem Sinn führt Zilsel das Konzept der „Rationalisierung“ als prozessorientiertes, formalisiertes Verfahren in seine Epistemologie ein, das als Erkenntnisprinzip sowohl über die Mathematik als auch die Logik hinausgeht. Es ist auf das „Rationale“, „die Präzision selbst“11 gerichtet, kann sie aber nie vollständig erreichen, da die Wirklichkeit nicht abgeschlossen ist. Sie fungiert jedoch als normatives Ziel der Rationalisierung und ermöglicht dadurch eine Konzeption von Wissen als stets vorläufige Transformation des Empirischen in das Formalisiert-Rationale. „Gegeben ist also das Irrationale; das Rationale ist nicht gegeben, sondern aufgegeben, nur durch einen unendlichen Prozess zu erreichen. Nicht vom Rationalen sollten wir reden, sondern von der Rationalisierung.“12
Dieser transitorische Charakter des Rationalen als „Rationalisierung“ bildet für Zilsel gleichzeitig das Paradox und die Möglichkeit des Wissens: Das „Gegebene“ ist unbestimmt, es ist aber auch bestimmt –13 nämlich durch eine radikale Verschiedenheit des Empirischen und das korrespondierende Gesetz der großen Zahlen, welches Wirklichkeit und Wirklichkeitswissen nicht inhaltlich, sondern als Häufigkeitskalkül rein formal bestimmt. Der Begriff des Rationalen in Zilsels Epistemologie bezeichnet folglich nicht eine Funktion
9 Vgl. Zilsel: Das Anwendungsproblem (1916), S. 5f. 10 Vgl. z.B. Zilsel, Edgar: „Naturphilosophie“, in: Schnaß, Franz (Hg.): Einführung in die Philosophie, Osterwieck-H. 1928, S. 107-143, hier S. 122. 11 Zilsel: Das Anwendungsproblem (1916), S. 150. 12 Ebd., S. 157. 13 Vgl. ebd., S. 155.
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Soziale und ökonomische Szenarien des menschlichen Denkens, sondern ist ein formaler, prozessorientierter Begriff. Zilsels epistemologische Position muss sowohl als Kritik an einer Erkenntnistheorie verstanden werden, die eine bipolare Beziehung zwischen Subjekten und Objekten der Wissensproduktion sowie eine Korrespondenz zwischen Erkenntnisobjekten und ihren Begriffen zu begründen sucht, als auch umgekehrt an einer relativistischen Erkenntnistheorie, welche die Möglichkeit von Wissen als rein subjektive Fiktion versteht. Sie nimmt im Gegensatz zu diesen Positionen eine spezifische Verschiebung der Konzeptionen von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt vor und formuliert damit ein anti-individualistisches Verständnis von Wissen und seiner Herstellung: 1. Das zu erkennende Objekt wird zu einem veränderlichen Fluss des mannigfaltigen Empirischen, gedacht als unendlich sich erweiterndes Kompliziertes, das stets noch zu bestimmen ist. 2. Das erkennende Subjekt wird ersetzt durch eine anti-individualistische Methodologie, die epistemologisch mit dem Gesetz der großen Zahlen argumentiert. Diese epistemologische Verschiebung entfernt die Frage nach der Möglichkeit von Wissen von einem individuellen Moment der Sinneswahrnehmung14 und führt stattdessen ein verzeitlichtes, kollektiviertes Verfahren der häufigkeitstheoretischen Analyse der unreduzierbaren Komplizierung des Empirischen ein. Wissen entsteht in Zilsels Erkenntnistheorie demnach niemals in einem einzelnen Moment aufgrund einer singulären Wahrnehmung, sondern stellt ein Transformationsverfahren der im Ablauf der Zeit veränderlichen Häufigkeitsverdichtungen dar.15
Wissenschaft Ab 1920 überträgt Zilsel diese philosophisch-erkenntnistheoretische Position auf eine Theorie des Wissens physikalischer16 wie auch historischer17 Prozesse. Er entwickelt seinen epistemologischen Ansatz und seine Konzeption wissenschaftlicher Forschung zeitgleich mit einem verstärkten philosophischen Interesse an seriellen Phänomenen, Häufigkeitsverdichtungen und Wahrscheinlichkeitstheorie als 14 Vgl. ebd. 15 In späteren Texten reflektiert Zilsel auch, inwiefern einerseits dieser epistemologische Ansatz kollektive Methoden in der wissenschaftlichen Arbeit nach sich zieht, und andererseits wissenschaftliche Forschung eine soziologische Bedingtheit und temporäre Vorläufigkeit umfasst. 16 Vgl. Zilsel: „Versuch einer neuen Grundlegung der statistischen Mechanik“ (1921). 17 Vgl. Zilsel, Edgar: Die Entstehung des Geniebegriffes. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus, Tübingen 1972 [1926].
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Wulz: Unendliche Rationalisierung Grundlage induktiven Wissens18 wie auch vor dem Hintergrund einer statistischen Häufigkeitsdeutung des Konzepts der Naturgesetze in den physikalischen Wissenschaften19 und fordert im Zusammenhang mit seiner theoretisch-politischen Positionierung im austromarxistischen Umfeld20 gleichzeitig ein empirisch fundiertes Verständnis der Geistesgeschichte, das historische Entwicklungen als quantitative Tendenzen gesellschaftlicher und ökonomischer Veränderungen untersucht.21 Auf dieser positivistischen wie quantitativen 18 Vgl. z.B. Othmar Sterzingers Konzept der „Knäuelung“ (Sterzinger, Othmar: Zur Logik und Naturphilosophie der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Leipzig 1911), worauf sich auch Zilsel im Anwendungsproblem bezieht, sowie Emanuel Czubers Auseinandersetzung mit Zilsels naturphilosophischer Konzeption des „Gesetzes der großen Zahlen“ und seine Hervorhebung der auf Ernst Mach zurückgehenden ‚funktionalen‘ Auffassung der Zuordnung von Umständen und dem daraus hervorgehenden Geschehen (Czuber, Emanuel: Die philosophischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Leipzig/Berlin 1923). Philosophisch-literarisch beschäftigt sich auch Robert Musil mit der Möglichkeit von Wissen über ein serielles Phänomen der Differenz. (Vgl. Musils Erzählung Die Amsel (1928); vgl. auch Christoph Hoffmanns Lesart des Textes und seine Betonung eines ‚kakanischen Leidens‘ am „scheinbar inkommensurablen Treiben der Welt“: Hoffmann, Christoph: „Drei Geschichten. Erzählen als experimentelle Operation bei Musil (und Kleist)“, in: Gamper, Michael/Wernli, Martina/Zimmer, Jörg (Hg.): „Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte“. Experiment und Literatur 18902009, Göttingen [in Vorbereitung]). 19 Die Frage, ob die sogenannten Naturgesetze nicht allgemeingültige, sondern ausschließlich statistische Bedeutung haben, beschäftigt die zeitgenössischen physikalischen Diskussionen in Wien in der Tradition von Ernst Mach, Ludwig Boltzmann und Franz Exner. Diese statistische Wende der physikalischen Wissenschaften im Wiener Diskurs sowie deren verallgemeinerte epistemologische Implikationen außerhalb der Physik bewirken ein indeterministisches Verständnis jeder Art physischer Prozesse und betonen damit ein quantitatives Begründungselement in der wissenschaftlichen Methodik. (Zum historischen Konzept des „Vienna Indeterminism“ vgl. Stöltzner, Michael: „Vienna Indeterminism: Mach, Boltzmann, Exner“, in: Synthese 119 (1999), S. 85-111; Stöltzner, Michael: Causality, Realism and the Two Strands of Boltzmann’s Legacy (1896-1936), Diss., Universität Bielefeld 2003, S. 131.) 20 Zilsel war seit 1918 Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs. (Vgl. Austrian Labour Information 24, März-April 1944, S. 9.) 21 Vgl. z.B. Adler, Max: „Die geistesgeschichtliche Bedeutung der materialistischen Geschichtsauffassung“ [gedruckte Fassung seiner Antrittsvorlesung als Dozent der Sozialwissenschaften der Universität Wien am 17. Oktober 1917], in: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift 12 (1919), S. 693-699; sowie Philipp Franks Hervorhebung der Ähnlichkeiten in den Methodenreflexionen der Thermodynamik sowie in marxistischen Überle-
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Soziale und ökonomische Szenarien Basis betonen sowohl die politische Theorie als auch die naturwissenschaftlichen Richtungen, die Zilsels Versuch einer naturwissenschaftlich orientierten Methodologie der Geschichtswissenschaften begleiten, die empirische Gleichartigkeit und den quantitativen Charakter der Untersuchungsobjekte in den Naturwissenschaften und in den Geisteswissenschaften (Soziologie und Geschichte) und die daraus folgende gleiche wissenschaftliche Methodik: Wenn Untersuchungsobjekte nicht als stabile, individuelle Gegenstände gedacht werden, sondern als im Ablauf der Zeit veränderliche Massenphänomene, so können diese nicht mehr mit fixierten Begriffen bezeichnet werden, sondern müssen als quantifizierbare funktionale Verhältnisse untersucht und dargestellt werden. Diese strukturelle Wende der Untersuchungsobjekte und des damit verbundenen quantitativen epistemologischen Prinzips überträgt Zilsel auch auf seine Überlegungen zur Methodologie der Geschichtswissenschaften. In seinem Buch Die Entstehung des Geniebegriffs von 1926 (dessen Vorarbeiten bis 1922 zurückreichen und mit einem gescheiterten Habilitationsversuch an der Universität Wien verbunden sind)22 geht Zilsel von der Annahme aus, dass das Konzept ‚Genie‘ nicht die Qualitäten einer Person beschreibt, sondern dass es sich bei dieser Zuschreibung um ein gesellschaftliches Phänomen, ein Produkt der öffentlichen Meinung handle und dieses daher als Komplex von sozialen Massenphänomenen untersucht werden müsse. Mittels historisch-quantitativer Untersuchungsmethoden sollten daher jene gesellschaftlich bedingten Prozesse analysiert werden, welche die Verehrung eines Autors von intellektueller oder kreativer Arbeit als ‚Genie‘ bedingen können. Aufgrund seiner Untersuchung hofft Zilsel auf Regelmäßigkeiten relationaler Quantitätsverhältnisse von sozialen Phänomenen, d.h. auf regelmäßige Verknüpfungen von Genie-Vorstellungen mit bestimmten gesellschaftlichen Zuständen zu stoßen und dadurch eine Diagnose oder sogar eine Prognose des Auftauchens von ‚Genies‘ in bestimmten Perioden der Geschichte zu ermöglichen. Zilsel äußert in diesem Zusammenhang erstmals das Erkenntnisvorhaben, Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Zusammenhänge zu formulieren („soziale gungen zu Regelmäßigkeiten in der Ökonomiegeschichte und der Beschränktheit einer individualistischen Geschichtsschreibung in seinem Buch Das Kausalgesetz und seine Grenzen (Frank, Philipp/Schlick, Moritz (Hg.): Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung. Bd. 6, Wien 1932, Kap. VIII, Abschnitt 3. 22 Vgl. dazu ausführlicher Stadler, Friedrich: „Aspekte des gesellschaftlichen Hintergrundes und Standortes des Wiener Kreises am Beispiel der Universität Wien“, in: Berghel, H. et al. (Hg.): Wittgenstein, der Wiener Kreis und der kritische Rationalismus: Akten des 3. Internationalen Wittgenstein Symposiums, Wien 1979, S. 41-59.
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Wulz: Unendliche Rationalisierung Gesetze“23, „historische Gesetze“24) und gibt am Schluss seiner Abhandlung Beispiele für solche funktionalen Gesetze des Geniebegriffs.25 Im Zuge seiner historischen Studien widmet sich Zilsel dem methodologischen Vorhaben, seine quantitativ-prozessorientierte Erkenntnistheorie auf den Bereich der Geschichtswissenschaften anzuwenden. Vor dem Hintergrund seiner früheren epistemologischen Überlegungen zur Erkennbarkeit einer mannigfaltigen und sich verändernden Wirklichkeit, der er mit der Bedingung einer radikal fortschreitenden Inhaltsabnahme und dem Gesetz der großen Zahlen ein korrespondierendes Erkenntnisprinzip verpasst, wird verständlich, warum Zilsel davon ausgeht, dass die Verbindung von quantitativen Verfahren mit einer empirisch vorgehenden Geschichtswissenschaft (unter Verwendung soziologischer Massendaten) eine gerechtfertigte Methode darstellen kann, um Aussagen über historische Vorgänge zu treffen. Indem Zilsel also den Fokus der historischen Forschung von Individuen auf eine unbegrenzte Veränderung zeitlicher Phänomene verschiebt und dadurch historische Ereignisse und Konzepte als soziologische Massenphänomene versteht, verwandelt er die historischen Gegenstände in Massengebilde mit einer zeitlichen Perspektive und die Geschichtsschreibung in eine prozedurale, quantitative und empirische Disziplin. In Anlehnung an die Anwendung statistischer Methoden in der Thermodynamik und in der Astronomie verweist Zilsel auf die strukturelle Gleichheit der methodischen Probleme in all jenen Disziplinen, die Regemäßigkeiten des Verhaltens von Massenerscheinungen quantitativ untersuchen. Während er damit die Methodenprobleme in den Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften parallelisiert und eine Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden in geisteswissenschaftlichen Disziplinen fordert, weicht er umgekehrt auch das traditionell starre Bild naturwissenschaftlicher Konzepte und ihrer Objekte auf. Er betont immer wieder, dass nicht nur historische Gesetze keine exakten Wiederholungen beschreiben würden, sondern dass auch die Gesetze der Naturwissenschaften keine ewig unveränderbaren und exakt wiederholbaren Vorgänge aufdecken.26 So wie die physikalischen Phänomene sind nach Zilsel auch alle historischen und gesellschaftlichen Ereignisse als Massenphänomene zu verstehen. Umgekehrt sind nicht nur historische und biologische Vorgänge ir23 24 25 26
Zilsel: Die Entstehung des Geniebegriffes (1972), S. 2. Ebd., S. 320. Vgl. ebd., S. 323-326. Vgl. z.B. Zilsel, Edgar: „Die Physik und das Problem der historischsoziologischen Gesetze“ (1941), in: Ders.: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft. Hg. v. Wolfgang Krohn, Frankfurt a.M. 1976, S. 209.
