Das Kurze 20. Jahrhundert: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts · Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert 3806238944, 9783806238945

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German Pages [506] Year 2019

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Vorwort zur deutschen Ausgabe
1 Einleitung
2 Ein Kind in Wien
3 Schwere Zeiten
4 Berlin: Weimar geht unter
5 Berlin: Braun und Rot
6 Auf der Insel
7 Cambridge
8 Gegen Faschismus und Krieg
9 Kommunist sein
10 Krieg
11 Kalter Krieg
12 Stalin und danach
13 Wasserscheide
14 Am Fuß des Cnicht
15 Die sechziger Jahre
16 Ein politischer Beobachter
17 Unter den Historikern
18 Im globalen Dorf
19 Marseillaise
20 Von Franco bis Berlusconi
21 Dritte Welt
22 Von FDR zu Bush
23. Schluß
Anmerkungen
Register
Back Cover
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Das Kurze 20. Jahrhundert: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts · Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert
 3806238944, 9783806238945

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Eric Hobsbawm Gefährliche Zeiten

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Eric Hobsbawm

Gefa¨hrlı˙che Zeı˙ten Ein Leben im 20. Jahrhundert

Aus dem Englischen von Udo Rennert Mit einem Vorwort von Richard J. Evans, aus dem Englischen übersetzt von Thomas Bertram

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Die englischsprachige Originalausgabe erschien bei Allen Lane, The Penguin Press, London unter dem Titel „Interesting Times. A twentieth-century life“, © The Trustees of the Eric Hobsbawm Literary Estate, 2002 Bei der vorliegenden deutschen Ausgabe handelt es sich um einen Nachdruck der 2003 erstmals bei Carl Hanser, München erschienenen deutschsprachigen Ausgabe. Mit einem neuen Vorwort von Sir Richard J. Evans Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg THEISS ist ein Imprint der wbg. © der deutschen Ausgabe 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Gestaltung und Satz:Vollnhals Fotosatz, Neustadt an der Donau Einbandgestaltung: Harald Braun, Berlin Einbandmotiv: Eric Hobsbawm; picture alliance/Leemage, Foto: Effigie/Leemage Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3894-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3967-6 eBook (epub): ISBN 978-3-8062-3968-3

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Gefährliche Zeiten Vorwort von Richard J. Evans Zur Zeit seines 80. Geburtstags, am 8. Juni 1997, war Eric Hobsbawm wahrscheinlich der bekannteste Historiker der Welt. Seine vielen Bücher waren in mehr als 50 Sprachen übersetzt worden und verkauften sich millionenfach. Seine jüngste Veröffentlichung, The Age of Extremes. The Short Twentieth Century, 1914–1991 (dt. Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts), erschienen 1994, war ein Weltbestseller. Das Buch erschien in etwa 30 Sprachen und führte zu Fernsehinterviews und Auftritten in den Medien, wie sie Geschichts­ professoren normalerweise nicht erleben. Obendrein war Hobsbawm nicht nur ein Wissenschaftler, er war auch ein „öffentlicher Intellektueller“. Geboren 1917, war er als Schüler in Berlin in den Sozialistischen Schülerbund eingetreten, eine Unterorganisation der KPD, und blieb bis zu seinem Tod den Idealen des Kommunismus treu, wenn auch nicht den Organisationen, die behaupteten, ihn zu repräsentieren. Bei der Schaffung der geistigen Grundlagen für das Entstehen von „New Labour“, dem Etikett der britischen Labour Party in ihrer Zeit als Regierungspartei unter den Premierministern Tony Blair und Gordon Brown von 1997 bis 2010, spielte er eine Schlüsselrolle. Und er blieb ein führender Intellektueller nicht nur in Großbritannien, sondern auch in anderen Ländern, von Italien bis Brasilien. Im Lauf seines langen Lebens – er starb 2012 im Alter von 95 Jahren – wurde er Zeuge vieler Schlüsselereignisse in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, angefangen in den 1930er-Jahren mit der Machtergreifung Hitlers, dem Triumph der französischen Volksfront und dem Spanischen Bürgerkrieg. Nach dem Erscheinen des Zeitalters der Extreme schien es ein folgerichtiger nächster Schritt zu sein, die eigene Autobiografie zu schreiben. Nachdem er gerade einmal zwei Jahre nach Erscheinen des Zeitalters der Extreme ein Exposee für das Buch vorgelegt und 1996 einen Publikationsvertrag unterzeichnet hatte, brachte Hobsbawm seine Erinnerungen relativ schnell zu Papier. Weil seine Zeit in diesem Lebensabschnitt nicht mehr von der Lehre beansprucht wurde, hatte

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er ausreichend Muße zum Schreiben. Und da es sich nicht um ein geschichtswissenschaftliches Werk handelte und es außerdem den Zeitabschnitt umfasste, über den er gerade geforscht und ein bedeutendes Buch geschrieben hatte, musste er keine neuen Informationen über den historischen Hintergrund sammeln. Er konnte sich auf sein Gedächtnis stützen und ergänzend die Tagebücher zu Rate ziehen, die er mit Unterbrechungen von 1940 bis 1946 geführt hatte. Doch in gewisser Weise war es, wie er gestand, dennoch „das am schwersten zu schreibende Buch“: „Wie konnte ich Leser für ein unspektakuläres akademisches Leben interessieren?“ Also schrieb er es für junge Leute, die wissen wollten, wie das „außerordentlichste Jahrhundert in der Geschichte“ gewesen war, und für „jene, die alt genug waren, um einige seiner Leidenschaften, Hoffnungen, Desillusionen und Träume miterlebt zu haben“. Mit anderen Worten, es handelte sich nicht um einen vertraulichen oder introspektiven Bericht, vielmehr drehte sich die Darstellung mehr um den Wissenschaftler, der in der Öffentlichkeit stand, als um den Privatmann. Stuart Proffitt, Hobsbawms Lektor bei Penguin Books, war nicht ganz zufrieden mit diesem ziemlich unpersönlichen Ansatz. In einem längeren Briefwechsel versuchte Proffitt wiederholt, ihn zu überreden, über „vertraulichere Dinge“ zu schreiben und „ein bisschen mehr intern zu reflektieren“. Seiner Ansicht nach war das Buch „eine Neuauflage des Zeitalters der Extreme aus persönlicher Perspektive“. Aber nach eigenem Eingeständnis kam er „nicht sehr weit“. Das Buch ist, wie ein Rezensent scharfsinnig anmerkte, „so ein eigentümlicher Zwitter, eine unpersönliche Autobiografie“. Aber es ist deswegen um keinen Deut schlechter. Gebrochen durch die Optik individueller Erinnerung und persönlicher Beobachtung, bietet es aus einem Blickwinkel, der sich deutlich von dem analytisch strengen und auf akribischer Forschungsarbeit beruhenden Ansatz vom Zeitalter der Extreme unterscheidet, eine Geschichte dessen, was Hobsbawm das „Kurze 20. Jahrhundert“ nannte, vom Ersten Weltkrieg bis zum Untergang des Kommunismus. Wir finden hier impressionistische Schilderungen einer Vielzahl von Hobsbawms Freunden, Genossen und Bekannten, wir lesen von den Erfahrungen, die er durchmachte, und den Ereignissen, an denen er, direkt oder am Rande, beteiligt war. Die Faszination des Buches rührt nicht nur von der langen Lebenserfahrung seines Autors aufseiten der politischen Linken her, sondern, wenn man den Bogen weiter spannt, von seiner Kenntnis einer ungeheuren Zahl von Menschen und Orten, Ländern und Kontinenten.

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Das Buch erfuhr während seiner Abfassung einige bedeutsame Änderungen. Ein langes Kapitel über Hobsbawms familiären Hintergrund wurde auf Proffitts Drängen gestrichen, weil es den Erzählfluss im ersten Teil des Werkes hemmte. Und der ursprünglich streng chronologische Aufbau des Buches, unterbrochen von Reflexionen über die verschiedenen Länder, die Hobsbawm kannte, wurde radikal geändert, als ihm klar wurde, dass dies zu sehr viel Wiederholung führen würde. Wenn man hingegen jedes Land (Frankreich, Italien usw.) herausnähme und in einem gesonderten Kapitel abhandelte, böten sich mehr Gelegenheiten für Analyse und Interpretation. Folglich kommt in dem Buch keine besondere „englische“ Perspektive zum Ausdruck, obwohl Hobsbawm als britischer Staatsbürger zur Welt kam, zu Hause in Wien in den 1920er-Jahren auf Drängen seiner Mutter Englisch sprach und von seiner Schule offiziell als zweisprachig (englisch/deutsch) eingestuft wurde. Hobsbawm war von Anfang an ein echter Kosmopolit, der bis zum Alter von 15 Jahren in Mitteleuropa lebte, noch weit länger auf Deutsch seine persönlichen Tagebücher führte, von den 1930er- bis in die 1950er-Jahren längere Zeit in Frankreich lebte und gut genug Spanisch sprach, um zahlreiche Forschungs- und Vortragsreisen durch Lateinamerika zu unternehmen. Mit anderen Worten, seine Perspektive war wahrhaft europäisch, eine Tatsache, die auch in seinen historischen Werken ihre Spuren hinterlassen hat. Hobsbawms Erinnerungen hießen auf Englisch ursprünglich Interesting Times, eine Anspielung auf die angebliche uralte chinesische Verwünschung „Mögest du in interessanten Zeiten leben“ – obwohl eine solche Verwünschung in keinem Dokument vor den 1930erJahren, als der damalige britische Botschafter in China davon berichtete, nachweisbar ist. Für die deutsche Ausgabe entschied man sich anstelle der ursprünglichen ironischen Anspielung für den eindeutigeren Titel Gefährliche Zeiten, obwohl Hobsbawm selbst, wie er eingestand, kaum jemals irgendeine echte physische Gefahr erlebt hatte, nicht einmal während seines Militärdienstes. Der Gefahr am nächsten kam er vielleicht als junger Mann von 19 Jahren, als er zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs über die französische Grenze in ein Dorf wanderte, das von anarchistischen Milizen kontrolliert wurde, und man ihn mit vorgehaltener Waffe wieder zurückeskortierte. Die Gefahren, die seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei für seine Karriere darstellte, waren weniger physischer Natur. Diese Mitgliedschaft führte nicht nur dazu, dass sein erstes Buch aus politischen Gründen abgelehnt wurde (es wurde nie veröffentlicht), sondern auch

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zur regelmäßigen Überwachung durch den britischen Inlandsgeheimdienst MI5, dabei wurde bisweilen auch sein Post- und Telefonverkehr kontrolliert, eine Tatsache, der er sich, wenn überhaupt, die meiste Zeit nur sehr schwach bewusst war. Für Gefährliche Zeiten gilt, wie für viele Autobiografien, dass das Buch am aufschlussreichsten dort ist, wo es um die Kindheit und Jugend des Autors geht. In den späteren Kapiteln wird die Darstellung unpersönlicher, eine Tatsache, die von vielen Rezensenten kritisch vermerkt wurde. Einige der britischen Rezensionen durchzog ein neuer, ausgesprochen feindseliger Ton, wie Hobsbawm selbst erkannte. „Vor ein paar Jahren“, erklärte er, „wurde meine Geschichte des ‚Kurzen 20. Jahrhunderts‘ nicht einmal von Konservativen als Werk der Propaganda oder ideologischen Rechtfertigung rezipiert – jedenfalls außerhalb Frankreichs nicht. Heute liegen die Dinge anders.“ Aber die von rechten Rezensenten, die den inzwischen gefahrlos gewonnenen Kalten Krieg von der Behaglichkeit ihrer Studierzimmer aus ­führten, gestarteten schrillen Angriffe gingen an der Sache vorbei. Hobsbawm schrieb das Buch nicht, um sein lebenslanges Festhalten an den Idealen des Kommunismus zu rechtfertigen. Vielmehr ist es, wie einer der ausgewogeneren Rezensenten anmerkte, die Tatsache, dass „Hobsbawm sich selbst hinterfragt, die diesem Werk ein ständiges Element der Überraschung und Vitalität verleiht und es zu einem außergewöhnlichen politischen Erinnerungsbuch macht“.

Sir Richard J. Evans gilt als der britische Fachmann für deutsche und europäische Geschichte, insbesondere des 20. Jahrhunderts. Er war nicht nur Professor an der Universität Cambridge, sondern leitete auch das renommierte Wolfson College von 2010 bis 2017. Er wurde u. a. mit dem Wolfson Literary Award for History ausgezeichnet. Im Februar 2019 erschien von ihm die Biographie „Eric Hobsbawm: A Life in History“.

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Meinen Enkeln

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»Es sind immer gefährliche Zeiten, wo der Mensch sehr lebhaft erkennt, wie wichtig er ist und was er vermag.« Lichtenberg, Aphorismen

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Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Vorwort. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . 9 9 Vorwort Vorwort deutschen Ausgabe. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . 1414 Vorwort zurzur deutschen Ausgabe Einleitung. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . 1717 1. 1.Einleitung Ein Kind Wien. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . 2525 2. 2.Ein Kind inin Wien Schwere Zeiten. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . 4444 3. 3.Schwere Zeiten Berlin: Weimar geht unter. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . 6363 4. 4.Berlin: Weimar geht unter Berlin: Braun und Rot. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . 8383 5. 5.Berlin: Braun und Rot Auf Insel. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .100 100 6. 6.Auf derder Insel Cambridge. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .124 124 7. 7.Cambridge Gegen Faschismus und Krieg. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .140 140 8. 8.Gegen Faschismus und Krieg Kommunist sein. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .154 154 9. 9.Kommunist sein Krieg. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .181181 10.10.Krieg Kalter Krieg. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .205 205 11.11.Kalter Krieg Stalin und danach. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .230 230 12.12.Stalin und danach Wasserscheide. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .254 254 13.13.Wasserscheide Am Fuß Cnicht. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .269 269 14.14.Am Fuß desdes Cnicht Die sechziger Jahre. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .284 284 15.15.Die sechziger Jahre Ein politischer Beobachter. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .302 302 16.16.Ein politischer Beobachter Unter den Historikern. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .322 322 17.17.Unter den Historikern globalen Dorf. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .339 339 18.18.ImIm globalen Dorf Marseillaise 357 19.19.Marseillaise . . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .357 Von Franco Berlusconi. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . 385385 20.20.Von Franco bisbis Berlusconi Dritte Welt. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .410 410 21.21.Dritte Welt Von FDR Bush. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .436 436 22.22.Von FDR zuzu Bush

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Gefährliche Zeiten

8 Gefährliche Zeiten 23. Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen 23. Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der .Abbildungen Anmerkungen ...................................... Register . . .der . . .Abbildungen ...................................... Verzeichnis

463 473 463 484 473 485 484

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485

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Vorwort

Autoren von Autobiographien müssen auch Leser von Autobiographien sein. Im Lauf meiner Arbeit an diesem Buch habe ich zu meinem Erstaunen festgestellt, wie viele der Frauen und Männer, die ich gekannt habe, ihr eigenes Leben in Druck gegeben haben. Dabei denke ich nicht einmal an die (zumeist) Prominenteren oder Extrovertierteren, die sich ihre Biographien von anderen schreiben ließen, oder an die beträchtliche Zahl zeitgenössischer autobiographischer Schriften, die in Romangestalt gekleidet werden. Vielleicht sollte ich auch gar nicht erstaunt sein. Menschen, deren Beruf es mit sich bringt, zu schreiben und sich mitzuteilen, bewegen sich eben häufig unter anderen Menschen, die das gleiche tun. Und doch: ein überraschend großer Teil all der Artikel und Interviews, des Gedruckten wie der Ton- und sogar Videobänder, und schließlich der Bücher wie dieses stammen von Männern und Frauen, die ihr berufliches Leben an Universitäten verbracht haben. Ich bin nicht allein. Dennoch stellt sich die Frage, warum jemand wie ich eine Autobiographie schreiben sollte oder genauer, warum andere, die nichts Besonderes mit mir verbindet oder die vielleicht noch nie von meiner Existenz gehört haben, bis sie den Schutzumschlag in einer Buchhandlung erblicken, dieses Buch lesenswert finden sollten. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die – offenbar als eigene Subspezies – in der Biographieabteilung zumindest einer bestimmten Londoner Buchhandelskette unter »Persönlichkeiten« oder, wie man heute gern sagt, »celebrities« geführt werden, also zu den Menschen, die aus welchem Grund auch immer der Allgemeinheit so bekannt sind, daß allein schon ihr Name Neugier auf ihr Leben weckt. Ich rechne mich auch nicht zu der Sorte von Menschen, deren öffentliches Leben sie berechtigt, ihre Autobiographien als »Memoiren« zu betiteln, im allgemeinen Männer und Frauen, die auf einer größeren öffentlichen Bühne agierten und entsprechende Taten zu vermelden oder zu rechtfertigen haben; oder die in der Nähe großer Ereignisse und von Menschen gelebt haben, deren Entscheidungen sie persönlich betrafen. Ich war keiner von ihnen. Wahrscheinlich wird mein Name in den historischen Darstellungen

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Gefährliche Zeiten

von ein, zwei Spezialgebieten vorkommen, etwa Marxismus und Historiographie im 20. Jahrhundert, und vielleicht wird man ihm in einigen Büchern über die britische intellektuelle Kultur des 20. Jahrhunderts begegnen. Wenn darüber hinaus mein Name völlig von der Bildfläche verschwände, so wie der Grabstein meiner Eltern auf dem Wiener Zentralfriedhof, den ich vor fünf Jahren vergeblich suchte, dann würde das keine erkennbare Lücke in der Erzählung dessen hinterlassen, was sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts in England oder anderswo ereignet hat. Auch ist dieses Buch nicht im heute so verkaufsfördernden Stil der Bekenntnisliteratur geschrieben, zum Teil, weil Genialität die einzige Rechtfertigung für einen solchen Egotrip ist – ich bin weder ein Augustinus noch ein Rousseau –, zum Teil, weil kein lebender Autobiograph die intime Wahrheit über Dinge erzählen kann, die andere lebende Personen betreffen, ohne die Gefühle zumindest einiger von ihnen in unentschuldbarer Weise zu verletzen. Dazu habe ich keinerlei Anlaß. Dieses Feld gehört in den Bereich der posthumen Biographik, nicht der Autobiographie. Jedenfalls, so neugierig wir in diesen Dingen auch sind, Historiker sind keine Klatschkolumnisten. Die militärischen Verdienste eines Generals werden nicht daran gemessen, welche Heldentaten er im Bett vollbracht hat oder eben nicht. Alle Versuche, die Ökonomie eines Keynes oder eines Schumpeter aus ihrem ziemlich erfüllten, aber unterschiedlichen Geschlechtsleben abzuleiten, sind zum Scheitern verurteilt. Außerdem befürchte ich, daß Leser mit einer Vorliebe für Biographien, in denen die Bettdecke gelüftet wird, bei meiner Lebensgeschichte nicht auf ihre Kosten kommen werden. Sie ist auch nicht als Apologie des Lebens ihres Autors geschrieben. Sollten Sie kein Interesse daran haben, das 20. Jahrhundert zu verstehen, dann greifen Sie besser zu den Autobiographien von Leuten, die sich damit selbst rechtfertigen, die Schönfärber, die Anwälte ihrer selbst sowie ihre Pendants, die reuigen Sünder. Das alles sind Obduktionen, bei denen die Leiche zugleich Gerichtsmediziner spielt. In der Autobiographie eines Intellektuellen geht es zwangsläufig auch um dessen Ideen, Einstellungen und Handlungen, doch sollte der Autor nicht als sein eigener Anwalt auftreten. Dieses Buch enthält Antworten auf die Fragen, die mir am häufigsten von Journalisten und anderen gestellt wurden, die an dem etwas ungewöhnlichen Fall eines lebenslangen, aber untypischen Kommunisten und an »Hobsbawm, dem marxistischen Historiker« interessiert sind, doch ihre Fragen zu beantworten war nicht mein eigentlicher Gegenstand. Die Geschichte mag ihr Urteil über meine politische Einstellung sprechen – tatsächlich hat

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Vorwort

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sie dies schon sehr eingehend getan –, meine Bücher mögen Leser beurteilen. Mir geht es um historisches Verständnis, nicht um Einvernehmen, Zustimmung oder Sympathie. Trotzdem gibt es vielleicht ein paar Gründe, warum das Buch möglicherweise lesenswert ist, abgesehen von der Neugier, die Menschen stets gegenüber anderen Menschen hegen. Ich habe den größten Teil des außergewöhnlichsten und furchtbarsten Jahrhunderts in der menschlichen Geschichte miterlebt. Ich habe in mehreren Ländern gelebt und von etlichen weiteren Ländern auf drei Kontinenten einiges gesehen. Möglicherweise habe ich im Lauf dieses langen Lebens keine sichtbaren Spuren in der Welt hinterlassen, auch wenn ich versucht habe, mich in einer ordentlichen Menge von Veröffentlichungen zu verewigen; doch seit mir mit sechzehn Jahren zu Bewußtsein kam, daß ich ein Historiker bin, habe ich die meiste Zeit über Augen und Ohren offengehalten, um die Geschichte der Zeit, in der ich gelebt habe, zu verstehen. Als ich die Geschichte der Welt zwischen dem ausgehenden 18. Jahrhundert und 1914 geschrieben hatte und mich schließlich an die Geschichte dessen wagte, was ich das »Zeitalter der Extreme«* genannt habe, kam mir zweifellos der Umstand zugute, daß ich nicht nur als Fachgelehrter darüber schrieb, sondern auch, um einen Ausdruck der Anthropologen zu gebrauchen, als »teilnehmender Beobachter«. Das habe ich auf zweierlei Weise getan. Meine persönlichen Erinnerungen an Ereignisse, die zeitlich und räumlich weit entfernt lagen, brachten jüngeren Lesern zweifellos die Geschichte des 20. Jahrhunderts näher, während sie bei den älteren deren eigene Erinnerungen wachriefen. Und mehr noch als meine anderen Bücher war dieses eine mit der Leidenschaft geschrieben, die ein Signum des Zeitalters der Extreme ist. Beide Lesergruppen haben mir das bestätigt. Doch darüber hinaus gibt es eine tiefer reichende Möglichkeit, wie die Verflochtenheit des Lebens und der Zeit einer Person und die Beobachtung von beidem dazu beitragen kann, einer historischen Analyse Gestalt zu geben, die sich, wie ich hoffe, von beidem unabhängig macht. Das ist es, was eine Autobiographie leisten kann. In einer Hinsicht ist dieses Buch die B-Seite von Das Zeitalter der Extreme: nicht Weltgeschichte, veranschaulicht durch die Erfahrungen eines einzelnen, sondern Weltgeschichte, die diese Erfahrung formt oder vielmehr eine wechselnde, aber stets begrenzte Anzahl von Wahlmöglichkeiten an* The Age of Extremes: the Short Twentieth Century 1914-1991, London 1994; deutsch: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995.

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Gefährliche Zeiten

bietet, aus denen, um ein Wort von Marx zu gebrauchen, »die Menschen [. . .] ihre eigene Geschichte [machen], aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«.* In einer anderen Hinsicht ist die Autobiographie eines Historikers ein wesentlicher Teil der Anlage seiner Arbeit. Neben einem Glauben an die Vernunft und den Unterschied zwischen Tatsachen und Fiktionen ist das Bewußtsein von sich, das heißt die Fähigkeit, zu sich selbst auf Distanz zu gehen, eine notwendige Voraussetzung für alle, die sich als Historiker oder Sozialwissenschaftler betätigen, vor allem für einen Historiker, der wie ich seine Themen intuitiv und zufällig gewählt, sie jedoch nach und nach zu einem kohärenten Ganzen zusammengefügt hat. Andere Historiker werden diesen eher fachwissenschaftlichen Aspekten meines Buchs ihre Aufmerksamkeit zuwenden. Andere jedoch, so hoffe ich, werden es als eine Einführung in das außergewöhnlichste Jahrhundert der Weltgeschichte lesen, indem sie den Lebensweg eines Menschen mitverfolgen, der so, wie er verlaufen ist, in keinem anderen Jahrhundert möglich gewesen wäre. Die Geschichte handelt in den Worten meiner Kollegin, der Philosophin Agnes Heller, »von Geschehnissen, die man von außen betrachtet, Memoiren von Geschehnissen, in deren Mitte man selbst einmal stand«. Dies ist kein Buch mit einer ausführlichen Danksagung und Würdigung von Fachkollegen. Gleichwohl ist es ein Anlaß für Dank und Entschuldigungen. Der Dank gilt vor allem meiner Frau Marlene, die mein halbes Leben mit mir geteilt, alle Kapitel gelesen und Verbesserungsvorschläge gemacht und die Jahre ertragen hat, in denen ein häufig zerstreuter, mißgelaunter und manchmal entmutigter Ehemann weniger in der Gegenwart lebte als in einer Vergangenheit, die er mühevoll zu Papier brachte. Ich danke auch Stuart Proffitt, unter den Lektoren ein Fürst. Die Zahl der Menschen, die ich im Lauf der Jahre zu Dingen befragt habe, die für diese Autobiographie wichtig waren, ist zu groß, um sie alle hier zu nennen, und einige von ihnen sind inzwischen verstorben. Sie wissen, wofür ich ihnen danke. Auch meine Entschuldigungen gehen an Marlene und die Familie. Dies ist nicht die Autobiographie, die ihnen vielleicht lieb gewesen wäre, denn obwohl sie ständig gegenwärtig sind, zumindest seit dem Augenblick, da sie in mein Leben und ich in ihres getreten bin, geht es in diesem Buch eher um mein öffentliches als mein privates Leben. Ich muß mich auch bei allen Freunden, Kollegen, Studenten und anderen * »Der 18te Brumaire des Louis Napoleon«, MEW Bd. 8, S. 115.

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Vorwort

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entschuldigen, die auf diesen Seiten nicht vorkommen und vielleicht erwartet haben, hier mehr oder weniger ausführlich erwähnt zu werden. Schließlich noch ein paar Worte zum Buch, das ich in drei Teile gegliedert habe. Nach einer kurzen Einleitung erstrecken sich die persönlich-politischen Kapitel 1-16, in grob chronologischer Folge, über die Zeit, von der an meine Erinnerung einsetzt – in den frühen zwanziger Jahren –, bis zum Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Sie sind jedoch nicht als geradlinige Chronik gedacht. In Kapitel 17 und 18 geht es um meinen beruflichen Werdegang als Fachhistoriker. Kapitel 19-22 behandeln Länder oder Regionen (im Unterschied zu meiner Heimat Mitteleuropa und England), zu denen ich während langer Jahre meines Lebens Beziehungen unterhielt: Frankreich, Spanien und Italien, Lateinamerika und andere Teile der Dritten Welt und die Vereinigten Staaten. Da diese Kapitel den ganzen Bereich meines Umgangs mit diesen Ländern abdecken, fügen sie sich nicht ohne weiteres in die chronologische Haupterzählung ein, auch wenn sie sich mit ihr überschneiden. Deshalb habe ich es für das Beste gehalten, sie selbständig stehen zu lassen. London, Februar 2002

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Eric Hobsbawm

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Vorwort zur deutschen Ausgabe

Wohin gehören Menschen, die in den zweifach verschobenen Kulissen des Lebens im 20. Jahrhundert zu Hause waren: als Staaten und politische Systeme sich Menschen einverleibten und ausstießen, als Menschen sich durch, zwischen und aus mehreren Ländern, Kulturen und Regimes bewegten oder zwischen ihnen verschoben wurden? Wohin gehören sie in der noch stärker entwurzelten Welt des 21. Jahrhunderts? Ein typisches Beispiel für eine »displaced person«, einen Vertriebenen meines Jahrhunderts, war mein Freund, der Historiker sozialistischer Bewegungen und Auschwitzüberlebende Georges Haupt. Ich habe ihn einmal gefragt, welches eigentlich seine Muttersprache sei. Geboren in einer mehrsprachigen Region der Karpaten, sprach er alle ihre Idiome. Er hatte in der UdSSR studiert, eine Laufbahn als staatlicher Hochschullehrer im kommunistischen Rumänien für einen Ankerplatz als französischer Bürger in Paris und das Leben eines halbnomadischen euroamerikanischen Akademikers aufgegeben und sprach jede Sprache, die man in London, Linz oder Florenz brauchte, gleichermaßen flüssig. Einige davon beherrschte er auch schriftlich. Als ich ihm meine Frage gestellt hatte, antwortete er nach einigem Zögern: »Ich glaube, Ungarisch, ich träume manchmal auf ungarisch.« Ich träume oder denke nicht mehr auf deutsch, eine der beiden Sprachen meiner Kindheit und bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr das wichtigste Medium meiner Bildung. Andererseits ertappe ich mich gelegentlich dabei, daß ich auf deutsch abzähle, einundzwanzig, dreiundsechzig statt twenty-one, sixty-three. Eine Kindheit und Jugend im deutschsprachigen Mitteleuropa erscheint nicht besonders lang, wenn man auf die Neunzig zugeht, aber dennoch hat diese Zeit ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen. Und eigenartigerweise kann ich bis heute mehr deutsche als englische Gedichte auswendig rezitieren, so daß mir Passagen von Schiller, auf den ich eigentlich gut verzichten kann, in Perioden der Schlaflosigkeit in den Sinn kommen, während sich meine Lieblingsstellen aus Shakespeare und der englischen Lyrik einfach nicht mehr abrufen lassen. Weiß der Himmel, warum ich in der Volksschule »Festgemauert in der Erden« auswendig lernen mußte,

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Vorwort zur deutschen Ausgabe

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doch es war das Alter, in dem sich das Gedächtnis an alles klammert, was sich ihm bietet, und es nie wieder losläßt. Chronologisch gesprochen, sind die rund einundzwanzig Monate, die ich in den Jahren 1931-1933 auf dem Gymnasium in Berlin verbracht habe, ein sogar noch winzigerer Teil eines langen Lebens. Dennoch – und ich hoffe, dieses Buch kann das verdeutlichen – haben sie seinen späteren Inhalt und seine Form bestimmt, so wie sie das Leben der meisten Deutschen im 20. Jahrhundert bestimmt haben. Möglicherweise ist dieses Buch gerade deshalb für deutsche Leser von größerem Interesse als für Leser anderer Länder außerhalb Großbritanniens. Dennoch hat dieses Buch seine Wurzeln nicht nur in Mitteleuropa und in England wie die Familie des Autors. Es ist ein Buch, das ebenso in der westlich gebildeten Kultur des 20. Jahrhunderts wurzelt wie in den Katastrophen und Umwälzungen seiner ersten Hälfte. Also handelt es von einer Ära, die wahrscheinlich bis auf einige wenige Gegenden in Europa für immer verschwunden ist. Meine Generation ist eine der letzten, denen die Motive der Kunstwerke in den großen Museen der Welt aus biblischen Erzählungen und der Geschichte der Antike und der klassischen Mythologie vom Gymnasium her vertraut waren. Uns brauchte man nicht zu erklären, was auf den Bildern der Verkündigung Mariä verkündet wurde oder wer Aktaion, Ikarus oder die Horatier waren. Wir lebten vor der Zeit, in der man nicht mehr davon ausgehen konnte, daß gebildete Europäer, Lateinamerikaner und Bewohner des Vorderen und Mittleren Orients Französisch sprachen und lasen und Menschen höherer Bildung zwischen Triest und dem Ural miteinander auf deutsch verkehrten. Die Grenzen dieser Kultur sind und waren offensichtlich, und sie bestanden nicht zuletzt darin, daß sie den Geschehnissen außerhalb einiger Teile Europas praktisch keine Aufmerksamkeit schenkte und sich primär auf die kleine Zahl von Männern und Frauen mit einer höheren Bildung beschränkte – in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts zwischen 2 und 7 Prozent der Altersgruppe in Westeuropa. Sie gehörte erkennbar dem bürgerlichen 19. Jahrhundert an, das sie geformt hatte und von dem wir sie geerbt haben – selbst jene, die Sozialrevolutionäre wurden. Und doch wies sie denen, die Zugang zu ihr hatten, ein gemeinsames kulturelles und intellektuelles Territorium zu, und vor allem hat sie einen Zusammenhang zwischen Gegenwart und Vergangenheit, der heute nicht mehr existiert. Eines der Ziele dieses Buchs und überhaupt meiner Arbeit als Historiker bestand darin, diese Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart wiederherzustellen, die der reine Modus operandi gegen-

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wärtiger Gesellschaften zerstört. Generationen wie meine wird es im 21. Jahrhundert höchstwahrscheinlich nicht mehr geben. Es gibt keinen Weg zurück ins 20. Jahrhundert, auch wenn ich nicht glaube, daß unser Traum von einer menschenwürdigen Welt verschwinden wird. Der Unterschied zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, ist zu groß. »Die Vergangenheit«, um einen britischen Romanautor zu zitieren, »ist ein anderes Land. Dort tut man die Dinge anders.« Doch »die Dinge«, die in der Gegenwart – und sei es auch noch so anders – getan werden, und die Probleme, die hier auftreten, sind weitgehend dieselben wie die im fernen Land des 20. Jahrhunderts. Und 2003 kennt zweifellos dieselben Ängste wie 1933, da wir wieder einmal in gefährlichen Zeiten leben – auf ihre Weise nicht weniger gefährlich als die, in denen meine Generation aufwuchs. Die Autobiographie eines Lebens im 20. Jahrhundert hat dem 21. Jahrhundert vielleicht immer noch etwas zu sagen. E.J. Hobsbawm 2003

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1 Einleitung

Eines Tages im Herbst 1994 rief mich meine Frau Marlene an, die sich um meine Korrespondenz in London kümmerte, während ich an der New School in New York meine Vorlesungen hielt, und sagte mir, es sei ein Brief aus Hamburg gekommen, den sie nicht lesen könne, weil er auf deutsch geschrieben sei. Unterzeichnet sei er von einer Frau namens Melitta. Ob sie ihn nachsenden solle? Ich kannte zwar niemanden in Hamburg, aber ich wußte sofort, wer ihn abgeschickt hatte, auch wenn fast ein Dreivierteljahrhundert vergangen war, seit ich die Absenderin zuletzt gesehen hatte. Es konnte nur die kleine Litta sein – tatsächlich war sie vielleicht ein Jahr älter als ich – aus der Seutter-Villa in Wien. Ich hatte recht. Wie sie schrieb, hatte sie meinen Namen in irgendeinem Zusammenhang in der Zeit gelesen und war sogleich zu dem Schluß gekommen, daß ich der Eric sein müsse, mit dem sie und ihre Schwestern vor langer, langer Zeit zusammen gespielt hatten. Sie hatte ihre Fotoalben durchstöbert und ein Foto entdeckt, das dem Brief beilag. Darauf posierten fünf kleine Kinder auf der Sommerterrasse der Villa mit unseren Kinderfräulein, die Mädchen – und vielleicht sogar ich selbst – mit Blumenkränzen auf dem Kopf. Litta stand dort mit ihren jüngeren Schwestern Ruth und Eva (Susie, die stets nur Peter gerufen wurde, war noch nicht geboren) und ich mit meiner Schwester Nancy. Auf der Rückseite hatte ihr Vater das Datum vermerkt: 1922. Und wie es Nancy gehe, fragte Litta. Woher hätte sie wissen sollen, daß Nancy, dreieinhalb Jahre jünger

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als ich, vor einigen Jahren gestorben war? Bei meinem letzten Besuch in Wien hatte ich die Häuser aufgesucht, in denen wir gewohnt hatten, und Nancy Aufnahmen von ihnen geschickt. Ich hatte geglaubt, sie sei die einzige, die noch eine Erinnerung an die Seutter-Villa mit mir teilte. Jetzt wurde alles wieder lebendig. Auch ich habe einen Abzug von dem Foto. In dem Album mit Familienfotos, das bei mir gelandet war, dem letzten Überlebenden nach dem Tod meiner Eltern und Geschwister, bilden die Schnappschüsse auf der Terrasse der Seutter-Villa das zweite ikonographische Dokument meiner Existenz und das erste meiner Schwester Nancy, die 1920 in Wien geboren wurde. Mein eigenes erstes derartiges Zeugnis ist anscheinend das Bild eines Babys in einem ziemlich großen Korbkinderwagen ohne Erwachsene oder sonst einen Kontext; vermutlich wurde es in Alexandria aufgenommen – dort kam ich im Juni 1917 zur Welt –, um meine Existenz von einem Angestellten des britischen Konsulats registrieren zu lassen (dem dabei gleich zwei Fehler unterliefen: Er trug das falsche Datum ein und schrieb auch den Nachnamen falsch). Die diplomatischen Einrichtungen des Vereinigten Königreichs wachten sowohl über meine Geburt als auch über meine Empfängnis, denn es war ein weiteres britisches Konsulat, diesmal in Zürich, wo mein Vater und meine Mutter geheiratet hatten. Ermöglicht wurde dies durch eine amtliche Verfügung, persönlich unterschrieben vom britischen Außenminister Sir Edward Grey, die es dem Untertanen König Georgs V. Leopold Percy Hobsbaum erlaubte, die Untertanin Kaiser Franz Josephs Nelly Grün zu ehelichen. Das alles zu einer Zeit, da beide Reiche miteinander im Krieg lagen, ein Konflikt, auf den mein künftiger Vater mit einem letzten Rest von britischem Patriotismus reagierte, den meine zukünftige Mutter jedoch ablehnte. 1915 gab es in England keine allgemeine Wehrpflicht, doch hätte es eine solche gegeben, dann hätte sie ihm geraten, sich als Kriegsdienstverweigerer eintragen zu lassen.1 Mir gefällt die Vorstellung, sie seien von dem Konsul getraut worden, der in Tom Stoppards Stück Travesties die Hauptrolle spielt. Auch stelle ich mir gerne vor, daß sie während der Zeit in Zürich, als sie darauf warteten, daß Sir Edward Grey dringendere Angelegenheiten liegenlassen und sich ihrer geplanten Trauung zuwenden würde, von anderen Exilanten in der Stadt erfuhren – zum Beispiel Lenin, James Joyce und die Dadaisten. Das taten sie jedoch offensichtlich nicht, und sie hätten zu einer solchen Zeit auch höchstwahrscheinlich kein Interesse für sie aufgebracht. Sie waren einfach mehr mit ihren bevorstehenden Flitterwochen in Lugano beschäftigt.

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Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn Fräulein Grün, 18 Jahre alt, eine von drei Töchtern eines Wiener Juweliers mit einem gutgehenden Geschäft, sich nicht 1913 in Alexandria in einen älteren Engländer verliebt hätte, das vierte von acht Kindern eines eingewanderten Londoner Möbeltischlers? Sie hätte vermutlich einen jungen Mann aus dem jüdischen mitteleuropäischen Bürgertum geheiratet, und ihre Kinder wären als Österreicher aufgewachsen. Da fast alle jungen österreichischen Juden sich früher oder später als Emigranten oder Flüchtlinge wiederfanden, hätte mein späteres Leben wohl einen ähnlichen Verlauf genommen – viele von ihnen kamen nach England, studierten hier und legten ein Hochschulexamen ab. Aber ich wäre nicht mit dem Paß eines gebürtigen Engländers aufgewachsen oder nach England gekommen. Da sie sich nicht in der Lage sahen, in einem der beiden kriegführenden Länder zu leben, kehrten meine Eltern über Rom und Neapel zurück nach Alexandria, wo sie sich ursprünglich kennengelernt und vor dem Krieg verlobt hatten und wo beide Verwandte hatten – meine Mutter einen Onkel namens Albert, von dessen Handelshaus mit dem Schild »Nouveautés« samt den Angestellten ich noch eine Fotografie habe, und mein Vater einen Bruder Ernst, dessen Name ich trage und der beim Ägyptischen Post- und Telegrafendienst arbeitete. (Da das Privatleben das Rohmaterial für Historiker wie für Romanautoren bildet, habe ich die Umstände ihrer Begegnung als Einleitung in meinem Buch Das imperiale Zeitalter benutzt.) Sobald der Krieg beendet war, zogen sie mit ihrem zweijährigen Sohn nach Wien. Das ist der Grund, warum Ägypten, an das ich durch die lebenslangen Ketten behördlicher Dokumentation gefesselt bin, kein Teil meines Lebens geworden ist. Ich habe absolut keine Erinnerung mehr daran, ausgenommen vielleicht an einen Käfig mit kleinen Vögeln im Zoo bei Nouzha und Bruchstücke eines griechischen Kinderlieds, das vermutlich von einem griechischen Kindermädchen gesungen wurde. Auch bin ich ohne jede Neugier, was meine Geburtsstätte betrifft, ein Bezirk, der die Bezeichnung Sporting Club trug, entlang der Lokalbahnlinie vom Stadtzentrum Alexandrias nach Ramleh, aber andererseits gibt es darüber auch kaum etwas zu sagen, wenn man E.M. Forster glauben will, dessen Aufenthalt in Alexandria fast mit dem meiner Eltern zusammenfiel. Über die Bahnstation Sporting Club schreibt er in seinem Buch Alexandria. A History and a Guide lediglich: »In der Nähe der Haupttribüne der Rennbahn. Linker Hand ein Badestrand.« Somit gehört Ägypten nicht zu meinem Leben. Ich weiß nicht,

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wann das Leben der Erinnerung beginnt, doch gibt es nur wenig, das bis in die Anfänge meines dritten Lebensjahres zurückreicht. Ich bin nie wieder dort gewesen, seit der Dampfer Helouan von Alexandria nach Triest ablegte, das damals gerade von Österreich an Italien abgetreten worden war. Von unserer Ankunft in Triest ist mir nichts im Gedächtnis geblieben, diesem Tummelplatz der Sprachen und Rassen, einer Stadt der feudalen Cafés und der stolzen Schiffskapitäne, Stammsitz jenes riesigen Versicherungsunternehmens Assicurazioni Generali, dessen Wirtschaftsimperium den Begriff »Mitteleuropa« vermutlich besser abdeckt als jede andere Definition. Achtzig Jahre später hatte ich Gelegenheit, dies in Gesellschaft von Triester Freunden zu entdecken, vor allem der von Claudio Magris, jenem wunderbaren Beschwörer der Vergangenheit Mitteleuropas und der nördlichen Adriaregion, wo die deutsche mit der italienischen, slawischen und ungarischen Kultur zusammenfließt. Mein Großvater, der uns abgeholt hatte, begleitete uns auf der Südbahn nach Wien. Dort begann mein bewußtes Leben. Wir wohnten einige Monate bei meinen Großeltern, während meine Eltern eine eigene Wohnung suchten. Mein Vater, der mit hart erspartem Geld angekommen war – und nichts war damals so hart wie der Sterling –, in einem verarmten Land mit einer Währung, die zusehends verfiel, war voller Zuversicht und hielt sich für einigermaßen wohlhabend. Die Seutter-Villa schien ideal. Es war das erste Haus in meinem Leben, das ich als »unseres« empfand. Wer mit der Bahn von Westen nach Wien kommt, fährt heute noch daran vorbei. Wenn man rechts aus dem Fenster sieht, während der Zug in die westlichen Vororte der Stadt einfährt, auf der Höhe des Stadtbahnhofs Hütteldorf-Hacking, fällt der Blick unweigerlich auf dieses stattliche Gebäude auf dem Berg, mit seinem vierseitigen Kuppeldach auf einem gedrungenen Turm, erbaut von einem erfolgreichen Industriellen in den späteren Tagen des Kaisers Franz Joseph (1848-1916). Das dazugehörige Grundstück erstreckte sich bis hinunter zur Auhofstraße, die entlang der Mauern des alten kaiserlichen Jagdreviers, des Lainzer Tiergartens, nach Westen verlief und von der aus das Haus über eine schmale, bergauf führende Straße erreicht wurde (die Vinzenz-Hess-Gasse, heute Seuttergasse), an deren unterem Ende damals eine Reihe strohgedeckter kleiner Häuser stand. Die Seutter-Villa meiner Kindheitserinnerungen ist weitgehend jener Gebäudeteil, in den sich die alten und jungen Hobsbaums (denn so wurde der Name dem alexandrinischen Konsulatsangestellten zum Trotz geschrieben), die eine Wohnung im ersten Stock der Villa gemietet hatten, mit den Golds, die das Parterre unter uns bewohnten,

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teilten. Das spielte sich im wesentlichen auf der Terrasse an der Seite des Hauses ab, wo ein Großteil des sozialen Lebens der Generationen dieser beiden Familien stattfand. Von dieser Terrasse aus führte ein – in der Rückschau steiler – Fußweg zu den Tennisplätzen hinunter (die heute bebaut sind), vorbei an einem Baum, der einem kleinen Jungen riesig erschien, dessen Äste sich jedoch tief genug ausstreckten, um darin herumzuklettern. Ich erinnere mich, daß ich seine Geheimnisse einem Jungen mitteilte, der aus einer Stadt namens Recklinghausen in Deutschland an unsere Schule gekommen war. Man hatte uns angehalten, uns seiner anzunehmen, da die Zeiten dort, wo er herkam, sehr schwer waren. Ich habe an ihn keine andere Erinnerung als den Baum und den Namen seiner Heimatstadt, die im heutigen Bundesland Nordrhein-Westfalen liegt. Er reiste bald wieder zurück. Obwohl ich es damals nicht so wahrgenommen habe, muß dies meine erste Begegnung mit den bedeutenden Ereignissen der Geschichte des 20. Jahrhunderts gewesen sein, in diesem Fall der Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen 1923, auf dem Umweg über eines der Kinder, die für kurze Zeit in eine sichere Obhut bei warmherzigen Menschen in Österreich gegeben wurden. (Damals verstanden sich alle Österreicher als Deutsche und hätten für einen Anschluß an Deutschland gestimmt, wenn die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg in Versailles dies nicht untersagt hätten.) Ich kann mich auch noch lebhaft daran erinnern, wie wir irgendwo auf dem Gelände in einem Schuppen voller Heu gespielt haben, doch bei meinem letzten Besuch in Wien mit Marlene haben wir uns das Grundstück zur Villa zwar angesehen, konnten jedoch die Stelle nicht finden, wo er gestanden haben könnte. Merkwürdigerweise habe ich keinerlei Erinnerungen an das Innere des Hauses, lediglich den vagen Eindruck, daß es weder sehr hell noch sehr komfortabel war. Ich kann mich beispielsweise an nichts in unserer Wohnung oder den Räumlichkeiten der Familie Gold erinnern, außer vielleicht an hohe Decken. Fünf, später sechs Kinder im Vorschulalter oder bestenfalls im Alter von Erst- und Zweitkläßlern im selben Garten sind ein starkes Bindemittel zwischen Familien. Die Hobsbaums und die Golds kamen gut miteinander aus, trotz ihrer ganz unterschiedlichen Herkunft, denn die Golds waren (ungeachtet ihres Namens) anscheinend keine Juden. Jedenfalls blieben und gediehen sie in Österreich oder – nach dem Anschluß – Großdeutschland. Herr und Frau Gold stammten aus Sieghartskirchen, einem gottverlassenen Nest in Niederösterreich, er der Sohn des einzigen bäuerlichen Gastwirts, sie die Tochter des einzigen Kramladeninhabers am Ort (der alles von Wollsocken bis zu land-

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wirtschaftlichem Bedarf führte). Beide unterhielten starke familiäre Verbindungen dorthin. Sie waren in den zwanziger Jahren wirtschaftlich so gut gestellt, daß sie ihre Porträts malen ließen. Ein Schwarzweißfoto von den beiden, das eine der beiden noch lebenden Töchter mir irgendwann einmal geschickt hatte, liegt vor mir. Das Bild eines ernst blickenden Herrn in dunklem Straßenanzug und gestärktem Hemdkragen löst nichts in mir aus, und als kleiner Junge hatte ich ohnehin keinen engen Kontakt zu ihm, auch wenn er mir einmal seine Offiziersmütze aus der Zeit vor dem Ende des Habsburgerreichs gezeigt hat und als erster von den Personen, die ich kannte, wirklich in den Vereinigten Staaten gewesen war, wohin ihn eine Geschäftsreise geführt hatte. Von dort brachte er eine Schallplatte mit – jetzt fällt mir auch das Lied darauf wieder ein, es hieß »The Peanut Vendor« (Der Erdnußverkäufer) – und die Information, in Amerika gebe es eine Automarke »Buick«, ein Name, der mir aus irgendeinem dunklen Grund unglaubwürdig schien. Dagegen läßt das Bild einer hübschen Frau mit langem Hals und seitlich gewellten kurzen Haaren, die mit ernsten, aber nicht sehr selbstbewußten Augen über ihre nackte Schulter in die Welt blickt, sie für mich sogleich wieder lebendig werden: Mütter haben im Leben von Kindern eine viel dauerhaftere Bedeutung, und meine Mutter Nelly, intellektuell, kosmopolitisch und gebildet, und Anna (»Antschi«) Gold, mit geringer Schulbildung, stets im Bewußtsein der Provinzialität ihrer Herkunft, wurden bald dicke Freundinnen und blieben es bis zum Schluß. Wenn man ihrer Tochter Melitta glauben darf, war Nelly sogar Annas einzige enge Freundin. Das mag erklären, warum sich noch immer Fotos unbekannter und unidentifizierbarer Hobsbaums in Familienalben der Enkel der Familie Gold finden, die in Wien geblieben waren. Eine der Töchter erinnert sich fast so lebhaft wie ich daran, wie sie (zusammen mit ihrer Mutter) meine Mutter kurz vor ihrem Tod besucht hatte. Unter Tränen sagte Antschi ihr danach: »Wir werden Nelly nie mehr wiedersehen.« Zwei Menschen, fast so alt wie »das kurze 20. Jahrhundert«, begannen somit ihr Leben gemeinsam und machten dann jeweils ihren eigenen Weg durch die außergewöhnliche und furchtbare Welt des vergangenen Jahrhunderts. Das ist der Grund, warum ich diese Reflexionen über ein langes Leben mit der unerwarteten Erinnerung eines Fotos in den Alben von zwei Familien beginne, die nichts miteinander gemeinsam hatten, außer daß ihre Lebenswege für kurze Zeit im Wien der zwanziger Jahre zusammengeführt wurden. Denn Erinnerungen an einige Jahre der frühen Kindheit, gemeinsam geteilt von einem emeritierten Professor

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und die Kontinente durchwandernden Historiker und einer in Rente lebenden ehemaligen Schauspielerin, Fernsehmoderatorin und gelegentlichen Übersetzerin (»wie deine Mutter!«) sind allenfalls von privatem Interesse für die Betroffenen. Selbst für sie sind sie nicht mehr als der dünnste Spinnwebfaden zur Überbrückung der gewaltigen Kluft zwischen gut siebzig Jahren zweier Leben, die völlig separat, ohne jede Verbindung geführt wurden, ohne daß man etwas voneinander gewußt oder auch nur für einen Augenblick bewußt aneinander gedacht hätte. Es ist die außergewöhnliche Erfahrung von Europäern, die das 20. Jahrhundert durchlebt haben, was diese Leben miteinander verbindet. Eine wiederentdeckte gemeinsame Kindheit, ein erneuter Kontakt im hohen Alter lassen das Bild unserer Zeit deutlich hervortreten: absurd, ironisch, surreal und monströs. Sie erschaffen es nicht. Zehn Jahre, nachdem die fünf Kinder in die Kamera geblickt hatten, waren meine Eltern tot, und Herr Gold, Opfer der Wirtschaftskatastrophe – so gut wie alle Banken Mitteleuropas waren 1931 praktisch zahlungsunfähig – war mit seiner Familie unterwegs, um seine Dienste einer Bank in Persien anzubieten, dessen Schah seine Bankfachleute lieber aus fernen und geschlagenen Imperien kommen ließ als aus benachbarten und gefährlichen Ländern. Weitere fünf Jahre später, während ich an einer englischen Universität studierte, standen die Töchter der inzwischen aus den Palästen von Schiras zurückgekehrten Familie Gold allesamt am Beginn ihrer Schauspielerkarriere in einem Land, das in wenigen Monaten Teil von Hitlers Großdeutschland werden sollte. Abermals fünf Jahre später trug ich die Uniform eines britischen Soldaten in England, meine Schwester Nancy zensierte Briefe für die britischen Behörden in Trinidad, während Litta unter unseren Bomben im Kabarett der Komiker in Berlin auftrat. Gut möglich, daß im Publikum einige der Leute saßen, die meine Verwandten, die wahrscheinlich damals in der Seutter-Villa den kleinen Mädchen der Familie Gold den Kopf getätschelt hatten, zur Deportation in die Lager zusammengetrieben hatten. Noch einmal fünf Jahre später, als ich begann, in den Bombentrümmern Londons meine Lehrveranstaltungen abzuhalten, waren »Antschi« und ihr Mann tot – er war wahrscheinlich ein Opfer des Hungers, der in den Monaten unmittelbar nach der Niederlage und der Besetzung herrschte, und sie, vor Kriegsende in die Westalpen evakuiert, war einer Krankheit zum Opfer gefallen. Die Vergangenheit ist ein anderes Land, aber bei denen, die einmal dort gelebt haben, hat sie ihre Spuren hinterlassen. Das gilt auch für jene, die zu jung sind, um sie besser als nur vom Hörensagen zu kennen, oder die sie, in einer ahistorischen Kultur, als »Trivial Pursuit«, als

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müßigen Zeitvertreib, behandeln.* Es ist jedoch die Aufgabe des autobiographischen Historikers, dieses Land nicht einfach wieder aufzusuchen, sondern es zu kartografieren. Denn ohne solche Karte, wie sollen wir denn einen langen, sich verzweigenden Lebensweg durch die ringsum sich verändernden Landschaften verfolgen? Oder wie verstehen, warum und wann wir gezögert haben oder gestolpert sind oder wie wir unter den Menschen gelebt haben, mit denen unser Leben verflochten und von denen es abhängig war? Denn diese Dinge erhellen nicht nur das Leben Einzelner, sie erhellen die Welt. So mag dieses Bild als Ausgangspunkt für den Versuch eines Historikers dienen, einen Weg durch das zerklüftete Gelände des 20. Jahrhunderts zurückzuverfolgen: fünf kleine Kinder, vor achtzig Jahren von ihren Eltern für ein Foto auf einer Terrasse in Wien aufgestellt, ohne (im Gegensatz zu ihren Eltern) ein Bewußtsein davon, daß die Trümmer der Niederlage, vernichteter Imperien und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs sie umgaben, ohne Bewußtsein (ebenso wie ihre Eltern), daß sie ihren Weg durch die mörderischste und revolutionärste Ära der Geschichte würden gehen müssen.

* »Trivial Pursuit« war gegen Ende des 20. Jahrhunderts für kurze Zeit ein beliebtes Gesellschaftsspiel.

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Ich verbrachte meine Kindheit in der verarmten Hauptstadt eines Großreichs, die nach dessen Zusammenbruch einer ziemlich kleinen provinziellen Republik von großer Schönheit angehörte, die nicht daran glaubte, daß es sie unbedingt geben müsse. Mit einigen wenigen Ausnahmen waren die Österreicher nach 1918 der Meinung, daß sie ein Teil Deutschlands sein müßten und daran lediglich durch die Großmächte gehindert würden, die Mitteleuropa den Friedensvertrag aufgezwungen hatten. Die wirtschaftlichen Probleme in den Jahren meiner Kindheit trugen nicht dazu bei, ihren Glauben an die Lebensfähigkeit der Ersten österreichischen Republik zu stärken. Sie hatte gerade eine Revolution hinter sich und war für kurze Zeit unter einer aus klerikalen Reaktionären gebildeten und von einem Monsignore geführten Regierung zur Ruhe gekommen, die sich auf die Stimmen der frommen oder zumindest stark konservativen Landbevölkerung stützte. Ihr stand eine verhaßte Opposition aus revolutionären marxistischen Sozialisten gegenüber, die ihre Basis zum größten Teil in Wien (nicht nur die Hauptstadt, sondern seit 1922 auch ein autonomes Bundesland der Republik) sowie bei all denen hatte, die sich als »Arbeiter« verstanden. Neben der Polizei und der Armee, die der Regierung unterstanden, gab es auf beiden Seiten des politischen Spektrums paramilitärische Verbände, für die der Bürgerkrieg nur aufgeschoben war. Österreich war nicht nur ein Staat, der nicht existieren wollte, sondern auch ein prekärer Zustand, der unmöglich von Dauer sein konnte. Er war auch nicht von Dauer. Doch die letzten Zuckungen der Ersten österreichischen Republik – die Vernichtung der Sozialdemokraten nach einem kurzen Bürgerkrieg, die Ermordung des katholischen Bundeskanzlers durch nationalsozialistische Aufrührer, Hitlers triumphaler und begeistert begrüßter Einzug in Wien – ereigneten sich, nachdem ich Wien 1931 verlassen hatte. Ich sollte erst 1960 dorthin zurückkehren, als dasselbe Land, unter demselben Zweiparteiensystem von Katholiken und Sozialisten eine stabile, wirtschaftlich enorm aufblühende und neutrale kleine Republik geworden war, die mit ihrer

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Identität vollkommen zufrieden – manche mochten sagen, etwas zu selbstzufrieden – war. Doch das ist die Rückschau eines Historikers. Wie sah eine bürgerliche Kindheit im Wien der zwanziger Jahre aus? Das Problem ist, wie man unterscheiden soll zwischen dem, was man seither erfahren hat, und dem, was die Zeitgenossen damals gewußt und getan haben, sowie zwischen den Erfahrungen und Reaktionen der Erwachsenen und derer, die damals Kinder waren. Was Kinder, die 1917 geboren waren, von den Ereignissen des noch jungen 20. Jahrhunderts wußten, die im Denken der Eltern und Großeltern so lebendig waren – Krieg, Zusammenbruch, Revolution, Inflation – war das, was Erwachsene uns erzählten, oder wahrscheinlicher das, was wir mithörten, wenn sie sich darüber unterhielten. Die einzige unmittelbare Anschauung, die wir von alldem hatten, waren die immer neuen Bilder auf Briefmarken. Das Sammeln von Briefmarken in den zwanziger Jahren erklärte zwar längst nicht alles, war jedoch eine gute Einführung in die politische Geschichte Europas seit 1914. Für einen im Ausland lebenden englischen Jungen wurde der Gegensatz zwischen der unveränderten Kontinuität des Kopfs von König Georg V. auf englischen Briefmarken einerseits und dem Chaos von Aufdrucken, neuen Namen und neuen Währungen auf den Marken anderer Länder andererseits unterstrichen. Die einzige weitere direkte Verbindung zur Geschichte brachten die variierenden Münzen und Banknoten einer Zeit der wirtschaftlichen Zerrüttung. Ich war alt genug, um die Veränderung von Kronen zu Schillingen und Groschen, von Banknoten mit zahlreichen Nullen zu einfachen Banknoten und Münzen bewußt wahrzunehmen, und ich wußte, daß es vor der Krone den Gulden gegeben hatte. Auch wenn das Habsburgerreich dahingegangen war, lebten wir immer noch von seiner Infrastruktur und in einem erstaunlichen Ausmaß noch mit mitteleuropäischen Vorstellungen der Zeit vor 1914. Der Mann einer der intimen Freundinnen meiner Mutter, Dr. Alexander Szana, lebte in Wien und arbeitete zum Unglück für den Seelenfrieden seiner Frau bei einer deutschsprachigen Zeitung 50 Kilometer donauabwärts in einer Stadt, die bei uns Preßburg und bei den Ungarn Pozsony hieß und inzwischen zu Bratislava geworden war, der bedeutendsten slowakischen Stadt in der neuen Tschechoslowakischen Republik. (Heute ist sie die Hauptstadt einer souveränen Slowakei.) Abgesehen von der Vertreibung ehemaliger ungarischer Beamter hatte sie zwischen den Kriegen noch keine ethnische Säuberung ihrer polyglotten und multikulturellen Bevölkerung aus Deutschen, Ungarn, Tschechen und Slowaken, assimilierten, verwestlichten und frommen Kar-

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patenjuden, Zigeunern und anderen erfahren. Sie war noch nicht wirklich eine slowakische Stadt von »Bratislavaks« geworden, von denen sich diejenigen, die sich noch daran erinnern, was sie bis zum Zweiten Weltkrieg geblieben war, noch immer als »Preßburaks« unterscheiden. Um zu seiner Arbeitsstelle und wieder nach Hause zurück zu kommen, nahm er die Preßburger Bahn, eine Regionalbahn, die von einer Straße im Zentrum Wiens bis zu einer Ringstrecke auf den Hauptstraßen Preßburgs fuhr. Sie wurde 1914 in Betrieb genommen, als beide Städte Teil desselben Reiches waren, ein Triumph der modernen Technik, und einfach weiterbetrieben; dasselbe galt für die berühmte »Opernbahn«, mit der die kulturell interessierten Einwohner von Brünn/Brno in Mähren zu einem Opernabend in das einige Eisenbahnstunden entfernte Wien fuhren. Mein Onkel Richard wohnte in Wien und in Marienbad, wo er ein Geschäft mit Modeartikeln hatte. Die Grenzen waren noch nicht hermetisch geschlossen wie später, nachdem die Preßburger Regionalbahnbrücke über die Donau im Krieg zerstört worden war. Die Überreste konnten noch 1996 besichtigt werden, als ich an einer Fernsehsendung über die Bahn mitwirkte. Die Welt des Wiener Bürgertums und auf jeden Fall der Juden, die einen so beträchtlichen Teil davon ausmachten, war noch die der ausgedehnten vielsprachigen Region, deren Migranten ihre Hauptstadt in den letzten 180 Jahren zu einer Großstadt mit zwei Millionen Einwohnern gemacht hatten – ausgenommen Berlin mit Abstand die größte Stadt auf dem europäischen Kontinent zwischen Paris und Leningrad. Unsere Verwandten stammten aus Orten – und lebten zum Teil noch dort – wie Bielitz (heute in Polen), Kaschau (heute in der Slowakei) oder Großwardein (heute in Rumänien).1 Unsere Lebensmittelhändler und die Pförtner unserer Mietshäuser waren garantiert Tschechen, unsere Stuben- und Kindermädchen keine geborenen Wienerinnen: Ich erinnere mich noch an die Geschichten von Werwölfen, die mir eines der Mädchen erzählte, das aus Slowenien stammte. Niemand von ihnen war oder fühlte sich entwurzelt oder ausgesetzt vom »alten Land« wie die europäischen Auswanderer in den Vereinigten Staaten, da für die kontinentalen Europäer der Atlantik die große Scheidelinie war, während an das Reisen auf Schienen auch über größere Entfernungen hinweg jedermann gewöhnt war. Selbst meine nervöse Großmutter dachte sich nichts dabei, wenn sie hin und wieder eine kurze Reise nach Berlin unternahm, um ihre Tochter zu besuchen. Es war eine multinationale, aber keine multikulturelle Gesellschaft. Deutsch (mit einer lokalen Färbung) war ihre Sprache, deutsch (mit einem lokalen Gepräge) ihre Kultur und ihr Zugang zur Weltkultur

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der Antike wie der Moderne. Meine Verwandten hätten die leidenschaftliche Entrüstung des großen Kunsthistorikers Ernst Gombrich geteilt, als dieser – wie das im 20. Jahrhundert Mode war – gebeten wurde, die Kultur seiner Geburtsstadt Wien als jüdisch zu beschreiben. Es war schlicht und einfach eine Wiener bürgerliche Kultur, so wenig durch die Tatsache beeinflußt, daß so viele ihrer hervorragenden Vertreter Juden waren und (angesichts des eingefleischten Antisemitismus der Region) wußten, daß sie Juden waren, wie durch den Umstand, daß einige von ihnen aus Mähren kamen (Freud und Mahler), andere aus Galizien oder der Bukowina (Joseph Roth) oder sogar aus Russe an der bulgarischen Donau (Elias Canetti). Ebenso sinnlos wäre es, nach bewußt jüdischen Elementen in den Liedern von Irving Berlin oder den Hollywoodfilmen aus der Ära der großen Studios zu suchen, die alle von eingewanderten Juden betrieben wurden: Ihr Ziel, worin sie erfolgreich waren, bestand gerade darin, Lieder oder Filme zu machen, die einen spezifischen Ausdruck für ein hundertprozentiges Amerikanertum fanden. Als Sprecher der Kultursprache in einer ehemaligen imperialen Hauptstadt teilten Kinder instinktiv das Gefühl einer kulturellen, wenn auch nicht mehr einer politischen Überlegenheit. Die Art und Weise, wie Tschechen deutsch sprachen (»böhmakelten«), kam uns minderwertig und deshalb spaßig vor, und so war es auch mit der unverständlichen tschechischen Sprache mit ihrer scheinbaren Häufung von Konsonanten. Ohne daß wir Italiener gekannt oder eine Meinung über sie gehabt hätten, bezeichneten wir sie abschätzig als »Katzelmacher«. Emanzipierte und assimilierte Wiener Juden sprachen von Ostjuden, als handelte es sich um eine andere Spezies. (Ich erinnere mich noch deutlich, wie ich ein älteres Mitglied der Familie gefragt habe, ob diese Ostjuden Nachnamen hätten wie wir und wenn ja, wie diese lauteten, da sie doch offensichtlich so anders seien als wir.) Meiner Meinung nach erklärt das einen Großteil der Begeisterung, mit der die Österreicher ihre Annexion durch Hitlerdeutschland begrüßten: Sie stellte ihr Gefühl einer politischen Überlegenheit wieder her. Damals bemerkte ich nur, daß einer oder zwei meiner Klassenkameraden am Gymnasium »Hakenkreuzler« waren. Da ich Engländer war, kulturell jedoch von den Österreichern nicht zu unterscheiden, war ich davon offenbar nicht unmittelbar betroffen. Aber es führt mich zur Frage der Politik. Weil ich schon in so jungen Jahren und so lange Zeit von jener für das 20. Jahrhundert typischen Leidenschaft des politischen Engagements ergriffen wurde, liegt die Frage nahe, wie weit deren Wurzeln in

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eine Kindheit der zwanziger Jahre in Wien zurückreichen. Das ist schwierig zu rekonstruieren. Wir lebten in einer Zeit, die durchtränkt war von Politik, auch wenn die Angelegenheiten der weiteren Welt, wie ich schon gesagt habe, hauptsächlich über die Erwachsenen zu uns kamen, wenn wir deren Gespräche mit anhörten, deren Sinn wir Kinder aber nicht voll verstanden. An zwei kann ich mich noch erinnern, wahrscheinlich um 1925. Zu dem einen kam es in einem Gebirgssanatorium, in das man mich geschickt hatte, um mich von einer Krankheit zu erholen (wir Kinder waren anscheinend ständig wegen irgend etwas krank). Beaufsichtigt wurde ich von meiner Tante Gretl, die dort ebenfalls ein Leiden auskurierte. »Wer ist dieser Trotzkij?« fragte eine Frau, in meiner vagen Erinnerung oder Vorstellung eine mütterliche Person mittleren Alters, in deren Stimme eine gewisse Befriedigung lag. »Bloß ein jüdischer Bub, der eigentlich Bronstein heißt.« Wir hatten von der Russischen Revolution gehört, aber was war das eigentlich? Das andere bekam ich bei einer Leichtathletikveranstaltung mit, zu der mich mein Onkel (und wahrscheinlich mein Vater) mitgenommen hatten, die mir im Gedächtnis geblieben ist, weil ich damals zum ersten Mal einen schwarzen Kurzstreckenläufer namens Cator erlebte. »Du sagst, zur Zeit ist nirgendwo mehr ein Krieg«, sagte jemand, »aber es gibt doch einen Aufstand in Syrien?« Was bedeutete das für uns, was konnte es überhaupt für uns bedeuten? Wir wußten, es hatte einen Weltkrieg gegeben, so wie jeder junge Engländer, der 1944 geboren wurde, in dem Wissen aufwachsen würde, daß es einen Weltkrieg gegeben hatte. Zwei meiner englischen Onkel waren dabeigewesen, unser Nachbar, Herr Gold, hatte mir seinen hohen Tschako gezeigt, und mein bester Freund war Kriegswaise – seine Mutter bewahrte den Säbel ihres Mannes an der Wand auf. Doch keiner von denen, die ich kannte, ob Engländer oder Österreicher, betrachtete den Krieg als eine heroische Zeit, und die Schulen in Österreich hüllten sich in Schweigen darüber, zum Teil, weil er ein anderes Land zu einer anderen Zeit betraf – das alte Habsburgerreich –, zum Teil vielleicht aber auch, weil die österreichischen Armeen sich nicht gerade mit Ruhm bedeckt hatten. Erst als ich nach Berlin kam, erlebte ich den Lehrer und ehemaligen Offizier, der auf seinen Frontdienst stolz war. Bis dahin stammte mein eindrucksvollstes Bild vom Großen Krieg von Karl Kraus’ großartigem, monumentalem Dokudrama Die letzten Tage der Menschheit, dessen Text meine Mutter und meine Tante Gretl gleich nach seinem Erscheinen 1922 gekauft hatten. Ich besitze noch das Exemplar meiner Mutter und lese von Zeit zu Zeit wieder darin. Was wußten wir sonst noch von der Zeit, in der wir lebten? Für

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Wiener Schulkinder war es selbstverständlich, daß die Menschen zwischen zwei Parteien wählen konnten – den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten oder Roten. Unsere einfache materialistische Annahme war die, daß man als Hausbesitzer die ersteren und als Mieter die letzteren wählte. Da die meisten Wiener zur Miete wohnten, machte dies natürlich Wien zu einer roten Stadt. Bis nach dem Bürgerkrieg von 1934 waren die Kommunisten so unwichtig, daß einige der Engagiertesten von ihnen sich entschieden, sich in anderen Ländern zu betätigen, wo sie mehr Handlungsspielraum hatten. Das betraf hauptsächlich Deutschland, wohin zum Beispiel die berühmten Eislers gingen, der Komponist Hanns, der Kominternagent Gerhart und ihre Schwester, die formidable Elfriede, besser bekannt als Ruth Fischer, die für kurze Zeit die KPD führte, aber auch die Tschechoslowakei, die für Egon Erwin Kisch zur neuen Heimat wurde. (Viele Jahre später wurde der Maler Georg Eisler, der Sohn von Hanns, mein bester Freund.) Ich kann mich nicht erinnern, daß ich auf den einzigen Kommunisten im Kreis der ehemaligen Geschwister Grün aufmerksam geworden wäre, der unter dem Pseudonym Leo Lania schrieb, damals ein junger Mann, der Zolas Das Werk sein Lieblingsbuch und Eugen Onegin und Spartakus seine Lieblingshelden in der Literatur und Geschichte nannte. Unsere Familie war natürlich weder schwarz noch rot, da die Schwarzen Antisemiten und die Roten für die Arbeiter und nicht für unsere Schicht waren. Außerdem waren wir Engländer, so daß uns die Frage nichts anging. Und doch, beim Übergang von der Volksschule auf das Gymnasium und von der Kindheit zur Pubertät im Wien der späten zwanziger Jahre erlangte man ein politisches Bewußtsein so selbstverständlich, wie man die eigene Sexualität entdeckte. Im Sommer 1930 befreundete ich mich in Weyer, einem Dorf in Oberösterreich, wo die Ärzte vergeblich versuchten, dem Lungenleiden meiner Mutter beizukommen, mit Haller Peter, dem Sohn der Familie, bei der wir Quartier bezogen hatten. (In der Tradition von Beamtenstaaten wurde der Nachname vor dem Vornamen genannt.) Wir gingen zusammen angeln und plünderten die Obstgärten, ein Treiben, von dem ich glaubte, daß es auch meiner Schwester gefallen müßte, das ihr jedoch, wie sie mir viele Jahre später gestand, eine Heidenangst eingejagt hatte. Da Peters Vater als Eisenbahner arbeitete, war die Familie rot: In Österreich und vor allem auf dem Land wäre es damals keinem Arbeiter außerhalb der Landwirtschaft in den Sinn gekommen, etwas anderes zu sein. Obwohl Peter – etwa im selben Alter wie ich – sich nicht erkennbar für öffentliche Angelegenheiten interessierte, war es auch für ihn selbstverständ-

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lich, rot zu sein; und irgendwie, zwischen dem Zielen mit Steinen auf Forellen und dem Stibitzen von Äpfeln, beschloß ich, auch Kommunist zu werden. Drei Jahre zuvor gab es ebenfalls einen Sommerferientag, an den ich mich erinnere, diesmal in einem Dorf namens Rettenegg in Niederösterreich. Es war eine Zeit, die in meinem persönlichen Leben keine besondere Rolle gespielt hat, um so mehr aber in der Geschichte. Wie gewöhnlich war mein Vater nicht mit uns gefahren, sondern war in Wien zurückgeblieben, um seiner Arbeit nachzugehen. Doch der Sommer 1927 war die Zeit, als die Arbeiter in Wien, empört über den Freispruch von einigen Rechten, die bei einer Schlägerei zwei Sozialisten getötet hatten, massenhaft auf die Straße gingen und den Justizpalast an der Ringstraße niederbrannten (die breite Prachtstraße, die in einem großen Bogen durch die alte Innenstadt Wiens führt). Fünfundachtzig von ihnen kamen dabei um. Mein Vater befand sich anscheinend in der Nähe des Tumults, kam jedoch ungeschoren davon. Sicher haben die Erwachsenen (nicht zuletzt meine Mutter) die Ereignisse ausgiebig diskutiert, aber ich kann nicht behaupten, daß dies bei mir den geringsten Eindruck hinterlassen hätte – anders als die Geschichte, daß sich einmal – nämlich 1909, auf einer Reise nach Ägypten – sein Schiff gerade auf der Höhe von Sizilien befand, als das große Erdbeben von Messina ausbrach. Was mir von diesem Ferientag tatsächlich im Gedächtnis geblieben ist, waren der Handwerker am Ort, der vor unserer Ferienwohnung ein Boot baute, und die Tannenwälder am Berghang, die ich allein erkundete, bis ich ein Lager von Holzfällern erreichte, die mir von ihrem Sterz abgaben, jenem festen Brei aus Mais oder Maisgrieß, den sie als Vesper mit sich führten. Unterwegs sah ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Schwarzspecht, fast einen halben Meter groß unter der leuchtend roten Kopfplatte, der auf einer Lichtung gegen einen Baumstumpf hämmerte, wie ein wahnsinniger kleiner Eremit, allein unter der Stille der Baumkronen. Trotzdem wäre es zuviel behauptet, daß der Sommer in Weyer mich zu einem politischen Menschen gemacht hätte. Erst in der Rückschau kann man meine Kindheit als einen Prozeß der Politisierung lesen. Damals bestimmten Spielen und Lernen, Familie und Schule mein Leben nicht anders als das der meisten Schulkinder im Wien der zwanziger Jahre. So gut wie alles, was wir erlebten, begegnete uns auf diese Weise oder fügte sich in den einen oder anderen dieser Rahmen ein. Von den beiden sozialen Netzen, die den größten Teil meines Lebens bestimmten, war die Familie das dauerhafteste. Sie bestand aus einem größeren Wiener Clan, den Verwandten meiner Großeltern,

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und einem kleineren, englisch-österreichischen Teil, zwei Schwestern der Familie Grün, meiner Mutter und ihrer jüngeren Schwester Gretl, beide mit zwei Hobsbaumbrüdern verheiratet, meinem Vater und dem jüngeren Sidney, der während des größten Teils der zwanziger Jahre ebenfalls in Wien lebte. Eingeschult wurde man erst mit sechs Jahren. Danach durchlief ich durch Wohnungswechsel bedingt zwei Volksschulen und drei Gymnasien, und meine Schwester – die Wien noch vor ihrem zehnten Lebensjahr verließ – besuchte zwei Volksschulen. Unter diesen Umständen konnten Schulfreundschaften nur von kurzer Dauer sein. Von allen, die ich während meiner fünf Schuljahre in Wien kennengelernt habe, sind mit einer Ausnahme alle aus meinem späteren Leben verschwunden. Die Familie war andererseits auch ein funktionales Netz, das nicht nur durch die emotionalen Bande zwischen Müttern, Kindern und Enkeln und zwischen Brüdern und Schwestern zusammengehalten wurde, sondern auch durch wirtschaftliche Erfordernisse. Was es in den zwanziger Jahren schon an den modernen sozialstaatlichen Einrichtungen gab, tangierte bürgerliche Familien kaum, da die wenigsten ihrer Ernährer Lohnarbeit verrichteten. An wen konnte man sich sonst um Hilfe wenden? Wie sollte man Verwandten in Not nicht helfen, selbst wenn man sie nicht besonders gut leiden konnte? Ich glaube nicht, daß dies besonders charakteristisch für jüdische Familien war, auch wenn die Wiener Familie meiner Mutter zweifellos das Empfinden hatte, daß die Mischpoche oder zumindest die Angehörigen, die in Wien wohnten, eine Gruppe bildete, die sich von Zeit zu Zeit traf, stets – wie ich mich aus langen und entsetzlich langweiligen Sitzungen an Tischen erinnere, die in einem Gartencafé zusammengestellt wurden –, um Familienentscheidungen zu treffen oder einfach nur Klatschgeschichten auszutauschen. Wir bekamen Eiscreme, aber solch kurze Freuden können einen nicht für ein langes Palaver entschädigen. Wenn es daran etwas spezifisch Jüdisches gab, dann die von allen geteilte Annahme, daß die Familie ein Netz sei, das sich über Länder und Meere hinweg erstreckte, daß der Wechsel des Wohnsitzes von einem Land in ein anderes ein normaler Bestandteil des Lebens sei und daß für Menschen, die ihr Geld mit Ankauf und Verkauf verdienten – wie dies bei vielen Angehörigen jüdischer Familien der Fall war –, die Sicherung des Lebensunterhalts eine ungewisse und unberechenbare Sache sei, vor allem im Zeitalter der Katastrophe, die Mitteleuropa seit dem Zusammenbruch der Zivilisation im August 1914 verschlungen hatte. Wie sich die Dinge entwickelten, sollte kein Teil der Familie Hobsbaum-Grün das Sicherheitsnetz des Familiensystems nötiger haben als meine Eltern,