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Soziale und ökonomische Szenarien reversibel, sondern auch alle physikalischen Makroprozesse, d.h. alle physischen Objekte und physikalischen Theorien und Gesetze haben eine historische Dimension und unterliegen einem zeitlich unumkehrbaren Verlauf. Erst durch die Annahme, dass jedes wissenschaftliche Objekt oder, allgemeiner, jedes epistemische Objekt einem irreversiblen Veränderungsprozess unterliegt, werden Vorgänge auf ihre gesetzlichen Regelmäßigkeiten hin untersuchbar. Diese wissenschaftliche Geschichtsforschung soll durch eine antiindividualistische (kollektivistische) Perspektive Vergangenheit als unabgeschlossenes Gebilde untersuchen und die wechselseitigen Zusammenhänge von quantitativen Gesellschaftsgebilden im Sinne der statistischen Mechanik als funktionale Gesetzmäßigkeiten der Geschichte herausarbeiten. Zilsels historiografische Methodologie befasst sich daher nicht mit den individuellen Handlungen von Entscheidungsträgern in staatlichen, bürokratischen oder militärischen Systemen, sondern mit ökonomischen, stilgeschichtlichen, wissenschaftlichen oder moralischen Entwicklungen, die nicht ausschließlich durch Handlungen oder Entscheidungen Einzelner geformt werden. Durch die Verbindung eines historisch orientierten Verständnisses der Naturwissenschaften mit einer quantitativkomparativen Methode der Geschichtsschreibung will Zilsel damit Geschichte als wissenschaftliche Disziplin begründen und gleichzeitig naturwissenschaftliche Objekte und Konzepte in ihrer historischen Vorläufigkeit und soziologischen Bedingtheit begreifen. Der Gesetzesbegriff wird in dieser Methodologie der Geschichtswissenschaften im doppelten Sinne an den Funktionsbegriff rückgebunden: In den modernen Naturwissenschaften geht es – so Zilsel – im mathematischen Sinn um die „Erforschung der funktionalen Beziehung zwischen physikalischen Quantitäten“27. Andererseits ist dieser mathematische Funktionsbegriff in der neuzeitlichen Wissenschaft auch rückgebunden an die praktische Frage der Anwendung in quantitativ-experimentellen Verfahren (d.h. gewissermaßen an die bereits im Anwendungsproblem geäußerte Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Empirie): Was funktioniert? Was ist funktional womit verbunden? Wie muss experimentell vorgegangen werden, damit ein bestimmter Effekt, eine bestimmte physikalische Veränderung eintritt?28 In diesem Sinn ist der Gesetzesbegriff bei Zilsel einerseits ein theoretisches Konzept, das auf Erkenntnis der zukünftigen veränderten Wirklichkeit abzielt. Er ist aber auch gekoppelt an 27 Zilsel, Edgar: „Die Entstehung des Begriffs des physikalischen Gesetzes“ (1942), in: Ders.: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft. Hg. v. Wolfgang Krohn, Frankfurt a.M. 1976, S. 83. 28 Vgl. ebd., S. 82f.: Zilsels Hinweis auf den Ursprung des naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffes in den praktischen Anweisungen der frühkapitalistischen Handwerker.
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Wulz: Unendliche Rationalisierung eine Praxis, die in einer zukünftigen empirischen Situation wirksam werden soll, d.h. an eine jeweils intendierte Anwendung und Praxis der Wirklichkeitsveränderung. Zilsels Betonung der Anwendung von Theorien auf das beständig veränderliche Empirische realer Prozesse verknüpft daher den Erkenntnisprozess mit der Forderung nach einer Erkenntnispraxis: dem Eingreifen und Gestalten der veränderlichen Wirklichkeit. Die Anwendung ist genau jener Punkt, an dem die auf das Quantitativ-Empirische gerichtete Praxis eine Theorie hervorbringt und umgekehrt die theoretische Perspektive die Auswahl, die Kriterien sowie die Konzeption der empirischen Daten bedingt. In dieser Zirkularität und gegenseitigen Bedingtheit der theoretischen und der empirischen Praktiken stellt sich Realität nicht mehr als gegeben dar, sondern wird durch ein praxisorientiertes und quantitatives Erkenntnisverfahren bestimmt.29 Diese zirkulare Rückkoppelung macht sowohl den theoretischen als auch den empirischen Teil der Erkenntnistätigkeit zu einem offenen Unternehmen der Wissensproduktion. Die Anwendung ist damit nicht das Gegenteil der wissenschaftlichen Forschung, sondern wird zu einem wesentlichen Teil jeder Erkenntnis. Wissen ist damit zwar in einem stets unabgeschlossenen Prozess der Rationalisierung gefangen, verwirklicht sich dabei aber auch ganz konkret in der Anwendung als Teil der Erkenntnistätigkeit.
Politik Mit seiner positivistischen Haltung, seiner Betonung von Gesetzmäßigkeiten historischer Entwicklungen und der Forderung, Geschichte anhand empirisch-naturwissenschaftlicher Methoden als ökonomisch-soziologischen Prozess zu untersuchen, steht Zilsel in der Tradition der marxistischen Diskussionen seiner Zeit. Zilsel war eng mit der zeitgenössischen sozialdemokratischen und austromarxistischen Szene in Wien verbunden: Er war nicht nur Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, er unterrichtete auch an den Wiener Volkshochschulen und engagierte sich in der Wiener Schulreformbewegung sowie in der Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft für Wirtschaft und Politik.30 Der Sozialphilosoph Max Adler, Otto Neurath und Zilsel bildeten den Diskussionszirkel um den Sozialpolitiker und führenden Theoretiker des Austro-Marxismus Otto Bauer. Darüber hinaus beteiligte sich Zilsel an politisch-intellektuellen Debatten in der sozialdemokratischen Monatszeitschrift Der Kampf und publizierte Artikel in der Arbeiterzeitung.
29 Vgl. Zilsel: Das Anwendungsproblem (1916), S. 156f. 30 Vgl. Stadler: Studien zum Wiener Kreis (1997), S. 630-635 u. S. 802-817.
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Soziale und ökonomische Szenarien Die methodische Grundlegung der Formulierung von „historischen Gesetzen“ ist für Zilsel wichtigste Aufgabe und Herausforderung aus wissenschaftstheoretischer Sicht:31 Eine Methodologie der „historischen Gesetze“ könnte seiner Ansicht nach gleichzeitig eine Vereinheitlichung der wissenschaftlichen Forschung darstellen, da sie mit einer grundlegenden Neukonzeption dessen verbunden wäre, was als Gegenstand der Erkenntnistätigkeit gilt: Durch Zilsels Postulat, dass jedes epistemische Objekt (sowohl der Natur- als auch der Geschichts- und Sozialwissenschaften) als eine im Ablauf der Zeit veränderbare quantitative Verdichtung von Datenmengen zu verstehen sei, steht seine Epistemologie vor strukturell anderen Problemen als eine Erkenntnistheorie, welche die Möglichkeit der korrekten sensuellen Wahrnehmung eines singulären, externen Objekts zu begründen sucht. Sie muss nach der Möglichkeit von Wissen über das stets Veränderliche und für die Einzelwahrnehmung nicht Wiedererkennbare fragen.32 Der marxistische Materialismus, welcher auf Formulierung „historischer Gesetze“ sozialer Entwicklungen abzielt, stellt für Zilsel daher nicht nur einen politischen Anspruch dar, sondern dient ihm gleichzeitig auch als Anlass zur wissenschaftstheoretischen Grundlagenreflexion seiner sozio-historischen Beschäftigung mit intellektuellen Konzepten. Im Gegensatz zur Individualgeschichte verstand die zeitgenössische marxistische Theorie Geschichte als Wechselbeziehung von kollektiven Vorgängen und als Veränderungsprozess von sozialen Schichten (Klassen). Zilsels erkenntnistheoretische Überlegungen sollen einerseits eine wissenschaftliche Methode zur Formulierung dieser marxistischen Auffassung von Gesellschaft als Regelmäßigkeiten und Veränderungen sozialer Massenphänomene liefern. Andererseits müssen Zilsels sozio-historische Arbeiten nicht nur als historische Analysen, sondern auch als Praxis der gesellschaftlichen Veränderung begriffen werden. Zilsel spricht in diesem Sinn nicht nur von „historischen Gesetzen“, sondern auch von den „Gesetzen des gesellschaftlichen Werdens“.33 Aus seinen politischen Schriften ist ersichtlich, dass er das Konzept der Gesellschaft nicht als statisches Gebilde begreift. Seine Methodologie der Geschichtswissenschaften wie seine historisch-soziologischen Studien beruhen auf der Annahme, dass Gesellschaft veränderlich ist und verändert 31 Zilsel, Edgar: „Über die Asymmetrie der Kausalität und die Einsinnigkeit der Zeit“, in: Die Naturwissenschaften 15 (1927), S. 280-286, hier S. 286. 32 Vgl. Zilsel, Edgar: „Soziologische Bemerkungen zur Philosophie der Gegenwart“, in: Der Kampf 23 (1930), S. 410-424, hier S. 411. 33 Vgl. Wienbibliothek im Rathaus, Tagblatt-Archiv: Zilsel, Edgar: „Weltgeschichte und Einzelmensch“, in: Das Jahr 1930. Österreichischer ArbeiterKalender, Wien 1930, S. 59-67, hier S. 67. (Mit freundlicher Genehmigung der Wienbibliothek.)
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Wulz: Unendliche Rationalisierung werden muss. Die Suche nach Gesetzen der Geschichte stellt in Zilsels Überlegungen folglich die Konsequenz aus jener strukturellen epistemologischen Wende dar, welche alle wissenschaftlichen Objekte (und überhaupt alle Wissensobjekte) als unabgeschlossene und veränderliche Massenphänomene begreift. In diesem Sinn zielt er auf eine epistemologische Grundlegung der Geschichtswissenschaft, die zum Objekt eine Gesellschaft im Werden hat. Das Objekt der Geschichtswissenschaften wie der Sozialwissenschaften versteht er als „unfertig“34. Nur auf der Grundlage einer solch offenen Konzeption von Gesellschaft kann Zilsel seine frühe epistemologische Position beibehalten, welche die Möglichkeit von Erkenntnis angesichts einer unhaltbaren Wirklichkeit sich verändernder Massenphänomene zum Ziel hat. Dieses quantitative und veränderliche Verständnis von epistemischen Objekten und die daraus folgende methodische Konsequenz einer Suche nach Regelmäßigkeiten dieser Veränderung (d.h. nach „historischen Gesetzen“) ist für Zilsel mit einer wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Revolution seiner Gegenwart verbunden: Durch Einführung quantitativer Methoden in die Sozial- und Geschichtswissenschaften will er diese Disziplinen nach dem Vorbild der neuzeitlichen wissenschaftlichen Revolution verwissenschaftlichen. Durch seine historisch-soziologischen Untersuchungen will Zilsel darüber hinaus zur Veränderung der Gesellschaft auch auf politischer Ebene beitragen, indem er funktionale Beziehungen soziologischer Phänomene aufstellt und die Gesetzmäßigkeiten ihrer Veränderungen herauszuarbeiten versucht. Er betont dabei sowohl die individuelle als auch kollektive Verantwortung im praktischen Eingreifen in diese funktionalen Zusammenhänge.35 Der Untersuchung sozialer Verhältnisse und ihrer Veränderungen im historischen Feld stellt er eine Erkenntnistheorie zur Seite, welche eine Methode zur Herstellung eines prozeduralen Wissens über sich erweiternde und verändernde Massenphänomene begründet und mit dem Konzept einer veränderlichen Realität und einer veränderbaren Gesellschaft korrespondiert. Zilsel sieht die quantitative Bedingtheit von Wissen und die daraus resultierende Kollektivierung der Herstellung von Wissen auch als Beitrag zur Veränderung seiner eigenen sozialen Gegenwart: Er bindet seine Epistemologie der gesellschaftlichen und historischen Massenphänomene zurück an die moderne Tradition des naturwissenschaftlichen und kapitalistisch-ökonomischen Denkens, welches sich anfangs v.a. auf die vorausschauende und Kapital steigernde Organisation der Wirtschaft anhand der Bevölkerungsentwicklung und der damit
34 Ebd., S. 66. 35 Vgl. ebd.
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Soziale und ökonomische Szenarien verbundenen Bedürfnisse konzentrierte.36 Er begründet das Aufkommen von quantitativen und gesetzmäßigen Denk- und Argumentationsformen (und damit die Entwicklung naturwissenschaftlicher Methoden) in Europa um 1600 durch die steigende Durchlässigkeit der zuvor noch stabilen sozialen Grenze zwischen Bürgertum und Adel. Die Erweiterung des quantitativen Denkens in den naturwissenschaftlichen Bereichen bis ins 19. Jahrhundert dokumentiert so den anhaltenden Kampf des Bürgertums gegen die Absicht von Kirche und Adel, die gesellschaftlichen Unterschiede zu konservieren. Nachdem das Bürgertum sein Ziel der rechtlichen und sozialen Gleichstellung mit dem Adel erreicht hatte, war es ebenso wie der Adel darauf bedacht, gesellschaftliche Verhältnisse zu konservieren. Zilsel fordert nun die Erweiterung dieser quantifizierenden Rationalitätsform von der Wirtschaft und den Naturwissenschaften auf die Sozial- und Geschichtswissenschaften. Er will damit die Durchlässigkeit sozialer Barrieren erhöhen und die fixierten gesellschaftlichen Konstitutionsbereiche auflösen. Diese Weiterführung des quantitativen Denkens in neue Bereiche des Wissens ist für Zilsel mit einer revolutionären Einstellung der Arbeiterklasse gegen das Bürgertum verbunden.37 Ziel der Ausdehnung dieser quantifizierenden epistemologischen Position auf alle Bereiche des Wissens ist eine radikale soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft. Die quantifizierte Sicht auf soziale Gebilde soll die vorgefundene Ordnung der gesellschaftlichen (Klassen-)Struktur auflösen. Dadurch soll Gesellschaft als epistemische Un-Ordnung hergestellt werden, die gesellschaftliche Klassenordnung in eine Nicht-Ordnung verwandelt werden. Diese Erweiterung der quantifizierenden Methode versteht sich sowohl als Technik zur epistemologischen Auflösung der vorgegebenen Gesellschaftsordnung als auch als Strategie zur Verwirklichung dieser sozialen Durchlässigkeit. Ausgehend vom Konzept einer radikalen Unord-
36 Vgl. Zilsel: „Soziologische Bemerkungen“ (1930), S. 411. 37 Vgl. ebd., S. 422. Eine grundlegende These in Zilsels späteren historischen Studien zu den soziologischen Ursprüngen des modernen wissenschaftlichen Denkens ist, dass die Methoden der modernen Wissenschaft aufkamen, als sich im Frühkapitalismus die gesellschaftlichen Strukturen änderten, sich die soziale Trennung zwischen den rationalen Denkformen des Gelehrtenstandes und dem kausalen und experimentellen Vorgehen der Handwerker lockerte und die unterschiedlichen Denkformen auf diese Weise in einen Austauschprozess treten konnten. (D.i. die sogenannte „ZilselThese“: vgl. Zilsel, Edgar: „Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft“ (1942), in: Ders.: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft. Hg. v. Wolfgang Krohn, Frankfurt a.M. 1976, S. 49-65; des Weiteren Schaffer, Simon: „Zilsel thesis“, in: Bynum, W.F./Browne, E.J./Porter, R. (Hg.]: Dictionary of the History of Science“, London 1981, S. 450.)
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Wulz: Unendliche Rationalisierung nung der Wirklichkeit, welches der Wirklichkeit jede innere Gerichtetheit und alle eigenständigen Ordnungskriterien abspricht, beruft sich Zilsel auf ein quantitatives epistemologisches Argument zur Feststellung situativ gültiger Wissensmomente. Dies ist umgekehrt wohl auch der Grund, warum Zilsel nicht vom „Gesetz“ als Form der Wissensproduktion abweicht: Seine Epistemologie vermeidet jede Definition einer eigenständigen Verbindung der epistemischen Objekte, sondern betont stets die Unordnung ihrer Mannigfaltigkeiten als entscheidende Bedingung von Wissen. So wie es für Zilsel keine stabilen Gegenstände des Wissens und keinen der Erkenntnis zugänglichen Modus der Verknüpfung in dieser Unordnung geben kann, so wird Wissen selbst niemals einen Zustand des „Rationalen“ erreichen, so wird es niemals einen abgeschlossenen Codex sozio-historischer „Gesetze“ geben, nach dem sich gesellschaftliche Strukturen verhalten. Vielmehr dienen diese beiden Konzepte Zilsels Epistemologie als Verfahrensbegriffe, durch die wissenschaftliche Forschung in einer fortschreitenden Veränderungsbewegung beibehalten werden soll.38 Die Produktion von Wissen verändert nicht nur beständig ihre Ergebnisse, sondern greift mit diesen Ergebnissen auch in die Veränderung ihrer (soziologischen) Wissensobjekte ein. Dieser provisorische Charakter jeder Wissensproduktion deutet darauf hin, dass Zilsels Begriffe des „Rationalen“ sowie der „historischen Gesetze“ als Konzepte mit prozessorientierter Wirksamkeit gelesen werden müssen, für die keine vollständige Verwirklichung erreicht werden kann.
Das „Anti-Rationale“ Im Zusammenhang mit Zilsels erkenntnistheoretischem Begriff der „Rationalisierung“, der eine stets unabgeschlossene wissenschaftliche Methodik fordert, ist auch der zeitgenössische gesellschaftliche und politische Begriff der Rationalisierung von Interesse. Siegfried Kracauer etwa entwickelt den Begriff der Rationalisierung als prozessorientierte Praxis, die gleichzeitig Erkenntnistätigkeit und Wirk38 Zilsel reflektiert sowohl die Vorläufigkeit der Untersuchungsobjekte (vgl. Zilsel: „Die Physik und das Problem der historisch-soziologischen Gesetze“ (1976), S. 245, Fußnote 5) als auch die damit verbundene Historizität und Vorläufigkeit wissenschaftlicher Forschung sowie seiner eigenen Untersuchungen. Er unterscheidet diesbezüglich zwischen dem stets erweiterbaren (oder auch reduzierbaren) Forschungsmaterial und den daraus abgeleiteten Erklärungen: „Auch wenn diese soziologische Erklärung durch zukünftige Forschung widerlegt werden sollte, bleibt das gesammelte Material über die Entstehung des Begriffs vom physikalischen Gesetz bestehen.“ (Zilsel: „Die Entstehung des Begriffs des physikalischen Gesetzes“ (1976), S. 97.)
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Soziale und ökonomische Szenarien lichkeitsgestaltung ist.39 So sprengt das Rationale des Ornaments der Massen für Kracauer zwar die fixierten Konzepte der Natürlichkeit, Individualität und Volksgemeinschaft, indem es – auf Basis des kapitalistischen Konsum- und Produktionsprinzips – das Übernatürlich-Gigantische als abstrakte Visualisierung herstellt, gleichzeitig versperrt es sich mit dieser ornamentalen Verwirklichung aber gegenüber einer prozessorientierten Auffassung von Rationalität. Denken muss anti-natürlich agieren, seine Geschichte ist der Prozess einer fortlaufenden und per definitionem niemals abgeschlossenen Entmythologisierung der „immer wieder neu besetzten Positionen des Natürlichen“40. So übt Kracauer nicht Kritik an einer Reduktion des Individuellen durch das Abstrakte, sondern fordert gerade die Fähigkeit zu einer fortlaufenden Abstraktion als Korrektiv der jeweils definitorisch agierenden Rationalität und Abstraktheit. „Die herrschende Abstraktheit zeigt an, dass der Prozess der Entmythologisierung nicht zu Ende gebracht ist.“41 Nun ist es zwar auch für Kracauer das kapitalistische Denken, von welchem die Entzauberung des mythologischen Denkens ihren Ausgangspunkt nimmt, diese kapitalistische Entzauberung bleibt aber in verfestigten Formen der Abstraktion stecken. Der Kapitalismus „rationalisiert nicht zu viel, sondern zu wenig.“42 Der Begriff der Rationalisierung bezeichnet bei Kracauer damit nicht nur die Pragmatik der ökonomischen Gewinnmaximierung, sondern dient auch als Motor zur Transformation von Rationalität. In diesem Sinn führt Kracauers Kritik an der stecken gebliebenen Rationalisierung des Kapitalismus nicht zurück zum Postulat des Eigenlebens des Natürlichen und seiner organischen Verbindungen, sondern fordert vielmehr das Vorantreiben des jeweils ungenügenden Zustands der Rationalisierung.43 39 Vgl. Kracauer, Siegfried: „Das Ornament der Masse“, in: Ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1977, S. 50-63. (Erstmals erschienen in der Frankfurter Zeitung am 9. und 10. Juni 1927.) 40 Ebd., S. 56. 41 Ebd., S. 58. 42 Ebd., S. 57. [Herv. i.O.] 43 Während Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zwar die entzaubernde, entfremdende, beherrschende und totalitäre Wirksamkeit der aufklärerischen Vernunft kritisieren, streichen auch sie den Doppelcharakter der gleichzeitig fixierenden und stets unfertigen Rationalität heraus. Gerade das objektivierende Vorgehen des Denkens bestimmt auch seine dialektische Funktion: Rationalität ist dann nicht nur Beherrschung von Natur, sondern impliziert auch Kritik von Herrschaft und fungiert als distanzierendes Korrektiv der Auswirkungen der rationalen Instrumente der Beherrschung. Die trennende Funktion der objektivierenden Rationalität ermöglicht damit nicht nur die Beherrschung von Natur und Mensch, sie ist gleichzeitig auch „Index der Unwahrheit“ der Subjekt-Objekt-Distanz und
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Wulz: Unendliche Rationalisierung Erkenntnistheorie wie Gesellschaftstheorie zielen hier nicht auf die Vollendung des ‚Rationalen‘, sondern finden dieses im Gegenteil in der Veränderlichkeit ihrer Wirklichkeiten und im fortlaufenden und vorläufigen Rational-Werden der Formationen des Wissens. „Rationalisierung“ verwirklicht sich ausschließlich im fortlaufenden Prozess der Wissensproduktion und richtet sich gegen verfestigte Konzepte und Abstraktionen. Durch die Transformation der epistemischen Objekte in quantitative und temporale Dinge verändern sich damit bei Zilsel auch die Produkte der Erkenntnistätigkeit: die Konzepte und Kategorien des Wissens werden provisorisch, die Verknüpfungen der Begriffe werden funktional. Diese Vorläufigkeit von Forschungsergebnissen in Hinblick auf die Veränderlichkeit der Forschungsgegenstände betrachtet Zilsel als fortlaufende Bewegung der Rationalisierung im Prozess der Wissensproduktion. Vor dem Hintergrund von Zilsels epistemologischem Begriff der „Rationalisierung“, seiner Anwendung auf eine veränderliche Gesellschaft und den damit verbundenen Veränderungen des sozialen Wissens (das durch seine Realisierung selbst wiederum auf Gesellschaft zurückwirkt) muss auch Zilsels Kritik an zeitgenössischen intellektuellen und politischen Diskussionen und gesellschaftspolitischen Festschreibungen verstanden werden. Der Begriff des „AntiRationalen“ dient Zilsel dabei als Kritik am Festhalten an einem abgeschlossenen, fixierten Wissen. Die Erkenntnistätigkeit der „Rationalisierung“ ist hingegen ein epistemologisches Konzept, das sich auf das Wissen einer veränderlichen Zukunft richtet. Dieser Rationalisierungsprozess beruht nicht nur auf einem erkenntnisermöglichenden Prinzip der Unordnung. Zilsel verweist auch auf die Rolle der reflektierenden Selbstbeobachtung in der Wissensproduktion, welche die Subjektivität von Wertungen offen legt, dadurch das Rationale in ein objektives, abstraktes und folglich unerreichbares Ziel der Rationalisierung, Präzisierung und Prüfung verwandelt und damit eine fortlaufende Bewegung der „Objektivierung“ ermöglicht.44
ihres Wahrheitsanspruchs. Diese Entzweiung ermöglicht, die innere Unversöhntheit der Rationalität als Herrschaftsform zu denken. Die aufklärerische Rationalität agiert gleichzeitig totalitär und als unendliche Praxis der Kritik der uneinholbaren Distanz des objektiven Denkens. (Vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften. Bd. 5, Frankfurt a.M. 1987, S. 63f.) 44 Vgl. Zilsel, Edgar: Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung. Hg. v. Johann Dvorak, Frankfurt a.M. 1990 [1918], S. 210ff.; sowie Nemeth, Elisabeth: „‚Wir Zuschauer‘ und das ‚Ideal der Sache‘. Bemerkungen zu Edgar Zilsels ‚Geniereligion‘“, in: Stadler, Friedrich (Hg.): Bausteine wissenschaftlicher Weltauffassung. Lecture Series/Vorträge des Instituts Wiener Kreis 1992-1995, Wien/New York 1997, S. 175-178, hier S. 165f.