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vor allem nachdem durch den Tod meines Vaters aus einer permanent kritischen eine katastrophale wirtschaftliche Lage geworden war. Doch bis dahin – in meinem Fall bis zu meinem zwölften Lebensjahr – bekamen wir Kinder davon kaum etwas mit. Wir lebten noch in der Zeit, in der eine Taxifahrt als eine Extravaganz erschien, die einer besonderen Rechtfertigung bedurfte, selbst bei relativ begüterten Menschen. Wir – oder zumindest ich – hatten anscheinend alle die üblichen Besitztümer, die auch unsere Freunde hatten, und taten alle die Dinge, die auch sie taten. Ich kann mich nur an eine einzige Gelegenheit erinnern, als mich eine Ahnung davon überfiel, wie mulmig die Lage war. Ich war gerade auf das Bundesgymnasium XIII, Fichtnergasse, gewechselt. Der für die neue Klasse verantwortliche Professor – alle Lehrer an einem Gymnasium wurden automatisch mit »Herr Professor« angeredet, so wie wir nunmehr automatisch mit »Sie« und nicht mehr wie die Kinder mit »du« angeredet wurden – hatte die Liste mit den Büchern ausgeteilt, die wir anschaffen sollten. In Erdkunde benötigten wir den Kozenn-Atlas, einen großen und offenbar ziemlich teuren Band. »Das ist sehr teuer. Mußt du ihn unbedingt haben?« fragte meine Mutter in einem Ton, der mir das deutliche Gefühl einer Krise vermittelte, und sei es auch nur, weil die Antwort auf ihre Frage so offensichtlich war. Natürlich mußte ich ihn haben. Wieso konnte Mama das nicht einsehen? Das Buch wurde gekauft, doch das Gefühl, daß zumindest bei dieser Gelegenheit ein größeres Opfer gebracht worden war, ließ mich nicht mehr los. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum dieser Atlas noch immer in meinem Bücherregal steht, leicht zerfleddert und voller Schmierereien und Randbemerkungen eines Sextaners oder Quintaners, doch noch immer ein guter Atlas, den ich von Zeit zu Zeit zu Rate ziehe. Vielleicht hätten andere Kinder in meinem Alter ein ausgeprägteres Gefühl für unsere materiellen Schwierigkeiten gehabt. Als Junge hatte ich keinen besonderen Sinn für praktische Realitäten; und Erwachsene, soweit ihre Aktivitäten und Interessen sich nicht mit den meinigen überschnitten, gehörten für mich nicht zur praktischen Realität. Jedenfalls lebte ich einen Großteil der Zeit in einer Welt ohne klare Grenzen zwischen der Wirklichkeit, den Entdeckungen des Lesens und den Schöpfungen meiner Phantasie. Selbst ein Kind mit einem nüchterneren Sinn für die Realität wie meine Schwester hatte keine klare Vorstellung von unserer Lage. Ein solches Wissen wurde einfach für die Welt unserer Kindheit nicht als notwendig angesehen. So hatte ich beispielsweise keine Ahnung, welcher Arbeit mein Vater eigentlich nachging. Niemand hielt es für nötig, Kindern solche Dinge zu sagen,

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und außerdem waren die Tätigkeiten, mit denen mein Vater und mein Onkel ihren Lebensunterhalt verdienten, alles andere als klar. Sie waren keine Männer mit eindeutig beschreibbaren beruflichen Tätigkeiten wie die Personen auf einer »Happy Family Card«: Ärzte, Anwälte, Architekten, Ladeninhaber. Wenn ich gefragt wurde, was mein Vater machte, antwortete ich unbestimmt »Kaufmann«, weil ich genau wußte, daß dies nichts bedeutete und so gut wie sicher falsch war. Doch was sollte man sonst dafür sagen? Zu einem großen Teil ging unser – oder zumindest mein – mangelndes Bewußtsein unserer finanziellen Situation auf das Widerstreben, um nicht zu sagen die Weigerung meiner Wiener Familie zurück, sie sehen zu wollen. Nicht, daß sie auf der letzten Zuflucht des Bürgertums, das schwere Zeiten mitmachte, bestanden hätten, »den äußeren Schein zu wahren«. Sie wußten genau, wie schlimm es ihnen ging. »Es ist wirklich herzerhebend, dies in unseren verarmten proletarisierten Zeiten zu sehen«, schrieb meine Großmutter ihrer Tochter, wobei sie über die Eleganz und Opulenz der Hochzeit eines Neffen staunte und bitter anmerkte, daß der Bräutigam seiner Braut »einen sehr schönen und wertvollen Ring« geschenkt hatte, »von uns verfertigt in besseren Zeiten«. Das heißt, bevor Großvater Grün, dessen Ersparnisse durch die große Inflation Anfang der zwanziger Jahre auf den Wert einer Tasse Kaffee mit Kuchen im Café Ilion zusammengeschmolzen waren, im hohen Alter die Beschäftigung seiner Jugend als Handelsvertreter wiederaufnahm und Billigschmuck in Provinzstädten und Alpendörfern verkaufte. Große Teile des österreichischen Bürgertums waren in einer ähnlichen Lage, verarmt durch den Krieg und die Nachkriegszeit, mit der Zeit daran gewöhnt, den Gürtel enger zu schnallen und sehr viel bescheidener zu leben als im »Frieden«, also vor 1914. (Was nach 1918 kam, zählte nicht als Frieden.) Sie empfanden es als hart, kein Geld zu haben – härter, wie sie glaubten, als für die Arbeiter, die schließlich daran gewöhnt waren. (Später, als ich ein Teenager und begeisterter Kommunist war, schüttelte meine Tante Gretl den Kopf über meine Weigerung, diese in ihren Augen selbstverständliche Behauptung zu akzeptieren.) Nicht daß es den englischen Ehemännern der Schwestern der Familie Grün besser gegangen wäre. Zwei von ihnen waren denkbar untauglich für den Dschungel der Marktwirtschaft: mein Vater und Wilfred Brown, ein gutaussehender Kriegsinternierter, der die älteste Schwester Mimi geheiratet hatte. Selbst mein Onkel Sidney, der einzige der Brüder Hobsbaum, der seinen Lebensunterhalt in Geschäften verdiente, verbrachte den größten Teil des Jahrzehnts damit, sich aus den Trümmern eines fehlgeschlagenen Projekts heraus-

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zuarbeiten, nur um sich in das nächste, ebenso zum Scheitern verurteilte Unternehmen zu stürzen. Im Grunde genommen fand meine Wiener Familie jede andere Lebensweise als die aus der Zeit vor 1914 unvorstellbar und machte einfach damit weiter, obwohl es aussichtslos war. So hielt sich meine Mutter selbst dann noch, als sie die Schulden beim Lebensmittelhändler nicht mehr bezahlen konnte, geschweige denn die Miete und den Strom, ständig ein Dienstmädchen. Aber das waren bei weitem nicht die alten treuen Familiendienstboten wie Helene Demuth, die auf dem Highgate Cemetery im Familiengrab von Karl Marx ruht. Sie waren und blieben das sprichwörtliche »Dienstmädchenproblem« der Frau des Hauses in bürgerlichen Familien, eine endlose Abfolge junger Frauen, von Agenturen vermittelt, die ein oder zwei Monate blieben, von der seltenen »Perle« bis zur ungeschickten Anfängerin, die gerade erst vom Land in die Stadt gekommen war und noch nie einen Gasherd oder gar ein Telefon gesehen hatte. Als meine Mutter 1925 zum ersten Mal England besuchte, um sich ihrer Schwester Mimi anzunehmen, die damals in Barrow-in-Furness krank darniederlag, schrieb sie ihrer anderen Schwester, beeindruckt nicht nur von der Effizienz, Gelassenheit und Unaufgeregtheit, mit der hier der Haushalt geführt wurde (ganz im Gegensatz zu den Häusern der jüdischen Familien in Wien . . .), sondern auch von der Tatsache, daß das alles ohne Dienstmädchen geschah. »Hier sind Damen, die ihr ganzes Haus allein führen, dabei Kinder haben, die selbst die große Wäsche allein waschen, und dabei Damen sind.«2 Trotzdem wäre für sie das englische Beispiel nie in Frage gekommen. Sie habe jahrelang am Rande des Bankrotts gelebt, schrieb sie an ihre Schwester, die über finanzielle Probleme in Berlin klagte, und »so möchte ich Dir vor allem einen Rat geben, den ich Dich sehr bitte, ja zu beherzigen: versuche nicht zu zeigen, daß es auch ohne Mädchen geht! Auf die Dauer geht es ohnehin nicht – und deshalb ist es weit besser, gleich von vornherein anzunehmen, daß ein Mädchen eine ebenso unumgängliche Notwendigkeit ist wie das Dach über dem Kopf und das Essen. Was man erspart, steht nicht im Verhältnis zum Verluste an Gesundheit, Annehmlichkeit und vor allem Nerven, die man ja um so wichtiger braucht je schiefer die Dinge gehen. Obzwar auch ich in letzter Zeit wieder ernsthaftig daran gedacht habe, Marianne fortzuschicken – uns ist es bei ihr vor Weihnachten wirklich nicht mehr möglich, sie war ja immer brav – so war dies doch nur aus dem Grund, der mich gewöhnlich dazu veranlaßt

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hat: weil ich mich vor dem Mädel geniere, den Greissler [Lebensmittelhändler] nicht zahlen zu können, etc.; und im Grund weiß ich gut, daß es viel besser ist, eine dicke Haut zu haben und sie zu behalten.«3 Von alledem wußten oder verstanden wir nichts, nur daß die Eltern manchmal Krach miteinander hatten, möglicherweise mit zunehmender Häufigkeit – aber welche Eltern stritten sich nicht? –, und daß die Zimmer in den mitteleuropäischen Wintern eiskalt waren. (Hätten wir in England in der Zeit der mit Kohlen beheizten Kamine gelebt, die wohl untauglichste Methode, die zur Erwärmung von Zimmern erfunden wurde, dann wäre diese Kälte nicht unbedingt eine Folge des fehlenden Geldes für den Kauf von Heizmaterial gewesen.) Fest und verbindlich, zum Teil allein schon wegen der Unsicherheit ihrer materiellen Basis, teilte die Familie die Welt und damit mein Leben in zwei Teile: Innen und Außen. Soweit wir Kinder betroffen waren, bildeten oder determinierten die Familie und ihre nächsten Freunde praktisch die Welt der Erwachsenen, die ich als Menschen und nicht nur als Dienstleister oder gleichsam als Statisten auf der Bühne unseres Lebens kannte. (Die Familie legte auch fest, welche Kinder dauerhaft Teil unseres Lebens bleiben würden und wir an ihrem, wie im Fall der Töchter von Golds oder der Tochter der Szanas.) Die Erwachsenen, die ich kannte, waren fast ausschließlich Verwandte oder die Freunde von Eltern und Verwandten. Somit habe ich keine Erinnerung an den Zahnarzt, zu dem meine Mutter mich brachte, als Person, während die Erinnerung an den Gang dorthin schon darum unvergeßlich blieb, weil er nicht zu den Leuten gehörte, die sie »kannte«. Andererseits erinnere ich mich an Doktor Strasser als an eine reale Person, vermutlich weil meine Familie ihn und seine Familie kannte. Merkwürdigerweise hatten Lehrer anscheinend bis zu meinem letzten Jahr in Wien nicht der Welt erwachsener Individuen angehört, und wurden erst in Berlin zu Menschen, zu denen ich persönliche Beziehungen unterhielt. Die Schule war in jedem Fall außen. Und Außen, in dem es Erwachsene im Sinne realer Personen nicht gab, bestand im wesentlichen aus anderen Kindern. Die Welt der Kinder, ob »innen« oder »außen«, war eine, die von den Erwachsenen nicht wirklich verstanden wurde, so wie wir nicht wirklich verstanden, was sie eigentlich trieben. Im besten Fall akzeptierte jede Seite der Generationslücke, was die andere Seite tat, mit Redewendungen wie »so machen es die Erwachsenen« oder »wie die Kinder«. Erst die Pubertät, die in meinem

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letzten Jahr in Wien einsetzte, begann die Mauern zwischen den beiden Sphären zu untergraben. Natürlich gab es Überschneidungen. Meine Lektüre, vor allem englische Bücher, bekam ich überwiegend von Erwachsenen, wobei ich Arthur Mees Children’s Newspaper, das wohlmeinende Verwandte aus London schickten, ebenso langweilig wie unverständlich fand. Auf der anderen Seite habe ich schon frühzeitig die deutschen Bücher über das Vogelleben und über Säugetiere verschlungen, die ich geschenkt bekam, und nach der Volksschule las ich regelmäßig die Zeitschrift Kosmos, herausgegeben von einer »Gesellschaft der Naturfreunde«, die sich die Popularisierung der Naturwissenschaften – hauptsächlich der Biologie und der Abstammungslehre – zum Ziel gesetzt hatte und deren Hefte von Erwachsenen für mich abonniert worden waren. Schon früh nahm man uns ins Theater mit, in Stücke, von denen man annahm, daß sie für uns unterhaltend sein würden, die aber auch von den Erwachsenen geschätzt wurden, etwa Schillers Wilhelm Tell (aber nicht Goethes Faust) und die Werke der populären Wiener Bühnenautoren des frühen 19. Jahrhunderts – die phantastischen Zauberstücke Ferdinand Raimunds, die urkomisch-satirischen Volksstücke des großen Johann Nestroy, dessen bitteren Witz wir noch nicht verstanden. Aber man schickte uns auch zusammen mit anderen Schulkindern in die morgendlichen Filmvorführungen des Maxim-Bio, ein Wiener Kino, das es schon lange nicht mehr gibt, wo wir Kurzfilme mit Charlie Chaplin und Jackie Coogan sahen, aber erstaunlicherweise auch Fritz Langs wesentlich längeres Epos Die Nibelungen. Nach meiner Wiener Erfahrung gingen Erwachsene und Kinder nicht gemeinsam ins Kino. Andererseits trafen geistig rege Kinder natürlich ihre Auswahl unter den Büchern auf den Regalen ihrer Eltern und Verwandten, vielleicht beeinflußt durch das, was sie zu Hause gehört hatten, vielleicht auch nicht. Insoweit teilten die Generationen bestimmte Vorlieben. Dagegen war der von unseren Eltern für die Kinder ausgesuchte Lesestoff im allgemeinen für die Erwachsenen nicht von ernsthaftem Interesse. Andererseits hatten von allen Erwachsenen, mit denen wir zu tun hatten, nur die (mißbilligend blickenden) Lehrer überhaupt eine Ahnung von dem leidenschaftlichen Interesse Dreizehnjähriger an den Detektivheftchen im Taschenformat. Deren Helden trugen unweigerlich englische Namen, und ihre Abenteuer kursierten in unseren Klassen unter Titeln wie Sherlock Holmes, der Weltdetektiv (weitab vom Original), Frank Allen, der Rächer der Enterbten, von Sexton Blake, und schließlich am beliebtesten der Berliner Detektiv Tom Shark mit seinem Kumpel Pitt Strong, der seinen Beruf in der Umgebung der Motz-

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straße ausübte, die Lesern von Christopher Isherwood vertraut sein mochte, für Jungen in Wien jedoch so weit entfernt war wie Holmes’ Baker Street. Kinder im Wien der mittzwanziger Jahre lernten noch die alte Kurrentschrift, indem sie mit Griffeln Buchstaben auf holzgerahmte Schiefertafeln schrieben, die sie anschließend mit einem feuchten Schwämmchen wieder auswischten. Da die Schulfibeln nach 1918 überwiegend in der neuen Antiqua gedruckt waren, lernten wir natürlich später auch so zu schreiben, aber ich kann mich nicht mehr erinnern wie. Wenn man mit elf Jahren aufs Gymnasium ging, wurde offenbar von einem erwartet, daß man lesen, schreiben und rechnen konnte, doch was wir sonst in der Volksschule lernten, weiß ich heute nicht mehr so genau. Offenbar fand ich es interessant, da ich auf meine Volksschulzeit gern zurückblicke und mich an die verschiedensten Geschichten über Wien und an Ausflüge in die halb ländliche Umgebung erinnere, die wir nach Bäumen, Pflanzen und Tieren durchstreiften. Ich nehme an, das alles fiel unter das Fach Heimatkunde, ein Wort, das sich nicht ohne weiteres ins Englische übersetzen läßt, da dieses den Begriff »Heimat« nicht kennt. Heute kann ich sehen, daß es keine schlechte Vorbereitung für einen Historiker war, da die großen Ereignisse der konventionellen Geschichte in Wien und Umgebung nur ein nebensächlicher Teil von dem waren, was Wiener Kinder über ihre Heimat lernten. Aspern war nicht nur der Name der Schlacht, die die Österreicher gegen Napoleon gewonnen hatten (das benachbarte Wagram, wo sie entscheidend geschlagen wurden, sollte nicht in die kollektive Erinnerung eingehen), sondern auch ein Ort in der etwas entfernten noch nicht zur Stadt gehörigen Zone jenseits der Donau, wohin Menschen zum Baden in den stehenden Gewässern früherer Donauarme gingen und um Wildgebiete mit Mardern und Wasservögeln zu erkunden. Die türkischen Belagerungen Wiens waren wichtig, weil sie als ein Teil der türkischen Beute den Kaffee nach Wien brachten und damit unsere Kaffeehäuser. Natürlich hatten wir den nicht zu unterschätzenden Vorteil, daß die amtliche Geschichte des alten kaiserlichen Österreichs von der Bildfläche verschwunden war, ausgenommen in Gestalt von Gebäuden und Denkmälern, und daß das neue Österreich von 1918 noch keine Geschichte hatte. Es ist die politische Kontinuität, die wesentlich dazu beiträgt, den Geschichtsunterricht auf die kanonische Abfolge von Daten, Herrschern und Kriegen zu reduzieren. Das einzige historische Ereignis, das meiner Erinnerung nach im Wien meiner Kindheit an der Schule gefeiert wurde, war der hundertste Todestag Beethovens. Die Lehrer selbst wußten, daß in der neuen Zeit auch die

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Schule eine andere sein mußte, nur hatten sie von ihr noch keine klare Vorstellung. (In meinem Schulliederbuch von 1925 war damals von »der noch nicht völlig geklärten neuen Unterrichtsmethode« die Rede.) Auf dem Gymnasium, das sich von der traditionellen Pädagogik noch nicht emanzipiert hatte, sollte ich eine Geschichte kennenlernen, die hauptsächlich aus den Daten großer Schlachten bestand. Das ließ mich natürlich kalt. Deutsch, Erdkunde, Latein und später Griechisch (das ich in England aufgeben mußte) schienen weit mehr nach meinem Geschmack, weniger dagegen die Mathematik und die naturwissenschaftlichen Fächer. Und ganz und gar nicht der Religionsunterricht. In der Volksschule stellte sich das Problem wahrscheinlich noch nicht, doch meine ich mich zu erinnern, daß die Nichtkatholischen, die Protestanten, Lutheraner, die wenigen Griechisch-Orthodoxen, aber hauptsächlich die Juden von der Teilnahme an diesem Unterricht befreit waren. Die Alternative für die Minderheit, eine nachmittägliche Religionsstunde für Juden, die in einem anderen Teil der Stadt von einem Fräulein Miriam Morgenstern und ihren verschiedenen Nachfolgern gehalten wurde, war wenig anregend. Sie erzählte uns wiederholt die biblischen Geschichten im Pentateuch und stellte uns dazu Fragen. Ich erinnere mich noch an den Schock, den ich auslöste, als sie zum x-ten Mal die Frage stellte, wer der wichtigste der Söhne Jakobs war, und ich – weil ich nicht glauben wollte, daß es immer nur um Joseph ging – zur Antwort gab: »Juda«. Schließlich, so mein Argument, waren doch alle Juden nach ihm benannt worden. Es war die falsche Antwort. Ich eignete mir auch die Kenntnis hebräischer Druckbuchstaben an, die mir inzwischen wieder aus dem Gedächtnis entschwunden sind, außerdem die Anrufung des jüdischen Pflichtgebets »Schema Jisroel!« (»Höre Israel!« Die Worte wurden stets in der Weise der Aschkenasim ausgesprochen und nicht in der der Sephardim, die vom Zionismus auferlegt wurde) sowie ein Bruchstück des »Manischtani«, die rituellen Fragen und Antworten, die während des Pessachfestes vom jüngsten männlichen Familienmitglied rezitiert wurden. Da niemand in der Familie Pessach feierte, sich um den Sabbat oder sonst einen jüdischen Feiertag kümmerte oder jüdische Speisevorschriften einhielt, hatte ich keine Gelegenheit, meine Kenntnisse anzuwenden. Ich wußte, daß man im Tempel seinen Kopf bedecken mußte, doch die wenigen Male, daß ich einen betrat, waren Hochzeiten und Beerdigungen. Dem einzigen Schulfreund, der bei der Zwiesprache mit Gott das gesamte Ritual absolvierte – Gebetsschal, Gebetsriemen und alles – sah ich mit einer unbeteiligten Neugier zu. Außerdem, wenn unsere Familie diese Dinge

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praktiziert hätte, dann wäre eine Unterrichtsstunde in der Woche weder notwendig noch ausreichend gewesen, sie zu erlernen. Obwohl in keiner Weise gläubig, wußten wir, daß wir Juden waren und gar nichts anderes sein konnten. Schließlich gab es in Wien 200 000 von uns, zehn Prozent der Einwohner der Stadt. Die meisten Wiener Juden trugen assimilierte Vornamen, doch im Unterschied zu den Juden in der angelsächsischen Welt änderten sie ihre Nachnamen nur selten, und wenn sie noch so erkennbar jüdisch waren. Während meiner Kindheit war keiner von denen, die ich kannte, konvertiert. In der Regel war unter den Habsburgern wie unter den Hohenzollern die Aufgabe einer bestimmten Form der religiösen Andacht zugunsten einer anderen ein Preis, der von sehr erfolgreichen jüdischen Familien bereitwillig für eine soziale oder amtliche Stellung bezahlt wurde, doch nach dem Zusammenbruch der Gesellschaft verschwanden die Vorteile einer Konversion selbst für solche Familien, und die Grüns hatten nie nach Höherem gestrebt. Ebensowenig konnten Wiener Juden sich einfach als Deutsche betrachten, die eine eigene Form hatten, Gott zu ehren (oder auch nicht). Sie konnten nicht einmal davon träumen, ihrem Schicksal zu entrinnen, eine ethnische Gruppe unter vielen zu sein. Niemand gab ihnen die Möglichkeit, »der Nation« anzugehören, denn es gab sie überhaupt nicht. In der österreichischen Hälfte der Herrschaftsgebiete Kaiser Franz Josephs gab es im Unterschied zur ungarischen Hälfte kein einzelnes »Land« mit einem einzelnen »Volk«, das theoretisch mit ihm gleichgesetzt wurde. Unter diesen Umständen war das »Deutschsein« für Juden kein politisches oder nationales, sondern ein kulturelles Projekt. Es bedeutete, die Rückständigkeit und Isolation des Schtetls und der »Schul« hinter sich zu lassen und sich der modernen Welt anzuschließen. Die Stadtväter von Brody in Galizien, deren Einwohner zu 80 Prozent aus Juden bestanden, hatten dem Kaiser vor langer Zeit eine Petition überreicht, in der sie darum baten, Deutsch zur Unterrichtssprache zu machen, nicht weil die emanzipierten Bürger von Brody wie die biertrinkenden echten Deutschen sein, sondern weil sie nicht wie die Chassidim sein wollten mit ihren erblichen Wunderrabbis oder den Jeschiwe-Bocherim, die den Talmud auf jiddisch auslegten. Und das war der Grund, warum bürgerliche Wiener Juden, deren Eltern oder Großeltern aus dem polnischen, tschechischen und ungarischen Hinterland ausgewandert waren, sich so entschieden von den Ostjuden abgrenzten. Es ist kein Zufall, daß der moderne Zionismus von einem Wiener Journalisten erfunden wurde. Alle Wiener Juden wußten, spätestens seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, daß sie in einer Welt

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von Antisemiten, ja eines potentiell gefährlichen Straßenantisemitismus lebten. »Gottlob kein Jud« ist die spontane Reaktion eines (jüdischen) Passanten auf die Meldung der Zeitungsverkäufer auf dem Wiener Ringstraßenkorso von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in der 1. Szene des Vorspiels zu den Letzten Tagen der Menschheit. In den zwanziger Jahren bestand sogar noch weniger Grund zum Optimismus. Die meisten hegten keinen Zweifel, daß die regierende Christlichsoziale Partei ebenso antisemitisch geblieben war wie ihr Gründer, Wiens gefeierter Bürgermeister Karl Lueger. Und ich erinnere mich noch an den Schock, als meine Eltern – ich war kaum dreizehn Jahre alt – die Nachricht von den deutschen Reichstagswahlen 1930 erhielten, aus denen Hitlers NSDAP als zweitstärkste Partei hervorgegangen war. Sie wußten, was das bedeutete. Kurzum, es gab einfach keine Möglichkeit zu vergessen, daß man Jude war, auch wenn ich mich an keinen mir persönlich geltenden Antisemitismus erinnern kann, da mir meine englische Staatsbürgerschaft zumindest in der Schule eine Identität verlieh, die alle Aufmerksamkeit von meinem Judentum abzog. Die englische Staatsbürgerschaft immunisierte mich wahrscheinlich und zum Glück auch gegen die Verlockungen eines jüdischen Nationalismus, wenngleich der Zionismus unter der mitteleuropäischen Jugend im allgemeinen mit gemäßigten oder revolutionären sozialistischen Auffassungen Hand in Hand ging, ausgenommen bei den Schülern Jabotinskys, die sich für Mussolini begeisterten und jetzt Israel als Likud-Partei regieren. Selbstverständlich hatte der Zionismus in der Stadt Herzls eine größere Ausstrahlung als unter den einheimischen Juden etwa in Deutschland, wo er vor Hitler nur eine untypische Randgruppe anzog. Es war unmöglich, die Existenz von Antisemiten oder des blau-weißen Fußballvereins Hakoah zu übersehen, der meinen Vater und Onkel Sidney in schwere Loyalitätskonflikte stürzte, als er gegen die britische Gastmannschaft der Bolton Wanderers spielte. Doch die große Mehrheit emanzipierter oder bürgerlicher Wiener Juden vor Hitler war nicht zionistisch und sollte dies auch nie werden. Wir hatten keine Ahnung, welche Gefahren den Juden drohten. Niemand hätte etwas ahnen können. Selbst in den rückständigen und regelmäßig von Pogromen heimgesuchten Regionen der europäischen Karpaten und der polnisch-ukrainischen Ebenen, von wo die Einwanderer der ersten Generation nach Wien kamen, war ein systematischer Völkermord unvorstellbar. Wenn ernsthafte Probleme auftraten, sprachen sich die Alten und Erfahrenen dafür aus, sich möglichst unauffällig zu verhalten, jeder Konfrontation aus dem Weg zu gehen und sich

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auf die Seite jener staatlichen Institutionen zu stellen, die in der Lage waren, sie zu schützen, und die auch ein gewisses Interesse daran hatten oder zumindest ein Interesse, in ihrem Machtbereich ein Mindestmaß an Recht und Ordnung wiederherzustellen. Die Jungen und Revolutionären forderten zu Widerstand und aktiver Selbstverteidigung auf. Die Alten wußten, daß sich die Dinge früher oder später wieder beruhigen würden; die Jungen mochten von einem totalen Sieg träumen (zum Beispiel von einer Weltrevolution), aber wie hätten sie auf die Idee einer totalen Vernichtung kommen sollen? Weder die einen noch die anderen rechneten wirklich damit, daß ein modernes Land sich all seiner Juden entledigen würde, etwas, das es zuletzt 1492 in Spanien und seitdem nicht mehr gegeben hatte. Und noch viel weniger konnte man sich ihre physische Ausrottung vorstellen. Außerdem waren die Zionisten die einzigen, die den systematischen Auszug aller Juden in einen monoethnischen Nationalstaat im Auge hatten, so daß sie in der Terminologie der Nazis eine »judenreine« Heimat zurückgelassen hätten. Wenn die Leute vor Hitler oder in den ersten Jahren seiner Herrschaft über die Gefahren des Antisemitismus redeten, dachten sie an eine Verschärfung dessen, worunter die Juden schon immer gelitten hatten: Diskriminierung, Unrecht, Verfolgung, Einschüchterung bis hin zu Mißhandlung der Minderheit der unterlegenen Schwachen durch die selbstbewußten, verächtlichen Starken. Es bedeutete nicht Auschwitz und konnte es auch noch nicht bedeuten. Das Wort »Genozid« wurde erst 1943 geprägt. Was konnte das »Jüdischsein« in den zwanziger Jahren für einen intelligenten Wiener Jungen mit englischem Paß bedeuten, der unter keinem Antisemitismus zu leiden hatte und dem die religiösen Praktiken und Überzeugungen des traditionellen Judentums so fremd waren, daß ihm bis zum Ende der Pubertät überhaupt noch nicht aufgefallen war, daß er beschnitten war? Vielleicht nur dies: daß ich mir irgendwann um das zehnte Lebensjahr einen einfachen Grundsatz meiner Mutter einprägte, als ich, aus einem längst vergessenen Anlaß, eine abfällige Bemerkung über das »typisch jüdische« Verhalten meines Onkels machte oder auch nur wiedergab. Darauf sagte mir meine Mutter sehr eindringlich: »Du darfst nie etwas tun, das den Eindruck erwecken könnte, daß du dich schämst, ein Jude zu sein.« Ich habe mich seitdem bemüht, mich daran zu halten, obwohl die damit verbundene Anspannung manchmal fast unerträglich ist, wenn man an das Verhalten der israelischen Regierung denkt. Der Grundsatz meiner Mutter war für mich ausreichend, um später – wenn auch mit Bedauern – darauf zu verzichten, mich als »konfessionslos« zu bezeich-

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nen, wozu man in Österreich ab dem dreizehnten Lebensjahr berechtigt war; er legte mir die lebenslange Last eines unaussprechlichen Nachnamens auf, der spontan danach zu verlangen scheint, zu dem bequemeren Hobson oder Osborn verschliffen zu werden; und er definierte mein Judentum vollständig und ließ mir die Freiheit, als ein »nichtjüdischer Jude« zu leben, wie mein verstorbener Freund Isaac Deutscher es genannt hat, nicht jedoch in dem, was eine bunte Schar religiöser und nationalistischer Publizisten als den »jüdischen Selbsthaß« bezeichnet hat. Ich habe keine emotionale Verpflichtung gegenüber den religiösen Praktiken meiner Vorfahren und noch weniger gegenüber dem kleinen, militaristischen, kulturell enttäuschenden und politisch aggressiven Nationalstaat, der aus rassischen Gründen meine Solidarität fordert. Ich muß mich nicht einmal in die – an der Wende zum neuen Jahrhundert besonders modische – Pose »des Opfers« begeben, des Juden, der kraft der Shoah (und in der Ära einzigartiger und beispielloser weltweiter jüdischer Errungenschaften, Erfolge und öffentlicher Anerkennungen) als Opfer von Verfolgungen einzigartige Ansprüche an das Gewissen der Welt haben kann. Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit tragen keine ethnischen Abzeichen noch schwenken sie Nationalfahnen. Und als Historiker stelle ich fest: Wenn es überhaupt eine Rechtfertigung für den Anspruch gibt, daß die 0,25 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 2000, die den Stamm bilden, in den ich hineingeboren wurde, ein »auserwähltes« oder besonderes Volk seien, so ist diese nicht daraus abzuleiten, was es innerhalb der Ghettos oder auf bestimmten selbstgewählten oder von anderen aufgezwungenen Territorien in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft getan hat, tut oder noch tun wird. Abzuleiten ist sie nur aus seinem höchst disproportionalen und bemerkenswerten Beitrag zur Geschichte der Menschheit auf der ganzen Welt, hauptsächlich seit den Juden vor rund zwei Jahrhunderten erlaubt wurde, die Ghettos zu verlassen, und sie dies auch getan haben. Wir sind, um den Titel des Buchs meines Freundes Richard Marienstras zu zitieren – polnischer Jude, französischer Widerstandskämpfer, Bewahrer der jiddischen Kultur und der führende Shakespeare-Experte seines Landes –, »un peuple en diaspora«. Das werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach auch bleiben. Und wenn wir das Gedankenexperiment machen, uns vorzustellen, Herzls Traum würde sich erfüllen und alle Juden lebten schließlich in einem kleinen, unabhängigen Territorialstaat, der all jenen die vollen staatsbürgerlichen Rechte verweigerte, die nicht von jüdischen Müttern geboren wurden, so wäre dies ein schwarzer Tag für den Rest der Menschheit – und für die Juden selbst.

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Am Freitag, dem 8. Februar 1929, kam mein Vater spätabends zurück von einem seiner immer verzweifelteren Gänge in die Stadt, um etwas Geld zu verdienen oder zu leihen, und brach vor der Eingangstür zu unserem Haus zusammen. Meine Mutter hörte sein Stöhnen durch die Fenster im ersten Stock, und als sie einen Flügel öffnete und die eiskalte Luft dieses ungewöhnlich strengen Winters hereinzog, hörte sie, wie er nach ihr rief. Innerhalb weniger Minuten war er tot, wahrscheinlich war es ein Herzanfall. Er war achtundvierzig Jahre alt. Sein Tod wurde auch zum Todesurteil für meine Mutter. Wie konnte sie sich ihr Verhalten ihm gegenüber in den vergangenen furchtbaren Monaten, ja den vergangenen Tagen, verzeihen, die nun zu den letzten seines Lebens geworden waren? »Was ich erlebt habe, hat mich innerlich einfach gebrochen«, schrieb sie an ihre Schwester im ersten Brief nach seinem Tod. »Ich kann auch noch nicht darüber schreiben. Du kannst Dir wohl denken, wie jedes böse Wort und jeder böse Gedanke von einmal sich jetzt in mir um und umdrehen wie Messer. Das: Nie wieder, Gretl! Was täte ich jetzt alles – und was hätte ich getan, wenn ich geahnt hätte . . . Wenn er nur wenigstens einen Tag krank gelegen wäre, daß ich ihn hätte pflegen und ein Mal wirklich wieder lieb zu ihm sein können . . . So aber habe ich doch noch zu ihm können, und er ist nicht ganz allein gestorben.« Es war kein Trost für sie. Binnen zweieinhalb Jahren starb auch sie, im Alter von sechsunddreißig Jahren. Ich bin immer davon ausgegangen, daß die vielen selbstquälerischen Besuche am Grab, die sie sich in den harten Wintermonaten nach seinem Tod auferlegte und bei denen sie viel zu dünn angezogen war, zu dem Lungenleiden beigetragen haben, das sie schließlich umbrachte. Es ist nicht überraschend, daß ihre Selbstbeherrschung in diesen entsetzlichen Monaten übermäßig strapaziert wurde und versagte – weit weniger überraschend als die Tatsache, daß es ihr mit geradezu über-

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menschlicher Anstrengung gelang, die Lage vor ihren Kindern zu verbergen. Die Zeiten waren von Anfang an nicht gut gewesen, als das junge Paar aus Ägypten mit einer bescheidenen Reserve aus harten und stabilen Pfund Sterling in einem Österreich angekommen war, das kurz vor einer Hyperinflation stand. Ich habe keine Ahnung, wie mein Vater erwarten oder hoffen konnte, seinen Lebensunterhalt in einem Land zu verdienen, dessen Sprache er nie gut zu sprechen gelernt hatte. Ich habe nicht einmal eine Ahnung, womit er sein Geld verdient hatte, bevor er nach Ägypten ging, wo ein vorzeigbarer, redegewandter, intelligenter, aber nicht allzu intellektueller Mann in den Zwanzigern mit einer ziemlich beeindruckenden Bilanz als Sportler keine Probleme gehabt haben dürfte, als einer aus der großen Kolonie britischer Staatsbürger eine Anstellung in einem Fracht- oder Handelsbüro zu bekommen. Vielleicht erwartete er, in Wien als Engländer eine ähnliche Unterstützung zu finden, obwohl die englische Kolonie hier sehr klein war (auch wenn aus ihr mehrere Wiener Fußballmannschaften hervorgegangen waren). Alles was ich sicher weiß ist, daß er sich Briefpapier mit folgendem Briefkopf hatte drucken lassen: »L. Percy Hobsbaum, Vienna. Tel. Ad. ›Hobby‹. Tel. Nr...« Wie meine Mutter ihre Schwester wissen ließ, hatte sie 1920 für kurze Zeit verschiedene Haushaltshilfen: eine Köchin und ein Stubenmädchen (die innerhalb kürzester Zeit wieder verschwanden). Von da an ging es nur noch bergab. Von der Seutter-Villa zogen wir in eine deutlich bescheidenere Wohnung in einem benachbarten Stadtteil, Ober-St. Veit. Ab Mitte der zwanziger Jahre lebte die Familie anscheinend nur noch von der Hand in den Mund und wußte kaum, woher sie das Geld für die täglichen Ausgaben nehmen sollte. Das war, wie ich vermute, der Grund, warum meine Mutter den ernsthaften Versuch unternahm, mit dem Schreiben Geld zu verdienen, wobei sie immer länger und intensiver arbeitete. Doch was ihr literarisches Werk auch zum Familieneinkommen beitragen mochte, im Lauf des Jahres 1928 wurde die Situation zunehmend katastrophal. Ende 1928 hatte der Hauseigentümer uns gekündigt. Wir mußten verhandeln, daß uns das Gas nicht abgestellt wurde. Zwei Tage vor Weihnachten schrieb meine Mutter an ihre Schwester: »Heute ist Freitag und ich habe noch kein einziges Geschenk gekauft – wenn Percy morgen kein Geld bringt, weiß ich nicht, was ich machen werde.« Das neue Jahr hatte keine Atempause gebracht. Drei Tage vor dem Tod meines Vaters beklagte sie sich gegenüber ihrer Schwester, die Dinge gingen von Tag zu Tag schlechter, die Miete und die Telefonrechnung seien nicht bezahlt, »ich habe gewöhnlich nicht einen Schil-

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ling im Hause«, und sie hatte noch immer keine Idee, von was die Familie leben sollte, wenn der Tag der Kündigung gekommen war. So lagen die Dinge, als mein Vater sich zum letzten Mal auf den Weg machte. Und jetzt war er tot. Er wurde einige Tage später im jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs beerdigt. Alles, woran ich mich im Zusammenhang mit seinem Tod erinnern kann, waren ein dunkler Abend, an dem meine Schwester und ich noch halb im Schlaf aus unserem Zimmer in das Schlafzimmer unserer Eltern verlegt wurden, wo man uns in unbestimmten Ausdrücken sagte, es sei etwas Schreckliches passiert, und der eisige Wind, der am offenen Grab über uns hinwegfegte. Vielleicht ist dies der Augenblick für einen Sohn, sich der schwierigen Aufgabe zu stellen, etwas über seinen Vater zu schreiben. Die Aufgabe ist deshalb so außerordentlich schwierig, weil ich so gut wie keine Erinnerung an ihn habe, das heißt, ich habe offenbar beschlossen, das meiste von dem, an das ich mich hätte erinnern können, zu vergessen. Ich weiß, wie er aussah, ein mittelgroßer, kräftiger Mann mit einem randlosen Kneifer, schwarzem, in der Mitte gescheiteltem Haar und einer quergefurchten Stirn, doch selbst dieser Eindruck mag sich mehr der Kamera als meinem Gedächtnis verdanken. In meinem inneren Familienfotoalbum aus der Kindheit ist er auf nicht mehr als vielleicht einem halben Dutzend Bildern vertreten, die wohl alle aus der Zeit in Ober-St. Veit stammen: Daddy in einem Tweedanzug – ungewöhnlich in Wien; Daddy, der mich zu einem Amateurfußballspiel mitnimmt; ich als sein Balljunge beim gemischten Tennisdoppel irgendwo an der Straße zwischen unserem Haus und dem Lainzer Tiergarten, dem alten kaiserlichen Jagdrevier. Daddy, der englische Varietélieder singt; eine kurze, aber strahlende Erinnerung an eine Wanderung mit Daddy in die umliegenden Hügel. Dann folgen ein oder zwei weniger angenehme Bilder: Daddy, der – anscheinend erfolglos – versucht, mir das Boxen beizubringen (er bestand nicht weiter darauf); und ein wesentlich deutlicheres Bild: Daddy, in rasender Wut im Garten der Einsiedeleigasse. Ich muß damals etwa neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. Er hatte mich gebeten, ihm einen Hammer zu bringen, um einen Nagel einzuschlagen; möglicherweise hatte sich irgend etwas am Liegestuhl gelockert. Ich beschäftigte mich damals leidenschaftlich mit Vorgeschichte, vielleicht weil ich zu der Zeit den ersten Band der Höhlenkinder-Trilogie von Sonnleitner las, Die Höhlenkinder im heimlichen Grund, ein Roman, in dem zwei Waisen, ein Junge und ein Mädchen, allein in einem unzugänglichen Alpental aufwachsen, um noch einmal die Stadien der menschlichen Vorgeschichte zu durchleben, von der Steinzeit bis zu einer Zeit, die erkennbar an das bäuerliche Le-

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ben in Österreich erinnert. Da sich die Waisenkinder gerade in der Steinzeit befanden, hatte ich einen Steinzeithammer angefertigt, dessen Kopf sorgfältig und kunstgerecht mit dem Stiel verschnürt war. Den brachte ich ihm und war verblüfft über seine wütende Reaktion. Man hat mir später gesagt, daß er mir gegenüber häufig so aufbrausend war, doch wenn das stimmt, was wahrscheinlich ist, dann habe ich es aus meinem Gedächtnis gestrichen. Ich habe nur ein einziges Bild von ihm bei der Arbeit. Eines Tages brachte er eine Apparatur mit nach Hause, die er (wie so oft) erfolglos an den Mann zu bringen versuchte, ein Ladenschild, bei dem ein erleuchtetes Wort – vielleicht der Name eines Produkts oder eines Händlers – von einem im rechten Winkel angebrachten Spiegel reflektiert wurde und in diesem von der Straße zu sehen war. Vielleicht wollte er seine Verkäuflichkeit mit einem Besucher erörtern, wobei es sich mit größer Wahrscheinlichkeit um seinen Bruder handeln mußte, denn soweit er in Wien Freunde hatte, kann ich mich nicht an sie erinnern. Auch die Erinnerung anderer bringt ihn mir nicht ins Gedächtnis zurück. Es gab Anekdoten über seine Jugend in London und in Ägypten, in denen meist auch seine physische Stärke und seine Attraktivität für Frauen eine Rolle spielten (obwohl ich nie auch nur die leiseste Andeutung gehört habe, daß er seiner Frau untreu gewesen wäre). Jede jüdische Familie im Londoner East End brauchte mindestens einen Bruder, der, wie sie sagten, »seine Fäuste zu gebrauchen wußte« und den Iren des Viertels die Stirn bieten konnte. In der Familie der Hobsbaums fiel diese Rolle meinem Vater zu, und da der Boxring für arme junge East Enders eine akzeptable Möglichkeit war – auch für junge Juden mit starken Muskeln und guten Reflexen –, wurde er ein mehr als passabler Boxer. Er blieb Amateur, doch die sichtbaren Zeichen seines Erfolgs waren die beiden Pokale, die er 1907 und 1908 oder um diese Zeit in Ägypten als Gewinner der Meisterschaft im Leichtgewicht errungen hatte, vermutlich gegen Konkurrenten aus den britischen Besatzungsstreitkräften. Sie standen auf einem Regal in unserer Wohnung – nicht wie in England auf dem Kaminsims, weil es die in Österreich nicht gab –, und meine Schwester, die sich liebevoll an ihn erinnerte, obwohl sie bei seinem Tod erst acht Jahre alt war, stellte sie später in ihrem Haus auf. Wie es heißt, rettete er einmal seinem Bruder Ernst das Leben, als dieser beim Schwimmen in Schwierigkeiten geriet. Der Roman meiner Mutter, dessen Protagonistin eine junge Frau in Ägypten vor 1914 ist, enthält das Porträt eines athletischen Multitalents in Aktion, für den er höchstwahrscheinlich Modell gestanden hat.

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Doch in den Anekdoten oder Witzen der Familie in den Wiener Jahren tritt er nicht in Erscheinung. Offenbar kam er nicht gut mit seinen Schwiegereltern aus, zumindest nicht mit Großmutter Grün. Außerdem steht nicht einmal in den sehr ausführlichen Briefen meiner Mutter an ihre Schwester viel über ihn – wesentlich weniger als über Onkel Sidney, ihren Schwager. Nichts über seine Pläne, seine Aktivitäten, seine Fehlschläge. Nichts über das, was sie gemeinsam unternahmen oder wohin sie gemeinsam gingen. Nach dem Tod unserer Eltern wurde im Haus von Onkel Sidney und Tante Gretl über ihn oder genauer gesagt über seine Wiener Jahre kaum mehr gesprochen. Es schien, als wäre er völlig aus dem Blickfeld verschwunden. Tatsächlich waren die Jahre in Wien für ihn eine Katastrophe. In den Worten meiner Mutter: »Soviel Plage und Jammer und Enttäuschung, um so zu enden?« Mit einem regelmäßigen Gehalt für eine regelmäßige, nicht allzu anspruchsvolle Tätigkeit wäre er glücklich und zufrieden gewesen, ein charmanter Kamerad, ein Gewinn für jede Umgebung, die Sport, ein wenig Musik und Spaß zu schätzen wußte. Diese Dinge standen Männern ohne finanzielle Mittel oder berufliche Qualifikationen in den formellen oder informellen Vorposten des britischen Empires, aber nicht im Wien der Nachkriegszeit zur Verfügung. Vielleicht hätte er in der fernen, unwiederbringlichen Welt vor 1914 in dem damals noch prosperierenden Netz der großväterlichen Familien oder mit deren Hilfe eine Stelle finden können. Schließlich mußte man für den Ehemann der Tochter etwas tun, selbst wenn er ein rechter Schlemihl war. In den zwanziger Jahren war das nicht mehr möglich. Er war auf sich allein gestellt. Es gibt nur wenige Menschen in meinem Bekanntenkreis, die so ungeeignet waren, ihren Lebensunterhalt in einer unbarmherzigen Welt zu verdienen, wie mein Vater. Am Ende kann ihm nicht mehr viel Selbstvertrauen geblieben sein, und sei es auch nur, weil niemand mehr an ihn glaubte. Nach seinem Tod fand seine Frau vorübergehend Trost in dem Gedanken, »es wäre in nächster Zeit nicht besser geworden, nur schlechter! Das ist ihm erspart geblieben.« Er hinterließ nicht viel außer seinen Siegerpokalen, seiner Dauerkarte mit Foto für die Wiener Verkehrsbetriebe und eine beträchtliche Sammlung von englischen Büchern, überwiegend die vom deutschen Tauchnitz Verlag ausschließlich für den Vertrieb außerhalb Englands produzierten Taschenbücher, die er demnach, wie ich annehme, in Ägypten gekauft hatte. Ich kann mich nicht erinnern, daß in Wien neue Tauchnitz-Taschenbücher ins Haus gekommen wären, aber vielleicht lag das daran, daß dafür kein Geld da war. Wie ich mich erinnere, waren es

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überwiegend spätviktorianische und edwardianische Titel, eine Menge Geschichten von Kipling (aber nicht Kim), die ich begierig verschlungen habe, ohne sie allerdings zu verstehen, einige unbedeutendere Autoren vor 1918 und Bücher über Reisen und Abenteuer, unter denen ich mich an ein inzwischen vergessenes Epos über den Walfang in alter Zeit, The Cruise of the Cachalot, erinnere. Es gab auch einige Bücher mit festem Einband, darunter Mr Britling Sees It Through von H. G. Wells. Ich habe nie hineingeschaut. Und es gab einen dicken gebundenen Band mit den Gedichten Tennysons, der wie ein Geschenk oder ein Schulpreis aussah. Was mein Vater mir gab, kam durch diese Bücher, die vermutlich er (zusammen mit meiner Mutter oder allein) ausgesucht oder für deren Aufbewahrung er sich entschieden hatte. Hat er selbst mir »The Revenge« vorgelesen (»In Flores on the Azores Sir Richard Grenville lay«), neben »The Charge of the Light Brigade«, »Sunset and Evening Star« und natürlich »The Lady of Shalott« das einzige Gedicht, das ich bis zu jenem Tennyson-Band zurückverfolgen kann? Wenn ja, dann stellt dies den einzigen geistigen Kontakt mit ihm dar, an den ich mich erinnern kann. Ich besitze jedoch noch immer eines der wenigen erhaltenen Dokumente seines Lebens. Es ist eine Eintragung aus dem Jahr 1921 in eines der Bekenntnisalben seiner Schwägerin, jene Antworten über sich selbst zu einem jener vorgegebenen Fragenkataloge, wie sie damals zumindest in Mitteleuropa noch sehr beliebt waren. Ich gebe hier die Fragen und Antworten wieder. Sie mögen als sein Epitaph dienen. Lieblingseigenschaft bei Männern: Körperkraft. Lieblingseigenschaft bei Frauen: Tugend. Ihre Vorstellung vom Glück: Alle Bedürfnisse befriedigt zu haben. Worin sind Sie am besten und wo am schlechtesten: Verpassen von Gelegenheiten. Ergreifen von Gelegenheiten. Ihre Lieblingswissenschaft: Keine. Welche Richtung in der Kunst mögen Sie: Die Moderne. Welches soziale Leben ist Ihnen das liebste? Meine Familie. Was verabscheuen Sie am meisten: Die moderne Gesellschaft. Lieblingsschriftsteller/-komponist: – Lieblingsbuch und -musikinstrument: Klavier. Lieblingsheld in der Literatur oder Geschichte: Earl of Warwick. Lieblingsfarbe und -blume: Rose. Lieblingsessen und -getränk: – Lieblingsname: – Lieblingssport: Boxen.

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Lieblingsspiel: Bridge. Wie leben Sie: Ruhig. Ihr Naturell und Ihre Haupteigenschaft: Unechter Idealist. Hang zum Träumen. Motto: Genug für den Tag und vielleicht noch ein bißchen darüber hinaus. Nicht einmal diese bescheidene Ambition hat er verwirklicht. Der Tod meines Vaters ließ die Familie vorübergehend völlig mittellos. Anscheinend gab es keine nennenswerte Versicherung. Als ich einige Tage später neues Schuhwerk benötigte, da meine bisherigen Schuhe gegen die Eiseskälte dieses furchtbaren Winters keinen Schutz mehr boten – ich erinnere mich, daß ich vor Schmerzen auf der Ringstraße weinte –, mußte meine Mutter bei einer jüdischen Wohlfahrtsorganisation neue besorgen. Die Familienangehörigen bemühten sich nach Kräften, uns zu helfen, aber sie konnten kein Geld erübrigen. Außerdem waren das einzige, was meine Mutter als Geschenk annehmen wollte, sowieso nur die zehn Pfund, die Onkel Harry aus London schickte. Das war eine keineswegs kleine Summe. Zusammen mit dem, was vom Vorschuß eines Verlegers noch übrig war, und dem Honorar für ein paar Buchbesprechungen würde es ihrer Meinung nach für die beiden nächsten Monate reichen. Trotz der berechtigten Befürchtungen meiner Mutter mußten wir in die Wohnung der Großeltern ziehen. Woanders konnten wir nicht hin. Wir drei schliefen in dem kleinen Nebenzimmer der Dreizimmerwohnung, und meine Mutter mußte darangehen, unseren Lebensunterhalt zu verdienen. In der Zwischenzeit bewahrten einige ihrer bessergestellten Freunde sie vor dem Verlust ihrer Selbstachtung, indem sie ihre Unterstützung als Gegenleistung für Englischstunden kaschierten. (Ich bin ziemlich sicher, daß das erste Geld, das ich überhaupt verdient habe – für Nachhilfestunden, die ich der Tochter einer ihrer besten Freundinnen während dieser Monate zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung des Gymnasiums gegeben habe –, eine taktvolle Methode war, ihr die Ausgaben für mein Taschengeld zu ersparen.) Ich erinnere mich an mindestens eine echte zahlende Schülerin, die zu unserem Einkommen beitrug, ein Fräulein Papazian, die Tochter eines armenischen Geschäftsmanns. Glücklicherweise hatte meine Mutter bereits ihre Verlagsverbindungen aufgebaut. Seit 1924 hatte sie mit dem Rikola Verlag (später Speidelsche Verlagsbuchhandlung) zu tun, einem kleinen Wiener Ver-

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lagshaus, das bereits ihren ersten und einzigen Roman verlegt hatte. Der Verleger, ein Herr Scheuermann, tat, was in seinen Kräften stand, um zu helfen. Jedenfalls schätzte er sie als Übersetzerin. Sie hatte bereits einen Roman eines heute vergessenen Autors skandinavischer Abstammung aus dem mittleren Westen der USA übersetzt, und Scheuermann gab ihr einen Vertrag für einen weiteren Roman und bot ihr an, ihre Beziehungen zu seinem Verlag auf eine dauerhaftere Grundlage zu stellen. Ich sehe ihn undeutlich vor mir: ein großgewachsener, vornübergebeugter Mann. Sie hatte auch einige Kurzgeschichten an Zeitschriften in England und in Deutschland verkauft, ihre eigenen oder übersetzte englische Short stories. Sie brachten etwas ein, aber natürlich nicht so viel, daß man davon hätte leben können. (Nach ihrem Tod unternahm meine Tante Mimi während eines ihrer vielen finanziellen Engpässe nochmals den Versuch, das Material meiner Mutter zu Geld zu machen.) Schließlich mußte sie eine Stelle in der Firma Alexander Rosenberg, Wien und Budapest, annehmen, eine Vertretung britischer Textilhersteller; vermutlich hatte sie diese ihren Englischkenntnissen zu verdanken. Sie genoß die Arbeit in einem Büro nach der jahrelangen Plackerei zu Hause – sie kam gut mit Menschen zurecht –, und außerdem gab sie ihr Gelegenheit, der ständigen nervlichen Belastung zu entrinnen, die es für sie bedeutete, in enger Nachbarschaft mit ihrer Mutter in einer überbelegten Wohnung zu leben. Bis dahin konnte sie immer nur gelegentlich für eine Stunde ins Café gehen, wenn sie einfach einmal allein sein wollte. Ich kann mich noch erinnern, daß ich ins Büro mitgenommen und ihren Kollegen vorgezeigt wurde. Eines Tages, Ende 1929, begann sie Blut zu spucken. Anfang April führten die Ärzte einen künstlichen Kollaps des einen Lungenflügels herbei. Während der letzten anderthalb Jahre ihres Lebens siechte sie in einer Reihe von Krankenhäusern und Sanatorien dahin. Welcher Art ihr Lungenleiden eigentlich genau war, blieb offen, denn soviel ich weiß, entsprachen die diagnostizierten Symptome nicht ganz denen einer Tuberkulose, die damals ebenso verbreitet wie potentiell tödlich war. Was immer es war, die Ärzte konnten nicht viel tun, den Prozeß zu verlangsamen. Wie die Dinge lagen, hatte sie durch ihre feste Anstellung Beiträge an die Sozialversicherung des »Roten Wien« abgeführt, dessen Vorteile ihr nun zugute kamen. Man kann sich kaum vorstellen, wie ihre ärztliche Versorgung sonst hätte bezahlt werden sollen. Ihre Krankheit veränderte unsere Situation. Von nun an war es ihr nicht mehr möglich, sich um ihren zwölfjährigen Sohn und ihre neunjährige Tochter zu kümmern. Zum Glück für beide Kinder war es

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Onkel Sidney im Frühjahr 1929 schließlich gelungen, eine gutbezahlte Stelle zu finden – zumindest nach den bescheidenen Maßstäben der Familien Hobsbaum und Grün in den zwanziger Jahren. Es war ein unsicherer Job mit unklarer Aufgabenstellung, jedoch mit viel Handlungsfreiheit bei der Universal Filmgesellschaft in Berlin. Sie befriedigte nicht nur seinen lebenslangen Ehrgeiz, mit der Welt der künstlerischen Schöpfung verbunden zu sein, sondern gab ihm und Tante Gretl auch die Mittel, für die halbverwaisten Kinder seines Bruders und ihrer Schwester zu sorgen. Demnach verdankten wir unseren weiteren Lebensweg Carl Laemmle, dem Gründer der Universal Pictures Company und dem Erfinder des Systems der Hollywoodstars. Jetzt wurden wir auseinandergerissen. Nancy kam sofort nach Berlin, während ich noch bis zum Tod meiner Mutter im Juli 1931 in Wien blieb. Den Grund dafür kenne ich nicht. Vielleicht waren Onkel Sidney und Tante Gretl der Meinung, sie würden nicht von heute auf morgen mit zwei weiteren Kindern fertig oder mit dem Problem, innerhalb kürzester Zeit in Berlin eine geeignete Schule für einen Jungen zu finden, der sein drittes Jahr auf einem Wiener Gymnasium zur Hälfte durchlaufen hatte. Zwar trifft es zu, daß meine Mutter mir emotional stärker zuneigte als meiner Schwester, aber sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, daß sie unmöglich in der Lage sein werde, sich dauerhaft um zwei Kinder zu kümmern, und sie darum abgeben müsse. Jedenfalls hegte sie seit längerem die Vorstellung, daß ich nach Möglichkeit eines Tages nach England gehen und dort die Schule besuchen und meinen Weg als echter Engländer machen sollte. Die meisten mitteleuropäischen Juden aus dem Bürgertum neigten zu einer Idealisierung Englands, weil es so stabil, stark, langweilig und arm an Neurosen war, nicht zuletzt natürlich die Töchter der Familie Grün, die alle einen Engländer geheiratet hatten. Doch auch von der Heirat ganz abgesehen war meine Mutter ungewöhnlich leidenschaftlich anglophil. Wie sie ihrer Schwester schrieb, löste allein schon der Gedanke, daß der Brief, den sie für Herrn Rosenberg aufsetzte, nach Huddersfield ging, bei ihr sentimentale Gefühle für England aus. Sie war es, die darauf bestand, daß in unserer Familie nur englisch gesprochen würde, nicht nur mit unserem Vater, sondern auch mit ihr. Sie korrigierte mein Englisch und bemühte sich, meinen Wortschatz über die Grenzen der familiären Kommunikation hinaus zu erweitern. Sie träumte davon, daß ich eines Tages im indischen öffentlichen Dienst landen würde – oder, da ich mich offensichtlich so sehr für das Vogelleben interessierte, im indischen Forstdienst, was mich (und sie) der Welt des von ihr bewunderten Dschungelbuchs noch näher bringen würde.

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Bis zu meines Vaters Tod waren dies Träume für eine entfernte Zukunft. Jetzt bot sich plötzlich eine Chance, mich nach England zu schicken, denn ihre Schwester Mimi erklärte sich bereit, mich in ihrer Pension aufzunehmen, die sie und ihr Mann gerade in Lancashire, am Rand von Southport eröffnet hatten, in der Nähe des Birkdale-Golfplatzes. Dorthin fuhr ich, nachdem ich mein Schuljahr 1928/29 beendet hatte. Es war mein erster Besuch in England und überhaupt die erste Reise, die ich allein unternahm. (Bei meiner Ankunft nahm Tante Mimi als erstes alles Geld an sich, das ich dabeihatte, denn wie so oft herrschte in ihrer Kasse gerade Ebbe.) Eine Zeitlang hoffte meine Mutter, ich könnte dort für immer bleiben, und trug mir auf herauszufinden, wann die Schule anfing und »ob Du viel lernen mußt, um den Rückstand zu den Jungen in Deinem Alter aufzuholen«. »Ich würde gern Deine Pläne für den Herbst erfahren – genauer gesagt Tante Mimis Pläne für Dich«, schrieb sie in einem anderen Brief. »Ich hoffe für Dich, daß Du dort bleiben kannst, und ich bin sicher, daß Du auch darauf hoffst.« Es läßt sich nicht mehr klären, wie ernst sie diese Möglichkeit nahm, und es gab ganz sicher keine konkreten Pläne. Jedenfalls bestand zu keiner Zeit mehr als der Hauch einer Chance, daß die ungebundene und chronisch in Geldnöten steckende Tante Mimi mit oder ohne ihren schönen, aber als Ernährer untauglichen Mann für mich eine dauerhafte Bleibe bieten könnte. Am Ende der Schulferien fuhr ich wieder zurück nach Wien. Ob ich gern in England geblieben wäre oder was ich überhaupt von der Idee hielt, weiß ich heute nicht mehr. England zu besuchen, in London herumgeführt zu werden und Onkel Harry und Tante Bella und vor allem meinen um fünf Jahre älteren Cousin Ronnie kennenzulernen, war aufregend, auch wenn Southport für mich ein totaler Reinfall und das Leben unter den zahlenden Gästen in Wintersgarth sterbenslangweilig war. Neben der Erinnerung an endlose Straßen aus kleinen gelbgrauen Backsteinhäusern auf dem Weg in das Stadtinnere von London und der überraschenden Beobachtung, daß die Bevölkerung in Lancashire die englischen Vokale ganz anders aussprach als wir, brachte ich aus England zwei wesentliche Entdeckungen mit. Die erste waren die wöchentlich erscheinenden Zeitschriften, die von Jungen aus der Arbeiterschicht eifrig gelesen wurden – The Wizard, Adventure und andere solche Titel, ganz anders als der moralisierende Lesestoff, den englische Verwandte uns von Zeit zu Zeit nach Wien geschickt hatten. Ich las sie begierig und mit ungetrübtem Vergnügen, gab mein ganzes Taschengeld für sie aus und brachte eine regelrechte Sammlung von ihnen nach Wien zurück. (Sie kosteten nicht viel – 2 Pence das

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Stück, wenn ich mich recht erinnere.) Damals war mir das nicht bewußt, doch die Lektüre dieser enggedruckten grauen Spalten voller phantastischer Abenteuer und Träume machte mich zum ersten Mal zu einem echten Briten, da sie mich zumindest für einen Augenblick auf eine Wellenlänge mit den meisten englischen Jungen meiner Altersgruppe brachten. Die zweite waren die Pfadfinder (Boy Scouts). Ich wurde zu einem Weltjamboree der Bewegung mitgenommen, das damals unweit von Southport stattfand, und kehrte als begeisterter Konvertit zurück, mit einem Exemplar von Baden-Powells Scouting for Boys und entschlossen, ihnen beizutreten. Das tat ich im folgenden Jahr in Wien, wo die Pfadfinder mit den sozialdemokratischen »Roten Falken« konkurrierten, die blaue Hemden trugen und von denen meine Mutter mich mit dem Argument abbrachte, sie verstünden sich zwar auf prächtige Lagerfeuer, aber ich sei noch zu jung, um mich dem Marxismus zu verschreiben, dem sie huldigten. So kam es, daß mein Eintritt in das öffentliche Leben im Alter von vierzehn Jahren nicht unter revolutionären Vorzeichen erfolgte, sondern bei einem Pfadfinderappell, an der in der Hauptsache jüdische Jungen aus Wien teilnahmen und die formell vom damaligen österreichischen Bundespräsidenten abgenommen wurde, einem durchschnittlichen und zweifellos antisemitischen katholischen Politiker namens Miklas. Ich war ein zutiefst begeisterter Pfadfinder und warb sogar einige meiner Klassenkameraden an, obwohl ich keine besondere Begabung für das Zeltlager oder das Gruppenleben hatte. Unter den Pfadfindern fand ich auch meinen besten Freund, in den Tagen zwischen dem Tod meines Vaters und dem meiner Mutter. Wir hielten den Kontakt bis zu seinem Tod, denn er floh nach England, nachdem Hitler Österreich besetzt hatte, fand eine Stelle als Pförtner bei der afghanischen Botschaft in London und wurde schließlich medizinisch-technischer Assistent. (Mein Truppführer fand sich in Australien wieder.) Hätte es in Deutschland irgendwelche Pfadfinder gegeben, so wäre ich ihnen nach dem Tod meiner Mutter wahrscheinlich auch beigetreten, aber es gab keine, so wie es damals – auch wenn es unglaublich klingt – keine deutschen Fußballmannschaften gab, die international eine Rolle gespielt hätten. Soweit es ein Äquivalent zu den österreichischen Roten Falken gab, handelte es sich um die Jugendorganisation der weit weniger aufregenden und keineswegs revolutionären Sozialdemokratischen Partei. Der Marxismus war somit konkurrenzlos. In den zwei Jahren nach meiner Rückkehr aus England führte ich ein merkwürdig provisorisches, halb unabhängiges Leben. Bei einer

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neurotischen und gebrechlichen Großmutter zu bleiben, nachdem meine Mutter ins Krankenhaus kam, stand gar nicht erst zur Debatte. Für einige Monate nahmen mich Großonkel Viktor Friedmann und Tante Elsa zu sich, die wenigstens noch ein Kind im Haus hatten, meine um einige Jahre ältere Cousine Herta. (Ihr Bruder Otto war bei Onkel Sidney und Tante Gretl in Berlin untergekommen, so daß hier eine gewisse Verpflichtung auf Gegenseitigkeit bestand.) Während des restlichen Schuljahrs pendelte ich täglich zwischen ihrer Wohnung im 7. Bezirk, der anderen Seite der Altstadt, zu meinem Gymnasium im 3. Bezirk, auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses, das (was ich damals nicht wußte) der Philosoph Ludwig Wittgenstein für sich hatte bauen lassen. Im Sommer 1930 fuhr ich mit Tante Gretl, Nancy und Peter in ein oberösterreichisches Alpendorf, Weyer an der Enns, um in der Nähe meiner Mutter zu sein, die dorthin in ein Sanatorium geschickt worden war. Wie alle Leser von Thomas Manns Der Zauberberg wissen, wurde Tb-Kranken Höhenluft verordnet. Aber sie tat ihr nicht gut. Mein letztes Schuljahr in Wien verbrachte ich allein oder vielmehr als eine Art Au-pair-Junge. Jemand hatte eine Frau Effenberger kennengelernt, die Witwe eines Obersten und wie so viele gute Wienerinnen aus Südböhmen stammend – sie kam aus Pisek –, deren Sohn Bertl, um zwei oder drei Jahre jünger als ich, Nachhilfestunden in Englisch brauchte. Als Gegenleistung und möglicherweise für eine sehr bescheidene Zuwendung war sie bereit, sich um mich zu kümmern. Da sie in dem weiter außerhalb liegenden Vorort Währing wohnte, mußte ich noch einmal die Schule wechseln und trat in das Bundesgymnasium XVIII in der Klostergasse ein, mein drittes Gymnasium innerhalb von zwei Jahren. Zu diesem Zeitpunkt war meine Mutter wieder aus Weyer abgereist und in ein Krankenhaus unweit von Währing überwiesen worden. Dort besuchte ich sie jede Woche. Zwar hatten Onkel Sidney und Tante Gretl mich eingeladen, zusammen mit ihnen und meiner Schwester über Weihnachten nach Berlin zu fahren, doch die Besuche am Bett meiner Mutter waren der einzige regelmäßige Kontakt mit jemandem von der Familie. Und ich wiederum war alles, was von ihrem Lebenswerk und ihren Hoffnungen geblieben war und der einzige, der regelmäßig in ihre Nähe kam. Irgendwann im Frühsommer 1931 wurde den Erwachsenen klar, daß das Ende nahe war. Tante Gretl mußte nach Wien kommen und blieb dort. Meine Mutter wurde in ein Gartensanatorium in Purkersdorf unmittelbar im Westen Wiens gebracht, wo ich sie zum letzten Mal sah, kurz bevor ich mit den Pfadfindern zum Zelten fuhr. Ich kann mich an

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diese Situation kaum noch erinnern, nur daß meine Mutter sehr abgemagert aussah und ich, da ich nicht wußte, was ich sagen oder tun sollte – es waren noch andere zugegen –, aus dem Fenster blickte und einen Kernbeißer sah, einen kleinen Vogel mit einem so kräftigen Schnabel, daß er damit einen Kirschkern aufbrechen kann. Ich hatte einen solchen Vogel bisher noch nie zu Gesicht bekommen und schon lange nach ihm Ausschau gehalten hatte. Somit verbindet sich meine letzte Erinnerung an meine Mutter nicht mit Schmerz, sondern mit ornithologischer Freude. Sie starb am 12. Juli 1931. Ich wurde aus dem Lager geholt. Kurz nach der Leichenfeier wurde sie in der Sommerhitze im selben Grab wie mein Vater bestattet. Ich verließ Wien für immer und ging nach Berlin. Von nun an waren Nancy und ich wieder vereint, und Onkel Sidney, Tante Gretl und ihr Sohn Peter (damals gerade sechs Jahre alt) waren unsere Familie. Es sollte in diesem Jahrzehnt nicht der letzte Todesfall in der Familie sein. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle einige Anmerkungen zu meiner Mutter machen. Sie war die kleinste der drei Töchter der Familie Grün, die intelligenteste und sicherlich die begabteste, wenn auch nicht was die Freude am Leben betraf. Weniger hübsch und spontan als ihre jüngere Schwester Gretl, die Familienschönheit, weniger rebellisch und abenteuerlustig als die ältere Mimi, war sie in vieler Hinsicht vielleicht die konventionellste der drei. Mit achtzehn Jahren mit Percy verlobt, früher als die beiden anderen verheiratet – und nach ihren Briefen zu urteilen als Jungfrau –, kehrte sie nach dem Krieg nach Wien zurück, eine verheiratete Frau mit einem Kind und kurz vor einer weiteren Geburt. Ihre Schwestern und viele ihrer Freundinnen hatten inzwischen jenen Katalysator der Veränderung und der Emanzipation, den Krieg und die Zeit des Zusammenbruchs und der Revolution an seinem Ende, unverheiratet und ungebunden durchlebt. Nicht daß ihr der ganze Krieg erspart geblieben wäre. Einige Monate lang, während sie darauf wartete, in die Schweiz zu fahren, um auf dem britischen Konsulat in Zürich zu heiraten, arbeitete sie als freiwillige Schwester in einem Lazarett. Dort lernte sie, daß Verwundete nur auf ganz glattgezogenen Bettüchern liegen können – später brachte sie mir die dazu nötige Technik des Bettenmachens bei –, und versuchte, zu einem sterbenden ruthenischen Soldaten eine Verbindung herzustellen – sie wählte einzelne Sätze aus einem Buch, das, wie sie herausfand, Übersetzungen der Märchen der Brüder Grimm enthielt, auf deren deut-

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schen Text sie leicht zurückgreifen konnte. Doch während das Leben in der kolonialen Gesellschaft von Alexandria eine exotische, aber erkennbare Version des Lebens in Europa vor 1914 war, galt dies nicht für das Leben in Wien, wohin sie nach vierjähriger Abwesenheit zurückkehrte. In mancher Hinsicht blieb sie konventionell im Sinne der bürgerlichen Schicht Wiens vor 1914. Wie bereits gesagt, fand sie es fast unvorstellbar, ohne Hausgehilfen zu leben, und entdeckte zu ihrer Verblüffung, daß in England Frauen aus bürgerlichen Kreisen beim Kochen und der Hausarbeit ohne sie auskamen und dennoch Ladys blieben. Sie hielt es für ausgemacht, daß eine verheiratete Frau ihre eigenen Interessen hinter denen des Ehemanns und der Kinder zurückstellen mußte, und war schockiert und irritiert durch ihre Schwester Mimi, die dies ablehnte. Nicht daß diese Einstellung sie zu einer erfolgreichen Mutter gemacht hätte; doch andererseits waren weder unsere Eltern noch deren Stellvertreter durch Talent oder Ausbildung dafür besonders geeignet. Jedenfalls waren meine Schwester und ich uns in diesem Urteil einig, als wir später Aufzeichnungen aus unserer Jugend miteinander verglichen. Keiner war besonders gut in der Elternrolle, und es gab auch keinen Grund, warum man dies von ihnen hätte erwarten sollen. Ihre Eltern waren es auch nicht. Meine Mutter stürzte sich nicht kopfüber in die neuen Gegebenheiten und Verhaltensmuster, auch wenn sie sich ihnen schließlich anpaßte. Erst 1924 oder 1925 ließ sie sich die Haare kurz schneiden und war enttäuscht, daß niemand davon Notiz zu nehmen schien. Das Leben in Wien machte einer Frau wenig Konzessionen, die in ihrem Bekenntnisalbum erklärte, ihre Vorstellung von Glück sei »ins Kaminfeuer sehen und nichts zu wünschen haben«, und als ihr Lieblingsbuch Andersens Märchen nannte. Ich glaube nicht, daß sie eine tüchtige oder begeisterte Hausfrau oder eine tüchtige Hauswirtschafterin war, auch wenn sie anscheinend Spaß daran hatte, Kostüme selbst zu schneidern oder gar, bedingt durch das schmale Budget, alte Kleider oder solche, aus denen die Kinder herausgewachsen waren, immer wieder zu ändern. Es gab Zeiten, da verweigerte sie sich dem fortwährenden, nie enden wollenden Kampf um das tägliche Brot. »Ich fuhr einfach in die Stadt und ins Café und dachte mir: ›après moi‹ . . .«, schrieb sie eines Tages, als sie die Wäsche von der Wäscherei zurückerwartete und nicht genug Geld hatte, um sie zu bezahlen, und die beiden Freundinnen, bei denen sie etwas borgen wollte, nicht zu Hause waren. Oder sie beschloß einfach, allein ins Kino zu gehen und alles zu vergessen. Oder sie vergrub sich zunehmend in ihr Schreiben,

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das wenigstens damit gerechtfertigt werden konnte, daß es Geld einbrachte. Oder sie zog sich auf die enge Freundschaft zu einigen wenigen Frauen zurück (darunter auch ihre jüngere Schwester), bei denen sie im Lauf der Zeit den meisten moralischen Rückhalt fand. Und die sich ihrerseits auf ihre Freundschaft stützten, sie liebten und bewunderten. Merkwürdigerweise war sie keine große Leserin zeitgenössischer Literatur. Als sie Mitte der zwanziger Jahre von ihrer rekonvaleszenten Schwester um ein paar Bücher zum Lesen gebeten wurde, erwiderte sie, in der letzten Zeit habe sie kaum etwas anderes gelesen als Shakespeare und sei seit einer Ewigkeit nicht mehr in einer Buchhandlung gewesen. Wann begann sie sich als eine Schriftstellerin zu sehen, für Frauen im Mitteleuropa jener Zeit ein wesentlich ungewöhnlicherer Beruf, als er es in der bereits stark feminisierten Szene der britischen schönen Literatur gewesen wäre? Wann wählte sie für sich den Schriftstellernamen »Nelly Holden«? Bis 1924 hatte sie bereits dem Rikola Verlag Manuskripte geschickt und einen Roman geschrieben oder zumindest einen Entwurf dazu verfaßt – den, der vermutlich auf ihren eigenen Erlebnissen als junges Mädchen in Alexandria beruhte und 1926 bei Rikola unter dem Titel Elisabeth Chrissanthis erschien. Einen weiteren Roman schrieb sie zu der Zeit, als mein Vater starb, doch zu ihrem Kummer war der Verleger nicht davon angetan, verlangte, daß sie ihn umschrieb, und am Ende wurde er nie veröffentlicht. Vielleicht wäre es doch noch dazu gekommen, wenn meine Mutter imstande gewesen wäre, weiterzuarbeiten. Das Manuskript ist offenbar verlorengegangen. Es ist unmöglich zu sagen, wie ernst sie die Kurzgeschichten nahm, die sie für Zeitschriften schrieb. Andererseits war sie mit Recht stolz auf die inhaltliche und literarische Qualität ihrer Übersetzungen. Wie gut war sie als Autorin? Ich habe ihren Roman erst viele Jahre später gelesen. In jungen Jahren ließ ich die Finger davon, ohne daß ich sagen könnte warum. Sie schrieb ernsthaft und mit Stil in einem eleganten, lyrischen, harmonischen und gewählten Deutsch, das bei einer jungen Wiener Intellektuellen vielleicht nahelag, die früher regelmäßig die Lesungen des großen Karl Kraus besuchte, aber ich kann beim besten Willen nicht behaupten, daß sie den Eindruck einer erstklassigen Schriftstellerin gemacht hätte. Sie schrieb auch Gedichte, die nicht mehr existieren. Als ich sie als Heranwachsender las, schockierte ich meine Tante Gretl mit der Bemerkung, ich hätte keine hohe Meinung von ihnen. Ich war schon damals der Überzeugung, daß man sich

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nicht selbst betrügen soll, auch wenn es um Menschen oder Dinge geht, die einem im Leben am meisten bedeuten. Das sind Rekonstruktionen eines alten Mannes, der immer noch versucht, sich in seinen beruflichen und privaten Passionen von diesem Grundsatz leiten zu lassen. Und in jedem Fall ist das alles ohne jede Bedeutung für mein Verhältnis zu der Person, die den tiefsten Einfluß auf mein Leben gehabt hat. Ich bin inzwischen alt genug, um der Großvater einer Frau sein zu können, die mit sechsunddreißig Jahren gestorben ist, und doch wäre es absurd, wenn wir uns irgendwo jenseits des Styx treffen sollten und ich würde sie wie eine junge Frau sehen oder behandeln. Sie wäre immer noch meine Mutter. Sie würde mich wohl fragen, was ich aus meinem Leben gemacht habe, und ich würde ihr sagen, daß es mir geglückt sei, zumindest einige der Hoffnungen zu erfüllen, die sie in mich gesetzt hatte, daß ich wenigstens einige der Zeichen öffentlicher Anerkennung entgegengenommen hätte, weil ich überzeugt gewesen sei, daß sie sich darüber gefreut hätte. Und ich wäre wahrscheinlich nicht aufrichtiger oder unaufrichtiger als Sir Isaiah Berlin, der sich dafür, daß er die Peerswürde angenommen hat, mit der Erklärung zu entschuldigen pflegte, er habe dies nur getan, um seiner Mutter eine Freude zu bereiten. Ich bin vollkommen überzeugt, der sichtbare Beweis dafür, daß aus dem Jungen, den sie mit all ihren Kräften zu einem richtigen Engländer hatte machen wollen, schließlich ein anerkanntes Mitglied des offiziellen britischen Kulturestablishments geworden ist, hätte sie glücklicher gemacht als alles andere in den letzten zehn Jahren ihres kurzen Lebens. Ihr Einfluß auf mich war wohl vor allem ein moralischer, wenngleich ich in den Tagen ihrer Krankheit auch von dem Wunsch bewegt wurde, sie nicht zu verletzen oder gegen ihre Wünsche zu handeln. Ich beachtete ihre Worte auch dann, wenn sie mein Verhalten kritisierte. Ich habe sie ernst genommen. Es waren ihre Ehrlichkeit und ihr Stolz, die mich beeindruckten. Sie war weder religiös noch lag ihr etwas daran, ihr Judentum als solches zu betonen, auch wenn sie ihrer Mutter zuliebe in eine religiöse Hochzeitszeremonie neben der standesamtlichen Trauung eingewilligt hatte. Doch wie ich schon gesagt habe, gab sie mir das dauerhafte Fundament für mein persönliches Gefühl, Jude zu sein, zum Erstaunen und Befremden all jener, die nicht glauben können, daß Identität auf einer bloßen Verneinung gründen kann. Vermutlich hat sie den Beginn meines politischen Engagements verzögert, indem sie erklärte, selbst sehr intelligente Jungen bräuchten wohl eine gewisse Zeit, um nachzudenken und geistig heranzureifen, wie sie mir auch sagte, daß es große Schriftsteller gebe, die man nur verstehen

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könne, wenn man älter sei. Und da sie es stets ehrlich mit mir meinte, glaubte ich ihr. Nicht daß wir – selbst wenn man den Altersunterschied berücksichtigt – auf derselben intellektuellen Wellenlänge gewesen wären. Ihre Begeisterung für Paneuropa, eine etwas konservative Bewegung für ein einziges europäisches Gemeinwesen (unter Ausschluß Rußlands), das von einem österreichischen Adligen, Graf Coudenhove-Kalergi propagiert wurde, hat mich nie angesteckt. Es war der einzige Ausflug eines liberalen, aber im Grunde unpolitischen Geistes in das Reich der Politik. Andererseits war sie herzlich gelangweilt von den Schriften des Ehemanns ihrer Freundin Grete Szana, des vielgereisten Alexander Szana, in denen er über seine politisch-sozialen Reisen nach Rußland (höchst kritisch), nach Nordafrika und anderswohin berichtete. Ich hörte ihm aufmerksam zu, zweifellos angespornt durch die Briefmarken aus aller Welt, die in seinem Zeitungsbüro eintrafen und die er mir großzügig vermachte. Dank dieser Erinnerungen sollte ich mich später für Nordafrika entscheiden, als Cambridge mir 1938 als Student ein Reisestipendium anbot. Meine Begeisterung für Karl Kraus geht anscheinend auf sie zurück, doch ihr Beharren darauf, daß ich mir eine Übertragung von Saint-Saëns’ Samson und Delilah im Radio unserer Großeltern – wir hatten selber keines – in voller Länge anhörte, brachte mich für einige Jahre von der klassischen Musik ab. Ich erinnere mich noch, wie ich an ihrem Bett im Krankenhaus saß und wir einander zuhörten, da ich mich auf das Erwachsenwerden vorbereitete und sie sich auf das Sterben. Sie wollte leben. »Ich wollte, ich könnte es glauben«, sagte sie zu mir und wies auf Mary Baker Eddys Christian Science Scriptures, die eine Besucherin ihr dagelassen hatte. »Wenn ich diesen Glauben hätte, könnte es vielleicht mehr für mich tun, als die Ärzte bislang getan haben«, klingt mir ihre Stimme noch im Ohr, »aber ich kann es nicht glauben.« Doch kurz vor ihrem Tod war sie überzeugt, es gehe ihr besser und sie könne sogar geheilt werden. Ich habe mir sagen lassen, dies sei stets ein zuverlässiges Zeichen dafür, daß das Ende kurz bevorstehe. In der Rückschau erscheinen die Jahre zwischen dem Tod meines Vaters und dem meiner Mutter als eine tragische, traumatische Zeit, eine des Verlusts und der Unsicherheit, die im Leben von zwei Kindern, die sie durchlitten haben, tiefe Spuren hinterlassen mußte. Das trifft sicherlich zu, und es steht außer Frage, daß meine Schwester lange Jahre brauchte, bis sie den Verlust ihres Vaters verarbeitet hatte, Jahre einer Kindheit, in der man nicht versteht, was vor sich geht, Jugendjahre voll

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Groll, Jahre des ständigen Umsturzes und der zerrissenen Gefühle. Irgendwo muß auch ich die Narben der emotionalen Verletzungen dieser düsteren Jahre an mir tragen. Und dennoch glaube ich nicht, daß sie mir damals bewußt waren. Vielleicht ist das die Illusion eines Menschen, der ähnlich wie ein Computer eine Art »Papierkorb-Funktion« hat, mit der er alle unerwünschten Daten wegdrücken kann, die jedoch von anderen wieder auf den Bildschirm zurückgeholt werden können. Ich glaube allerdings nicht, daß dies die einzige Erklärung dafür ist, daß ich – ohne ausgesprochen glücklich zu sein – diese Jahre trotzdem nicht als besonders kummervoll erlebt habe. Vielleicht gingen die Realitäten der Situation an mir vorbei, weil ich die meiste Zeit über in einigem Abstand von der realen Welt lebte – nicht so sehr in einer Welt der Träume, sondern einer der Neugier, der Erkundung, der zurückgezogenen Lektüre, der Beobachtung, des Vergleichens und des Experimentierens; es war die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich mir selbst ein Rundfunkgerät gebastelt habe (Kristallempfänger ließen sich einfach aus Zigarrenkisten basteln). Obwohl ich in meinem Jahr als Pfadfinder wenigstens eine dauerhafte Freundschaft aufbaute, lebte ich ohne vertrauten Umgang. Wenn ich über mein Leben im letzten Jahr vor dem Tod meiner Mutter nachdenke, fallen mir drei Erinnerungen ein: erstens, wie ich allein auf einer Schaukel im Garten von Frau Effenberger sitze und versuche, das Lied der Amseln auswendig zu lernen, wobei ich auf die Variationen zwischen ihnen achte; zweitens, wie ich das Geburtstagsgeschenk meiner Mutter entgegennehme – ein ziemlich billiges gebrauchtes Fahrrad –, nämlich mit jener Art Verlegenheit, wie sie wohl nur Teenager empfinden können, denn der Rahmen war verzogen und offensichtlich umlackiert worden; und drittens, wie ich eines Nachmittags an einem Schaufenster vorbeigehe, das von Spiegeln eingerahmt ist, und entdecke, wie mein Gesicht im Profil aussieht. War ich wirklich so unattraktiv? Selbst die Tatsache (die ich einem meiner Kosmos-Hefte entnommen hatte), daß ich offenbar dem sehnig-schlanken leptosomen Typus der drei psychosomatischen Typen Kretschmers angehörte und deshalb wie Friedrich der Große im Alter besser aussehen würde, brachte mir keinen Trost. Wie so vieles andere damals und später, behielt ich meine Empfindungen für mich. Auch in meinem späteren Leben habe ich über jene Zeit nicht viel nachgedacht. Nachdem ich Wien 1931 verlassen hatte, habe ich das Grab nicht mehr wiedergesehen. 1996 habe ich danach gesucht, im Zuge einer Fernsehproduktion über die Geschichte der Zwischenkriegszeit, wie sie von einem Kind erlebt wurde. Doch nach mehr als sechzig Jahren Weltgeschichte war das Grab mit der Steinplatte, die

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meine Mutter zu diesem Zweck in Auftrag gegeben hatte (zum Preis von 400 Schilling), nicht mehr aufzufinden. Das Kamerateam filmte mich bei meiner Suche. Nur die elektronische Datenbank, die von der Verwaltung der Israelitischen Abteilungen des Wiener Zentralfriedhofs in weiser Voraussicht mit Blick auf den amerikanischen Tourismus aufgebaut worden ist, verzeichnete, daß das Grab die sterblichen Überreste von Leopold Percy Hobsbaum, gestorben am 8. Februar 1929, Nelly Hobsbaum, gestorben am 12. Juli 1931 und – zu meiner Überraschung – von meiner Großmutter Ernestine Grün, gestorben 1934, enthalten hatte.