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Soziale und ökonomische Szenarien Denn wie in Zilsels Erkenntnistheorie der Gegenstand der Erkenntnis einen fortschreitenden Aufschub darstellt, welcher die Erkenntnistätigkeit in einen unabgeschlossenen Prozess verwandelt, so kann auch das Ideal der Rationalität und Objektivität niemals vollständig verwirklicht werden, sondern ist einer Ethik der Wissensproduktion als Richtungsangabe aufgegeben. Dies kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass Zilsel nicht nur die Gegenstände der Wissensproduktion, sondern auch deren Werte und Kategorien als vorläufige Gebilde konzipiert. Während Zilsel – v.a. auch in seinen späteren historisch-soziologischen Studien – davon ausgeht, dass historische Kriterien der Wissenschaften nicht absolut gesetzt werden dürfen, sondern in ihrer soziologischen Bedingtheit analysiert werden müssen, räumt er allein der „unabgeschlossen agierenden Rationalität“ eine Sonderstellung ein: Allein diese Erkenntnispraxis des Nicht-Verwirklichten kann für Zilsel „objektiv“ und „rational gestaltet“ werden, da sie stets auf eine zukünftige Entwicklung gerichtet ist.45 Eine solche konzeptuelle Offenheit, welche wissenschaftliche Resultate stets als Provisorien der Erkenntnistätigkeit begreift, erwartet Zilsel auch von jeder zeitgenössischen Wissensproduktion über soziale Strukturen. Sein Programm einer prozessorientierten Epistemologie der Massenerscheinungen verbindet sich mit einer historisch-soziologisch orientierten Untersuchung der Geistesgeschichte und der Naturwissenschaften. So widmet sich Zilsel Anfang der 1930er Jahre z.B. in mehreren Studien der Untersuchung soziologischer Faktoren in den jüngsten Entwicklungen philosophischer und geisteswissenschaftlicher Diskurse. Seine epistemologische Position dient ihm dabei als Ausgangspunkt zur Kritik an ganzheitlichen, als „metaphysisch“ kategorisierten Verstehenskonzepten zeitgenössischer vitalistischer Strömungen in Philosophie, Geistes-, Lebens- und Sozialwissenschaften. In seiner Analyse kritisiert Zilsel einen Anstieg „anti-rationaler“, „literarischer“ Herangehensweisen in den Geschichts-, Gesellschafts- und Lebenswissenschaften seit Ende des 19. Jahrhunderts, die nicht anhand quantitativer, gesetzmäßiger Methoden arbeiten, sondern eine überweltliche („metaphysische“) und magisch-mythologische Sicht45 Zilsel: Geniereligion (1990), S. 216. In dieser Ausrichtung auf eine noch unverwirklichte Zukunft muss Zilsels Erkenntnistheorie als utopische Epistemologie verstanden werden, jedoch in einem radikaleren Sinn als klassische utopische Theorien, da sie davon Abstand nimmt, das Ziel der Erkenntnistätigkeit inhaltlich zu definieren, sondern nur die formalen Prinzipien ihres Prozesses formuliert. Zu den Kriterien des utopischen Denkens vgl. Rouvillois, Frédéric: „Introduction“, in: Ders. (Hg.): L’Utopie. Introduction, choix de textes, commentaires, vade-mecum et bibliographie, Paris 1998, S. 11-43.
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Wulz: Unendliche Rationalisierung weise befördern und die Veränderungsprozesse des BiologischOrganischen sowie des Historisch-Sozialen anhand einer vitalistischen Metaphysik des Lebens (Bergson), der Geschichte (Troeltsch) und der Gesellschaft (Spann) fassen.46 Zilsel weist damit auf die Trennung von Physik und Lebensvorgängen im Neovitalismus hin und kritisiert sie als Hemmschuh der Expansion des quantifizierenden und empirisch-gesetzlichen Denkens in der Tradition der neuzeitlichen Wissenschaft. Während sich – so Zilsel – eine mit „metaphysischen“ Konzepten arbeitende Philosophie und Wissenschaft vor dem bedrohlichen Unbekannten in die scheinbare Geborgenheit einer übersinnlichen Welt flüchtet, integriert das wissenschaftlichrationale Denken das Unbekannte in seine Untersuchungsmethoden.47 Zilsels statistisch-induktive Epistemologie kann in diesem Zusammenhang als Entwurf einer Methode gelesen werden, die nicht anhand von singulären Wissensinhalten operiert, sondern in der das Unbekannte, das Nicht-Wissen einen epistemologischen Faktor in der Wissensproduktion darstellt.48 Ausgehend von diesem quantifizierenden, prozedural-rationalen Anspruch kritisiert Zilsel bereits 1930 den „anti-rationalen“ Charakter eines genetischen Verständnisses der Konzepte „Begabung“ und „Rasse“: Er fordert, dass biologische Erbanlagen ausschließlich „naturwissenschaftlich-rational“ untersucht werden sollten.49 Zilsels Epistemologie der quantifizierbaren Veränderungen richtet sich gegen jene gesellschaftspolitischen Tendenzen, welche durch fixierte kulturelle und soziale Konzepte die Wirklichkeit gesellschaftlicher Zusammenhänge formen.50 Auf der Basis seiner Wissenschaftstheo46 Vgl. Zilsel: „Soziologische Bemerkungen“ (1930), S. 414f. 47 „[...] wir untersuchen nicht nur die physikalischen, sondern auch ausnahmslos alle biologischen, psychologischen und soziologischen Vorgänge völlig rational; wir sind stark genug geworden, Wissenslücken zu ertragen, und wir bauen keine zweite Welt hinter der einzigen Welt der Tatsachen.“ (Zilsel, Edgar: „Philosophische Bemerkungen“ (1929), in: Ders.: Wissenschaft und Weltauffassung. Aufsätze 1929-1933. Hg. v. Gerald Mozetic, Wien 1992, S. 37.) 48 Vgl. auch weiter oben Anm. 5 zum Verhältnis von Wissen und NichtWissen. 49 Zilsel kritisiert in diesem Sinn Rassentheoretiker wie Houston Stewart Chamberlain (1855-1927, Schriftsteller und Verfasser populärwissenschaftlicher Werke mit pangermanischem und antisemitischem Einschlag. Kontakt zum Wahnfried-Zirkel um Cosima Wagner) und Arthur de Gobineau (Theorie über die arische Herrenrasse: Essay über die Ungleichheit der Menschenrassen, 1853-1855) als „Verkünder der Rassenmetaphysik“ und „antirationale Literaten“. (Vgl. Zilsel: „Soziologische Bemerkungen“ (1930), S. 415) 50 „Die angeborenen Anlagen des Menschen lassen sich gewiß ganz ausgezeichnet naturwissenschaftlich-rational untersuchen; wenn man sie aber
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Soziale und ökonomische Szenarien rie vertritt Zilsel im Gegensatz zu einem biologistisch fundierten Nationenkonzept das Gesellschaftskonzept einer unter kulturellhistorischen Bedingungen gewordenen Nation, deren gesellschaftliche Struktur ausschließlich historisch-soziologisch – nicht biologisch – zu untersuchen und zu behandeln sei.51 Zilsels Unterscheidung zwischen den Disziplinen der Biologie und der Geschichtswissenschaft muss als Gegenposition zu einer zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Diskussion um die Festlegung „biologischer Rassenunterschiede“ gelesen werden. Er unterscheidet zwischen einem rein historischen Begriff der „Nation“, der auf kulturellen Überlieferungsprozessen beruhe, und dem Konzept der „Rasse“, das ausschließlich aufgrund von biologischen Vererbungsgesetzen untersucht werden müsse und für ihn folglich historisch, soziologisch, kulturell wie politisch bedeutungslos ist. Die Herausbildung von „Nationen“ könne zwar wie alle anderen Formen des Wirklichkeitswissens nach Häufigkeitskriterien untersucht werden, im Gegensatz zur genetischen Vererbung könnten sie jedoch ausschließlich aufgrund historisch-sozialer Phänomene wie der Weitergabe von Kultur, Sprache und Bräuchen, nicht anhand biologischer Faktoren untersucht werden. Gesellschaftspolitische Maßnahmen könnten sich ebenfalls ausschließlich auf diesen Begriff der historisch gewordenen Nationen beziehen. Zilsels epistemologische Überlegungen zur disziplinären Trennung von Biologie und Geschichte müssen in diesem Zusammenhang auch als Versuch gelesen werden, sich in der emotional aufgeladenen und politisch einflussreichen Diskussion der 1920er und 1930er Jahre über die Organisation von Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Sprachen und kultureller Traditionen im Rahmen des existierenden europäischen Staatengefüges zu positionieren. Zilsel präsentiert als Gegenentwurf dazu das gleichermaßen epistemologisch und wissenschaftstheoretisch wie gesellschaftspolitisch ausgerichtete Unternehmen, die epistemischen Objekte in einer quantifizierenden und historisierenden bzw. temporären Perspektive zu verstehen und dadurch wissenschaftliche Konzepte und Forschungsergebnisse als Provisorien der veränderlichen Wirklichkeit herzustellen. Er analysiert die politische Unterscheidung „biologischer Rassen“ damit sowohl als epistemologischen Irrtum wie auch als gesellschaftspolitischen Missbrauch zur bio-politischen Fixie-
nicht untersucht, sondern beim Handeln zu spüren bekommt, sind sie das gerade Gegenteil zum rechnenden Verstand.“ (Ebd.) 51 Vgl. Zilsel, Edgar: „Geschichte und Biologie, Überlieferung und Vererbung“ (1931), in: Ders.: Wissenschaft und Weltauffassung. Aufsätze 1929-1933. Hg. v. Gerald Mozetic, Wien 1992, S. 101-144.
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Wulz: Unendliche Rationalisierung rung und Gegenüberstellung von historisch gewordenen und zukünftig veränderlichen Bevölkerungsgruppen.52
Literatur Adler, Max: „Die geistesgeschichtliche Bedeutung der materialistischen Geschichtsauffassung“, in: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift 12 (1919), S. 693-699. Austrian Labour Information 24, März-April 1944. Czuber, Emanuel: Die philosophischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Leipzig/Berlin 1923. Dvorak, Johann: Edgar Zilsel und die Einheit der Erkenntnis, Wien 1981. Frank, Philipp: Das Kausalgesetz und seine Grenzen, in: Frank, Philipp/Schlick, Moritz (Hg.): Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung. Bd. 6, Wien 1932. Hoffmann, Christoph: „Drei Geschichten. Erzählen als experimentelle Operation bei Musil (und Kleist)“, in: Gamper, Michael/Wernli, Martina/Zimmer, Jörg (Hg.): „Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte“. Experiment und Literatur 1890-2009, Göttingen (in Vorbereitung). Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften. Bd. 5, Frankfurt a.M. 1987. Kracauer, Siegfried: „Das Ornament der Masse“, in: Ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1977, S. 50-63. Nemeth, Elisabeth: „‚Wir Zuschauer‘ und das ‚Ideal der Sache‘. Bemerkungen zu Edgar Zilsels ‚Geniereligion‘“, in: Stadler, Friedrich (Hg.): Bausteine wissenschaftlicher Weltauffassung. Lecture Series/Vorträge des Instituts Wiener Kreis 1992-1995, Wien/ New York 1997, S. 157-178. Raven, Diederick/Krohn, Wolfgang: „Edgar Zilsel: His Life and Work [1891-1944]“, in: Zilsel: The Social Origins of Modern Science (2000), S. xx-xxvi. Rouvillois, Frédéric (Hg.): L’Utopie. Introduction, choix de textes, commentaires, vade-mecum et bibliographie, Paris 1998. Schaffer, Simon: „Zilsel thesis“, in: Bynum, W.F./Browne, E.J./ Porter, R. (Hg.): Dictionary of the History of Science, London 1981, S. 450. Serres, Michel: „Mathematisierung des Empirismus“, in: Ders.: Hermes II – Interferenz, Berlin 1992, S. 263-271.
52 Vgl. ebd., S. 110.
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Soziale und ökonomische Szenarien Stadler, Friedrich: „Aspekte des gesellschaftlichen Hintergrundes und Standortes des Wiener Kreises am Beispiel der Universität Wien“, in: Berghel, H. et al. (Hg.): Wittgenstein, der Wiener Kreis und der kritische Rationalismus: Akten des 3. Internationalen Wittgenstein Symposiums, Wien 1979, S. 41-59. —: Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt a.M. 1997. Sterzinger, Othmar: Zur Logik und Naturphilosophie der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Leipzig 1911. Stöltzner, Michael: Causality, Realism and the Two Strands of Boltzmann’s Legacy (1896-1936), Diss., Universität Bielefeld 2003. —: „Vienna Indeterminism: Mach, Boltzmann, Exner“, in: Synthese 119 (1999), S. 85-111. Zilsel, Edgar: Das Anwendungsproblem. Ein philosophischer Versuch über das Gesetz der großen Zahlen und die Induktion, Leipzig 1916. —: Die Entstehung des Geniebegriffes. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus , Tübingen 1972. —: Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung. Hg. v. Johann Dvorak, Frankfurt a.M. 1990. —: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft. Hg. v. Wolfgang Krohn, Frankfurt a.M. 1976. —: „Naturphilosophie“, in: Schnaß, Franz (Hg.): Einführung in die Philosophie, Osterwieck-H. 1928, S. 107-143. —: „Soziologische Bemerkungen zur Philosophie der Gegenwart“, in: Der Kampf 23 (1930), S. 410-424. —: The Social Origins of Modern Science. Hg. v. Wolfgang Krohn und Diederick Raven, Dordrecht 2000. —: „Über die Asymmetrie der Kausalität und die Einsinnigkeit der Zeit“, in: Die Naturwissenschaften 15 (1927), S. 280-286. —: „Versuch einer neuen Grundlegung der statistischen Mechanik“, in: Monatshefte für Mathematik und Physik 31 (1921), S. 118156. —: „Weltgeschichte und Einzelmensch“, in: Das Jahr 1930. Österreichischer Arbeiter-Kalender, Wien 1930, S. 59-67, Quelle: Wienbibliothek im Rathaus, Tagblatt-Archiv (mit freundlicher Genehmigung der Wienbibliothek). —: Wissenschaft und Weltauffassung. Aufsätze 1929-1933. Hg. v. Gerald Mozetic, Wien 1992.
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„Suppose you wanted to change the entire course of economic policy ...“. Neoliberale Utopie und Regierungskunst LEA HARTUNG
„This timely gathering of American and European liberals should be of particular interest to both. May it prove to be for both continents the starting point of an intellectual, economic and political renaissance without which it would seem wellwigh impossible not to despair of the future.“1
Mit diesen Worten eröffnete William Rappard am 1. April 1947 das Gründungstreffen der Mont Pèlerin Society. Mit der etwas umständlichen dreifachen Verneinung will er sagen: Ohne die Gründung der Mont Pèlerin Society und die damit erhoffte „intellektuelle, ökonomische und politische Renaissance“ müssten marktwirtschaftlichorientierte Liberale verzweifeln. Das Wort „Renaissance“ trifft zweifelsohne exakt die Geisteshaltung, aus der heraus 38 Männer (und es waren tatsächlich ausschließlich Männer) der Einladung Friedrich August von Hayeks zu einer zehntägigen Zusammenkunft im Hôtel du Parc auf dem Mont Pèlerin gefolgt waren. Das in ihren Augen zu überwindende ‚Mittelalter‘ war der durch Verfall des klassischen Liberalismus rund um die Welt dominant gewordene ‚Staatsinterventionismus‘. Unter diesem Stichwort subsumierten sie durchaus so heterogene politische Bewegungen wie Kommunismus, Faschismus, New Deal, Keynesianismus und Wohlfahrtsstaat, deren Gemeinsamkeit für sie darin lag, dass individuelle ‚Freiheit‘ durch den ‚Staat‘ eingeschränkt wird. Was die gewünschte Erneuerung sei, ist auf der Internetseite der Society als Paraphrase des „Statement of Aims“ zu lesen: „Again without detailed agreements, the members see the Society as an effort to interpret in modern terms the fundamental principles of economic society as
1
Rappard, William: „Opening Address“, Vortragstyposkript [im Folgenden: VoTy]; General Meeting, Mont Pèlerin, 01.04.1947, Liberaal Archief te Gent [im Folgenden: LAr], S. 6–14, hier: S. 13f.
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Soziale und ökonomische Szenarien expressed by those classical economists, political scientists, and philosophers who have inspired many in Europe, America and throughout the Western World.“2
Es geht den Mitgliedern der Gesellschaft zunächst darum, den klassischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts zu aktualisieren. Folgerichtig wurde u.a. auch der Name The Society for the Revival of Liberalism erwägt,3 in der Tradition des Centre pour la Rénovation du Libéralisme (CIRL), das 1938 auf dem Colloque Walter Lippmann in Paris gegründet wurde. Im Rahmen dieses Colloque trafen sich u.a. Walter Lippmann, Friedrich August von Hayek, William Rappard, Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke und Louis Rougier, um zu debattieren, warum der Liberalismus unter dem Label „Manchesterliberalismus“ oder „Laissez-faire“ in Misskredit geraten war und um eine erneuerte Bewegung unter dem vorläufigen Begriff „Neo-Liberalismus“ aus der Taufe zu heben.4 Der Zweite Weltkrieg unterbrach diese Bemühungen, die schließlich 1947 wieder aufgegriffen wurden. Es zeigt sich also, dass der Neoliberalismus nicht einen Ursprung, sondern multiple Herkunftslinien aufweist. Die Mont Pèlerin Society – man hatte sich nach einer lebhaften Namens-Kontroverse schlicht auf den Ort der Zusammenkunft geeinigt – ist nur ein genealogischer Faden unter vielen. Welche Ziele erarbeitet die Society auf ihrem ersten Treffen? Das „Statement of Aims“ gibt darüber Auskunft: „The group does not aspire to conduct propaganda. It seeks to establish no meticulous and hampering orthodoxy. It aligns itself with no particular party. Its object is solely, by facilitating the exchange of views among minds inspired by certain ideals and broad conceptions held in common, to contribute to the preservation and improvement of the free society.“5
Das Gründungsdokument verzeichnet hier lediglich einen sehr losen Zusammenhang aus „Köpfen, die bestimmte Ideale und generelle Überzeugungen teilen“ oder, wie es an anderer Stelle heißt, eine „Ansammlung von Individuen, von denen keines für das andere
2
3 4
5
„Statement of Aims“, in: http://www.montpelerin.org/mpsGoals.cfm [Stand: 31. Januar 2010]. Die Internetversion des „Statement“ ist durch einige Erläuterungen – das „Afterword“ – ergänzt worden. Dieses Zitat stammt aus dem „Afterword“. Vgl. Hartwell, Ronald Max: A History of the Mont Pelerin [sic] Society, Indianapolis 1995, S. 42. Vgl. Walpen, Bernhard: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Gesellschaft, Hamburg 2004, S. 60. „Statement of Aims“ (Originalversion), in: Hartwell: A History (1995), S. 42.
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Hartung: Neoliberale Utopie und Regierungskunst sprechen kann“6. Dennoch werden einige Eckpfeiler in die diskursive Erde geschlagen, in deren Rahmen die Diskussionen sich abspielen werden, die man vorläufig das ,neoliberale Mantra‘ nennen könnte: Freiheit, freier Markt, Wettbewerb, Privateigentum, liberale Ordnung, harmonische internationale Wirtschaftbeziehungen und „rule of law“. Welche Art des Wissens soll hier produziert werden? Besonders in der Erklärung dessen, was „liberal“ bedeutet, wird erkennbar, dass es hier um Wissen über und zum Regieren geht: „Here, ‚liberal‘ is used in its European sense, broadly epitomized by a preference for minimal and dispersed government, rather than in its current American sense which indicates the opposite preference for an extension and concentration of governmental powers.“7
Wie gemeinhin bekannt, steht das Wort „liberal“ innerhalb des politischen Spektrums der USA seit dem New Deal tatsächlich für „links/sozialdemokratisch“ und wird von ‚Rechten‘ bzw. Konservativen pejorativ verwendet, während man in Europa damit den politischen und v.a. ökonomischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts meint.8 Dass die Society sich fragte, was Regieren bisher gewesen war und v.a., wie in Zukunft regiert werden soll, sei an vier der sechs Forschungsgebiete belegt, die im „Statement“ festgelegt wurden: „1. The analysis and exploration of the nature of the present crisis9 so as to bring home to others its essential moral and economic origins. […] 2. The redefinition of the functions of the state so as to distinguish more clearly between the totalitarian and the liberal order. […] 4. The possibility of establishing minimum standards by means not inimical to initiative and functioning of the market. […] 6. The problem of the creation of an international order conducive to the safeguarding of peace and liberty and permitting the establishment of harmonious international economic relations.“10 6 7 8
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„Statement of Aims“ (im später ergänzten „Afterword“). Ebd. Vgl. Charvet, John: „Liberalism“, in: Cline Horowitz, Maryanne (Hg.): New Dictionary of the History of Ideas. Bd. 3, Farmington Hills 2005, S. 1262– 1269. Mit der „present crisis“ meint die Society einerseits die oben skizzierten „staatsinterventionistischen“ Tendenzen jedweder Couleur, die – ihrem Weltbild zufolge – die Freiheit des Individuums einschränken und die für eine „freie Gesellschaft“ unabdingbaren Komponenten verhindern – die da wären: Privateigentum, wettbewerbsgesteuerter Markt, verstreute Macht und ‚Unternehmungsgeist‘ (interessanterweise taucht der Zweite Weltkrieg nicht explizit im „Statement of Aims“ auf).
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Soziale und ökonomische Szenarien Hier zeigt sich also ein dezidierter Fokus auf ein Wissen über und zum Regieren. Einerseits geht es dabei rückschauend um die „Analyse der moralischen und ökonomischen Ursachen der gegenwärtigen Krise“. Andererseits und hauptsächlich handelt es sich jedoch um zukunftsgewandte Entwürfe: die „Neudefinition der Funktion des Staates“, die „Festlegung gewisser Mindest-Standards, die Unternehmungsgeist und das Funktionieren des Markt nicht beeinträchtigen“, und die „Errichtung einer internationalen Ordnung, die Frieden, Freiheit und harmonische internationale Wirtschaftsbeziehungen fördert.“
Think Tanks: Zukunftsgewandtes Regierungswissen Diese Zukunftsgewandtheit, dieses Denken in Potenzialitäten, ist ein zentrales Merkmal für eine neue Form der Wissensorganisation im 20. Jahrhundert: Think Tanks. Auch wenn die Fülle der Think Tanks sich durch Größe, Struktur, Arbeitsfeld, Auftraggeber, Finanzierung und Bedeutung unterscheidet, ist ihnen dennoch ein Set von Wissenstechniken gemein, deren wichtigste sich wie folgt charakterisieren lassen: Erstens die netzwerkförmige, elitäre Organisationsform, zweitens die Überzeugung, dass Ideen die Welt verändern, und drittens das Denken in Potenzialitäten. Die Mont Pèlerin Society ist eine der ersten Organisationen, die mit diesen Techniken der Wissenserzeugung experimentierte.11 Vielleicht haben heutige Think Tanks auf den ersten Blick nicht mehr viel mit ihr gemein, schaut man jedoch auf das Wie der Wissenserzeugung, werden die Kontinuitäten erkennbar – und in dieser Hinsicht ist die Mont Pèlerin Society ein Think Tank avant la lettre. Die erste an der MPS ablesbare ‚Haupt-Technik‘ eines Think Tanks ist die elitäre, netzwerkförmige Organisationsform, die in mehrerer Hinsicht zwischen Offenheit und Geschlossenheit oszilliert. Einerseits ist sie offen für jeden „like-minded scholar“, andererseits entwickelt sich schnell ein Aufnahmeverfahren, bei dem ein Anwärter durch zwei Mitglieder vorgeschlagen werden muss. Da verfügt die Society über ein starkes Sendungsbewusstsein, dort dürfen – wenn überhaupt – nur assoziierte Journalisten von den Treffen berichten. Die temporäre räumliche Konzentration in einem großen Hotel oder einer Universität kontrastiert mit der Verstreutheit der Mitglieder über die ganze Welt. Das Beharren auf individu10 Ebd. 11 Vgl. Hartung, Lea: „,Half-an-idea machine‘. Die Mont Pèlerin Society zwischen Gelehrten-Gesellschaft und Think Tank“, in: Brandstetter, Thomas/ Pias, Claus/Vehlken, Sebastian (Hg.): Think Tanks. Die Beratung der Gesellschaft, Berlin/Zürich 2010, S. 87–111.
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Hartung: Neoliberale Utopie und Regierungskunst ellem Einzelkämpfertum reibt sich an der Begeisterung darüber, endlich gemeinsam handeln zu können. Einerseits wird die Offenheit der Diskussion betont – und z.T. liegen die Positionen tatsächlich weit auseinander – andererseits gibt es ein rigides Set von Grundüberzeugungen, die man teilen muss. Zweites wichtiges Merkmal jedes Think Tanks ist die Überzeugung, dass die Welt von Ideen regiert wird – eine Erkenntnis, die Hayek der Mont Pèlerin Society von Beginn an mit auf den Weg gegeben hat: „Unless we can make the philosophical foundations of a free society once more a living intellectual issue […], the prospects of freedom are indeed dark. But if we can regain that belief in the power of ideas which was the mark of liberalism at its greatest, the battle is not lost.“12 Hayek stellt immer wieder in dichotomer Weise dunklen, ‚knechtenden‘ Sozialismus und hellen, befreienden Liberalismus gegenüber, wobei er in der Beurteilung der Intellektuellen zögert: Einerseits sind sie für ihn alle sozialistisch, und er möchte nichts mit ihnen zu tun haben, andererseits sieht er in ihrer gesellschaftlichen Position den Schlüssel zum Einfluss auf öffentliche Meinung und Politik. Schließlich ruft er zur Formierung eines neuen Intellektuellen-Typus auf: dem liberalen Intellektuellen, der die Welt – tatsächlich mit allem Pathos – noch retten kann. Innerhalb der Mont Pèlerin Society ist in der Folge oft die Rede vom „Battle of Ideas“. Worum wird in dieser „Schlacht der Ideen“ gekämpft? Es wird um die Definitionsmacht gestritten, was ‚möglich/unmöglich‘ ist; es geht darum, die möglichen Welten nach eigener Auffassung zu formen. Es gibt in der Society eine ausführliche Debatte um den Begriff „politically impossible“, dem sie emblematisch das Bismarcksche Diktum entgegenhalten: „Politik ist die Kunst des Möglichen“13. Milton Friedman bringt es in seinem Vorwort zur Capitalism-and- Freedom-Ausgabe von 1982 auf den Punkt: „Only a crisis, actual or perceived, produces real change. When that crisis occurs, the actions that are taken depend on the ideas that are lying around. That, I believe, is our basic function: to develop alternatives to existing policies, to keep them alive and available until the politically impossible becomes politically inevitable.“14
12 Hayek, Friedrich August von: „The Intellectuals and Socialism“, in: The University of Chicago Law Review (16) 1949, S. 417–433, hier: S. 433. 13 Schoeck, Helmut: „What is Meant by ‚Politically Impossible‘?“, VoTy, General Meeting, Sankt Moritz, 07.09.1957, LAr, 8 S., hier: S. 1. 14 Friedman, Milton/Friedman, Rose: Capitalism and Freedom, Chicago 1982 [1962], S. ix.