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4 Berlin: Weimar geht unter

Als ich 1960 zum ersten Mal nach fast dreißig Jahren nach Wien zurückkehrte, schien sich nichts verändert zu haben. Das Haus, in dem wir gewohnt hatten, und die Schulen, in die wir gegangen waren, befanden sich immer noch dort, auch wenn sie jetzt kleiner wirkten; die Straßen waren wiederzuerkennen, selbst die Straßenbahnen verkehrten noch unter ihren alten Nummern und Buchstaben und befuhren dieselben Strecken. Nicht so in Berlin. Beim ersten Mal, als ich dorthin zurückkehrte, stand ich an der Stelle, an der das Haus hätte sein müssen, in dem wir alle gewohnt hatten, in der Aschaffenburger Straße in Wilmersdorf. Auf dem Stadtplan verlief die Straße noch vom Prager Platz zum Bayerischen Platz. Die Barbarossastraße hätte genau gegenüber der Eingangstür unseres alten Mietshauses beginnen und direkt zur Schule meiner Schwester führen müssen. Doch nichts von alledem war noch da. Es gab Häuser, aber ich erkannte sie nicht wieder. Wie in einem dieser Alpträume der Desorientierung und Fremdheit gab es nicht nur nichts mehr, was mir bekannt vorgekommen wäre, ich wußte nicht einmal, in welche Richtung ich blicken sollte, um mich an Bekanntem zu orientieren. Das zerstörte Gebäude meiner alten Schule war zwar noch physisch an der Grunewaldstraße vorhanden, doch die Schule selbst hatte den Krieg nicht überlebt. Die Lage des Büros meines Onkels im Stadtzentrum war auch auf der Karte nicht festzustellen, da das gesamte Terrain um den Leipziger und den Potsdamer Platz, ein von Bomben eingeebnetes Niemandsland zwischen Ost und West, seit dem Krieg nicht einmal symbolisch wieder instand gesetzt worden war. In Berlin war die physische Vergangenheit durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs ausgelöscht worden. Aus ideologischen Gründen waren weder die beiden deutschen Staaten des Kalten Krieges noch das vereinigte Deutschland der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts daran interessiert, sie wieder aufzubauen. Die Hauptstadt der neuen Berliner Republik, ebenso wie das Westberlin des Kalten Krieges ein subventioniertes Schaufenster für die Werte des Wohlstands und der Freiheit, ist ein architektonisches Kunstprodukt. Die Deutsche Demokratische Republik war kein großer Baumeister – ihr ambitioniertestes

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Bauwerk außer der Stalinallee war die Berliner Mauer –, und sie war auch kein großer Restaurateur, auch wenn sie sich mit dem architektonisch sehr schönen altpreußischen Zentrum der Stadt, das zufällig in ihr Gebiet fiel, größte Mühe gab. Somit lebt die Stadt, in der ich die beiden entscheidendsten Jahre meines Lebens verbrachte, nur noch in meiner Erinnerung fort. Nicht daß die Architektur Berlins in den letzten Jahren der Weimarer Republik etwas Besonderes geboten hätte. Es war eine Stadt der wirtschaftlich blühenden »Gründerzeit« des 19. Jahrhunderts, also im wesentlichen stark wilhelminisch geprägt, doch ohne den imperialen Stil und die urbane Kohärenz des Wiens der Ringstraße oder die planerische Anlage Budapests. Berlin hatte ein ziemlich prachtvoll bebautes, neoklassisches, langgestrecktes Terrain geerbt, doch zum größten Teil bestand die Stadt im stark proletarisierten Osten – Berlin war ein Industriezentrum – aus den endlosen Hinterhöfen riesiger Mietskasernen an baumlosen Straßen und im grüneren und durchweg bürgerlichen Westen aus Wohnblöcken mit schöner geschmückten Fassaden, die (anscheinend) komfortablere Wohnungen beherbergten. Das Berlin der Weimarer Republik war noch immer im wesentlichen das Berlin Wilhelms II., mit Ausnahme seiner schieren Ausdehnung wahrscheinlich die am wenigsten distinguierte Hauptstadt Europas außerhalb des Balkans, ausgenommen vielleicht Madrid. In jedem Fall dürften heranwachsende Intellektuelle von imperialen Bemühungen um Denkwürdigkeit wie dem Reichstag und der benachbarten Siegesallee kaum beeindruckt gewesen sein, einer lächerlichen Prachtstraße, zu beiden Seiten geschmückt mit den Statuen von 32 Brandenburger und preußischen Herrschern, alles Indikatoren des militärischen Ruhms und – dies war eine Quelle endloser Berliner Witze – unterschiedslos mit einem Fuß nach hinten und einem nach vorn gestellt. Nach dem Krieg wurden die Statuen von den siegreichen, aber humorlosen Alliierten demontiert, vermutlich als Teil der Eliminierung Preußens und alles dessen, was die Deutschen an Preußen erinnern könnte, aus dem Gedächtnis der Zeit nach 1945. Geblieben ist nur ein nicht minder kurioses literarisches Denkmal. Rudolf Herrnstadt, der ehemalige Chefredakteur des Neuen Deutschland, 1953 aus der Führung der SED ausgeschlossen und als Anhänger Berijas, des (hingerichteten) sowjetischen Ministers für Staatssicherheit angeprangert, wurde in das Preußische Staatsarchiv verbannt. (Der Gerechtigkeit halber gegenüber einem Regime, das mit gutem Grund eine schlechte Presse hatte, muß gesagt werden, daß kein »Verräter« in seinen Reihen hingerichtet wurde, nicht einmal in den schlimmsten stalinistischen Jahren.) Dort vergnügte er sich damit, eine

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brillant komische Satire zu schreiben, Die Beine der Hohenzollern, der eine Akte zugrunde lag, die er dort entdeckt hatte. Sie enthielt eine Sammlung von Besinnungsaufsätzen, aufgegeben einer Gruppe Gymnasiasten von einem Lehrer, der aus einem Klassenausflug zu dem (damals neuerrichteten) Denkmal etwas pädagogisch Wertvolles hatte herausschinden wollen. Wieweit brachten die Körperhaltungen der Statuen den Charakter der dargestellten Personen zum Ausdruck? So lautete das Thema, über das die Klasse einen Aufsatz schreiben sollte; was sie offenbar mit solcher Loyalität meisterte, daß der Kaiser persönlich darum bat, die Aufsätze einsehen zu dürfen, und von eigener Hand seine Anmerkungen darunter schrieb. Herrnstadts unter dem Pseudonym »Hardt« veröffentlichtes Büchlein war ganz im Geist des Berlins der zwanziger Jahre. Das Berlin, in dem die Jugendlichen aus dem Bürgertum in den Jahren 1931-1933 lebten, war eine Stadt zum Sehen statt zum Stehen und Staunen, man mußte immer in Bewegung bleiben, denn sie bestand eher aus Straßen – wie der Motzstraße und der Kaiserallee Isherwoods, Kästners und meiner Jugend – als aus Gebäuden. Doch für die meisten von uns lag der Witz dieser Straßen darin, daß so viele in den wirklich denkwürdigen Teil der Stadt führten, den Gürtel aus Seen und Wäldern, von dem die Stadt bis heute umgeben ist: zum Grunewald und seinen langgestreckten, von Bäumen und Buschwerk gesäumten Seen, dem Schlachtensee und der Krummen Lanke, auf denen wir im Winter Schlittschuh liefen – Berlin ist eine ausgesprochen kalte Stadt –, nach Zehlendorf, dem Tor zu dem wunderbaren Seensystem. Die Seen im Osten gehörten weniger zu unserer Welt. Diese war dort, wo die Reichen und die noch Reicheren in grauen, massiven herrschaftlichen Villen zwischen den Bäumen wohnten. Aufgrund eines Paradoxons, das für Berlin nicht untypisch ist, war das »Grunewaldviertel« ursprünglich von einem millionenschweren Angehörigen einer jüdischen Berliner Familie erschlossen worden. Diese konnte sich einer langen sozialistischen Tradition rühmen, die auf einen passionierten Büchersammler zurückging, der 1848 in Paris zur Revolution bekehrt wurde – dort hatte er eine Erstausgabe des Kommunistischen Manifests von Marx und Engels erstanden. Zu meiner Zeit wurde die Familie von den Söhnen und Töchtern R.R. Kuczynskis repräsentiert, einem renommierten Bevölkerungsstatistiker, der nach 1933 eine Zuflucht an der London School of Economics fand. Sie alle wurden lebenslange Kommunisten, von denen die bekannteste Ruth war, die in einer langen und abenteuerlichen Laufbahn im sowjetischen Geheimdienst unter anderem als Kontakt für Klaus Fuchs in England fungierte, und der charmante und

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ewig hoffende Wirtschaftshistoriker Jürgen, ein einfallsreicher Verteidiger der Marxschen These von der Verelendung des Proletariats, wie er sie verstand, der die riesige Familienbibliothek nach Ostberlin zurückbrachte, wo er im Alter von 93 Jahren verstarb. Er war der Doyen auf seinem Fachgebiet und hat vermutlich mehr an Worten veröffentlicht als jeder andere Wissenschaftler, den ich kenne, nicht eingerechnet die 42 Bände seiner Geschichte der Lage der Arbeiterklasse. Er konnte einfach mit dem Lesen und Schreiben nicht aufhören. Da seine Familie noch immer im Besitz des Grunewaldviertels war, dürfte er der reichste Bürger Ostberlins gewesen sein, was es ihm ermöglichte, die Bibliothek zu erweitern und einen jährlichen Preis in Höhe von 100 000 DM Ost für vielversprechende Arbeiten junger DDR-Wissenschaftler auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeschichte auszusetzen, die dank seiner Förderung in der DDR eine Blüte erlebte. Er überlebte diesen Staat, in dem er moderat abweichende Meinungen geäußert hatte, die deshalb geduldet wurden, weil seine aufrichtige Loyalität so offen auf der Hand lag. Und außerdem gehörte er der Kommunistischen Partei länger an als die Herrscher des Staates selbst. Denn Berlin war ebenso wie Manhattan (mit dem es sich während der Weimarer Republik gern verglich) politisch eine Stadt links von der Mitte. Berlin fehlte ein historisch verwurzeltes bürgerliches Patriziertum, und deshalb hatte es auch für die Juden einen einladenderen Charakter. (Die aristokratische Tradition des preußischen Hofs, der Armee und des Staates blickte auf den Bürger jeglicher Couleur herab.) Die nüchternen Berliner reagierten allergisch auf Leute »mit großer Klappe und nichts dahinter« und hielten wenig von Ansprüchen auf soziale Überlegenheit, von nationalistischer Rhetorik und Gefühlsduselei. Dr. Goebbels zum Trotz, der sich vorgenommen hatte, Berlin im Namen Hitlers den Roten zu entwinden, wurde es in seinem Innersten nie eine nationalsozialistische Stadt. Im Unterschied zum Wienerischen, das auf die eine oder andere Weise vom Kaiser bis zum Müllmann gesprochen wurde, war der Berliner Dialekt, eine beschleunigte, witzige, urbane Adaption des Plattdeutschen, primär ein volkstümliches Idiom, das die einfachen Leute von den feinen Pinkeln trennte, auch wenn es von allen gut verstanden wurde. Allein schon das Beharren auf spezifisch berlinerischen grammatischen Formen, die im Dialekt richtig, im Schuldeutschen dagegen offensichtlich falsch waren, reichte aus, das Berlinerische aus der Bildungssprache herauszuhalten. Natürlich griffen die bürgerlichen Schüler meines humanistischen Gymnasiums es ebenso begeistert auf wie die Schüler der prestigeträchtigen Pariser lycées den plebejischen Argot ihrer Stadt, und nach

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dem Ende der DDR grenzten sich viele ehemalige Ostberliner, ebenso empfindlich wie stolz, von den westlichen Herrschern über ihren Teil Deutschlands demonstrativ ab, indem sie jetzt erst recht »berlinerten«. Es war eine selbstbewußte, freche, unverblümte Sprache, in die ich mich ebenfalls mit Enthusiasmus stürzte, auch wenn mein Tonfall, wenn ich deutsch spreche, bis heute das Wien meiner Kindheit verrät. Noch immer versetzt mich der Klang eines reinen Berlinerisch, das heute auf der Straße selten geworden ist, zurück in jenen historischen Augenblick, der über die Gestalt des 20. Jahrhunderts und meines eigenen Lebens entscheiden sollte. Ich kam im Spätsommer 1931 nach Berlin, als die Weltwirtschaft zusammenbrach. Innerhalb weniger Wochen nach meiner Ankunft erfolgte in England, das während der letzten hundert Jahre ihre Achse gebildet hatte, die Abkehr vom Goldstandard und vom Freihandel. In Mitteleuropa hatte man mit der Katastrophe gerechnet, da die Amerikaner ihre Kredite abgezogen hatten, und sie ereignete sich früher in diesem Sommer, als zwei große Banken zusammengebrochen waren. Die finanzielle Katastrophe hatte keine schweren direkten Auswirkungen auf einen landesfremden Heranwachsenden, doch die Arbeitslosigkeit, die bereits steil anstieg – 1932 waren 44 Prozent der deutschen Erwerbstätigen betroffen – reichte bis in unsere Familie. Mein Cousin Otto, der bei Onkel Sidney und Tante Gretl gewohnt hatte und sie noch von Zeit zu Zeit besuchte, hatte seine Stellung verloren und ging daraufhin zu den Kommunisten. Er war nicht der einzige: 1932 waren 85 Prozent der Mitglieder der KPD arbeitslos. Jünger als er, war ich natürlich beeindruckt von jemandem, der so groß gewachsen, gut aussehend und erfolgreich bei Frauen war und jetzt ein Abzeichen mit den russischen Initialen der Jungkommunistischen Internationale trug. Ich glaube, er war der erste Kommunist, den ich ganz bewußt erlebte: in Österreich gab es kaum welche, und der Eintritt in die Kommunistische Partei war somit etwas, woran junge Menschen erst nach 1934 dachten, als der Bürgerkrieg die sozialdemokratischen Führer diskreditiert hatte. Der Zusammenbruch der Weltwirtschaft war bis zu einem gewissen Punkt etwas, worüber junge Menschen aus der bürgerlichen Schicht etwas gelesen hatten, ohne ihn jedoch direkt zu erfahren. Doch die Weltwirtschaftskrise war wie ein Vulkan, der politische Eruptionen erzeugte. Das war etwas, dem wir nicht entgehen konnten, da es unseren Horizont beherrschte, wie die gelegentlich rauchenden Kegel der echten Vulkane, die sich über ihre Städte erheben – der Vesuv, Ätna oder der Mont Pelée. Eruptionen lagen in der Luft, die wir atmeten. Seit

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1929 war ihr Symbol vertraut: das schwarze Hakenkreuz in einem weißen Kreis auf rotem Grund. Es ist schwer für diejenigen, die das »Zeitalter der Katastrophen« im 20. Jahrhundert in Mitteleuropa nicht erlebt haben, sich vorzustellen, was es bedeutete, in einer Welt zu leben, an deren Dauer niemand glaubte, in einem Etwas, das nicht einmal wirklich als eine Welt beschrieben werden konnte, sondern lediglich als ein Übergang zwischen einer toten Vergangenheit und einer noch nicht oder höchstens vielleicht in der Tiefe des revolutionären Rußlands geborenen Zukunft. Nirgendwo war dies greifbarer als in der Weimarer Republik in ihren letzten Zügen. Niemand hatte Weimar 1918 wirklich gewollt, und selbst diejenigen, die es akzeptierten oder sogar aktiv unterstützten, sahen darin bestenfalls einen Kompromiß zweiter Wahl: besser als Sozialrevolution, Bolschewismus oder Anarchie, wenn sie zur gemäßigten Rechten, besser als das wilhelminische Kaiserreich, wenn sie zur gemäßigten Linken neigten. Man konnte nur Vermutungen darüber anstellen, ob es die Katastrophen seiner ersten fünf Jahre überleben würde: ein Friedensvertrag mit Strafcharakter, der von den Deutschen jeglicher politischer Couleur fast einhellig als demütigend empfunden wurde, fehlgeschlagene Militärputsche und terroristische Attentate auf der extremen Rechten, gescheiterte lokale Räterepubliken und Aufstände auf der Linken, französische Truppen, die das Herzland der deutschen Industrie besetzten, und zu allem Überfluß das (für die meisten) unbegreifliche und bis heute beispiellose Phänomen der Hyperinflation von 1923. Während der Zeit zwischen 1924 und 1928 sah es so aus, als könnte Weimar sich behaupten. Die Mark wurde stabilisiert – sie blieb bis zum Krieg und erneut von 1948 bis zu ihrer Ersetzung durch den Euro stabil –, die stärkste Wirtschaft Europas, vom Krieg wieder erholt, hatte ihre frühere Dynamik wiedererlangt, und zum ersten Mal schien politische Stabilität in Sicht. Den Börsenkrach an der Wall Street und die Große Depression überlebte Weimar jedoch nicht und konnte es nicht überleben. 1928 schien die extreme Rechte praktisch von der Bühne verschwunden. Bei den Reichstagswahlen in diesem Jahr erhielt die NSDAP nicht mehr als 2,4 Prozent der Stimmen und zwölf Abgeordnetensitze, sogar noch weniger als die zunehmend geschwächte Deutsche Demokratische Partei, die treueste Stütze der Republik. Zwei Jahre später kehrten die Nationalsozialisten mit 107 Reichstagsmandaten zurück und wurden zweitstärkste Partei hinter den Sozialdemokraten. Was von Weimar übrigblieb, wurde mit Notverordnungen regiert. Zwischen dem Sommer 1930 und Februar 1932

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tagte der Reichstag alles in allem nicht mehr als zehn Wochen. Und mit zunehmender Arbeitslosigkeit nahmen auch unausweichlich die Kräfte einer radikal-revolutionären Lösung gleich welcher Form zu: der Nationalsozialismus auf der Rechten und der Kommunismus auf der Linken. So lagen die Verhältnisse, als ich im Sommer 1931 nach Berlin kam. Ich zog zu Nancy und dem sieben Jahre alten Peter in Onkel Sidneys und Tante Gretls Wohnung an der Aschaffenburger Straße, die von einer der vielen finanziell sehr schlecht gestellten älteren Witwen aus guter Familie gemietet worden war. Ich kann mich kaum noch an Einzelheiten dieser Wohnung erinnern, außer daß sie hell war und daß die Tischgespräche der Erwachsenen mit ihren abendlichen Gästen von dem Zimmer aus, in dem ich schlief, mitgehört werden konnten. Onkel Sidney und Tante Gretl führten ein ziemlich aktives gesellschaftliches Leben, mit Geschäftsfreunden, Verwandten und Wiener Freunden, die Berlin besuchten oder hierhergezogen waren, weil das kleine und verarmte Österreich der Zwischenkriegszeit für Wiener Talente ein zu kleines Betätigungsfeld bot. Wir waren noch zu jung, um uns daran in größerem Umfang zu beteiligen. Wir hielten uns die Vossische Zeitung, die meine Tante hauptsächlich wegen ihres Feuilletons schätzte, dessen Seiten sie herausschnitt. Ich habe lebhafte Erinnerungen an große Kinos und prächtige Luxuslimousinen, die auf der Straße parkten – Maybachs, Hispano-Suizas, Isotta-Fraschinis und Cords. Innerhalb weniger Tage nach meiner Ankunft fand Onkel Sidney für mich einen Platz im Prinz Heinrichs-Gymnasium in Schöneberg, von der Wohnung und Nancys benachbarter Chamissoschule aus zu Fuß erreichbar, und das gerade noch so rechtzeitig, daß ich in die Obertertia eintreten konnte. Von den ganzen dreizehn Jahren, die ich an sieben Bildungsanstalten verbrachte, bevor ich nach Cambridge ging, haben die rund neunzehn Monate am PHG den tiefsten Eindruck in meinem Leben hinterlassen. Diese Schule war das Medium, durch das ich erfahren habe, was – wie ich schon damals wußte – ein entscheidender Augenblick in der Geschichte des 20. Jahrhunderts sein würde. Darüber hinaus erlebte ich ihn nicht mehr als das Kind, das ich in Österreich war (auch wenn bei mir bereits in meinem letzten Jahr in Österreich die Pubertät einsetzte), sondern in jenem Augenblick der Adoleszenz, in dem Leidenschaft und Intelligenz zum ersten Mal kolumbushaft die Welt entdecken und allein die Erfahrung zu leben unvergeßlich ist. Jahre später brachte mich ein alter Freund mit dem damaligen deutschen Botschafter in England, Günther von Hase, zusammen, der sich, als in einem Gespräch mein Name fiel, sofort daran

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erinnerte, daß wir dieselbe Schulklasse besucht hatten. Und ich wiederum konnte mich bei diesem Namen sofort an das Gesicht eines Jungen erinnern, mit dem ich zusammen in derselben Klasse gesessen war – und dies nur für einige Monate in einem langen Leben, in dem nach 1933 vermutlich keiner von uns beiden an den anderen gedacht hat. Wir waren damals lediglich Klassenkameraden, mehr nicht. Doch wir waren dort zu einer Zeit unseres Lebens und der Geschichte zusammen, die man nicht vergißt. Die bloßen Namen erweckten sie zum Leben. Aus der ebenen Landschaft meiner Schuljahre ragt das PHG heraus wie eine Gebirgskette. In den ersten Jahren nach Berlin war das Leben in England für mich ohne wirkliches Interesse. War meine Berliner Schule wirklich so wichtig, wie es mir in der Rückschau erscheint? Die Artillerie von Weimar bombardierte einen erwartungsvollen Vierzehnjährigen von allen Seiten. Die Schule brachte mir nicht die Lieder bei, die für mich noch immer »Berlin« bedeuten – von den Liedern der Dreigroschenoper Bert Brechts und Kurt Weills bis zur bronzenen Stimme Ernst Buschs, der Erich Weinerts »Stempellied« sang. Die großen Ereignisse der Zeit – der Sturz der Regierung Brüning, die nationale Präsidentenwahl und zwei Reichstagswahlen 1932, die Regierungen Papen und Schleicher, die Machtübernahme Hitlers, der Reichstagsbrand – erreichten mich nicht durch die Schule, sondern durch Straßenplakate und die Tageszeitung und die Zeitschriften daheim (auch wenn ich merkwürdigerweise weniger Erinnerungen an die Rundfunknachrichten in Berlin als die in Wien habe). Denkmäler des Designs und des Inhalts der in der Weimarer Republik produzierten Bücher: die Produkte des Malik Verlags. Ich sehe sie noch vor mir auf den Ständern in der Buchabteilung des KaDeWe, des großen Kaufhauses an der Tauentzienstraße, das eine der wenigen Verbindungen mit dem Berlin meiner Jugend darstellt: voll mit Büchern von Autoren wie B. Traven, Ilja Ehrenburg, Arnold Zweig und, auf eine andere Art, Thomas Mann und Lion Feuchtwanger. Vieles davon muß mich offensichtlich durch die Familie erreicht haben. Onkel Sidney hatte zur Abwechslung einmal eine finanzielle Glückssträhne erwischt und arbeitete für die Universal Pictures Company, die sich als Produzentin von Lewis Milestones Im Westen nichts Neues nach dem gleichnamigen Roman von Erich Maria Remarque am kulturpolitischen Epizentrum der Weimarer Republik befand. Die Nationalsozialisten hatten Demonstrationen gegen diesen Antikriegsfilm organisiert und forderten sein Verbot. Damit nicht genug: der Boß der Filmgesellschaft, »Onkel« Carl Laemmle, war der einzige Hollywood-Tycoon, der aus Deutschland stammte und persönliche Kennt-

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nis von dem hatte, was hier vorging, da er jedes Jahr einmal hierherkam, um den Kontakt zu halten. Und das tat er auch. Er war alles andere als ein Intellektueller, doch dem geschulten Auge verrieten die Filme, für die die Universal besonders bekannt war – abgesehen von Im Westen nichts Neues –, die Horrorfilme wie Frankenstein und Dracula, deutlich den Einfluß der deutschen expressionistischen Avantgarde. Weiß der Himmel, wie Onkel Sidney ins Filmgeschäft gekommen war. Irgendwann 1929 hatte er es geschafft, jemanden bei der Universal zu beschwatzen, ihm irgendeine Stellung zu geben. Die Tätigkeit war unbestimmt und unsicher. Doch solange sie währte, wurde sie anerkannt – und sei es auch nur durch ein Geschenk von Onkel Carl persönlich in Form eines Exemplars seiner Biographie mit einem Autogramm eines englischen Literaten und vergessenen unbedeutenden Poeten namens John Drinkwater. (Laemmle hatte ihn angeheuert, nachdem H. G. Wells ihm einen Korb gegeben hatte, weil man ihm gesagt hatte, daß Drinkwater, von dem er natürlich noch nie gehört hatte, ein Stück über Abraham Lincoln geschrieben habe.) In England wurden von dem Buch 164 Exemplare verkauft.1 Unser Exemplar hat die zahlreichen Ortswechsel der Hobsbaumfamilie im 20. Jahrhundert nicht überlebt. Worin seine genauen Aufgaben bei der Universal bestanden, habe ich nie erfahren. In einem Brief von meiner Großmutter steht etwas davon, daß man ihm im Herbst 1931 eine Stelle im Pariser Büro in Aussicht gestellt hatte, ein Angebot, das er jedoch ablehnte, da Tante Gretl gesagt hatte, die Kinder (meine Schwester und ich) hätten noch kaum die Möglichkeit gehabt, sich in die neuen Schulen in Berlin einzugewöhnen. Das Schicksal wird durch solch kurzfristige Familienbeschlüsse entschieden. Wie wäre unser Leben verlaufen, wenn wir 1931 nach Paris gegangen wären? Eine der Aufgaben, die er mit Sicherheit übernommen hat, war die Ausrüstung der Expedition für die Außenaufnahmen des Films S.O.S. Eisberg, ein Polarabenteuer mit Luis Trenker, dem Veteranen des Bergfilms, und dem Flieger-As Ernst Udet, der seinen Lebensunterhalt als Kunstflieger verdiente, bis die deutsche Aufrüstung ihm zu einer herausgehobenen Position in Hitlers Luftwaffe verhalf. Als technische Berater wirkten Mitglieder von Alfred Wegeners Expeditionen mit; einer von ihnen kam zu uns nach Hause und erzählte mir von der Theorie der Kontinentaldrift und wie er sich in einem Winter in Grönland alle Zehen abgefroren hatte. Bei mindestens einer weiteren Gelegenheit warb Onkel Sidney für Hollywoodprodukte, die in Europa unters Volk gebracht werden sollten – genauer gesagt für Fran-

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kenstein auf dem polnischen Markt. Zu seiner Werbekampagne, auf die er sehr stolz war, gehörte das gezielt verbreitete Gerücht (um das Interesse des damals sehr großen jüdischen Publikums zu wecken), daß sich hinter Boris Karloff, dessen bürgerlicher Name Pratt wenig hergab, ein Boruch Karloff verberge, der seinen Namen lediglich geringfügig entjudaisiert habe. Offenbar stand er mit Polen in Verbindung, denn irgendwann im Sommer 1932 war die Rede von einer dauerhaften Versetzung dorthin, und Onkel Sidney versuchte, uns auf das völlig andere Leben in diesem Land vorzubereiten. Wir würden in Warschau wohnen. Die Polen, sagte er mir, seien empfindliche Leute mit einem ausgeprägten Ehrgefühl und einem Hang zu Duellen. Ich hatte nie die Möglichkeit, seine Information vor Ort zu überprüfen. Wie auch immer, wenn ich darüber nachdenke, war die Familie nicht in derselben Weise in Berlin verankert wie die Schule. Wie inzwischen deutlich geworden sein dürfte, lebte die Hobsbaumfamilie nicht in Berlin, sondern in einer transnationalen Welt, in der Menschen wie wir noch – wenngleich in den kommenden Jahren unter wesentlich erschwerten Umständen – auf der Suche nach einem Lebensunterhalt von einem Land in ein anderes zogen. Wir mochten Wurzeln in England oder in Wien haben, doch Berlin war nur eine Zwischenstation auf dem komplizierten Weg, der uns fast überallhin in Europa westlich der UdSSR führen konnte. Auch unsere Wohnverhältnisse in Berlin – drei Adressen und zwei verschiedene Zusammensetzungen des Haushalts in 18 Monaten – hatten nicht die Kontinuität der Schule. Mein Fenster zur Welt im Augenblick ihrer Krise war das Prinz Heinrichs-Gymnasium.2 Es war eine ganz und gar konventionelle Schule in der konservativen preußischen Tradition, 1890 gegründet, um dem Bedarf eines schnell wachsenden bürgerlichen Wohnviertels nachzukommen. Prinz Heinrich, dessen Namen sie trug, ein Bruder von Kaiser Wilhelm II., war ein Mann der Marine, was erklären mag, warum die Schule mit Recht stolz auf ihren Ruderklub am Kleinen Wannsee war (ein Modell seines Bootshauses »im Spreewaldstil« hatte auf der Brüsseler Weltausstellung 1908 eine Goldmedaille gewonnen). Mit Recht, weil der Klub zwar gute Trainer, jedoch anders als die Klubs in England kein spezielles Interesse an Wettkämpfen hatte und ein wunderbares Refugium darstellte, wo jüngere und ältere Schüler sich von gleich zu gleich begegnen konnten. Irgendwie war es dem Klub gelungen, an dem kleinen, nur der Fischerei vorbehaltenen Sakrower See eine Wiese zu erwerben, die »unser Gut« genannt wurde und nur mit besonderer Erlaubnis über einen schmalen Wasserweg zugänglich war. Freundesgruppen bil-

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deten Mannschaften, die dorthin ruderten oder sich an Wochenenden dort trafen, um Gespräche zu führen, in den Sommerhimmel zu schauen und im grünen Wasser zu schwimmen, bevor wie in die abendliche Stadt zurückkehrten. Zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben vermochte ich den Sinn eines Sportklubs einzusehen. Ein Ehemaliger der Schule, Dr. Wolfgang Unger, Arzt am Spandauer Spital, kümmerte sich um das Training der Neuen. Soviel ich weiß, wurde er aus rassischen Gründen 1934 seiner Stellung am Krankenhaus enthoben und beging daraufhin Selbstmord, da er nicht bereit war, sein Land, Deutschland, zu verlassen. Eine preußische Schule mit Verbindungen zum Militär war natürlich im Geiste protestantisch, zutiefst patriotisch und konservativ. Diejenigen unter uns, die diesem Muster nicht entsprachen – ob als Katholiken, Juden, Ausländer, Pazifisten oder Linke –, empfanden sich als kollektive Minderheit, allerdings nicht als in irgendeiner erkennbaren Weise ausgeschlossene Minderheit.3 Trotzdem war es keine nationalsozialistische Schule. (Nur wenige der Jungen, die ich kannte, zeigten viel Begeisterung für Hitler und die Braunhemden, ausgenommen Kube, der ungewöhnlich beschränkte Sohn eines Mannes, der Hitlers Gauleiter in Brandenburg war und so lange keine Ruhe gab, bis er erreicht hatte, daß ein Deutschlehrer an der Schule mit der Begründung entlassen wurde, er »begünstige« die wenigen noch verbliebenen jüdischen Schüler und behandle im Unterricht in der Hauptsache die entartete Literatur der Weimarer Republik. Er sollte der berüchtigte Reichskommissar für Weißruthenien während des Krieges werden, bis er schließlich von seiner Geliebten, einer patriotischen Weißrussin, ermordet wurde.) Im Gegenteil. Welche Sympathien die Schule auch immer für die von Hitler versprochene nationale Wiedererweckung gehegt haben mochte, damit war es (kurz nach meiner Abreise nach England) nach der erzwungenen Amtsenthebung des hochgeachteten und allseits beliebten Schulleiters, Oberstudiendirektor Dr. Walter Schönbrunn, vorbei, der unter dem neuen Regime politisch unerwünscht war. An seine Stelle trat ein von oben eingesetzter Kommissarischer Leiter, gegen den sich der erbitterte Groll der ganzen Schule richtete. Man kann das PHG der dreißiger Jahre kaum als eine Brutstätte der Regimekritik bezeichnen, aber es besagt einiges, daß Franz Marcs »Turm der blauen Pferde« – ich erinnere mich gut daran, weil es in der Eingangshalle hing –, von der neuen Obrigkeit als »entartete Kunst« verboten, von einer Klasse aus einer Abstellkammer geholt und im Klassenzimmer wieder aufgehängt wurde. Die Schüler protestierten auch gegen die Entlassung von Professor »Sally« Birnbaum, dem

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beliebten Lehrer für Mathematik und Naturwissenschaften: In der ganzen Schule wurden Unterschriften für eine Petition zu seinen Gunsten gesammelt. Noch im Winter 1936/37 stattete ihm die Unterprima geschlossen einen Besuch in seiner Wohnung in der Rosenheimer Straße ab. (Er überlebte in Berlin bis 1943, als er und seine Frau mit dem 36. Osttransport vermutlich nach Auschwitz deportiert wurden.) Es spricht sogar einiges dafür, daß die Schule sich besondere Mühe gab, die letzten jüdischen Schüler und Lehrer gut zu behandeln, solange sie noch dort waren. Wie immer politisch inakzeptabel sie einem jugendlichen Möchtegern-Revolutionär vorkam, der nicht im Traum daran gedacht hätte, die Schulmütze zu tragen (nach Art der Seglermützen mit Schirm und weichem Oberteil), es war eine anständige Schule. Das lag zweifellos an dem, was das Hitlerregime an Dr. Schönbrunn (allgemein bekannt als »der Chef«) als den obrigkeitskritischen und gesellschaftlich suspekten Geist von Weimar erkannt hatte. Der Ruderklub war hierfür ein Ausdruck. Die Betonung der Schülerselbstverwaltung und der Beteiligung der Schüler an den Verhandlungen von Disziplinarfällen ein weiterer, ebenso die unvergeßlichen Klassenfahrten durch die Mark Brandenburg und Mecklenburg, bei denen wir in Zelten und Jugendherbergen übernachteten. (Nicht umsonst hatte Dr. Schönbrunn, der die Lehrbefähigung nicht nur für Deutsch, Latein und Griechisch, sondern auch für Mathematik erworben hatte, ein Buch mit dem Titel Jugendwandern als Reifung zur Kultur veröffentlicht.) Ich persönlich konnte mich für diesen ziemlich kleinen Mann mit scharfen Augen hinter randlosen Brillengläsern, einem zurückweichenden Haaransatz und Knickerbockern (wenn er sich seinen Schützlingen auf einem Wandertag anschloß) nicht erwärmen. (Andererseits war es damals, wie jeder Leser der Bücher von Tim und Struppi weiß, in Europa die Zeit der Knickerbocker.) Meine Bewunderung für Karl Kraus und seine Zeitschrift Die Fackel tat er mit der Bemerkung ab: »Der Fackel-Kraus, ein eitler Schwätzer«, was im Rückblick betrachtet nicht völlig daneben war. Er kritisierte meinen Prosastil, den er als übermäßig manieriert ansah. Vielleicht hätte ich ihm vergeben, wenn ich gewußt hätte, daß er ein Bewunderer der Architektur der »neuen Sachlichkeit« war und sowohl deren klare Linienführung als auch die »bewußte Schlichtheit heutiger Dichtung« schätzte, »in der [. . .] eine offenbar neue Klassik sich wieder bemerkbar macht«, ein apollinischer Geist, der einem Griechischlehrer sehr zusagte. Er wählte den Roman Krieg des kommunistischen Schriftstellers Ludwig Renn als ein Beispiel für den neuen Klassizis-

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mus. (Er hatte natürlich wie die meisten unserer Lehrer im letzten Krieg gedient.) Dennoch, auch wenn ich ihn nicht gerade mochte, ich hatte Respekt vor ihm. Und ich profitierte fraglos von seinen Bemühungen, die schließlich in dem Jahr, bevor ich zur Schule in der Grunewaldstraße kam, vom Erfolg gekrönt wurden: »Die Schülerbücherei wurde endlich mal mit wirklich modernen Werken versorgt.« Mehrere dieser Bücher haben mein Leben geformt. In einem großen enzyklopädischen Führer zur deutschen Gegenwartsliteratur entdeckte ich die Gedichte (im Unterschied zu den Liedern und Theaterstücken) Bertolt Brechts. Und ein aufgebrachter Lehrer – sein Name war Willi Bodsch, das ist alles, was ich von ihm noch weiß – schickte mich in die Schulbibliothek, als ich meine kommunistischen Überzeugungen offenlegte. Er sagte zu mir mit Nachdruck (und mit Recht): »Sie wissen offenbar nicht, wovon Sie reden. Gehen Sie in die Bibliothek und informieren Sie sich über das Thema.« Das tat ich denn auch und entdeckte das Kommunistische Manifest . . . Was ich in den einzelnen Unterrichtsstunden gelernt habe, ist mir nicht so klar. Ich kann erkennen, daß sie kein besonders zentraler Bestandteil der Schulerfahrung waren, es sei denn als Gelegenheiten, um eine Gruppe von schlecht verstandenen Erwachsenen zu beobachten, zu manipulieren und manchmal ihre Nerven und ihre Autorität auf die Probe zu stellen. Die meisten erschienen mir fast wie Karikaturen deutscher Lehrer, spießig, mit Brille und mit Bürstenschnitt (wenn sie keine Glatze hatten) und ziemlich alt – die meisten von ihnen waren Ende Vierzig oder Anfang Fünfzig. Alle hörten sich an wie begeisterte konservative deutsche Patrioten. Zweifellos hielten sich diejenigen, die das nicht waren, bedeckt, doch die meisten sind es sicherlich gewesen. Das galt ganz besonders für Professor Emil Simon – eine Figur, wie man sie aus den Bildern von George Grosz kannte –, dessen Griechischunterricht wir routiniert in eine andere Richtung lenkten, indem wir beispielsweise fragten, wie Wilamowitz diese Stelle interpretiert hätte (was mindestens für eine zehnminütige Lobrede auf den größten deutschen Altphilologen ausreichte), oder, was zuverlässiger funktionierte, indem wir ihn baten, uns etwas über seine Erlebnisse im Weltkrieg zu erzählen. Das führte uns unweigerlich weg von einer Übersetzung der Odyssee Homers zu einem Monolog über das Schützengrabenerlebnis des Frontsoldaten, die Pflicht eines Offiziers, die Notwendigkeit einer Nachkriegsordnung, die russische Barbarei, die Schrecken der Oktoberrevolution und der Tscheka, Lenins Prätorianergarde aus Lettischen Schützen und dergleichen mehr sowie zu der Mahnung, daß im Gegensatz zu dem, was ungebildete Arbeiter denken mochten, Spartakus

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alles andere als proletarischer Herkunft war, sondern einem hohen Stand angehört hatte, bevor er versklavt wurde. Es war, wie ich heute viele Jahrzehnte später erkenne, eine frühe Version der These, die in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur Relativierung des Dritten Reichs vorgebracht wurde, daß es nämlich notwendig gewesen sei, eine geordnete Gesellschaft gegen den Bolschewismus zu verteidigen, und jedenfalls seien die Schrecken der Hitlerzeit von den Schrecken des roten Rußlands vorweggenommen und angeregt worden. Soweit ich weiß, war Emil Simon kein Nazi, nur ein deutscher Konservativer, der sich an bessere Tage erinnerte, wie man dies an Stammtischen in bürgerlichen Lokalen wohl tun mochte. Ungeachtet unserer individuellen politischen Überzeugungen machten wir uns über ihn lustig und bedauerten seinen Sohn, einen blassen, schmächtigen Jungen, der in der vordersten Reihe der Klasse saß und die dreifache Bürde trug, Emil Simons Sohn, sein Schüler und Zeuge unseres Spotts über seinen Vater zu sein. Wie auch immer, das Leben war zu interessant, um sich hauptsächlich auf die Schule und die Schularbeiten zu konzentrieren. Ich hatte damals keine besonders glänzenden Zeugnisse. Um die Wahrheit zu sagen, redeten die Lehrer und zumindest dieser Schüler aneinander vorbei. Ich lernte absolut nichts in den Geschichsstunden, die von einem kleinen, dicken alten Mann gehalten wurden, »Tönnchen« Rubensohn, außer den Namen und Daten aller deutschen Kaiser, die ich bis heute allesamt vergessen habe. Er schoß durch den Klassenraum, zeigte der Reihe nach mit einem Lineal auf uns und sagte etwa: »Schnell, Heinrich der Vogler, von? bis?« Ich weiß heute, daß ihn diese Übung ebenso anödete wie uns. Tatsächlich war er der hervorragendste Wissenschaftler an der Schule, Autor einer Monographie über die Mysterien von Eleusis und Samothrake, er hatte Beiträge für den Pauly-Wissowa verfaßt, die größte Enzyklopädie des klassischen Altertums, und war bereits lange vor dem Krieg ein anerkannter klassischer Archäologe in der Ägäisregion sowie ein Papyrusexperte. Vielleicht hätte ich das in der Prima entdeckt, wo der Unterricht nicht mehr auf einem vorgeschriebenen Auswendiglernen beruhte. Bis dahin bestand der Haupteffekt seines Unterrichts letztlich darin, einen potentiellen zukünftigen Historiker von diesem Fach abzubringen. Es wird niemanden wundern, daß ich in Berlin durch Absorption und nicht durch Instruktion gelernt habe. Aber gelernt habe ich natürlich. Die Monate in Berlin machten einen lebenslangen Kommunisten aus mir oder zumindest einen Mann, dessen Leben ohne das politische Projekt, dem er sich als Schuljunge verschrieben hatte, seinen Charak-

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ter und seine Bedeutung verlieren würde, auch wenn das Projekt nachweislich gescheitert ist und, wie ich heute weiß, scheitern mußte. Der Traum der Oktoberrevolution ist immer noch irgendwo in meinem Inneren da, so wie gelöschte Dateien irgendwo auf der Festplatte eines Computers noch immer darauf warten, von Experten wiederhergestellt zu werden. Ich habe es aufgegeben, ja verworfen, aber es ist nicht zerstört worden. Bis auf den heutigen Tag beobachte ich an mir, daß ich das Gedächtnis und die Tradition der UdSSR mit einer Nachsicht und Zärtlichkeit behandle, die ich gegenüber dem kommunistischen China nicht empfinde, da ich der Generation angehöre, für die die Oktoberrevolution die Hoffnung der Welt in einer Weise repräsentierte, wie China das nie getan hat. Der Hammer und die Sichel der Sowjetunion haben diese Hoffnung symbolisiert. Doch was hat eigentlich den Berliner Schuljungen zu einem Kommunisten gemacht? Eine Autobiographie zu schreiben heißt, über sich nachzudenken, wie man dies nie zuvor wirklich getan hat. In meinem Fall heißt es, die geologischen Sedimente von drei Vierteln eines Jahrhunderts abzutragen und einen verschütteten Fremden freizulegen oder zu entdecken und wiederherzustellen. Wenn ich zurückblicke und versuche, dieses ferne und unvertraute Kind zu verstehen, drängt sich mir der Schluß auf, daß ihm unter anderen historischen Umständen niemand ein leidenschaftliches politisches Engagement, jedoch fast jeder Beobachter eine Zukunft als Intellektueller dieser oder jener Art prophezeit hätte. Menschen interessierten ihn anscheinend nicht besonders, weder einzeln noch als Gesamtheit, auf jeden Fall weitaus weniger als Vögel. Überhaupt schien er von den Angelegenheiten der Welt ziemlich weit entfernt zu sein. Er hatte keine persönlichen Gründe für eine Ablehnung der Gesellschaftsordnung und hatte nicht das Gefühl, unter dem üblichen Antisemitismus Mitteleuropas zu leiden, da er mit seinen blonden Haaren und blauen Augen nicht als »der Jude« identifiziert wurde, sondern als »der Engländer«. Sich für den Versailler Vertrag rechtfertigen zu müssen, konnte an einer deutschen Schule unangenehm sein, aber es war nicht erniedrigend. Die Aktivitäten, denen ich an der Schule spontan zuneigte, wo ich mich fraglos glücklich fühlte, hatten nichts mit Politik zu tun: der Literaturverein, der Ruderklub, Naturkunde, die herrlichen Schulwanderfahrten durch die Mark Brandenburg und Mecklenburg, die Nächte im Zelt oder in Jugendherbergen auf Strohmatratzen, wo wir fröhlich und begeistert bis tief in die Nacht hinein miteinander redeten. Über was? Über alles, vom Wesen der Wahrheit bis zu der Frage, wer wir waren, von der Sexualität noch und noch bis zur Literatur und Kunst, vom Witz bis zum

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Schicksal. Aber nicht über die aktuelle Politik. Jedenfalls habe ich diese unvergeßlichen Abende und Nächte so in Erinnerung behalten. Zumindest kann ich mich an keine politischen Diskussionen oder gar Streitigkeiten mit meinen engsten Freunden, Ernst Wiemer und HansHeinz Schroeder, dem Dichter der Klasse – er fiel an der Ostfront –, erinnern. Was mich mit ihnen verband, liegt im Dunkeln. Ich stelle lediglich fest, daß sie auf dem Abiturfoto meiner Klasse von 1936 von 23 jungen Männern und zwei Lehrern außer zwei weiteren Schülern die einzigen waren, die einen offenen Hemdkragen trugen. Die politischen Überzeugungen waren es sicher nicht. Ob der eine nun ein überzeugter Nationalist war oder nicht, unser gemeinsames Thema waren jedenfalls die Nonsensgedichte von Christian Morgenstern und die Welt im allgemeinen. Und die traditionell preußische Verehrung des anderen für Friedrich den Großen, den man gewiß auch noch aus anderen Gründen bewundern kann, störte mich weniger, aber ich teilte sicher nicht seine Anschauungen, die dazu führten, daß er Modelle der Soldaten seiner Armeen sammelte. Kurzum, wenn ich das Gedankenexperiment anstellen sollte, den Knaben, der ich damals war, in eine andere Zeit und/oder ein anderes Land zu versetzen – etwa in das England der fünfziger oder in die USA der achtziger Jahre –, dann kann ich mir nur schwer vorstellen, daß er sich mit demselben leidenschaftlichen Engagement wie ich damals der Weltrevolution verschrieben hätte. Andererseits zeigt bereits die Vorstellung eines solchen anderen, unpolitischen Weges, wie undenkbar er im Berlin zu Beginn der dreißiger Jahre gewesen wäre. Fred Uhlman, beim Verlassen Deutschlands einige Jahre älter als ich, ein Flüchtling und Anwalt, der sich auf das Malen trauriger Bilder von der kargen walisischen Landschaft verlegte, schrieb eine weitgehend autobiographische und später verfilmte Novelle (Reunion) über die dramatische Auswirkung des neuen Hitlerregimes auf die Schulfreundschaft eines jüdischen Jungen, der nichts von der drohenden Katastrophe ahnt, und einem jungen »arischen« Adligen an einem süddeutschen Gymnasium, das dem meinigen nicht unähnlich war. In Stuttgart mag dies ein mögliches Szenario gewesen sein, aber in der krisengeschwängerten Atmosphäre Berlins in den Jahren 1931/32 war ein solches Maß an politischer Naivität undenkbar. Wir fuhren auf der Titanic, und jeder wußte, daß sie den Eisberg rammen würde. Das einzig Ungewisse daran war, was passieren würde, wenn es soweit war. Wer würde ein neues Schiff bereitstellen? Es war unmöglich, sich aus der Politik herauszuhalten. Doch wie sollte man die Parteien der Weimarer Republik unterstützen, die nicht einmal mehr wuß-

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ten, wie man die Rettungsboote bemannte? Sie waren völlig abwesend bei den Reichspräsidentschaftswahlen 1932, bei denen Hitler, Thälmann als Kandidat der KPD und der greise Feldmarschall Hindenburg antraten, wobei der letztere von allen Nichtkommunisten unterstützt wurde, weil dies als die einzige Möglichkeit erschien, den weiteren Aufstieg Hitlers zu verhindern. (Innerhalb weniger Monate sollte er Hitler zum Reichskanzler berufen.) Doch für jemanden wie mich gab es tatsächlich nur eine Wahl. Der deutsche Nationalismus, ob in der traditionellen Form des PHG oder in der Form von Hitlers Nationalsozialismus, war keine Option für einen Engländer und Juden, auch wenn ich verstehen konnte, warum er auf Menschen, die weder das eine noch das andere waren, so attraktiv wirkte. Was blieb außer den Kommunisten übrig, vor allem für einen Jungen, der sich bereits bei seiner Ankunft in Deutschland gefühlsmäßig zur Linken hingezogen fühlte? Als das Schuljahr 1932/33 begann, wurde der Eindruck, daß wir in einer Art Endkrise lebten oder zumindest in einer Krise, die nur in einer Katastrophe aufgelöst werden könnte, übermächtig. Die Präsidentschaftswahlen vom Mai 1932, die ersten einer ganzen Reihe von Wahlen in diesem unheilschwangeren Jahr, hatten bereits die Parteien der Weimarer Republik ausgeschaltet. Die letzte ihrer Regierungen, das Kabinett Brüning, war bald darauf gestürzt worden, und an ihre Stelle trat eine Clique von adligen Reaktionären, die ausschließlich mit Notverordnungen des Reichspräsidenten regierte, denn die Regierung unter Franz von Papen hatte praktisch keinen Rückhalt im Reichstag, geschweige denn das Format, eine Mehrheit hinter sich zu bringen. Die neue Regierung entsandte sogleich eine kleine Abordnung Soldaten zur Absetzung der Regierung des größten deutschen Bundeslands, Preußen, wo eine Koalition aus SPD und Zentrum noch eine Art demokratischer Herrschaft ausgeübt hatte. Die Minister gingen widerstandslos, da Papen in dem Versuch, Hitler in seine Regierung zu bekommen, das erst vor kurzem gegen die SA erlassene Uniformverbot auf der Straße wiederaufgehoben hatte. Die gezielt provozierenden Aufmärsche der SA wurden von da an zu einem gewohnten Bild. Fast täglich kam es zu Kämpfen zwischen den uniformierten Ordnerdiensten der verschiedenen Parteien. Allein im Juli wurden 86 Menschen getötet, hauptsächlich bei Zusammenstößen zwischen SA-Leuten und Kommunisten, und die Zahl der Verletzten ging in die Hunderte. Hitler, der um höhere Einsätze spielte, erzwang im Juli allgemeine Neuwahlen, aus denen die Nationalsozialisten mit fast 14 Millionen Stimmen (37,5 Prozent der abgegebenen Stimmen) und 230 Abgeordnetensitzen hervorgingen – kaum weniger als die vereinigten Stimmen der Weimarer Parteien (SPD,

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Zentrum und die inzwischen kaum noch sichtbare DDP) und der Kommunisten mit über 5 Millionen Stimmen und 89 Mandaten. Damit war die Weimarer Republik praktisch tot. Jetzt ging es nur noch darum, in welcher Form sie beerdigt werden sollte. Doch solange es keine Übereinstimmung zwischen dem Präsidenten, der Wehrmacht, den Reaktionären und Hitler gab (der das Amt des Reichskanzlers wollte oder gar nichts), konnte der Leichnam nicht bestattet werden. Das war die Lage zu Beginn des Schuljahrs. Während ich mich an das erste Jahr in Berlin in Farbe erinnere, sind meine Erinnerungen an die letzten sechs Monate in immer dunklere graue Schatten mit roten Tupfern getaucht. Die Veränderung betraf nicht nur die Politik, sondern auch unsere familiäre Lage. Denn im Lauf des Jahres 1932 verdüsterten sich unsere Aussichten in Berlin. Wir fielen nicht Hitler zum Opfer, sondern der »Großen Krise«, genauer gesagt einem neuen Gesetz, mit dem der vergebliche Versuch unternommen wurde, der steigenden Arbeitslosigkeit Herr zu werden, indem ausländische Filmgesellschaften (und zweifellos auch andere ausländische Firmen) verpflichtet wurden, mindestens 75 Prozent Deutsche auf ihren Gehaltslisten zu haben. Onkel Sidney war entbehrlich. Jedenfalls ist das die plausibelste Erklärung für das, was passierte. Das Projekt mit Polen hatte sich zerschlagen, doch im Herbst 1932 – seine Tätigkeit in Berlin war offenbar beendet – zogen Onkel Sidney, Tante Gretl und Peter, gerade erst sieben Jahre alt, nach Barcelona – ob im Auftrag der Universal-Filmgesellschaft oder in der Hoffnung, auf eigene Faust etwas zu finden, weiß ich nicht. Ich vermute, daß keine Aussichten auf eine feste Anstellung bestanden, denn in diesem Fall wäre die ganze Familie dorthin gezogen. Wie die Dinge jedoch lagen, blieben Nancy und ich vorläufig in Berlin zurück, um weiter die Schule zu besuchen, bis man wieder klarer in die Zukunft sehen konnte. Es war das Ende des neuen Hauses mit Garten in Lichterfelde, dem exklusiven Stadtteil, wohin wir aus der Aschaffenburger Straße gezogen waren, in die Nähe von jemandem aus der Musikwelt, der tatsächlich über den Luxus eines kleinen, aber wirklich privaten Schwimmbeckens verfügte. Nancy und ich zogen mit der dritten Schwester der Familie Grün zusammen, unserer unsteten Tante Mimi, deren Lebensweg über mehrere fehlgeschlagene Unternehmungen in englischen Provinzstädten (»wir haben zu wenig Schulden, als daß ein Bankrott sich lohnte, und müssen einfach weitermachen«4) sie zu einer untervermieteten Wohnung an der Reichsbahnlinie in Halensee geführt hatte, einem Berliner Stadtteil am westlichen Ende des Kurfürstendamms. Dort betrieb sie wie gewohnt eine Pension und bot den

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Engländern unter ihren zahlenden Gästen Deutschstunden an. Das war der Grund, warum wir die letzten Monate in Berlin verbrachten und das Dritte Reich noch erlebten. Es war vermutlich das einzige Mal in meinem Leben, daß meine Schwester Nancy und ich gemeinsam außerhalb einer familiären Umgebung gelebt haben, denn Tante Mimi, die schon immer von der Hand in den Mund gelebt hatte und ohnedies nicht an Kinder gewöhnt war – sie selbst hatte nie welche gehabt –, zählte kaum als Familie. Ich kann nur Vermutungen darüber anstellen, in welcher Weise das Fehlen jeglicher elterlicher Autorität sich in diesen letzten Monaten in Berlin auf Nancy ausgewirkt hat, aber ich bin ziemlich sicher, daß meine politischen Aktivitäten wesentlich stärker beschränkt gewesen wären, wenn Tante Gretl und Onkel Sidney in Berlin geblieben wären. Da ich dreieinhalb Jahre älter war als meine Schwester, fühlte ich mich für sie verantwortlich. Außer mir gab es jetzt niemanden mehr. Ich hatte mir vorher nie Gedanken darüber gemacht, wie sie zur Schule kam, mich hatte lediglich der tägliche Alptraum beschäftigt, von Lichterfelde zu meinem Gymnasium auf einem Fahrrad fahren zu müssen, dessen ich mich in einer Weise schämte, wie sie nur Heranwachsenden möglich ist, dem Geschenk meiner todkranken Mutter, dem schwarz umlackierten Fahrrad mit dem verzogenen Rahmen. (Ich kam stets eine halbe Stunde zu früh beim Fahrradschuppen an und machte mich später als die anderen auf den Heimweg, weil ich nicht damit gesehen werden wollte.) Jetzt gingen wir dagegen gemeinsam zur Schule und wieder zurück, denn Halensee war ziemlich weit von Wilmersdorf entfernt, und das PHG und die Chamissoschule lagen fast nebeneinander. Vermutlich haben wir die Bahn oder den Bus benutzt, aber ich kann mich nur noch an die endlosen Fußmärsche während des dramatischen Transportstreiks bei der Berliner VerkehrsGesellschaft Anfang November erinnern. Wir waren sehr jung und ganz auf uns selbst gestellt. Als Nancy ihren zwölften Geburtstag feierte, hielt ich es für meine Pflicht, sie »aufzuklären«, und sie war vermutlich zu höflich, um mir zu sagen, daß sie bereits aufgeklärt worden sei, zumindest über das, was die Menstruation betraf, was für ein Mädchen an der Schwelle zur Pubertät wohl das wichtigste war. Ich kann nicht behaupten, daß uns diese Monate einander nähergebracht hätten, als zwei Geschwister mit denselben traumatischen Erfahrungen sich ohnehin sind. Außer diesen Traumata hatten wir sehr wenig gemeinsam, und meine intellektuellen Neigungen sowie mein mangelndes Interesse an der Welt der Menschen verliehen mir einen Schutz, der ihr fehlte. Ich habe das damals nicht erkannt. Sie teilte weder meine

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Interessen noch mein Leben, die beide zunehmend von der Politik beherrscht wurden. Ich wußte nicht einmal, wie es ihr auf der Schule ging, wer ihre Freundinnen waren oder ob sie überhaupt welche hatte. Ich nehme an, wir tratschten über Tante Mimi und ihre zahlenden Gäste, spielten abends zusammen Karten und schickten Briefe nach Spanien. Ich dachte mir Geschichten für den kleinen Peter aus, zu denen mich Hugh Loftings Doktor Dolittle und Christian Morgensterns »Nasobem« inspiriert hatten, jenes Tier, das auf seinen Nasen einherschreitet. In meiner Erinnerung erscheint die Friedrichsruher Straße nur in Grau oder in einem künstlichen Licht, vermutlich weil wir in diesen Monaten die meiste Zeit außer Haus waren. Abends trafen wir uns alle im Wohnzimmer, wo das Bücherregal der Hauptmieter stand. Es ermöglichte mir, zum ersten Mal Thomas Mann (Tristan) und einen kurzen Roman von Colette zu lesen. Tante Mimi, die mit solchen Situationen vertraut war, zeigte ein echtes Interesse an den Lebensgeschichten ihrer Logiergäste und wandte ihr übliches soziales Repertoire an, Handlesen und andere Formen der Wahrsagerei sowie Gespräche über die Realität übersinnlicher Phänomene mit Beispielen. Sie hatte versucht, Geld einzusparen – eines der wenigen konkreten Details unseres Lebens in Halensee, das mir im Gedächtnis geblieben ist –, indem sie die Kartoffeln zum Kochen sackweise kaufte und mich von Zeit zu Zeit in den Keller schickte, um das benötigte Quantum nach oben zu bringen. Im Lauf der Zeit begannen die Kartoffeln zu keimen und mußten sorgfältig geschält werden, damit niemand etwas merkte.

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Inzwischen bewegten sich meine revolutionären Neigungen von der Theorie zur Praxis. Die erste Person, die versuchte, ihnen eine genauere Richtung zu geben, war ein älterer sozialdemokratischer Jugendlicher, Gerhard Wittenberg. Mit ihm durchlebte ich den Initiationsritus des typischen sozialistischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, nämlich den kurzlebigen Versuch, Das Kapital von Karl Marx von der ersten Seite an zu lesen und zu verstehen. Es währte nicht lange – in dieser Phase meines Lebens jedenfalls –, und wir blieben zwar Freunde, doch fühlte ich mich weder zur deutschen (im Unterschied zur österreichischen) Sozialdemokratie noch zu Gerhards Zionismus hingezogen, der ihn nach der Machtübernahme Hitlers dazu führte, nach Palästina in ein Kibbuz auszuwandern und schließlich – soviel ich weiß – auf einer Mission zur Rettung von Juden nach Deutschland zurückzukehren, wo er getötet wurde. (Militante Zionisten waren in jenen Tagen natürlich überwiegend Anhänger eines marxistischen Sozialismus in dieser oder jener Form.) Der Mann, der mich für eine kommunistische Organisation anwarb, war ebenfalls älter als ich. Wie wir miteinander in Berührung kamen, ist mir entfallen, aber es kann gut sein, daß man in der Untersekunda über den Engländer geredet hat, der aus seinen roten Überzeugungen kein Hehl machte. Wie ich ihn in Erinnerung habe, war Rudolf (Rolf) Leder dunkelhaarig und düster, besaß eine Vorliebe für Lederjacken und hatte sich offensichtlich die idealisierte Version der Partei des sowjetbolschewistischen Kader zum Vorbild genommen. Er wohnte bei seinen Eltern in Friedenau, und ich sehe noch die zwei oder drei Bücherborde an der Schmalseite seines kleinen Zimmers, auf denen er seine Bücher über den Kommunismus und die Sowjetunion aufgestellt hatte. Er muß mir einige davon geliehen haben – von wem hätte ich sie sonst haben können –, da ich mehrere sowjetrussische Romane der zwanziger Jahre gelesen habe. Keiner von ihnen ließ eine bestimmte utopische Sicht des Lebens im revolutionären Rußland erkennen. Darin glichen sie der gesamten sowjetischen Prosaliteratur vor der Stalinära. Doch als ich Rolf gegenüber erklärte – ich kann mich noch an

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das Gespräch erinnern –, der Kommunismus werde wegen der Rückständigkeit Rußlands Schwierigkeiten bekommen, verfinsterte sich sein Gesicht: Die UdSSR stand außerhalb jeder Kritik. Über ihn erwarb ich die Sonderausgabe eines Bandes mit Dokumenten und Fotografien, der den fünfzehnten Jahrestag der Oktoberrevolution feierte, Fünfzehn eiserne Schritte. Ich habe ihn immer noch, in einem schlichten, sandfarbenen festen Einband, den John Heartfield entworfen hat, und auf dem Vorsatzblatt steht – in meiner jugendlichen Handschrift – ein Zitat aus Lenins Der »linke Radikalismus«, die Kinderkrankheit im Kommunismus. Neben dem halb auseinanderfallenden Büchlein Unter roten Fahnen: Kampflieder, das die Texte von Revolutionsliedern enthält, ist es das älteste Dokument meiner innersten politischen Überzeugung. Rolf Leder war ein Mann, der sich in der bürgerlichen Umgebung unserer Schule deplaziert fühlte. Wie er in seiner Autobiographie schrieb, hatte er sich gerade erst ein Jahr, bevor wir uns kennenlernten, den Jungkommunisten auf der Straße angeschlossen und war stolz, im straßenkampferprobten Milieu der jungen sozialistischen Berliner Arbeiter Anerkennung gefunden zu haben, er »hatte [s]ich bewährt« in der »Zeit eines latenten Bürgerkriegs«, und er war »SA-Leuten und Polizisten nicht aus dem Wege gegangen«.1 Er machte mir jedoch nicht den Vorschlag, in den Kommunistischen Jugendverband (KJV) einzutreten, sondern in eine deutlich weniger proletarische Organisation, den Sozialistischen Schülerbund (SSB), der speziell Gymnasiasten aufnehmen sollte. Ich folgte seinem Vorschlag, und er ging seiner eigenen Wege. Ich habe ihn nie wiedergesehen, nachdem ich Berlin verlassen hatte. Er starb 1996. Dennoch blieben unsere Lebenswege merkwürdig ineinander verwoben. Viele Jahre später entdeckte ich in einem westdeutschen Buch über Schriftsteller und den Kommunismus, daß ein ziemlich prominentes Mitglied des literarischen Establishments in der DDR, der Dichter Stephan Hermlin, eigentlich Rudolf Leder hieß. Wie ich später in seiner Autobiographie las, war er illegal in Deutschland geblieben, hatte das Angebot seiner Familie abgelehnt, ihn nach Cambridge zu schicken, und war mehrere Monate lang in einem Konzentrationslager inhaftiert. 1935 war er in Frankreich, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg und später in der französischen Résistance, bevor er 1946 in die Sowjetisch Besetzte Zone zurückkehrte. Hier, in der späteren DDR, machte er eine bemerkenswerte literarische Karriere. Nach dem zu urteilen, was ich von seinem Werk gelesen habe, war er wohl eher ein guter als ein herausragender Dichter, wahrscheinlich besser als Übersetzer und Bearbeiter anderer Dichter, und seine kurzen, unprä-

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zisen Erinnerungen Abendlicht wurden von vielen bewundert. Andererseits benahm er sich als prominente Persönlichkeit auf der kulturellen Bühne unter einem spießbürgerlichen und autoritären System anständig, protestierte und beschützte und benutzte seine Freundschaft mit Honecker gegen die Stasi. Das ist einer der Fälle, wo die alte deutsche Redewendung »Guter Mensch, schlechter Musikant« nicht als Herabsetzung des Künstlers, sondern als Lob der Anständigkeit des Prominenten verstanden werden sollte. Ich schrieb ihm einen Brief, wahrscheinlich an die Adresse des Schriftstellerverbandes, in dem ich ihn fragte, ob er derselbe Rudolf Leder sei, den ich gekannt hatte, und erhielt eine kurze Antwort, in der er die Frage bejahte, aber hinzufügte, er könne sich an mich nicht mehr erinnern. Auch später reagierte er nicht, als Freunde in Berlin ihm gegenüber meinen Namen erwähnten. Doch die kurze Verbindung zwischen zwei Berliner Gymnasiasten 1932, die sich beide in unterschiedlicher Weise und in verschiedenen Ländern innerhalb der kulturellen Linken einen Namen gemacht haben, hat anscheinend sowohl Journalisten als auch Leser in der ehemaligen DDR fasziniert. Jedenfalls bin ich immer wieder darauf angesprochen worden. Es gibt einen merkwürdigen Schluß zu der Episode mit Rudolf Leder. Kurz vor dessen Tod verfolgte Karl Corino, eine westdeutsche literarische Spürnase und Stephan Hermlin wenig freundlich gesinnt, die Spur seiner offiziellen Biographie und entdeckte, daß das meiste davon reine Erfindung war und nur gelegentlich und nur am Rande etwas mit der Wirklichkeit zu tun hatte.2 Es treffe nicht zu, daß er eine wohlhabende, kultivierte, dem Sammeln von Kunstwerken und der Liebe zur Musik frönende Familie des englisch-deutschen Großbürgertums zugunsten des Kampfs der Arbeiterklasse aufgegeben habe. Sein Vater sei ein rumänischer und später staatenloser Geschäftsmann gewesen, der eine galizische Immigrantin in England geheiratet (und damit die englische Staatsbürgerschaft erworben) und nach einer kurzen Periode materiellen Wohlergehens in der Inflationszeit Pleite gemacht habe. Der Vater habe weder im Ersten Weltkrieg gedient, noch sei er in einem Konzentrationslager gestorben, sondern habe sich 1939 nach London in Sicherheit gebracht. Hermlin selbst sei nie in einem Konzentrationslager gewesen, nicht einmal für kurze Zeit, er habe auch weder im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft noch in der französischen Résistance. Und so weiter. Es war ein überaus wirksamer und trotz der nicht zu übersehenden Einseitigkeit des Autors und einiger seiner Quellen ein überzeugender Verriß. Natürlich ist Leder nicht der einzige autobiographische Autor, der

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sich in ein farbenprächtigeres oder bedeutenderes Kostüm auf der Weltbühne geworfen und das Szenario seines Lebens entsprechend zurechtgebogen hat. Das gilt in diesem Fall ganz besonders, wenn wir Corinos Belege dafür akzeptieren, daß das Leben Leders bis zu seiner Rückkehr nach Berlin 1946, einschließlich seiner Gymnasialjahre, überwiegend enttäuschend verlaufen war. Letztendlich hat er sein Leben nicht so sehr erfunden, als er es stilisiert oder bloße Absichten in Taten verwandelt hat. Er hatte tatsächlich seine Stelle in Tel Aviv aufgegeben (der »offizielle« Hermlin ließ die kurze Episode in Palästina unerwähnt) und erklärt, er wolle sich den Internationalen Brigaden in Spanien anschließen, und fast wäre es auch soweit gekommen, wenn er sich nicht einer Operation hätte unterziehen müssen, deren Folgen für ihn fast tödlich gewesen wären; und als er dann Palästina verlassen konnte, war seine Frau schwanger. Sein Vater war schließlich tatsächlich für kurze Zeit ein Millionär gewesen, der Kunst sammelte und seine Frau von Max Liebermann und sich selbst von Lovis Corinth malen ließ. Außerdem bietet der Lebensweg eines jeden deutschjüdischen Flüchtlings in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, der zwischen mehreren Ländern wechselte, eine Fülle von Gelegenheiten und guten Gründen, sich auf den unvermeidlichen Formularen und Fragebögen in ein etwas besseres Licht zu setzen. Und es steht außer Frage, daß Leder seit einer Zeit vor unserer Begegnung 1932 Kommunist und der Partei loyal verbunden war, bis sie mit dem Ende der DDR aufhörte zu existieren, und daß er für seinen Kommunismus einen Preis bezahlt hatte. Seltsamerweise führt dies unser beider Leben noch einmal zusammen. Denn wenn Corino recht hat, wurde Leder formell von seinem Gymnasium relegiert, weil er im Januarheft 1932 des Schulkampfs, einer Zeitung des Sozialistischen Schülerbunds, für den er mich anwerben wollte, einen aufrührerischen Artikel verfaßt hatte. Wäre er zu dieser Zeit Schüler des Prinz Heinrichs-Gymnasiums gewesen, so hätte ich davon auf jeden Fall gehört. Höchstwahrscheinlich mußte er von einem anderen Gymnasium abgehen und trat erst anschließend in das PHG ein. Somit waren wir beide Zugvögel an unserer Schule. Wie und warum er abging, weiß ich nicht.3 Auf jeden Fall hat er die Schule nicht mit dem Abitur verlassen. Die Organisation, der ich mich anschloß, hat nur einen schattenhaften Platz in der Geschichte des deutschen oder des Kommunismus überhaupt, im Gegensatz zu der Person, der sie ihre Entstehung verdankte, Olga Benario. Diese dynamische junge Frau, die Tochter einer wohlhabenden bürgerlichen Familie in München, war nach der kurzlebigen Münchener Räterepublik von 1919 zur Revolution bekehrt

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worden. Einige Jahre war sie mit einem jungen Lehrer namens Otto Braun liiert, der in der Räterepublik eine Rolle gespielt hatte. 1928 stürmte sie an der Spitze einer Gruppe von Jungkommunisten in Berlin in den Gerichtssaal, in dem gegen Otto Braun ein Prozeß wegen Hochverrats geführt wurde, und befreite ihn. Beide tauchten mit Hilfe von Genossen unter, gingen in die Illegalität und schlossen sich dem Apparat der Komintern und der Roten Armee an. In Moskau wurde Benario als Beraterin von Luis Carlos Prestes abgestellt, einem brasilianischen Offizier, der mehrere Jahre lang eine Gruppe von Militärrebellen auf einem berühmten langen Marsch durch die Wälder seines Landes geführt hatte und jetzt im Begriff stand, sich der Kommunistischen Partei Brasiliens anzuschließen und sie zu führen. Sie heiratete ihn, half ihm bei der Planung und nahm an seiner Seite an dem katastrophal fehlgeschlagenen Aufstand von 1935 teil, geriet in Gefangenschaft und wurde von der brasilianischen Regierung an Hitlerdeutschland ausgeliefert. 1942 wurde sie im Konzentrationslager Ravensbrück umgebracht. Inzwischen war Otto Braun von Moskau aus statt nach Westen in den Osten gegangen und wurde der einzige Europäer, der (sichtlich ohne besondere Begeisterung für Mao Zedong) von Anfang bis Ende am Langen Marsch der chinesischen Roten Armee teilgenommen hat. In den achtziger Jahren veröffentlichte er als Rentner in Ostberlin seine Erinnerungen. Als ich in den SSB eintrat, um der Weltrevolution zu dienen, hatte ich keine Vorstellung davon, welche historischen Bande diese Organisation mit einigen ihrer aufregendsten Kämpfe verbinden sollten, auch wenn ich mir nicht im Zweifel war, daß diejenigen, die in Berlin zu Beginn der dreißiger Jahre Kommunisten wurden, einer Zukunft voller Gefahren, Verfolgungen und Aufstände entgegengingen. Ein weniger dramatischer Aspekt von Olga Benarios Hingabe an die Revolution war der SSB selbst.4 Diese Organisation hatte ihren Ursprung anscheinend in Neukölln, einem der radikalsten Stadtteile der Arbeiterviertel Berlins mit politisch organisierten sozialistischen und kommunistischen Arbeiterkindern in den sogenannten Aufbauschulen – Schulen, die von der preußischen Regierung gefördert wurden und mit denen ausgewählten Kindern der Übergang zu einer weiterführenden Schule bis hin zum Abitur ermöglicht wurde. Als sie 1926 in Neukölln als energischer neuer Agitpropkader eintraf, regte Olga Benario die Jungkommunisten an der Schule an, nach dem Vorbild der bereits bestehenden »Kommunistischen Studenten-Fraktion« (Kostufra) eine »Kommunistische Pennäler-Fraktion« (Kopefra) zu bilden. Da sich an diesen Schulen Schüler befanden, die in der SPD organisiert waren,

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wurde beschlossen, einen umfassenderen Verband zu gründen, dem beide Gruppen angehörten, den SSB. Als die Sozialdemokraten für die Kommunistische Internationale zu »Sozialfaschisten« wurden, blieb natürlich von diesem Geist der Einheit nicht viel übrig. Der SSB war zu einem Ableger der Kommunistischen Partei geworden. Bis 1928 hatte er sich auch über die roten Stadtteile Berlins hinaus ausgedehnt und hatte Gruppen im Zentrum und im Westen – also in bürgerlichen Schulen wie der meinen – sowie in anderen Teilen Deutschlands. Außerdem brachte er den neugegründeten Schulkampf heraus. Zu der Zeit, als ich mich dem SSB anschloß, im Herbst 1932, lag er bereits in den letzten Zügen, hauptsächlich wohl deshalb, weil finanzielle Einschnitte das Leben für die Aufbauschulen, wo er am stärksten vertreten war, immer schwieriger machten. Einige Gruppen existierten in der zweiten Jahreshälfte 1932 schon nicht mehr oder trafen sich nur unregelmäßig. Ein koordiniertes Handeln war nicht mehr möglich. Selbst in den Hochburgen unserer Sache, etwa in der Karl-Marx-Schule in Neukölln, war die Atmosphäre Ende 1932 gedrückt und resigniert. Es hieß, der Schulkampf habe ab Mai 1932 sein Erscheinen eingestellt, doch ich nehme an, damit war die gedruckte Form gemeint, da ich noch ein später erschienenes Exemplar besitze, das offenbar von Genossen vervielfältigt wurde, die im Umgang mit dem Matrizendrucker nicht sehr geübt waren. Meine kleine Westberliner Zelle des Schülerbunds zeigte jedoch keine Anzeichen der Entmutigung. Anfangs trafen wir uns in der Wohnung der Eltern eines unserer Mitglieder, später regelmäßig im Hinterzimmer eines kommunistischen Lokals in der Nähe von Halensee. Die »Geschichte von unten« der deutschen und der französischen Arbeiterbewegung, die beide keine starke Fraktion von Alkoholgegnern hatten, läßt sich in weiten Teilen als Geschichte der Kneipen schreiben, in deren vorderen Räumen die Genossen sich trafen, um ein Glas Roten oder (wie in Berlin) Bier zu trinken, während ernsthaftere Treffen im Hinterzimmer um einen Tisch abgehalten wurden. Natürlich konnte man vorn Getränke bestellen und nach hinten mitnehmen, doch wurde das nicht gern gesehen. Als richtige Organisation hatten wir einen Orglei (Organisationsleiter), einen Jungen namens Wolfheim – Vorname Walter, wenn ich mich recht erinnere – und einen Polei (politischen Leiter oder Kommissar) namens Bohrer, den ich als pummelig in Erinnerung habe. Deutsche und russische kommunistische Organisationen zogen Abkürzungen aus Silben denen aus Einzelbuchstaben vor wie in Komintern, Kolchos und GuLag, und der Gebrauch der Nachnamen verlieh den Treffen etwas Formelles. Das einzige weitere Mitglied unserer

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Zelle, das mir im Gedächtnis geblieben ist, war ein hübscher und eleganter Russe namens Gennadi (»Goda«) Bubrik, der bei den Treffen in einem Russenhemd erschien und dessen Vater für eine der russischen Agenturen in Berlin arbeitete. Ich glaube, wir haben über die Lage an den verschiedenen Schulen und über unsere potentiellen neuen Mitglieder oder »Kontakte« diskutiert, doch Ende 1932 war die Reichspolitik im Vergleich weitaus dringlicher als die Probleme beispielsweise mit einem reaktionären Lehrer in der Unterprima des Bismarck-Gymnasiums. So beherrschte die politische Lage zweifellos unsere Tagesordnung, wobei Bohrer »die Linie« vorgab, der wir zu folgen hatten. Was haben wir damals gedacht? Es gilt heute allgemein als ausgemacht, daß die Politik, die von der KPD verfolgt wurde und auf der Linie der Komintern lag, in den Jahren des Aufstiegs von Hitler und seiner Partei zur Macht von einer selbstmörderischen Dummheit war. Ihr lag die Annahme zugrunde, daß eine neue Phase des Klassenkampfs und der Revolutionen bevorstehe, wenn der in der Mitte der zwanziger Jahre vorübergehend stabilisierte Kapitalismus zusammenbrechen werde, und daß das Haupthindernis für die notwendige Radikalisierung der Arbeiter unter der Führung der Kommunisten die Beherrschung der meisten nationalen Arbeiterbewegungen durch die Sozialdemokratie sei. Diese Annahmen waren an sich nicht völlig unplausibel, doch vor allem nach 1930 grenzte die Auffassung, aus dem genannten Grund sei die Sozialdemokratie gefährlicher als der Aufstieg Hitlers oder man könne sie sogar als »Sozialfaschismus« bezeichnen, an politischen Wahnsinn.* Und es ging gegen die instinktiven Gefühle, den gesunden Menschenverstand sowie gegen die sozialistische Tradition der sozialdemokratischen wie der kommunistischen Arbeiter (oder Schüler), die sehr gut wußten, daß sie mehr miteinander gemein hatten als mit den Nazis. Damit nicht genug, als ich nach Berlin kam, pfiffen es die Spatzen von den Dächern, daß die politische Hauptaufgabe in Deutschland darin bestand, wie man Hitlers Aufstieg zur Macht verhindern könne. Tatsächlich machte sogar die ultrasektiererische Parteilinie ein wenngleich leeres Zugeständnis an die Realität. Auf unserem Revers trugen wir nicht das Emblem von Hammer und Sichel, sondern die »Antifa«Nadel – eine Aufforderung zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen den Faschismus, allerdings selbstverständlich nur mit den Arbeitern * Wie absurd diese Behauptung war, zeigt sich am Beispiel des Führers der italienischen Kommunisten, Palmiro Togliatti, der noch 1933 (!) genötigt wurde, »Selbstkritik« zu üben, weil er festgestellt hatte, zumindest im Italien Mussolinis könne man unmöglich behaupten, die Sozialdemokratie sei »die Hauptgefahr«.