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Soziale und ökonomische Szenarien Naomi Klein hat gezeigt, dass Krisen und der daraus folgende Schockzustand von neoliberalen Kräften ausgenutzt wurden und werden, um radikale Veränderungen im sozio-ökonomischen Gefüge in Richtung des ‚Mantras‘ vom ‚freien Markt‘ usw. anzubieten und umzusetzen. Beispiele sind u.a. der Sturz von Salvador Allende im Jahr 1973, nach dem Hayek, Friedman und andere für Pinochet ein „Schocktherapie“ genanntes Acht-Punkte-Regierungsprogramm schrieben,15 oder die Privatisierung und Deregulierung der irakischen Wirtschaft nach dem Einmarsch amerikanischer Truppen.16 Milton Friedman hat erkannt, dass in Krisen-Szenarien dieser Art Ideen aktualisiert werden, die vorher nicht im Bereich des Möglichen schienen und von Organisationen wie der MPS ‚virtuell‘ bereitgehalten wurden. Hier zeigt sich die langfristige, indirekte Art der Beeinflussung, wie sie der Society vorschwebt. Hayek veranschlagte für einen Wandel der ‚dominanten Weltanschauung‘ zwei bis drei Generationen.17 Nicht zu vergessen ist, dass die Society ihr Credo „Nichts ist unmöglich“ taktisch einsetzt und gleichzeitig wiederum eigene Ausschlüsse in Form von „Unmöglichkeiten“ produziert: „I propose that what is demanded by the sense of social justice is usually impossible to begin with.“18 Soziale Gerechtigkeit wird schlicht für unmöglich erklärt. Statt direkt Politik zu machen, zielen die Mitglieder der Society auf eine tiefere Ebene: Sie wollen beeinflussen, was ‚sabar/unsagbar‘ und damit ‚möglich/unmöglich‘ ist.19 Diese indirekte Beeinflussung ist ein erster Aspekt der Art und Weise, wie die Mont Pèlerin Society das Mögliche regieren will. Ein zweiter Aspekt der spezifischen Diskursivität der Society ist eine bestimmte utopische Technik.
15 Vgl. Plehwe, Dieter/Walpen, Bernhard: „Gedanken zu einer Soziologie der Intellektuellen des Neoliberalismus“, in: Bieling, Hans-Jürgen et al. (Hg.): Flexibler Kapitalismus. Analysen, Kritik und politische Praxis. Frank Deppe zum 60. Geburtstag, Hamburg 2001, S. 225–239. 16 Vgl. Klein, Naomi: The Shock Doctrine. The Rise of Disaster Capitalism, New York 2007. 17 Vgl. Plehwe, Dieter/Walpen, Bernhard: „Wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Produktionsweisen im Neoliberalismus. Beiträge der Mont Pèlerin Society und marktradikaler Think Tanks zur Hegemoniegewinnung und -erhaltung“, in: Prokla (29) 1999, S. 203–235. 18 Schoeck: „What is Meant by ‚Politically Impossible‘?“, S. 2. 19 Vgl. Deleuze, Gilles: „Die Schichten oder historischen Formationen: Das Sichtbare und das Sagbare. (Wissen)“, in: Ders.: Foucault, Frankfurt a.M. 1992, S. 69-98, hier S. 69ff.
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Hartung: Neoliberale Utopie und Regierungskunst
Indirekte Führung von Führungen Der Einfluss, den die Society demnach zu nehmen gedenkt, ist ein mittelbarer: Ihre Mitglieder wollen weder in die Politik gehen noch Politiker direkt beeinflussen: „Society’s course will be changed only by a change in ideas. First you must reach the intellectuals, the teachers and writers, with reasoned argument. It will be their influence on society which will prevail, and the politicians will follow.“20 Ihr Konzept basiert auf diesem top-down-Modell von Hayek: Wahre, richtige Ideen werden von „intellectual leaders“ entwickelt, von diesen an andere Intellektuelle – „professional secondhand dealers in ideas“21 – weitergegeben, daraufhin von Politikern ‚verdaut‘ und umgesetzt und schließlich vom „Endverbraucher“ – dem „man in the streets“ – in seine Auffassungen integriert. Dabei ist dieses Modell durchaus dynamisch, d.h. Ereignisse können die Ideen verändern, aber nie läuft die Kette ‚bottom up‘, nie haben ‚einfache Leute‘ eine gute Idee. Mit einer einzigen Ausnahme: Die Mont Pèlerin Society rühmt an der ‚Masse‘ ihr gesundes Misstrauen gegen jegliche Regierung.22 Der undemokratische Gehalt dieses Schemas steht relativ unvermittelt neben leidenschaftlichen Bekenntnissen zur Demokratie. Doch zurück zur Technik der indirekten Beeinflussung, die mit einem Zitat aus Hayeks einleitender Rede auf dem Gründungstreffen illustriert werden kann: „[…] at this particular juncture, economists are perhaps more generally aware of the immediate dangers and of the urgency of the intellectual problems which we must solve if we are to have a chance to direct the movement in a more desirable direction“23. Die wünschenswerte Richtung orientiert sich immer an dem oben erwähnten neoliberalen Mantra: Freier Markt, wenig Staat, Wettbewerb usw. Dieses Anstoßen einer Bewegung, ohne die Bewegung selbst ausführen zu müssen, beschreibt Foucault als „Führung von Führungen“.24 In diesem Begriff steckt nicht nur das Anführen anderer, sondern auch das Sich-Aufführen, die SelbstFührung, die z.B. im Begriff der „guten Führung“ im Gefängniskontext auftaucht. Diese lässt sich besonders schön an den Intellektuellen der Society beobachten, die nicht nur allen den freien Markt verordnen wollen, sondern sich auch selbst als „intellektuelle Un20 Friedrich August von Hayek, zitiert nach Blundell, John: „How To Move a Nation. Could a chicken farmer and two economists change British history?“, in: Reason 1987, S. 31–35, hier: S. 31 [Herv. i.O.]. 21 Hayek, „The Intellectuals and Socialism“ (1949), S. 417. 22 Vgl. Popper, Karl Raimund: „Towards a Liberal Theory of Public Opinion“, VoTy, General Meeting, Venedig, 09.09.1954, LAr, 7 S. 23 Hayek, Friedrich August von: „Introduction“, VoTy, General Meeting, Mont Pèlerin, 01.04.1947, LAr, S. 15–40, hier: S. 22. [Herv. L.H.] 24 Vgl. den Beitrag von Clemens Peck in diesem Band.
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Soziale und ökonomische Szenarien ternehmer“, als „idea broker“, auf dem „Markt der Ideen“ subjektivieren. Ein Beispiel aus der Anfangszeit der Society zeigt, dass diese Selbst-Subjektivierung anfänglich durchaus mühsam war. Erik Ritter von Kuehnelt-Leddihn schreibt 1960 anlässlich des General Meetings an den Sekretär der Society: „Ich erlaube mir, diesem Brief ein Flugblatt beizulegen, dessen marktschreierischen Ton Sie wahrscheinlich abstoßen wird, aber als Privatgelehrter ohne Vermögen muss ich mir mein Leben verdienen und zu diesem Behuf fahre ich alljährlich in die Vereinigten Staaten auf eine Vortragsreise. Diese Art publicity ist natürlich sehr amerikanisch.“25
Hunold antwortet ihm, dass ihm „diese Art, einen Gelehrten einem näherzubringen, viel sympathischer als der trockene akademische Ton“26 sei. Heute beherrscht auch jeder nicht-marktradikale Fördergelder- oder Stellensuchende die Selbsttechnik des Sich-selbstAnpreisens, ohne mit der Wimper zu zucken. Abschließend wäre es wichtig, im Blick zu behalten, auf welche Weise die Society – und in noch viel stärkerer Weise heutige Think Tanks – von der Losung der indirekten Beeinflussung abweichen, um doch Politiker direkt zu beeinflussen, zu beraten oder gar selbst Politiker zu werden. Festzuhalten ist, dass das bloße ‚Bereithalten und Anbieten von Ideen‘ eine erfolgreiche diskursive Strategie für Think Tanks war und ist.
Utopische Taktiken In den Konferenz-Materialien der Mont Pèlerin Society stößt man oft, besonders in ihrer Anfangszeit, auf einen pathetisch-prophetischen Ton: „The competitive market thus provides justice and liberty on the one hand and the highest economic benefit on the other. If the intellectual leaders of the masses are capable of leaving aside their present demagogy [...], there will be peace and abundance for all. If, on the contrary, the people and the workers insist in destroying the market economy we are all - and the masses in the first place - doomed.“ 27
25 Erich Ritter von Kuehnelt-Leddihn an Albert Hunold, 02.06.1960, Hoover Institution Archives, Mont Pèlerin Society Records [im Folgenden: HIA MPS], 14/6 [Box/Ordner], 2 S., hier: S. 1. 26 Albert Hunold an Erich Ritter von Kuehnelt-Leddihn, 09.06.1960, HIA MPS, 14/6, 1 S. 27 Reig, Joaquin: „Guideposts for the Masses towards Freedom and Economic Welfare“, General Meeting, Kassel, 07.09.1960, LAr, 4 S., hier: S. 4.
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Hartung: Neoliberale Utopie und Regierungskunst Zu diesem häufig aufzufindenden dystopischen Ton passt, dass auf einer Konferenz im Jahr 1960 ein Buch in den höchsten Tönen gelobt wird: Atlas Shrugged (1957) von Ayn Rand: „In our own country it is most interesting that one of the recent books that has created a sensation is a book by Ayn Rand, the new book by Ayn Rand 'Atlas Shrugged' which sold over 100 000 copies in hard covers and reproduced in paperbacks has sold over 400 000 copies. Now, one would believe that it is impossible, this philosophy of supreme individualism and if you have read Ayn Rand, you know that Ayn Rand practically said in effect that Dr. Mises is a left wing devotionalist (laughter). To have a book representing that supreme and rugged individualism as strong as it is in this country, in the United States, is a good sign.“28
Atlas Shrugged ist ein Science-Fiction-Roman, in dem ein Amerika beschrieben wird, das, nach dem Grad der Industrialisierung zu schließen, am Ende des 19. Jahrhunderts angesiedelt zu sein scheint; die Stimmung erinnert jedoch eher an die Große Depression der 1930er Jahre, und der gesellschaftliche Hintergrund ähnelt den 1950ern. Geschildert wird das Leben von Dagny Taggart, der Vizepräsidentin der Eisenbahngesellschaft Taggart Transcontinental. Sie kämpft mit einigen anderen aufrechten Industriellen gegen Planwirtschaft, Kollektivismus, Moralismus, Faulheit, Schwäche, kurzum gegen die „looters“, die Plünderer. Doch einer nach dem anderen verschwinden die patenten Großindustriellen, die „prime movers“ oder „life givers“, spurlos und auf rätselhafte Weise, bis das wirtschaftliche Leben im Land quasi zum Erliegen kommt. Dagny hat inzwischen in einer verlassenen Fabrik die Überreste eines Motors gefunden, der anscheinend atmosphärische, statische Energie in kinetische umwandeln konnte – und damit das Energieproblem für immer gelöst hätte. Auf der Jagd nach dem Konstrukteur, die in einer dramatischen Flugzeugverfolgung gipfelt, stürzt Dagny schließlich in das geheime Versteck der Kapitalisten ab: zwar keine Insel, aber immerhin ein verstecktes Tal in den Colorado Mountains, das von der Außenwelt durch ein Strahlen-Schild abgeschirmt ist. Dort leben die ‚streikenden‘ Industriellen und ihre intellektuellen Mitstreiter in einem kleinen Dorf, über dem hoch oben auf einer Säule ein metergroßes Dollar-Zeichen aus purem Gold prangt: „It hung in space above the town, as its coat-of-arms, its trademark, its beacon – and it caught the sunrays, like some transmitter of energy that sent them in shining blessing to stretch horizontally through the air above the roofs.“29 An diesem Ort wollen 28 Fertig, Lawrence: „Public Opinion in a Free Society“, Vortragstranskript [leicht geglättet], General Meeting, Kassel, 07.09.1960, LAr, 7 S., hier: S. 6. 29 Rand, Ayn: Atlas Shrugged, New York 1957, S. 656.
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Soziale und ökonomische Szenarien sie – angeführt von John Galt – der Wohlfahrtsgesellschaft zeigen, dass sie sich nicht länger gleichzeitig „hassen“ und „ausbeuten“ lassen und dass die Gesellschaft ohne sie nicht lebensfähig ist, während sie sich ihr kleines Kapitalisten-Paradies aufbauen, das z.B. darin besteht, dass „nichts gratis“ ist, sondern dass man selbst für einen kleinen Gefallen „stolz“ bezahlt.30 Die Währung ist Gold: „We accept nothing but objective values“31. Auf über 1000 engbedruckten Seiten zeigt sich – verkürzt gesagt –, dass man den Markt und die Unternehmer am besten frei und ohne Einschränkungen operieren ließe, dann gehe es auch insgesamt allen besser – klassische „The tide lifts all the boats“-Rhetorik. Den Stärkeren, Talentierteren gehe es natürlich besser als den Schwächeren, Inkompetenten, weil das gerecht sei. Der ‚Utopie‘ aus ungebremstem Kapitalismus, grenzenlosem Individualismus, Privateigentum, Unternehmertum, Eigennutz, Profit, Leistung und Wachstum wird schroff eine ‚Dystopie‘ gegenübergestellt, die auch drei Viertel des Buchs ausfüllt: Planung, Verstaatlichung, Altruismus, Faulheit, Schwäche, kurz: sozialstaatliches ‚Schmarotzertum‘. Die in dem Roman umständlich ausgebreitete Dichotomie aus Utopie vs. Dystopie ist besonders in ihrem radikalen Stil deckungsgleich mit dem ‚Mantra‘ der Mont Pèlerin Society. Hank Rearden, der Metall-Mogul, sagt im Kapitel „The Immovable Movers“ zu Dagny Taggart: „‚We’re a couple of blackguards, aren’t we? […] We haven’t any spiritual goals or qualities. All we’re after is material things. That’s all we care for.‘ […] He was looking at his mills beyond the window; there was no guilt in his face, no doubt, nothing but the calm of an inviolate self-confidence. ‚Dagny‘ he said, ‚whatever we are, it’s we who move the world and it’s we who’ll pull it through.‘“32
Das Selbstverständnis der Gruppe der ‚Aussteiger‘, die sich letztendlich in „Galt’s Gulch“ zusammenrotten, zeigt interessante Parallelen zu dem der Mont Pèlerin Society – so sagt der Öl-Magnat Ellis Wyatt über die Gemeinschaft im Tal: „We are free from one another, yet we all grow together“33; eine Haltung, die sich – wie oben zitiert – fast genauso im „Statement of Aims“ der Mont Pèlerin Society findet. Peter Josef Mühlbauer hat gezeigt, wie viele Überschneidungen es zwischen einem bestimmten Teil von Science-Fiction-Literatur
30 „So I’ll warn you now that there is one word which is forbidden in this valley: the word ‚give‘.“ (Ebd., S. 664.) 31 Ebd., S. 676. 32 Ebd., S. 89. 33 Ebd., S. 672.
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Hartung: Neoliberale Utopie und Regierungskunst und der politischen Philosophie des Libertarismus gibt.34 Es geht dabei um Autoren wie Robert Heinlein, James P. Hogan, Poul Anderson, Vernor Vinge oder Paul Wilson. Zentral sind die Figur der Grenze, der „rugged frontier“, und des individualistischen Helden. Beide Figuren sind auch im Diskurs der Mont Pèlerin Society sehr präsent. Über die motivischen Parallelen hinaus stellt sich die Frage nach der Funktion der Science-Fiction-artigen Elemente in ihrem Diskurs. Fredric Jameson gibt eine entscheidende Anregung – die Funktion von Science-Fiction sei weniger das Ausmalen der Zukunft als die Historisierung der Gegenwart: „[T]he apparent representationality of SF has concealed another, far more complex temporal structure: not to give us ‚images‘ of the future […] but rather to defamiliarize and restructure our experience of our own present, and to do so in specific ways distinct from all other forms of defamiliarization.“ 35
Utopien funktionieren für Jameson weniger als Modus der Repräsentation, sondern eher als eine bestimmte Art der Praxis, ein konkretes Set mentaler Operationen, die auf ein Rohmaterial einwirken, das die gegenwärtige Gesellschaft selbst ist. Jameson zufolge zeichnen Utopien also weniger ein Bild der Zukunft, als dass sie die Gegenwart kartografieren. Dieses Zeitverhältnis lässt sich fast schon lehrbuchartig am Titel einer utopischen Erzählung von Edward Bellamy nachvollziehen: Looking Backward. 2000 to 1887 aus dem Jahr 1888. Looking Backward ist die Geschichte von Julian West, der 1887 in Boston in einen tiefen hypnotischen Schlaf fällt und im Jahr 2000 in den sozialistischen USA wieder erwacht. Dort erzählt er von der dunklen Zeit, aus der er gekommen ist. Es handelt sich also um einen durch den Umweg ‚zurück durch die Zukunft‘ verfremdeten Blick auf die Gegenwart. Außerdem ist Looking Backward ein gutes Beispiel für die „in sich bereits utopische Ambition, ein Buch zu schreiben, um das herum sich eine ganze politische Bewegung bildet“36 – genau wie im Fall von Atlas Shrugged, das 70 Jahre später erscheinen sollte. Dass die Mont Pèlerin Society die Bedeutung dieses Romans so34 Vgl. Mühlbauer, Peter Josef: „Frontiers and dystopias. Libertarian ideology in science fiction“, in: Plehwe, Dieter/Walpen, Bernhard/Neunhöffer, Gisela (Hg.): Neoliberal Hegemony. A Global Critique, London/New York 2006, S. 156–170. 35 Jameson, Fredric: „Progress vs. Utopia. Or: Can we Imagine the Future?“, in: Science Fiction Studies (9) 1982, S. 147–158, hier: S. 151. 36 „[T]he itself properly Utopian ambition to write a book around which a whole political movement might cristallyze“ (Jameson, Fredric: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991. S. 160).
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Soziale und ökonomische Szenarien fort erkannt hatte, zeigt, dass sie einen guten ‚Riecher‘ für wirkungsvolle literarische Utopien (in ihrem Sinne) hatte. Seit 1957 verkaufte sich das Buch bereit 7 Millionen Mal, und der Economist vermeldet im Jahr 2009, dass die Verkäufe immer in krisenhaften Momenten ansteigen.37 Der jüngste Anstieg wird seit September 2008 verzeichnet, als Henry Paulson, der US-Finanzminister der Bush-Administration, eine massive staatliche Rettungsaktion bei den größten Banken des Landes ankündigte, die sich u.a. mit Immobilienkrediten verspekuliert hatten und somit und eine (lang absehbare) weltweite Rezession auslösten. Im Jahr 2009 verkaufte sich Atlas Shrugged 500.000 Mal. Großen Anteil hat darin sicher der umtriebige Think Tank Ayn Rand Institute, der mit potenter finanzieller und politischer Unterstützung die Saga von den kämpfenden Kapitalisten auf vielfältige Weise bewirbt: Internetseite, Pressemeldungen, Buchläden, Fernsehsendungen (Fox News), EssayWettbewerb für Schulen und Universitäten, Schenkung von ca. 1 Million Ayn-Rand-Büchern an US-amerikanische Schulen in den Jahren 2005 bis 2009, agitatorische Auftritte bei den Anti-SteuerProtesten in Washington im Jahr 2010 und vieles mehr.38 Überträgt man Jamesons These, dass Science-Fiction die Gegenwart als Vergangenheit modelliert, auf die Mont Pèlerin Society, wird der naiv-utopische Ton ihres neoliberalen ‚Mantras‘ funktional: Im Diskurs der Society zeigt sich, dass der utopisch-klingende Verweis auf das Mögliche – der ungezügelte ‚freie Markt‘ – oft mit dem Appell verbunden ist, sich nicht allzu lang mit dem Gegenwärtigen aufzuhalten: „Suppose you had the bright idea of trying to change the entire course of economic policy, if not of national and international history. How might you start?“39 Genau an dieser Stelle übernehmen utopische Versatzstücke die Funktion, die Gegenwart als überwindbar darzustellen. Um Teile des MPS-Diskurses als utopisch bezeichnen zu können, liegt hier ein bestimmter Utopie-Begriff zugrunde, der die politisch-wertende Definition beiseite lässt: Im allgemeinen Verständnis werden Utopien eher einem linken Spektrum zugeordnet. Wenn jedoch im Jahr 2010 die Deutsche Bank eine Ausstellung mit dem Titel Utopia Matters im Deutsche Guggenheim zeigt, ahnt man, dass die Entscheidung „Utopie oder Dystopie“ immer im Auge des Betrachters liegt. Brauchbarer scheint in diesem Fall deshalb ein Utopie-Verständnis, das sie funktional als Vektor begreift, der grundsätzlich die Veränderbarkeit der Gegenwart anzeigt und dazu eine Richtung vorgibt. Auch Teile der Mont Pèlerin Society hatten mit der 37 Vgl.The Economist, 26.02.2009. 38 Vgl. www.aynrand.org. 39 Harris, Ralph: „Let’s change the world“, VoTy, Regional Meeting, Vancouver, 1983, HIA MPS, 25/4, 6 S., hier: S. 1.
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Hartung: Neoliberale Utopie und Regierungskunst Herkunft des Utopie-Begriffs gehadert und sich dennoch für ihn entschieden, analog zu der Verurteilung und gleichzeitigen Appropriation der Rolle der Intellektuellen. Hayek verfährt in Sachen Utopie ganz nach dem Prinzip „Know your enemy“: „The main lesson which the true liberal should learn from the success of the socialists is that it was their courage to be Utopian which gained them the support of the intellectuals and therefore an influence on public opinion which is daily making possible what only recently seemed utterly remote.“40
Um die Operationalisierung der utopischen Elemente im Diskurs der Society zu fassen, eignet sich Foucaults Begriff der „ProgrammUtopie“, die „sowohl eine Utopie als auch ein konkretes Vorhaben ist.“41 Er beschreibt ein Wissen, das weder bloßer Wunsch noch exakte Prognose ist, sondern auf der Ebene dazwischen liegt: ein Programm. Das heißt, dass ein Programm nie 1:1 umgesetzt werden wird und muss – wichtig ist, welche Strategien es ermöglicht. Foucault sagt dazu in einem Gespräch: „Sie sagen mir: Nichts passiert, wie es in diesen ‚Programmen‘ niedergelegt ist, sie sind nichts weiter als Träume, Utopien, eine Art imaginäre Produktion, die an die Stelle der Realität zu setzen Sie nicht das Recht haben. […] Aber die Tatsache, dass dieses wirkliche Leben nicht dem Schema der Theoretiker entspricht, bedeutet nicht, dass diese Pläne utopisch, imaginär, etc. sind. […] Sie kristallisieren sich in Institutionen, sie leiten individuelles Verhalten an, sie dienen als Wahrnehmungs- und Beurteilungsrahmen.“42
Das anarcho-kapitalistische Paradies aus Atlas Shrugged und die Programm-Utopie der Society, das neoliberale Mantra, sind in diesem Sinne vielleicht nie ein ‚realistisches‘ Ziel gewesen, vielmehr haben sie einen Vektor vorgegeben, in dessen Richtung sich viel bewegt hat – ganz so wie Hayek es zu Beginn wünschte: „[W]e should arrive at an agreement about the kind of programme of economic policy which we should wish to see generally accepted.“43
40 Hayek: „The Intellectuals and Socialism“ (1949), S. 432. 41 Vgl. Foucault, Michel: „Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft“, in: Vogl, Joseph (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 65–93, hier: S. 85. 42 Foucault, Michel: „Table ronde du 20 mai 1978“ (Gespräch mit A. Farge, A. Fontana, J. Léonard, M. Perrot u.a.), zitiert nach Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analysen der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997, S. 147f. 43 Hayek: „Introduction“, S. 26. [Herv. L.H.]
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Soziale und ökonomische Szenarien
Umschlag ins Autoritäre Die spezifische Diskursivität der Mont Pèlerin Society in Bezug auf die Regierung des Möglichen liegt also einerseits in der indirekten Regierungskunst der „Führung von Führungen“ und andererseits im Rückgriff auf eine utopische Technik. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass mit einer Analyse, die Foucaults Diskursanalyse mit dem Wissen-Macht-Komplex und den Gouvernementalitäts-Studien verbindet, nicht alle Elemente der Durchsetzung des Neoliberalismus in den Blick genommen werden können. Der ökonomische Kontext ist der Kapitalismus, der für die Mont Pèlerin Society, daran lässt sie nie einen Zweifel, immer noch die „beste aller möglichen Welten“ ist – wenn er nur ‚richtig gemacht‘ würde. Begreift man einmal den Kapitalismus in seiner neoliberalen Form als ein Ensemble, das diskursive und nichtdiskursive Elemente zu einem Netz verknüpft, wurde mit dem „Battle of Ideas“ nur der diskursive Aspekt in den Blick genommen – der natürlich wiederum die nicht-diskursiven Bereiche mitstrukturiert.44 Zusätzlich muss man im Blick behalten, dass die „Führung von Führungen“ nicht die einzige Art der Regierung ist. Es ist ganz im Sinne Foucaults, nicht von der alleinigen Herrschaft einer Regierungsform auszugehen, sondern die Koexistenz von verschiedenen Regierungsrationalitäten in den Blick zu nehmen. So bleiben neben dem „Battle of Ideas“ als „Führung von Führungen“ auch Formen der Disziplinarmacht (Schule, Universität, Fabrik, Armee, Arbeitsamt) und der Souveränitätsmacht („qui fait mourir et laisse vivre“) bestehen. Spricht man vom utopischen Moment innerhalb des Mont Pèlerin-Diskurses, ist es wichtig, diesen in einer bestimmten Phase zu verorten: in ihrer Anfangszeit, als sie sich noch gegenüber ‚Sozialismus, Keynes & Co.‘ unterlegen fühlten, mitten im Kalten Krieg. Die Situation änderte sich grundlegend, sobald der Neoliberalismus begann, hegemonial zu werden (ab ca. Mitte der 1970er Jahre mit Margaret Thatcher), was hier nicht näher ausgeführt werden kann. Einige oben skizzierte Tendenzen waren somit nur in der Anfangsphase virulent: Utopien waren bald wieder als „kommunistisch“ verschrien, und Einzug hielt das Prinzip TINA: „There is no alternative“. Kurzum, mit dem Neoliberalismus liegt eine Programm-Utopie vor, deren Ziele weitgehend umgesetzt wurden und somit zur Untersuchung genau jener Programm-Ebene einlädt, die zwischen einem ‚reinen‘ Wissen und der ‚Realgeschichte‘ liegt. Dies wäre ein wichti-
44 Vgl. Bührmann, Andrea D./Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008.
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Hartung: Neoliberale Utopie und Regierungskunst ger Beitrag zur Erforschung der Herkunft unserer Gegenwart – und vielleicht des Auswegs aus ihr.