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und nicht mit ihren von der Macht korrumpierten und klassenverräterischen Führern. Die Sozialisten wußten ebensogut wie die Kommunisten, und sei es auch nur durch das italienische Beispiel, daß ihre Vernichtung das Hauptziel eines faschistischen Regimes war. Konservative oder selbst Teile der politischen Mitte mochten mit dem Gedanken spielen, Hitler in eine Koalitionsregierung einzubinden, weil sie ihn dort zu kontrollieren hofften – eine fatale Fehleinschätzung. Sozialdemokraten und Kommunisten wußten nur zu gut, daß ein Kompromiß und eine Koexistenz mit dem Nationalsozialismus für beide Seiten ein Ding der Unmöglichkeit war. Unsere Methode zur Bagatellisierung der von den Nationalsozialisten ausgehenden Gefahr – die wir ebenso wie alle anderen sträflich unterschätzt hatten – war eine andere. Wir glaubten, wenn die Nazis an die Macht kämen, würden sie nach kurzer Zeit von einer radikalen Arbeiterklasse unter der Führung der KPD gestürzt werden, schon jetzt eine Armee aus drei- bis vierhunderttausend Kämpfern. Hatte sich die Zahl der Wählerstimmen für die Kommunisten seit 1928 nicht ebenso schnell erhöht wie die für die Nationalsozialisten? Ging sie Ende 1932 nicht noch immer steil weiter nach oben, als der Stimmenanteil der NSDAP bereits wieder zurückging? Dennoch zweifelten wir nicht daran, daß die Wölfe eines faschistischen Regimes gegen uns losgelassen würden. Und so kam es dann auch: Die ersten Konzentrationslager des Dritten Reichs waren primär zur Inhaftierung von Kommunisten gedacht. Rechtfertigungen für den Wahnsinn der Kominternlinie lassen sich zweifellos finden, auch wenn es Sozialisten und kritische oder zum Schweigen gebrachte Kommunisten gab, die sich ihr widersetzten. Gut siebzig Jahre später und mit der Klugheit dessen, der als Fachhistoriker weiß, wie die Sache ausging, beurteilt man die Möglichkeit, Hitlers Machtübernahme damals durch ein Zusammengehen aller Antifaschisten zu verhindernn, weniger optimistisch, als wir es später in den dreißiger Jahren getan hatten. Jedenfalls war 1932 eine parlamentarische Mehrheit der Mitte-links-Parteien nicht mehr möglich, selbst nicht in dem doppelt unwahrscheinlichen Fall, daß die Kommunisten bereit gewesen wären, sich ihr anzuschließen, und daß die Sozialdemokraten oder gar das katholische Zentrum sie akzeptiert hätten. Die Weimarer Republik ging mit Brüning unter. Hitler hätte allerdings aufgehalten werden können – durch den Reichspräsidenten, die Reichswehr und die verschiedenen autoritären Reaktionäre und Wirtschaftsführer, die dann ans Ruder kamen und das, was auf den 30. Januar folgte, sicher nicht gewollt hatten. Hitler und die Dynamik des Aufstiegs der NSDAP wurden ja von ihnen nach dem Wahltriumph im Sommer 1932 ge-

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bremst. Es gab nichts Unausweichliches an den Ereignissen, die zu seiner Ernennung als Reichskanzler führten. Doch zu diesem Zeitpunkt gab es nichts, was die Sozialdemokraten oder die Kommunisten daran hätten ändern können. Wie auch immer, in der Rückschau war die Kominternlinie sinnlos. Standen wir ihr in irgendeiner Hinsicht kritisch gegenüber? Sehr wahrscheinlich nicht. Ein radikaler, unumkehrbarer Wandel war das, was wir wollten. Nationalsozialisten und Kommunisten waren Parteien der Jungen und sei es auch nur, weil jüngere Männer von einer Politik der Tat, einer Loyalität und einem Extremismus, der unbefleckt ist von den niedrigen, unaufrichtigen Kompromissen derjenigen, die in der Politik eine Kunst des Möglichen sehen, keineswegs abgestoßen werden. (Der Nationalsozialismus ließ Frauen nur wenig öffentlichen Raum, und in dieser Phase zog die überwiegend männliche kommunistische Bewegung mit ihrem leidenschaftlichen Eintreten für die Rechte der Frauen leider nicht mehr als eine Minderheit außergewöhnlicher Frauen an.) Tatsächlich waren die militanten Verbände der Jungkommunisten die wichtigsten Werkzeuge der Komintern, um die häufig widerstrebenden älteren Führer der Parteien in die Extreme einer Politik von »Klasse gegen Klasse« zu treiben. Natürlich waren die Nazis unsere Feinde auf der Straße, aber das galt auch für die Polizei, und die Chefs der Polizei in Berlin, deren Leute am 1. Mai 1929 an die dreißig Arbeiter getötet hatten, waren Sozialdemokraten. Die KPD hatte diesen Zwischenfall zu einem Paradebeispiel für den Klassenverrat der Sozialdemokraten gemacht. Und wer konnte die Institutionen der Justiz und des Staates in Weimar achten, die im wesentlichen die des Kaiserreichs waren, nur ohne den Kaiser? Wir hatten somit auffallende Ähnlichkeiten mit den jungen Radikalen von 1968, jedoch mit vier wesentlichen Unterschieden. Erstens waren wir keine Minderheit von radikalen Dissidenten in Gesellschaften, denen es wirtschaftlich noch nie so gut gegangen war und deren politische Systeme unstreitig stabil waren. Im wirtschaftlich sturmgepeitschten und politisch morschen Deutschland von 1932 bildeten diejenigen, die den Status quo radikal ablehnten, die Mehrheit. Zweitens, anders als die radikalen Studenten von 1968 waren wir – die Rechten wie die Linken – keine Protestierer, sondern an einem im wesentlichen revolutionären Kampf um politische Macht beteiligt, genauer gesagt disziplinierte Massenparteien, die nach der alleinigen staatlichen Macht strebten. Was immer danach kommen würde, die Eroberung der Macht war der erste, unverzichtbare Schritt. Drittens waren vergleichsweise wenige von uns auf der extremen Linken Intel-

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lektuelle, und sei es auch nur, weil selbst in einem Land mit einem so guten Schulwesen wie Deutschland über 90 Prozent der jungen Menschen nicht einmal eine weiterführende Schulbildung erhielten. Und innerhalb der intellektuellen Jugend waren wir auf der Linken eine bescheidene Minderheit. Der Löwenanteil der höheren Schüler befand sich mit ziemlicher Sicherheit auf der Rechten, wenngleich – wie an meiner Schule – nicht unbedingt auf der nationalsozialistischen Rechten. Unter den Studenten hatte Hitler eine bekanntermaßen starke Anhängerschaft. Der vierte Unterschied war der, daß die kommunistischen Intellektuellen keine kulturellen Dissidenten waren. Anders als in der Ära der Rockmusik verlief die Haupttrennungslinie auf kultureller Ebene nicht zwischen den Generationen, sondern zwischen denen, die den von den Nazis so genannten »Kulturbolschewismus« bejahten, und denen, die ihn ablehnten – es war letztlich ein politischer Konflikt. Mit diesem Kampfbegriff war fast alles gemeint, was die vierzehn Jahre der Weimarer Republik zu einer solch außergewöhnlichen Ära in der Geschichte der Künste und Wissenschaften gemacht hatte. Zumindest in Berlin teilten wir diese Kultur mit den Älteren, denn der prästalinistische Kommunismus, der scharf unterschied zwischen Schriftstellern und Künstlern mit der »richtigen« und solchen mit der »falschen« Linie, lehnte noch nicht die Männer und Frauen der kulturellen Avantgarde ab, die so vorbehaltlos die Oktoberrevolution begrüßt und die Abneigung der KPD gegen die Republik Eberts und Hindenburgs geteilt hatten. Der »sozialistische Realismus« lag noch jenseits des Horizonts. Eine Bewunderung für Brecht, das Bauhaus und George Grosz zog keinen Strich zwischen Eltern und Kindern, wohl aber zwischen der Rechten und einer Art kultureller Volksfront, die sich von den sozialdemokratischen Behörden in Preußen und Berlin bis zu den äußersten Rändern einer anarchistischen Boheme erstreckte. Sie vereinte auch Liberale mit der Linken. Der Hauptgrund, warum die DDR zu ihrer Zeit eine weitaus liberalere Gesetzgebung zu Geburtenkontrolle und Abtreibung hatte als die Bundesrepublik, lag darin, daß für die KPD der Weimarer Republik die Forderung nach Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen eines der Hauptwahlkampfthemen war. Ich blicke auf mein Exemplar des Schulkampfs, und dort, neben Ankündigungen von Kampfreden bekannter sexual-emanzipatorischer Mediziner, findet sie sich noch. Während ich meine Erfahrung der letzten Monate der Weimarer Republik rekonstruiere, wie kann ich meine Erinnerungen von dem trennen, was ich heute als Historiker weiß, was ich heute, nach einem

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Leben politischer Reflexionen und Debatten darüber denke, was die Linke damals hätte tun oder nicht tun sollen? Damals wußte ich über das, was zwischen dem Triumph der Nationalsozialisten bei den Wahlen vom 30. Juli 1932 und Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 geschah, nicht mehr als das, was ich in der Vossischen Zeitung las. Jedenfalls reagierte ich auf die Nachrichten nicht eigentlich politisch oder kritisch, sondern wie ein romantischer Parteigänger oder der Anhänger einer Fußballmannschaft. Der Streik bei der Berliner Verkehrs-Gesellschaft, zu dem es kurz vor den letzten demokratischen Wahlen der Republik Anfang November 1932 kam, war damals und auch später immer wieder Gegenstand von erbitterten Auseinandersetzungen. Er wurde gegen den Widerstand der offiziellen (sozialdemokratischen) Gewerkschaften von der kommunistischen RGO (Rote Gewerkschaftsopposition) erfolgreich ausgerufen, und da die Nationalsozialisten sorgsam darauf bedacht waren, nicht den Kontakt zu den Arbeitern zu verlieren, wurde er auch von der Gewerkschaftsorganisation der Nazis unterstützt. Es erstaunt nicht, daß diese vorübergehende gemeinsame Front zwischen Rot und Braun in den letzten Tagen der Weimarer Republik eine schlechte Presse hatte und bis heute gegen die Kommunisten von Weimar ins Feld geführt wird. Sie zeigt sicherlich die Irrationalität einer Partei, die in dem Wissen, daß der Eintritt Hitlers in die Regierung sehr wahrscheinlich kurz bevorstand, die Sozialdemokraten weiterhin als ihren Hauptgegner betrachtete. Wie die Dinge lagen, trug dieser Streik unmittelbar zwar zu einem steilen Anstieg der bei den Wahlen vom 6. November für die Kommunisten abgegebenen Stimmen bei, während die Nationalsozialisten einen starken Einbruch erlebten – doch beides spielte bald keine Rolle mehr. Trotzdem kann ich mich nicht erinnern, daß ich die Frage mit jemandem während des Streiks diskutiert oder daß sie mich in irgendeiner Form näher beschäftigt hätte. Es war »unser« Streik. Deshalb waren wir dafür. Wir wußten, daß wir der Hauptfeind der Nazis und ihr Hauptangriffsziel waren. Daher erschien uns die Idee, man könnte uns beschuldigen, wir würden Hitler in die Hände arbeiten, absurd. Es war doch alles in Ordnung? Dennoch gab es ein Problem. Selbst als Jugendliche, die von der Unvermeidlichkeit der Weltrevolution überzeugt waren, wußten wir oder hätten es in den letzten Monaten des Jahres 1932 wissen müssen, daß sie im Augenblick nicht zu erwarten war. Wir waren uns sicherlich nicht bewußt, daß die internationale kommunistische Bewegung 1932 fast auf ihrem tiefsten Punkt seit der Gründung der Komintern angelangt war, aber wir wußten, daß wir kurzfristig eine Niederlage erleiden würden. Es waren ja nicht wir, die nach der Macht griffen. Weder die

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Rhetorik noch die praktische Strategie der KPD gingen von einer bevorstehenden Machtübernahme aus. (Im Gegenteil, die Partei traf Vorbereitungen für ein Abtauchen in die Illegalität, wenn auch, wie sich herausstellte, offenbar ungenügende: Ihr Führer Ernst Thälmann wurde in den ersten Monaten des neuen Regimes gefaßt und in einem der neuen Konzentrationslager inhaftiert.) Damit nicht genug, nachdem Hitler an die Macht gekommen war, gab es keinen Raum mehr für Illusionen. Welcher Art waren also die Gedanken, die solche heranwachsenden Möchtegern-Radikale wie mich damals bewegten? Ganz sicher hat uns die Gewißheit, daß wir letztlich eine weltweite Bewegung waren, getröstet. Die triumphierende UdSSR des ersten Fünfjahresplans stand hinter uns. Irgendwo noch weiter im Osten befand sich die chinesische Revolution auf dem Marsch. Daß es einen Sturm über Asien gab (um den Titel von Pudowkins großartigem Film zu zitieren), rückte den Kommunisten von damals Asien vermutlich stärker ins Bewußtsein als jedem anderen. Es war die Zeit, als China für Bertolt Brecht und André Malraux zum Schauplatz der Revolution schlechthin wurde und zum Prüfstein dafür, was sie bedeutete. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, daß die einzige Schlagzeile in den Zeitungen von damals, an die ich mich erinnere (außer denen, die sich auf die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und auf den Reichstagsbrand bezogen), die Meldung von einer Meuterei war, auf einem holländischen Kriegsschiff, der Zeven Provincies, vor Java, wenige Tage nach Hitlers Machtantritt. Es war nicht das Drama des Aufstands, was wir erwarteten, sondern das der Verfolgung. Das Bild in unserer Vorstellung – zumindest in meiner – war das von Gefahr, Festnahme, Widerstand gegen ein Verhör, trotzigem Aufbegehren in der Niederlage. Zumeist versetzten wir uns in die Rolle, die innerhalb von weniger als einem Jahr im wirklichen Leben von Georgi Dimitroff gespielt werden würde, der Göring beim Reichstagsbrandprozeß die Stirn bot. Stets jedoch in der Zuversicht, die wir aus dem Marxismus bezogen, daß unser Sieg schon jetzt in den Text der Geschichtsbücher der Zukunft eingeschrieben war. Soviel zu unserer Phantasie. Und was war mit der Wirklichkeit? Für die Zeit bis kurz vor dem 30. Januar 1933 kann ich mich an keine konkrete kommunistische Aktivität erinnern außer der Teilnahme an den Treffen der SSB-Zelle. Wie alle anderen hatten mich der deutliche Rückgang der Stimmen für die NSDAP am 6. November 1932 und der gleichzeitige starke Stimmenzuwachs für die KPD beflügelt – aber ich bin mir ziemlich sicher, daß ich keine Vorstellung davon hatte, was der Sturz der Regierung Papen bedeutete, die Aktivitäten der kurzlebigen

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Regierung unter General Schleicher, dem letzten Kanzler vor Hitler, oder die Dezemberkrise innerhalb der NSDAP, als Hitler den nach ihm wichtigsten oder zumindest prominentesten Parteigenossen, Gregor Strasser, aus der Partei ausschloß. Andererseits kam es durchaus nicht unerwartet, daß die Braunhemden eine immer aggressivere und gezielt provozierende Taktik verfolgten und daß ihr Treiben von der Obrigkeit stillschweigend geduldet wurde. Am 25. Januar 1933 organisierte die KPD ihre letzte legale Demonstration, einen Massenmarsch durch die dämmrigen Straßen Berlins zur Parteizentrale, dem Karl-Liebknecht-Haus am Bülowplatz (heute Rosa-Luxemburg-Platz), als Reaktion auf einen provozierenden Massenaufmarsch der SA auf demselben Platz. An dieser Demonstration habe ich teilgenommen, wahrscheinlich mit einigen Genossen vom SSB, auch wenn ich mich im einzelnen nicht an sie erinnern kann. Neben der sexuellen Begegnung ist die Aktivität, bei der sich körperliches und seelisches Erleben in höchstem Maße verbinden, die Teilnahme an einer Massendemonstration in Zeiten starker öffentlicher Begeisterung. Im Unterschied zur sexuellen Intimität, die im wesentlichen individueller Natur ist, wird sie kollektiv erlebt, und im Unterschied zum sexuellen Höhepunkt, jedenfalls bei Männern, kann hier das Hochgefühl stundenlang anhalten. Andererseits ist auch hier eine körperliche Aktivität im Spiel – Marschieren, Skandieren von Slogans, Singen –, wodurch das Aufgehen des Individuums in der Masse, das eigentliche Wesen der kollektiven Erfahrung, seinen Ausdruck findet. Die Veranstaltung war für mich unvergeßlich, auch wenn ich mich an keine Einzelheiten mehr erinnern kann. Was mir im Gedächtnis geblieben ist, sind endlose Stunden, in denen wir marschierten oder uns abwechselnd vorwärts schoben und stehenblieben, alles in einer eisigen Kälte – die Berliner Winter sind streng – zwischen düsteren Gebäuden (und Polizisten?) auf den dunklen winterlichen Straßen. Ich kann mich nicht an rote Fahnen und Spruchbänder erinnern, aber soweit es sie gab, gingen sie in der grauen Masse der Demonstranten unter. Woran ich mich erinnere ist, daß wir gesungen haben, unterbrochen von tiefem Schweigen. Wir sangen – ich besitze noch immer das zerfledderte Flugblatt mit den Texten der Lieder, wobei ich meine Lieblingslieder angekreuzt hatte – die »Internationale«, das Lied aus dem Bauernkrieg »Wir sind des Geyers schwarze Haufen«, das sentimentale und ziemlich holprige Begräbnislied »Der kleine Trompeter«, das Erich Honecker sich angeblich für seine Beerdigung gewünscht hat, »Dem Morgenrot entgegen«, das Lied der sowjetischen Roten Flieger, Hanns Eislers »Der rote Wedding« und das langsame, feierliche, strenge »Brüder zur

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Sonne zur Freiheit«. Wir gehörten zusammen. Wie in Trance kehrte ich nach Halensee zurück. Als ich zwei Jahre später, isoliert in England, über die Grundlage meines Kommunismus nachdachte, war dieses Gefühl einer Massenekstase einer ihrer fünf Bestandteile – neben dem Mitgefühl für die Ausgebeuteten, dem ästhetischen Reiz eines vollkommenen und umfassenden intellektuellen Systems, dem »dialektischen Materialismus«, ein wenig von der Blakeschen Vision vom neuen Jerusalem und einer kräftigen Portion intellektueller Spießerfeindlichkeit.6 Doch im Januar 1933 habe ich meine Überzeugungen nicht analysiert. Fünf Tage später wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt. Ich habe bereits das Erlebnis geschildert, als ich die Schlagzeilen las, irgendwo auf dem Heimweg von der Schule mit meiner Schwester. Ich sehe es immer noch vor mir, wie in einem Traum. Wir wissen heute, daß er sich dem Vorschlag der Konservativen widersetzte, die Kommunistische Partei sofort zu verbieten, zum Teil, weil dies einen verzweifelten Versuch der Partei zu einem öffentlichen Widerstand hätte auslösen können, in der Hauptsache jedoch, weil die weitere Präsenz der KP der Behauptung der Nationalsozialisten mehr Überzeugungskraft verlieh, nur die SA könnten das Land vor dem Bolschewismus bewahren, und um der gewaltigen Demonstration der Nationalsozialisten am Tag der Machtübergabe eher einen nationalen Charakter als den eines Parteiaufmarschs zu geben. (Man kann sich unmöglich vorstellen, daß irgend jemand, auch nicht sie selbst, den Aufruf zu einem Generalstreik ernst genommen hätte, den die KPD-Führung angeblich am 30. Januar 1933 erlassen hat, vermutlich damit später niemand behaupten konnte, sie habe nicht einmal eine Geste des Widerstands versucht.) Tatsächlich wurden die SA und die (damals noch wenig bedeutende) SS sehr bald als Hilfspolizei eingesetzt und begannen ihre eigenen Konzentrationslager einzurichten – vorläufig ohne offizielle staatliche Befugnis. Die neue Regierung wollte um jeden Preis verhindern, daß der Reichstag oder irgend jemand im Reichstag auch nur die geringste Möglichkeit zu einer Meinungsäußerung hätte, als sie ihn unverzüglich auflöste und für den frühestmöglichen Termin, den 5. März 1933, Neuwahlen ansetzte. Innerhalb weniger Tage beschränkte eine Verordnung »zum Schutze des deutschen Volkes« die Pressefreiheit und stellte eine bald eingeführte »Schutzhaft« in Aussicht. Am 24. Februar wurden in Preußen die SA und die SS zu Hilfspolizisten ernannt. An diesem Tag führte die Polizei Razzien in den Parteizentralen durch und behauptete, dort befänden sich große Mengen an hochverräterischem Material, konnte jedoch nichts Belastendes von Bedeutung ent-

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decken. Das waren die Umstände, unter denen die letzten nominell freien Wahlen unter Beteiligung aller Parteien der Weimarer Republik abgehalten werden sollten. Und dann, weniger als eine Woche vor dem Wahltermin, wurde ein völlig unerwarteter Joker in den Kartenstapel geschoben, der ohnedies bereits gegen die Opposition präpariert war. In der Nacht des 27./28. Februar wurde das Reichstagsgebäude angezündet und brannte völlig aus. Wer immer der Brandstifter war, die Nationalsozialisten nutzten unverzüglich die Gelegenheit, und zwar so spektakulär effizient, daß die meisten Antifaschisten überzeugt waren, sie hätten den Brand selbst gelegt.* Eine Notverordnung am nächsten Tag setzte die Meinungs-, Presse- und Vereinsfreiheit sowie das Briefund Fernmeldegeheimnis außer Kraft. Darüber hinaus wurden der Reichsregierung auch Eingriffe in die Länder erlaubt, um dort die Ordnung wiederherzustellen. Göring hatte bereits Anweisung gegeben, Kommunisten und andere unerwünschte Personen zu verhaften. Sie wurden in improvisierte Gefängnisse geschleppt, schwer mißhandelt und gefoltert und in manchen Fällen sogar umgebracht. Bis April 1933 befanden sich allein in Preußen 25 000 Personen in »Schutzhaft«. Die unmittelbare Reaktion des SSB oder zumindest mein Anteil daran bestand darin, den Kopierer in die Wohnung meiner Tante zu bringen. Wahrscheinlich war es derselbe, mit dem die letzten Ausgaben des Schulkampfs gedruckt wurden. Die Genossen gelangten zu dem Schluß, da ich britischer Staatsbürger sei, befände ich mich weniger in Gefahr; vielleicht dachten sie auch, die Polizei werde unsere Wohnung nicht so schnell durchsuchen. Einige Wochen lang versteckte ich das Gerät unter meinem Bett, einen ziemlich breiten, braunen Holzkasten von jenem vorsintflutlichen Typ, bei dem Wachsmatrizen, auf die der Text ohne Farbband getippt wurde, auf eine eingefärbte durchlässige Fläche gelegt wurden und jedes Blatt einzeln gedruckt werden mußte. Irgendwann später kam jemand und nahm den Apparat wieder mit. Ich kann mich nicht erinnern, daß er während dieser Zeit benutzt wurde, sonst hätte selbst meine wenig pingelige Tante mit Sicherheit gegen die fast unvermeidlichen schwarzen Farbflecken in meinem Zimmer protestiert. Es war eben noch keine selbstreinigende Maschine. Anscheinend wurde zur Herstellung der Flugblätter, die wir im nächsten Wahlkampf verteilen sollten, eine zweckmäßigere Druckma* Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (2002) ist die allgemeine Meinung unter Historikern noch immer die, daß der Brand von einem jungen Holländer der Linken gelegt wurde, der mit dieser spektakulären Protestaktion die Arbeiter zu einer Reaktion veranlassen wollte, und also kein Manöver der Nationalsozialisten war.

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schine benutzt. Mein Einsatz bei diesem Wahlkampf war vermutlich die erste wirklich politische Arbeit, die ich geleistet habe. Es war zugleich meine Einführung in eine charakteristische Erfahrung der kommunistischen Bewegung: etwas Hoffnungsloses und Gefährliches zu tun, weil man von der Partei den Auftrag dazu bekommen hatte. Zugegeben, wahrscheinlich hätten wir auch so den Wunsch verspürt, beim Wahlkampf mitzuhelfen, doch angesichts der Situation war das, was wir getan haben, eine Geste unserer Hingabe an den Kommunismus, das heißt an die Partei. Es lag auf derselben Linie, daß ich, als ich einmal allein mit zwei SA-Leuten in der Straßenbahn saß und natürlich Angst hatte, trotzdem nicht mein Abzeichen verdeckte oder aus dem Revers nahm. Wir gingen in die Mietshäuser und warfen, im obersten Stock beginnend, die Flugblätter in die Briefschlitze der einzelnen Wohnungstüren, bis wir vor Anstrengung keuchend aus der Haustür traten und uns umsahen, ob Gefahr drohte. Darin lag ein Element des Wildwestspielens – wir waren die Indianer und nicht die US-Kavallerie –, doch die reale Bedrohung war immerhin so groß, daß wir wirkliche Angst empfanden und zugleich eine Erregung darüber, daß wir eine Gefahr auf uns nahmen. Ungefähr ein Jahr später beschrieb ich es in meinem Tagebuch als »ein leichtes, trockenes Gefühl, als ob sich die Haut zusammenzieht, wie wenn man einem Mann gegenübersteht, der zum Schlag auf dich ausholt«. Was würde passieren, wenn hinter der Haustür auf der Straße ein feindseliges Gesicht wartete, wenn eine braune Uniform die Treppe herunterkäme, wenn unsere Ausgänge zur Straße blockiert wären? Das Verteilen von Aufrufen, die KPD zu wählen, war kein Spaß, schon gar nicht in den Tagen nach dem Reichstagsbrand. Auch nicht das Ankreuzen der KPD auf dem Wahlzettel am 5. März, auch wenn 13 Prozent der Wähler es taten. Wir hatten ein Recht darauf, Angst zu empfinden, denn wir setzten nicht nur die eigene Haut aufs Spiel, sondern auch die unserer Eltern. Die Partei wurde offiziell verboten. Die bislang illegalen Konzentrationslager wurden legalisiert. Der Befehl zur Errichtung Dachaus, des ersten der neuen Lager, erging am 20. März 1933, demselben Tag, an dem der Reichstag (jetzt ohne die verbotenen Kommunisten) einem Ermächtigungsgesetz zustimmte, das alle staatliche Macht in die Hände Hitlers und seiner Partei legte und mit dem der Reichstag sich selbst abschaffte. Wenige Tage später erfuhren meine Schwester und ich, daß wir nach England gehen würden. Alle eventuellen Hoffnungen Onkel Sidneys auf Barcelona hatten sich zerschlagen. Hitler hatte Anfang April einen Boykott jüdischer Geschäfte ausgerufen, und als ich mich von meinen Freunden verabschiedete, verabredete ich mit einem von

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ihnen – wahrscheinlich Gerhard Wittenberg –, er solle mir Zeitungsberichte darüber nachsenden. (Er gab mir die Adresse der Kibbuzorganisation, der er sich anschließen wollte, wenn er nach Palästina auswanderte.) Dann reisten wir ab. Auch Tante Mimi wollte nicht länger in Berlin bleiben. Ihre Pension lief nicht besser als ihre früheren Unternehmungen, und unsere Abreise beraubte sie einer wichtigen Einkommensquelle. Ich erinnere mich undeutlich, daß Nancy zu Tante Gretl und dem kleinen Peter fahren sollte – war es in Barcelona? –, von wo aus sie Onkel Sidney und mir nach England folgen würden. Es war ein weiterer verwirrender Schritt im entwurzelten Leben eines landesfremden Kindes. Onkel Sidney holte mich ab. Auch wenn meine Leidenschaft inzwischen ganz der Politik galt, sorgte ich noch dafür, daß das alte Fahrrad mit dem verzogenen Rahmen, das Geschenk meiner Mutter, das mich so oft in Verlegenheit gestürzt hatte, verlorenging, als die persönliche Habe der Hobsbaums für die Unterbringung im Lagerhaus einer Spedition verpackt wurde. Während der nächsten rund dreißig Jahre sollte ich nicht nach Berlin zurückkehren, aber ich habe es bis auf den heutigen Tag nie vergessen.

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I Das Unerwartetste bei meiner Ankunft in England war die schiere Größe Londons, damals noch die bei weitem größte Großstadt in der westlichen Welt, ein riesiger formloser Polyp aus Straßen und Gebäuden, der seine Arme in das umgebende Land hinausstreckte. Selbst nach siebzig Jahren des Lebens in dieser Metropole verblüfft mich die Größe und Zusammenhanglosigkeit dieser Stadt auch heute noch. In meinen ersten Jahren in England habe ich immer wieder gestaunt über die Entfernungen, die ich in ihr wie selbstverständlich zurückgelegt habe: mit dem Fahrrad in nordsüdlicher Richtung zur Schule in Marylebone, von den Höhen des Kristallpalasts und später von Edgware aus; mit dem Wagen ostwestlich, als ich meinen Onkel zwischen Ilford und Isleworth chauffierte, überall Häuserreihen im Blickfeld. Irgendwo zwischen diesen »Zwanzigtausend Straßen unter dem Himmel«* (wie der begabte, aber alkoholkranke kommunistische Schriftsteller Patrick Hamilton seinen Londonroman der dreißiger Jahre nannte) mußte die Hobsbaumfamilie festen Fuß fassen. Wir waren Untertanen König Georgs V. und somit – woran ich Interviewer und interessierte Frager immer noch erinnern muß – in keiner Hinsicht Flüchtlinge oder Opfer des NS-Regimes. In jeder anderen Hinsicht waren wir dagegen Einwanderer aus Mitteleuropa, sogar vorläufige Einwanderer – denn erst 1935 forderten wir unsere Berliner Habe von der Spedition an –, in einem Land, das uns allen unbekannt war, ausgenommen Onkel Sidney, und selbst er hatte seit dem Großen Krieg nicht mehr hier gelebt. Abgesehen von Verwandten kannten wir keine Menschenseele. Wir waren nicht einmal ehemalige Auswanderer, die in ihr Heimatland zurückkehrten, denn die zukünftige Situation der Hobsbaums blieb so nebelhaft, wie sie bis 1933 gewesen war. Der erste Ort, an dem die ganze Familie nach Berlin im Frühjahr 1933 wieder zusammenkam, war eines der zahlreichen Unternehmen Tante * Twenty Thousand Streets Under the Sky, London 1935.

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Mimis bei ihren Ausflügen in die Welt der Gästehäuser, diesmal in Folkestone. Es hätte für so viele Zwischenstationen auf den endlosen Wanderungen der Entwurzelten des 20. Jahrhunderts stehen können. Eine deutsche Dame auf der Flucht äußerte beiläufig ihre Bewunderung für den Charme und den Körperbau eines Schweizer Jungen im Heranwachsendenalter, der offenbar eine Schule irgendwo in England besuchen wollte. Ein deutscher Flüchtling in meinem Alter auf dem Weg zu einem zionistischen landwirtschaftlichen Ausbildungslager versuchte mir ein wenig Judo beizubringen. Eine graue Figur aus dem Südosten Mitteleuropas, ein gewisser Salo Flohr, hielt sich vorübergehend in England auf, nachdem Aljechin es abgelehnt hatte, gegen ihn im Kampf um den Weltmeistertitel im Schachspiel anzutreten, spielte Schach mit Onkel Sidney, während er darauf wartete, nach Moskau zu reisen, um dort gegen den Sowjetrussen Michail Botwinnik zu spielen. Flohr schaffte es nie bis an die Spitze, sollte jedoch eine bekannte Persönlichkeit in der sowjetischen Schachwelt werden und vermutlich einer der wenigen, für die die Einwanderung in Stalins Rußland in den dreißiger Jahren nicht in einer Katastrophe endete. Dort schloß ich an einem sonnigen Morgen auf dem Rasen mittels des Golden Treasury Bekanntschaft mit der englischen Lyrik und las zum ersten Mal Through the Looking Glass (Alice hinter den Spiegeln) von Lewis Carroll. Denn während ich bereits in London zur Schule ging, war ich mit ihnen allen für ein paar Wochen in Folkestone zusammen, wo ich mich auf die Londoner Zulassungsprüfung zur Universität in unbekannten oder fremdartigen Fächern vorbereitete, die in einer Sprache durchgeführt werden sollte, die ich außerhalb der Familie kaum gebraucht hatte. Tatsächlich erwies sich unser Umzug nach England als ein weiterer von vielen fehlgeschlagenen Versuchen der Familien Hobsbaum und Grün – mit Ausnahme von mir selbst und der nicht kleinzukriegenden Tante Mimi –, in den stürmischen Gewässern der Zwischenkriegszeit Boden unter die Füße zu bekommen. Tante Gretl starb 1936, etwas älter als meine Mutter, aber noch in ihren Dreißigern. Onkel Sidney gab 1939, nach einer Zeit der wechselhaften Erfolge, im Alter von fünfzig Jahren den Kampf um eine sichere Existenz in England auf und wanderte nach Chile aus, wohin er Nancy und Peter mitnahm. Santiago, wo er sich wiederverheiratete, blieb seine Heimat. Nancy, deren Leben eigentlich erst in Südamerika und mit dem Krieg begann, kehrte mit ihrem Mann Victor Marchesi 1946 nach England zurück, führte jedoch an der Seite eines Marineoffiziers noch einige Jahre ein Wanderleben und beendete es als englische Rentnerin auf Menorca, wo sich beide

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angesiedelt hatten. Peter, der in Kanada eine Ausbildung als Chemieingenieur machte, verbrachte den größten Teil seines Lebens als leitender Mitarbeiter einer Ölgesellschaft ständig im Ausland und beendete es in Spanien. Nur meine Zukunft wurde 1935 endgültig entschieden, als ich die Begabtenprüfung in Cambridge erfolgreich bestand, und wenig später auch die meiner Tante Mimi, als sie sich in ein zum Verkauf stehendes Grundstück samt einigen Baulichkeiten verliebte. Es lag in einem bezaubernden Naturschutzgebiet in einem Tal der South Downs, eine kurze Busfahrt von Brighton entfernt, und dort verwirklichte sie den Traum ihres Lebens, ein eigenes Zuhause: eine Ansammlung von Schuppen und Ställen, die sie zum Old Vienna Café umbaute. Dort starb sie, herausfordernd rothaarig, 1975 im Alter von 82 Jahren und vermachte den bescheidenen Erlös aus dem Verkauf ihres Grundbesitzes Nancy und mir. Es war das einzige Geld, das irgend jemand von den Grüns oder den Hobsbaums geerbt hat. Nicht daß ich mich schon damals auf eine lange Zukunft als englischer Universitätslehrer vorbereitet hätte, wie es sich dann ergeben hat, auch wenn ich bereits mit siebzehn Jahren die Hoffnung hegte, daß »meine Zukunft ja doch hoffentlich im Marxismus, in der Pädagogik oder in beidem« lag. (Ich wußte sehr gut, daß sie nicht in der Dichtung liegen würde, wenn ich auch der Meinung war, »ich könnte mit Übung einen ganz annehmbaren Stil schreiben«.)1 Im Geiste lebte ich noch immer in Berlin: ein abermals isolierter Heranwachsender, aus einer Umgebung herausgerissen, in der er sich sowohl kulturell als auch politisch glücklich und zu Hause gefühlt hatte. In meinem Tagebuch ist immer wieder die Rede von den Freunden und Genossen, den Ansichten meines alten Schuldirektors, den dramatischen politischen Erfahrungen, die ich zurückgelassen hatte. Das war zweifellos der Hauptgrund, warum ich begann, mein Tagebuch auf deutsch zu führen. Ich wollte nicht vergessen. Mitte 1935 war es der Besuch einer vor kurzem emigrierten deutschen Sozialistin, die versuchte, mich für die Aktivitäten ihrer Gruppe zu gewinnen – ich glaube, sie nannte sich »Neubeginnen« –, was mich daran erinnerte, wie isoliert mein Leben eigentlich war. Sie (»kurz, die ›Moderne Frau‹, von der ich geträumt habe«) war »ein Stück einer Welt, der ich ein paar Monate lang angehört habe, und an deren Existenz ich in meinen Ideenkulissen schon fast vergessen« hatte.2 Nach den aufregenden Erfahrungen in Berlin war England zwangsläufig eine Enttäuschung. Nichts in London hatte die emotionale Aufladung jener Tage, ausgenommen – in einer gänzlich anderen Form – die Musik, mit der mich mein Cousin Denis, der Viola studierte, bekannt

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machte und die wir auf einem von Hand aufgezogenen Grammophon im Dachzimmer des Hauses seiner Mutter in Sydenham abspielten, wo die Familie zuerst eine Unterkunft in London gefunden hatte, und über die wir mit der Intensität jugendlicher Leidenschaft bei Dosen mit stark gezuckerter Kondensmilch (»für Babys ungeeignet«) und vielen Tassen Tee diskutierten: Hot Jazz. Damals gab es noch nicht viel Jazz auf Platten und angesichts unseres schmalen Budgets konnten wir uns auch nicht viele Platten leisten. Die Sorte von Jugendlichen, die sich 1933 am ehesten vom Jazz mitreißen ließ, war selten in der Lage, mehr als ein paar Aufnahmen zu kaufen, geschweige denn eine Sammlung aufzubauen.3 Dennoch wurde in England genug für den Inlandsmarkt produziert: Louis Armstrong, Duke Ellington, Fletcher Henderson und John Hammonds letzte Aufnahmen mit Bessie Smith. Damit nicht genug, kurz bevor als Folge eines Streits zwischen den nationalen Musikerverbänden in den nächsten zwanzig Jahren keine amerikanischen Jazzmusiker mehr in England auftraten, kam die größte aller Bands – ich weiß noch heute die Besetzung auswendig – nach London: das Orchester von Duke Ellington. Es war die Saison, in der Ivy Anderson »Stormy Weather« sang. Denis und ich, vermutlich von der Familie finanziert, gingen zur All-night session (»breakfast dance«) im Palais de Danse im tiefsten Streatham und nuckelten auf der Galerie an einem Bier, da wir die langsam wogende Masse der Tänzer unten verachteten, die sich ganz auf ihre Partner konzentrierten statt auf den wunderbaren Sound. Nachdem wir unser letztes Geld ausgegeben hatten, gingen wir in der Morgendämmerung nach Hause, in Gedanken über dem harten Pflaster schwebend, hingerissen für immer. Ähnlich wie der tschechische Autor Josef Skvorecky, der darüber besser geschrieben hat als viele andere4, erlebte ich diese musikalische Offenbarung im Alter der ersten Liebe, mit sechzehn oder siebzehn Jahren. Doch in meinem Fall ersetzte sie praktisch diese erste Liebe, denn da ich mich meines Aussehens schämte und überzeugt war, äußerlich unattraktiv zu sein, unterdrückte ich bewußt meine körperliche Sinnlichkeit und meine sexuellen Impulse. Der Jazz brachte die Dimension einer wortlosen, blinden physischen Emotion in ein Leben, das sonst fast ausschließlich von Worten und intellektuellen Betätigungen geprägt war. Ich hätte damals nicht gedacht, daß mir mein Ruf als Jazzliebhaber in meinem Erwachsenenleben auf unerwartete Weise gute Dienste leisten würde. Damals und während des größten Teils meines späteren Lebens war die Jazzleidenschaft einer kleinen und gewöhnlich kampfbereiten Gruppe selbst unter den kulturellen Vorlieben von Minderheiten ein

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Abgrenzungsmerkmal. Während zwei Dritteln meines Lebens band diese Leidenschaft die Minderheit, von der sie geteilt wurde, zu einer Art fast im Untergrund lebender internationaler Freimaurergemeinschaft zusammen, die bereit war, ihr Reich all denen vorzuführen, die mit dem richtigen Erkennungszeichen zu ihnen kamen. Der Jazz sollte der Schlüssel sein, der mir die Tür zum größten Teil von dem öffnete, was ich über die Realitäten in den USA weiß, und in einem geringeren Maße über die Verhältnisse in der ehemaligen Tschechoslowakei, in Italien, Japan, Nachkriegsösterreich und nicht zuletzt über bislang unbekannte Teile Großbritanniens. Was zu der extremen Intellektualisierung meiner nächsten Jahre beitrug, war der Umstand, daß ich beständig bei Ersatzeltern lebte, die ihrem leidenschaftlichen Sechzehnjährigen einfach nicht erlauben wollten, sich in ein Leben politischer Militanz zu stürzen, das sein Denken ausfüllte. Sie waren offenbar der Ansicht, daß es für einen zweifellos intelligenten Burschen, der nicht mit der Unterstützung seiner Familie rechnen konnte, vor allem darauf ankam, aus eigener Kraft den Weg auf die Universität zu schaffen. Sie waren der festen Überzeugung, daß ich zu jung sei, um in die Kommunistische Partei einzutreten.5 Aus demselben Grund und trotz der Familiensolidarität mit Onkel Harry waren sie auch dagegen, daß ich mich der Labour Party anschloß, ein Vorhaben, das ich mit meiner Absicht begründete, sie zu unterwandern – eine Taktik, die spätere politische Generationen von Trotzkisten als »Entrismus« kannten. Ich weiß heute, wie sie gegenüber meiner Mischung aus Überheblichkeit und Unreife empfunden haben müssen. Wenn ich die verzweifelten Einträge in meinem Tagebuch von 1934 während dieser Periode einer Familienkrise wiederlese, ziehe ich unwillkürlich den Kopf ein. So mußte ich, auch wenn das Verbot nach und nach gelockert wurde, während der folgenden zweieinhalb Jahre meinen politischen Tatendrang unterdrücken und konzentrierte mich entsprechend auf eine intensive intellektuelle Tätigkeit und eine Lektüre, deren Umfang mich im Rückblick immer noch verblüfft. Nicht daß die britische Revolution – ob mit mir oder ohne mich – besondere Fortschritte gemacht hätte. Da wir für die nächsten drei Jahre so eng zusammenlebten, möchte ich an dieser Stelle an die beiden Menschen erinnern, die für meine Schwester und mich zu neuen Eltern geworden waren. Nancy und ich stimmten darin überein, daß sie für diese Rolle ziemlich ungeeignet waren, doch wenn ich in mein Tagebuch der Jahre 1934/35 blicke, dann haben wir wohl beide die Probleme von Erwachsenen unterschätzt, die gezwungen waren, mit einer Reihe von Migrationen in

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mehrere Länder ebenso fertig zu werden wie mit den besonderen Belastungen durch zwei schwierige Waisenkinder, deren aus dem Gleichgewicht geratenes Leben keine reale Chance hatte, sich zu beruhigen, ganz zu schweigen von einem kleinen Jungen von acht Jahren, der in seinem bisherigen Leben noch kein festes Zuhause hatte und immer wieder krank wurde. Uns beide großzuziehen muß ein Alptraum gewesen sein. Wie auch immer, sie bekamen die »Erziehung« ihres Sohnes ebensowenig hin wie unsere, auch wenn es mir weniger geschadet hat als meiner Schwester. Sie entwickelte eine finstere Entschlossenheit, ein erwachsenes Leben zu führen, das nichts, aber auch gar nichts zu tun haben würde mit dem kontinentalen, emotionalen, streitlustigen, intellektuellen Familienleben ihrer Jugendjahre. Tatsächlich erinnere ich mich an sie besonders liebevoll als eine durch und durch konventionelle anglikanische Dame vom Land und Aktivistin der Konservativen in Worcestershire in den 1960er Jahren. Im Unterschied zu Nancy hatte ich keinen wirklichen Grund, den neuen Eltern Vorwürfe zu machen. Im Gegenteil, ich empfand sie nicht als tyrannisch, sondern, wie ich kurz vor meinem 18. Geburtstag schrieb, als »tragisch«. Ich sah sie, vor allem Tante Gretl, als Opfer des Niedergangs und des Verfalls der alten Konventionen, die die Beziehungen zwischen den Generationen bestimmt hatten. Die viktorianischen Regeln, wie man Kinder großzuziehen hatte, waren passé. Für die Kinder waren sie unangenehm – wenngleich für die meisten wahrscheinlich nicht unerträglich –, für die Erwachsenen dagegen eine wichtige Stütze. Jetzt gab es nichts, das die Lücke ausgefüllt hätte. Paradoxerweise gelangte ich zu analogen Schlußfolgerungen wie meine Schwester von einem entgegengesetzten Standpunkt aus. Die Zukunft sollte keine Gesellschaft ohne anerkannte Regeln und ein festes Gefüge von Erwartungen bringen. »Etwas, das der sozialistische Staat schaffen muß und wird«, schrieb ich in mein Tagebuch, »ist eine neue, eine sozialistische Konvention, die die Nachteile der alten abschafft, ihre Vorteile behalten kann.« Man könnte sogar sagen, daß ich die Instinkte eines Tory-Kommunisten entwickelte, im Unterschied zu den Rebellen und Revolutionären, die sich durch den Traum von einer totalen Freiheit für den einzelnen, einer Gesellschaft ohne Regeln zu ihrer Sache hingezogen fühlen. Ich habe meine Tante Gretl sehr gern gehabt und eine hohe Achtung vor ihrem praktischen Verstand entwickelt. Was zwischen Eltern und empfindlichen Jugendlichen seltener vorkommt, ich unterhielt mich gern mit ihr über die Probleme des Lebens und über manche Bücher, die ich las. Außerdem nahm ich ihre Meinung ernst, selbst wenn es um

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Themen wie Sexualität und Liebe ging, über die ich nichts wußte. Trotzdem konnte sie mir natürlich meine Mutter nicht ersetzen.6 Wenn ich auf der Straße Leuten begegnete, blieb ich manchmal stehen und starrte, schloß für einen Augenblick die Augen und sagte zu mir: »Der oder die hat Augen wie Mama.«7 Als jüngste, hübscheste und gesellschaftlich erfolgreichste der Töchter der Grüns, von ihren beiden Schwestern zärtlich geliebt und die einzige, die nie gezwungen war, sich eine Arbeit zu suchen, trotzte Tante Gretl den »Pfeil’ und Schleudern des wütenden Geschicks« ihres Lebens und ihrer Familie – und deren gab es viele – mit Charme, Mitgefühl, einer natürlichen Sensibilität und einem bemerkenswerten Mangel an Selbstmitleid. »S(idney) ist und bleibt der unverbesserliche Optimist«, schrieb sie in einer kurzen Nachricht an ihre Schwester einige Monate, bevor ich nach Cambridge ging. »Eben hat mich der Surgeon, in dessen Behandlung ich bin verlassen, er eröffnete mir, daß ich einen faustgroßen Tumor im Bauch habe, der heraus muß.« Sie war selbst weder Optimistin noch Pessimistin. Sie nahm die Dinge, wie sie kamen, und sie wußte, daß das, was morgen kommen konnte, der Tod war. In diesem Fall hatte sie Recht. Onkel Sidney holte mich ab, damit ich ihren Leichnam in einem Bett im alten Hampstead General Hospital sehen konnte. Auf meinem Weg nach Belsize Park und zurück komme ich meistens an der Stelle vorbei; heute befindet sich dort der Parkplatz zum Royal Free Hospital. Es war der erste tote Mensch, den ich in meinem Leben gesehen habe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich gegenüber Onkel Sidney Respekt empfunden habe. Ich wollte nicht wie er sein. Ich war sogar bis zur Verächtlichkeit peinlich berührt von seinem Selbstmitleid, seiner Launenhaftigkeit, diesem charakteristischen Schwanken zwischen Wutausbrüchen und einer überschwenglichen Gefühlsduselei und umgekehrt, das eine ein Ausdruck der Ohnmacht, das andere ein Hilferuf. Da wir beide über jenen weit entwickelten Widerspruchsgeist verfügten, dem man in jüdischen Familien so oft begegnet, waren unsere Gespräche zu Hause meistens laut, dramatisch und albern. Ich glaube, für Nancy war er absolut die Hölle, vor allem nachdem der Tod Gretls ihn seines inneren Halts beraubt hatte. Zum Glück war ich damals ein ganzes Stück älter und war mir bewußt, daß ich bald unabhängig sein würde. Und dennoch habe ich an ihn intensive und angenehme Erinnerungen. Wir redeten miteinander, vor allem in Paris und auf langen Reisen, wenn ich ihn chauffierte – denn etwa nach einem Jahr ging es uns finanziell so gut, daß wir einen Wagen kaufen konnten, den ich gerade rechtzeitig zu fahren lernte, um die neu eingeführte Fahrprüfung zu bestehen. Er wußte, wie es in der Welt zuging, und was er darüber sagte, nahm

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ich ernst, nicht zuletzt seine Mahnung, Männer sollten nicht über die Frauen reden, mit denen sie geschlafen hatten. Seine Tips, welche französischen Filme der dreißiger Jahre gut waren, kamen aus berufenem Munde. Er gab mir etwas, was ich offenbar von meinem leiblichen Vater nie bekommen hatte. Und er hoffte wiederum, daß ich ihn für die immer wieder enttäuschten Hoffnungen seines eigenen Lebens entschädigen würde. Denn obwohl Solomon Sidney Berkwood Hobsbaum, klein von Wuchs, mit einem Kneifer unter einer Stirn, die (im Unterschied zu der meines Vaters) senkrechte Falten hatte, der einzige der Söhne von Großvater David war, der ein richtiger Geschäftsmann wurde, hatte er andere Träume als das Geldverdienen. Er besaß die Fähigkeit eines Vertreters, begeistert an das Produkt des Augenblicks zu glauben, ein Panzer, der ihn gegen die Schläge nicht erfolgter Rückrufe und stornierter Aufträge schützte. Jahre später erkannte ich vieles von ihm wieder in Arthur Millers großartigem Stück Tod eines Handlungsreisenden, wie es offenbar vielen intellektuellen Söhnen vieler jüdischer Väter erging. Doch obwohl er nicht ohne Ambitionen war – Napoleon war sein Lieblingsheld in der Geschichte, Rawdon Crawley aus Thackerays Jahrmarkt der Eitelkeit sein Lieblingsheld in der Literatur –, Geld gehörte nicht zu den Dingen, die ihn antrieben. Welcher Art waren seine Ambitionen in seiner Jugend im Londoner East End? Wäre er um einiges später geboren worden, als bei diesem Spiel noch Geld floß und die Engländer Gefallen daran fanden, dann hätte er aus seiner natürlichen Begabung für Schach, die zweifellos beträchtlich war, etwas machen können. Als während des Ersten Weltkriegs in Frankreich Schachspieler gesucht wurden, meldete er sich und wurde von der Front zum Geheimdienst (in die Dechiffrierabteilung) abgestellt. Anscheinend kannte er sich auf diesem Gebiet etwas aus, doch andererseits wäre vermutlich fast jeder in seiner Position, der sich zwischen 1919 und 1933 in Mitteleuropa herumtrieb, auf Leute irgendwelcher Geheimdienste gestoßen. Aus der Politik hielt er sich heraus. In anderer Hinsicht war er nicht kreativ, aber er hatte die Leidenschaft des autodidaktischen armen Juden zur Kultur und liebte es, im Milieu kreativer Menschen zu verkehren – Musiker, Bühnenschauspieler und vor allem Leute vom Film. Auf seinem und Tante Gretls Grammophon in Wien hörte ich zum ersten Mal und später noch oft eine noch etwas viktorianische Auswahl der großen Gesangsklassiker der ersten auf Platten aufgenommenen Generation – Caruso, Melba, Tetrazzini – und das Repertoire der großen, hauptsächlich italienischen und französischen Arien: Verdi, Meyerbeer, Gounod. In der Pra-

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xis waren diese musikalischen Begegnungen moderner: Rose PaulyDreesen, die berühmteste Elektra ihrer Zeit – mit ihrer Karriere war er in den späten zwanziger Jahren verbunden –, war der führende dramatische Sopran in Klemperers Berliner Krolloper, ganz nahe an der Schnittkante der Weimarer Musik. Er hatte versucht, in ihrem Auftrag Dame Ethel Smyth (1858-1944) zu gewinnen, eine edwardianische Feministin und die berühmteste Komponistin ihrer Zeit, mit der er sich als junger Mann irgendwie angefreundet hatte. Doch es war der Film, der sein Herz für immer eroberte. Nicht so sehr die Atmosphäre der großen Tiere, der selbstherrlichen Geschäftsleute, der unternehmerischen Abenteurer und der Hochstapler, auch wenn er sie während seiner Zeit bei der Universal Pictures kennengelernt hatte. Es war das Milieu der Studios – die großen Hallen, die die Welt bedeuteten, kleine emigrierte Juden auf großen Bühnen, Kameras, Scheinwerfer, Ausstattung und Kulissen, alles erfüllt von einer Atmosphäre von Technik, Klatsch, bohemehafter Zwanglosigkeit und Skandal. Ich fuhr ihn dorthin, wenn er die Filmstudios Isleworth und Elstree besuchte. Für ihn war das der Ort, an dem der Mensch mit dem Schöpferischen in Verbindung stand. Es gelang ihm in England, sich dort wieder einen Platz zu erobern, indem er eine englische Firma für fotografisches Material überzeugte, daß er dank seiner Kontakte zur Welt des Films der richtige Mann sei, ihre Filme in Konkurrenz zu Kodak und Agfa zu verkaufen. Nachdem er einige Jahre vergeblich versucht hatte, die Großen der Branche mit einem mangelhaften Produkt auszustechen (»Morgen fährt Onkel Sidney nach Budapest. Wütendes Telegramm von Joe Pasternak. Selofilm, scheint es, ist schlechter Qualität«), gab er den aussichtslosen Kampf auf, emigrierte erneut und investierte vermutlich unter Vermittlung seines Bruders Berk sein kleines Kapital in einen Anteil an einem kleinen chilenischen Unternehmen, das Küchengeschirr herstellte. Bei Kriegsende verließ er dieses wenig aufregende, aber sichere Geschäft auf die vage Andeutung eines alten Geschäftsbekannten hin, er könne vielleicht bei einem neuen Filmunternehmen unterkommen, das in Verbindung mit den neuen Vereinten Nationen anlaufen sollte. Daraus wurde nichts. Der Traum von einem kreativen Leben war vorbei. Er hatte mit Mitte Fünfzig eine einträgliche Stellung für einen Traum weggegeben. Es gelang ihm nicht mehr, etwas anderes dafür zu finden. Dennoch schaffte er es, für eine gewisse Zeitspanne in den dreißiger Jahren, am Rande der europäischen Tragödie, seine Phantasie auszuleben, und ein Teil davon kam mir zugute. Denn wer sonst hätte ihm eine Chance gegeben außer den Leuten im Umkreis der Filmwelt –

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die Flüchtlinge und die Radikalen? So fand er sich als Mitwirkender an politischen Filmen, die von der französischen Linken in den Tagen der Volksfrontregierung finanziert wurden, vor allem Jean Renoirs La Marseillaise, und an den politischen Wochenschauen, die es mir ermöglichten, den großen Tag der Bastille am 14. Juli als durch ein Abzeichen kenntlicher Ordner der Sozialistischen Partei von deren Kamerawagen aus zu verfolgen. Während des Bürgerkriegs knüpfte er wieder an seine spanischen oder genauer gesagt katalanischen Kontakte an. 1937 kehrte er von seinen Besuchen in Barcelona zurück, wo er Gespräche mit dem katalanischen Führer Luis Companys (später durch Franco hingerichtet) und einem Engländer namens Eric Blair* geführt hatte. Das waren verlorene Sachen. Mein Onkel, dessen Sympathien ebenso wie die der großen Mehrheit der Juden aus armen Arbeiter- und Handwerkerfamilien bei der Linken lagen, wünschte nichts lieber, als sich aus der Parteipolitik herauszuhalten. Die Logik der Geschichte trieb ihn dazu, seinen Lebensunterhalt bei und mit den kämpfenden Antifaschisten zu verdienen, solange er und sie noch dazu imstande waren. Bald sollte ihnen das nicht mehr möglich sein. II Das England, in das ich 1933 kam, war fast in jeder Hinsicht völlig anders als das Land, in dem ich dieses Buch zu Beginn des neuen Jahrhunderts schreibe. Die Geschichte der Insel im 20. Jahrhundert teilt sich deutlich in zwei Hälften – kurz zusammengefaßt in die Zeit vor dem fast gleichzeitigen Ausbruch der Suezkrise und des Rock ’n’ Roll und die Zeit danach. Fast jede Verallgemeinerung über das Land, in das ich 1933 kam, gilt für die Zeit nach 1956 nicht mehr, nicht einmal für die berüchtigte Untauglichkeit des Heizungssystems in Privathäusern und -wohnungen und – eine seiner Folgen – den undurchdringlichen Dickensschen Nebel, der bis 1953 noch immer in London gelegentlich alle Räder stillstehen ließ. England war jetzt kein Weltreich und keine Weltmacht mehr, und nach Suez glaubte niemand mehr, daß es dies noch sei. Die Volkskultur kompensierte dies durch die Schöpfung von Erzählungen von einem britischen Heldentum und schließlichen Sieg über die Deutschen im Zweiten Weltkrieg. 1933 sahen die Menschen den Großen Krieg in der Erinnerung nicht als etwas Heroisches, sondern als einen Friedhof. Dagegen wußte jeder, daß ein größeres Gebiet * Der bürgerliche Name von George Orwell (A.d.Ü.).

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als je zuvor auf der Weltkarte rosa eingefärbt war und daß wir das einzige Weltreich waren, auch wenn intelligente Imperialisten einsahen, daß unsere Macht wesentlich eingeschränkter war als unsere Ausdehnung. Trotzdem war die Haut der Briten immer noch weiß. 1933 sah man schwarze und braune Gesichter weitaus häufiger in den Straßen von Paris als in denen von London, und abgesehen vom Veeraswamy’s im West End gab es praktisch keine indischen Restaurants. Überhaupt waren Ausländer jedweder Art selten, da England kein Zentrum des internationalen Tourismus war, der damals ohnedies noch in den Kinderschuhen steckte. Erst Hitler und der Krieg sollten eine kleine Zahl jenes Typs von bürgerlichen »continentals« auf die Insel bringen, deren Reaktionen der ungarische Autor George Mikes in dem Büchlein How to be an Alien (Komische Leute. England und Amerika neu entdeckt, Wien 1951) liebevoll geschildert hat. Entgegen dem einheimischen Mythos war das Land nach Kräften bemüht, Flüchtlinge fernzuhalten, doch anders als Mikes wäre es der nächsten Generation ungarischer Immigranten, den Flüchtlingen von 1956/57, nicht mehr eingefallen, England als ein Land zu beschreiben, in dem es als Ersatz für sexuelle Betätigung Wärmflaschen gab. Die fünfziger Jahre revolutionierten den sexuellen und sozialen Sittenkodex der Jugendlichen in England. In den dreißiger Jahren wäre die Vorstellung von London als der internationalen Stadt des Stils, des Spaßes und der Promiskuität (wie im »Swinging London« der sechziger Jahre) unmöglich gewesen. Für heterosexuelle Männer kam nur Paris oder die französische Riviera in Frage, für homosexuelle Männer – zumindest bis zur Machtübernahme Hitlers – nur Berlin. Für Frauen war der öffentliche Spielraum auf die eine oder andere Art begrenzter. England im Jahr 1933 war noch immer eine abgekapselte Insel, auf der das Leben nach ungeschriebenen, aber zwingenden Regeln, Ritualen und erfundenen Traditionen geführt wurde: überwiegend klassen- oder geschlechtsspezifische, aber zugleich praktisch universelle Regeln, gewöhnlich verbunden mit der Monarchie. Am Ende jeder Aufführung in Theatern und Kinos wurde die Nationalhymne gespielt, und die Menschen standen dafür auf, bevor sie nach Hause gingen. Wo immer man sich gerade befand, während der zwei Schweigeminuten am 11. November, dem Armistice Day, sagte niemand ein Wort. Der »richtige« Akzent verband die Angehörigen der Oberschicht (unter Ausschluß der Parvenüs, die dieses Kriterium nicht erfüllten) und gewährleistete ein respektvolles Verhalten der unteren Ränge, ob klassenbewußt oder nicht, zumindest in der Öffentlichkeit.

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In den dreißiger Jahren waren diese Dinge offensichtlich. Doch natürlich erwartete niemand, daß sie auch auf der anderen Seite der Meere galten, die uns von den Ausländern trennten. England war in jeder Hinsicht insulär. Als ein gutbürgerlicher jüdischer Arzt und Flüchtling eine Einreisegenehmigung nach England als potentieller Hausbediensteter beantragte (das einzige, was überhaupt zur Wahl stand) und anbot, als Butler zu arbeiten, lehnte der Beamte der britischen Paßkontrolle den Antrag ohne jegliche humanitäre oder sonstige Bedenken ab. »Das ist absurd«, schrieb er, »da der Dienst als Butler eine lebenslange Erfahrung erfordert.«8 Er konnte sich keinen nichtbritischen Jeeves* vorstellen. Dessenungeachtet war England nach kontinentalen Maßstäben immer noch ein reiches, technisch und wirtschaftlich fortgeschrittenes und gut ausgestattetes Land, auch wenn für einen geldknappen Jugendlichen Paris zweifellos attraktiver war. In den Zügen und den Untergrundbahnen waren die Sitze gepolstert, auch in der dritten Klasse, in den Straßen der Großstädte gab es kaum noch holpriges Pflaster, und selbst Nebenstraßen auf dem Land waren asphaltiert. Die neuen kleinen Einfamilienhäuser waren mit Bad und Wasserklosett ausgerüstet, hatten einen eigenen Garten und vermehrten sich zu Zehntausenden an den Ausläufern der großen Städte in einem Bauboom, der damals von den wenigsten als solcher vorausgesehen wurde. Nicht nur die Reichen hatten ein Auto, und selbst die meisten Armen besaßen ein Radiogerät. Andererseits waren die materiellen Erwartungen niedrig, und die meisten Engländer waren noch nicht allzuweit aus jenem Bereich herausgekommen, wo das Einkommen hauptsächlich für den bescheidenen notwendigen Bedarf ausgegeben wird, wie ich feststellte, als wir für kurze Zeit unter Angehörigen der bürgerlichen Schicht von Canons Park, Edgware, wohnten, wo Cocktails getrunken wurden und jede Familie über ein Auto verfügte. England war noch weit von einer modernen Konsumgesellschaft entfernt, vor allem seine Jugendlichen. Erst ab Mitte der fünfziger Jahre, als Vollbeschäftigung herrschte, konnten Jugendliche, die arbeiten gingen, über ihr Geld selbst verfügen und brauchten nicht mehr zum Familienbudget beizusteuern. Glücklicherweise waren die am leichtesten zugänglichen Luxusgüter für heranreifende Intellektuelle billig: die Filme, die in immer größeren Palästen gezeigt wurden und denen Musik auf Kinoorgeln vorausging, die unter wechselnder Beleuchtung aus der Versenkung in die * Der Butler Jeeves ist der Held zahlreicher Romane von P. G. Wodehouse (A.d.Ü.).

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Höhe stiegen, und Bücher, die man gebraucht und als Taschenbücher – die neue Penguin-Reihe für sechs Pence das Stück – kaufen konnte oder von den großen Zeitungen als Dreingabe geschenkt bekam, die miteinander darum konkurrierten, wer zuerst eine Auflage von zwei Millionen erreichte. Ich besitze noch immer ein Exemplar von Bernard Shaws Collected Plays, das ich zusammen mit sechs Nummern des Daily Herald der Labour Party erworben habe. Dieser hatte damals für kurze Zeit das Rennen gemacht (und mutierte im späteren Verlauf der englischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zum Boulevardblatt Sun, das seine Auflage zweifellos nicht mehr dadurch steigert, daß es seinen Lesern gute Literatur schenkt). Selbst die Form des Transports, der uns Freiheit gab, war billig, denn wir oder unsere Eltern hielten uns an die Werbesprüche auf der Rückseite der zweistöckigen Londoner Busse: »Steigen Sie wieder aus dem Bus aus. Der gehört Ihnen nie. Für zwei Pence pro Tag bekommen Sie Ihr eigenes Fahrrad.« Und tatsächlich reichten nicht allzu viele wöchentliche Ratenzahlungen aus, um ein Fahrrad zu kaufen – in meinem Fall ein funkelnagelneues RudgeWhitworth für vielleicht fünf oder sechs Pfund. Nach etwa zwei Jahren war das Fahrrad abbezahlt. Wenn physische Mobilität eine wesentliche Bedingung der Freiheit ist, dann war das Fahrrad vermutlich der großartigste Apparat, der seit Gutenberg erfunden wurde, um etwas zu erreichen, das Marx als die volle Verwirklichung der Möglichkeiten des Menschseins bezeichnet hat, und es war der einzige ohne offensichtliche Nachteile. Da Radfahrer mit einer Geschwindigkeit fahren, die der der menschlichen Reaktionen entspricht, und nicht durch eine Glasscheibe vom Licht, der Luft, den Geräuschen und Gerüchen der Natur isoliert werden, gab es in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts – vor der Explosion des Verkehrs von Motorfahrzeugen – keine bessere Methode, ein nicht allzu großes Land mit einer erstaunlich schönen und abwechslungsreichen Landschaft zu erkunden. Mit Fahrrad, Zelt, Primuskocher und dem gerade erst erfundenen Marsriegel erforschten mein Cousin Ronnie (der immer »Marr« sagte, als sei es ein französisches Wort) und ich weite Teile der kultivierten Schönheiten Südenglands sowie auf einer unvergeßlichen, wenn auch winterlichen Tour die wilderen Attraktionen von Nordwales. (Fast sechzig Jahre später wurde die Erinnerung an diese fernen Fahrradtouren samt der Verspeisung von Marsriegeln durch einen Brief wiederbelebt, der mich vom Erfinder persönlich aus Las Vegas erreichte. Forrest B. Mars, damals über achtzig Jahre alt und Eigentümer der größten rein privaten Firma auf der Welt, machte mir das überraschende Angebot, ihm dabei zu assistieren, einem größeren Publikum seine Ideen über die Welt zu

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erklären. Ich lehnte höflich ab. Anscheinend hat eine eifrige junge Studentin aus seiner Bekanntschaft diese einzigartige Kooperation zwischen einem erzkonservativen Unternehmer und einem marxistischen Historiker vorgeschlagen.) Wie sollte ein eingewanderter Jugendlicher 1933 mit diesem seltsamen Land zurechtkommen, das auch sein eigenes war? In mancher Hinsicht gelangte ich dorthin wie Lewis Carrolls Alice ins Wunderland, durch ein paar enge Türen und Durchgänge, die von der Familie geöffnet wurden, insbesondere den Cousins, die zugleich meine besten und überhaupt meine einzigen engen Freunde waren. Zu jenem Zeitpunkt war die englische Familie zusammengeschrumpft. David und Rose Obstbaum, die in den Jahren nach 1870 als erste hier landeten und das H in ihrem Namen zweifellos einem Cockney in der Einwanderungsbehörde verdankten*, waren inzwischen verstorben. Auch drei von ihren acht Kindern lebten nicht mehr: Lou, ein Provinzschauspieler, Phil, der das Tischlerhandwerk der Familie fortgeführt hatte, und mein Vater. (Eine Tochter aus erster Ehe meines Großvaters, meine Tante Millie Goldberg, war vor langer Zeit nach Amerika ausgewandert, die Matriarchin eines Clans, der in den USA und Israel verstreut lebt.) Ein vierter, mein Onkel Ernest (Aron), der ursprünglich meinen Vater bewogen hatte, zu ihm nach Ägypten zu kommen, wo er im Post- und Telegrafendienst arbeitete, starb nicht lange nach unserer Ankunft, inmitten der Messinggeräte und Anekdoten, die an das Leben im Orient erinnern. Er hinterließ eine katholische belgische Witwe, lebenstüchtiger als er, und zwei attraktive Töchter, die für die Cousins nicht ohne Interesse waren. Onkel Berkwood (Ike), mit einer walisischen Frau und fünf Kindern, war seit langem in Chile seßhaft geworden, hielt jedoch mit uns Kontakt. Blieben noch Tante Cissie (Sarah), eine Lehrerin mit einem Ehemann, der ständig »in Geschäften« abwesend war, und Onkel Harry, die unerschütterliche Säule der Familie – und sei es auch nur deshalb, weil er als einziger ein festes, wenngleich bescheidenes Gehalt von vielleicht 4 Pfund in der Woche bezog, als Telegrafist im Postamt, wo er mit Ausnahme der Zeit des Ersten Weltkriegs sein ganzes Leben lang blieb. Er diente auf dem Ypernbogen und später, was ihm das Überleben sicherte, an der italienischen Front. Als Stadtrat der Labour Party im Londoner Stadtbezirk * Das Cockney-Englisch unterdrückt in der Aussprache systematisch das »H« am Anfang eines Wortes. Ein schriftkundiger Beamter, dem sich ein Einwanderer als Obstbaum vorstellte, trug daraufhin wie selbstverständlich das scheinbar fehlende »H« ein.