Literatur Blundell, John: „How To Move a Nation. Could a chicken farmer and two economists change British history?“, in: Reason 1987, S. 31–35. Bührmann, Andrea D./Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008. Charvet, John: „Liberalism“, in: Cline Horowitz, Maryanne (Hg.): New Dictionary of the History of Ideas. Bd. 3, Farmington Hills 2005, S. 1262–1269. Deleuze, Gilles: „Die Schichten oder historischen Formationen: Das Sichtbare und das Sagbare. (Wissen)“, in: Ders.: Foucault, Frankfurt a.M. 1992, S. 69-98. Foucault, Michel : „Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft“, in: Vogl, Joseph (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 65–93. —: Sicherheit, Bevölkerung, Territorium. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Aus d. Französischen v. Claudia Brede-Konersmann u. Jürgen Schröder. Hg. v. Michel Sennelart. Frankfurt a.M. 2004. Friedman, Milton/Friedman, Rose: Capitalism and Freedom, Chicago 1982. Hartung, Lea: „,Half-an-idea machine‘. Die Mont Pèlerin Society zwischen Gelehrten-Gesellschaft und Think Tank“, in: Brandstetter, Thomas/Pias, Claus/Vehlken, Sebastian (Hg.): Think Tanks. Die Beratung der Gesellschaft, Berlin/Zürich 2010, S. 87–111. Hartwell, Ronald Max: A History of the Mont Pelerin [sic] Society, Indianapolis 1995. Hayek, Friedrich August von: „The Intellectuals and Socialism“, in: The University of Chicago Law Review (16) 1949, S. 417–433. Jameson, Fredric: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991. —: „Progress vs. Utopia. Or: Can we Imagine the Future?“, in: Science Fiction Studies (9) 1982, S. 147–158. Klein, Naomi: The Shock Doctrine. The Rise of Disaster Capitalism, New York 2007. Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analysen der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997. 331
Soziale und ökonomische Szenarien Mühlbauer, Peter Josef: „Frontiers and dystopias. Libertarian ideology in science fiction“, in: Plehwe, Dieter/Walpen, Bernhard/Neunhöffer, Gisela (Hg.): Neoliberal Hegemony. A Global Critique, London/New York 2006, S. 156–170. Plehwe, Dieter/Walpen, Bernhard: „Wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Produktionsweisen im Neoliberalismus. Beiträge der Mont Pèlerin Society und marktradikaler Think Tanks zur Hegemoniegewinnung und -erhaltung“, in: Prokla (29) 1999, S. 203–235. —/—: „Gedanken zu einer Soziologie der Intellektuellen des Neoliberalismus“, in: Bieling, Hans-Jürgen et al. (Hg.): Flexibler Kapitalismus. Analysen, Kritik und politische Praxis. Frank Deppe zum 60. Geburtstag, Hamburg 2001, S. 225–239. Rand, Ayn: Atlas Shrugged, New York 1957. Walpen, Bernhard: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Gesellschaft, Hamburg 2004.
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Autorinnen und Autoren
Apprich, Clemens, Philosoph und Politikwissenschaftler, ist seit 2008 Doktorand im Fach Kulturwissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin. Von 2008 bis 2010 Doc-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sein Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit Netzkulturen der frühen 1990er Jahre. Brucher, Rosemarie, Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Germanistik und Komparatistik an den Universitäten Wien und Leipzig. Derzeit tätig als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik Wien. Seit 2009 DOC-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) für das Dissertationsprojekt Der posthumane Körper. Künstlerische Selbstverletzung und Bodymodification als zeitgenössische Variante einer Ästhetik des Erhabenen. Hagel, Michael Dominik, Studium der Literaturwissenschaft und Geschichte in Wien und Berlin. Junior Fellow des IFK, Wien. Assistent an der Université de Neuchâtel. Dissertationsprojekt zur Geschichte und Theorie der Utopie. Veröffentlichungen u. a.: „Republic und Capital-Vestung. Aufzeichnungen zu Wirtschaft und Gesellschaft in Johann Gottfried Schnabels Wunderlichen FATA (17311743)“, in: KulturPoetik 9/1 (2009), „Familie, Ökonomie, Bevölkerung. Modelle des Regierens in Christoph Martin Wielands Der goldne Spiegel“, in: Euphorion 104/2 (2010). Harrasser, Karin, Germanistin und Kulturwissenschaftlerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kunsthochschule für Medien Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kultur- und Wissensgeschichte der Prothetik, Literatur und Wissen sowie Medien- und Kulturtheorien. Hartung, Lea, Studium der „Europäische Medienkultur" in Weimar und Lyon. Derzeit Promotion in Berlin über die Formierung eines neoliberalen Regierungsdiskurses am Beispiel der Mont Pèlerin Society, assoziiertes Mitglied des PhD-Net Das Wissen der Literatur an der Humboldt Universität zu Berlin. 333
Autorinnen und Autoren Hofer, Kathi, Künstlerin, Philosophin und freie Kuratorin. Zuletzt u.a.: Lebt und arbeitet in Wien III, Kunsthalle Wien, 2010; Ausstellung u.a. Empfindung. Oder in der Nähe der Fehler liegen die Wirkungen, Augarten Contemporary, Wien 2009 (ko-kuratiert mit Eva Maria Stadler und Sabeth Buchmann); journalistische und redaktionelle Tätigkeit bei springerin - Hefte für Gegenwartskunst (200510); Veröffentlichungen u.a.: Affektbilder, Affekthandlungen, Beziehungskrisen. Die Ereignishaftigkeit der Empfindung im Kino, Hochschulschrift, Universität Wien 2008. Lebt in Wien. Iacomella, Lucia, Studium der Germanistik, Anglistik und Judaistik in Venedig, Tübingen und Berlin, promoviert derzeit in der Graduiertengruppe „Texte.Zeichen.Medien“ an der Universität Erfurt zu den Poetiken des Durchschnittsmenschen um 1900, assoziiertes Mitglied des PhD-Net Das Wissen der Literatur an der Humboldt Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte sind Forschungsschwerpunkte deutsch-jüdische Literatur des 20. Jahrhundert, Lyrik nach 1945 und Literatur und Wissen. Innerhofer, Roland, Germanist, lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Praxis der Avantgarden, Medienästhetik sowie das Wechselverhältnis von Literatur, Technik und Architektur. Leitet derzeit das FWF-Projekt „Regulierungswissen und Möglichkeitssinn 1914-1933“ an der Universität Wien. Kappeler, Florian hat Germanistik und Philosophie an der Universität zu Köln und der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und promoviert seit 2008 als Stipendiat des Berliner Graduiertenkollegs "Geschlecht als Wissenskategorie" mit einer Arbeit zu Wissen und Gender bei Robert Musil. Zuletzt erschienen: „Klasse. Geschlecht. Inszenierungsweisen. Carmen in frühen Stummfilmen (DeMille, Chaplin, Lubitsch)“, in: Kirsten Möller, Inge Stephan, Alexandra Tacke (Hg.): Carmen. Ein Mythos in Literatur, Film und Kunst, Köln/Weimar/Wien 2010 (im Erscheinen). Kleinwort, Malte, Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie in Hamburg und Baltimore. Derzeit Doktorand am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin mit einem Projekt zum Spätstil Kafkas. Veröffentlichungen u.a. zu Benjamin, Kafka und Nietzsche. Largier, Niklaus lehrt als Professor für Deutsche Literatur und Ideengeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit an der University of California in Berkeley (USA). Seine jüngsten Veröffent334
Autorinnen und Autoren lichungen beschäftigen sich mit der Beziehung zwischen ästhetischen Körperpraktiken, Erotismus und der literarischen Imagination (Lob der Peitsche: Eine Kulturgeschichte der Erregung, München 2001) und der Faszination der Dekadenzliteratur für religiöse Praktiken (Die Kunst des Begehrens: Dekadenz, Sinnlichkeit und Askese, München 2007). Aktuelle Projekte sind: Die Geschichte der Fantasie und der Gefühle vom Mittelalter bis zum Barock und die Geschichte der Sinne. Niklaus Largier ist ein international renommierter Experte für die mystischen Traditionen in deutscher Literatur und Denken, besonders für das Werk von Meister Eckhardt und dessen Rezeption vom Mittelalter bis zur Postmoderne. Derzeit ist er Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin (2010-2011). Lauggas, Ingo, Romanist und Kulturwissenschaftler, Leiter der Koordinationsstelle Kulturwissenschaften/Cultural Studies an der Universität Wien, Lehrbeauftragter im Rahmen des gleichnamigen Studienmoduls sowie am Institut für Romanistik in Wien. Forschungsschwerpunkte: Kulturtheorie, literarische Ästhetik, Antisemitismusforschung. Maeder, Dominik, Studium der Medienkulturanalyse an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, promoviert derzeit an der Uiversität Wien zur Medienästhetik und Gouvernementalität am Beispiel neuerer US-amerikanischer TV-Serien. Müller, Sabine, Studium der Handelswissenschaften, Germanistik, Politologie, Geschichte und Philosophie in Wien. 2002/03 Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften (IFK) in Wien, seit 2006 freie Mitarbeiterin des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte (IKT) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Diverse Publikationen zur Kulturtheorie und österreichischen Literatur- und Kulturgeschichte. Paterno, Wolfgang, Studium der Philologie, Philosophie, Theaterwissenschaft, Geschichte in Wien, lebt seit 1991 in Wien und arbeitet ebendort vorwiegend im journalistischen Bereich als Redakteur, Reporter und Autor, unter anderem für die Wiener Stadtzeitung „Falter“, das Nachrichtenmagazin „profil“ und die deutsche Wochenzeitung “Die Zeit”. Seit 2008 Dissertationsprojekt über Boxen und Literatur in der Weimarer Republik. Peck, Clemens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg. Er war Junior Fellow am IFK Wien und am Wellcome Trust Centre for the History of Medicine 335
Autorinnen und Autoren (UCL). Promovierte mit einer Arbeit zu Theodor Herzls "AltneulandProjekt". Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Kultur der Wiener Moderne, literarische Utopien sowie Literatur und Wissen(schaft). Rothe, Katja, Germanistin und Kulturwissenschaftlerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im FWF-Projekt „Regulierungswissen und Möglichkeitssinn 1914-1933“ am Institut für Germanistik der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kulturgeschichte des psychologischen, technischen und ästhetischen Wissens in der Zwischenkriegszeit; Wissensgeschichte der Regulierung; Radiogeschichte und –theorie. Wachter, David, geb. 1979, Studium der Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Bonn, Cincinnati/USA und Berlin. Derzeit Abschluss der Promotion "Zwischen Konstruktion und Entgrenzung. Krise und Utopie bei Musil, Kracauer und Benn". Ab Oktober 2010 DAAD-Lektorat am St John's College/Cambridge. Forschungsinteressen: Klassische Moderne, Literatur- und Kulturtheorien der Gewalt, Literarische Anthropologie". Wolf, Burkhardt studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Kulturwissenschaften in München und Berlin, ist Übersetzer zahlreicher angelsächsischer Autoren (W.J. Bouwsma, Arthur C. Danto et. al.) und derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Mitglied im Kollegium des PhD-Netzwerks "Das Wissen der Literatur"; Veröffentlichungen u.a. Die Sorge des Souveräns. Eine Diskursgeschichte des Opfers (Zürich/Berlin 2004) und (mit Elisabeth Wagner) VerWertungen von Vergangenheit (Berlin 2009). Wulz, Monika, Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und Slawistik (Slowenisch) an der Universität Wien. Promotion zur Epistemologie Gaston Bachelards (Erkenntnisagenten. Gaston Bachelard und die Reorganisation des Wissens, Kadmos 2010). Derzeit als Postdoktorandin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin mit einem Forschungsprojekt zu prozeduralen Konzepten und kollektiven Methoden in der Erkenntnistheorie um 1930. Zemsauer, Christian, Studium der Germanistik und Anglistik an den Universitäten Innsbruck und Wien. Von 2005 bis 2008 Lektor an der Sophia-Universität in Tokio. Derzeit Doktorand an der Universität Wien zum Thema Wortschöpfungen für Zukünftiges in Franz Werfels Stern der Ungeboren. 336
Edition Kulturwissenschaft Christoph Bieber, Benjamin Drechsel, Anne-Katrin Lang (Hg.) Kultur im Konflikt Claus Leggewie revisited November 2010, 466 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1450-3
Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Das Prinzip »Osten« Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums November 2010, 180 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1564-7
Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers (Hg.) Theorien des Performativen Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme April 2011, ca. 160 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1691-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Bernd Hüppauf Vom Frosch Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie Januar 2011, 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1642-2
Claus Leggewie, Anne-Katrin Lang, Darius Zifonun (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften April 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8
Regine Strätling (Hg.) Spielformen des Selbst Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis Februar 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1416-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de