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Paddington wurde er schließlich dessen erster Labour-Bürgermeister. Die Hobsbaums waren als eine Familie von armen Handwerkern hierhergekommen und hatten sich von ihren ersten überlieferten Adressen in Whitechapel, Spitalfields und Shoreditch vorgearbeitet, ohne jedoch sehr weit zu kommen. In England blieben sie hartnäckig auf den unteren Sprossen der gesellschaftlichen Stufenleiter. Dessenungeachtet erstreckte sich das soziale Universum, in dem sie sich bewegten, über einen großen und repräsentativen Teil Englands. Es reichte von den Unterrichtsstunden, die meine Cousine Rosalie, Tante Cissies Tochter, den Töchtern aufstrebender vorstädtischer Mütter in Sydenham in Tanzen und Vortrag gab – ihnen mit anderen Worten beibrachte, mit bürgerlichem Akzent zu sprechen –, bis zum LabourMilieu des Stadtrats Harry Hobsbaum in North Paddington und der Welt der autodidaktischen plebejischen Intellektuellen und Möchtegernkünstler, in die es meine Cousins gezogen hatte, die Welt der Treffen in den Teeläden von Lyons oder ABC, Diskussionsgruppen, Volkshochschulkurse und jener wunderbaren Institution, der kostenlosen öffentlichen Bibliothek und ihres Lesesaals. Das war die Welt, für die Allen Lane 1936 die erste große Taschenbuchreihe für Autodidakten schuf, Penguin, oder genauer gesagt deren intellektuelle Abteilung, Pelican Books, und Victor Gollancz seinen Left Book Club gründete, in dem mein Cousin Ruby (der Sohn von Onkel Philip) den ersten Beitrag der Familie zur linken Literatur veröffentlichte, Reuben Osborns Freud and Marx. Meine Einführung in die britische Szene außerhalb von Familie und Schule erfolgte durch diese Welt. Zum Teil in Gestalt von Tante Cissies Sohn Denis, einem dunkelhaarigen und – im Rahmen seiner finanziellen Grenzen – dandyhaften jungen Mann, der auf den Nägeln kaute, die Schule vorzeitig verlassen hatte und ab Mitte der dreißiger Jahre sich irgendwie ohne einen festen Job in den unteren Bereichen der Welten der Musik, des Theaters und der Volksbelustigung durchschlug. In der Hauptsache erfolgte sie jedoch durch Onkel Harrys Sohn Ronnie, klein, drahtig und mit stark jüdischem Aussehen, der damals noch bei seinen Eltern in Maida Vale wohnte und eine lebenslange Leidenschaft für das Meer hegte, die er während des Krieges bei der Marine und danach als Seemann auf kleinen Segelbooten in der Nordsee an der Küste von Essex befriedigte. Als ich nach England kam, arbeitete er als Mädchen für alles irgendwo im Inneren des Natural History Museum, damals die Zuflucht einer bunten Schar von autodidaktischen Sinnsuchern und friedlichen Bohemiens, während er sich abends am Regent Street Polytechnic auf das Externenabitur vorberei-

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tete. Anschließend erwarb er an der London School of Economics einen akademischen Grad erster Klasse, der ihm den langsamen Aufstieg innerhalb der Beamtenschaft ermöglichte, bis er als höherer Beamter im Arbeitsministerium in den Ruhestand trat. Ich verweigerte mich jedem Kontakt mit dem vorstädtischen Kleinbürgertum, das ich natürlich mit Verachtung ansah. Da es sich in den Händen von reformistischen Sozialdemokraten befand, war für mich die Arbeiterbewegung, wie sie von meinem Onkel Harry und seinem selbst etwas mehr der Linken zuneigenden Sohn vertreten wurde, enttäuschend, aber auch verwirrend. Anders als die deutschen Sozialdemokraten konnte sie nicht einfach abgeschrieben werden. Denn obwohl Harry ein loyaler Anhänger von Labour war, der seine Partei gegen die erbitterten Angriffe der britischen KP verteidigte, teilte er die allgemeine Annahme innerhalb der britischen Arbeiterbewegung (anders als vielleicht unter denen, die sich unter dem direkten Einfluß der katholischen Kirche befanden), man könne sagen, was man wolle, Sowjetrußland sei schließlich ein Arbeiterstaat. Wie die meisten Aktivisten der Labour Party und der Gewerkschaften schüttelte auch er den Kopf über die Kommunisten, sah in ihnen jedoch letztlich Leute vom selben Gewerbe wie die Mitglieder von Labour. Außerdem konnte ich nicht bestreiten, daß sich im Unterschied zur deutschen Sozialdemokratie nur wenige Labour-Führer an die Bourgeoisie verkauft hatten, als der Premierminister der Labourregierung von 1929, Ramsay Macdonald, und zwei weitere sich den Torys in einer sogenannten »nationalen Regierung« angeschlossen hatten, die das Land weiterregierte bis zum Sturz Neville Chamberlains 1940. Wie konnte man den leidenschaftlich gegen Macdonald eingestellten Großteil der Partei, der im Unterhaus auf ein kleines Häuflein von fünfzig Abgeordneten geschrumpft war, als Klassenverräter im selben Sinne bezeichnen? Andererseits und angesichts des Generalstreiks von 1926 entsprach die Arbeiterbewegung einfach nicht meiner idealen Vorstellung vom »(revolutionären) Proletariat«. Es war verwirrend, weil die britische Szene in mancher Hinsicht deutliche Ähnlichkeiten mit der deutschen aufwies, erschüttert von den Stößen des globalen wirtschaftlichen und politischen Erdbebens der Weltkrise von 1929. Auch die Politik Englands hatte unter Erschütterungen gelitten. Es gab eine Radikalisierung auf der Linken wie der Rechten, auch eine faschistische Bewegung von Schwarzhemden, die für einen Augenblick als ernste nationale Bedrohung erschien. Doch obwohl das Gebäude leicht ins Wanken geriet, stand es offenbar nicht vor einem Zusammenbruch. Nach den Verhält-

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nissen in England zu urteilen, würde die Weltrevolution sicherlich noch wesentlich länger auf sich warten lassen, als man angenommen hatte. Da ich meinem Tagebuch zufolge nicht damit rechnete, das 40. Lebensjahr zu erreichen (mit siebzehn Jahren schien selbst dies noch in fernster Zukunft zu liegen), würde ich sie vielleicht nicht mehr erleben. Doch etwa zu dieser Zeit stand selbst die Komintern vor der Entdeckung, daß es keine Revolution geben werde, bevor nicht zunächst der Kampf gegen den Faschismus und der Weltkrieg gewonnen würde. III Es mag seltsam erscheinen, daß ich bislang noch kaum etwas über die Einrichtung gesagt habe, die ich, bis ich drei Jahre später nach Cambridge ging, seit meiner Ankunft in England besucht habe, länger als jede meiner früheren Schulen in Deutschland und anderswo, nämlich die St Marylebone Grammar School an der Ecke Marylebone Road und Lisson Grove im inneren Teil der Stadt. Es war die alte Schule meines Cousins Ronnie (ich folgte seinen Spuren, indem ich den Debating Cup gewann). Ebenso wie das Prinz Heinrichs-Gymnasium existiert die Schule heute nicht mehr, auch wenn sie nicht durch feindliche Bomben zerstört wurde, sondern durch die Ideologie der siebziger Jahre, eine schlechte Zeit für die höhere Bildung. Sie lehnte die Wahl ab, vor die sie gestellt wurde – entweder zu einer nichtselektiven Gesamtschule für alle Bewerber oder zu einer Privatschule zu werden –, und wurde daraufhin geschlossen. Sie gab mir eine so gute Bildung, wie sie in den dreißiger Jahren in England zu bekommen war, und ich schulde ihren Lehrern einen Dank, den man gar nicht hoch genug veranschlagen kann. Doch aus Gründen, die mir bis heute nicht klar sind, trug sie erstaunlich wenig zu meinem Verständnis von England bei, ausgenommen die Entdeckung, daß im Gegensatz zu den »Herren Professoren« in Berlin alle Lehrer an der St Marylebone Sinn für Humor hatten. (Das ist mir besonders aufgefallen.) Was mir damals nicht auffiel, war der Umstand, daß in England die Lehrer an höheren Schulen sozial, aber nicht intellektuell der universitären Welt hätten angehören können. Anders als die Oberstufenlehrer an deutschen, französischen oder italienischen Schulen jener Zeit waren sie nur in den seltensten Fällen Forscher, Wissenschaftler und künftige Hochschullehrer. Sie führten ihr Dasein in der eigenen Sphäre des Schulunterrichts. Noch überraschender war es, daß ich in meinen drei Jahren dort keine engeren Freundschaften schloß. Höchstwahrscheinlich war die

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historische Kluft zwischen meiner alten und meiner neuen Schule zu breit. Gemessen an den Maßstäben Berlins im Jahr 1932 erschien mir London als ein Rückfall in die Unreife. Es gab keine Möglichkeiten, die Gespräche des Prinz Heinrichs-Gymnasiums von 1931-33 an der St Marylebone von 1933-36 fortzusetzen. Abgesehen von meinem Cousin Ronnie, der bereits Student war, nahm ich sie erst in Cambridge wieder auf. Das war vielleicht auch einer der Gründe, warum ich in den beiden ersten Jahren die mäßige, aber reale politische Radikalisierung einiger meiner Mitschüler unterschätzte. Nach meinem Tagebuch zu urteilen, war ein weiterer Grund schlichte Überheblichkeit. Ich bildete mir ein, das intellektuelle Niveau der Lehrer zu haben und dem Rest überlegen zu sein. Auch sagten mir die sozialen Bestrebungen der Schule nicht zu, eine Karikatur der bürgerlichen Public School (ohne Internat) – Pflichtuniformen und Schulmützen, Vertrauensschüler, rivalisiernde »Häuser«, eine moralische Rhetorik und dergleichen, und ich bemühte mich nach Kräften, mein Mißvergnügen zu bekunden. Die Schule ihrerseits war unschlüssig, was sie mit diesem unvollkommen erzogenen Ankömmling aus Mitteleuropa machen sollte, ohne Kenntnis der Cricket- oder der Rugbyregeln und ohne Interesse an beiden Spielen, aber zu alt, um nicht früher oder später zu einem Vertrauensschüler, und zu intellektuell, um nicht zum Redakteur der Schulzeitschrift The Philologian gemacht zu werden. Dort, zwischen Berichten von Sportveranstaltungen, erschienen meine ersten gedruckten Produkte, die ich alle vergessen habe mit Ausnahme einer ausführlichen Besprechung der Surrealistenausstellung in London 1936. Mit einem der Aussteller verbrachte ich später im selben Jahr ein paar gesellige Abende in Paris. Andererseits war für die Schule nach kurzer Zeit nicht zu übersehen, daß ich Prüfungen mit derselben Leichtigkeit hinter mich brachte wie eine ordentliche Portion Eiscreme und möglicherweise eine gute Chance hätte, ein Universitätsstipendium zu erhalten. Was mich mit diesen Ambitionen der Schule versöhnte, war das hohe Niveau und vor allem die Hingabe der Lehrer an ihren Beruf, angefangen mit dem Schulleiter Philip Wayne (später der Übersetzer von Goethes Faust für die Penguin Classics), der in unserem ersten Gespräch bedauerte, daß ich an der Schule lediglich Latein-, aber keinen Griechischunterricht erhalten könne, und mir stattdessen einen Band Immanuel Kant und eine Auswahl der Essays von William Hazlitt in die Hand drückte. Die Philological School wurde in den Jahren nach 1790 für die Söhne der mäßig begüterten, aber aufstrebenden Eltern von Mary-

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lebone gegründet und vom Londoner County Council als humanistisches Gymnasium weitergeführt und schließlich übernommen. Hier sollte jene Art von Unterricht erteilt werden, die von der unteren Londoner bürgerlichen Schicht benötigt wurde, die nie erwartete, über eine höhere Schulbildung hinauszugelangen oder in der Welt deutliche Spuren zu hinterlassen. Zum Glück für die Generation ihrer Söhne, die seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts begannen, auf die Universität zu gehen, war dies in keiner Weise eine Ausbildung zweiter Wahl, auch wenn es zuweilen so schien, als komme sie zu uns als eine freiwillige Gabe der etablierten Spitzen der Gesellschaft an verdiente gesellschaftlich Niedrigerstehende. Harold Llewellyn-Smith, ein gutaussehender, nie verheirateter Eckpfeiler der Liberal Party mit guten Beziehungen, Sohn des Schöpfers der Labourpolitik im edwardianischen und georgianischen England und auch während etlicher Jahre des Wohlfahrtsstaats, der mich in Geschichte unterrichtete, mich nach Oxbridge bugsierte und schließlich selbst Leiter der Schule wurde, wußte, daß er zur ersten Garnitur gehörte – Winchester und New College, Oxford, im Krieg bei den Scots Guards. Wenn er sich dafür entschieden hatte, an einer obskuren öffentlichen Schule zu unterrichten, unter deren Ehemaligen sich nur ein einziger in der Welt einen Namen gemacht hatte, Jerome K. Jerome, Autor von Drei Mann in einem Boot, dann wohl aus dem gleichen Grund, der ihn auch in die Sozialarbeit in einem Slumviertel in Südlondon geführt hatte. Abgesehen vom Reiz, mit Jungen zu arbeiten, war es der Wunsch, gute Werke unter den Nichtprivilegierten zu verrichten. Er lieh mir seine Bücher, ließ seine Verbindungen für mich spielen, sagte mir (richtig), wie ich die Prüfungen in Oxbridge für ein Stipendium angehen mußte, welche Colleges für mich die richtigen waren (Balliol in Oxford, King’s in Cambridge), und warnte mich, daß ich dort leben müsse wie die Reichen, unter Gentlemen. Er betrachtete mich offensichtlich zu keiner Zeit als jemanden, der auch nur potentiell seiner Welt angehörte. Eine ähnliche soziale Kluft trennte uns vom interessantesten der Lehrer, einem jungen Bachelor in englischer Literatur, der von Cambridge an die St Marylebone kam, um denen, die Ohren hatten zu hören – auf jeden Fall mir –, die frohe Botschaft von I.A. Richards’ Practical Criticism und von F.R. Leavis zu bringen. Ich verschlang New Bearings in English Poetry, die er mir lieh, zusammen mit den Ausgaben der von ihm am meisten bewunderten Dichter, die er als Privatdrucke besaß, und er bewog mich, Leavis’ College Downing als meine dritte Wahl bei der Stipendiatenprüfung anzugeben (nach dem King’s Col-

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lege und, weil dort Maurice Dobb lehrte, Trinity). Der Ruf Leavis’ als großer Literaturkritiker hat das 20. Jahrhundert kaum überlebt, und als ich nach Cambridge kam, war meine eigene Leidenschaft für ihn bereits abgekühlt, aber kein Universitätslehrer in seinem Jahrhundert hatte einen größeren Einfluß auf die Lehre in der Literaturwissenschaft. Er verfügte über eine unglaubliche Fähigkeit, Generationen künftiger Lehrer zu beflügeln, die ihrerseits ihre intelligenten Schüler begeisterten. Englisch war für Mr. Maclean ein Kreuzzug, der den Leuten nahegebracht werden mußte. Ich bin fest davon überzeugt, daß er Lehrer geblieben wäre, wenn er nicht im Krieg gefallen wäre. Auf jeden Fall hat sein Unterricht mir viel gegeben. Ich hatte das Empfinden, daß er vieles mit mir gemeinsam hatte – und sei es auch nur, weil er ebenfalls ein häßliches, unvollständig geformtes Gesicht mit einer großen Nase hatte, dessen braune Augen unbehaglich durch eine Hornbrille blickten, einen großen, schwerfälligen Körper, der nicht genau zu wissen schien, was er mit seinen Armen und Beinen anfangen sollte, und eine empfindsame Seele. Leider hatte ich meine Zweifel, ob er einen Marxisten abgeben würde. Drei Jahre lang war Marylebone mein intellektueller Mittelpunkt – nicht nur die Schule, sondern auch die nur wenige Meter entfernte prachtvolle öffentliche Leihbibliothek im Rathaus eines Bezirks, der damals noch ein London Borough war, wo ich die meisten meiner Mittagspausen damit zubrachte, Bücher aller Kategorien zu lesen und auszuleihen. (Ich habe zwar die Bibliothek seitdem nie wieder genutzt, aber dies war das Gebäude, in dem das Einwohnermeldeamt untergebracht ist, wo ich viele Jahre später, genauer gesagt 1962, mit Marlene getraut wurde.) Meine Bildung habe ich sicher nicht nur auf der Schule empfangen. Während meines letzten Schuljahrs dort (1935/36) diente sie mir überwiegend als Aufenthaltsort für mein Studium, wo ich meine Lektüre selbst aussuchte. Trotzdem bin ich diesem Gymnasium zu unschätzbarem Dank verpflichtet und nicht nur, weil es mir die erstaunlichen Wunder der englischen Lyrik und Prosa nahegebracht hat. Ohne seinen Unterricht und seine Anleitung sehe ich nicht, wie ein der englischen Schule völlig fremd gegenüberstehender Junge, der mit knapp sechzehn Jahren in dieses Land gekommen war, hätte so weit kommen können, innerhalb von wenig mehr als zwei Jahren ein Hauptstipendium in Cambridge zu erlangen und dort die Wahl zwischen mindestens drei Fächern zu haben, die ich mit dem Ziel eines Abschlußexamens studieren konnte. Und es war die St Marylebone Grammar School, die mir half, aus dem Niemandsland, in dem ich (abgesehen von der Familie) seit meiner Abreise aus Berlin ge-

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lebt hatte, wieder auf das entscheidende Territorium der Jugend zu gelangen: das der Freundschaft, Kameradschaft, einer kollektiven und privaten Nähe. IV Wie war eigentlich die intellektuelle Entwicklung dieses jungen Mannes in diesen drei Jahren verlaufen? Zunächst einmal habe ich während dieser Zeit intensiver und umfassender gelesen, vor allem literarische Werke, als zu jeder anderen Zeit davor und danach. Da die Examina an den höheren Schulen weit weniger spezialisierte Kenntnisse erforderten als an Universitäten, ließen sie neugierigen Schülern entsprechend mehr Zeit für eigene Erkundungen – und in diesem Alter macht man fast überall neue Entdeckungen. Außerdem waren in England die Anforderungen in der obersten Klasse geringer als auf dem europäischen Kontinent, allein schon deshalb, weil man zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wählen mußte, so daß die Hälfte des kontinentalen Unterrichtsstoffes wegfiel. Auf der Universität hat niemand, der die Examina ernst nimmt, mehr die Zeit, wie ein wissensdurstiger Siebzehnjähriger einfach alles zu lesen, schnell und mit unersättlicher Neugier. Aber was habe ich mit all dieser Lektüre angefangen? Kurz gesagt, ich habe versucht, ihr eine marxistische, das heißt eine im wesentlichen historische Deutung zu geben. Es gab sonst nicht viel, was ein leidenschaftlicher, aber nicht organisierter und zwangsläufig inaktiver kommunistischer Intellektueller in diesem Alter hätte tun können. Da ich bis zu meiner Abreise aus Berlin außer dem Kommunistischen Manifest kaum etwas gelesen hatte – Taten waren wichtiger als Worte –, mußte ich mir eine gewisse Kenntnis des Marxismus aneignen. Mein Marxismus war der, den ich mir aus den damals einzigen außerhalb der Universitätsbibliotheken leicht zugänglichen Texten angeeignet hatte, den systematisch vertriebenen Werken und ausgewählten Editionen »der Klassiker«, die unter der Schirmherrschaft des Marx-Engels-Instituts in Moskau in der Originalsprache und in massiv subventionierten übersetzten Ausgaben veröffentlicht worden waren. Eigenartigerweise gab es bis zu Stalins bekannter Geschichte der KPdSU (b): Kurzer Lehrgang (1939), die einen wichtigen Abschnitt »Über historischen und dialektischen Materialismus« enthielt, kein formelles Kompendium der sowjetrussischen Orthodoxie auf diesem Gebiet. Als dieser Abschnitt erschien, las ich ihn mit Begeisterung, was viel mit seinen Vereinfachungen im Interesse einer leichteren Verständlichkeit zu tun hatte. Er entsprach weitgehend dem, was ich und vielleicht die meisten der

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englischen intellektuellen Linken der dreißiger Jahre unter Marxismus verstanden. Wir stellten ihn uns gern als »wissenschaftlich« in einem Sinne vor, wie das 19. Jahrhundert Wissenschaft aufgefaßt hatte. Da Philosophie im Unterschied zu den Gymnasien und lycées auf dem Kontinent in England kein Fach im Kanon einer höheren Bildung war, gingen wir nicht mit den philosophischen Interessen unserer Altersgenossen im übrigen Europa und schon gar nicht mit deren philosophischen Kenntnissen an Marx heran. Das trug dazu bei, meine Denkweise innerhalb kurzer Zeit zu anglisieren. Was Perry Anderson als »westlichen Marxismus« bezeichnet hat, den Marxismus eines Lukács, der Frankfurter Schule und von Karl Korsch, gelangte bis in die fünfziger Jahre hinein nicht über den Kanal. Wir begnügten uns mit dem Wissen, daß Marx und Engels Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt hatten, ohne uns die Mühe zu machen herauszufinden, was denn da überhaupt auf die Füße gestellt worden war. Was den Marxismus so unwiderstehlich machte, war seine Gesamtschau. Der »dialektische Materialismus« lieferte zwar keine »Theorie für alles«, aber zumindest einen »Rahmen für alles«, indem er die unbelebte und die belebte Natur mit den menschlichen – kollektiven wie individuellen – Angelegenheiten verknüpfte und einen Wegweiser zum Wesen aller Wechselwirkungen in einer Welt anbot, die in beständigem Wandel begriffen war. Wenn ich mein Tagebuch aus den Jahren 1934/35 wiederlese, dann wird ganz klar, daß sein Schreiber sich damals darauf vorbereitete, ein Historiker zu werden. Mehr als alles andere war ich damals bemüht, marxistische historische Deutungen meiner Lektüre zu erarbeiten. Und doch verfuhr ich dabei in einer Weise, wie ich es höchstwahrscheinlich nicht getan hätte, wenn ich weiter auf dem Kontinent zur Schule gegangen wäre. Die »materialistische Geschichtsauffassung« war natürlich für den Marxismus zentral. Doch England in den dreißiger Jahren war eines der seltenen Länder, das eine Schule von marxistischen Historikern hervorbrachte, und meiner Meinung nach lag das zum Teil daran, daß im Bereich der Geisteswissenschaften in den obersten Gymnasialklassen in England die Literatur den Platz der Philosophie einnahm. Die meisten englischen marxistischen Historiker begannen als junge Intellektuelle, die vor und/oder während ihrer Beschäftigung mit historischen Untersuchungen eine Leidenschaft für die Literatur hegten: Christopher Hill, Victor Kiernan, Leslie Morton, E. P. Thompson, Raymond Williams und sicherlich ich selbst. Das mag zu einer Erklärung für den erstaunlichen Einfluß beitragen, den der Antimarxist F. R. Leavis auf viele ausgeübt hat, die Kommunisten wurden. Kommunisten in Cambridge, die Anglistik studierten, schworen auf ihn.

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Mein eigener Marxismus entwickelte sich als ein Versuch, die Geisteswissenschaften zu verstehen. Was mein Denken damals beschäftigte, waren nicht die klassischen makrohistorischen Probleme der marxistischen historischen Debatte über die geschichtliche Entwicklung – die Abfolge von »Produktionsweisen«. Es war der Ort und das Wesen des Künstlers und der Künste (letztlich der Literatur) in der Gesellschaft oder, marxistisch gesprochen, die Frage »Wie hängt der Überbau mit dem Unterbau zusammen?« Irgendwann im Herbst 1934 begann ich das als »das Problem« zu erkennen und mich damit abzuplagen, wie ein kleiner Hund mit einem riesigen Knochen, mit Hilfe eines extensiven unsystematischen Studiums psychologischer und anthropologischer Literatur und dem Nachhall aus kontinentalen Tagen meiner biologischen, ökologischen und evolutionstheoretischen Lektüre in den Veröffentlichungen von Kosmos. Die Theorie war anspruchsvoll. Marx konnte aus einer genauen Analyse des kapitalistischen Systems das sozialistische voraussagen. »Durch eine genaue Analyse der kapitalistischen Literatur, wenn alle Umstände, alle Beziehungen und Verhältnisse in Anbetracht gezogen werden, muß man ähnliche Schlüße [!] auf die proletarische Kultur [der Zukunft] ziehen können.« Ich ließ die Pläne zu derartig umfassenden Prognosen bald fallen, doch die historische Frage, die ich mir im Alter von siebzehn Jahren stellte, hat meine Arbeit als Historiker dauerhaft geformt. Ich versuche noch immer, »die (sozialen) Einflüße zu analysieren, welche zu verschiedenen Zeiten Form und Inhalt der Dichtung [und allgemeiner von Ideen] bestimmen«. Aber ich hatte wenig mehr Geschichte gelernt, als nötig war, und dazu noch den einen oder anderen Kniff angewandt, um die Prüfung für das Begabtenstipendium zu bestehen. V Anfang 1936 beschloß ich, behutsam – denn »ich bin im 20. Jahrhundert und halte nichts für sicher. Auch bin ich sonst nicht zu hoffnungsfreudig veranlagt« – das Tagebuch, das ich fast zwei Jahre lang geführt hatte, zu beenden. »Das Tagebuch ist mir einfach unnötig geworden«, schrieb ich in der letzten Eintragung. »Gott weiß warum. Vielleicht weil ich mein Scholarship in Cambridge gewonnen habe und nun mit Glück einer wenigstens dreijährigen Unabhängigkeit entgegensehen kann? Vielleicht weil ich in S. [den ich während der Prüfung für das Stipendium kennengelernt hatte und mit dem ich eine lebenslange Freundschaft schloß] zum ersten Mal

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einen Bekannten habe, den ich mir selber gemacht und nicht parasitisch aus der Tasche andrer Leute gezogen habe? . . . Vielleicht weil ich jetzt ein Jahr lang nur meine eigene Arbeit machen brauche? [das heißt, bis ich nach Cambridge gehe] Weil die ganze Atmosphäre für mich optimistischer ist? Weil ich vielleicht, vielleicht weniger ›second-hand‹ leben werde?« Der Augenblick schien gekommen, eine Bilanz zu ziehen, hoffte ich ohne Sentimentalität und Selbstbetrug. Und so sah sie aus: »Eric John Ernest Hobsbaum, ein großer, eckiger, schlenkriger, häßlicher, blonder Kerl von achtzehneinhalb, mit einer raschen Auffassungsgabe, umfangreichem, wenn auch oberflächlichem Allgemeinwissen und originellen zahlreichen sehr allgemeinen und theoretischen Ideen, unverbesserlicher Poseur, umso gefährlicher und hie und da wirksamer, als er sich selbst in seine Pose hineinredet, unverliebt und mit anscheinend gutsublimierter Sinnlichkeit, die sich in Natur- und Kunstekstasen (selten) auswirkt, ohne jeden moralischen Sinn, durchaus egoistisch, manchen Leuten höchst unsympathisch, andern sympathisch, wieder andern, der Mehrzahl, bloß lächerlich. Er möchte ein Revolutionär werden und hat vorläufig keine Organisationsgabe; er möchte ein Schriftsteller werden und hat weder Gestaltungskraft noch Energie; er hat Hoffnung, nicht mal so sehr den Glauben, um die nötigen Berge zu versetzen. Er ist eitel und eingebildet. Er ist ein Feigling. Er liebt die Natur sehr. Und er vergißt die Deutsche Sprache.« In diesem Geist sah ich dem Jahr 1936 und der Universität Cambridge entgegen.

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In einer Gesellschaft wie der englischen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts war der Wechsel aus dem Milieu einer Klasse in das einer anderen eine Form der Emigration. Somit bedeutete das Erringen eines Stipendiums für Cambridge 1935 den Wegzug in ein fremdes neues Land – fremder, weil unvertrauter als jene Länder, in denen ich mich zuvor aufgehalten hatte. Ausgenommen in einer Hinsicht: Nach einer Unterbrechung von drei Jahren kehrte ich jetzt zu der Politik und den Gesprächen zurück, die ich hatte aufgeben müssen, als ich Berlin verließ. Ich kam nach Cambridge mit dem Entschluß, endlich in die Kommunistische Partei einzutreten und mich in die politische Arbeit zu stürzen. Wie sich herausstellte, war ich nicht allein. Meine Generation war die röteste und radikalste Generation in der Geschichte der Universität, und ich befand mich mittendrin. Und ich befand mich damals in Cambridge auch mitten in dem, was – auch mit Blick auf seine größten Namen, Newton, Darwin und Clerk Maxwell – wahrscheinlich die glänzendste Ära in der Geschichte einer Universität darstellte, die für einige Dekaden geradezu das Synonym britischer naturwissenschaftlicher Errungenschaften war. Über mehrere Jahrzehnte hinweg war der Weltruhm der britischen Wissenschaft in Cambridge zu finden. Beides war nicht völlig getrennt voneinander: Die dreißiger Jahre waren eine der wenigen Perioden, in denen ein ungewöhnlich hoher Anteil hervorragender Naturwissenschaftler zugleich politisch radikalisiert war. Ich muß hinzufügen, daß sich die Errungenschaften der Naturwissenschaften im Cambridge der dreißiger Jahre länger gehalten haben als die des politischen Radikalismus der dortigen Studenten. Nur wenige von ihnen haben tiefere Spuren hinterlassen, auch nicht in der öffentlichen Erinnerung, abgesehen von einem unbedeutenderen Nebenprodukt des Kommunismus der dreißiger Jahre, den »Cambridge-Spionen«. Da ich einer der führenden kommunistischen Studenten in Cambridge während der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre war, werden die meisten Leser dieses Buchs, die der Generation des Kalten Kriegs angehören, sicherlich die Frage stellen, was ich über sie gewußt habe. Ich

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kann diese Frage genausogut gleich vorneweg beantworten. Ja, einige von ihnen habe ich gekannt. Nein, ich habe nicht gewußt, daß sie für den sowjetischen Geheimdienst arbeiteten oder gearbeitet hatten, bevor dies in der Öffentlichkeit allgemein bekannt wurde. Die »großen Fünf« (Blunt, Burgess, Cairncross, Maclean und Philby) gehörten einer früheren Studentengeneration an als ich, und meine Altersgenossen brachten keinen von ihnen mit der Partei in Verbindung, außer Burgess, in dem wir einen Verräter sahen, da er Wert darauf gelegt hatte, seine angebliche Konversion zu politisch rechten Ansichten publik zu machen, sobald er die Universität verlassen hatte. Ich kannte keinen von ihnen vor dem Krieg persönlich und nach 1945 lediglich Blunt und Burgess flüchtig. Was ich über sie wußte, kam nicht aus der Politik, sondern durch die »Apostel« (siehe hierzu Kapitel 11) oder von homosexuellen Freunden oder von Überlebenden des Oxbridge-Establishments der Zwischenkriegszeit wie Isaiah Berlin, der seinen Drang, Klatschgeschichten über die Menschen zu verbreiten, die er gekannt hatte, nicht unterdrücken konnte. An Burgess erinnere ich mich nur in Verbindung mit zwei Jahresessen der »Apostel« – eines von 1948 im Royal Automobile Club, bei dem er den Vorsitz hatte (eine entsprechend absonderliche Örtlichkeit), das in den Memoiren von Michael Straight erwähnt wird, den Blunt für die Sowjets anwerben wollte1, und eines, das ich Ende der fünfziger Jahre in einem kurzlebigen portugiesischen Restaurant in der Frith Street in Soho organisiert hatte und zu dem ich ihm in Kenntnis seiner England-Nostalgie eine Einladung unter der Anschrift »Guy Burgess, Moskau« geschickt hatte. An die erste Veranstaltung erinnere ich mich, weil Burgess uns aufforderte, ihm zuzustimmen, daß Katholiken für eine Aufnahme in die »Apostel« nicht geeignet seien, weil ihre Verpflichtung auf das Dogma ihrer Kirche die intellektuelle Offenheit verhindere, die für ihre Gesellschaft so entscheidend sei. An das zweite erinnere ich mich, weil er mich mit einem frühmorgendlichen Anruf aus Moskau weckte, bei dem er sein Bedauern ausdrückte, an dem Dinner nicht teilnehmen zu können, und vermutlich hundertprozentig garantierte, daß mein Telefon von nun an abgehört würde. Sein Anruf trug dazu bei, daß das Essen ein großer Erfolg wurde. Hätte ich Anthony Blunt wirklich gut gekannt, dann hätte ich eine grausame Taktlosigkeit vermieden, die mir heute noch leid tut. Als ich einmal bei einem weiteren Essen der »Apostel« in Soho neben ihm an der Bar stand, kurz nach der Flucht von Burgess und Maclean, und eine flapsig-zynische Bemerkung zu ihm machte, hatte ich keine Ahnung von der engen emotionalen Verbindung zwischen ihm und Burgess. Meine Worte mußten ihn verletzt haben, aber

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wie sollte man das wissen? Wenn es sein mußte, verriet dieses längliche, elegante, leicht herablassend wirkende Gesicht keine Gefühlsregung. Nach Angaben seines sowjetischen Betreuers war er der hartgesottenste des Haufens. Er war ein Mann von solch rücksichtsloser Selbstbeherrschung, daß er an dem Tag, als er aufflog und im Haus meines Freundes Francis Haskell von Journalisten und Paparazzi belagert wurde, in aller Seelenruhe Fahnen korrigierte. Ich kannte diejenigen meiner Altersgenossen, die später Sowjetagenten wurden, als militante Mitglieder der Studentenorganisation der Partei, so daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht für eine Tätigkeit angeworben worden waren, die nach allgemeiner Übereinkunft etwas völlig anderes war als die offenen Aktivitäten einer legalen Partei und im Fall ihrer Entdeckung diese möglicherweise in Mißkredit gebracht hätte. Wir wußten, daß es diese Tätigkeit gab, wir wußten, daß wir darüber keine Fragen stellen sollten, wir respektierten diejenigen, die diese Arbeit übernommen hatten, und die meisten von uns – allen voran ich selber – hätten sie ebenfalls übernommen, wenn man sie dazu aufgefordert hätte. In den dreißiger Jahren verliefen die Trennungslinien der Loyalität nicht zwischen, sondern innerhalb der einzelnen Länder.* Nach diesem kurzen Intermezzo möchte ich nach Cambridge in den dreißiger Jahren zurückkehren. Zunächst einmal ist es notwendig, sich einen Begriff davon zu machen, wie anders dieser Ort trotz aller Kontinuitäten damals im Vergleich zu heute war. Seit ich dort 1935 meine Prüfung für das Scholarship gemacht habe, stehe ich mit Cambridge in Verbindung, genauer gesagt mit dem King’s College, denn abgesehen davon, daß die Universität meine Prüfungen für einen BA und einen Ph.D. abnahm, hielt sie mich strikt auf Distanz. Andererseits sind meine Bindungen zum King’s College bis heute ungebrochen. Es gibt keine Tages- oder Nachtzeit, keine Jahres* ». . . die Grenzen zwischen pro- und antifaschistischen Kräften [liefen] mitten durch jede Gesellschaft hindurch. Nie zuvor hatte es eine Zeit gegeben, in der Patriotismus – im Sinne der automatischen Loyalität des Bürgers gegenüber seiner nationalen Führung – weniger bedeutet hätte. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in zumindest zehn alten europäischen Staaten die Regierungsgeschäfte von Männern geführt, die zu Kriegsbeginn (oder im Falle Spaniens: zu Beginn des Bürgerkriegs) Rebellen oder politische Exilanten gewesen waren, oder zumindest Persönlichkeiten, die ihre Regierung als unmoralisch und illegitim betrachtet hatten.« E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München 1995, S. 186.

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zeit und keine Phase in meinem Leben seit 1935, in der ich nicht von der Gewölbebrücke über den Cam auf die gleichmäßige weite Fläche des großen Rasens geblickt habe, hin zu der außergewöhnlichen Kombination der kargen gotischen Rückseite der Kapelle, die nichts von den in ihrem Innern verborgenen Wundern ahnen läßt, und auf die ebenso sparsame Eleganz des Gibbs Building aus dem 18. Jahrhundert: und immer wieder stockt mir vor Staunen der Atem wie beim ersten Mal. Nicht vielen Menschen ist dieses Glück vergönnt. Für junge Menschen, die wie die Stipendiaten des King’s College ihre gesamte Studentenzeit in einem College verbrachten, war die Zeit in Cambridge so, als genieße man die beständige und beneidete öffentliche Gesellschaft einer allgemein bewunderten Frau – man könnte sagen, es war, als ginge man zu allen Partys mit Boticellis Primavera. (Die häusliche Seite des Collegelebens in den dreißiger Jahren – das Pinkeln in den Abfluß im »gyp room«*, da das nächste Bad und die Toilette drei Treppenfluchten, einen Hof und ein Kellergeschoß weit entfernt sein konnten – war vielleicht weniger erhebend.) Doch selbst die Mehrzahl der Studenten, die zumindest einen Teil des Jahres in einem entfernt gelegenen möblierten Zimmer in einer viktorianischen Häuserflucht verbrachten, konnten der schieren Macht von sieben Jahrhunderten Lehre und Lernen in Cambridge nicht entrinnen. Alles war dazu angetan, uns zu Pfeilern einer Tradition zu machen, die bis ins 13. Jahrhundert zurückreichte, obwohl einige ihrer scheinbar ältesten Ausdrucksformen wie das sogenannte »Festival of Lessons and Carols« am Weihnachtsabend in der Kapelle des King’s College tatsächlich erst wenige Jahre vor meiner Ankunft erfunden worden waren. (Jahre später sollte dies eine Konferenz und ein Buch zum Thema »Die Erfindung der Tradition« anregen.)2 Die Studenten trugen stets ihre kurzen schwarzen Talare, wenn sie zu den Vorlesungen und zur wöchentlichen Sitzung mit ihrem Supervisor, zum obligatorischen Gemeinschaftsessen in den Collegesälen und nach Einbruch der Dunkelheit (zusätzlich mit Barett) auf die Straße gingen, beaufsichtigt von Proctors in noch prächtigeren Talaren und Baretts, in Begleitung ihrer »Bulldoggen«. Die Dons (Universitätslehrer) betraten die Hörsäle mit wehenden langen Talaren und exakt sitzenden viereckigen Baretts (»mortarboards«) auf dem Kopf.3 Stipendiaten lasen vor dem Essen das lateinische Tischgebet vor der stehenden Menge und Bibeltexte in alten Kapellen. (Nicht ohne Hintergedanken ließ mich der »chapel * Eine Art Dienstbotenraum für das Dienstpersonal für die Studenten (in Cambridge »gyps«, in Oxford »scouts« genannt).

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dean«* im King’s eine Stelle aus dem Buch des Propheten Amos im Alten Testament vorlesen, der stark an einen bolschewistischen Prediger erinnerte.) Die Cambridge-Vergangenheit war natürlich ebensowenig wie die zeremonielle Vergangenheit des öffentlichen Lebens in England mit ihren Phantasiekostümen eine chronologische Abfolge der Zeit, sondern ein synchrones Sammelsurium ihrer erhaltenen Reliquien. Der Ruhm und die Kontinuität von sieben Jahrhunderten sollten uns inspirieren, in unserem Gefühl der Überlegenheit bestärken und vor den Versuchungen einer unbedachten Änderung warnen. (In den dreißiger Jahren verfehlte diese Absicht in eklatanter Weise ihren Zweck.) Der Hauptbeitrag Cambridges zur politischen Theorie und Praxis, wie er brillant von dem Altphilologen F. M. Cornford in seiner kleinen Satire Microcosmographia Academia (1908) geschildert wurde, war »das Vorzeitigkeitsprinzip«. Was immer jemand vorschlagen mochte, die Zeit dafür war noch nicht reif. Wirkungsvoll verstärkt wurde es durch das »Prinzip des eindringenden Keils«. Natürlich führten wir Studenten ein Leben weit unterhalb der Ebene der Lehrer, die sich dieser Grundsätze bedienten, doch diejenigen unter uns, die Dons wurden, lernten ihre Wirkung bald zu schätzen. Cambridge hat sich seit den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts so sehr verändert, daß man sich kaum vorstellen kann, wie weltabgewandt und borniert dieser Ort in den dreißiger Jahren selbst in wissenschaftlicher Hinsicht war – abgesehen vom unvergleichlich hohen Niveau der in England wie im Ausland bewunderten Naturwissenschaften. Außer der Ökonomie, die Weltniveau hatte, weigerte sich die Universität, die Sozialwissenschaften anzuerkennen. Ihre geisteswissenschaftlichen Veranstaltungen waren bestenfalls zusammengestoppelt. So absurd es klingt, außerhalb der Naturwissenschaften zeigte der größte Teil der Universität kaum Interesse an der Forschung und gar keines an höheren akademischen Prüfungen. Das Doktorat konnte vielleicht gerade noch als deutsche Marotte gelten, eher aber als eine Affektiertheit des Kleinbürgertums. Noch am Vorabend des Krieges gab es in Cambridge nicht einmal 400 Absolventen, die eine Dissertation vorbereiteten.4 Die Universität blieb in der Hauptsache eine Anstalt zur Verleihung der untersten akademischen Grade an junge Männer und weitaus seltener junge Frauen und legte bei der Leistungsbeurteilung zweierlei Maßstäbe an. So war es extrem schwer, in Cambridge einen * Es gab zwei Dekane: den Laien, der sich um das Benehmen der Studenten kümmerte, und den Geistlichen, der für den Gottesdienst in der Kapelle verantwortlich war. Der letztere war der »clerical« oder »chapel dean«.

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akademischen Grad erster Klasse (»Cambridge First«) oder gar erster Klasse mit Stern zu erlangen, aber noch schwerer war es, überhaupt keinen Grad zu erhalten, da die untersten Grade (»passes«) praktisch verschenkt wurden. Ich erinnere mich an eine Diskussion während einer Sitzung der Prüfer zum letzten Examen für den honours degree in Wirtschaftswissenschaft zu Beginn der fünfziger Jahre – ich beurteilte einige Jahre lang die Prüfungsarbeiten in Wirtschaftsgeschichte –, auf der wir den nicht rein ironisch zu verstehenden Beschluß faßten, jeden durchkommen zu lassen, der den Unterschied zwischen Produktion und Konsumtion kannte. Es war typisch für diese Zweigleisigkeit, daß solche akademischen Grade unter den Dons als »Trinity Thirds« bekannt waren, weil Trinity, das College Isaac Newtons, zahlreiche junge Männer dieser Sorte beherbergte, zur selben Zeit jedoch auch vermutlich mehr gegenwärtige und zukünftige Nobelpreisträger als jede andere Bildungseinrichtung seiner Größe auf der ganzen Erde. Als ich nach Cambridge kam, war ein künftiger Nobelpreisträger (R.L.M. Synge) gerade Forschungsassistent in Biochemie und ein weiterer (J.C. Kendrew) befand sich am Anfang seines ersten Trimesters. Die damalige Verwaltung der Universität und des Colleges wären über das Cambridge des Jahres 2000 verblüfft und entsetzt, mit seinen »Wissenschaftsparks«, Geschäftsverhandlungen mit Weltunternehmen und Träumen, »nicht von akademischen Ehren, sondern von Profit«.5 Ihr Cambridge war eine introvertierte Kleinstadt auf dem Land am Rand von East Anglia. Da es dort keine Industrie gab, wurde die Stadt von der Universität, von der sie in einer altmodischen Weise abhängig war, nicht nur überschattet, sondern nachgerade aufgesaugt. So stellte sie für die Colleges Dienstpersonal sowie Vermieterinnen von möblierten Zimmern, um die Mehrzahl der jungen Studenten zu versorgen, für die in den Räumlichkeiten der Colleges kein Platz war. Darüber hinaus bot sie vielfache Anreize für die 5000 Studenten, die man für zahlungskräftig genug hielt, mehr auszugeben, als ihr monatliches Kostgeld erlaubte. Nach späteren Maßstäben gab es erstaunlich wenig Möglichkeiten, auswärts essen zu gehen, auch wenn das Arts Theatre, eine von Maynard Keynes’ zahlreichen Initiativen, gerade eröffnet worden war und auch ein elegantes Restaurant beherbergte. In der Stadt gab es zehn Kinos. (Der Besuch von Filmen war an den High Tables des Lehrpersonals so sehr Usus, daß 1938 für einen Essay in Altphilologie mit dem Titel »De fratribus Marx« (»Über die Marx Brothers«) ein Preis ausgeschrieben wurde.) Was die Spießigkeit von Cambridge noch schlimmer machte, war der Umstand, daß der Ort innerhalb der Collegemauern das Leben der

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Dons definierte, die dort ganzjährig wohnten – viele von ihnen unverheiratete Wissenschaftler, wie es damals häufig der Fall war. Der Zweite Weltkrieg, der so viele von ihnen in die größere Welt hinaus schickte – wenn auch zuweilen nicht weiter als bis zum Dechiffrierzentrum in Bletchley –, lag noch in der Zukunft. Man konnte den Eindruck gewinnen, daß einige von ihnen die Welt jenseits von Royston, zehn Meilen im Süden, nur vom Hörensagen kannten. Überhaupt war die Universität Cambridge verglichen mit Oxford erstaunlich weit von den Zentren des nationalen Lebens entfernt, was vielleicht erklärt, warum im Unterschied zu den Abgängern Oxfords keiner seiner Ehemaligen im 20. Jahrhundert britischer Premierminister geworden ist. Norfolk, wohin die Dons in den Urlaub fuhren, und erst recht Newmarket mit der berühmten Galopprennbahn, schienen beträchtlich näher zu liegen als London. Dieser Art war der Ort, an den ich kam, aus einer Familie, von der bislang noch kein Mitglied eine Universität besucht, und von einer Schule, die noch nie einen ihrer Zöglinge nach Cambridge entsandt hatte. Es war nicht die Art von Universität, die ich mir vorgestellt hatte. (In den Ferien entdeckte ich sehr bald eine, die meiner Vorstellung von einer »wirklichen« Universität entsprach und die ich auch besuchte, die London School of Economics.) Cambridge war aufregend, es war wunderbar, aber es war gewöhnungsbedürftig für einen Fremden, der keine Menschenseele kannte, während meinem Eindruck nach alle anderen irgend jemanden zu kennen schienen – einen Bruder, einen Cousin oder zumindest ältere Semester von ihren Schulen her. Die Dons hatten sogar schon deren Väter und Onkel als Studenten gehabt. Ich wußte nicht – auch wenn jeder in Cambridge es bald entdeckte –, daß Cambridge das Zentrum jenes Netzes aus untereinander verheirateten Akademikerfamilien bildete, des »Intellektuellenadels«, wie mein Freund und Konsemester in Cambridge, Noel Annan, diese Erscheinung nannte, die in England eine ganz zentrale Rolle spielte. Noch immer gab es zahlreiche Ricardos und Darwins, Huxleys, Stracheys und Trevelyans, unter den Studenten ebenso wie unter den Dons. Auf der anderen Seite war nichts offensichtlicher, als daß Cambridge von den Stammesbräuchen der britischen Internate durchdrungen war, von denen immer noch die meisten geisteswissenschaftlichen Studenten kamen und die Leuten wie mir nur aus Jungenzeitschriften bekannt waren, gedacht für Leser, die keine solche Einrichtung besucht hatten. So wurde beispielsweise zu meiner Überraschung das akademische Leben jeden Nachmittag für zwei bis drei Stunden unterbrochen, weil man annahm, daß zu dieser Zeit die jungen Männer Spiel und Sport betrieben. Ich fand

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mich plötzlich in Gesellschaft von Etonschülern (sie hatten noch immer eine besondere Beziehung zum King’s College, da Heinrich VI. 1440 beide Einrichtungen gleichzeitig gegründet hatte), Abgänger der Rugby School, Carthusians (Charterhouse School), Stoics (Stowe School) und Scharen von Studenten, die von größeren und manchmal praktisch ununterscheidbaren kleineren Public Schools kamen. Bereit, einen solchen Abnehmerkreis zu versorgen, lieferte die Firma Ryder & Amies, noch immer mit Sitz an der King’s Parade gegenüber der Universitätskirche Great St Mary’s und dem Senate House, 656 verschiedene Krawatten für Ehemalige verschiedenster Schulen, Collegestudenten, Mitglieder von Clubs und anderen Einrichtungen, nötigenfalls hausintern entworfen, sowie Zylinder, Blazer und die übrige Ausrüstung der traditionellen Cambridge-Studenten.6 Es gab keine Vertrauensschüler, doch die wöchentlich erscheinende Granta für die Studenten brachte regelmäßig Kurzbiographien von Personen, die als wichtig galten, zum Beispiel Präsidenten großer Sportclubs und anderer Vereine, unter der Überschrift »In Authority« (»in Amt und Würden«), während die Namen der ehemaligen Granta-Redakteure die bescheidene Überschrift »In Obscurity« (»ausgeschieden«) erhielten. In praktischer Hinsicht bedeutete die Universität für die Neuankömmlinge ihr College. Die Studienanfänger am King’s hatten es leichter. Die Stipendiaten, die als solche das Recht hatten, im College zu wohnen, wurden in ihrer Gesamtheit in ein düsteres Quartier verfrachtet, das allgemein als »The Drain« (»Abfluß«, »Kanalisation«, auch »Aderlaß«) bekannt war, und hatten damit die Möglichkeit, sich gegenseitig kennenzulernen. Der Sittenkodex im King’s College begünstigte außerdem eine Zwanglosigkeit in den Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern, Älteren und Jüngeren. Ich kann nicht von mir behaupten, ich sei ein besonders typischer Kingsman gewesen – das College befand sich auf seinem gesellschaftlichen Höhepunkt und war das Zentrum für Theater und Musik in Cambridge –, oder für sein Establishment von besonderem Interesse. So hatte ich beispielsweise nie Gelegenheit, seinen berühmtesten Fellow, Maynard Keynes, kennenzulernen. Doch das King’s war liberal und tolerant, sogar gegenüber Anhängern von Mannschaftsspielen, religiösen Gläubigen, Konservativen, Revolutionären und Heterosexuellen, und selbst gegenüber den weniger gutaussehenden Abgängern von Gymnasien. Zum Glück respektierte es auch trotz seines Provosts den Intellekt und hatte einen Sinn für seine Pflicht gegenüber gescheiten Studenten. Nach dem Krieg erhielt ich innerhalb eines Jahres nach meinem Abschied von der Armee eine Anstellung als Universitätsdozent, ganz al-

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lein aufgrund der Überzeugungskraft eines Zeugnisses über meine Leistungen als Student, das von meinem Supervisor vor dem Krieg, Christopher Morris, geschrieben wurde, anerkanntermaßen ein Meister auf diesem Gebiet der literarischen Komposition. Da er auch ursprünglich in Verbindung mit meinem Stipendium ein Gespräch mit mir geführt hatte, nehme ich an, daß ich meine Zulassung zum King’s College seiner Empfehlung zu verdanken habe. Einige Jahre älter als ich und – untypisch für das College – ein Familienmensch, war er ganz ein Don der alten Schule, der in erster Linie ein Lehrer oder vielmehr ein persönlicher Tutor war. Er sah seine Aufgabe darin, durchschnittlich begabten jungen Menschen von einer Public School im letzten Examen für den honours degree zu einem anständigen akademischen Grad zweiter Klasse zu verhelfen. Darüber hinaus begnügte er sich damit, sogenannte »sokratische Fragen« zu stellen, seine Schüler zu nötigen, Klarheit darüber zu gewinnen, was sie in ihrem wöchentlichen Aufsatz geschrieben hatten oder eigentlich hatten schreiben wollen. Das funktionierte in meinem Fall ganz hervorragend, auch wenn ich seine kritischen Bemerkungen über meinen Prosastil nicht akzeptierte. Ich hatte keine besonders hohe Meinung von ihm, und wir hielten zueinander Distanz, aber ich verdanke ihm eine Menge. Weniger Kontakt hatte ich zu den drei bedeutenden Historikern des Colleges. Als Professoren waren zwei von ihnen von der Supervision der Studenten entbunden: der kleine, geistreiche, ausgezeichnete und unglaublich konservative F. E. Adcock, Professor für Alte Geschichte, und der beeindruckende und knorrige John Clapham, der sich gerade von seinem Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte zurückgezogen hatte, Autor einer der Seltenheiten in der Cambridger Geschichtswissenschaft zwischen den Weltkriegen, eines bedeutenden Werks über ein bedeutendes Thema, seine dreibändige Economic History of Modern Britain (1926-1938). Er war Bergsteiger, was dem Ethos des King’s College entsprach; was diesem jedoch zuwiderlief, war der Umstand, daß er in langjähriger Ehe lebte und dem Nonkonformismus Nordenglands huldigte, woher er stammte. (Niemand hätte vermutet, daß sowohl Provost Sheppard als auch Maynard Keynes aus baptistischen Familien aus der Provinz stammten.) Ich wünschte, ich hätte mehr vom dritten, John Saltmarsh, gelernt, der mein Supervisor war, denn er veröffentlichte kaum etwas, brachte jedoch seine ganze enorme Gelehrsamkeit in seinen Vorlesungen unter, die ich nicht besuchte. Der Mann, der von 1933 bis 1954 über die Geschicke des Colleges wachte (die, wovon wir nichts wußten, sich ziemlich zufriedenstellend entwickelten, dank der finanziellen Tüchtigkeit seines Förderers, Mit-

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spielers und Genossen bei den »Aposteln«, Maynard Keynes), war Provost Sheppard. Er stand damals in seinen Mittfünfzigern, doch da sein volles Haupthaar während des Ersten Weltkriegs weiß geworden war, hatte er den Charakter eines alten Herrn angenommen, der innerhalb des Colleges in dunklen steifleinenen Anzügen und einem gestärkten Klappenkragen herumschlurfte und mit den Worten »bless you, dear boy« grüßte, wenn er unterwegs jungen (und bevorzugt gutaussehenden) Studenten begegnete. Jeden Sonntagabend hielt er in seiner Dienstwohnung offenes Haus und setzte sich zu den jungen Männern auf den Boden, wo er so tat, als versuchte er, oder vielleicht versuchte er auch wirklich, seine Pfeife anzuzünden, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Es war bei einer dieser Gelegenheiten, als ich meinem ersten Minister begegnete, einem Mann der Platitüden und einer wichtigtuerischen Körpersprache, den Neville Chamberlain gerade zur Koordinierung der britischen Verteidigungsanstrengungen ernannt hatte. Es konnte nicht ausbleiben, daß er alle meine Vorurteile gegen die Regierung von Appeasern bestätigte. Die Studenten amüsierten sich über den Provost als eine grandiose Varieténummer auf der Bühne und im Hörsaal, aus dem er ein Theater machte.7 Man brachte ihm keine Achtung entgegen, häufig jedoch sentimentale Gefühle, und sicherlich war er auch sich selbst gegenüber sentimental. Tatsächlich war er sein Leben lang ein verwöhntes Kind von ziemlich entsetzlichem Charakter, der im Alter kaum noch durch den Charme, den Sinn für Komik und den Liberalismus seiner jüngeren Tage gemildert wurde. Mit den Jahren wurde er ein immer leidenschaftlicherer Royalist. Auf seinem Gebiet der Altphilologie hatte er seit langem die Forschung aufgegeben und wurde von anderen nicht mehr ernst genommen. Ein Versager als Wissenschaftler wie als Leiter eines Colleges – er hatte nicht einmal eine kurze Amtszeit als Vizekanzler, die übliche Belohnung selbst für nur halbwegs fähige Collegedirektoren –, wurde er zu einem entschlossenen Gegner jeglicher Aneignung von Wissen. Das King’s College mochte in den dreißiger Jahren das Zentrum der schönen Welt von Cambridge gewesen sein, aber es war kein akademisch herausragendes College (ausgenommen auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaft, die seiner Kontrolle entzogen war). Er war gegen die Wissenschaft. »King’s College, Cambridge«, sagte der Präsident der Harvard University, »ist das nicht der Ort, an dem die Naturwissenschaften vom Präsidium geschmäht werden?« Als junge Studenten hatten wir kaum eine Ahnung von der Boshaftigkeit und Gehässigkeit hinter der Maske eines aufgesetzten senilen Wohlwollens. Doch obzwar er einer der wenigen Menschen in meinem Leben war,

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gegen die ich einen tiefen Abscheu hegte, kann ich nicht umhin, mit ihm in seinen armseligen letzten Jahren Mitleid zu empfinden, als er, nicht länger Provost und unfähig, sich ein King’s College vorzustellen, das keine Verlängerung seiner eigenen Persönlichkeit war, in sichtbarem geistigen Verfall, die letzte seiner Rollen auf der Collegebühne wählte, die eines derangierten Königs Lear, der an den Collegetoren stand, eine schweigende Anklage gegen das ihm angetane Unrecht. Die einzigen weiteren Fellows, mit denen ich Kontakt hatte, waren der Tutor und der Dean und die Lehrkräfte für Geschichte. Der Tutor, Donald Beves, war ein großer, breiter, friedlicher Mann, zu dessen Liebhabereien das Laientheater gehörte – er war ein gefeierter Falstaff – und das Sammeln von Glas aus der Stuartzeit und der georgianischen Periode, das er in seiner gemütlichen Zimmerflucht zur Schau stellte, von der aus er ein wachsames Auge auf die Probleme der Jugend mit der Disziplin hatte und sich zwischendurch der administrativen Details annahm. Sein Fachgebiet war Französisch, und er pflegte einen regelmäßigen Kontakt zu diesem Land, indem er während der Ferien mit seinem Rolls-Bentley und in Gesellschaft von Freunden französische Restaurants begutachtete. Als Autor von Veröffentlichungen über die französische Sprache oder Literatur ist er nicht in Erscheinung getreten. Viele Jahre später haben einige Journalisten, die eine gezielte Indiskretion falsch deuteten, die Vermutung geäußert, da sein Nachname fünf Buchstaben hatte und mit einem B anfing wie der von Anthony Blunt, sei er womöglich der »dritte« oder der »vierte« der CambridgeSpione, hinter denen damals jeder Zeitungsredakteur her war. Die Idee, Donald Beves könnte ein Geheimagent der Sowjets sein, erschien jedem, der ihm je begegnet war, noch absurder als die Vermutung, die auf dem Höhepunkt der Spionenhysterie für kurze Zeit ebenfalls in Umlauf gesetzt wurde, ein weiterer verkappter Bolschewik sei der wahrhaft distinguierte Professor Arthur Cecil Pigou, seit 57 Jahren Fellow des King’s, Begründer der Wohlfahrtsökonomik und (gemeinsam mit dem Physiker J.J. Thompson) dafür bekannt, der schlechtgekleidetste Mann in Cambridge zu sein. Andererseits war Pigou, ein weiterer lebenslanger Junggeselle, immerhin Pazifist, wenn er sich nicht gerade mit ökonomischen Fragen befaßte und intelligente, athletische und gutaussehende Studenten einlud, auf den Felsen um sein Landhaus im Lake District herumzuklettern. Tatsächlich betrafen mit einer einzigen angeblichen Ausnahme die Beziehungen, die von den Dons im King’s zum Geheimdienst unterhalten wurden, die britischen und nicht die sowjetischen Dienste. Im Ersten Weltkrieg waren es Kingsmen, an ihrer Spitze der kleine, pum-

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melige spätere Professor für Alte Geschichte, F. E. Adcock, die die britische Dechiffrierabteilung ins Leben riefen, und mindestens siebzehn Dons des King’s College wurden von Adcock für die weitaus berühmtere Gruppe von Kryptographen in Bletchley während des Zweiten Weltkriegs angeworben, darunter das wahrscheinlich einzige Genie am College in meiner Studentenzeit, der mathematische Logiker Alan Turing, in meiner Erinnerung ein unbeholfen wirkender, blaßgesichtiger junger Bursche, der sich einer Betätigung hingab, die man heute als Jogging bezeichnen würde. Der Mann, der allgemein als der Talentsucher am Ort für den Geheimdienst galt – in den meisten OxbridgeColleges gab es mindestens einen –, war der Dean, Patrick Wilkinson, ein außergewöhnlich höflicher und liebenswürdiger Altphilologe mit einem ständigen leichten Lächeln im Gesicht und einem langgestreckten Kopf, dessen spärlicher Haarwuchs mich aus unerfindlichen Gründen an Long John Silver in der Schatzinsel erinnerte. Zu jedermanns Überraschung kehrte er nach dem Krieg als verheirateter Mann aus Bletchley zurück. Im Unterschied zum Provost empfand er gegenüber dem College und seinen Mitgliedern eine aufrichtige, tiefe und selbstlose Verbundenheit. Jahrelang war er verantwortlich für den jährlichen Collegebericht, der ausführliche, wenngleich nicht immer unbedingt erschöpfende Nachrufe auf ausnahmslos alle, selbst die obskursten Kingsmen enthielt: ein Dokument, ebenso elegant geschrieben wie soziologisch (bis heute) von unschätzbarem Wert. Die Universität Cambridge der dreißiger Jahre hielt sich nicht mehr an das Ziel der mittelalterlichen Universitäten, die Unterweisung für Berufe, die besondere Formen des Wissens erforderten – Geistlichkeit, Justiz und Ärzteschaft –, wenn sie auch Lehr- und Lernveranstaltungen für die frühen Phasen der Ausbildung hierfür anbot. Ihre Aufgabe sah sie zumindest in den Geisteswissenschaften nicht darin, Fachgelehrte auszubilden, sondern die Mitglieder einer herrschenden Klasse zu formen. In der Vergangenheit erfolgte dies auf der Grundlage einer Bildung in den Klassikern der griechischen und vor allem der römischen Antike, die weitgehend dadurch erreicht wurde, daß man die Studienanfänger in so esoterischen Übungen unterwies wie dem Schreiben griechischer und lateinischer Verse. Diese Tradition war noch längst nicht ausgestorben. Bei den Scholarship-Prüfungen von 1935 errangen etwa 75 Bewerber (gegenüber jeweils 50 in Geschichte und den naturwissenschaftlichen Fächern) Stipendien in Altphilologie, die meisten von ihnen natürlich Abgänger von Public Schools, da auf den Gymnasien, wie ich eines besucht hatte, kaum Griechisch unterrichtet wurde. Doch in zunehmendem Maße übernahm seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in

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Cambridge das Fach Geschichte (mit der politischen und konstitutionellen Entwicklung Englands im Zentrum) die Funktion eines Vehikels für eine umfassende »Allgemeinbildung«. Deshalb wurden diese Veranstaltungen von den Studienanfängern zu Hunderten besucht, ohne daß diese sich davon einen Brotberuf versprochen hätten, sofern nicht der eine oder andere Lehrer werden wollte. Es war kein geistig besonders anspruchsvolles Fach. Die wesentlichen Elemente einer Ausbildung in Cambridge außerhalb der Naturwissenschaften waren der wöchentliche Aufsatz, der für eine Privatstunde mit dem Supervisor geschrieben wurde, und der Tripos, das letzte Examen für den honours degree in zwei Teilen, am Ende eines einjährigen und eines zweijährigen Kurses. Vorlesungen waren weniger wichtig und hauptsächlich für diejenigen gedacht, die sich auf die Aufzeichnungen verließen, die sie in den »Betonkursen« gemacht hatten. Gute Studenten fanden bald heraus, daß sie mehr davon hatten, eine Stunde lang in den prächtigen Bibliotheken der Colleges, Fakultäten und der Universität zu lesen, als einem anspruchslosen öffentlichen Vortrag zuzuhören. Abgesehen von dem »Spezialgebiet«, mit dem man sich im letzten Studienjahr beschäftigte, habe ich nach meinem ersten Trimester wohl keine Vorlesung mehr regelmäßig besucht, ausgenommen die Veranstaltungen von M. M. Postan zur Wirtschaftsgeschichte, Vorlesungen, die so aufregend waren – damals schrieb ich über »diese Atmosphäre einer Erweckungsversammlung früherer Zeit«, von der sie durchdrungen waren8 –, daß sie die Intelligentesten meiner Generation von Geschichtsstudenten dazu brachte, sich schon in aller Herrgottsfrühe um 9 Uhr im Hörsaal einzufinden. Gute Studenten gingen nach einiger Zeit überhaupt nicht mehr in die Vorlesungen, aber niemand schien sich daran zu stoßen. Wir lernten mehr durch unsere eigene Lektüre und in Gesprächen mit anderen guten Studenten. Nicht daß die Erlangung eines akademischen Grades, obendrein mit einer guten Note, das einzige Ziel in den Köpfen junger Männer und Frauen gewesen wäre, die sich an einem Ort mit so vielen interessanten Möglichkeiten befanden wie Cambridge und über mehr Zeit verfügten, sie zu nutzen, als die meisten übrigen Erwachsenen. Ich selbst hatte keine Schwierigkeiten, neben dem eigentlichen Studium für eine Studentenzeitung zu arbeiten und mich im Sozialistischen Klub und in der Kommunistischen Partei zu betätigen, ohne deshalb bei Prüfungen schlecht abzuschneiden. Und obendrein blieb noch genug Zeit für unwissenschaftliche Gespräche, Geselligkeit, Bootsfahrten auf dem Cam, Freundschaft und Liebe. Für fast alles schien Zeit dazusein. Die beiden

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vielleicht einzigen Projekte, die ich angefangen und wieder aufgegeben habe, waren der von der Universität angebotete Russischkurs von der imposanten Elizabeth Hill – der mich in die Schranken eines rein westlichen Kosmopolitismus verwies – und die Cambridge Union, ein Debattierklub, dessen Veranstaltungen allgemein als eine Schule für künftige Politiker betrachtet wurden. Ich weiß heute nicht mehr, warum ich mich entschloß, die Union wieder zu verlassen, obwohl deren damaliger Präsident, der sich später als stilles Parteimitglied entpuppte, meine frühen Anläufe ermutigte. Jedenfalls sparte es Geld. Ich war kaum in Cambridge angekommen, als sich meine politischen Überzeugungen schon herumgesprochen hatten und ich eine Einladung zur Hochschulgruppe Cambridge der KP erhielt. Schließlich wurde ich Mitglied in ihrem aus drei Personen bestehenden »Sekretariat«, die höchste politische Funktion, die ich je bekleidet habe. In den Erinnerungen eines Altersgenossen steht irrtümlich, ich sei 1938 der Sekretär der Gruppe geworden, dafür jedoch zutreffend, daß ich keine natürliche Begabung zum Führer gehabt hätte.9 Andererseits waren ihre beiden angesehensten Führer fortgegangen: der dunkelhaarige und gutaussehende John Cornford, dessen Foto auf allen progressiven Kaminsimsen in Cambridge stand, nach Spanien, wo er kämpfte und fiel, und James Klugmann (s.u.) nach Paris. Die offensichtlichste Brutstätte der Revolution in Cambridge war die überall mit Plakaten und Flugblättern beklebte Zimmerflucht in Whewell’s Court, Trinity College, direkt unterhalb von Ludwig Wittgenstein, gemeinsam bewohnt von Michael Whitney Straight aus den USA und dem Biochemiker Hugh Gordon. Trinity jedoch war das Zentrum des Kommunismus der Graduierten, während die Kommunisten unter den Studenten sich – etwas unerwartet – im Pembroke College konzentrierten, das neben einem der seltenen kommunistischen Dons (der vorzügliche Germanist Roy Pascal) etliche Genossen beherbergte, darunter zwei der Hauptorganisatoren, David Spencer und Ephraim Alfred (»Ram«) Nahum, ein untersetzter, dunkelhaariger Naturwissenschaftler mit einer großen Nase, der körperliche Stärke, Tatkraft und Autorität ausstrahlte. Er war der Sohn eines wohlhabenden sephardischen Textilkaufmanns aus Manchester und nach allgemeiner Meinung der fähigste aller kommunistischen Studentenführer meiner Generation. Als graduierter Physiker blieb er während des Krieges in Cambridge und wurde 1941 von der einzigen deutschen Bombe getötet, die auf die Stadt fiel. Im Unterschied zu dem (nur bei der Linken bekannten) Ram Nahum war Pieter Keunemann, ein sportlicher, witziger und richtig schöner Ceylonese (damals hieß die Insel noch nicht Sri Lanka),

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der mit einem gewissen Stil in Pembroke wohnte, eine große Nummer in der Gesellschaft der Universität – unter anderem Präsident der Union –, obendrein der Partner der hinreißenden Hedi Simon aus Wien (und Newnham), in die ich mich glücklos verliebt hatte. (Nach unserem Examen mieteten Pieter und ich ein winziges Haus in der inzwischen verschwundenen Round Church Street, wenige Meter von dem Haus entfernt, in dem Ram sterben sollte.) Obwohl beide engagierte Parteigenossen waren, glaube ich nicht, daß damals irgend jemand prophezeit hätte, daß dieser lässig-elegante Partylöwe, der mir als erster die Gedichte von John Betjeman nahegebracht hat, den größten Teil seines späteren Lebens als Generalsekretär der Kommunistischen Partei von Sri Lanka verbringen würde. Dagegen erwarteten wir alle, daß der elegante Charmeur Mohan Kumaramangalam aus Madras, ein Etonschüler und Kingsman, ebenfalls Präsident der Union, der bewunderte Freund von vielen von uns, eine bedeutende Persönlichkeit seines Heimatlandes Indien werden würde, was denn auch eintraf. Als Inder gehörte Mohan der Partei natürlich offiziell nicht an, sowenig wie die übrigen »kolonialen Studenten«, die fast alle aus Südasien stammten. Sehr bald arbeitete ich mit ihrer »Kolonialgruppe« zusammen, an deren Spitze in einer Art lokaler Erbfolge eine Reihe von Trinityhistorikern mit einem Hang zur Geschichte der »Dritten Welt« standen. Im Unterschied zu ihren Mentoren strebten die jungen »Kolonialkommunisten« keine akademische Laufbahn an, auch wenn der eine oder andere von ihnen später dort landen sollte. Sie sahen der Befreiung und einer Sozialrevolution in ihren Ländern entgegen. Die beiden Kingsmen unter ihnen waren darin am erfolgreichsten, denn Mohans jüngerer Landsmann, der bescheidene und selbstlose Indrajit (»Sonny«) Gupta, fand sich nach mehreren Ämtern als Gewerkschafts- und politischer Führer in seinen späteren Jahren als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Indiens und für kurze Zeit als Innenminister seines Landes wieder. Der Partei galt natürlich meine ganze Leidenschaft. Doch selbst für einen hundertprozentigen Kommunisten gab es in Cambridge einfach zu viel zu tun, um sich allein auf Agitation, Propaganda und Organisation zu beschränken, was ohnedies nicht meine starke Seite war. (Im Lauf der Zeit mußte ich widerwillig einsehen, daß die einzig wünschenswerte Laufbahn, die eines »Berufsrevolutionärs«, das heißt eines Parteifunktionärs, nichts für mich war, und ich fand mich damit ab, meinen Lebensunterhalt auf eine weniger kompromißlose Weise zu verdienen.) Natürlich war irgendwie alles politisch, wenn auch nicht im Sinn der Parole der Nach-Achtundsechziger: »Das Private ist poli-

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tisch«. Wir hatten den Eindruck, daß das, was wir privat wollten, die Partei so lange nicht kümmerte, solange es nicht der Parteilinie zuwiderlief. Doch es war unsere Pflicht, nicht nur gute Noten zu erzielen, sondern auch den Marxismus in unsere Arbeit hereinzunehmen, so wie die Politik Eingang in die Aktivitäten derjenigen fand, die sich für die Schauspielerei oder die Mitarbeit an der Studentenzeitung begeisterten. Trotz alledem kann ich nicht wirklich behaupten, daß ich primär aus politischen Gründen für die wöchentlich erscheinende Studentenzeitung Granta geschrieben oder schließlich als ihr Redakteur fungiert hätte, und auch nicht, daß dies jemals eine Zeitung war, die der Politik viel Platz eingeräumt hätte. Wenn ich mir heute die Exemplare von damals ansehe, muß ich betrübt feststellen, daß Granta als Zeitung nicht viel getaugt hat, auch wenn mein Vorgänger als Redakteur, Charles Wintour, sie erfolgreich dazu nutzte, in den Stall von Lord Beaverbrook einzutreten und schließlich die Chefredaktion des Evening Standard zu übernehmen. Um ehrlich zu sein, sie war entsetzlich, aber wir hatten eine schöne Zeit in ihrem Redaktionszimmer am Market Square bei Tee, Klatsch und Witzen, und sie gab uns die unschätzbare Möglichkeit, Freikarten für Filme zu bekommen; der hauptsächliche Ehrgeiz des potentiellen Mitarbeiters richtete sich neben der Herausgabe von Granta auf das Schreiben der Filmrezensionen. Diese eröffneten sogar ein neutrales Gebiet für die Anhänger unterschiedlicher politischer Anschauungen, etwa den jungen Arthur Schlesinger jr., den ich dort kennenlernte, damals wie später ein unerschütterlicher antikommunistischer New Dealer.

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8 Gegen Faschismus und Krieg

Was immer in jenen Jahren in Cambridge passierte, wir waren uns ständig bewußt, daß wir in einer Zeit der Krise lebten. Was vor Hitlers Machtübernahme eine Dosis Radikalismus unter die Studenten brachte, waren wohl die Weltwirtschaftskrise, der klägliche Sturz der Labourregierung (1929-1931) und so dramatische Demonstrationen dessen, was Massenarbeitslosigkeit und Massenarmut bedeuten wie die Hungermärsche aus den rauchlosen und stillen Industrierevieren. Nach 1933 war es zunehmend eine Bewegung, um dem Vormarsch faschistischer Diktaturen und dem mit ihm verbundenen nächsten Weltkrieg Einhalt zu gebieten; mit anderen Worten eine Bewegung, die sich gegen feige und außerdem kapitalistische und imperialistische britische Regierungen wandte, die nichts dagegen unternahmen, daß die Entwicklung auf Faschismus und Krieg zusteuerte. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre und vor allem nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs war dies zweifellos die hauptsächliche Antriebskraft hinter dem bemerkenswerten Zuwachs des Cambridge University Socialist Club (CUSC): In der Woche nach Chamberlains Münchner Abkommen konnte der Club 300 neue Mitglieder verbuchen.1 Während des ganzen Jahrzehnts hindurch drohte die schwarze Wolke des kommenden Weltkriegs an unseren Horizonten. Konnte er vermieden werden? Wenn nicht, wie sollten wir uns verhalten? Würden wir »für König und Land« kämpfen, wie es die Oxford Union 1933 denkwürdigerweise abgelehnt hatte? Sicherlich nicht, aber sollten wir überhaupt kämpfen? Der Pazifismus spaltete die Linke in Cambridge, genauer gesagt die heterogene Union der Antifaschismus- und der Antikriegsbewegung, denn der Pazifismus erfaßte wesentlich weitere Kreise als diejenigen, die an der Politik von Parteien und Bewegungen interessiert waren, und ging selbst über den Bereich der organisierten Religion hinaus. Da dieser apolitische Pazifismus nach der Kapitulation Frankreichs 1940 zum größten Teil verschwand, ist sein Einfluß in den dreißiger Jahren oft in Vergessenheit geraten. Tatsächlich war der Pazifismus die einzige wichtige Streitfrage, welche die Linke in Cambridge entzweite, denn innerhalb des Sozialistischen Klubs fand

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die Linie der KP einer breiten antifaschistischen Einheitsfront praktisch einmütige Zustimmung. Nur ein einziges prominentes Mitglied, Sammy Silkin vom Trinity Hall, vertrat die offizielle Position der Labour Party und wurde folglich als Beweis für die ideologische Weite des Klubs gehätschelt (im Unterschied zur Labour Party selbst, die jede Organisation ausschloß, die kommunistische Mitglieder hatte). In vieler Hinsicht war das »Rote Cambridge« der dreißiger Jahre fast identisch mit dem CUSC. Das traf nicht im wörtlichen Sinne zu, denn selbst auf dem Höhepunkt seiner Stärke, im Frühjahr 1939, hatte er nicht mehr als 1000 Mitglieder bei einer Studentenzahl von unter 5000, und als ich im Herbst 1936 dorthin kam, waren es rund 450.2 Die Partei zählte nie wesentlich mehr als 100 Mitglieder. Doch wenn man die soziale Herkunft, das soziopolitische Milieu und die traditionellen Gewohnheiten der Studenten an den alten Universitäten bedenkt sowie die überwältigend rechten politischen Neigungen der Studenten West- und Mitteleuropas zwischen den Kriegen, dann ist die beherrschende Stellung der Linken in Oxford wie in Cambridge während der dreißiger Jahre schon erstaunlich. Dies um so mehr, als die Linke an keinem sonstigen britischen Zentrum der höheren Bildung mit Ausnahme der London School of Economics besonders stark war.* Entscheidender war der Umstand, daß die politische Veränderung Cambridges von unten kam. Die politischen Anschauungen der typischen Dons in Cambridge lagen zweifellos eher in der gemäßigten Mitte als (wie in Oxford) auf der stark konservativen Seite, doch prominente Anhänger der Labour Party waren selten, und die kommunistischen Dons ließen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Selbst eine so wenig umstrittene Kampagne wie jene, die nominell vom Cambridge Peace Council organisiert wurde und der es gelang, die damals – im Herbst 1938 – enorme Summe von 1000 Pfund für Lebens* Und zur LSE brauchte man weniger zu sagen. Gegründet von den großen Fabiern Sidney und Beatrice Webb, ausschließlich den Politik- und Sozialwissenschaften gewidmet, geleitet von dem späteren Urheber des sozialen Sicherungssystems in England, William Beveridge, mit einer Fakultät, deren prominenteste und charismatischste Lehrer landesweit bekannte Sozialisten waren – Harold Laski, R. H. Tawney –, stand sie fast ex officio irgendwo auf der Linken. Das war es, was Fremde von innerhalb und außerhalb des Empires anzog. Wenn es auch nicht das war, was unbedingt ihre britischen Studenten anzog, in ihrer großen Mehrzahl eine Elite der ersten Generation von Jungen und Mädchen aus Londoner Familien im Grenzbereich zwischen Arbeiter- und unterer Mittelschicht, die ein Stipendium errungen hatten, so war es doch wahrscheinlich, daß es seinen Einfluß auf sie ausübte, wenn sie erst einmal dort waren.

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mittel für die Frauen und Kinder im republikanischen Spanien aufzubringen, wurde offiziell nur von zwei Collegevorstehern (St John’s und King’s), sechs Professoren – darunter nur ein einziger (M. M. Postan) im Fachbereich Geschichte –, einem angesehenen pazifistischen geistlichen Don und Maynard Keynes unterstützt.3 Was die Cambridger Naturwissenschaften rot färbte, waren jüngere Physiker und Biochemiker von den beiden intellektuellen Kraftwerken, dem Cavendish Lab. und dem Biochem Lab. Allerdings gingen die Naturwissenschaftler in Cambridge ihre eigenen politischen Wege und organisierten ihre Kampagnen durch die Cambridge Scientist’s Antiwar Group, in der Öffentlichkeit hauptsächlich dadurch bekannt, daß sie das Unzureichende der Verteidigungsmaßnahmen der Regierung gegen Luft- und Giftgasangriffe im kommenden Krieg aufzeigte. Eine eigene Gruppe der Naturwissenschaftler innerhalb des Sozialistischen Klubs bildete sich erst Ende 1938. Außerhalb der Naturwissenschaften war es fraglos die Radikalisierung der Studenten, die Cambridge rot gefärbt hat. Wer waren die Roten in Cambridge? Die Frage läßt sich für die weniger zahlreichen Kommunisten leichter beantworten als für den CUSC. Vor der Ära des Antifaschismus und der Volksfront gab es vereinzelte Adlige wie den Mann mit dem illustren Namen A. R. HovellThurlow-Cumming-Bruce, später ein gütiger Richter, der als Kind in Chatsworth gespielt und dort eine der schweren asiatischen Vasen des Herzogs von Devonshire zerbrochen hatte, doch zumeist kamen sie aus der materiell gutgestellten akademischen oder seltener aus der kommerziellen oberen Mittelschicht – eher die Schlegels als die Wilcoxes, um die praktische Unterscheidung aus E. M. Forsters Roman Howards End zu gebrauchen. Der »Intellektuellenadel« Noel Annans war zwar vertreten, nicht zuletzt durch den charismatischen John Cornford, einen Großenkel Charles Darwins, jedoch nicht beherrschend. Der Anteil von Mitgliedern aus Public Schools war zu meiner Zeit, das heißt nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs, als die Partei und der CUSC starken Zulauf erhielten, deutlich niedriger. Die Grammar Schools in England und Wales (nicht jedoch ihre Äquivalente in Schottland) waren höchstwahrscheinlich in der Partei und auf jeden Fall in deren Führung stärker vertreten als in der Studentenschaft Cambridges allgemein. Der oberste studentische Ortskommissar der Partei war damals ein abgemagert und hungrig aussehender Mathematiker aus einer Arbeiterfamilie, George Bernard vom St John’s, der seine Laufbahn als Präsident der Royal Statistical Society und auf einem Lehrstuhl an der Universität Essex beschloß und dessen jüngere Schwester Dorothy (Wedderburn), die ich nach dem Krieg kennenlernte, eine

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enge Freundin von Marlene und mir werden und bleiben sollte. Ebenso prominent war etwas später Ralph Russell, ein Arbeitersohn und Philologiestudent von eisern bolschewistischem Auftreten – wir nannten ihn »Georgi« nach Georgi Dimitroff, dem Sekretär der Komintern. Die Abgänger »fortschrittlicher Schulen« (Bedales, Dartington etc.) neigten ebenfalls dazu, sich weiter nach links zu orientieren, wie auch die Abkömmlinge von Quäkerfamilien. Man hat behauptet, Juden seien leicht überrepräsentiert gewesen, aber das deckt sich nicht mit meiner Erinnerung. Der Kommunismus – areligiös und antizionistisch – zog nur sehr wenige unter dem kleinen Häuflein jüdischer Studenten in Cambridge an, wenngleich diese mit den Liberalen und der Labour Party sympathisierten. Wenn überhaupt ein Jude zu meiner Zeit als prominenter linker Student galt, dann war es der südafrikanische Aubrey Eban (Abba Eban), vom Schicksal für eine politisch herausragende Rolle in Israel bestimmt, dessen Zionismus ihn gegen alle kommunistischen Verlockungen immunisierte. Andererseits machten sich die wenigen Juden in der Partei über ihr Judentum kaum Gedanken, bis King Street entschied, daß sich das ändern müsse, und bildeten eine »jüdische Gruppe« oder einen Ausschuß in London, den »Ram« Nahum und ich einige Male widerstrebend aufsuchten, bevor wir zu dem Schluß kamen, daß er wenig Bezug zu dem hatte, was wir taten. Ich erinnere mich an den Ausschuß, weil ich dort zum ersten Mal mit jener Art von EastEnd-Kommunisten zusammenkam, die am laufenden Band (überaus komische) jüdische Witze erzählten, ein Benehmen, das auf den Parteisitzungen in Cambridge nicht gerade typisch war. Eine soziokulturelle Analyse dieser Art besagt zweifellos einiges über den Unterschied zwischen der Linken und der Rechten in Cambridge, ist jedoch weniger erhellend als ein weiteres Phänomen, das noch einer Erklärung bedarf. Mancher wird Henry Ferns darin zustimmen, daß »das einzige Merkmal, das alle Kommunisten, denen ich (in Cambridge) begegnet bin, miteinander gemeinsam hatten, eine hohe Intelligenz war«.4 In den dreißiger Jahren zog die Linke die hellsten Köpfe der Studentengeneration an den Eliteuniversitäten des Landes an. Trotz ihrer wesentlich größeren Zahl waren die Mitglieder des CUSC in der Regel ebenfalls Menschen mit geistigen Interessen, auch wenn der Klub daneben genügend Sinn für die sozialen Seiten des Lebens hatte, um einen Tanzkurs zu organisieren. Er hatte den beträchtlichen Vorteil, der nicht vielen studentischen Gemeinschaften beschieden war, einer starken Mitgliedschaft in den Frauencolleges Girton und Newnham, deren Idee eines politischen Aktivismus zwar nicht weniger ernsthaft war als die der Männer, aber häufig weniger schwer-

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fällig. (Das erste Valentinsgeschenk in meinem Leben erhielt ich von der ganzen KP-Gruppe in Newnham, deren politischer Ausbilder ich war.) Sie meinten es ernst mit dem Studium. »Der Ausschuß wünscht allen CUSC-Mitgliedern Erfolg bei ihren [Tripos]«, hieß es in seinem Mitteilungsblatt vor den Examina von 1937. »Wir wollen ebenso an der akademischen wie an der politischen Front in der vordersten Reihe stehen.«5 Angefangen mit den Neusprachlern und den Historikern, bildete der Klub »Fakultätsgruppen«, um über Probleme ihrer Fächer zu diskutieren, und bis Ende 1938 gab es zwölf davon, darunter selbst für so politisch wenig versprechende Gebiete wie Landwirtschaft, Ingenieurwesen und Jura.6 Auf der anderen Seite gehörte eine Verachtung für organisierte Sportarten (aber natürlich nicht für so traditionelle Betätigungen des fortschrittlichen Cambridge wie lange Wanderungen und Bergsteigen) zum politischen Bewußtsein des CUSC. Der Klub sonnte sich im (häufigen) Erfolg von Sozialisten oder Kommunisten in der Union, der Studentenbühne und auf journalistischem Gebiet – einmal gehörten die Vorsitzenden der Union und des ADC (der wichtigsten Theatergesellschaft) sowie der Chefredakteur der Granta alle der Partei an –, aber mir ist nicht bekannt, daß er ein besonderes Interesse gezeigt hätte, eine der gefeierten Sportskanonen der Universität zu »keilen« – zugegebenermaßen eine mühselige Aufgabe –, und ebensowenig, daß die sportlichen oder bergsteigerischen Leistungen seiner eigenen Mitglieder ihn interessiert hätten. Was immer der CUSC sonst noch tun mochte, jedenfalls führte er Kampagnen: fortwährend, leidenschaftlich und in einem Geist des hoffnungsvollen Vertrauens, der mich überrascht, wenn ich im hohen Alter auf meine ersten Studentenjahre in Cambridge zurückblicke, die Jahre, als Europa (aber noch nicht die Welt) der Katastrophe entgegenschlitterte. Wer die politische Geschichte Europas in den dreißiger Jahren auch nur in Schlagzeilen zusammenfaßt, der muß sie als eine für die Linke fast ununterbrochene Katastrophenserie beschreiben. Gewiß, wie wir aus »Gaudeamus igitur« wissen, ist die Studentenzeit nicht dazu da, Trübsal zu blasen, aber hätten wir nicht ein wenig verzweifelter sein müssen? Wir waren es nicht. Anders als die Atomkraftgegner nach 1945 hatten wir nicht das Gefühl, ein wahrscheinlich aussichtsloses Nachhutgefecht gegen Feinde zu führen, die sich weit außerhalb unserer Reichweite befanden. Wir lebten von einer Krise zur nächsten, regelten die Dinge wie eine Fußballmannschaft – »das nächste Spiel ist immer das schwerste« – und gaben jedesmal unser Bestes. Soweit es Cambridge anging, gewannen wir unsere Spiele. Jede neue Saison war

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besser als die alte. In gewisser Weise teilte die studentische Linke die Abgeschiedenheit der Universität vom nationalen Zentrum, ganz zu schweigen von ihrer traditionellen Selbstbezogenheit. In der Alltagspraxis bedeuteten für die Cambridge-Genossen »die Partei« und die Internationale die studentische Parteigruppe in Cambridge, denn unser einziger regelmäßiger Vorkriegskontakt mit der nationalen Führung erfolgte über den bemerkenswert unautoritären Studentenorganisator Jack Cohen, dessen politische Führung wir natürlich fraglos akzeptierten, dem jedoch bewußt war, daß ein Arbeiter ohne besondere formale Schulbildung, der von der Parteiarbeit im industriellen Nordosten zu Studenten kam, noch viel über Universitäten lernen mußte. Und doch, konnten wir wirklich vergessen, daß unser größter Triumph, die »Spanienwoche« 1938, zu einer Zeit errungen wurde, als die Spanische Republik sichtbar am Ende war und für sie praktisch keine Hoffnung mehr bestand? Außerdem erdachten wir zwar Szenarien, wie ein Krieg durch entschlossenen kollektiven Widerstand gegen Hitler verhindert werden könnte, aber wir glaubten selber nicht ernsthaft daran. Wir wußten in unserem Innersten, daß ein Zweiter Weltkrieg bevorstand, und wir rechneten nicht damit, ihn zu überleben. Ich erinnere mich an einen schlimmen Abend in einem Hotelzimmer, möglicherweise in Lyon, mitten während der Münchener Krise von 1938 – ich befand mich auf dem Rückweg von einer langen Studienreise während der Ferien nach Französisch-Nordafrika –, als mich plötzlich der Gedanke durchfuhr, daß innerhalb weniger Tage der Krieg ausbrechen könnte. Die Alpträume von schweren Luft- und Giftgasangriffen, gegen die es, wie wir immer wieder gewarnt hatten, keinen Schutz gab, würden Wirklichkeit werden. Im September 1939 gab es keine vergleichbare Hysterie. Das Jahr zwischen München und der Invasion in Polen hatte es uns ermöglicht, uns an die Aussicht eines Krieges zu gewöhnen. Dafür, daß wir unsere gute Laune nicht verloren, gab es wohl drei Gründe. Erstens hatten wir nur eine einzige Gruppe von Feinden – den Faschismus und diejenigen, die (wie die britische Regierung) ihm keinen Widerstand entgegensetzen wollten. Zweitens gab es ein konkretes Schlachtfeld – Spanien –, und wir waren dabei. Unser Held, der charismatische John Cornford, fiel an seinem 21. Geburtstag an der Córdobafront. Zugegeben, er und ein oder zwei weitere, die im Sommer 1936 ausgezogen waren, sollten die einzigen unmittelbaren Teilnehmer an dem Krieg aus unseren Reihen sein, denn merkwürdigerweise – diese Tatsache blieb weitgehend unbemerkt – untersagte ein Beschluß der Partei auf höchster Ebene die Anwerbung von Studenten

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für die Internationalen Brigaden, sofern sie nicht über eine besondere militärische Eignung verfügten. Begründet wurde dies damit, daß ihre primäre Pflicht als Parteigenossen darin bestehe, zunächst ein gutes Examen zu machen, um danach vermutlich für die Partei von größerem Nutzen sein zu können. Und schließlich glaubten wir zu wissen, wie die neue Welt aussehen würde, nachdem die alte ausgedient hatte. In diesem Punkt sollten wir uns wie jede Generation irren. Somit waren die dreißiger Jahre für uns alles andere als das »niedere und ehrlose Jahrzehnt« des desillusionierten Dichters Auden. Für uns war es eine Zeit, in der die gute Sache ihren Feinden entgegentrat. Wir genossen diese Zeit, auch wenn die meisten der Mitglieder des CUSC ihre Tage nicht ausschließlich der Politik widmeten. Der Großteil von uns trieb unter anderem auch ein bißchen Weltrettung, weil das damals selbstverständlich war, weil es eben getan werden mußte. »Andererseits ließen wir gar nicht erst diesen Zug von Niedergeschlagenheit aufkommen, der heute die Menschen lähmt, die gefühlsmäßig für die Angelegenheiten der Welt denselben Blick haben, wie wir ihn damals hatten, jedoch keinen Weg finden, ihre Empfindungen in Handeln umzusetzen, wie wir es getan haben.«7 Bei alledem »verteilten wir unsere Gefühle und Energien gleichmäßig auf die öffentlichen und privaten Bereiche der Landschaft«, genauer gesagt, wir trafen keine scharfe Unterscheidung zwischen diesen beiden Bereichen. Zwar sangen wir zu einer Melodie, die von Cole Porter hätte stammen können, das folgende Liedchen: Let’s liquidate love Let’s say from now on That all our affection’s For the workers alone. Let’s liquidate love Till the revolution Until then love is An un-bolshevik thing.

Macht Schluß mit der Liebe denn von jetzt an soll unsere ganze Liebe nur noch den Arbeitern gelten. Macht Schluß mit der Liebe bis zur Revolution und so lange ist die Liebe etwas Unbolschewistisches.

Doch da eine enge Kameradschaft zwischen emanzipierten Männern und Frauen zu unserer Sache gehörte, wurden wir diesem Anspruch nicht gerecht. Allerdings hatten die Kommunisten in Cambridge, zumindest die spezialisierteren Politiker, ein weniger notorisches Privatleben als ihre Genossen in Oxford. Die sexuelle Orientierung innerhalb des CUSC und der Partei, wie unter den Studenten überhaupt, war natürlich in der weitaus überwiegenden Mehrzahl heterosexuell,

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außerhalb der Theaterszene und des King’s College unter den Studenten. In den dreißiger Jahren hatten selbst die »Apostel« die Ära der edwardianischen »höheren Sodomie« hinter sich gelassen. Gewiß waren nicht alle von uns so naiv wie Henry Ferns, der behaupten sollte, »ich bin in Cambridge keinem einzigen Kommunisten begegnet, der homosexuell gewesen wäre«, aber so viel ist immerhin richtig, daß innerhalb der Komintern (und erst recht im CUSC) niemand seine Zugehörigkeit zur Homintern an die große Glocke hing. Das wurde auf beiden Seiten als Privatsache angesehen. Mir fallen mindestens zwei Freunde ein, die ich vor dem Krieg in der Partei kennengelernt habe und deren dauerhafte Homosexualität mir erst nach dem Krieg überhaupt zu Bewußtsein kam. Es gab keinen klaren Unterschied zwischen Trimester und Ferien. Damals suchten sich die Studenten noch kaum Ferienjobs, es sei denn als Reiseführer im Ausland, wenn sie Fremdsprachen studierten. Es gab das eine oder andere Stipendium – mit einem finanzierte ich meine Studienreise 1938 nach Tunesien und Algerien –, und die langen Trimesterferien von 1939 überbrückte ich mit meinem Anteil der Gewinne als Redakteur der Granta, der sich auf rund 50 Pfund belief. (Wegen der Festwochennummer nach den Examina lohnte es sich, im Sommersemester Redakteur zu werden. Am Ende jeder Periode bekam der Redakteur das, was übrigblieb, nachdem die Rechnungen der formellen Eigentümer, die Druckerei von Foister & Jagg, für die Herstellung und den Vertrieb beglichen worden waren.) Meine Ferien verbrachte ich zum größten Teil an der London School of Economics oder in Frankreich. Die LSE oder zumindest ihr Hauptgebäude in der Houghton Street, Aldwych, ist noch immer als das erkennbar, was sie vor rund sechzig Jahren war, bis hin zu einer kleinen Imbißstube direkt links vom Haupteingang, die damals als »Marie’s café« bekannt war und wo die studentischen Aktivisten über Politik diskutierten oder versuchten, Neulinge anzuwerben, gewöhnlich unter den Augen eines schweigsamen, für sich allein sitzenden Mitteleuropäers, der um einiges älter war als wir, scheinbar einer dieser »ewigen Studenten«, die man an allen Universitäten antrifft, bei dem es sich jedoch um den völlig unbekannten und unbeachteten Norbert Elias handelte, dessen großartiges Werk Der Prozeß der Zivilisation bald in der Schweiz erscheinen sollte. Das akademische England der dreißiger Jahre war außerordentlich blind für die Brillanz der mitteleuropäischen jüdischen und antifaschistischen intellektuellen Flüchtlinge, sofern sie nicht auf so traditionell anerkannten Gebieten wie der Altphilologie oder der Physik arbeiteten. Die LSE war vermutlich der einzige Ort, an dem sie

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Aufnahme fanden. Selbst nach dem Krieg war die akademische Laufbahn Elias’ in diesem Land unbedeutend, und der Wert von Gelehrten wie Karl Polanyi wurde erst erkannt, nachdem sie den Atlantik überquert hatten. Mir sagte die Atmosphäre an der LSE sehr zu, und ihre Bibliothek, die sich damals noch im Hauptgebäude befand, eignete sich gut zum Arbeiten. Die Schule war der Sammelpunkt zahlreicher Leute aus Mitteleuropa und den Kolonien und deshalb deutlich weniger provinziell als Cambridge, allein schon wegen ihres Schwerpunkts auf den Sozialwissenschaften wie Demographie, Soziologie und Sozialanthropologie, die am Cam niemanden interessierten. Eigenartigerweise war das Fach, dem die Schule ihren Namen verdankte, damals – und überhaupt schon immer – weniger berühmt und weniger bahnbrechend als in Cambridge, auch wenn es einige höchst brillante Nachwuchstalente anzog, die leider keine feste Anstellung in der Houghton Street erhielten. Irgendwie muß ich mich in der Studentenatmosphäre der LSE wohler gefühlt haben, auf jeden Fall unter den Studentinnen, denn mit zweien von ihnen freundete ich mich für den Rest meines Lebens an, und später war ich mit einer verheiratet, was allerdings nicht ganz so lange gehalten hat. Mit drei meiner kommunistischen Altersgenossen an der LSE schloß ich eine Freundschaft fürs Leben: dem Historiker John Saville (damals noch unter dem Namen Stamatopoulos oder »Stam« bekannt), seiner Gefährtin und späteren Frau Constance Saunders und dem formidablen James B. Jefferys, der nach seinem Doktorat in Wirtschaftsgeschichte zum Arbeiterführer wechselte – er wurde während des Krieges Vorsitzender der gewerkschaftlichen Vertrauensleute bei Dunlop. Nach dem Krieg ging er zurück in die Forschung, allerdings mit weniger Erfolg, denn er fiel dem Berufsverbot für kommunistische Hochschullehrer während des Kalten Kriegs zum Opfer. Einem weiteren Altersgenossen an der LSE war es zu verdanken, daß ich wieder Verbindungen zu Österreich unterhielt: dem sportlichen, wuschelköpfigen Charmeur Teddy Prager, der später seinen Doktor in Cambridge bei Joan Robinson machte, die seinen Vorstellungen besser entsprach als Robbins und Hayek an der LSE. Nachdem seine Familie ihn von Wien aus in ein sicheres Land geschickt hatte – nach seinem Widerstand gegen das austrofaschistische Regime nach dem Bürgerkrieg von 1934 wurde die Lage für ihn brenzlig –, verzichtete er nach dem Krieg auf vielversprechende Karrieren in England oder in den Trümmern Wiens, wohin er wie die meisten österreichischen Kommunisten aus dem britischen Exil zurückgekehrt war. In den Sommerferien fuhren die militanten Cambridger Parteige-

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nossen nach Frankreich, um dort unter James Klugmann zu arbeiten. Neben Margot Heinemann stellte James für mich die Verbindung mit der heroischen Ära des Kommunismus in Cambridge vor meiner Zeit dar. (Beide blieben Kommunisten bis ans Ende ihres Lebens.) Margot, die zu den bemerkenswertesten Menschen gehört, die ich je kennengelernt habe, war John Cornfords letzte Liebe – er schrieb ihr eines seiner letzten Gedichte aus Spanien, das später Eingang in zahlreiche Anthologien fand – und schloß sich später mit J. D. Bernal zusammen. Durch ihre lebenslange Kameradschaft, ihr Beispiel und ihre Ratschläge hat sie mich wohl politisch mehr beeinflußt als irgend jemand sonst, den ich gekannt habe. James war zusammen mit John der anerkannte Führer der Partei. Für die meisten der militanten Studenten in Cambridge war er für lange Zeit ein Mensch mit enormem Prestige, sogar eine Art Guru. Ich nehme an, daß er von allen kommunistischen Studenten seiner Zeit derjenige mit der engsten Verbindung zur Internationale war, denn nach seiner Graduierung gab er eine glänzende akademische Zukunft auf, für die er alle Voraussetzungen mitbrachte, und zog nach Paris als Sekretär des Rassemblement Mondial des Étudiants (RME, Weltunion der Studenten), eine breite, jedoch von der Partei kontrollierte internationale Studentenorganisation. Als ich ihn einmal dort besuchte, begegnete ich einem gewissen Raymond Guyot, ein französischer Promi und mehrere Jahre lang der Generalsekretär der Kommunistischen Jugend-Internationale. James verrichtete seine Arbeit in einem dieser kleinen schmuddeligen Balzacschen Hintertreppenbüros, die so typisch für die inoffizielle Vorkriegspolitik waren, in einem verwahrlosten, düsteren Viertel mit dem unpassenden Namen Cité Paradis im 10. Arrondissement und später in einer anspruchsvolleren Örtlichkeit auf dem linken Seineufer. Ihre sichtbarsten öffentlichen Aktivitäten bestanden darin, regelmäßige Weltkongresse zu organisieren, bei deren Vorbereitung freiwillige Studenten aus Cambridge und von anderen Universitäten mithalfen. Bei dem Kongreß von 1937 fungierte ich als Übersetzer; er fiel in das Jahr der großen Pariser Weltausstellung, der letzten aus einer wunderbaren Serie vor dem Zweiten Weltkrieg, die mit Prince Alberts Great Exposition von 1851 begonnen hatte. Für das Jahr 1938 kann ich mich an keinen längeren Arbeitsauftrag unter James erinnern – während eines Großteils jenes Sommers war ich in Nordafrika unterwegs –, noch kann ich den Bericht bestätigen, ich sei für eine Zusammenkunft jüdischer und arabischer Studenten abgestellt worden. James hatte sie in den Osterferien 1939 organisiert, um eine gemeinsame Front gegen den Faschismus zu bilden,

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nachdem Mussolini gerade das überwiegend muslimische Albanien besetzt hatte.8 Ich verbrachte den ganzen Sommer 1939 mit der Mitarbeit an den technischen Vorbereitungen zum letzten dieser Kongresse, der zugleich der größte seiner Art werden sollte und nur wenige Tage vor dem Einmarsch Hitlers in Polen zu Ende ging. In fast jeder Hinsicht, ausgenommen Intelligenz und politisches Engagement, war James Klugmann das genaue Gegenteil seines romantischen, heroischen, höchst farbigen Partners in der Führung, John Cornford. Ein Brillenträger mit leiser Stimme und sprödem Witz, trug er stets den Ausdruck eines verhaltenen Lächelns im Gesicht und lebte allein in einem Hotelzimmer direkt neben dem Odéon-Theater. Soviel ich weiß, führte er sein Mönchsdasein bis zum Ende seines Lebens fort, von Zeit zu Zeit umgeben von bewundernden Jüngeren. Ich habe mir sagen lassen, daß er in Gesellschaft von engen Freunden – zu denen ich nie gehört habe – obszöne Witze machte, und da er die Gresham’s School besucht hatte, die Pflanzstätte von mehr als einem bedeutenden Homosexuellen seiner Zeit, war er vielleicht tatsächlich schwul, aber man konnte ihn sich schlecht als sexuelles Wesen vorstellen. Seine einzige sichtbare Leidenschaft, zumindest in seiner Zeit in England nach dem Krieg, als ich ihn öfter sah, war das Sammeln von Büchern. Seine persönliche Zurückgezogenheit trug zu dem Respekt bei, den wir und überhaupt alle, die mit ihm zu tun hatten, ihm entgegenbrachten. Was wußte man über ihn? Er gab nichts preis. Das einzige, was man bei ihm nicht übersehen konnte, war seine Fähigkeit, Erklärungen in einer erstaunlich klaren und einfachen Sprache zu formulieren, und die Aura der Autorität, die ihn umgab – bis er durch den Bruch zwischen Stalin und Tito zugrunde gerichtet wurde. Nicht daß ich mich an ausgiebige politische Gespräche mit James in Paris vor dem Krieg erinnern könnte, wenn wir in Cafés saßen und Schach spielten – er konnte auch gut erklären, warum wir gegen ihn verloren – oder uns eine Pause von den Kongreßveranstaltungen und der Arbeit an den Umdruckern gönnten und in einem Lokal Tischfußball spielten, die jüdischen Genossen gegen die asiatischen. Es war höchstwahrscheinlich der RME, der das Fundament für James’ außergewöhnliche Kriegskarriere als Schlüsselfigur der britischen Beziehungen zu Titos Partisanen legte. Linke Studentenbewegungen von einiger Bedeutung gab es auf dem europäischen Kontinent fast gar nicht, wo die typische politische Einstellung der Studenten (aber nicht unbedingt der Hochschullehrer) in den dreißiger Jahren ein rechter Nationalismus mit Übergängen zum Faschismus war. Die große Ausnahme bildeten die kommunistischen Studenten Jugoslawiens und vor

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allem Belgrads, und einer ihrer Führer, Ivo (Lolo) Ribar, der eine zentrale Rolle in der späteren Partisanenbewegung spielte, war im RME eine bekannte Erscheinung. Wahrscheinlich war kein Mann westlich von Moskau und während des Krieges und ganz sicher niemand im britischen Hauptquartier in Kairo, wo er diente, besser darüber informiert, wer im jugoslawischen Kommunismus welche Funktion bekleidete und wie man mit ihnen Verbindung aufnehmen konnte. Nach Stalins Bruch mit Tito war James gezwungen, ziemlich sicher durch direkten Druck aus Moskau, seinen eigenen irreparablen Bruch herbeizuführen, indem er ein höchst ungereimtes und unaufrichtiges Buch schrieb, From Trotsky to Tito. Sein Ruf, als einziger hervorragender Intellektueller (außer Palme Dutt) in eine Führungsposition der Partei gelangt zu sein, war ein für allemal dahin. Seitdem ging er keine Risiken mehr ein, ergriff keine Initiativen mehr und schwieg, so daß er selbst innerhalb der kleinen KP Großbritanniens keine tonangebende Stimme mehr war. Die Partei machte ihn zu ihrem erziehungspolitischen Sprecher (unter Mitwirkung unseres alten Studentenorganisators Jack Cohen), eine Aufgabe, deren er sich brillant entledigte, da er der geborene Lehrer war. Er war viel zu intelligent und zu scharfsichtig, um nicht die Enttäuschung seiner Bewunderer aus den dreißiger Jahren bis hin zu jenem Mitgefühl für einen Mann zu spüren, von dem man viel erwartet hatte. Man hatte ihm das Rückgrat gebrochen. Erst 1975 gab es ein letztes Aufleuchten des alten James Klugmann. Der britische Geheimdienst, der sich in regelmäßigen Abständen an ihn herangemacht hatte, seit Burgess und Maclean sich 1951 nach Moskau abgesetzt hatten, hoffte darauf, daß er schließlich doch bereit sein würde, bei der Enttarnung der britischen Spione zu helfen, wie andere es schon getan hatten.9 Der Gedanke, daß der britische Geheimdienst, den er gut kannte – schließlich hatte er während des Krieges dort gearbeitet –, ihn für fähig hielt, seine eigene Sache zu verraten, kränkte ihn. Er lehnte ab. Er starb nicht lange danach in einem unscheinbaren Haus voller Bücher im Süden Londons. Mein letztes Trimester, Mai-Juni 1939, war besonders erfreulich. Ich war Chefredakteur von Granta, wurde in die »Apostel« aufgenommen und schaffte einen »First« mit Stern im Tripos, womit ein Stipendium im King’s verbunden war. Es gab nur eine einzige schlechte Nachricht. Im Frühjahr 1939 gab Onkel Sidney, zu alt für den Dienst beim Militär, den langen Kampf um den Aufbau einer Existenz in England auf und beschloß, mit Nancy, Peter und ein paar hundert Pfund, die er für den Start in ein neues Leben hatte auftreiben können, nach Chile auszuwandern. Es stand nie zur Debatte, ob ich so kurz vor dem Examen

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mitgehen würde, und außerdem wollte ich das Land angesichts eines kommenden Krieges sowieso nicht verlassen. Damals war Chile noch sehr weit von Europa entfernt. Ich verabschiedete sie am Hafen von Liverpool und nahm den Zug zurück nach Edgware, um eine letzte Nacht auf dem Fußboden des nunmehr völlig leergeräumten Hauses in Handel Close zu schlafen, wo ich meinen Rucksack gelassen hatte. Die Flasche mit einem guten Tokaier, die ich aus der alten Heimat gerettet hatte, war während meiner Abwesenheit verschüttgegangen. Am nächsten Tag fuhr ich zurück nach Cambridge. Den Sommer über wohnte ich in einem grauenhaften, aber gut gelegenen Hotel in Paris in der Rue Cujas, lebte von den Redaktionserträgen der Granta und arbeitete mit bei den Vorbereitungen zu James’ großem Kongreß. Vor mir liegt ein Foto von dem Kongreß: ein buntes Gemisch aus Weißen (die meisten aus Cambridge), Indern, Indonesiern, vereinzelten Teilnehmern aus dem Nahen Osten und Ostasien sowie einer einsamen Afrikanerin. Ich erkenne diese gutmütige junge Frau aus Amsterdam wieder – sie fand später den Tod im holländischen Widerstand. Dort, inmitten der Menge vergessener jugendlicher Gesichter, sehe ich den hübschen Javaner Satjadjit Soegono, nach dem Krieg ein bedeutender Gewerkschaftsführer, bis er 1948 beim kommunistischen Aufstand in Madiun getötet wurde. Neben James Klugmann stehen Pieter Keunemann, der künftige Generalsekretär der KP von Sri Lanka, und P. N. Haksar, der spätere Stabschef von Indira Gandhi. Da sind die spanischen Flüchtlinge – die kleine Miggy Robles, die zusammen mit Pablo Azcarate von der spanischen KP unermüdlich am Kopierapparat schuftete. Da ist das kleine, angespannte bengalische Gesicht von Arun Bose. Es war ein erfolgreicher Kongreß bis auf einen Umstand: Keine zwei Wochen später begann der Zweite Weltkrieg. Ich brauchte eine Ruhepause und trampte für ein paar Tage nach Concarneau in der Bretagne. Am 1. September fuhr ich zurück. Eine gutgekleidete, aber etwas geistesabwesende Französin in einem Sportwagen nahm mich hinter Angers mit. Ob ich schon gehört hätte? Hitler sei in Polen einmarschiert. Wir fuhren nach Paris, hielten irgendwo an, um die neusten Nachrichten aus dem Radio mitzubekommen, und redeten ohne jeden Zusammenhang über den kommenden Krieg. Da wir uns in Frankreich befanden, haben wir sicherlich irgendwo Rast gemacht, um zu Mittag zu essen, aber das gehört nicht unbedingt zu den Dingen, die man von einem solchen Tag in Erinnerung behält. Einige Pariser fuhren bereits in die entgegengesetzte Richtung und hatten ihre Wagen vollgeladen. Wir wünschten uns alles Gute, als sie mich

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aussteigen ließ. Ich begab mich zur Westminster Bank an der Place Vendôme und reihte mich in eine Schlange aus lauter Briten ein. Vor mir stand ein übellauniger Mann mit einem auffallend fliehenden Kinn, dessen Paß ihn als den Schriftsteller und Maler Wyndham Lewis auswies. Es gab nicht viel zu packen, bevor ich zum Gare St. Lazare fuhr, um nach Möglichkeit eine Fahrkarte für den Nachtzug nach London zu bekommen. Er war voll von großen, langbeinigen Blondinen: die englischen Tänzerinnen von den Folies Bergères und dem Casino de Paris kehrten in ihr Zuhause in Morecambe oder Nottingham zurück. Wenn ich mich richtig erinnere, trat ich am letzten Morgen vor dem Krieg aus der Victoria Station heraus, übermüdet, aber in ein sonniges London. Ich hatte hier kein Zuhause mehr, aber ich verbrachte die letzte Nacht des Friedens in der Wohnung von Lorna Hay, einer schottischen Hochschulabsolventin vom Newnham College, die in London eine Laufbahn als Journalistin beginnen wollte. Sie hatte soeben von Mohan Kumaramangalam, der sich auf dem Heimweg nach Indien befand, gehört, daß seine Zukunft als Berufsrevolutionär es ihm nicht erlaube, sie mitzunehmen. So endeten die dreißiger Jahre für mich.

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I Ich wurde 1932 Kommunist, auch wenn ich erst im Herbst 1936 in die KP eintrat, als ich nach Cambridge kam. In dieser Partei bin ich rund fünfzig Jahre geblieben. Die Antwort auf die Frage, warum ich so lange darin blieb, gehört sicherlich in eine Autobiographie, aber sie ist nicht von allgemeinem historischem Interesse. Dagegen gehört die Antwort auf die Frage, warum der Kommunismus so viele der Besten meiner Generation angezogen und was es für uns bedeutet hat, Kommunisten zu sein, als ein zentrales Thema zur Geschichte des 20. Jahrhunderts. Denn nichts ist für dieses Jahrhundert so charakteristisch wie das, was mein Freund Antonio Polito »einen der großen Dämonen des 20. Jahrhunderts« genannt hat: »die politische Leidenschaft«. Und der reinste Ausdruck dafür war der Kommunismus. Der Kommunismus ist heute tot. Die UdSSR und die meisten der Staaten und Gesellschaften, die nach ihrem Vorbild errichtet wurden, Kinder der Oktoberrevolution von 1917, die uns inspirierte, sind unter Zurücklassung einer materiellen und moralischen Trümmerlandschaft so vollkommen zusammengebrochen, daß es heute für alle offensichtlich sein muß, daß das Scheitern dieses Projekts vorprogrammiert war. Dennoch waren die Errungenschaften derjenigen, die von der Überzeugung und mit ihr verbundenen Vorstellung erfüllt waren, daß »es keine Festungen [gebe], die von Bolschewiki nicht erobert werden können«, in der Tat außergewöhnlich. Innerhalb von kaum mehr als dreißig Jahren seit Lenins Ankunft am Finnländischen Bahnhof lebten ein Drittel aller Menschen und sämtliche Regierungen zwischen der Elbe und den Chinesischen Meeren unter der Herrschaft Kommunistischer Parteien. Die Sowjetunion selbst, Siegerin über die furchtbarste Kriegsmaschine des 20. Jahrhunderts, die das zaristische Rußland zermalmt hatte, ging aus dem Zweiten Weltkrieg als eine der beiden Supermächte der Welt hervor. Seit den (langsameren und weniger globalen) Eroberungen des Islams im 7. und 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung hatte es keinen vergleichbaren Triumph einer Weltanschauung gegeben.

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Erreicht wurde dies durch kleine, häufig sogar – relativ oder absolut – winzige selbstgewählte »Avantgarden der Arbeiterklasse«, denn im Unterschied zu den Arbeiterparteien, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkamen und ebenfalls überwiegend von den Ideen Karl Marx’ inspiriert und beflügelt wurden, war der Kommunismus nicht als Massenbewegung gedacht und wurde dies nur durch einen gleichsam historischen Zufall. In dieser Hinsicht stand er in einem Gegensatz zum klassischen Verständnis der marxistischen Sozialdemokratie und lehnte sie sogar ab. Diese erwartete von jedem, der sich den »Arbeitern« zurechnete, daß er sich mit Parteien identifizierte, deren Wesen darin bestand, die Interessenvertretungen der Arbeiter zu sein, wie dies beispielsweise bereits im Namen der Labour Party zum Ausdruck kam. In der Unterstützung der Arbeiterpartei sahen sie weniger eine individuell getroffene politische Entscheidung als die Einsicht in die soziale Existenz des Betreffenden, die zwangsläufig bestimmte öffentliche Konsequenzen hatte. Umgekehrt waren selbst ihre am wenigsten politischen Aktivitäten von dem Gefühl dessen erfüllt, was die soziale Existenz eines Individuums definierte, so daß die Vereine, die sich in den Hinterzimmern von Lokalen im »Roten Wien« trafen – ich habe solche Schilder noch in den siebziger Jahren dort gesehen –, ihren Hobbys beispielsweise nicht als Briefmarkensammler nachgingen, sondern als Arbeiterphilatelisten oder als Arbeitertaubenzüchter. Solche Parteien fanden sich gelegentlich auch innerhalb der kommunistischen Bewegung wie beispielsweise im Nachkriegsitalien. Dort verband die Partei, die in der Familie und der lokalen Gemeinde ihre Wurzeln hatte, die Tradition der alten sozialistischen Bewegung mit der organisatorischen Effizienz des Leninismus und der moralischen Autorität einer säkularen katholischen Kirche. (Wie Palmiro Togliatti es 1945 ausdrückte: »In jedem Haushalt ein Bild von Marx neben dem von Jesus Christus«.) Es war eine Partei, in der eine junge Frau aus Modena ganz unbefangen ihre Partei-Federazione bitten konnte, bei der Federazione von Padua anzufragen, ob der junge carabiniere aus jener Stadt, der ihr den Hof machte, »ernsthafte Absichten« habe. (Leider stellte sich heraus, daß er bereits in Padua verheiratet war.)1 Hier galten das Öffentliche und das Private, die Arbeit an der eigenen Person und die Errichtung einer besseren Welt, als untrennbare Einheit. Die Kommunistischen Parteien während der Zeit der Komintern waren von einer völlig anderen Art, auch wenn sie – zum Teil zutreffend – behaupteten, ihre Wurzeln in der Arbeiterklasse zu haben und deren Interessen und Ziele zu verfolgen. Sie waren die »Berufsrevolutionäre« Lenins, mit anderen Worten eine zwangsläufig relativ oder

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absolut kleine ausgewählte Gruppe. Der Eintritt in eine solche Organisation war im wesentlichen eine individuelle Entscheidung und wurde sowohl von denen, die einen »Kontakt« aufforderten, der Partei beizutreten, als auch von denen, die Mitglied wurden, als einschneidende Änderung in ihrem Leben angesehen. Es war eine doppelte Entscheidung, denn der Verbleib in der Partei (zumindest außerhalb der Länder unter einer kommunistischen Regierung) war mit der stets von neuem getroffenen Entscheidung verbunden, nicht mehr auszutreten, was einfach und jederzeit möglich gewesen wäre. Für die meisten, die in die Partei eintraten, war die Mitgliedschaft eine vorübergehende Episode in ihrem politischen Leben. Dennoch begaben sich im Unterschied zur Generation von 1968 nur wenige Kommunisten der Zwischenkriegszeit in die Revolution, als handle es sich um einen politischen Club Méd (der übrigens als Mini-Utopia der Ferienzeit nach dem Zweiten Weltkrieg von einem jungen Kommunisten, der in der Résistance gekämpft hatte, gegründet wurde). Giorgio Amendola, einer der italienischen kommunistischen Führer der Vorkriegsgeneration, gab dem ersten Band seiner schön geschriebenen Autobiographie den Titel Una scelta di vita (»Ein gewähltes Leben«). Für diejenigen von uns, die vor dem Krieg und vor allem vor 1935 Kommunisten wurden, war die Sache des Kommunismus tatsächlich etwas, dem wir unser Leben widmen wollten, und einige taten es auch. Der entscheidende Unterschied, der sich mit der Zeit abzeichnete, war der zwischen Kommunisten, die ihr Leben in der Opposition verbrachten, und denen, deren Parteien an die Macht kamen und die deshalb mittelbar oder unmittelbar verantwortlich für das wurden, was in ihren Regimes getan wurde. Macht korrumpiert nicht zwangsläufig die Menschen als Individuen, auch wenn es schwer ist, sich ihrem verderblichen Einfluß zu entziehen. Die Macht bringt uns allerdings zumal in Zeiten der Krise und des Krieges dazu, Dinge zu tun und nach Möglichkeit zu rechtfertigen, die verwerflich sind, wenn sie von Privatpersonen getan werden. Kommunisten wie ich selbst, deren Parteien nie an der Macht waren oder sich in Situationen befanden, in denen Entscheidungen über Leben und Tod anderer Menschen getroffen werden mußten (Widerstand, Konzentrationslager), hatten es da leichter. Die Mitgliedschaft in diesen leninistischen Parteien war somit eine zutiefst persönliche und keine abstrakte Entscheidung. Die meisten Kommunisten der Zwischenkriegszeit waren vor ihrem Eintritt in die Partei bereits »links« oder – wenn sie aus entsprechenden Ländern außerhalb Europas kamen – »antiimperialistisch«. Es war natürlich einfacher für jemanden, der aus dem passenden politisch homogenen Mi-

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lieu stammte – beispielsweise aus New York, von wo mir noch der Satz eines Mitarbeiters des New Yorker im Ohr klingt, »man trifft hier wirklich keinen einzigen Republikaner«, und nicht etwa aus Dallas in Texas. Es war sogar einfacher für diejenigen, die aus Gemeinschaften kamen, im allgemeinen am Rand der Gesamtgesellschaft, die aufgrund ihrer Lage außerhalb des nationalen politischen Konsenses standen. Doch so groß die Zahl ehemaliger Kommunisten meiner Generation andererseits ist, so selten trifft man unter ihnen jemanden, der später ganz ins rechte politische Lager umgeschwenkt wäre. Der weitere Weg der politisch desillusionierten Kommunisten führte in der Regel zu einer anderen Gruppierung der politischen Linken (wenn sie noch jung genug waren) oder, zumeist in Etappen, zum militanten antikommunistischen Liberalismus des Kalten Kriegs. Selbst in den Vereinigten Staaten mußte erst eine Generation vergehen, bevor die (antistalinistischen) Intellektuellen der New Yorker Linken die alten Familienloyalitäten aufkündigten und sich offen zu »Neokonservativen« erklärten. Das sieht man besonders deutlich an den Intellektuellen, denn die vorherrschenden Konventionen des rationalen Denkens über die Gesellschaft sind in der rationalistischen europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts verankert. Wie die politische Rechte seit jeher beklagt, hat dies zu einer Neigung der Intellektuellen geführt, sich für Werte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einzusetzen. Selbst für meinen Freund Isaiah Berlin mit seiner instinktiven Bindung an eine absolute, unverlierbare jüdische Identität, die ihn dazu bewog, die Kritiker der Aufklärung zu verteidigen oder zumindest zu verstehen, war es unmöglich, sich nicht wie ein Liberaler der Aufklärung zu verhalten. Außerhalb Deutschlands gab es kaum eine säkulare intellektuelle Tradition, die der Rechten gepaßt hätte. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zog die Linke deutlich mehr Intellektuelle an als die Rechte. Selbst in den wichtigsten schöpferischen Künsten, wo rationales Denken eine geringere Rolle spielt, dominierte der Antifaschismus. Das letzte Wort in dieser Sache ist in bewundernswerter Kürze von »Simon Leys« gesagt worden, Pseudonym eines hervorragenden belgischen Sinologen, der wie kein anderer die Mythen des Maoismus dekonstruiert hat: »Wir alle in der intellektuellen Welt kennen Menschen, die Kommunisten waren und ihre Meinung geändert haben. Wie viele von uns haben einen Exfaschisten getroffen?« Wie auch immer, ob sie ihre Meinung nach dem Krieg geändert haben oder nicht, es waren einfach nicht so viele. Das bedeutet nicht, daß der Kommunismus einen oder mehrere Persönlichkeitstypen angezogen hätte, die für Extremismus, Autoritaris-

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mus und andere »undemokratische« Denkhaltungen anfällig gewesen wären, auch wenn dies während der Phase des Kalten Kriegs von Autoren behauptet wurde, die darauf aus waren, Ähnlichkeiten zwischen Kommunismus und Faschismus nachzuweisen; eine derartige politisch motivierte Sozialpsychologie braucht uns hier nicht zu interessieren. Der liberale Glaube an eine Wesensverwandtschaft zwischen den »Extremismen« von links und von rechts, die es leicht gemacht habe, vom einen zum anderen zu wechseln, ruht jedenfalls auf einem sehr schmalen Fundament. Da die KP in England klein war, bildeten kommunistische Arbeiter und Studenten zumindest gegen Ende der dreißiger Jahre zwar eine Ausnahme, waren jedoch nicht untypisch. Ich vermag keine Persönlichkeitsmerkmale unter meinen Alters- und Parteigenossen in Cambridge zu entdecken, die sie von denen unterschieden hätten, die nicht in der KP waren, außer vielleicht einer größeren intellektuellen Lebendigkeit. Mir ist es in späteren Jahren sogar immer einmal passiert, daß ich einen ehemaligen Genossen in seinem postkommunistischen Dasein als ehrbaren – wenngleich nur selten konservativen – bürgerlichen Fachmann wiedergetroffen und mir im stillen gesagt habe: »Und den und andere Leute wie ihn hast du damals für die Partei angeworben!« Zumindest in England war es nichts Ungewöhnliches, daß die Arbeiter, die in die KP eintraten, jung und lebendiger als die meisten anderen, im übrigen jedoch für ihre soziale Schicht und ihren Beruf – hauptsächlich in technischen Bereichen, im Bauwesen und je nach Region im Bergbau – durchaus typisch waren. Zwischen den dreißiger und den fünfziger Jahren, als Abitur und Studium für die Angehörigen ihrer Schicht noch nicht erreichbar waren, konnten intelligente junge Lehrlinge oder die dynamischen jungen Aktivisten in den Betrieben ihre politische und geistige Bildung durch die Partei erlangen. Sie formte die künftigen nationalen Führer der britischen Gewerkschaften und lieferte natürlich der Partei wiederum fähige Kader aus der Arbeiterklasse, die für eine »proletarische« Partei unverzichtbar waren. Entgegen der landläufigen Meinung spielten Intellektuelle als solche in der Parteiführung keine wichtige Rolle, bis die pädagogische Revolution die begabteren jungen Arbeiter aus den Betrieben an die Colleges beförderte und dies der Weg in die Politik oder zu besser bezahlten Stellungen wurde – und zwar nicht nur in Kommunistischen Parteien. Der Kommunismus war somit keine Methode, die »extremistischen« von den »nichtextremistischen« Persönlichkeiten zu scheiden, auch wenn die beiden Extreme des politischen Spektrums bisweilen dieselbe Klientel anziehen mochten, das heißt im allgemeinen jugendliche Personen, die eine natürliche Vorliebe für abenteuerliche Unterneh-

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mungen oder politische Gewalt haben, jene Art von Menschen, die sich vom Terrorismus oder von direkten Aktionen angezogen fühlen. Möglicherweise zog es Rambotypen mit dem Aufkommen von Demonstrationen mit gewaltbereiten Gruppen und kleinen bewaffneten Kommandos in den Nachwehen der Studentenrevolte von 1968 mit ihrer Rhetorik der »Straßenkämpfer« mehr zur extremen Linken. Trotzdem ist ein Leben, das der Revolution gewidmet wird, nicht dasselbe wie ein Leben, das seine spannenden Seiten aus irregulärer Kriegsführung oder Abenteuern bezieht. Angesichts der Tradition und Bedeutung von Untergrundaktivitäten in den Kommunistischen Parteien, die mit ganz seltenen Ausnahmem (wie England) zumindest während eines Teils ihrer Geschichte verboten waren, gab es offensichtlich Raum für ein abenteuerliches Leben in der internationalen kommunistischen Bewegung meiner Zeit, doch der Bolschewismus, dessen Motto eher skrupellose Effizienz als Romantik war, hielt wenig von Banküberfällen und Kommandounternehmen. Er erfand die Vorrangstellung des »politischen Kommissars« (das heißt des Zivilisten), da er den Impulsen des Soldaten mißtraute. In seiner Theorie stand er dem Terrorismus ablehnend gegenüber. Lenins Reaktion auf solche Gesten war überaus typisch. Er konnte nicht verstehen, warum 1916 der Sozialdemokrat Friedrich Adler aus Protest gegen den Ersten Weltkrieg öffentlich den Ministerpräsidenten des Habsburgerreiches erschossen hatte. Wäre es für ihn als Parteisekretär nicht wirkungsvoller gewesen, wenn er die einzelnen Ortsgruppen zu einem Streik aufgerufen hätte? Ich habe etliche Kommunisten gekannt, deren Laufbahn die Autoren von Politthrillern interessiert hätte und in manchen Fällen auch hat, doch alles in allem ging es ihnen bei ihren illegalen Aktivitäten nicht um ein Piratenleben oder eine Selbstinszenierung. Um das zu verdeutlichen, möchte ich den Charakter von Alexander Rado, dem Mann an der Spitze des überaus wichtigen sowjetischen Spionagenetzes in der Schweiz während des Krieges und dem einzigen Meisterspion, mit dem ich ein etwas bizarres Weihnachtsfest in Budapest verbrachte, mit dem seines Funkers Alexander Foote vergleichen, anscheinend ein britischer Doppelagent, wie er in der Literatur geschildert wird. Foote »war kein Geheimagent aus primär weltanschaulichen, finanziellen oder patriotischen Gründen geworden. Er verdiente sehr wenig Geld mit Spionage, abstrakte politische Ideen langweilten ihn, und M15 betrachtete ihn nicht als Patrioten, als er schließlich nach England zurückkehrte. Aber er war der geborene Abenteurer . . .«2 Rado sah nicht aus wie ein Mann, den es nach Taten dürstete, sondern wie ein gemütlicher Ge-

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schäftsmann in mittleren Jahren, dessen natürlicher Aufenthaltsort in seiner Freizeit ein mitteleuropäisches Kaffeehaus war. Als ich ihn 1960 kennenlernte – er war nach mehrjähriger Haft in den Lagern Stalins auf einen Lehrstuhl an der Karl-Marx-Universität in Budapest zurückgekehrt – war er das, was er immer sein wollte, ein Geograph und Kartograph. Er hatte sein gesamtes politisches Leben seit 1918 innerhalb und außerhalb von geheimen oder verdeckten Tätigkeiten verbracht und war immer wieder zu diesem Beruf zurückgekehrt. Weder das Kämpfen – er war der Organisator der bewaffneten Arbeiterbrigaden, die an der Spitze der (fehlgeschlagenen) deutschen Revolution von 1923 stehen sollten – noch die Führung von Spionageringen brachten ihn davon ab. Zweifellos genoß er auch den Nervenkitzel eines solchen Lebens, aber ich hatte von ihm nicht den Eindruck eines Mannes, der es genau aus diesem Grund gewählt hatte. Er tat das, was getan werden mußte. »Als wir jung waren«, meinte er, »sagte Rákosi [der frühere ungarische kommunistische Führer und Diktator und zum Zeitpunkt dieses Gesprächs im Exil in der UdSSR] des öfteren zu mir: ›Sandor, warum willst du kein Berufsrevolutionär werden?‹ Und jetzt sieh ihn an und sieh mich an. Es war gut, daß ich einen ordentlichen Beruf hatte und ihn nie aufgegeben habe.« Kommunistische Parteien waren für romantische Vorstellungen nicht zu haben. Dagegen hielten sie viel von Organisation und bürokratischer Routine. Das war der Grund, warum Kommunistische Parteien von wenigen tausend Mitgliedern – wie die vietnamesische KP am Ende des Zweiten Weltkriegs – unter bestimmten Umständen einen Staat errichten konnten. Das Geheimnis der leninistischen Partei lag nicht in den Träumen vom Erstürmen von Barrikaden oder gar in der marxistischen Theorie. Es läßt sich in wenigen Worten zusammenfassen: »Entscheidungen müssen ausgeführt werden« und »Parteidisziplin«. Was Leute zur Partei zog, war, daß sie mehr schaffte als die anderen. Das Leben in der Partei war fast instinktiv antirhetorisch, was möglicherwiese zu jener Kultur endloser und fast mutwillig langweilender und – gedruckt in Form der Parteipublikationen – erstaunlich unlesbarer »Berichte« beitrug, die von den KPs außerhalb der Sowjetunion von der KPdSU übernommen wurden. Im opernhaften Italien verspotteten die jungen roten Nachkriegsintellektuellen den traditionellen Stil der Reden bei den großen öffentlichen Versammlungen, auf denen die Gläubigen nach wie vor bestanden. Nicht daß uns schwungvolle Reden kaltgelassen hätten, und wir erkannten auch ihre Bedeutung bei öffentlichen Anlässen und in der »Arbeit mit den Massen«. Trotzdem nehmen Reden in den Erinnerungen an meine Zeit als Kommunist

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keinen besonderen Platz ein, abgesehen von einer einzigen in Paris in den ersten Monaten des Spanischen Bürgerkriegs von La Pasionaria – groß, in schwarzer Witwentracht, im gespannten, emotionsgeladenen Schweigen eines bis auf den letzten Platz gefüllten Vel d’hiv (Vélodrome d’hiver). Obwohl kaum einer im Publikum Spanisch konnte, verstanden wir genau, was sie uns sagen wollte. Ich erinnere mich bis heute an die Worte: »y las madres, y sus hijos« (»und die Mütter und ihre Söhne«), die langsam vom Mikrofon über uns hinwegschwebten wie dunkle Albatrosse. Die leninistische Partei als »Vorhut der Arbeiterklasse« war eine Verbindung aus Disziplin, organisatorischer Effizienz, einer extremen emotionalen Identifikation und einem Gefühl der totalen Hingabe. Hierzu ein Beispiel. 1941 war unsere Genossin Freddie von einem heruntergefallenen Deckenbalken eingeklemmt und glaubte, sie werde in dem Feuer sterben, das von der einzigen feindlichen Bombe auf Cambridge während des Zweiten Weltkriegs ausgelöst worden war. Mein Freund Teddy Prager, der vergeblich versuchte, sie bis zum Eintreffen der Feuerwehr unter dem Balken herauszuziehen – er wohnte in meinem alten Häuschen in der Round Church Street, fast unmittelbar neben der Einschlagstelle der Bombe –, schilderte später die Szene: »My feet, schrie sie, it’s burning, my feet, und noch immer drosch ich auf den Balken ein, und er rührte sich nicht. Die arme Freddie, sie gab sich auf, It’s no good, rief sie jetzt, I’m done for, und dann, dann schrie sie, und ich konnte die Axt nicht mehr heben und weinte bloß vor Verzweiflung und Rauch, Long live the Party, long live Stalin . . . Long live Stalin, schrie sie, und Good-bye boys, good-bye Teddy.«3 Freddie kam mit dem Leben davon, auch wenn ihr beide Beine unterhalb der Knie amputiert werden mußten. Damals hätte es niemanden von uns gewundert, daß die letzten Worte eines sterbenden Parteimitglieds der Partei, Stalin und den Genossen galten. (In jenen Tagen war der Gedanke an Stalin unter Kommunisten außerhalb der Sowjetunion ebenso aufrichtig, natürlich, unbefleckt von irgendwelchen Kenntnissen und universell wie die aufrichtige Trauer, die von den meisten von uns 1953 beim Tod eines Mannes empfunden wurde, bei dem kein sowjetischer Bürger den Wunsch verspürt hätte, ihn mit einem Kosenamen zu belegen – getan hätte es ohnedies keiner –, wie »Uncle Joe« in England oder »baffone« [»Schnauzbart«] in Italien). Unser Leben drehte sich um die Partei. Wir gaben ihr alles, was wir hatten. Dafür bekamen wir von ihr die Gewißheit unseres Siegs und das Erlebnis der Brüderlichkeit.

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»Die Partei« hatte den höchsten oder genauer gesagt den einzigen wirklichen Anspruch auf unser Leben. Ihre Forderungen hatten den absoluten Vorrang. Wir akzeptierten ihre Disziplin und ihre Hierarchie. Wir akzeptierten die absolute Verpflichtung, der »Linie« zu folgen, die von ihr vorgegeben wurde, selbst wenn wir anderer Meinung waren, auch wenn wir heroische Anstrengungen unternahmen, uns ihre geistige und politische »Korrektkeit« einzureden, um »sie zu verteidigen«, wie man es von uns erwartete. Denn im Unterschied zum Faschismus, der eine automatische Selbstverleugnung und Unterwerfung unter den Willen des Führers (»Mussolini hat immer recht«) und den unbedingten Gehorsam gegenüber militärischen Befehlen forderte, stützte die Partei – selbst auf dem Höhepunkt von Stalins Absolutismus – ihre Autorität zumindest der Theorie nach auf die Überzeugungskraft der Vernunft und des »wissenschaftlichen Sozialismus«. Schließlich sollte sich die Linie aus einer »marxistischen Analyse der Lage« ergeben, und jeder Kommunist sollte im Lauf der Zeit die Methode dazu lernen. »Die Linie« mochte noch so sehr vorgegeben und unveränderlich sein, sie mußte im Rahmen einer solchen Analyse begründet und, sofern die Umstände dies nicht physisch unmöglich machten, auf allen Ebenen der Partei »diskutiert« und gebilligt werden. In Kommunistischen Parteien, die nicht an der Macht waren und in denen die Mitglieder nicht zu eingeschüchtert waren, um die alte linke Tradition ideologischer Auseinandersetzungen zu pflegen, mußte die Führung ihr Plädoyer für die offizielle Linie so lange wiederholen, bis kein Raum mehr für Zweifel darüber war, welches Votum von uns erwartet wurde. (Der parteiinterne Begriff für diesen Prozeß lautete »geduldiges Erklären«.) Sobald abgestimmt war, erforderte der »demokratische Zentralismus«, daß an die Stelle von Debatten einmütiges Handeln trat. Wir taten das, was »sie« befahl. In Ländern wie England befahl sie uns nichts besonders Aufregendes. Soweit die Kommunisten nicht von der Überzeugung durchdrungen waren, daß sie die Welt retteten, hätten sie sogar Grund genug gehabt, sich von den alltäglichen Aktivitäten ihrer Partei gelangweilt zu fühlen, die nach dem üblichen Ritual der britischen Arbeiterbewegung abliefen (Genosse Vorsitzender, Protokoll der letzten Sitzung, Kassenbericht, Resolutionen, Kontakte, Verkauf von Broschüren und dergleichen), in Privatwohnungen oder wenig einladenden Versammlungsräumen. Doch was immer sie befohlen hätte, wir hätten gehorcht. Schließlich befolgten die meisten sowjetischen und Kominternkader in der Zeit des Stalinschen Terrors, die darauf gefaßt waren, was sie möglicherweise erwartete, den Befehl zur

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Rückkehr nach Moskau. Wenn die Partei befahl, sich von der Freundin oder Ehefrau zu trennen, dann machte man das. Nach 1933 befahl die deutsche KP im Exil Margaret Mynatt (von der später die Anregung zur Veröffentlichung der gesammelten Werke von Marx und Engels in englischer Sprache ausging), von Paris nach England zu gehen; in London wurde jemand gebraucht, der einen gültigen britischen Paß besaß, da bekannten deutschen Kommunisten die Einreise verweigert wurde. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, verließ sie die Liebe ihres Lebens (jedenfalls erzählte sie mir dies später) und ging. Sie sah ihn (oder sie?) nie wieder. Wie ich nach dem Krieg von einem ehemaligen Häftling erfuhr, wurden Parteibeiträge in Auschwitz in der unvorstellbar wertvollen Zigarettenwährung bezahlt, und es besagt einiges über die Fähigkeit der Partei zu kollektivem Widerstand, daß die Beiträge auch aufgebracht wurden. Ein ernsthaftes Verhältnis mit jemandem zu unterhalten, der nicht in der Partei oder zum Eintritt (oder Wiedereintritt) bereit war, wäre undenkbar gewesen. Da die Parteimitglieder allerdings in der Regel auch in ihrer Einstellung zur Sexualität emanzipiert waren, darf man annehmen, daß nicht alle militanten Genossen jeden apolitischen Sex mieden, doch selbst für den Kominternagenten in Brechts wunderbarem Gedicht »An die Nachgeborenen« waren seine gelegentlichen Verbindungen (»der Liebe pflegte ich achtlos«) nur ein weiterer Beweis, daß die Parteiarbeit vor allem Privaten den Vorrang hatte. Ich gestehe, daß ich in dem Augenblick, in dem mir klar wurde, daß ich mir eine wirkliche Beziehung auch mit jemandem vorstellen konnte, der nicht einmal ein potentieller Kandidat für die Partei war, zugleich erkannte, daß ich kein Kommunist im vollen Sinne meiner Jugend mehr war. Es ist leicht, in der Rückschau zu schildern, wie wir vor einem halben Jahrhundert als Parteimitglieder empfanden, aber wesentlich schwerer zu erklären. Ich kann die Person, die ich damals war, nicht neu erschaffen. Die Landschaft jener Zeit liegt unter den Trümmern der Weltgeschichte verschüttet. Selbst das Bild – wenn es denn eines gab – der wunderbaren Hoffnungen, die wir für das menschliche Leben hegten, wird durch die Vielfalt von Gütern, Dienstleistungen, Lebenschancen und persönlichen Wahlmöglichkeiten überlagert, die heute der Mehrheit der Männer und Frauen in den unglaublich wohlhabenden und technisch fortgeschrittenen Ländern der Welt zur Verfügung stehen. Marx und Engels haben es klugerweise unterlassen zu beschreiben, wie die kommunistische Gesellschaft aussehen würde. Doch das meiste von dem wenigen, was sie über das Leben des einzelnen in dieser Gesellschaft gesagt haben, erscheint heute – ohne ein Da-

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zutun des Kommunismus – als das Ergebnis jener gesellschaftlichen Produktion einer potentiell fast grenzenlosen Fülle und jenes erstaunlichen technischen Fortschritts, die von ihnen in einer unbestimmten Zukunft erwartet wurden, heute jedoch als eine Selbstverständlichkeit gelten. Statt in meinen achtziger Jahren zu rekonstruieren, was uns zu Kommunisten gemacht hat, möchte ich aus einem Text zitieren, den ich unmittelbar nach der Krise von 1956 geschrieben habe, als ich den Überzeugungen meiner Jugend noch näher war. Ich schrieb von einem »Utopismus« oder »Impossibilismus«, der »selbst den modernsten [Revolutionären] einen fast physischen Schmerz bei dem Gedanken verursacht, daß die Heraufkunft des Sozialismus nicht allen Gram und Kummer, unglückliche Liebesgeschichten und Todestrauer beseitigen wird und nicht alle Probleme wird lösen können oder lösbar machen«. Ich stellte fest, daß »revolutionäre Bewegungen und Revolutionen zu beweisen scheinen, daß es fast keine Änderung gibt, die für sie unerreichbar wäre«. »Freiheit, Gleichheit und vor allem Brüderlichkeit mögen in diesen Momenten der großen sozialen Revolution Wirklichkeit werden, Momente, die Revolutionäre, die sie durchlebt haben, in einer Sprache beschreiben, die sonst nur romantischer Liebe vorbehalten ist . . . Revolutionäre stellen an sich selbst nicht nur höhere moralische Anforderungen als irgendwer sonst außer den Heiligen, sondern setzen sie auch wirklich in solchen Momenten in die Tat um . . . In solchen Zeiten repräsentieren sie eine Miniaturversion der Idealgesellschaft, in der alle Menschen Brüder sind und alles für die Allgemeinheit opfern, ohne doch ihre Individualität aufzugeben. Wenn dies innerhalb ihrer Bewegung möglich ist, warum dann nicht überall?« Zu dieser Zeit hatte ich mit Milovan Djilas, der sehr treffend über die Psychologie von Revolutionären geschrieben hat, erkannt, daß dies »die Moral einer Sekte« ist, doch es war genau das, was ihnen als Antrieb des politischen Wandels eine solche Kraft verlieh.4 Es gehörte nicht viel dazu, in Europa während der beiden Weltkriege und dazwischen zu dem Schluß zu kommen, nur eine Revolution könne der Welt eine Zukunft geben. Die alte Welt war in jedem Fall zum Untergang verurteilt. Es gab jedoch drei Elemente, die den kommunistischen Utopismus von anderen Zukunftsvisionen unterschieden. Erstens den Marxismus, der mit den Methoden der Wissenschaft die Gewißheit unseres Sieges bewies, eine Vorhersage, die durch den Sieg der proletarischen Revolution auf mehr als einem Sechstel der

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Erdoberfläche und das weitere Vordringen der Revolution in den vierziger Jahren bestätigt worden war. Marx hatte dargelegt, warum ihr Eintreten in der bisherigen Geschichte der Menschheit unmöglich war und warum sie sich erst jetzt ereignen konnte und ereignen mußte, was sie ja tatsächlich getan hatte. Heute sind die Fundamente dieser Gewißheit zu wissen, welchen Verlauf die Geschichte nehmen werde, zerstört, insbesondere die Überzeugung, die industrielle Arbeiterklasse werde die Trägerin der Veränderung sein. Im »Katastrophenzeitalter« wirkten sie noch fest und sicher. Zweitens gab es den Internationalismus. Unsere Bewegung war eine Bewegung für die ganze Menschheit und nicht für eine bevorzugte Gruppe. Sie vertrat das Ideal einer Überwindung der – individuellen wie kollektiven – Selbstsucht. Immer wieder bekehrten sich junge Juden, die als Zionisten angefangen hatten, zum Kommunismus, weil die Leiden der Juden, so offensichtlich sie waren, nur einen Teil der allgemeinen Unterdrückung darstellten. Julius Braunthal schrieb über seine Konversion zum Sozialismus in Wien zu Beginn des Jahrhunderts: »Es war mir leid um die zionistischen Freunde, die ich verlassen hatte. Doch hoffte ich, sie eines Tages überzeugen zu können, daß die ›kleinere Sache‹ vor der großen zurückstehen muß.«5 Mit nachträglicher Bitterkeit, versteckt hinter einem Zynismus, schilderte meine New Yorker Kollegin, die Philosophin Agnes Heller, ihre Bekehrung zum Kommunismus in einem Arbeitscamp ungarischer Zionisten 1947 im Alter von 18 Jahren: »Aber da war die Gemeinschaft, das Zusammengehörigkeitsgefühl. Geld brauchten wir nicht, Reiche auch nicht . . . Ich mochte die Reichen nicht, heute schäme ich mich dafür. Ich verabscheute die Schwarzhändler, die mit dem Dollar schacherten, die Raffgierigen. Prima, ich würde immer zu den Armen halten. Ich verrücktes [Mädel] trat in die Kommunistische Partei ein, um bei den Armen zu sein.«6 In der Praxis waren nationale oder andere kollektive oder historische Identitäten weit ausschlaggebender, als wir geglaubt hätten. Überhaupt übte der Kommunismus wahrscheinlich seinen größten Einfluß außerhalb Europas aus, wo er im Kampf gegen nationale oder imperiale Unterdrückung keinen ernstzunehmenden Rivalen hatte. Ho Chi Minh, der Befreier Vietnams, wählte als seinen Decknamen in der Komintern »Nguyen der Patriot«. Chin Peng, der den kommunistischen Aufstand und die Dschungelguerillas in Malaya anführte, allerdings mit weniger Erfolg, begann als jugendlicher Patriot, der sich erst dann dem Kom-

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munismus zuwandte, als er die Hoffnung auf die Fähigkeit der Guomindang aufgegeben hatte, China zu befreien. Er hat es mir selbst gesagt, ein älterer chinesischer Herr mit intellektuellen Interessen, der überhaupt nicht aussah, wie man sich einen früheren Guerillaführer vorstellte, in der unwahrscheinlichen Umgebung des Kaffeesaals im Londoner Athenaeum Club. Und dennoch, selbst für diejenigen, die anfangs nur begrenzte Ziele verfolgten, selbst für diejenigen, die ihre größeren Hoffnungen fahrenließen, als er die bescheideneren enttäuschte, wie die vielen kommunistischen Juden, die unter dem Eindruck von Stalins antisemitischen Kampagnen die Partei verließen, vertrat der Kommunismus das Ideal einer Überwindung des Egoismus und eines Dienstes an der gesamten Menschheit ohne Ausnahme. Doch es gab noch ein drittes Element in den revolutionären Überzeugungen der Parteikommunisten. Was sie auf der Straße zum Millenium erwartete, war Tragik. Im Zweiten Weltkrieg war der Kommunismus in den meisten Widerstandsbewegungen überrepräsentiert, aber nicht, weil sie einfach tüchtig und mutig, sondern weil sie von Anfang an zum Schlimmsten bereit waren: zur Spionage, Untergrundarbeit, zu Verhören und zu bewaffneten Aktionen. Lenins Partei als Vorhut der Arbeiterklasse wurde in der Verfolgung geboren, die Russische Revolution im Krieg, die Sowjetunion im Bürgerkrieg und in der Hungersnot. Bis zur Revolution konnten die Kommunisten keine Belohnungen von ihren Gesellschaften erwarten. Was die Berufsrevolutionäre erwarten konnten, waren Haft, Verbannung und sehr oft der Tod. Anders als bei den Anarchisten, der IRA oder islamistischen Bewegungen mit Selbstmordattentätern, machte die Komintern kaum einen Kult aus individuellen Märtyrern, auch wenn die KP Frankreichs nach der Befreiung die Anziehungskraft der Tatsache zu schätzen wußte, daß sie während der Résistance »le parti des fusillés« (die Partei der Hingerichteten) gewesen war. Kommunisten waren zweifellos für fast jede Regierung der Feind schlechthin, selbst für die relativ wenigen, die ihre Parteien offiziell zuließen, und wir wurden beständig an die Behandlung erinnert, auf die sie in Gefängnissen und Konzentrationslagern gefaßt sein mußten. Dennoch sahen wir uns weniger als Dulder oder potentielle Gefallene denn als Kämpfer in einem allgegenwärtigen Krieg. Wie Brecht in den dreißiger Jahren in seiner großartigen Elegie auf die Berufsrevolutionäre der Komintern, »An die Nachgeborenen«, schrieb: »Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten Schlafen legte ich mich unter die Mörder.«

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Härte ist die Eigenschaft des Soldaten, und sie durchzog selbst unseren politischen Jargon (»kompromißlos«, »unbeugsam«, »stahlhart«, »monolithisch«). Härte bis hin zur Unbarmherzigkeit, tun, was getan werden mußte, vor, während und nach der Revolution, war das Wesen des Bolschewiken. Es war die notwendige Antwort auf die Zeiten. Lesen wir weiter bei Brecht: »Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut In der wir untergegangen sind Gedenkt Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht Auch der finsteren Zeit Der ihr entronnen seid.« Doch die eigentliche Aussage in dem Gedicht Brechts, das die Kommunisten meiner Generation anspricht wie kein anderes, bestand darin, daß die Härte den Revolutionären aufgezwungen wurde. »Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit Konnten selber nicht freundlich sein.« Natürlich hatten wir keine Vorstellung und konnten sie unmöglich haben allein vom reinen Ausmaß dessen, was den Sowjetvölkern unter Stalin zu der Zeit aufgezwungen wurde, als wir uns mit ihm und der Komintern identifizierten, und wir wollten auch den wenigen nicht glauben, die uns erzählten, was sie wußten oder argwöhnten.7 Niemand konnte sich das Ausmaß des menschlichen Leidens im Zweiten Weltkrieg vorstellen, bis es sich ereignete. Es wäre jedoch ein Anachronismus anzunehmen, daß nur eine echte oder gewollte Ignoranz uns daran gehindert hätte, die Unmenschlichkeiten anzuprangern, die auf unserer Seite begangen wurden. Jedenfalls waren wir keine Liberalen. Der Liberalismus war gescheitert. In dem totalen Krieg, in dem wir uns befanden, fragte man sich nicht, ob es eine Grenze für die Opfer geben müsse, die anderen oder uns selbst abverlangt wurden. Da wir nicht an der Macht waren und auch nicht kurz davor standen, rechneten wir eher damit, Gefangene zu sein als Gefängniswärter. Es gab Kommunistische Parteien und Parteifunktionäre wie André Marty in Hemingways Wem die Stunde schlägt, die stolz auf ihren notwendigen stahlharten Bolschewismus waren, nicht zuletzt die sowjetkommunistische Partei, in der der Stolz sich mit der absolutistischen Tradition der unbeschränkten Macht und der Grausamkeit der alltäg-

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lichen russischen Existenz verband, um die Hekatomben der Stalinzeit hervorzubringen. Die KP Großbritanniens gehörte nicht dazu, doch die Pathologie der Partei zeigte sich hier in masochistischeren und friedlicheren Formen. Hierfür ein Beispiel: der verstorbene Andrew Rothstein (1898-1994). Rothstein war ein ziemlich langweiliger Kleinbürger mit einem rundlichen Gesicht, der alles verteidigte, was in der Sowjetunion verteidigt werden mußte, der Sohn eines aufregenderen russischen Altbolschewisten, Theodore Rothstein, der früher einmal Sowjetdiplomat gewesen war und ein frühes Buch über die Geschichte der englischen Arbeiterbewegung geschrieben hatte. Wir teilten einmal ein kaltes Schlafzimmer bei einer Konferenz der Association of University Teachers, und ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er sorgfältig seine Toilettenutensilien und seine Pantoffel auspackte. Möglicherweise hatte ich den Auftrag, gegen die School of Slavonic Studies der University of London zu protestieren, wo er über die Institutionen der UdSSR las, die seinen zeitlich befristeten Vertrag als Dozent nicht verlängern wollte. Ein Gründungsmitglied der KP Großbritanniens und offenbar mit guten russischen Verbindungen, war er in den zwanziger Jahren eine führende Persönlichkeit in der Partei, doch 1929/30 hatte seine Opposition gegen den ultralinken Kurs der Komintern, ganz zu schweigen von seiner Neigung zu beißendem Sarkasmus und seiner wenig proletarischen Erscheinung seinen Sturz zur Folge. Er mußte (ohne seine Frau und seine Kinder) nach Moskau in die Verbannung gehen, und seine Parteimitgliedschaft wurde auf die KPdSU übertragen. Zum Glück für seine Lebenserwartung durfte er bald wieder nach England und in die britische KP zurückkehren, allerdings unter der Bedingung, daß er für den Rest seiner Laufbahn in der Partei nur noch lokale Aufgaben wahrnahm. Trotzdem blieb er ein absolut loyaler, absolut ergebener Kommunist. Ich hatte sogar den Eindruck, daß für ihn und andere seinesgleichen die Probe auf seine Hingabe an die Sache in der Bereitschaft bestand, etwas zu verteidigen, was nicht zu verteidigen war. Es war nicht das christliche »Credo quia absurdum« (ich glaube, weil es absurd ist), sondern vielmehr die fortwährende Herausforderung: »Stellt mich nur weiter auf die Probe, als Bolschewik habe ich keine Zerreißgrenze.« Als die britische KP 1991 nicht mehr weiterbestand, wurde er mit 93 Jahren das erste Mitglied der winzigen orthodoxen CP of Britain, die ihre Nachfolge antrat. Zwar bezweifle ich, daß irgendein Kommunist meiner Generation sich veranlaßt gesehen hätte, aufgrund des politischen Lebenswegs von Andrew Rothstein in die Partei einzutreten oder nie mehr auszutreten. Trotzdem hatten wir unsere Helden und Vorbilder – Georgi Dimitroff,

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der beim Reichstagsbrandprozeß von 1933 allein dastand, Hermann Göring die Stirn bot und den guten Namen des Kommunismus verteidigte und nebenbei auch den der kleinen, aber stolzen bulgarischen Nation, der er angehörte. Wenn ich 1956 nicht aus der Partei austrat, dann hing das nicht zuletzt damit zusammen, daß die Bewegung solche Männer und Frauen hervorgebracht hatte. Ich denke dabei hauptsächlich an einen Menschen, der zu Lebzeiten kaum Bekanntheit erlangte und heute nur noch Genossen und Freunden erinnerlich ist. Ich sehe ihn immer noch vor mir, klein, scharfäugig, spöttisch, wie wir Sonntag morgens auf den sonnengesprenkelten und sorgfältig markierten Wanderwegen des Wienerwalds spazierengingen und dann und wann einem bekannten Fußgängerpaar begegneten, weißhaarigen Männern und Frauen, die in den abgelegeneren Teilen dieser Wälder illegale Versammlungen der Partei und von Sozialisten organisiert und später die Haft im Konzentrationslager überlebt hatten. Die frische Luft im Freien war seit jeher der typische Locus für österreichische Revolutionäre. Es gibt wahrscheinlich keinen, für den ich mehr Bewunderung empfinde als für diesen Mann. Mitte August 1944 hatte er in Zelle 155 von Block 2 und in Zelle 90 von Block 1 im Fresnes-Gefängnis in Paris seine letzten Worte geschrieben: »Franz Feuerlich, Kommunist Franz Feuerlich, Österreicher wird am 15. August 1944 hingerichtet Am Vorabend der Befreiung?«8 Doch Ephraim Feuerlicht (1913–1979), den wir alle mit seinem Parteinamen Franz Marek kannten, hatte Glück. Die Befreiung von Paris rettete ihm das Leben. Er war eine führende Figur in der MOI (main d’œuvre immigrée), einer Organisation der KPF unter dem Tschechen Artur London (später Opfer der stalinistischen Prozesse), deren Spanier, Juden, Italiener, Polen und andere eine überproportional große und heroische Rolle in der bewaffneten Résistance in Frankreich gespielt hatten. (Diejenigen, deren Bild von den Juden unter dem Faschismus das der ewigen Opfer ist, sollten sich an die Rolle der sozialistischen und kommunistischen Juden als Kämpfer erinnern, von den 7000, die in den Internationalen Brigaden gekämpft haben, bis zur MOI und ihren Pendants in anderen Ländern.) Unter anderem war Franz verantwortlich für die Arbeit unter den deutschen Soldaten selbst. Er redete nicht über diese Zeit, ausgenommen einmal mit unse-

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rem Sohn Andy, der damals etwa zehn Jahre alt war und wissen wollte, was man in der Résistance eigentlich getan hatte. Er antwortete, meistens habe man den Leuten aus dem Weg gehen müssen, die einen verhaften wollten, aber daß es einige Male für ihn ziemlich brenzlig gewesen sei. Geboren in Przemysl, das heute in der Ukraine liegt, aufgewachsen in tiefster Armut im Wien der Zwischenkriegszeit – Franz behauptete, eine neue Jacke und neue Hosen habe er erst bekommen, als er Berufsrevolutionär geworden sei –, wurde er mit fünfzehn Jahren als Zionist politisiert, bekehrte sich jedoch von der am stärksten marxistischen unter den zionistischen Gruppen, der Hashomer Hazair, zum Kommunismus, trat allerdings erst nach dem österreichischen Bürgerkrieg von 1934 in die KP ein. Dies war – nicht verwunderlich – die unmittelbare Folge eines mehrmonatigen Aufenthalts in Deutschland 1931/32, kurz vor dem Dritten Reich, bei dem er ziemlich weit herumkam. Er wurde fast von Anfang an Berufsrevolutionär, nachdem er seine offenbar außergewöhnlichen Fähigkeiten für eine Untergrundarbeit dem Genossen bewiesen hatte, der die österreichischen Kommunisten in der ungewohnten Lage der Illegalität unterweisen sollte. Obwohl er immer wieder betonte, daß das Geheimnis dieser Arbeit Pünktlichkeit und Pedanterie in Kleinigkeiten war, also die bolschewistischen »Regeln der Konspiration«, genoß er als Mann von Anfang Zwanzig die abenteuerliche Seite der Arbeit. Gern erinnerte er sich daran, daß er das frühere Büro Dimitroffs im neunten Bezirk geerbt hatte – Wien war seit jeher das Zentrum der Internationale für den Balkan. Bald darauf richtete er ein Wiener Büro für die KP Rumäniens ein (insgesamt 300 Mitglieder) und organisierte deren Teilnahme am bevorstehenden 7. Weltkongreß, bevor er zum Leiter des »Apparats« der illegalen KP Österreichs befördert wurde – Nachrichtenverbindungen, sichere Häuser, Grenzübergänge und die Beschaffung und Verteilung von Informationsschriften – und später auch ihrer Agitpropaktivitäten. Das war sicherlich der Grund, warum er nach dem »Anschluß« nach Paris gegangen war. Nach dem Krieg kehrte er als Mitglied des Politischen Büros der KPÖ nach Österreich zurück, schrieb ein kurzes und brillantes Buch über Frankreich und gab die theoretische Zeitschrift der Partei heraus. 1968 gelang es ihm für kurze Zeit, die österreichische KP von der UdSSR abzukoppeln, nachdem er deren Einmarsch in die Tschechoslowakei verurteilt hatte, doch Moskau setzte sich bald wieder durch. Marek wurde aus der Partei ausgeschlossen, arbeitete jedoch weiter als Herausgeber einer unabhängigen linken Monatsschrift und (zusammen mit mir und ein paar anderen) als Planer und Herausgeber – sein einzi-

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ges regelmäßiges Einkommen bezog er aus dieser Tätigkeit – von Giulio Einaudis großangelegter Storia del Marxismo. Im Sommer 1979 fiel er einem seit langem erwarteten Herzinfarkt zum Opfer. Er starb als Kommunist. Die KP Italiens war bei seiner Beerdigung vertreten. Was er hinterließ, konnte man – abgesehen vielleicht von ein paar Büchern – in zwei Koffern unterbringen. Ein Mann von seiner starken, klaren Intelligenz und bemerkenswerten Gelehrsamkeit hätte ein Denker, Schriftsteller oder ein hervorragender Hochschullehrer werden können. Er hatte es jedoch vorgezogen, die Welt nicht zu interpretieren, sondern zu verändern. Hätte er in einem größeren Land und zu einer anderen Zeit gelebt, dann wäre aus ihm vielleicht eine bedeutende politische Persönlichkeit in einem Kommunismus mit menschlichem Antlitz geworden. Er setzte seinen Weg bis zum Ende fort und widerstand den Versuchungen einer postpolitischen Zuflucht in der Literatur oder an einer Universität. Auf seine Weise war er ein Held unserer Zeit, die eine schlechte Zeit war und ist. II Bislang habe ich über Kommunisten außerhalb der Macht geschrieben. Wie verhielt es sich mit den Parteimitgliedern, die ich gekannt habe und die vor der gänzlich anderen Situation in kommunistischen Regimes standen, wo die Parteizugehörigkeit keine Verfolgungen, sondern Privilegien mit sich brachte? Sie waren nicht ausgegrenzt, sondern gehörten dazu, waren nicht in der Opposition, sondern an der Regierung, häufig in Ländern, deren Einwohner ihnen zum größten Teil feindselig gegenüberstanden. Die Polizei war nicht ihr Feind, sondern ihr Werkzeug. Und für sie war eine grandiose Zukunft nach der Revolution kein Traum geblieben, sondern Wirklichkeit geworden. Sie genossen nicht den Vorteil, der unsere Kampfmoral aufrechterhielt, Feinde zu haben, gegen die man mit Überzeugung und einem reinen Gewissen kämpfen konnte: Kapitalismus, Imperialismus, nukleare Vernichtung. Im Gegensatz zu uns konnten sie sich der Verantwortung für das, was im Namen des Kommunismus in ihren Ländern geschah, auch das Unrecht, nicht entziehen. Das war es, was Chruschtschows Rede auf dem XX. Parteitag 1956 für sie besonders traumatisch gemacht hat. »Wenn zur Begründung für Gewalttaten nicht mehr die ›historische Gesetzmäßigkeit‹ herangezogen wurde, sondern Stalin persönlich die Schuld trug, wie sah es dann mit unserer eigenen Verantwortung aus?« schrieb ein exilierter tschechischer Reformkommu-

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nist, den ich persönlich kannte.9 In den fünfziger Jahren hatte er im Dienst der tschechoslowakischen Staatsanwaltschaft gestanden. Im Verlauf meines Lebens gab es drei Generationen von solchen Kommunisten, die diese Schwelle zur Macht überschritten hatten: die prästalinistischen »Altbolschewiki«, von denen nur wenige und keiner von denen, die ich gekannt hatte, die dreißiger Jahre überlebten; diejenigen, die die große Veränderung herbeigeführt oder erlebt hatten – die Zwischenkriegs- und Widerstandsgenerationen von Kommunisten; und schließlich jene, die unter den Regimes aufwuchsen, die 1989 zusammenbrachen. Zu den Kommunisten der letztgenannten Generation gibt es nichts zu sagen. Zu der Zeit, als sie zur mittlerweile etablierten staatlichen Elite stießen, kannten sie die Spielregeln, unter denen die Bevölkerung ihrer Länder lebte. Auch über die Sowjetunion kann ich nichts sagen. Ich kenne nur einen einzigen Angehörigen der Sowjetgeneration persönlich, der nicht einmal Russe war, sondern ein ausländischer Kommunist der zweiten Generation, der in der Sowjetunion aufwuchs, bevor er in sein eigenes Land zurückkehrte, den verstorbenen Tibor Szamuely aus Ungarn. Er war ein sehr intelligenter, untersetzter, häßlicher und geistreicher Historiker, der Neffe einer der herausragendsten Persönlichkeiten in der ungarischen Sowjetrepublik von 1919, der in der Sowjetunion aufgewachsen war, wo sein Vater hingerichtet und seine Mutter deportiert wurde. Er selbst, nachdem er während der Belagerung Leningrads fast Hungers gestorben wäre, behauptete, die übliche Zeitspanne während der letzten Verrücktheit des Diktators in einem Lager verbracht zu haben. Nach Stalins Tod kehrte er nach Ungarn zurück, zynisch, doch offiziell Kommunist und Parteisekretär an der historischen Fakultät der Universität, wo er eine extrem harte Linie verfolgte. Trotzdem wurden keine Studenten oder Kollegen ausgeschlossen oder gemaßregelt. Als ich ihn jedoch um das Jahr 1959 in London traf, bemühte er sich sofort um Kontakte zu den schärfsten Antikommunisten. Gleich so vielen mitteleuropäischen Juden war er ein begeisterter Anglophiler. Möglicherweise traf er damals bereits Vorbereitungen, als Freiheitsdurstiger vorzeitig von Bord zu gehen, was er einige Jahre später dann tat. Er wurde zu einem antikommunistischen Publizisten für Veröffentlichungen der Konservativen und ein enger Freund des Schriftstellers und Trinkers Kingsley Amis, ebenso reaktionär, komischer, aber beträchtlich weniger intelligent. Trotz meiner Ansichten, die für ihn Illusionen gewesen sein müssen, fanden wir uns sympathisch und kamen sehr gut miteinander aus. Durch ihn kam ich zum ersten Mal 1960 nach Ungarn, auch wenn er als Honoratiore – damals war er wohl Vizerektor

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der Universität – nicht sehr glücklich darüber war, daß ich darauf bestand, den großen marxistischen Philosophen Georg Lukács zu besuchen, dem die Russen vor kurzem erlaubt hatten, nach Budapest zurückzukehren. Lukács war nach der Revolution von 1956 verhaftet und in die Verbannung geschickt worden und saß jetzt wieder in seiner Wohnung hoch über der Donau wie ein antiker Hoherpriester in Zivil und rauchte Havannas. Das war die Wohnung Szamuelys, wo ich das denkwürdige Weihnachtsessen mit dem Meisterspion einnahm. Und es war unsere Wohnung in Bloomsbury, wohin es ihn mit Frau und Kindern gleich nach ihrer Ankunft am Flughafen zog, als er es schließlich (durch eine Versetzung nach Ghana) geschafft hatte, mit der ganzen Familie dem Sozialismus für immer zu entrinnen. Es waren nicht die Schrecken des Sozialismus, was ihn schließlich vertrieben hatte, sondern ein Übermaß an Zynismus. Denn obwohl er in England als Opfer der sowjetischen Unterdrückung aufgenommen wurde, hatte er sich tatsächlich am Aufstand von 1956 nicht beteiligt. Nach dessen Niederlage war er sogar für die Wiedereinsetzung der Parteiorganisation an der Universität verantwortlich. Hierdurch erfuhr seine Karriere in den unmittelbar folgenden Jahren einen kräftigen Aufschwung. Zu seinem Unglück nahmen im Lauf dieser Jahre unter dem wohlwollenden Auge der Regierung Kádár die Sympathisanten der Bewegung von 1956, sprich die Mehrzahl der kommunistischen Intellektuellen, in aller Stille ihre alten Positionen wieder ein. Die Karriere des Kollaborateurs, der nach 1956 so schnell nach oben gekommen war, bekam einen Knick nach unten. Aber natürlich hegte er für die Illusionen von 1956 nicht weniger Verachtung als für das Sowjetregime. In einem weiteren Schritt weg von der Parteiwelt meiner Jugend widerstand ich in den folgenden Jahren der Versuchung, öffentlich etwas über das Verhalten des großen Freiheitsliebenden im Herbst 1956 zu sagen. Es war mehr als das Widerstreben, einen Erfolg zu verbuchen, der letztlich bestenfalls ein Punktgewinn in einer kurzlebigen politischen Debatte gewesen wäre, erkauft um den Preis, einen persönlichen Freund in Verlegenheit gebracht zu haben. Marlene und ich gelangten zu dem Schluß, daß es hier um eine grundsätzliche Frage ging: Es gibt Zeiten, in denen zwischen persönlichen Beziehungen und politischen Auffassungen eine Linie gezogen werden muß. Doch obwohl wir gut miteinander konnten und trotz seines Charmes und Witzes, mit der Zeit entfremdeten wir uns voneinander. Vielleicht lassen sich privates und öffentliches Leben doch nicht so einfach voneinander trennen. Tschechische, ostdeutsche und ungarische Hochschullehrer waren

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die KP-Mitglieder im Sowjetblock, die ich am häufigsten traf. Von den bedeutenden politischen Persönlichkeiten der Regimes kam ich nur mit einem oder zweien sehr kurz zusammen, vor allem András Hegedüs, dem letzten ungarischen Ministerpräsidenten unter Rákosi, der sich nach 1956 als Soziologieprofessor selbst wieder einschleuste, reiste, Dissidenten protegierte, aber wenig sagte, auch wenn er durchblicken ließ, daß die Qualität der Parteiführung nach seiner Zeit nachgelassen hatte. Keiner meiner Freunde war eine Parteigröße, und Ivan Berend, dem in seinem ungarischen Heimatland das Amt des Bildungs- und Erziehungsministers angeboten wurde, schlug die Offerte aus. Er war und ist ein hervorragender Historiker, Präsident der ungarischen Akademie der Wissenschaften unter dem Kommunismus, dessen Verdienste nach 1989 mit seiner Wahl zum Präsidenten des Internationalen Komitees für historische Wissenschaften anerkannt wurden. Fast alle Tschechen, die ich kannte, darunter einige noch aus der Zeit der Emigration nach England vor dem Krieg, wurden später Anhänger des Prager Frühlings von 1968, und einige von ihnen wie mein Freund Antonin Liehm spielten in ihm eine besondere Rolle als Redakteure der führenden kulturpolitischen Zeitschrift jener Zeit, Literarny listy. Wir lernten uns zunächst nicht über die Politik kennen, sondern als Jazzliebhaber auf einem Prager Festival, doch der Jazz war ebenso wie die Rehabilitierung Kafkas im Vorfeld von 1968 eine oppositionelle Tätigkeit, auch wenn mir kein politischer Hintergrund bei der Veröffentlichung meines Buchs The Jazz Scene bewußt ist, das einzige meiner Bücher, das unter dem Kommunismus ins Tschechische übersetzt wurde. Nach 1968 wurden die Reformer in der Partei entweder in die Emigration gezwungen, oder sie mußten als Fensterputzer, Kohlenschlepper oder in ähnlichen Berufen arbeiten, sofern sie noch nicht alt genug für eine Rente waren. Einige wie Eduard Goldstücker, als Präsident des Schriftstellerverbands eine wichtige Persönlichkeit während des Prager Frühlings, hatten bereits während der stalinistischen Verfolgungen der frühen fünfziger Jahre im Gefängnis gesessen. (Wir haben ihn 1996 in Prag kurz vor seinem Tod besucht: Die Behörden der neuen Tschechoslowakei hatten ihm die Anerkennung des Status eines Verfolgten unter dem Kommunismus verweigert.) Sie verloren ihr Land für immer, denn nach dem Ende des Kommunismus wurden sie von niemandem mehr gebraucht. Die Ungarn, die ich am besten kennenlernte, zu jung für die Vorkriegspolitik oder den Widerstand – Ivan Berend und sein langjähriger Mitarbeiter Georg Ranki kehrten beide 1945 aus deutschen Konzentrationslagern zur höheren Schule zurück –, waren Reformkommuni-

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sten mit Ausnahme des brillanten Peter Hanak, 1955 der neue Stern der ungarischen marxistischen Geschichtsschreibung, aktiver Teilnehmer am Aufstand von 1956 und danach entschieden antikommunistisch. Doch die Stimmung in Ungarn nach 1956 war in Maßen reformistisch und tolerant, selbst gegenüber etwas abweichenden Meinungen. Von allen KP-Regimes kam Ungarn einem normalen geistigen Leben unter dem Kommunismus wahrscheinlich am nächsten, was wohl hauptsächlich an seinem Reichtum an intellektuellen Talenten lag, den es durch gute Beziehungen zu seinen Emigranten im Westen zu mehren wußte. Einige seiner bemerkenswert unpolitischen Köpfe lehnten eine Emigration selbst in den schlechtesten Zeiten ab, beispielsweise das mathematische Genie Paul Erdös, der darauf bestand, seinen ungarischen Paß zu behalten und trotzdem alle mathematischen Fakultäten der Welt zu bereisen, ohne sich irgendwo länger als ein paar Monate aufzuhalten, wobei er seine ganzen irdischen Besitztümer in einem Koffer mit sich führte. Dieses wahrscheinlich einmalige Kabinettstückchen eines privaten Bürgers auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gelang ihm dank der geschlossenen Unterstützung durch die internationale Mathematikermafia. Als ich ihn an einem angenehmen Abend in Cambridge fragte – zu einer Diskussion über Zahlentheorie reichten meine Kenntnisse nicht ganz aus –, warum er auf der dauerhaften Möglichkeit bestehe, nach Budapest zurückkehren zu können, antwortete er: »Wegen der guten mathematischen Atmosphäre dort.« Ungarn war natürlich das einzige Land in Mitteleuropa, das nicht die meisten seiner Juden verloren hatte. In einigen Ländern des »real existierenden Sozialismus« wie etwa Polen war es möglich, im Umgang mit Kollegen und Freunden die Partei zu umgehen. Nicht so in der DDR, wo nichts außerhalb der staatlichen Aufsicht geschah, schon gar nicht bei Kontakten ihrer Bürger mit Kommunisten aus dem Ausland. Außerdem gab es dort keinen Raum für abweichende Meinungen oder auch nur für Zweifel an der Linie, die von den Kommandohöhen vorgegeben wurde. In mancher Hinsicht, nicht zuletzt auch aus sprachlichen Gründen, fand ich es deshalb leichter, hier eine Vorstellung davon zu gewinnen, was eine Parteimitgliedschaft unter dem Sozialismus bedeutete. Ostdeutsche Kommunisten, zumindest soweit ich sie persönlich kennengelernt habe, waren Gläubige und blieben es auch, ob alte KPD-Kader aus der Zeit vor 1933, jugendliche Enthusiasten, die eingetreten waren, um in der Trümmerlandschaft von 1945 eine neue Zukunft aufzubauen, wie Fritz Klein, der Sohn des Chefredakteurs einer der angesehensten konservativen Zeitungen der Weimarer Republik,

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Kommunisten der zweiten Generation wie mein Freund Siegfried Bünger, der Sohn eines Arbeiters aus dem ländlichen Mecklenburg, oder Gerhard Schilfert, der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft bekehrt wurde, ein Mann, der nicht anders konnte, als von einer – alten oder neuen – Autorität überzeugt zu sein und loyal zu ihr zu stehen. (Sie alle waren Historiker.) In gewisser Weise wählten sie sich selbst. Wer die Küchenwärme nicht aushielt, ging hinaus, was bis zum Bau der Mauer 1961 tatsächlich sehr einfach war. Zur alten Garde hatte ich kaum Kontakt, ausgenommen die alten Kuczynskis und – durch meinen Freund, den Maler Georg Eisler – dessen bewunderter Vater Hanns, Partner von Bert Brecht und offizieller Staatskomponist der DDR, den ich in der unproletarischen Atmosphäre des Waldorf-Hotels kennenlernte. Hanns Eisler hatte seine Frau und seinen Sohn verlassen, deren Exil sie von Wien über Moskau und Manchester geführt hatte, von wo sie wieder nach Wien zurückkehrten. Seine spätere Frau Lou verlor er an einen weiteren kommunistischen Veteran aus Moskau, den brillanten und charmanten Ernst Fischer, Sohn eines Habsburger Generals und nach dem Krieg eine Berühmtheit in der österreichischen Kultur und der KPÖ, bis diese ihn nach dem Prager Frühling ausschloß. Daß ich ihm gegenüber eine intellektuelle Dankesschuld abzutragen hatte, habe ich in meinem Zeitalter der Revolutionen bemerkt. Alle blieben untereinander in freundschaftlichem Kontakt, auch Fischer mit seiner ersten Frau, die aus einer böhmischen Adelsfamilie stammte und später Sowjetagentin wurde und deren revolutionäre Referenzen bis zum deutschen kommunistischen Aufstand von 1921 zurückreichten. Die Eislers aus Leipzig und Wien waren fast die Kominternfamilie par excellence. Tante Elfriede (in der Geschichtsschreibung unter dem Namen Ruth Fischer bekannt) war die junge Kommunistin, die an die freie Liebe glaubte und Lenin zu seiner Kritik an flüchtigen sexuellen Begegnungen veranlaßte (die »Glas-Wasser-anstatt-Theorie«). Einige Jahre später spielte sie eine Rolle in der ultralinken Führung der KPD, bevor sie aus der Partei ausgeschlossen und ins Exil getrieben wurde, weil sie in der Sowjetund der Kominternpolitik auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Nach dem Krieg tauchte sie in den USA auf, unter anderem als Denunziantin ihres Bruders Gerhart Eisler. Dieser, ein ebenfalls abgesetzter (aber gemäßigterer) Führer in der KPD, war ein bedeutender Agent der Komintern in China, den Vereinigten Staaten und anderswo geworden. Er wurde aus den USA ausgewiesen, verließ unterwegs das Schiff in England und ging nach Ostdeutschland, wo man ihm während des Wahns des späten Stalinismus – jedenfalls hieß es so – in einem Schau-

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prozeß die Rolle eines mutmaßlichen Verräters zuwies, was nach entsprechender Zeit zweifellos sein Geständnis zur Folge gehabt hätte. Zum Glück übernahm das DDR-Regime trotz der sowjetischen Besatzungsmacht im Lande diese mörderische stalinistische Praxis nicht, auch wenn es für diese Zurückhaltung selten Anerkennung gefunden hat. Gerhart Eisler verbrachte den Rest seines Lebens in politisch unbedeutenden Stellungen in der DDR, unter anderem als Vorsitzender des Staatlichen Rundfunkkomitees, und wehrte sanft die Fragen seines Neffen über seine Vergangenheit ab. Hätte er seine Memoiren geschrieben, was er jedoch ablehnte, so wären sie ebenso bedeutungslos gewesen wie die der meisten Diplomaten: Seine Generation schwieg sich aus. Hollywood, wo er die Jahre des Exils verbrachte, sagte Hanns, dem Musiker, zu, der beleibt, geistreich, zynisch und wesentlich erfolgreicher war als sein Partner Brecht, aber trotzdem kehrte er zurück und schrieb die Nationalhymne des neuen Staates. Man kann ihnen kaum vorwerfen, sich viele Illusionen über die Realität des Kominternkommunismus, der Sowjetunion oder gar der DDR gemacht zu haben. Sie blieben dort, kontrolliert und schikaniert von einer rigiden politischen Hierarchie, bei der sie von Zeit zu Zeit von Rivalen und ehrgeizigen Jüngeren denunziert wurden, ständig unter Beobachtung, selbst während sie öffentlich geehrt wurden, vom größten dauerhaften Polizeiapparat, der je in einem modernen Staat tätig war, der Stasi. Aber sie blieben. In einer Hinsicht machte es ihnen die eigenartige Situation der DDR leichter. Das DDR-Regime litt unter der offensichtlichen Tatsache, daß es über keine Legitimität und anfänglich über fast keine Unterstützung verfügte und während seines Bestehens nie eine freie Wahl gewinnen würde. Die Nachfolgepartei der SED hat heute vermutlich mehr überzeugte Anhänger in der Bevölkerung als zu der Zeit, als das alte Regime seine üblichen 98 Prozent Ja-Stimmen zusammenzählte. Insofern befanden sich die ostdeutschen Kommunisten noch in einer Art verschanzter Opposition, vor allem unter der Drohung und Verlockung ihres übermächtigen Nachbarn, der weitaus größeren Bundesrepublik. Das rechtfertigte Maßnahmen, die unter anderen Umständen Kommunisten entsetzt hätten, selbst wenn man die Ablehnung einer liberalen Demokratie durch die Partei berücksichtigte. Man erinnert sich an Brechts bitteren Kommentar zum 17. Juni, wenn das Volk das Vertrauen der Regierung verloren habe, sei es wohl am einfachsten, die Regierung setzte das Volk ab und wählte sich ein neues. Damals, nach dem 17. Juni 1953, befürwortete mein Freund Fritz Klein, ein glühender Kommunist von 29 Jahren, die Intervention der Sowjets

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nach dem großen Arbeiteraufstand, weil er das Regime für sozial gerechter und politisch für zuverlässiger in seinem Antifaschismus hielt als die Bundesrepublik. Ebenso stand er 1961 hinter der Entscheidung zum Bau der Berliner Mauer. »Es war, so sah ich es damals, hinzunehmen als das kleinere Übel gegenüber der sonst unausweichlichen Alternative: der Aufgabe eines für mich nach wie vor legitimen Gesellschaftsversuchs.«10 Sie konnten im besten Fall darauf hoffen, daß die sozialistische Gesellschaft, die sie errichteten, funktionieren und das Volk für sich gewinnen würde. Zweifellos waren die besten und intelligentesten Mitglieder der SED Kritiker des Systems und blieben dennoch bis zum Schluß optimistische Reformer. Aber sie waren machtlos. Es war natürlich für Parteimitglieder einfacher, auf ein eigenes Urteil zu verzichten und sich ganz hinter den Vorschriften zu verstecken (was für die Spitze bedeutete, Moskau um Rat zu fragen) oder einfach die Aufträge der Partei auszuführen. Und die Partei wurde von alten Betonköpfen aus der Zeit vor 1933 oder von deren Nachfolgern der nächsten Generation geführt. Die Leidenschaften des Kalten Kriegs haben die osteuropäischen Regimes als gigantische Systeme von Terror und GuLags dargestellt. Nach den Jahren von Blut und Eisen unter Stalin (der sich nicht schlüssig war, ob er überhaupt eine DDR wollte) wurde das ostdeutsche System der Justiz und der Unterdrückung jedoch von einem befugten Harvard-Historiker – unter Ausklammerung der Opfer an der Berliner Mauer – treffend als »ein durchgehend schäbiges, aber relativ unblutiges Kapitel zur Geschichte der politischen Justiz im 20. Jahrhundert« beurteilt.11 Es war eine monströse, alles erfassende Bürokratie, die die sogenannten Staatsbürger zwar nicht terrorisierte, aber fortwährend schikanierte, belohnte und bestrafte. Die neue Gesellschaft, die sie errichteten, war keine schlechte Gesellschaft: Arbeit und sozialer Aufstieg für alle, offene Bildungschancen auf allen Ebenen, Gesundheit, soziale Sicherheit und Renten, Ferien in einer festgefügten Gemeinschaft aus guten Menschen, die einer ehrlichen Arbeit nachgingen, das Beste an bürgerlicher Kultur für das ganze Volk, Spiel und Sport unter freiem Himmel, keine Klassenunterschiede. Im besten Fall richtete sie sich, um noch einmal Charles Maier zu zitieren, irgendwo zwischen »Sozialismus und Gemütlichkeit« oder in einem »biedermeierlichen Kollektivismus« ein.12 Der Nachteil daran war – abgesehen von der Tatsache, die sich vor den Bürgern nicht verbergen ließ, daß diese Gesellschaft materiell wesentlich schlechter gestellt war als die west-

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deutsche –, daß sie ihren Bürgern durch ein System höherer Gewalt aufgezwungen wurde, wie von strengen Eltern des 19. Jahrhunderts gegenüber aufsässigen oder zumindest unwilligen Kindern. Sie konnten ihr Leben nicht selbst bestimmen. Sie waren nicht frei. Da die Programme des westdeutschen Fernsehens fast überall empfangen werden konnten, war die ständige Gegenwart von Zwang und Zensur offensichtlich und wurde als ein Ärgernis empfunden. Doch solange sich daran nichts zu ändern schien, wurde es auch hingenommen. Von alledem waren die Parteimitglieder mindestens ebensosehr betroffen wie alle anderen. Nicht nur, daß ihre Gespräche von Rivalen oder von den allgegenwärtigen »Informellen Mitarbeitern« der Stasi aufgezeichnet wurden; war ihr Inhalt nicht genehm, mußten sie öffentlich Selbstkritik üben oder erfuhren eine Degradierung durch barsche, aber wenig überzeugende Funktionäre aus dem autarken Ghetto der nationalen Herrscher, die rigide die Linie festlegten. Dissidenten wurden eher durch indirekten Psychoterror als durch unmittelbaren Druck auf Linie gebracht. Im schlimmsten Fall wurden sie Schikanen ausgesetzt oder in den Westen abgeschoben wie Wolf Biermann, den ich zusammen mit Georg Eisler in seinem Zimmer in einem Ostberliner Hinterhaus besuchte, wo er die Protestlieder sang, die ihn berühmt gemacht hatten. Die meisten Parteimitglieder in der DDR und höchstwahrscheinlich die meisten Parteiintellektuellen glaubten bis zum Schluß an einen Sozialismus in dieser oder jener Form. Im Gegensatz zu Sowjetemigranten findet man unter ihnen kaum Reformkommunisten, die zu hundertprozentigen proamerikanischen Kalten Kriegern wurden. Aber sie waren zunehmend entmutigt. Wann regte sich bei den Kommunisten der Argwohn, und wann wurde er zur Gewißheit, daß die »real existierende« sozialistische Wirtschaft, die der kapitalistischen eindeutig unterlegen war, überhaupt nicht funktionieren konnte? Markus Wolf, der Chef des DDR-Geheimdienstes, ein Mann von höchst beeindruckenden Fähigkeiten, den ich kennenlernte, als ein holländischer Fernsehsender ein Gespräch zwischen ihm und mir über den Kalten Krieg arrangierte, sagte mir bei dieser Gelegenheit, er sei Ende der siebziger Jahre zu dem Schluß gelangt, daß das System der DDR nicht funktioniere. Trotzdem trat er noch in den letzten Augenblicken der DDR als kommunistischer Reformer an die Öffentlichkeit – eine ungewöhnliche Position für einen Geheimdienstchef. 1980 lieferte der Ungar Janos Kornai mit seinem Buch Warenmangel als ein fundamentales Problem der sozialistischen Planwirtschaften und die ungarische Reform (München 1983) bereits die klassische Analyse der widersprüchlichen

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Wirkungsmechanismen der am sowjetischen Modell orientierten Wirtschaften. In den achtziger Jahren, einem Jahrzehnt, in dem diese Wirtschaften (im Gegensatz zur postmaoistischen Wirtschaft) zusehends verfielen, bereiteten sich Kommunisten in den Ländern des Sowjetblocks mit einer gewissen Bewegungsfreiheit – Polen und Ungarn – bereits unübersehbar auf einen Wandel vor. Die Hardliner-Regimes in Prag und Ostberlin hatten nichts, worauf sie sich stützen konnten, außer der potentiellen Intervention der Sowjetarmee, und diese Option fiel weg, nachdem Gorbatschow in der Sowjetunion die Macht übernommen hatte. In Osteuropa wie im Westen zerfielen die Kommunistischen Parteien. Eine historische Epoche ging zu Ende. Was von der alten internationalen kommunistischen Bewegung noch übrig war, lag wie ein angeschwemmter Wal auf einem Strand, von dem die Wasser sich zurückgezogen hatten. In den späten achtziger Jahren, fast an ihrem Ende, schrieb der ostdeutsche Autor Christoph Hein ein Stück mit dem Titel »Die Ritter der Tafelrunde«. Wie sieht ihre Zukunft aus, fragt sich Lancelot. »Die Leute da draußen [wollen] nichts mehr vom Gral und der Tafelrunde wissen [. . .] Sie glauben nicht mehr an unsere Gerechtigkeit und unseren Traum . . . Für das Volk sind die Ritter der Tafelrunde ein Haufen von Narren, Idioten und Verbrechern . . .« Glaubt er selbst noch an den Gral? »Ich weiß es nicht«, sagt Lancelot. »Ich kann [. . .] die Frage nicht beantworten. Ich kann nicht ja und nicht nein sagen.« Nein, es kann sein, daß sie den Gral niemals finden werden. Doch hat König Artus nicht recht, wenn er sagt, daß es nicht auf den Gral ankomme, sondern auf die Suche nach ihm? »Wenn wir den Gral aufgeben, geben wir uns selbst auf«. Nur uns selbst? Kann die Menschheit überhaupt leben ohne die Ideale der Freiheit und Gerechtigkeit oder ohne diejenigen, die ihnen ihr Leben geweiht haben? Oder vielleicht sogar ohne die Erinnerung an jene, die dies im 20. Jahrhundert getan haben?

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I Ich erreichte England gerade rechtzeitig vor dem Ausbruch des Krieges. Wir hatten ihn erwartet. Wir oder zumindest ich hatten ihn sogar befürchtet, 1939 allerdings nicht mehr. Diesmal wußten wir, daß wir uns bereits im Krieg befanden. Nur eine Minute, nachdem die alte, trokkene Stimme des Premierministers den Krieg erklärt hatte, vernahmen wir das an- und abschwellende Heulen der Sirenen, das bis heute für alle Menschen, die den Zweiten Weltkrieg in einer Großstadt erlebt haben, mit der Erinnerung an nächtliche Bomben verbunden ist. Wir waren sogar umgeben von der sichtbaren Landschaft des Luftkriegs, dem Wellblech der Luftschutzräume, den Sperrballons, die wie Herden silberner Kühe am Himmel festgebunden schienen. Es war zu spät für Befürchtungen. Doch was der Ausbruch des Krieges für die meisten jungen Männer meiner Generation bedeutete, war eine schlagartige Aufhebung der Zukunft. Einige Wochen oder Monate lang schwebten wir zwischen den Plänen und Aussichten unserer Vorkriegsleben und einem unbekannten Schicksal in Uniform. Für den Augenblick konnte das Leben nur vorläufig sein oder mußte überhaupt improvisiert werden. Keines so sehr wie mein eigenes. Bis zu meiner Rückkehr nach England hatte ich mich noch nicht wirklich auf die Konsequenzen der Emigration meiner Angehörigen eingestellt. Jetzt kam mir zu Bewußtsein, daß ich nicht nur auf unabsehbare Zeit vor einer unbekannten Zukunft stand, sondern auch ohne eine klar erkennbare Gegenwart lebte, wurzellos und allein. Es gab keine Familie und kein Zuhause mehr. Außerhalb von Cambridge gab es keinen besonderen Ort, wohin ich hätte gehen können, auch wenn es nicht an Genossen und Freunden fehlte, die bereit waren, mich aufzunehmen, und ich bei den einzigen Verwandten in London, der Familie meines Onkels Harry, auf den ich mich absolut verlassen konnte, jederzeit willkommen war. Ich hatte keine Freundin. Wenn ich in den folgenden drei Jahren nach London kam, führte ich tatsächlich eie Art Nomadendasein und schlief in Gästebetten oder auf dem Fußboden

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verschiedener Wohnungen in Belsize Park, Bloomsbury oder Kilburn. Vom Tag meiner Einberufung an bestand meine einzige dauerhafte Basis aus einigen Kisten mit Büchern, Papieren und anderen Habseligkeiten, die ich zusammengepackt und mit Erlaubnis des »Head porters« des King’s Kollege in einem Schuppen gelagert hatte. Ich hoffte, daß sie mit einigem Glück nach dem Krieg wiederauftauchen würden, wie ein Rip van Winkle, dessen Leben 1939 angehalten wurde und der sich jetzt an eine neue Welt würde gewöhnen müssen. Was für eine Welt? Mit dem Krieg begann Cambridge sich zu leeren. Da die ehemalige Redaktion von Granta bereits auseinandergegangen war, bat ich die Druckerei, die Zeitschrift vorläufig einzustellen, womit ein wesentlicher Bestandteil vom Cambridge der Vorkriegszeit in aller Form beerdigt wurde. Die Forschung zu meinem vorgeschlagenen Thema Französisch-Nordafrika war jetzt sinnlos, auch wenn ich den äußeren Schein wahrte, Hintergrundinformationen sammelte und zum Britischen Museum trampte, wenn es nötig war und die Schneeverwehungen eines ungewöhnlich kalten Winters es zuließen. Hinzu kam, daß die Parteilinie im Herbst 1939 geändert wurde, so daß der Krieg nicht mehr der war, den wir erwartet hatten, für eine Sache, auf die die Partei uns vorbereitet hatte. Moskau kehrte die Linie um, die von der Komintern und allen Kommunistischen Parteien Europas seit 1935 und auch noch nach dem Ausbruch des Krieges verfolgt worden war, bis die Botschaft aus Moskau ankam. Harry Pollitts Weigerung, den Wechsel zu akzeptieren, machte die offene Spaltung der Führung der KP Großbritanniens in dieser Frage sichtbar. Außerdem ergab die neue Linie – daß der Krieg in keiner Hinsicht mehr ein antifaschistischer Krieg und England und Frankreich genauso schlecht seien wie Nazideutschland – weder emotional noch rational einen Sinn. Natürlich akzeptierten wir sie. Gehörte es nicht wesentlich zum »demokratischen Zentralismus«, die Diskussion zu beenden, sobald eine Entscheidung herbeigeführt worden war, auch wenn man persönlich anderer Meinung war? Und die höchste Entscheidung war offensichtlich gefallen. Anders als während der Krise von 1956 (siehe 12. Kapitel) schienen die meisten Parteimitglieder – selbst die studentischen Intellektuellen – von der Moskauer Entscheidung nicht erschüttert, auch wenn mehrere in den beiden folgenden Jahren abwanderten. Ich kann mich nicht mehr erinnern oder rekonstruieren, was ich damals dachte, doch aus einem Tagebuch, das ich während der ersten Monate meines Militärdienstes 1940 geführt habe, geht hervor, daß ich gegen die neue Linie keine Vorbehalte hatte. Zum Glück machten es uns der »Sitzkrieg«, das Verhalten der französischen Regierung, die sogleich

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die KPF verbot, und das Verhalten der französischen und der britischen Regierung nach dem Ausbruch des sowjetischen Winterkriegs gegen Finnland wesentlich leichter, zu schlucken, daß die Westmächte als Imperialisten im Zweifelsfall ein größeres Interesse hätten, den Kommunismus zu schlagen als gegen Hitler zu kämpfen. Ich erinnere mich, daß ich dieses Argument vertrat, während ich auf dem Rasen im Garten des Provosts im King’s College mit einem sympathisierenden Zweifler, dem Wirtschaftsmathematiker David Champernowne, auf und ab ging. Während es scheinbar im Westen nichts Neues gab, hatte schließlich die britische Regierung keine weiteren Maßnahmen im Sinn als die Entsendung von westlichen Truppen in den Norden Skandinaviens, um den Finnen zu Hilfe zu kommen. Tatsächlich sollte einer unserer Genossen, der für Cambridge boxende J. O. N. (»Mouse«) Vickers – eigentlich hatte er mehr Ähnlichkeit mit einem großen Wiesel als mit einer Maus, so mager, flink und beweglich, wie er war –, mit seiner Einheit dorthin geschickt werden, als der russisch-finnische Krieg endete. Für kommunistische Intellektuelle war Finnland eine Lebensader. Ich verfaßte damals eine Broschüre zu diesem Thema, zusammen mit Raymond Williams, dem späteren Autor, Kritiker und Guru der Linken, damals ein militanter und offenbar vielversprechender Neuling in der Studentengruppe der Partei. Leider ist sie im Lärm und Getümmel des Jahrhunderts verlorengegangen. Ich habe kein Exemplar mehr aufgetrieben. Und dann, im Februar 1940, wurde ich eingezogen. Wenn ich meine persönliche Erfahrung im Zweiten Weltkrieg in wenigen Worten zusammenfassen soll, dann würde ich sagen, daß er mich um sechseinhalb Jahre meines Lebens gebracht hat, davon sechs in der britischen Armee. Für mich war es weder ein »guter Krieg« noch ein »schlechter Krieg«, es war einfach vertane Zeit. Ich habe in ihr nichts Bedeutendes vollbracht und wurde auch nicht darum gebeten. Es waren die am wenigsten befriedigenden Jahre meines Lebens. Obwohl ich mich sicherlich nicht für das Militär eignete und noch weniger als potentieller Befehlshaber, war der Hauptgrund, warum ich sowohl die Zeit meines Landes als auch meine eigene, nämlich den größten Teil meiner zwanziger Jahre, hier nur vergeudete, höchstwahrscheinlich politischer Art. Ich verfügte schließlich über einige Qualifikationen, die für einen Krieg gegen Nazideutschland von Bedeutung waren, nicht zuletzt die Muttersprache Deutsch. Außerdem war ich ein recht fähiger Student der Geschichte am King’s College, dessen Geheimdienstveteranen aus dem Ersten Weltkrieg den Auftrag hatten, Mitarbeiter für das künftige Personal in Bletchley anzuwerben, und das 17 seiner Dons dorthin geschickt hatte. Da war es schlecht vorstellbar,

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daß mein Name keinem von ihnen je eingefallen sein sollte. Ich muß freilich zugeben, daß ich zumindest eine allgemein anerkannte Qualifikation für die Geheimdienstarbeit nicht erworben hatte, nämlich die zum Lösen des Kreuzworträtsels in der Times. Als Mitteleuropäer war ich nicht damit aufgewachsen, und es interessierte mich auch nicht. Es trifft ferner zu, daß ich auch bei der zweiten traditionell erforderlichen Qualifikation nicht besonders gut abschnitt, dem Schachspiel nämlich, das meinen Onkel Sidney während des Ersten Weltkriegs zu den Dechiffreuren geführt hatte. Ich war zwar ein begeisterter, aber keineswegs hervorragender Spieler. Dennoch, wenn ich mich nicht in meiner Studentenzeit als Bolschewist so sehr exponiert hätte, dann hätte ich wohl kaum in Cambridge sitzen und darauf warten müssen, was die Einberufungsbehörden von East Anglia über mich beschließen würden. Andererseits mag eine Rolle gespielt haben, daß nach offizieller Ansicht jemand, der auf dem Kontinent aufgewachsen und zur Schule gegangen und erst vor kurzem hierhergekommen war, trotz seiner britischen Staatsangehörigkeit und der seines Vaters kein hundertprozentiger wirklicher Engländer sein konnte. (Eine solche Einstellung war im Cambridge der dreißiger Jahre keineswegs ungewöhnlich und vielleicht auch meinen Supervisoren nicht fremd.) Schließlich gab es etliche Parteimitglieder, die während des Krieges im Geheimdienst tätig waren, darunter einige, die aus ihrer Mitgliedschaft kein Geheimnis machten. Jedenfalls wurde meine Abstellung zu einem Chiffrierkurs der Division (zwei Offiziere, sieben Unteroffiziere, drei sonstige Dienstgrade) wenige Wochen nach meiner Einberufung mit dieser Begründung wieder zurückgenommen. »Nichts Persönliches, aber Ihre Mutter war keine Engländerin«, sagte der Hauptmann, als er mich anwies, den nächsten Zug von Norwich zurück nach Cambridge zu nehmen. »Zweifellos sind Sie jetzt gegen das System, aber natürlich gibt es immer eine gewisse Sympathie für das Land Ihrer Mutter. Das ist selbstverständlich. Das sehen Sie doch ein?« »Yes, Sir.« »Ich meine, ich habe keine nationalen Vorurteile. Für mich spielt es keine Rolle, was die Nationen tun, solange sie sich anständig benehmen, und das tun die Deutschen im Augenblick nicht.« Ich stimmte zu. Er versprach, mich als Dolmetscher zu empfehlen. Danach habe ich nie mehr davon gehört. Merkwürdigerweise hat mein Gedächtnis diese Episode völlig ausgelöscht, obwohl ich sie damals in meinem Tagebuch festgehalten habe. Gab es schon während meiner Zeit in Cambridge eine Akte über mich? Ich werde es nie erfahren. Sehr wahrscheinlich hatte der Geheimdienst bis zur Jahresmitte 1942 eine angelegt. Damals sagte mir ein freundlicher Feldwebel der Field Security, daß ich überwacht würde.

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Möglicherweise war sie 1940 bald nach meiner Einberufung angelegt worden, denn als guter Kommunist sorgte ich dafür, mit der Partei Verbindung zu halten. Das bedeutete, daß ich immer, wenn ich nach London kam, Robbie (R.W. Robson) aufsuchte, einen bläßlichen, faltigen, kettenrauchenden, klassenbewußten Berufskader seit den frühen zwanziger Jahren, in einem dieser kleinen, schmuddeligen, schäbigen Büros am oberen Ende eines düsteren Treppenhauses in WC1 oder WC2, in denen solche Leute saßen. Sie wurden höchstwahrscheinlich vom Geheimdienst abgehört. Wann immer meine Akte begann, jedenfalls galt ich als verdächtiges Subjekt, das von sicherheitsrelevanten Zonen wie dem Ausland ferngehalten werden mußte, selbst nachdem die UdSSR zum Bündnispartner von England geworden war und die Partei sich ganz der Aufgabe widmete, den Krieg zu gewinnen. Während der gesamten Dauer des Krieges (tatsächlich sogar vom 2. September 1939 bis zu meiner ersten Reise nach Paris nach dem Krieg) habe ich zu keiner Zeit den Boden Großbritanniens verlassen – die längste ununterbrochene Phase meines Lebens, während der ich keine einzige Grenze passiert habe. Nach dem Mai 1940 schien sich kein Mensch für meine Sprachkenntnisse zu interessieren. Bei einer einzigen Gelegenheit kam es immerhin zu einem Gespräch über das Thema – in einem Büro des Secret Service, wie ich annahm, am oberen Ende von Whitehall –, aus dem sich jedoch nichts ergab. Widerstrebend gewöhnte ich mich an den Gedanken, daß ich an Hitlers Sturz keinen Anteil haben würde. Was sollten die Offiziere mit einem für geistige Arbeit überqualifizierten und für praktische Aufgaben unterqualifizierten Sonderling anfangen, der für das militärische Leben denkbar schlecht gerüstet war? Da ich fahren konnte, wurde ich bei der Einberufung als Fahrer eingestuft, konnte aber weder mit den 15-CWT-Panzerwagen und den Dreitonnern, die von der Kompanie benötigt wurden, noch mit Motorrädern etwas anfangen und schien bald nur noch aus zwei linken Händen zu bestehen. Wohin mit so einem? In den Augen meiner Vorgesetzten muß ich ein hoffnungsloser Fall gewesen sein. Schließlich fand die 560. Feldkompanie der Königlichen Pioniere einen Weg, mich loszuwerden. Ich wurde für eine Versetzung zum Army Education Corps empfohlen, das – da dies ein Krieg des Volkes war – sehr schnell expandierte. Man schickte mich zu dem erforderlichen Kurs in einem Gebäude hinter dem Gefängnis in Wakefield, und ich hatte Thomas Manns Lotte in Weimar im Gepäck – erstaunlich, daß ich mich daran so lebhaft erinnere. Dort entdeckte ich die ungeheure Überlegenheit von nordenglischen fish-and-chips gegenüber denen des Südens. Ich bestand den

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Kurs in der Gesellschaft eines weiteren Historikers und künftigen Vizekanzlers der Universität London. Meine Versetzung wurde etwas später beschlossen, im Frühherbst 1941, einige Tage nachdem wir nach Hay-on-Wye an der Grenze zu Wales gezogen waren, in dessen Nähe ich genau 50 Jahre später jenes Landhaus in Breconshire erwarb, in dem ich diese Zeilen schreibe. Das hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet, denn in der Zwischenzeit war die Einheit ins Ausland abkommandiert worden, und wir hatten unseren Heimaturlaub schon hinter uns. Wie gewöhnlich verbrachte ich ihn zwischen den Bomben in London. Natürlich sagte uns niemand, wohin die Reise ging, auch wenn der Nahe Osten am wahrscheinlichsten schien. Doch die 15. East Anglia Division einschließlich der 560. Feldkompanie der Königlichen Pioniere nahm nicht Kurs auf das Mittelmeer, sondern fuhr über Kapstadt und Mombasa nach Singapur, wo sie im Februar 1942 in japanische Kriegsgefangenschaft geriet. Diejenigen, die überlebt hatten, bauten in den drei folgenden Jahren mit an der Birmabahn. Ein Drittel von ihnen war nicht mehr dabei. Ich habe meine Kameraden nie wiedergesehen. Hätte ich das überlebt? Wer weiß. Jedenfalls sollte ich erst sehr viel später erfahren, welches Glück ich gehabt hatte. II Meine Laufbahn in der Armee zerfällt somit in zwei deutlich verschiedene Abschnitte. Der erste, meine Zeit bei den Königlichen Pionieren, war der bei weitem interessantere. Wie zu erwarten, war eine Feldkompanie von Pionieren eine Einheit, die bis auf einige Offiziere ausschließlich aus Angehörigen der Arbeiterklasse bestand. Ich war der einzige Intellektuelle, überhaupt sehr wahrscheinlich der einzige sonstige Dienstgrad der Einheit, der regelmäßig die Nachrichtenseiten der Tageszeitung vor dem Sportteil oder statt dessen las. Dieses ungewöhnliche Verhalten verhalf mir in den Wochen, in denen Frankreich zusammenbrach, zu meinem Spitznamen »Diplomatic Sam«. Zum ersten Mal in meinem Leben fand ich mich inmitten des Proletariats wieder, dessen Emanzipation der Welt die Freiheit bringen sollte, allerdings ein untypisches Mitglied dieser Klasse. Genauer gesagt, ich lebte plötzlich in dem Milieu, in dem die Mehrzahl der Engländer ihr Leben verbrachte und das nur wenige Berührungspunkte mit der Welt der Klassen über ihnen hatte. Daß ich in Cambridge eingezogen wurde, verstärkte den Kontrast, da ich zwei bis drei Monate lang in beiden Welten lebte. Nach dem Dienst (der in der Hauptsache darin bestand,

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daß ich auf dem grünen Rasen von Parker’s Piece die Anfangsgründe des Drills lernte), wechselte ich aus der einen Welt in die andere, wenn ich von dem Arbeiterbezirk zum Zentrum der Cambridge University ging. In der Arbeiterstraße hatten die Militärbehörden mich und einen Friseurgehilfen und ehemaligen Hotelportier aus Lowestoft namens Bert Thirtle bei einer älteren Witwe, Mrs. Benstead, einquartiert, und wir teilten das frühere Ehebett der Bensteads, das glücklicherweise breit genug war. Es war keine ideale Einführung in die Welt des Proletariats, da Thirtle keinen der für meine – im übrigen politisch enttäuschenden – Kameraden so charakteristischen sozialen Reflexe zeigte, die so manches am britischen Gewerkschaftswesen erklären können. Die meisten meiner Kameraden verstanden sich im Kern als Zivilisten, die Uniformen angelegt hatten, so wie ihre Väter dies 1914-1918 getan hatten. Sie sahen kein besonderes Verdienst in einem martialischen Leben oder Aussehen: Ihre ganze Hoffnung richtete sich auf das Zivilleben, in das sie so bald wie möglich wieder zurückkehren wollten. Doch Thirtle hatte immer heimlich davon geträumt, eine Uniform zu tragen, auch wenn ihm diese bei den Mädchen nicht weiterhalf (jedes Mädchen war für uns eine »Biene«), die er in Petty Cury auftrieb. Seine Verlobte, eine Siebzehnjährige, die in einer Küche arbeitete, schrieb ihm täglich Briefe und schickte ihm Pakete mit den Regionalzeitungen, The Wizard, Comic Cuts und amerikanischen Comics. In der Rückschau bin ich erstaunt, wie ausgeprägt und lebendig das instinktive Gefühl oder die Tradition des kollektiven Handelns in einem Haufen junger Arbeiter war, von ungelernten Hilfsarbeitern bis zu einigen gelernten Gesellen, die meisten Bauhandwerker, die durch die Zufälle der Einberufung in derselben Kantine oder im Spielzimmer der Truppenbetreuungsstelle zusammenkamen. Damals fiel mir das weniger auf als ihre – und erst recht meine eigene – Unsicherheit darüber, was wir alle in bestimmten Augenblicken tun sollten, die ein gewisses Maß an Handeln erforderten, und das allgemeine Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber Vorgesetzten. Wenn ich aber die Eintragungen in meinem Tagebuch nachlese, bin ich andererseits beeindruckt, wie vertraut diese Männer mit den Verfahren des kollektiven Handelns waren, und von ihrem immer anwesenden, fast intuitiven militanten Potential. Sie waren in der »Öffentlichkeit« der britischen Arbeiterklasse zu Hause. Hatte nicht einer von ihnen während eines Protests vorgeschlagen, wir sollten eine ordentliche Versammlung in der Kneipe The Locomotive abhalten wie eine richtige Gewerkschaft, mit einem Tisch, einer Glocke und einem Glas Wasser? Die proletarische Erfahrung war auch in anderer Hinsicht neu. 1940

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dürften nur wenige Kingsmen Gelegenheit gehabt haben, einen Preßluftbohrer zu handhaben, und für mich war die Arbeit mit diesem Gerät zugleich ermüdend und erfrischend. Die Pioniere waren im wesentlichen eine Einheit aus gelernten, angelernten und ungelernten Arbeitern, häufig aus der allgemeinen Produktion oder aus den Bauberufen (da zahlreiche Metallarbeiter vom Militärdienst zurückgestellt waren und diejenigen, die man im Heer brauchte, anderen, spezialisierteren Korps zugeteilt wurden). Sie kamen aus vielen Teilen Englands – aus dem Black Country (das Industrierevier von Staffordshire und Warwickshire), aus London, Nottingham, der eine oder andere aus dem Nordosten und Schottland –, doch hauptsächlich aus den östlichen Countys, da unsere Division in der Hauptsache eine ostanglische Division war. In ihren Reihen dienten einige ungewöhnliche Rekruten von der Universität Cambridge – ich selbst, einige etwas ältere Freunde und Bekannte wie Ian Watt, später ein hervorragender Literaturwissenschaftler, dessen Werk über die Anfänge des englischen Romans bereits von den marxistischen Studenten diskutiert wurde, und etwas jüngere wie der witzige, lebendige Satiriker Ronald Searle, der Karikaturist der Granta. Beide kehrten, für den Rest ihres Lebens gezeichnet, aus japanischer Kriegsgefangenschaft zurück. Ronald, den ich während unserer gemeinsamen Zeit in der Division gelegentlich sah, wurde gerade von seiner späteren Frau, der großartigen Kaye Webb entdeckt, damals Lektorin bei Lilliput, einer Zeitschrift im Taschenformat und sehr im Trend, die von einem emigrierten Mitteleuropäer gegründet und von unserer Generation sehr geschätzt wurde. (Kaye Webb brachte während des Krieges und danach auch einige Artikel von mir, bis die Zeitschrift einging.) In der Zwischenzeit wurde Searle einer der erfolgreichsten Karikaturisten seiner Zeit, was er weitgehend der Erfindung von Saint Trinian’s verdankte, einer von lauter boshaften Schülerinnen bevölkerten Mädchenschule, wozu ihn anscheinend die kleinen, Schrecken verbreitenden Japaner aus seiner Zeit als Kriegsgefangener inspiriert hatten. Im großen und ganzen verbrachte ich meine Tage als Königlicher Pionier unter (fast ausschließlich englischen) Arbeitern und entwickelte dabei eine dauerhafte, wenngleich oft verzweifelte Bewunderung für ihre Aufrichtigkeit, ihr Mißtrauen gegen alles hohle Gerede, ihr Klassenbewußtsein, ihre Kameradschaft und gegenseitige Hilfe. Sie waren gute Menschen. Von Kommunisten erwartet man natürlich, daß sie von den Tugenden des Proletariats überzeugt sind, ich war aber doch erleichtert festzustellen, daß meine theoretische Überzeugung mit der praktischen Erfahrung übereinstimmte.

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Dann fiel Hitler in Norwegen und Dänemark ein, und der Krieg begann wirklich. Sobald die Deutschen – was wir kaum glauben konnten – die Niederlande zu überrennen begannen, hatte die 560. Feldkompanie eine echte Aufgabe. Bis zu 14 Stunden am Tag, praktisch abgeschnitten vom zivilen Leben Norfolks, das um uns herum weiterging, improvisierten wir Verteidigungsanlagen für East Anglia gegen eine potentielle Invasion. Wir schichteten Sandsäcke auf und verkleideten die Böschungen riesiger Panzergräben rund um die Stadt, die zuvor von einem zivilen Bagger ausgehoben worden waren, unerfahren, unbeholfen und vor allem zutiefst im Zweifel darüber, ob der Graben überhaupt Panzer aufhalten würde, zumal es keine Panzerabwehrkanonen oder etwas Vergleichbares gab. Unsere eigentliche Arbeit bestand jedoch im Minenlegen und im Anbringen von Sprengladungen an Brücken, so daß diese im Notfall sofort gesprengt werden konnten. Als der Frühling in den Sommer überging, hatten wir prächtiges Wetter für diese Arbeit. Es war ein wunderbares, erhebendes Gefühl, als ich (etwas nervös) an den Seiten der Träger der großen Brücke über Breydon Water unmittelbar vor Great Yarmouth hochgeklettert war, um an dem hohen Brückenbogen zwischen blauem Himmel und Salzwasser zu arbeiten, und ein (trügerisches) Gefühl der Macht, das aus der Routine rührt, mit der man mit Sprengstoffen, Zündschnüren und Zündern hantiert. Ich kann mich noch an die Feiertagsfaulheit erinnern, wenn wir in kleinen Trupps zu dritt oder zu viert mit einem Zelt und 100 Kilogramm Sprengstoff zu einer abgelegenen Schleuse oder Brücke kommandiert wurden, wo wir auf die Invasoren warteten. Was hätten wir getan, wenn sie wirklich gekommen wären? Wir waren grün, ohne militärische Erfahrung oder gar Waffen: Neben unseren unhandlichen Lee-Enfield-Gewehren besaß die Kompanie genau sechs Lewis-Maschinengewehre, um feindliche Flugzeuge in Schach zu halten. Wir hätten keine beeindruckende erste Verteidigungslinie gegen die Wehrmacht abgegeben. Als die Deutschen in Dänemark und Norwegen einmarschierten, reagierten die Kameraden noch mit zuversichtlicher Empörung. Als sie die Niederlande überrannten, mitten in der politischen Krise, die Chamberlain schließlich das Amt kostete, machte sich eine düstere, bedrückte Stimmung bis hin zum Defätismus bemerkbar. »Was seid ihr bloß für englische Soldaten«, sagte der Ire der Kompanie, Mick Flanigan, als in der Stube darüber geredet wurde, wieviel besser die deutsche Armee doch offensichtlich sei als unsere eigene und wie es sich wohl unter einer deutschen Regierung lebte. Der Sturz Chamberlains richtete sie wieder auf, denn er war zweifellos ein wesentlicher Grund

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für die allgemeine Niedergeschlagenheit. Die neue Regierung unter Churchill wurde von unserer Kompanie offensichtlich begrüßt. (Ich notierte damals, wie seltsam es sei, daß die Helden der britischen Arbeiter Männer wie Churchill, Duff Cooper und Anthony Eden waren, »Aristokraten, nicht einmal Demagogen«.) Die Mutlosigkeit nahm in den nächsten Wochen in unseren Camps wieder zu. Es war eine Zeit der mörderischen körperlichen Arbeit und einer praktisch vollkommenen Isolation. Worin immer die Wirkung von Churchills berühmten Rundfunkreden auf die Zivilbevölkerung bestand, die Rede mit dem Satz »wir werden auf den Dünen kämpfen«, die vermutlich die von Norfolk einschloß, hielt er, als wir sie nicht hören konnten. Damals beschrieb ich die Stimmung unter den Jungs als »fürchterlich«. Wir arbeiteten Tag und Nacht und sahen nur noch unsere Baracken und unseren Arbeitsplatz (»unser größtes Vergnügen«, schrieb ich damals, »ist der Gang zur wöchentlichen Dusche«), ohne eine Erklärung, Anerkennung oder ein freundliches Wort zu bekommen. Mehr noch, wir wurden herumkommandiert, fühlten uns anonym und minderwertig. Rekruten aus bürgerlichen Familien träumten davon, an die Front zu kommen, wo »für sie Schluß war mit Blanco* und dem Blankreiben von Mützenabzeichen und wo wir alle zusammensein würden«. Die meisten meiner Kameraden gelangten einfach zu dem Schluß: »Das ist kein Leben für einen Menschen. Wenn der Krieg zu Ende ist, meinetwegen. Ich will damit nichts mehr zu tun haben und will zurück ins Zivilleben.« Meinten sie das ernst? Offenbar nicht, wie ihre Reaktion auf die Niederlage Frankreichs am 17. Juni zeigte. Ich hörte die Nachricht auf dem Weg zu einer nahe gelegenen Kneipe, von unserem Wachposten neben der kleinen Brücke, die wir an der topfebenen Straße nach Great Yarmouth bewachten. Keiner von uns war darüber im Zweifel, was das bedeutete. England stand nunmehr allein. Einige Stunden später schrieb ich in mein Tagebuch: »›Wer war schuld?‹ Eine halbe Stunde nach der Radiomeldung stellen die Engländer bereits diese Frage. Im Gasthaus, wo ich die Nachricht höre, im Auto, das ich zum Zelt zurück stoppe, bei den zwei Kumpeln im Zelt. Eine Meinung: der alte Chamberlain. Eine Ansicht: Wer schuld daran war, der muß es irgendwie spüren. Das ist vielleicht bloß eine Augenblicksreaktion. Immerhin . . . Ein Auto stoppt bei der Brücke. Der Chauffeur, Handelsreisender * In der britischen Armee benutztes Mittel zum Weißen von Gürteln etc. (A.d.Ü.).

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schätze ich, mit Pincenez und falschen Zähnen. ›Haben Sie die Nachrichten im Radio gehört?‹ Ich sage, ›Ja, haben wir.‹ ›Schlecht, schlecht‹, sagt der Mann und schüttelt den Kopf. ›Sehr schlecht, elend‹. Dann fährt er weiter. Wir rufen, ›Danke immerhin‹ und gehen zurück und liegen im langen Gras an der Böschung und reden langsam und bestürzt weiter. Die beiden können es nicht glauben.« Nicht nur, daß meine Kameraden nicht begriffen, was geschehen war. Sie konnten es weder in sich aufnehmen noch sich auch nur vorstellen, daß dies das Ende des Krieges oder einen Friedensschluß mit Hitler bedeuten könnte. (Wenn ich heute noch einmal meine damaligen spontanen Reaktionen auf die Kapitulation Frankreichs lese, konnte selbst ich es nicht – trotz der offiziellen Parteilinie seit September 1939. Ein Sieg Hitlers war für uns nicht vorgesehen.) Sie konnten eine Niederlage am Ende eines kämpferischen Krieges ins Auge fassen – im Juni 1940 nichts leichter als das. Es war außerdem für jeden klar, der sich in der Nähe der ostanglischen Küste befand, daß es im Fall einer Invasion der Deutschen, die von allen erwartet wurde, wenig gab, was sie aufhalten würde. Was sie sich dagegen nicht vorstellen konnten, war die Möglichkeit, den Krieg nicht weiterzuführen, auch wenn es für jeden mit einem gewissen Sinn für die politischen Realitäten begabten Menschen (selbst wenn er nur gelegentlich auf der ostanglischen Marsch einen Blick in den Daily Telegraph werfen konnte) außer Frage stand, daß die Lage Englands verzweifelt war. Daß England noch nicht geschlagen, daß es selbstverständlich war, mit dem Krieg weiterzumachen, war das Gefühl, das von Winston Churchill für sie in Worte gefaßt wurde, allerdings im Ton eines heroischen Trotzes, den wohl keiner meiner Kameraden empfand. Er sprach für ein britisches Volk der kleinen Leute wie die Soldaten der 560. Feldkompanie, für die es (im Unterschied zu vielen der besser Informierten) einfach undenkbar war, daß England aufgeben könnte. Wie wir heute aus der Feder von Hitlers Generalstabschef, General Halder, wissen, »[beschäftigte] den Führer am stärksten die Frage, warum England den Weg zum Frieden noch nicht gehen will«, da er überzeugt war, »vernünftige« Bedingungen anzubieten.1 Zu diesem Zeitpunkt sah er keinen Vorteil darin, eine Landungsoperation gegen England durchzuführen und das Land zu besetzen, denn »davon hat Deutschland keinen Nutzen. Wir würden mit deutschem Blut etwas erreichen, dessen Nutznießer nur Japan, Amerika und andere sind«. Hitler machte praktisch das Angebot, England solle das Empire behal-

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ten, allerdings, wie Churchill in einem Brief an Roosevelt zutreffend schrieb, als »ein Vasallenstaat des Hitlerreiches«.2 In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vertrat eine Schule von jungkonservativen Historikern die Meinung, England hätte diese Bedingungen annehmen sollen. Wenn Lord Halifax und die starke Friedenspartei innerhalb der Konservativen 1940 ein Übergewicht errungen hätten, dann wäre es nicht unmöglich – ja nicht einmal unwahrscheinlich – gewesen, daß die meisten Engländer ihnen gefolgt wären, so wie die meisten Franzosen Marschall Pétain gefolgt waren. Doch niemand, der sich an diesen außergewöhnlichen Augenblick in unserer Geschichte erinnert, kann sich vorstellen, daß die Defätisten eine echte Chance gehabt hätten, eine Mehrheit für sich zu gewinnen. Sie wurden nicht als Friedensstifter gesehen, sondern als die »Schuldigen«, die das Land überhaupt erst in diese kritische Lage gebracht hatten. Im Vertrauen auf den massiven Rückhalt in der Bevölkerung waren Churchill und die Labourminister in der Lage, sich zu behaupten. Wir wußten von alledem nichts – weder von der Friedensfraktion in Churchills Regierung (obwohl die Linke argwöhnte, daß es sie gab) noch von Hitlers Angeboten und seinem Zögern. Glücklicherweise begann Hitler im August 1940 mit den schweren Luftangriffen auf England, die sich ab Anfang September Nacht für Nacht auf London konzentrierten. Aus einem Volk, das den Krieg fortsetzte, weil wir uns nichts anderes vorstellen konnten, wurden wir zu einem Volk, das sich seines eigenen Heroismus bewußt wurde. Wir alle, selbst diejenigen, die nicht unmittelbar betroffen waren, konnten uns mit den Männern und Frauen identifizieren, die unter den abgeworfenen Bomben ihr Alltagsleben fortsetzten. Wir hätten es zwar nicht mit Churchills schwülstigen Worten ausgedrückt (»Das war ihre herrlichste Stunde«), aber es lag eine besondere Genugtuung darin, Hitler alleine die Stirn zu bieten. Doch wie sollte es für uns weitergehen? Es gab nicht die geringste Chance, in absehbarer Zeit auf den Kontinent zurückzukehren, geschweige denn den Krieg zu gewinnen. Zwischen der Luftschlacht um England und dem Zeitpunkt, als die ostanglische Division in den Untergang geschickt wurde, durchquerten wir fast das gesamte England, von Norfolk bis Perthshire, von den Grenzen zu Schottland bis zu den walisischen Marken. Doch während der ganzen Zeit hatte keiner der Männer der 560. Kompanie den Eindruck, daß das, was wir taten, irgend etwas mit dem Krieg gegen Deutschland zu tun hatte, mit Ausnahme der Zeit im Jahr 1941, als wir während der schweren deutschen Luftangriffe auf Liverpool in Merseyside stationiert waren und infolge-

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dessen jeweils am nächsten Morgen eingesetzt wurden, um die Trümmer wegzuräumen. (Ein Bild im Lokalblatt zeigte mich mit Stahlhelm in Liverpool, als mir gerade von freundlichen Damen an einem Straßenstand Tee gereicht wurde. Das Bild war möglicherweise mein erster Auftritt in einer Zeitung.) Andererseits gab es auch keine Möglichkeit, wie Hitler England aus dem Krieg hätte heraushalten können. Noch konnte er die Dinge einfach lassen, wie sie waren. Wie wir heute wissen, bewog ihn gerade der fehlgeschlagene Versuch, England im Westen zu besiegen, sich gegen die Sowjetunion zu wenden, womit sich für England wieder die Aussicht auf einen Sieg eröffnete. Wie auch immer, seit dem Sommer 1940 stand selbst für so leidenschaftliche und eingeschworene Parteimitglieder wie mich eine Sache fest: In der Armee würde niemand auf die offizielle Parteilinie gegen den Krieg hören. Sie erschien immer weniger plausibel, und als die Deutschen schließlich im Frühjahr 1941 im Balkan einrückten, war für mich (und tatsächlich auch für die meisten in der Parteiführung) klar, daß sie völlig abwegig war. Wir wissen heute, daß Stalin zum Hauptopfer ihrer Wirklichkeitsferne wurde, da er sich hartnäckig und systematisch weigerte, die Fülle von detaillierten und überaus zuverlässigen Hinweisen auf Hitlers Pläne, die Sowjetunion anzugreifen, ernst zu nehmen, und das selbst dann noch, als die Deutschen die Grenze zu Rußland bereits überschritten hatten. Es gab für Hitlers Überfall auf die Sowjetunion eine so hohe Wahrscheinlichkeit, daß anscheinend selbst die KP Großbritanniens Anfang Juni 1941 damit gerechnet hatte und lediglich besorgt war, wie Winston Churchill darauf reagieren würde.3 Deshalb empfanden Kommunisten wie Nichtkommunisten gleichermaßen Erleichterung und Hoffnung, als Hitler am 22. Juni 1941 in die Sowjetunion einmarschierte. In einer Einheit wie unserer Kompanie, die fast nur aus Arbeitern bestand, herrschte mehr als nur Erleichterung. Die Generationen, die während des Kalten Kriegs aufgewachsen sind, können nicht wissen, daß Sowjetrußland in weiten Teilen der britischen Arbeiterschaft und selbst innerhalb der Führung der Labour Party vor dem Krieg in gewisser Hinsicht als »Arbeiterstaat« sowie als die einzige bedeutende Macht angesehen wurde, die sich dem Faschismus quasi von Amts wegen widersetzte. Und natürlich wußte jeder, daß seine Unterstützung gegen Hitler unverzichtbar war. Es herrschte kein Mangel an zutiefst feindseligen Beobachtern und Kritikern, doch bis zum Beginn des Kalten Krieges war das beherrschende Bild der UdSSR in der britischen Arbeiterbewegung nicht das eines totalitären Staates mit Massenterror und Straflagern. So kehrten die KP-Mitglieder im Juni 1941 erleichtert zu dem zurück, was sie vor dem Krieg ge-

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sagt hatten, und schlossen sich wieder den Massen der gewöhnlichen Engländer an. Auf meinen Vorschlag signierte jeder Angehörige der 560. Kompanie, angefangen mit dem Hauptfeldwebel, einen Fußball, der an die Sowjetbotschaft in London geschickt wurde, damit er einer entsprechenden Pioniereinheit in der Roten Armee zugeleitet würde. Ich glaube, der Daily Mirror, der bereits weitgehend das Blatt der Streitkräfte war, brachte sogar ein Foto. Nach dem 22. Juni 1941 lief die kommunistische Propaganda mehr oder weniger von selbst. III Wie wenig ich auch zum Sturz Hitlers oder zur Weltrevolution beigetragen habe, über den Dienst bei den Königlichen Pionieren gab es sehr viel mehr zu sagen als über den beim Army Education Corps (AEC). Es muß offenbleiben, was die traditionelle Armee von einem Verein hielt, der den Anspruch hatte, den Soldaten Dinge beizubringen, die sie als Soldaten nicht wissen mußten, und mit ihnen nichtmilitärische (oder überhaupt irgendwelche) Themen zu diskutieren. Das Korps wurde geduldet, weil sein Chef, Oberst Archie White, ein Berufssoldat war, der zu seiner Zeit das Viktoriakreuz erhalten hatte, und weil die meisten Soldaten, die im Krieg dienten, unstreitig ehemalige und zukünftige Zivilisten waren, deren Kampfmoral mehr erforderlich machte, als ihnen Stolz und Loyalität gegenüber dem Regiment einzuimpfen. Die Armee blickte mißtrauisch auf die Verbindung des AEC mit dem neuen Army Bureau of Current Affairs (ABCA), das regelmäßige monatliche Diskussionsbroschüren zu politischen Themen herausgab, die höchstwahrscheinlich von Anhängern der Labour Party verfaßt worden waren. Später sollten konservative Politiker das ABCA für die Radikalisierung der Streitkräfte verantwortlich machen, die 1945 zum größten Teil Labour wählten. Man darf aber das Interesse der meisten Soldaten und Frauen in der Armee an spezifisch politischer Literatur nicht überschätzen. Das ABCA wandte sich an die lesenden Minderheiten und nicht an die Massen. Sofern überhaupt ein Lesestoff die politischen Anschauungen der »squaddies« geformt hat, zumindest innerhalb des Einflußbereichs des Vereinigten Königreichs, war es der Daily Mirror, ein brillant gemachtes und zweifellos der Labour Party nahestehendes Sensationsblatt, das sich innerhalb der Truppe einer größeren Verbreitung erfreute als jede andere Zeitung. Auch kann ich für mich nicht in Anspruch nehmen, zur politischen Radikalisierung des Südkommandos der britischen Armee mehr

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beigetragen zu haben als zur Niederlage Hitlers. Nach dem Juni 1941 besagte die Parteilinie, der Krieg gegen Hitler müsse gewonnen werden, und darin waren sich die Kommunisten mit allen anderen einig. Allerdings äußerte sich das in der Weise, daß sie in ihrer Kritik an der Regierung zurückhaltender waren als weniger parteigebundene und weniger disziplinierte Linke, sofern es nicht um Themen ging, die von der UdSSR vorgegeben wurden, etwa die Forderung, eine zweite Front im Westen zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt zu eröffnen als Roosevelt oder der noch vorsichtigere Churchill dies wünschten. Es bedurfte keiner Propaganda durch die KP Großbritanniens, um in der Bevölkerung eine leidenschaftliche Bewunderung und Begeisterung für die Rote Armee und Stalin hervorzurufen. Während des Krieges machte mein damaliger Schwiegervater, ein pensionierter und unpolitischer Oberfeldwebel der Coldstream Guards (der 1945 trotzdem Labour wählte), Besucher stolz auf seine Ähnlichkeit mit Wyschinskij aufmerksam, dem berüchtigten Staatsanwalt in den stalinistischen Schauprozessen der dreißiger Jahre. Da die Armee unschlüssig war, was sie eigentlich mit ihnen machen sollte, befanden sich die Ausbilder des AEC im Feldwebelrang wie ich (der niedrigste Dienstgrad im Korps) in einer eigenartigen militärischen Grauzone, ähnlich wie Feldgeistliche, nur ohne die Offizierssterne und die rituellen Anlässe, bei denen ihre Gegenwart obligatorisch war. Sie wurden alleine oder zu zweit auf die Ausbildungs- oder die Basislager verteilt oder ohne eine klar umrissene Aufgabe Einsatzverbänden zugeteilt. Wir gehörten nicht wirklich zu den Einheiten, die formal für unsere Verpflegung, Unterkunft und Bezahlung verantwortlich waren; wir wurden von keinem besonders behelligt. Wir hatten Waffen, aber sie waren so bedeutungslos, daß es bei meiner endgültigen Entlassung keine näheren Bestimmungen gab, wo und bei wem ich mein Gewehr abgeben sollte. Andererseits hatte ich nirgends, wo ich stationiert war, irgendwelche Probleme, einen Platz für meine Schreibmaschine und für ein paar Bücher zu finden. Ich kann mich nicht erinnern, daß jemand in der Gardepanzerdivision, der ich eine Zeitlang zugeteilt war, Bemerkungen über das Äußere eines Feldwebels gemacht hätte, dessen Kleidung und Auftreten keinen ernsthaften Versuch erkennen ließen, den bekannt hohen Anforderungen der Gardetruppen gerecht zu werden. Niemand außer einem AEC-Feldwebel wäre damit durchgekommen. Zumindest solange wir nicht ins Ausland gingen, ließ uns die Armee an einer sehr langen Leine laufen. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich von den verschiedenen Standorten in Südengland, wohin mich das AEC geschickt hatte, nach London gefahren bin,

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doch mit der Zeit – und vor allem nach meiner Hochzeit im Frühjahr 1943 – verbrachte ich so gut wie jedes Wochenende dort. So führte ich – aus praktischen Gründen – zunehmend das Leben eines Wochenendpendlers. Es gab sogar Zeiten, da sich mein Leben selbst unter der Woche kaum von dem eines Zivilisten unterschied, außer darin, daß ich eine Uniform trug. So wohnte ich in meinen letzten achtzehn Monaten in Gloucester, einquartiert bei einer Mrs. Edwards, einer liebenswürdigen Dame der Mittelschicht und Freundin und Anhängerin ehemaliger und zukünftiger Labour-Abgeordneter der Region, in deren Wohnzimmer ein Matisse mittlerer Qualität hing, zu dessen Erwerb (für 900 Pfund) ihr – offenbar guter – Finanzberater ihr 1939 geraten hatte. Während des Wahlkampfs von 1945 engagierte ich mich sogar für die Labour Party und war wie viele andere verblüfft über den massiven Rückhalt, den diese Partei genoß und dem ich an den Wohnungstüren begegnete. Außerdem sprach ich als Vertreter der Armee vor den Arbeitern eines der großen Flugzeugwerke an der Straße von Gloucester nach Cheltenham, den Hochburgen der dortigen KP. Ich gelangte zu dem Schluß, daß ich kein geborener Massenredner bin. Dessenungeachtet war London der Ort, wo ich mein Leben als erwachsener Mensch wirklich lebte. Ohnehin hatte ich dort schon während des Luftkriegs 1940-1941 jeden Urlaub verbracht und bei nächtlichen Spaziergängen entdeckt, daß nur ein gewisses Maß an abgestumpftem Fatalismus (»die Bombe trifft dich nur, wenn jemand deinen Namen darauf geschrieben hat«) es erlaubt, den täglichen Verrichtungen des Lebens auch unter Bombenangriffen nachzugehen. Da ich nun so oft dort sein konnte, wurde auch ein weniger unregelmäßiges und besser planbares Privatleben möglich. Im Mai 1943 heiratete ich Muriel Seaman, die ich flüchtig als sehr attraktive junge Kommunistin an der LSE kennengelernt hatte und die jetzt im Handelsministerium arbeitete. So kann ich von mir behaupten, daß ich einmal mit einer der wenigen echten Cockneys verheiratet war, denn sie wurde im Londoner Tower geboren, ihre Mutter war die Tochter eines »Beefeaters« (eines der Tower-Wächter) und ihr Vater Feldwebel in einer Abteilung der Coldstream Guards, die die Kronjuwelen* bewachen sollte. Mit dieser Heirat klärte sich auch meine Zukunft nach dem Krieg. Als Ehemann einer Beamtin im höheren Dienst war ich genötigt, mir ein anderes Forschungsfeld zu suchen, wenn ich nicht meine Frau in London zurücklassen wollte, während ich einige Jahre in Französisch-Nord* Die Crown Jewels (Krone, Szepter und andere Regalia der englischen Monarchie) werden im Tower aufbewahrt.

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afrika verbrachte. Nachdem ich meinen alten Lehrer Mounia Postan um Rat gefragt hatte, inzwischen ebenfalls Beamter auf Zeit in London, verfiel ich auf die Geschichte der Fabian Society, deren Quellen sich praktisch alle in der Hauptstadt befanden. Das Thema erwies sich als eine Enttäuschung. Das galt allerdings auch für meine Ehe, wie für viele andere Kriegsehen, auch wenn ich das damals noch nicht so gesehen habe. Zum Glück hatten wir keine Kinder. Ich hatte Muriel über meine Londoner Freunde wiedergetroffen, Marjorie, eine alte Flamme von der LSE, und ihren Lebensgefährten, den bezaubernden Ökonomen Teddy Prager, ebenfalls ein alter Roter von der LSE, der aus seinem befristeten Exil (Isle of Man, Kanada) zurückgekehrt war, wohin die britische Regierung fast automatisch so viele der leidenschaftlich nazifeindlichen jungen österreichischen und deutschen Flüchtlinge geschickt hatte. Nach seiner Promotion in Cambridge arbeitete er in einer Institution, die man heute als eine »Denkfabrik« bezeichnen würde, der PEP (Political and Economic Planning), bevor er 1945 als linientreues KP-Mitglied nach Österreich zurückkehrte, zu dieser Zeit mit einer anderen Frau. Für seine berufliche Laufbahn als Hochschullehrer oder auch als Politiker wäre es besser gewesen, wenn er geblieben wäre. Die beiden waren eines der seltenen Paare meiner Studentengeneration oder Altersgruppe, die während des Krieges ständig in London gelebt und gearbeitet hatten – der Haushalt meines Cousins Denis Preston gehörte auch in diese Kategorie –, denn die meisten der wehrtauglichen Männer waren in Uniform, und nur ganz wenige Soldaten, die meisten beim Stab oder im Nachrichtendienst, waren in London stationiert. Andererseits war die Stadt voll von Frauen, die man aus Studententagen kannte, denn aufgrund des Krieges gab es jetzt für Frauen weit mehr anspruchsvolle Arbeitsstellen als zuvor. Im Hinblick auf Alter, Gesundheit und Geschlecht bildeten meine Londoner Freunde und Altersgenossen somit eine eigenartig verkehrte Gemeinschaft. Die Männer kamen und gingen, Besucher von außerhalb wie ich selber. Einen festen Wohnsitz hatten nur die Frauen, die untauglich Gemusterten und die Männer jenseits des wehrfähigen Alters. Darüber hinaus gab es noch eine ständig anwesende Szene: Die Ausländer, in meinem Bekanntenkreis jene, die sich der deutschen Sprache bedienten. So lag es nahe, daß Teddy Prager mich in den weiten Umkreis der Free Austrian Movement (FAM) einführte, in der er als Kommunist natürlich heftig engagiert war. Da ich in London nichts Besonderes zu tun hatte und regelmäßig dorthin fuhr, hätte ich früher oder später auch so den Weg in das Milieu der Flüchtlinge gefunden. Eigentlich war ich ihnen ja schon von

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Anfang an während meiner Militärdienstzeit auf der Salisbury Plain begegnet, denn niemanden traf man wahrscheinlicher in Aufenthaltsräumen und Bibliotheken als die bunte Mischung aus Musikern, ehemaligen Archivaren, Inspizienten und ambitionierten Ökonomen aus Mitteleuropa, die im britischen Pionierkorps als Hilfsarbeiter angestellt waren. (Mit der Zeit wurden viele von ihnen in den Streitkräften effizienter eingesetzt.) Obwohl ich an Deutschland überhaupt keine und an Österreich nur geringe emotionale Bindungen hatte, war Deutsch meine Sprache gewesen, und seit meiner Abreise aus Berlin 1933 hatte ich enorme Anstrengungen unternommen, sie in einem Land, in dem ich sie nicht mehr gebrauchen mußte, nicht zu vergessen. Sie blieb meine Privatsprache. In ihr hatte ich meine umfangreichen Tagebücher als Heranwachsender geschrieben und selbst noch die Tagebücher, die ich während des Krieges gelegentlich geführt hatte. Während Englisch mein regelmäßiges schriftliches Idiom war, löste allein die Tatsache, daß mein Land sich weigerte, im Kampf gegen Hitler von meiner Zweisprachigkeit Gebrauch zu machen, in mir den Impuls aus zu beweisen, daß ich in dieser Sprache immer noch schreiben konnte. 1944 wurde ich sogar freier Mitarbeiter bei einer schlecht gedruckten, wöchentlich erscheinenden deutschen Exilzeitung, die vom Informationsministerium finanziert wurde, Die Zeitung, für die ich einige literarische Artikel verfaßte. Worin immer das politische oder propagandistische Ziel dieses Blatts bestanden haben mochte, erreicht wurde es nicht, und so wurde sein Erscheinen von den enttäuschten Förderern gleich nach dem Krieg eingestellt. Erbitterte Gegner des Blatts waren sowohl die deutschen sozialdemokratischen und sozialistischen Exilanten als auch die kommunistischen Emigranten. Daraus schließe ich, daß ich bei der Partei nicht rückgefragt oder anders ausgedrückt, daß ich Die Zeitung überhaupt nicht für »politisch« gehalten habe. Ich hatte aufs Geratewohl an den Feuilletonchef »Peter Bratt« geschrieben, der sich als ein gewisser Wolf von Einsiedel entpuppte, ein beeindruckend gebildeter Mann mit weichen Gesichtszügen, ein Homosexueller aus dem Umkreis Bismarcks und etlicher preußischer Generäle und vor 1933 Feuilletonchef der Vossischen Zeitung. Er behandelte mich besonders zuvorkommend, verständnisvoll und freundschaftlich und korrigierte sicherlich auch mein Deutsch. Wir trafen uns zu Gesprächen in Kneipen in Soho. Nachdem er nach München gezogen war, verlor ich den Kontakt zu ihm, aber vielleicht ist dieses Buch ein geeigneter Ort, an eine der wenigen Personen während des Krieges außerhalb meiner Angehörigen und der Kommunistischen Partei zu erinnern, denen ich persönlich zu Dank verpflichtet bin.

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Die Free Austrian Movement, in die Teddy Prager mich einführte, war politisch wie kulturell eine wesentlich ernsthaftere Sache. Auch wenn sie hinter den Kulissen von Kommunisten organisiert und deshalb sehr effizient geführt wurde, gelang es ihr, die große Mehrheit der nicht besonders politisierten österreichischen Emigrantengemeinde (darunter auch mein späterer Schwiegervater in Manchester) auf der Grundlage eines einfachen und schlagkräftigen Slogans zu mobilisieren: »Österreicher sind keine Deutschen«. Das war ein dramatischer Bruch mit der Tradition der ersten Österreichischen Republik (1918-1938), in der alle Parteien mit Ausnahme einer Handvoll noch lebender Habsburger Loyalisten – und etwa seit 1936 der Kommunisten – vom Gegenteil ausgegangen waren und stets betont hatten, daß ihr Land Deutschösterreich sei, und die (bis Hitler) auf eine schließliche Vereinigung mit Deutschland gehofft hatten. Auf der ideologischen Ebene schlug Hitlers »Anschluß« im März 1938 somit den Gegnern die Waffen aus der Hand: Der alte Sozialistenführer Karl Renner (der 1945 der erste Präsident der zweiten Österreichischen Republik werden sollte) hatte ihn sogar begrüßt. Die Kommunisten hatten eine Zeitlang eine interessante Argumentationslinie für die historische und selbst kulturelle Trennung Österreichs von Deutschland entwickelt, wofür ich schließlich ebenfalls eingespannt wurde, da ich sowohl Kommunist als auch ein ansprechbarer qualifizierter Historiker war. (Vom April 1945 bis zu dem Tag, an dem ich 1946 aus der Armee entlassen wurde, schrieb ich eine entsprechende historische Artikelserie für die Zeitungen der FAM, vermutlich meine erste historische Arbeit.) Keine Deutschen zu sein war eine Position, die der überwiegend österreichisch-jüdischen Emigrantengemeinde zusagte, die bei all ihrer Dankbarkeit und Bewunderung gegenüber England zweifellos größere Schwierigkeiten hatte, sich der neuen Gesellschaft anzupassen als die deutschen Emigranten. Diese Position passte auch gut zur Nachkriegspolitik der Alliierten, was zur Folge hatte, daß sich die Free Austrian Movement – die mit Abstand am besten organisierte Sektion der Flüchtlinge vom europäischen Kontinent – einer gewissen offiziellen Anerkennung erfreute und weitgehend frei war von dem öffentlichen Gezänk, das für die Interessenpolitik der Emigranten so typisch war. Außerdem konnte sie den österreichischen Flüchtlingskindern und -jugendlichen der »Kindertransporte« von 1938/39 erfolgreich ein Gefühl der Gemeinschaft und einer Zukunft in ihrem »Jung-Österreich« geben. Jedenfalls kehrten sie mit den wärmsten Erinnerungen an ihr Exil in England nach Österreich zurück. Etliche meiner späteren Freunde, vor allem der Dichter und Übersetzer Erich Fried und der Maler Georg Eisler, kamen aus diesem Milieu.

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Das Leben an der langen Leine der Armee war somit ganz annehmbar, wenn auch nicht besonders anspruchsvoll. Ich hatte eine Frau, Freunde und eine Kulturszene in London und wurde (dank meinem Cousin Denis, der an einer winzigen Zeitschrift für intellektuelle und überwiegend linke Anhänger, Jazz Scene, mitwirkte) mit der kleinen Gemeinde ernsthafter Jazz- und Bluesfans innerhalb und außerhalb Londons bekannt, von denen ich manches lernen konnte. Tatsächlich war eine meiner erfolgreicheren Bildungsveranstaltungen bei der Armee ein Kurs, bei dem Jazzplatten gehört wurden und den ich für eine sogenannte Jungsoldaten-Ausbildungseinheit im tiefsten Dorset organisierte. Zu diesem Zweck fuhr ich regelmäßig nach Bournemouth, um Platten auszuleihen, und ein dort ansässiger Jazz-Experte namens Charles Fox trug etliches zur Erweiterung meiner eigenen Kenntnisse bei. Zudem gab es damals genug politischen Diskussionsstoff, auch wenn ich meiner Erinnerung nach formell keiner Untergruppe der KP angehörte, denn Moskau schien die ganze Zukunft der kommunistischen Bewegung in Frage zu stellen. Es löste 1943 die Komintern auf. Im selben Jahr bewog die Konferenz von Teheran zwischen Stalin, Churchill und Roosevelt den Machthaber im Kreml, eine Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen Kapitalismus und Sozialismus in Aussicht zu stellen. Die KP der USA wurde infolgedessen aufgelöst. Deren Führer, Earl Browder, erklärte, »Kapitalismus und Sozialismus haben begonnen, einen Weg zu einer friedlichen Koexistenz und einer Zusammenarbeit in derselben Welt zu finden«4 – eine Behauptung, die kein Kommunist öffentlich geäußert hätte, ohne zuvor das Plazet Stalins einzuholen –, und die KP Großbritanniens gründete ihre Pläne für die Zukunft auf die Annahme, dies sei der Inhalt der »Teheranlinie«. Irgend jemand in der Parteizentrale an der Londoner King Street – es muß Emile Burns, der damalige Kommissar für Bildung, gewesen sein – bat mich sogar, ein Thesenpapier für ihre Diskussionen über die wirtschaftlichen Möglichkeiten einer kapitalistisch-kommunistischen Entwicklung nach dem Krieg zu erstellen. Bei all unserer Linientreue und Disziplin waren nicht alle Revolutionäre in der Lage, diese »neuen Perspektiven« ohne weiteres zu schlucken, auch wenn wir einsahen, warum es sinnvoll sein konnte, die Komintern aufzulösen, und keinerlei Zweifel hatten, daß der Sozialismus jedenfalls zu ihren Lebzeiten keinen Einzug in die Vereinigten Staaten halten würde. Doch wie man sich leicht denken kann, erinnerte mich jeder Tag dieser Existenz daran, daß ich nichts dazu beitrug, diesen Krieg zu gewinnen, und daß niemand mich in die Nähe eines noch so bescheidenen Postens lassen würde, wo meine Qualifikationen und Stärken für

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diesen Zweck wirksam eingesetzt werden könnten. Die Division, der man mich zugeteilt hatte, bereitete sich auf einen Auslandseinsatz vor, jedoch ohne mich. Von den Klippen der Isle of Wight aus konnte ich beobachten, wie eine Flotte – offensichtlich für die Invasion in Frankreich – zusammengezogen wurde, während ich nichts Besseres zu tun hatte, als den uniformierten Touristen in Königin Viktorias Sommerresidenz Osborne House zu spielen und in einem Buchladen antiquarisch ein Exemplar von Hazlitts Spirit of the Age zu erstehen. Ich meldete mich freiwillig für einen Auslandseinsatz, ohne daß jemand darauf reagiert hätte. Man schickte mich nach Gloucester. Was die größte und entscheidendste Krise in der Geschichte der neuzeitlichen Welt betraf, war meine Anwesenheit völlig unerheblich. Immerhin sollte ich dann schließlich doch mit dem Krieg in Berührung kommen, wenn auch indirekt und ohne mir dessen damals bewußt zu sein. Ich wurde in den militärischen Flügel des Städtischen Krankenhauses von Gloucester versetzt, wo ich als eine Art Verbindung zu zivilen Hilfsstellen fungierte. Die Klinik hatte sich auf schwere Verletzungen und Verbrennungen spezialisiert und nahm in wachsender Zahl Soldaten auf, die bei den Kämpfen in der Normandie verwundet worden waren. Es war ein Ort voller Penicillininjektionen, Bluttransfusionen und Hauttransplantationen, voller mit Zellstoff umwickelter Gliedmaßen und Männer, die in den Gängen herumstanden und von deren Gesichtern Gebilde herabhingen, die an Würste erinnerten, gekleidet in ein seltsam schreiendes »Krankenhausblau« und die roten Halstücher von Militärpatienten. Hier wurden alle behandelt, auch verwundete Deutsche (ein Offizier erklärte mir, er sei kein Nazi gewesen, habe jedoch dem Führer persönlich die Treue geschworen) und Italiener (einer von ihnen las Strindberg in italienischer Übersetzung im Bett und redete unaufhörlich auf mich ein, obwohl ich kaum Italienisch verstand: über italienische Offiziere, England und Italien, die Zukunft Italiens, den Krieg, alles.) Wir waren natürlich stolzer auf unsere »Verbündeten«, die ich in einem vierzehntägigen Mitteilungsblatt aufführte. Der eine war ein Pole aus Thorn (Torun), der in beiden Armeen gekämpft hatte, in der Normandie von den Deutschen desertiert und nach einer Nacht in Edinburgh zusammen mit anderen Polen nach Nordfrankreich zurückgekehrt war. Der andere war das Schmuckstück der Station, ein kleiner Marokkaner mit einem schmalen Berbergesicht mit hohen Backenknochen, im pludrigen Krankenhauspyjama. Er besaß eine schon viele Male aus der Brieftasche gezogene lobende Erwähnung für vorbildliche Tapferkeit des »jeune spahi Amor Ben Mohammed« in Himeimat und verständigte sich mit uns über

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einen Französischalgerier, den Gefreiten Colleno von den Freien Franzosen. Es war ein Ort des Unheils. Dennoch war das Außergewöhnlichste an dieser Blutstätte, daß hier der Tod das eigentlich Unerwartete war. Es war eher ein Ort der Hoffnung als des Schmerzes und der Trauer. Damals schrieb ich in mein Tagebuch: »An den anfangs unerwarteten Anblick von Menschen, die nur noch eine Gesichtshälfte haben, und von anderen, die aus brennenden Panzern gerettet wurden, habe ich mich inzwischen gewöhnt. Gelegentlich wird jemand hereingetragen, dessen Verstümmelung noch eine Spur grauenhafter ist, und wir halten den Atem an, wenn wir uns seiner annehmen, aus Angst, in unserem Gesicht könnte sich unser Abscheu spiegeln. Wir können jetzt in Muße Betrachtungen darüber anstellen, daß Marsyas so ausgesehen haben muß, nachdem Apollo ihm die Haut abziehen ließ; oder wie anfällig die Harmonie menschlicher Schönheit ist, wenn das Fehlen eines Unterkiefers sie völlig aus dem Gleichgewicht bringt. Der Grund für diese Gefühllosigkeit ist der, daß eine Verstümmelung keine unwiderrufliche Tragödie mehr ist. Diejenigen, die hierherkommen, wissen im allgemeinen, daß sie am Ende als weitgehend menschliche Wesen wieder von hier fortgehen. Es kann – und wird – sie Monate oder gar Jahre kosten. Der Prozeß, sie wiederherzustellen, eine zerbrechliche menschliche Skulptur, wird Dutzende von Operationen erfordern, und sie werden Phasen durchmachen, in denen sie absurd und lächerlich, vielleicht noch schlimmer als entsetzlich aussehen. Aber sie haben Hoffnung. Was ihnen bevorsteht, ist keine Ewigkeit mehr, in der sie in einem Heim weggeschlossen sind, sondern ein menschliches Leben. Sie liegen in Salzbädern, weil sie keine Haut haben, und reißen über sich Witze, weil sie wissen, daß sie eine neue Haut bekommen werden. Sie laufen auf den Gängen der Station herum mit gestreiften Gesichtern wie Zebras, und an ihren Wangen baumeln Gebilde, die wie Würste aussehen. Erst in einem solchen Hospital fängt man an zu begreifen, was Hoffnung bedeutet.« Und nicht nur Hoffnung für den Körper. Während das Ende des Krieges und der sichere Sieg näher rückten, regte sich auch Hoffnung für die Zukunft. Hier sind zwei Nachrichten aus dem Mitteilungsblatt, das ich für die Kranken auf der Militärstation herausgab:

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»Ich habe bisher in der Landwirtschaft gearbeitet, aber meine Beine sind weg, und deshalb geht das nicht mehr. Mr. Pitts hat mich gefragt, was ich gern tun würde, und ich habe gesagt, in der Armee sei ich Motorenschlosser gewesen, ob das in Frage komme? Also mache ich eine Ausbildung an einer Schule in Bristol . . . dann kann ich Verbrennungsmotoren überholen, 45 Schilling die Woche, wenn ich zu Hause wohne, und ich bin nicht gezwungen, bei dieser Arbeit zu bleiben . . . Ich finde diesen Plan, für Kriegsinvaliden wieder eine Beschäftigung zu finden, gut.« Hier die zweite: »Die Diskussionsveranstaltung des ABCA wird von Sergeant Owen RA (Royal Artillery) von Baracke 9 eröffnet, der über das Thema ›Was ich für den Wiederaufbau tun würde‹ sprechen wird.« Und Sergeant Owen, ein Maurer und Vorarbeiter und vor dem Krieg Delegierter seiner Gewerkschaft auf dem Gewerkschaftskongreß, stellte die Frage, ob »noch andere Anwesende vom Bau Vorschläge zum Thema« hätten. Das Kriegsende stehe vor der Tür, es werde allgemeine Wahlen geben (einige Stationen bestellten sogar schon Wahlzettel, bevor diese überhaupt abgeschickt worden waren), und alles würde anders werden. Wer hätte diesen Glauben 1944/45 nicht geteilt, auch wenn unsere erste Sorge nach dem Krieg natürlich war, wann wir entlassen würden? Auch ich glaubte daran. Mochte mein Militärdienst auch sinnlos sein, solange der Krieg andauerte, war er ebenso normal wie notwendig. Ich beschwerte mich nicht. Nach der Beendigung des Krieges war allerdings in meinen Augen jeder weitere Tag in der Armee ein vergeudeter Tag. Als es vom Sommer 1945 in den Herbst und dann in den Winter ging, näherte ich mich meinem sechsten Jahr in Uniform, doch die Armee traf keinerlei Anstalten, mich wieder loszuwerden. Im Gegenteil. Anfang 1946 machte sie mir zu meiner größten Verblüffung den Vorschlag, mich ausgerechnet einer Luftlandeeinheit zuzuteilen und ausgerechnet nach Palästina zu schicken. Die Armee glaubte anscheinend, nachdem sie mich nicht in den Krieg gegen Deutsche geschickt hatte, müsse sie mich zum Ausgleich in den Krieg gegen Juden oder Araber schicken. Das war schließlich der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Kommunistische Juden waren natürlich aus Prinzip Antizionisten. Doch wo immer meine Sympathien, Antipathien oder Loyalitäten liegen mochten, die Lage eines jüdischen Soldaten, der mitten in einen dreifachen Konflikt zwischen Juden, Arabern und Engländern abgesetzt wurde, war für mich mit zu vielen Komplikationen verbunden.

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Deshalb ließ ich zum ersten Mal in meinem Leben meine Beziehungen spielen. Ich rief Donald Beves an, den Tutor im King’s College, und sagte ihm, ich wolle aus der Armee heraus, um mein Forschungsstipendium wahrzunehmen. Er schrieb die erforderlichen Briefe, betonte die Notwendigkeit, daß ich unbedingt nach Cambridge zurückkehrte, und es klappte. Am 8. Februar 1946 gab ich meine Uniform ab, behielt jedoch meine Gasmaskentrommel, die sich als nützlicher Umhängebehälter erwies, erhielt meine Zivilkleidung und einen 56tägigen Entlassungsurlaub. Im Alter von achtundzwanzigeinhalb Jahren kehrte ich nach London und in ein menschliches Leben zurück.

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11 Kalter Krieg

I 1948 wurden die Grenzen zwischen Ost- und Westdeutschland zu Frontlinien im Kalten Krieg. Während der »Berlinkrise«, die begann, als die Russen Anfang April jenes Jahres die Landverbindungen zu der Stadt unterbrachen, und in den langen Monaten der anschließenden Luftbrücke nach Berlin hatten sich Ost und West in einem gefährlichen und nervenaufreibenden Kräftemessen festgefahren. Kommunisten im Westen, wie unbedeutend ihre Zahl auch sein mochte, gehörten »zur anderen Seite«. Für meine Person begann der Kalte Krieg deshalb im Mai 1948, als das Foreign Office mich informierte, daß es leider nicht in der Lage sei, seine Einladung an mich aufrechtzuerhalten, zum zweiten Mal an dem Kurs der britischen Kontrollkommission zur »Umerziehung« der Deutschen teilzunehmen. Die Gründe, daran konnte es keinen Zweifel geben, waren rein politisch. Geräuschlose, aber umfassende Bemühungen, bekannte KP-Mitglieder aus allen Positionen zu entfernen, die mit dem öffentlichen Leben in England zusammenhingen, setzten etwa um diese Zeit ein. Auch wenn dieses Vorhaben weder so hysterisch noch so kompromißlos in die Tat umgesetzt wurde wie in den Vereinigten Staaten, wo Mitte der fünfziger Jahre praktisch keine Kommunisten oder selbsterklärten Marxisten mehr ein Lehramt an Colleges und Universitäten ausübten, war es eine schlechte Zeit für Kommunisten in intellektuellen Berufen. Die Regierungspolitik leistete der Diskriminierung Vorschub und behandelte uns als potentielle oder manifeste Verräter, und unsere Arbeitgeber und Kollegen begegneten uns mit tiefem Mißtrauen. Der liberale Antikommunismus war nichts Neues, doch im Kalten Krieg fand er umfassende Unterstützung in einer von der amerikanischen und der britischen Regierung finanzierten Propaganda, und der Abscheu vor dem Stalinismus und die (von der britischen Regierung nicht geteilte1) Überzeugung, die UdSSR stehe kurz vor der Eroberung der Welt, gab ihm eine neue hysterische Seite. Bis dahin war das politische Klima zumindest in England weit weniger aufgeheizt. Im Land regierte jetzt die Labour Party, und niemand,

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schon gar nicht die geschlagenen Konservativen, stellte die weitreichenden Reformen der neuen Regierung in Frage. Nach allgemeiner Übereinstimmung war eine Rückkehr zu den dreißiger Jahren undenkbar oder wurde zumindest nicht thematisiert; die Regierung von 1945 genoß eine unangefochtene politische und moralische Legitimität und war jedenfalls nicht »revolutionärer« als die dirigistischen Kriegsanstrengungen der vergangenen sechs Jahre, die der britischen Bevölkerung einen Sieg gebracht hatten, den sie zutiefst als ihren eigenen betrachtete. Auf der internationalen Ebene hatte die große Allianz zwischen England, der UdSSR und den Vereinigten Staaten den Krieg gewonnen, und abgesehen von den Außenministerien und Geheimdiensten hatten Reibereien zwischen den Kriegsverbündeten das Bewußtsein von diesem gemeinsamen Kampf noch nicht ausgelöscht.2 In den Jahren 19451947 waren Kommunistische Parteien in den Regierungen der meisten kriegführenden und besetzten Länder Westeuropas sowie nichtkommunistischer Länder Osteuropas mit Ministern vertreten. Männer und Frauen kehrten aus dem Krieg zurück oder verließen ihre kriegsbedingten Beschäftigungen, um ins Zivilleben zurückzufinden – ihre alten beruflichen Laufbahnen wiederaufzunehmen oder die nahe Zukunft zu planen. Freunde, die sich vielleicht jahrelang nicht gesehen hatten, kamen wieder zusammen. Die meisten von ihnen waren noch am Leben, denn England hatte im Vergleich zu den Russen, Polen, Jugoslawen und vor allem den Deutschen einen leichten Krieg gehabt. Der Krieg von 1914/18, der aus gutem Grund noch immer die Bezeichnung »Großer Krieg« trug, tötete ein Viertel der Studenten in Cambridge und Oxford, die in den Streitkräften dienten, während mir unter den etwa 200 Studenten meines Jahrgangs in Cambridge nur fünf oder sechs einfallen, die ich persönlich oder vom Hörensagen kannte und die nicht mehr aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrten. Es war eine Zeit, in der man Erfahrungen austauschte und Vorkriegskommunisten sich gegenseitig fragten: »Bist du noch in der Partei?« Eine beträchtliche Zahl von damaligen Studenten verneinte die Frage. Nach meiner Entlassung aus der Armee führte ich etwa ein Jahr lang eine eigenartige Doppelexistenz in London und jeweils einige Tage in der Woche als Forschungsstipendiat in Cambridge, lebte jedoch vom Februar 1947 bis September 1950 ausschließlich in London. Wir wohnten in Gloucester Crescent, einem schmalen bürgerlichen Zipfel am Rand von Camden Town, dem westlichsten Vorposten der ausgedehnten Zone von Londons zerbombtem und damals von der Oberschicht völlig unentdecktem East End, das Intellektuelle anzog, weil es noch außerordentlich preiswert und sehr verkehrsgünstig gelegen war: Mit

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öffentlichen Nahverkehrsmitteln benötigte man nur zehn Minuten zur Universität und zum Britischen Museum. (Damals hatte in meinem Bekanntenkreis niemand ein Auto.) Es war noch nicht der Sammelpunkt einer Schar hochintelligenter Oxbridge-Abgänger (genaugenommen mehr »bridge« als »Ox«) der fünfziger Jahre geworden, die in den Comics von Tageszeitungen freundlich verspottet und als bürgerliche Intellektuelle in den sechziger Jahren zu Vorbildern für einen neuen Lebensstil wurden. Viele von ihnen waren Freunde aus der Zeit des Kalten Kriegs in Cambridge. 1946 war Gloucester Crescent noch kein Nobelviertel, doch wie ich in einem liebevollen Artikel über Camden Town im Auftrag von Kaye Webb für Lilliput schrieb (sie hatte kurz nach dem Krieg Ronald Searle geheiratet, als dieser aus japanischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war), konnte man dort doch gerade noch so tun, als hörte man das Brüllen der Löwen im Regent’s Park Zoo. 1947 zogen wir in eine wesentlich stilvollere Wohnung hinter einer Fassade aus dem frühen 18. Jahrhundert an der Nordseite von Clapham Common, gegenüber der Kirche, in der die Clapham-Sekte ihre Andachten abgehalten hatte, eine Scheune mit einem Turm. Draußen, erinnere ich mich, durchkämmte mein neuer Kollege am Birkbeck College, der Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner, die Gegend für sein Mammutwerk The Buildings of England wie ein Prüfer im Examen, der an die Vergangenheit Noten verteilt. Drinnen kämpfte ich, am Ende erfolgreich, mit meiner Fellowship- und Doktorarbeit und, am Ende erfolglos, mit den Problemen meiner ersten Ehe, die ich damals als solche nicht so richtig erkannt hatte. Wie der Zufall spielte, sollte ich fünfzehn Jahre später in ein nur wenige Minuten entferntes viktorianisches Haus einziehen – das erste, in dem ich als Eigentümer und nicht als Mieter wohnte –, zusammen mit Marlene. Intellektuelle Kommunisten oder Sympathisanten der KP wurden noch nicht ausgegrenzt. Als die BBC mit der Ausstrahlung ihres bahnbrechenden Dritten Programms begann, machte mich sogar ein (nichtkommunistischer) Cambridge-Historiker aus der Vorkriegszeit, Peter Laslett, der für den Sender als Talentsucher tätig war, mit der älteren, weltklugen Kulturbeobachterin Anna (»Njuta«) Kallin bekannt, die russische Produzentin der Radiovorträge des Senders, die mir bei meinen ersten, anfangs unsicheren Schritten in die Welt der Mikrophone behilflich war. (Natürlich spielte das keine große Rolle: Man sprach höchstens für einige Zehntausend.) Ich habe 1947 mehrere Beiträge für sie geschrieben, darunter möglicherweise die erste Rundfunksendung auf englisch über Karl Kraus. KP-Mitglieder hatten zunächst auch noch keine Schwierigkeiten,

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eine Anstellung an einer Universität zu finden, und mehrere Historiker (darunter ich selbst) nahmen diese Möglichkeit auch wahr. 1947 wurde ich Lehrbeauftragter am Birkbeck College, obwohl der Leiter der Fakultät über meine politischen Anschaungen im Bilde war. (Die Studenten, die er fragte, ob ich versuchte, sie zu indoktrinieren, konnten ihn beruhigen.) Mit meiner damaligen Frau, die sich als Sektionschefin im Handelsministerium für diese Gelegenheit freinahm, das heißt als Mitglied der winzig kleinen Elite aus politischen Entscheidungsträgern im Beamtenapparat, reiste ich zu den Weltjugendspielen in Prag. Sie war anläßlich unserer Hochzeit wieder in die KP eingetreten – damals wäre es für mich undenkbar gewesen, eine Frau zu heiraten, die nicht in der Partei war –, und die Parteigenossen im höheren öffentlichen Dienst trafen sich in unserer Wohnung in Clapham.3 Soweit ich mich erinnern kann, hat sie damals nie geäußert, es könnte ihrer Karriere im Staatsdienst förderlicher sein, nicht nach Prag zu fahren. Als ich zehn Jahre später einem Freund anbot, ihm die Hälfte meiner Wohnung in Bloomsbury unterzuvermieten, der von Cambridge zum Schatzamt gegangen war, sagte er mir bedauernd, angesichts meiner bekannten politischen Einstellung könne er das Risiko einfach nicht eingehen. In meinem Fall brachte das Kriegsende in Hinsicht auf den Antikommunismus sogar eine kurze Entspannung. Die britische Regierung, die es sechs Jahre lang abgelehnt hatte, meine Deutschkenntnisse in irgendeiner Weise nutzbar zu machen, änderte jetzt ihre Meinung. 1947 wurde ich gebeten, vermutlich auf dem Umweg über irgendeine Vorkriegsbekannte aus Cambridge, die jetzt im Foreign Office tätig war, bei der »Umerziehung« der Deutschen behilflich zu sein. Das Ganze sollte in einem ehemaligen Jagdschloß in der Lüneburger Heide stattfinden, nur wenige Kilometer entfernt von der Grenze zur Sowjetischen Zone. Zwischen den beiden Zonen bestand ein lebhafter Personenverkehr mit der Eisenbahn, die täglich mehrere tausend Reisende und Schmuggler in beide Richtungen beförderte, ohne daß die britischen und russischen Grenzposten eingegriffen hätten.4 Das »Demokratisierungs-Team«, in dem mindestens ein weiterer Mann mitarbeitete, der im Jahr darauf nicht mehr zugelassen wurde, konnte man unmöglich politisch oder auch nur wirtschaftlich als »zuverlässig« bezeichnen. Die Schüler waren eine buntgemischte Gesellschaft aus dem Westen und – noch – aus dem Osten: meine erste Erfahrung mit jenen Deutschen, die im Land geblieben waren. Rückblickend stelle ich fest, daß die überwiegend jüdischen »Umerzieher« aus England – eigentlich war die Vorstellung, daß wir über den Kanal zu diesen intelligenten Leuten mit einem Patentrezept für eine demokratische Zukunft ge-

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kommen seien, ziemlich peinlich – nicht jene Art instinktiver Ablehnung gegen die Deutschen empfanden, wie sie das inzwischen verbreitete Wissen über Auschwitz und die übrigen Vernichtungslager nach heutiger Vorstellung hätte auslösen müssen. Bei uns, oder zumindest bei mir stellte sie sich nicht ein. Natürlich konnte man nicht umhin, sich ständig zu fragen (wie ich damals schrieb), »was mögen diese harmlos aussehnden Menschen zwischen 1933 und 1945 nicht alles getan haben?« Jeder aschkenasische Jude hatte in den Lagern Verwandte verloren: in meinem Fall Onkel Victor Friedmann, der zusammen mit Tante Elsa, einer zierlichen sephardischen Dame, von irgendwo in Frankreich in den Osten transportiert worden war; Onkel Richard Friedmann und Tante Julie, die ihren Laden mit Modeartikeln im schönen Marienbad nicht aufgeben wollten, und Tante Hedwig Lichtenstern. (Wie so oft bei deutschen und österreichischen, aber nicht bei osteuropäischen Juden starben die Alten, während die Jungen rechtzeitig das Land verließen.) Ihre Namen wurden in das einzige mir bekannte Mahnmal eingetragen, das in würdiger Weise an den Völkermord an den Juden erinnert, die weißgekalkten Wände der Altneuschul, der alten Synagoge in Prag. Diese Mauern, die einen leeren Innenraum einschließen, wurden mit den Namen aller tschechoslowakischen Juden, die unter Hitler umkamen, vollständig ausgefüllt, Zeile für Zeile in säuberlicher Schrift, Namen, Daten, Orte, in alphabetischer Reihenfolge vom Dach bis zum Fußboden. Nichts sonst als die unzähligen Namen der Toten. Dort las ich unter Tränen die Namen von Onkel Richard und Tante Julie, nicht lange vor dem Prager Frühling von 1968. Irgendwann in den siebziger Jahren traf das tschechoslowakische Regime die erstaunliche Entscheidung, das Mahnmal zu schänden, indem alles auf den Wänden Geschriebene übertüncht wurde. Der offizielle Vorwand soll gelautet haben: unter den vielen Opfern des Faschismus dürfe keine einzelne Gruppe durch ein besonderes Gedenken herausgehoben werden. Nach dem Ende des Kommunismus dauerte es noch eine Weile, bis die Inschriften wiederhergestellt wurden. Ich war bis dahin noch niemandem von den Überlebenden der Lager Buchenwald und Auschwitz begegnet. Einige von ihnen sollten Kollegen und Freunde von mir werden, scheinbar ungezeichnet durch ihre Erlebnisse und – wesentlich später – sogar bereit, über jene Zeit zu sprechen, als jeder neue Tag im Leben eines Überlebenden mit dem Leben eines anderen erkauft wurde. Sie waren jedoch sowenig ungezeichnet wie Primo Levi. Wenigstens einer von ihnen, der liebenswürdige, geistreiche Georges Haupt, der als rumänischer Schuljunge nach

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Auschwitz gekommen war, brach im Alter von fünfzig Jahren plötzlich zusammen und starb. Trotzdem bewahrten uns unsere Überzeugung und unser Realismus davor, den rassistischen Antisemitismus der Nazis in einen entsprechenden Antigermanismus zu verkehren. Selbst später machten wir (oder jedenfalls ich) nicht die Deutschen als solche verantwortlich, sondern den Nationalsozialismus, zumal die erste seriöse Schilderung und Analyse des univers concentrationnaire, die ich las, Eugen Kogons Der SS-Staat (Frankfurt/M. 1946), von einem Deutschen über das Lager Buchenwald geschrieben wurde, in dem viele Häftlinge ihrer menschlichen Würde beraubt, gefoltert und getötet wurden, ohne daß sich diese Untaten in erster Linie gegen die Juden gerichtet hätten. Außerdem sagte ein einziger Blick auf die westdeutschen Großstädte, riesige, bislang kaum geräumte Trümmerfelder, auf den anscheinend völligen Zusammenbruch der Wirtschaft in der Zeit vor der Währungsreform, auf die bleichen Menschen, die vom Tauschhandel lebten und auf Bahnsteigen unter Kartoffelsäcken kampierten, daß die gewöhnlichen Deutschen, was immer sie unter Hitler getan haben mochten, 1947 doch für die Untaten bezahlten, die von ihnen selbst oder in ihrem Namen begangen worden waren. Wie ich damals schrieb, war es nicht schwer »zu verstehen, was [diese Männer und Frauen] in den vergangenen acht Jahren durchgemacht haben . . . Überfälle, Vertreibungen, Hunger etc. Männer, Frauen und Kinder.« Jeder, der aus einem russischen Kriegsgefangenenlager zurückgekehrt war oder gar »die furchtbaren Schocks über das Verhalten der Russen in den ersten Wochen nach der Befreiung« erlitten hatte, konnte von schweren Zeiten erzählen. Nicht daß die Russen sich unbedingt an den Deutschen rächen wollten, auch wenn die meisten Soldaten der Roten Armee unstreitig Gründe dafür gehabt hätten und es zum Teil auch getan haben. (»Sie zeigten keinerlei Furcht, und ihre Vision der Zukunft war die Schändung und Plünderung Berlins.«5) Einer unserer Schüler, später einer der renommiertesten deutschen Historiker6, war aus der Gefangenschaft heimgekehrt und sagte mir: »Sie haben uns nicht schlechter behandelt als sich selbst. Nur waren sie physisch einfach viel widerstandsfähiger als wir. Sie konnten die Kälte besser aushalten. Die machte uns angst, als wir an der Front waren, und als Gefangene haben wir darunter gelitten. Sie luden uns im Winter auf einer zentralasiatischen Ebene ab und sagten: Baut euch ein Lager. Fangt an zu graben.« Man kann sich leicht vorstellen, daß die Atmosphäre in Deutschland von Hass und Furcht gegenüber Rußland erfüllt war, unter der Bevölkerung ebenso wie unter den Heerscharen von Flüchtlingen – beson-

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ders zahlreich in unserem Teil Niedersachsens –, die Rußland die Schuld an ihrer Massenflucht oder Massenvertreibung gaben. 1947 herrschte eine eigenartige, zuweilen schizophrene Gefühlsmischung: Abscheu, Überlegenheit, aber auch Achtung gegenüber dem Sieger. Augenfällig war der Gegensatz zwischen dem Bild des unkontrollierten sozialen Zerfalls in den Westzonen und das unbestimmte Gefühl, daß die Disziplin »drüben« (in der sowjetischen Zone) dafür sorgte, daß die Leute ihrer Arbeit nachgingen, den schwarzen Markt unter Kontrolle brachten und ähnliches mehr. Der Marshallplan und die Währungsreform 1948 sollten das alles ändern, doch im Sommer 1947 wurde die öffentliche Meinung in der Britischen Zone noch von einem Gefühl völliger Ohnmacht und Ungewißheit über die Zukunft beherrscht. In Hamburg konnte man hören, einen Wiederaufbau in Deutschland werde es erst nach einem Dritten Weltkrieg geben. Ich konnte dieses Gefühl der Hilflosigkeit an mir selbst beobachten. »Offen gesagt«, schrieb ich, »je länger ich hier bin, desto deprimierter werde ich. Hoffnung? Ich sehe keine.« Eine geradezu spektakuläre Fehleinschätzung der Aussichten Westdeutschlands, doch 1947 machte Deutschland keinen ermutigenden Eindruck. Was empfand aber ein westeuropäischer Kommunist mit einer solchen Perspektive gegenüber der Sowjetunion, deren Schatten die deutsche Szene unübersehbar verdüsterte? Im direkten oder indirekten Kontakt mit der sowjetischen Besatzungsmacht unmittelbar nach der deutschen Niederlage mußten alle Illusionen verfliegen, so wie die Hoffnungen auf ein internationales Einvernehmen nach dem Krieg, die sich nicht nur auf Kommunisten beschränkten, sich angesichts der Reibereien zwischen den westlichen und östlichen Vertretern der Besatzungsmächte nur schwer behaupten konnten. Die jungen österreichischen Flüchtlinge in England, die der Anweisung der Partei gefolgt waren, in ihr Land zurückzukehren und inmitten der Ausdünstungen hungriger Menschen in frostkalten Straßenbahnen und beschlagnahmten Büros in hochgeschossigen Altbauten beim Wiederaufbau zu helfen, waren auf körperliche Entbehrungen gefaßt, aber die wenigsten hatten mit der Allgegenwart der herrschenden russenfeindlichen Stimmung gerechnet. Für diejenigen, die im sowjetisch besetzten Mitteleuropa lebten oder mit seinen Realitäten direkt zu tun hatten, war es nicht mehr so einfach wie vor dem Krieg, Kommunist zu sein. Wir verloren zwar nicht unseren Glauben und unser Vertrauen in die langfristige Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus und nicht den Glauben an das weltverändernde Potential der Parteidisziplin, aber unsere Hoffnungen oder zumindest meine begrenzte Sicht jenes in

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Walter Benjamins »Engel der Geschichte« festgehaltenen Gefühls einer unabwendbaren Tragödie.7 Was es paradoxerweise leichter oder vielen überhaupt möglich machte, am alten Glauben festzuhalten, war mehr als alles andere der weltweite Kreuzzug des westlichen Antikommunismus im Kalten Krieg. II Doch zurück zur Zeit der Berliner Luftbrücke. Das Auseinanderbrechen der Allianz der Kriegszeit bedeutete auch ein Ende der ohnehin schwindenden Hoffnung auf eine Zusammenarbeit der beiden Supermächte nach dem Krieg. 1947 wurden die kommunistischen Minister der westlichen Länderregierungen nach und nach aus ihren Ämtern gedrängt, und dasselbe passierte mit den nichtkommunistischen Ministern in den kommunistisch regierten Ländern. Für rein europäische Zwecke wurde eine neue Kommunistische Internationale gegründet (das sogenannte Kommunistische Informationsbüro oder Kominform), deren Zweck es war, eine Zeitschrift herauszugeben, die selbst nach den strengen Maßstäben der Sowjetära den endgültigen Sieg in puncto Unlesbarkeit davongetragen hätte.8 Die osteuropäischen Regimes, die man bewußt nicht als kommunistische, sondern als »neue« oder »Volksdemokratien« mit einem Mehrparteiensystem und »mixed economies« ins Leben gerufen hatte, wurden jetzt der »Diktatur des Proletariats« angepaßt, das heißt den üblichen Diktaturen der Kommunistischen Partei. Und für den Westen wurden im Lauf der immer unverhüllteren Konfrontation die Kommunisten zur fünften Kolonne. In England begannen die Dinge sich zu ändern, allerdings in einer vergleichsweise zurückhaltenden, vornehmen Weise. Es gab keine offene Säuberungsaktion, bei der der öffentliche Dienst von KP-Mitgliedern gereinigt worden wäre, wenngleich Personen mit Zugang zu schutzwürdigen Informationen, deren Parteimitgliedschaft bekannt war, von ihren Stellen entfernt wurden. Leute aus der politisch sensiblen »Verwaltungs«-Klasse wurden taktvoll darauf hingewiesen, daß es für sie im öffentlichen Dienst keine Zukunft gebe – falls sie jedoch freiwillig ausschieden, werde die Angelegenheit diskret behandelt. Wer darauf bestand zu bleiben, wurde in jene abgelegenen Ecken versetzt, die große bürokratische Apparate für Mitarbeiter reserviert halten, die weder entlassen noch auf einen auch nur im mindesten verantwortlichen Posten versetzt werden können. An den Universitäten gab es keine eigentlichen Säuberungen. Das Birkbeck College, ein Institut für Abendunterricht, wo ich gerade

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meine Lehrveranstaltungen aufgenommen hatte, war – zumindest bis zur Ankunft eines ehrgeizigen neuen Rektors im Jahr 1951 – insofern etwas Besonderes, als es dort keine erkennbaren Zeichen von Antikommunismus unter den Mitarbeitern oder Studenten gab. Die Studenten gingen tagsüber zur Arbeit, und soweit hier eine politische Tradition bestand, gehörte sie der Linken an. Die Stimmung in dem kleinen, vollbesetzten und freundlichen Gemeinschaftsraum der Mitarbeiter ließ vermuten, daß die meisten der Anwesenden Labour-Wähler waren. Es mag den einen oder anderen Tory gegeben haben – vermutlich war mein Kollege und späterer Chef Douglas Dakin einer –, aber sie waren eher untypisch. Dakin war Sekretär der lokalen Vertretung der Gewerkschaft, der Association of University Teachers, und übte dieses Amt in den freien Stunden zwischen seiner Tätigkeit als Teilzeit-»Registrar« aus, der die Verantwortung für alle studentischen Angelegenheiten des Colleges trug (mit einer einzigen Sekretärin), und daneben noch Cricket spielte und Lehrveranstaltungen abhielt. Er gab den Gewerkschaftsjob an mich weiter, kaum daß ich angekommen war. Außerdem war das bei weitem angesehenste Mitglied des Lehrkörpers am College ein Kommunist, der in seiner Abteilung obendrein KP-Mitglieder eingestellt hatte, ein Mann, der sich stark mit der UdSSR identifizierte: J.D. Bernal, Kristallograph und ein solches Universalgenie (bis auf sein absolut fehlendes Verständnis für Musik), daß er sich nie lange genug mit einem Thema befassen konnte, um einen Nobelpreis zu gewinnen, hatte jedoch mehrere Preisträger inspiriert. Selbst diejenigen, die ihre Zweifel wegen seiner Loyalität gegenüber Moskau hatten, konnten nicht umhin, diesen kleinen Mann mit dem buschigen Haarschopf zu bewundern, der wie der sprichwörtliche Wissenschaftler aus einem Comic aussah, einen Gang wie ein Seemann hatte oder, wie er es ausdrückte, wie »The Pobble Who Has No Toes«*, und das Lehrerzimmer mit geschliffenen Anekdoten über seine außerordentlich glänzende Zeit als wissenschaftlicher Berater für das Invasionskommando während des Krieges unterhielt. Picasso persönlich, der von den Behörden daran gehindert wurde, an einer von den Sowjets geförderten Versammlung in Sheffield teilzunehmen, hatte an der Wand von Bernals Wohnung am Torrington Square ein Bild gemalt, das Jahre später zu einer Art Logo von Birkbeck werden sollte. Der große Künstler teilte nicht nur Bernals Kommunismus, sondern auch seine legendäre Polygamie; nur mit dem Unterschied, daß Bernal die Frauen, die sich zu ihm hingezogen fühlten, sexuell wie intellektuell wirklich als eben* Titel eines Nonsensgedichts von E. Lear (A.d.Ü.).

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bürtige Partnerinnen behandelte. Es war sein Ruf, die Geschlechter gleich zu behandeln, was die brillante Rosalind Franklin vom King’s College in London zum Birkbeck College zog, da sie mit ihrer Behandlung durch die anderen (männlichen) Wissenschaftler unzufrieden war – dieselben, die hinterher den Nobelpreis erhielten –, die wie sie an der Entschlüsselung der berühmten Doppelhelix arbeiteten. Während sie sich häufig und verständlicherweise gegen den Machismus ihrer männlichen Kollegen verwahrte, war sie zumindest in Gesprächen mit mir immer voll des Lobes für den Menschen und Wissenschaftler Bernal, auch wenn sie sich über die linientreuen Kommunisten in seiner Abteilung lustig machte. Ich hatte zwar das Glück, an einem College zu unterrichten, das einen eigenen, wie selbstverständlichen Schutz gegen die Pressionen des Kalten Kriegs von außen bot. Trotzdem war die akademische Lage nicht gut. Nach allem, was ich weiß, behielten alle Kommunisten, die vor dem Sommer 1948 auf eine akademische Stelle berufen wurden, ihren Posten, und es wurden keine Versuche zu ihrer Entlassung unternommen, es sei denn, daß zeitlich befristete Verträge von kurzer Dauer, die damals äußerst selten waren, nicht verlängert wurden. Andererseits wurden meines Wissens seit 1948 für zehn Jahre keine bekannten Kommunisten auf eine Universitätsstelle berufen, und kein Kommunist, der bereits auf einer Stelle saß, wurde in dieser Zeit befördert. Im Lauf dieses Jahrzehnts wurde ich beispielsweise für mehrere Posten für Wirtschaftsgeschichte in Cambridge abgelehnt – ich war Supervisor und Prüfer dieses Fachs im Tripos der Wirtschaftswissenschaften –, und ich erhielt erst 1959 eine Beförderung auf eine außerordentliche Stelle in London. Selbst Personen, die nur über wenige Monate hinweg mit der KP in Verbindung standen wie der Wirtschaftshistoriker Sidney Pollard, wurden an ihrem akademischen Fortkommen gehindert. Das war entmutigend, aber immer noch himmelweit von der Hexenjagd in den USA entfernt. (Soviel ich weiß, wurden in England akademische Stellen in keinem Fall davon abhängig gemacht, daß der Bewerber früheren Sünden formell abschwor, wie an der Universität Berkeley, als diese Pollard einige Jahre später einen Lehrstuhl anbot – eine Bedingung, die er nicht akzeptierte.) Merkwürdigerweise gab es eine Art politische Säuberung eher in Teilen der Erwachsenenbildung, ein Bereich, der eine beträchtliche Zahl von Roten und anderen weltanschaulichen Radikalen anzog, vor allem in der Extramural Delegacy der Universität Oxford, an dessen Spitze einige Jahre lang Thomas Hodgkin gestanden hatte, ein besonders einnehmender Angehöriger des britischen Geistesadels (Abteilung

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Quäker), der aus Palästina ausgewiesen wurde, weil er während seiner Zeit als Adjutant des britischen Hochkommissars in die KP eingetreten war; die Partei war der einzige Ort, wo Juden und Araber als Freunde und Gleichgestellte zusammenkamen. Leider hatte der große Ernest Bevin, Außenminister und noch immer Generalsekretär der Transportarbeitergewerkschaft, das Gremium beschuldigt, in ihm befänden sich rote Aktivisten, die Streiks in der damals bedeutenden Automobilfabrik von Morris in Cowley schürten – es waren die Tage, als Oxford als das »Quartier Latin von Cowley« bezeichnet werden konnte.9 Doch selbst hier gab es keine allgemeinen antikommunistischen Säuberungen. Wir akzeptierten, daß »diese stillschweigende und häufig halbbewußte Diskriminierung, ähnlich dem Ausschluß von Sozialdemokraten von deutschen akademischen Lehrstühlen vor 1914, wenngleich weniger systematisch als dieser«10, vergleichsweise mild war, und begnügten uns damit, den amerikanischen akademischen McCarthyismus zu brandmarken – es war die Zeit, als die Regierung der Vereinigten Staaten selbst dem großen Physiker P. A. M. Dirac ein Einreisevisum verweigerte – sowie vor den sich daraus ergebenden Gefahren zu warnen, falls das amerikanische Modell nach England ausgreifen sollte. Dennoch äußerte 1950 der Historiker Edward H. Carr die zutreffende Meinung, daß »es sehr schwer geworden sei . . . über Rußland in einem sachlichen Ton zu reden, es sei denn in ›einer sehr verquasten christlichen Art und Weise‹, ohne zwar nicht das tägliche Brot, wohl aber das eigene berufliche Fortkommen zu gefährden«. Jedenfalls steht außer Frage, daß das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung zumindest in den Massenmedien für Personen mit kommunistischen und marxistischen Auffassungen nicht galt.11 Was den kommunistischen Intellektuellen das Gefühl gab, einer bedrängten Minderheit anzugehören, war weniger die offizielle oder halboffizielle Schikanierung als der Ausschluß aus der intellektuellen Gemeinschaft. Natürlich waren wir davon überzeugt und hatten manchmal auch Beweise dafür, daß unsere Briefe gelesen und unsere Telefone abgehört wurden und daß wir im Fall eines wirklichen Krieges interniert würden, hoffentlich mit viel Zeit zum Lesen und Arbeiten, auf einer passenden kleinen Insel des britischen Inselreichs. Wir empfanden dies als ein Ärgernis, auch wenn wir nicht bestreiten konnten, daß das Verhalten unserer Regierung angesichts des Kalten Kriegs nur konsequent war. Wir waren schließlich die Feinde der NATO. Was die Rhetorik der liberalen Kalten Krieger so unerträglich machte, war ihre Überzeugung, daß alle Kommunisten nichts anderes seien als Agenten des

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sowjetischen Feindes, weshalb kein Kommunist ein angesehenes Mitglied der intellektuellen Gemeinde sein könne. Vielleicht konnte Freundschaft die politischen Gegensätze überbrücken – ich blieb beispielsweise mit Mounia Postan auf gutem Fuß, obwohl ich wußte, daß jedes seiner Empfehlungsschreiben ein vergifteter Pfeil war –, aber sie kostet mehr Anstrengung als der gewöhnliche Umgang miteinander. Und selbst wahre Freundschaft konnte durch das im Kalten Krieg herrschende Mißtrauen vergällt werden. Als ich meine erste Einladung in die Vereinigten Staaten erhielt und mit Problemen rechnete, fragte ich einen Kollegen und Freund (damals ein gemäßigter Anhänger der Labour Party), ob er bereit sei, in einem Brief etwas über meine wissenschaftlichen Leistungen zu schreiben. »Aber selbstverständlich«, sagte er. Ich erinnere mich bis heute an das plötzliche Gefühl der Verlassenheit, als er hinzufügte: »Natürlich hat es nichts damit zu tun, aber sag mal – ich meine, eigentlich kann es mir ja gleich sein, aber bist du noch in der KP?« Das ist der Grund, warum die für mich am meisten kränkende Erinnerung an den Kalten Krieg nicht die an verlorene Stellungen oder offensichtlich geöffnete Briefe ist, sondern die an mein erstes Buch. Ich hatte es 1953 dem Verlagshaus Hutchinsons, das inzwischen längst in irgendeinem transatlantischen Verlagskonzern aufgegangen ist, für seine University Library angeboten, eine Reihe kompakter Texte für Studenten: Es war ein kurzer komparativer Band über den »Aufstieg des Lohnarbeiters«, The Rise of the Wage Worker. Der Vorschlag wurde angenommen, doch als ich das fertige Manuskript ablieferte, wurde es auf den Rat eines ungenannten, aber vermutlich einflußreichen Lektors oder mehrerer Lektoren abgelehnt. Das Buch, so das Votum, sei zu einseitig und erfülle deshalb nicht die Vertragsbedingungen. Änderungsvorschläge wurden nicht gemacht. Ich protestierte. Der Verlag erkannte an, daß ich eine Menge Arbeit in das Buch gesteckt hatte, und bot mir aus Kulanzgründen ein Ausfallhonorar von 25 Guineen an.12 Was mir übel aufstieß, war nicht nur der schäbige Betrag – selbst in den fünfziger Jahren entsprach er dem Honorar für zwei bis drei Buchrezensionen –, sondern die Erkenntnis, daß das Buch höchstwahrscheinlich auf den Rat eines älteren Kollegen abgelehnt worden war – bei dem gewählten Thema ziemlich sicher ein Anhänger der Labour Party. Und ich konnte überhaupt nichts dagegen unternehmen. Ich war so wütend, daß ich meinen Anwalt um Rat fragte, den gewieften Jack Gaster, ob ich gegen Hutchinsons klagen sollte. Er riet mir dringend ab. »Sie werden Leute finden, die Ihren akademischen Rang bestätigen, aber die Gegenseite wird noch mehr Zeugen aufbieten, die aussagen, daß Sie

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voreingemommen sind.« Er hatte recht. Ich habe dieses Buch nie veröffentlicht, lediglich Teile davon in anderen Publikationen verwendet. Was den Zwischenfall so typisch für diese erbärmliche Phase des Kalten Kriegs machte, war der Umstand, daß einige Jahre später mein damaliger Verleger George Weidenfeld, der dazu meinen Rat erbeten hatte, ein ähnlich umfangreiches und für meine Begriffe ideologisch offenkundig polemischeres Buch zu genau demselben Thema im Rahmen einer dieser weltweiten Koproduktionsreihen veröffentlichte, an denen er sich damals aktiv beteiligte. Unter diesen Umständen und obwohl sich bis 1958 das ideologische Klima des Kalten Kriegs geringfügig erwärmt hatte, war die Entscheidung von George (später Lord) Weidenfeld, mich zu beauftragen, für einen Vorschuß von 500 Pfund einen Band in einer von ihm geplanten großangelegten und noch immer nicht abgeschlossenen Geschichte der Zivilisation zu schreiben, bewundernswert und mutig: The Age of Revolution 1789-1848 (deutsch: Europäische Revolutionen von 1789 bis 1848, Zürich 1962) war der erste Band einer vierbändigen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Ich war durchaus bekannt für meine Identifizierung mit der Kommunistischen Partei. Er war ein kommerzieller Verleger und an guten Beziehungen zum gesellschaftlichen und politischen Establishment nicht ganz uninteressiert. Ich stehe bei ihm in einer dauerhaften Dankesschuld. Wer hat mich ihm damals empfohlen? Ich vermute, es war J. L. Talmon von der Hebräischen Universität Jerusalem, der für den betreffenden Band seine erste Wahl gewesen war, aber aus dem Projekt aussteigen wollte. Talmon und ich hatten einmal eine Diskussion über das Wesen der Demokratie und der Jakobiner in der Französischen Revolution geführt und respektierten einander, obwohl wir in den meisten übrigen Dingen unterschiedlicher Meinung waren, vor allem über den Zionismus. III Die düsterste Periode des öffentlichen Antikommunismus, die Jahre des Koreakriegs und nebenbei des Beginns des großen Fortsetzungsromans der »Cambridge-Spione« – die Flucht von Burgess und Maclean 1951 in die UdSSR – fiel zufällig mit einer düsteren Zeit in meinem eigenen Leben zusammen. Im Sommer 1950 zerbrach meine erste Ehe, die schon seit einiger Zeit Risse bekommen hatte, unter Umständen, die mich verletzt und für einige Jahre zutiefst unglücklich zurückließen. Nachdem ich aus unserer Wohnung in Clapham Common ausgezogen

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war, sah ich Muriel nur noch ein einziges Mal wieder, bei der Scheidung. Glücklicherweise hatte ich im Jahr zuvor am King’s College ein Fellowship bekommen, und das College – damals war so etwas noch möglich – besorgte mir innerhalb kürzester Zeit eine Zimmerflucht im wunderbaren Gibbs Building neben der Kapelle. Das King’s war für die nächsten fünf Jahre mein dauerhafter Stützpunkt, obwohl ich auch weiterhin meine Lehrveranstaltungen am Birkbeck College abhielt und entweder mit einem Spätzug nach Cambridge zurückfuhr oder ein bis zwei Nächte in einem Zimmer übernachtete, das ich im Haus von Freunden in einem anderen Teil Claphams gemietet hatte. Es waren düstere Zeiten, politisch und privat. Was war schmerzhafter: meine Scheidung oder die Hinrichtung der Rosenbergs, die von so vielen Kommunisten damals als persönliche Niederlage und persönliche Tragödie empfunden wurde? Es ist schwierig, die beiden Stränge voneinander zu trennen, die sich zu einer allgemeinen Stimmung der Entschlossenheit verflochten, sie zu überleben: durch Arbeit, durch Reisen, selbst durch politische Unbotmäßigkeit, als ich beispielsweise den Physiker Alan Nunn May, der gerade wegen Atomspionage aus den Gefängnis entlassen worden war, auf ein Fest des King’s einlud. Es sei angemerkt, daß das King’s sich wie so oft auch bei dieser Gelegenheit tadellos verhalten hat. Dasselbe gilt für Cambridge: Als ein ehemaliger Bürgermeister und der Besitzer der Lokalzeitung die Entlassung der Schulamtsärztin forderte, der aus Österreich geflohenen Hilde Broda, was er damit begründete, sie habe Alan Nunn May geheiratet, nachdem sie diese Stelle antrat, wurde seine Forderung ohne Abstimmung zurückgewiesen. England war nicht die USA. Bei dem Gedanken an meine Nachkriegsjahre in Cambridge überkommen mich zwiespältige Gefühle. Einerseits sagte mir das Dorfleben nicht zu – auch nicht in einem Dorf aus lauter Dons –, wo soziale Beziehungen nicht nur begrenzt, sondern auch zu einem gewissen Grad Pflicht waren. Meine Neigungen waren und sind metropolitisch, und in Cambridge gab es weder Anonymität noch eine Privatsphäre, mit Ausnahme des eigenen Zimmers hinter der geschlossenen Doppeltür, der sogenannten »sported oak«. (Damals blieben sämtliche Türen zu den Wohnräumen der Studenten und der Dons unverschlossen, es sei denn, der Bewohner war entweder nicht in Cambridge oder wollte zu erkennen geben, daß er nicht gestört werden wollte.) Darüber hinaus erinnerte mich jeder Tag, den ich dort verbrachte, an die Tatsache, daß die Universität mich nicht wollte. Die Stellen, auf die ich mich damals und später bewarb, gingen an andere. Eigentlich bewarb ich mich nur aus Stolz. Weder ich noch meine zweite Frau Marlene hätten das

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Bedürfnis gehabt, dauerhaft in Cambridge oder in einer anderen, von einer Universität dominierten Kleinstadt zu wohnen. Die einzigen längeren Gastprofessuren, an denen wir wirklich Vergnügen fanden, führten in Hauptstädte: Paris und ganz besonders Manhattan. Kurzum, als ich nach sechs Jahren meines Fellowships zurück nach London zog, hatte ich das Gefühl, wieder auf meinem eigentlichen Terrain zu sein. Da ich andererseits als Alleinstehender im College wohnte, ließ Cambridge mich noch einmal die Freuden des unbeschwerten Studentendaseins kosten. Natürlich war es nicht das Leben der dreißiger Jahre: Zum einen hatten diejenigen meiner Altersgenossen, die Dons geworden waren, ihre Ansichten geändert, und die allgemeine Entpolitisierung der Studenten war ausgesprochen frustrierend. Politische Studenten von der Art, wie ich sie noch im Gedächtnis hatte und in deren Gesellschaft ich mich wohl fühlte, fand man jetzt nur noch unter Südasiaten und Chinesen – die in der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, für die ich als Supervisor und Prüfer fungierte, zugegebenermaßen nicht selten waren: Studenten wie der junge Amartya Sen, der als Graduierter vom Presidency College in Kalkutta zum Trinity College gekommen war, um zu Füßen von Maurice Dobb und Piero Sraffa zu sitzen, und frühzeitig seine Brillanz erkennen ließ. Natürlich sah man das Studentenleben als Fellow mit anderen Augen an und wurde von den Studenten anders behandelt, auch im ungezwungenen King’s. (Die Vorkriegsatmosphäre einer kultivierten Homosexualität war im College immer noch deutlich zu spüren, auch wenn ab 1952 die Wendung zur Heterosexualität offensichtlich war: Damals betraten unverkennbar an Frauen interessierte Neuankömmlinge wie der spätere Journalist und Schriftsteller Neal Ascherson die modische Szene des King’s, und junge Männer wie der spätere Mediendesigner Mark Boxer, die zunächst dem traditionellen Brauch gehuldigt hatten, wechselten ins Lager der Heteros.) Ich hatte allerdings ein Pfund, mit dem ich wuchern konnte und das mich dem Leben und der Stimmung der männlichen Studenten der fünfziger Jahre näherbrachte, als es sonst der Fall gewesen wäre, allerdings nicht – zu jener Zeit – den jungen Frauen (auch wenn die Supervision der Studentinnen, die im Newnham College Geschichte und Wirtschaft studierten, diesem Mangel ein wenig abhalf): Ich war ein »Apostel« und stand deshalb mit einigen von ihnen auf engem Fuß. Ich sollte darum an dieser Stelle etwas über diese eigenartige Institution von Cambridge sagen, die noch immer existiert und gedeiht und noch immer die Namen ihrer aktiven Mitglieder geheimhält, obwohl der größte Teil ihrer Geschichte bis zum Jahr 1939 inzwischen öffent-

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lich zugänglich ist und nur wenige ihrer früheren Mitglieder aus ihrem Aposteltum ein Geheimnis machen. Es ist bis heute eine kleine Gemeinschaft, hauptsächlich von hervorragenden Studenten oder jungen Postgraduierten, die Neulinge aufnimmt, um ihren Bestand zu erhalten, und deren Zweck es ist, auf wöchentlichen Zusammenkünften Referate zu lesen und zu diskutieren, die ihre Mitglieder geschrieben haben. Den Kern der »Apostel« stellten Studenten. Sie sind überhaupt per definitionem »die Gesellschaft«, da diejenigen, welche »die wirkliche Welt« ihrer Zusammenkünfte verlassen haben und in »die Erscheinungswelt« eingetreten sind, indem sie Examen gemacht oder Cambridge verlassen haben (»davongeflogen« sind und deshalb als »Engel« bezeichnet werden), zwangsläufig für die aktiven Brüder ihren Platz räumen mußten. Ich wurde 1939 in meinem letzten Trimester als Student in die Cambridge Conversazione Society aufgenommen, gemeinsam mit einem weiteren Kingsman, dem späteren Walter Wallich von der BBC. Er war der Sohn des Direktors der Deutschen Bank und Nachfahre ihres Gründers, der nach dem Novemberpogrom 1938, nachdem er seine Frau und seine Kinder rechtzeitig ins Ausland geschickt hatte, mit dem Zug von Berlin nach Köln fuhr, um dort von der Brücke in den Rhein zu springen. Es war eine Einladung, die man als Student in Cambridge kaum ausschlagen konnte, da selbst Revolutionäre Wert auf eine passende Tradition legen. Wer wollte nicht mit den Namen früherer »Apostel« in Verbindung gebracht werden, die mehr oder weniger die großen Namen Cambridges im 19. Jahrhundert waren: der Dichter Tennyson, der exzellente Physiker Clerk Maxwell, der Größte unter den Cambridge-Historikern, Frederick Maitland, Bertrand Russell und der Stolz des edwardianischen Cambridge – Keynes, Wittgenstein und Moore, Whitehead und, in der Literatur, E.M. Forster und Rupert Brooke. Nur der größte Name Cambridges im 19. Jahrhundert fehlte, Charles Darwin vom Christ’s College. Tatsächlich gehörte der Löwenanteil der viktorianischen und edwardianischen »Apostel«, die von einem amerikanischen Professor erschöpfend und klug analysiert worden sind13, keineswegs zu dieser Garnitur, und da die Größe intellektueller (oder sonstiger) Leistungen häufig mit dem Risiko verbunden ist, Freunde zu langweilen, deren Interessen nicht zwangsläufig mit den eigenen zusammenfallen – und kein »Apostel« hätte den Wunsch gehabt, die anderen Brüder zu langweilen –, litten viele von ihnen in ihrem späteren Leben unter ihrer Unfähigkeit, das Niveau der Vorbilder ihrer großen Tradition zu erreichen. Es sollte hier festgestellt werden, daß mein Kommunismus mit mei-

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ner Zuwahl nichts zu tun hatte, auch wenn von den sechs »Aposteln« auf dem berühmten Foto, das in jedem Buch über die CambridgeSpione abgedruckt ist, vier Kommunisten sind. Es ist kein Wunder, daß die Partei in den Jahren des Spanischen Bürgerkriegs in der Gesellschaft stark vertreten war. Jedoch weder John Cornford und James Klugmann noch einer der Führer der Partei zu meiner Zeit waren »Apostel«, noch, mit einer Ausnahme, einer der marxistischen Akademiker der dreißiger Jahre. Das Kriterium für eine Aufnahme in die Gesellschaft war und ist vermutlich auch heute noch weder das Studienfach noch eine Überzeugung und auch kein hoher intellektueller Rang, sondern »apostolisch zu sein«, was immer das heißen mochte – und es wurde vermutlich bis heute unter den Brüdern endlos darüber diskutiert. Schließlich wurden weder die Cambridge-Spione primär durch die »Apostel« angeworben (es sei denn durch Anthony Blunt): Von den Cambridge-Fünf hatten drei – Philby, Maclean und Cairncross – überhaupt nichts mit der Gesellschaft zu tun. Der Krieg hatte die »wirkliche Welt« in Cambridge suspendiert, auch wenn einige ältere »Engel« zumindest mit Unterbrechungen als Dons noch dort wohnten. Wenn ich mich nicht täusche, kehrten nur zwei vor dem Krieg aktive Brüder als Forschungsstipendiaten nach Cambridge zurück, ich selbst und der verstorbene Matthew Hodgart, ein schwarzhaariger, mondgesichtiger, trinkfester Schotte, der schrieb und vielleicht der brillanteste meiner Freunde unter den Studenten, aber zu dieser Zeit kein Kommunist mehr war. Wir oder genauer gesagt ich, da er nicht anwesend war, wurden von den versammelten »Engeln« beim ersten Jahresessen der Gesellschaft nach dem Krieg 1946 (im Kettners in Soho) beauftragt, diese Welt zu neuem Leben zu erwecken. Das taten wir, indem wir unter den Freunden aus der Vorkriegszeit, die nach Cambridge zurückgekehrt waren, und den Studenten, die mir vom King’s zur Supervision geschickt wurden, Nachwuchs anwarben. Als ich Fellow wurde, warb ich einen Freund vom College, den kanadischen Ökonomen Harry Johnson. Da ich auch Studenten der Wirtschaftswissenschaft in Wirtschaftsgeschichte betreute, konnten die »Apostel« die Tradition von Maynard Keynes fortsetzen. In den fünfziger Jahren füllten sich die Reihen der Gesellschaft jedoch zunehmend mit Studenten aus den Geisteswissenschaften, genauer gesagt mit Geschichts- und Anglistikstudenten – bereichert durch die stupend vielseitige Brillanz von Jonathan Miller, später Komiker, Physiologe und Opernregisseur, der Naturwissenschaften studierte. Vor dem Krieg von 1939 wären viele von ihnen in den Staatsdienst gegangen, doch jetzt zog es die Nichtökonomen unter ihnen in zwei expandierende Berufsfelder: »die Me-

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dien« und die Hochschulen, manchmal nacheinander. Erst ab den sechziger Jahren wurden auch Frauen in die Gesellschaft aufgenommen. Nach dem Krieg zog der berühmteste noch lebende »Apostel«, der Romanautor E.M. Forster, ins King’s College und stellte in seiner unerschütterlichen Loyalität gegenüber der Gesellschaft seine Räumlichkeiten für deren Samstagabendversammlungen zur Verfügung, saß still in der Ecke – er sagte vermutlich schon in seiner Jugend nicht viel – und hörte den jungen Brüdern zu, die (im Jargon der Gesellschaft) buchstäblich »auf dem Kaminvorleger« sprachen, da offene Kamine, die mit Kohlen aus dem Eimer beschickt wurden, in Cambridge noch immer die hauptsächliche Verteidigungslinie gegen das rauhe ostenglische Klima darstellten. Forster, ohnedies noch nie ein reiner Schreibtischmensch, hatte zu jener Zeit das Schreiben praktisch ganz aufgegeben, setzte jedoch seinen Ehrgeiz darein, in den wenigen Texten, die er noch verfaßte, jedes Klischee und jede Platitüde zu vermeiden. Er hatte keine Angehörigen außer der Familie seines alten Geliebten, eines verheirateten Polizisten. Ich glaube nicht, daß er sich in der Welt der Nachkriegszeit so wohl gefühlt hat, wie er es gern gehabt hätte, aber er fand Trost im unveränderten Wesen der Jugend, die ihn umgab. In den frühen sechziger Jahren habe ich einmal versucht, ihn mit dem späteren 20. Jahrhundert bekannt zu machen, indem ich ihn zu einem Auftritt des amerikanischen Dauerredners – als »Komiker« konnte man ihn kaum noch bezeichnen – Lenny Bruce mitnahm, der – bereits auf dem Weg in die Selbstzerstörung – vorübergehend im Establishment, einem kurzlebigen Club in Soho auftrat. Forster war wie immer höflich und unendlich taktvoll, aber das war nicht seine Wellenlänge. Ein scharfsinniger Beobachter des ersten Jahrhunderts der Gesellschaft hat festgestellt, daß »die Apostel sich vor allem anderen zwei Dingen widmeten und dies mit einer reinen Hingabe, die dem lieblosen Auge absurd erscheinen könnte, dem liebevollen dagegen absolut bewundernswürdig. Es waren dies Freundschaft und intellektuelle Redlichkeit.«14 Beides war für die »Apostel« meiner Zeit noch immer sehr wesentlich, auch wenn die Dons, die an diesen Sitzungen teilnahmen, aufgrund ihres höheren Alters die »intellektuelle Redlichkeit«, die sie in ihre persönlichen Beziehungen einbrachten, wahrscheinlich mit einer Prise Diplomatie würzten. Dennoch überwand beides die Schranken des Alters und des Temperaments, und ich und meine Familie verdanken den jungen »Aposteln« der frühen fünfziger Jahre (und den jungen Männern und Frauen, die ich in ihrer Gesellschaft und durch sie kennengelernt habe) einige dauerhafte Freundschaften.

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IV Ich kann nicht behaupten, die erste Hälfte der fünfziger Jahre sei für mich in meinem privaten Leben eine glückliche Zeit gewesen. Ich füllte sie aus mit Arbeit, mit Schreiben, Denken und Unterrichten, mit zahlreichen Reisen während der Trimesterferien und, pflichtbewußt, mit Parteiarbeit. Zum Glück konnte ich – da aus London fortgezogen – nicht mehr zur Arbeit in London herangezogen werden, wie Organisation, Wahlvorbereitung, Verkauf des Daily Worker (nach 1956 in Morning Star umbenannt), wozu ich weder eine natürliche Neigung noch das passende Naturell hatte. Von da an betätigte ich mich praktisch ausschließlich in akademischen oder intellektuellen Gruppen. In intellektueller Hinsicht waren es dagegen gute Jahre. Das Denken der meisten Menschen ist nie schärfer und kühner als in ihren Zwanzigern, aber ich kam aus der Armee mit der leidenschaftlichen Entschlossenheit zurück, die verlorenen Kriegsjahre nachzuholen, und war dazu noch jung genug. Für die Selbstbildung von Hochschullehrern gibt es kaum etwas Besseres als die Notwendigkeit, Vorlesungen vorzubereiten, und da wir in der Abteilung für Geschichte am Birkbeck College zu viert oder fünft für den ganzen Bereich der Geschichte vom Altertum bis in die Neuzeit zuständig waren, mußte ich als Dozent viele Gebiete behandeln, nicht zu reden von den zusätzlichen Anforderungen, denen ich als Supervisor in Cambridge ausgesetzt war. Wissenschaftliche Laufbahnen konnte man blockieren, den Lauf der Geschichtswissenschaft dagegen nicht. Was in jenen Jahren in der weiteren Welt der Historiker geschah, ist ein Kapitel für sich. Vorläufig mag der Hinweis genügen, daß ich seit 1949 begann, in Fachzeitschriften zu veröffentlichen, mich an internationalen Kongressen zu beteiligen und in der Economic History Society (in deren Rat ich 1952 gewählt wurde) eine aktive Rolle zu spielen. Vor allem hielten wir – eine Gruppe von Genossen und Freunden – von 1946 bis 1956 innerhalb der Historikergruppe der Kommunistischen Partei für uns selbst ein festes marxistisches Seminar ab, mit unzähligen vervielfältigten Diskussionspapieren und regelmäßigen Zusammenkünften, die zumeist im Oberzimmer des Restaurants Garibaldi in Saffron Hill und gelegentlich in den damals noch schäbigen Räumlichkeiten des Marx House am Clerkenwell Green stattfanden. Wer nur das geschäftige, sanierte Clerkenwell von heute kennt, macht sich keine Vorstellung von der leeren, kalten, grauen Muffigkeit dieser Straßen an Wochenenden vor fünfzig Jahren, als der Dickenssche Nebel, der nach 1953 verschwand, sich immer wieder wie eine riesige gelbgraue Augenbinde auf London herab-

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senkte. Vielleicht war es dort, wo wir wirklich zu Historikern wurden. Andere haben von »der erstaunlichen Wirkung [dieser] marxistischen Historikergeneration« gesprochen, ohne die »der weltweit wirkende Einfluß der englischen Geschichtswissenschaft vor allem seit den 1960er Jahren nicht denkbar« sei.15 Unter anderem entstand daraus eine erfolgreiche und mit der Zeit einflußreiche, 1952 gegründete historische Zeitschrift, doch Past & Present wurde nicht in Clerkenwell geboren, sondern in der wohltuenderen Umgebung eines Colleges, der Gower Street. Die Historikergruppe fiel im kommunistischen Krisenjahr 1956 auseinander. Bis dahin waren wir und vor allem ich loyale und disziplinierte KP-Mitglieder geblieben, wozu zweifellos die ausufernde Rhetorik des antikommunistischen Kreuzzugs der »freien Welt« beigetragen hatte. Aber das war alles andere als leicht gewesen. Die Sowjetunion machte es uns von Tag zu Tag schwerer, weiß Gott. Intellektuelle standen natürlich unter besonderem Druck, da seit 1947 die Überzeugungen, denen sie sich verschrieben hatten, auf einen Katechismus von unumstößlichen Wahrheiten reduziert worden waren, von denen einige mit dem Marxismus kaum noch etwas zu tun hatten und andere – vor allem in den Naturwissenschaften – schlicht absurd waren. Nach dem offiziellen Triumph des »Lysenkoismus« in der UdSSR stellte dies die Graduierten in Cambridge, deren ältere Mitglieder zu einem Großteil Naturwissenschaftler waren, vor ein großes Problem. Sollten sie sich wie der große Genetiker J. B. S. Haldane in aller Stille aus der Partei zurückziehen, da sie nicht mit der Unwahrheit leben konnten? Sollten sie wie J. D. Bernal ihr öffentliches Ansehen ruinieren, indem sie mehr oder weniger erfolglos versuchten, die Sowjets zu verteidigen? Sollten sie einfach die Augen verschließen, den Mund halten und ihre Arbeit weitermachen wie bisher? Die Eigentümlichkeiten der stalinistischen Wissenschaft hatten in anderen Bereichen weniger fatale Auswirkungen. Für kommunistische Psychologen beispielsweise war das Beharren Moskaus auf Pawlow (»bedingte Reflexe«) weniger einschränkend, was zu einem Teil an der experimentellen, positivistischen, behaviouristischen und stark antipsychoanalytischen Ausrichtung der psychologischen Lehrstühle in England lag. Doch das waren die speziellen Probleme von Intellektuellen, und aus einer Reihe von Gründen waren kommunistische Historiker in England – die sich von russischer und kommunistischer Parteigeschichte fernhielten – davon nicht ernsthaft betroffen. Natürlich glaubte keiner von uns die Version der sowjetischen Parteigeschichte, die in dem pädagogisch hervorragenden Text von Stalins Geschichte der KPdSU (b):

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Kurzer Lehrgang enthalten ist. Aber es gab allgemeinere Probleme, selbst wenn man von den Schrecken der sowjetischen Lager absieht, deren ganzes Ausmaß damals von den Kommunisten nicht erkannt wurde. Was sollten englische und erst recht Cambridgekommunisten, die während des Krieges enge Beziehungen zu den jugoslawischen Partisanen unterhalten hatten, von dem 1948 erfolgten Bruch zwischen Stalin und Tito halten? Wir standen dem jugoslawischen Kommunismus nahe. Junge Engländer zog es in Scharen in das Land, um dort die sogenannte »Jugendbahn« zu bauen, darunter insbesondere Edward Thompson, den späteren Historiker, dessen Bruder Frank während des Krieges mit den mazedonischen und danach mit den bulgarischen Partisanen kämpfte und schließlich den Tod fand. Wie sollte man der offiziellen sowjetischen Linie Glauben schenken können, Tito müsse exkommuniziert werden, weil er seit langem daran gearbeitet habe, die Interessen des proletarischen Internationalismus im Interesse ausländischer Geheimdienste zu verraten? Wir konnten verstehen, daß James Klugmann gezwungen war, sich von Tito zu distanzieren, aber wir glaubten ihm nicht, und da er – und auch das gerade neugegründete Kominform, das seinen Sitz ursprünglich in Belgrad hatte – bis vor kurzem noch das Gegenteil gesagt hatte, wußten wir, daß er es selbst nicht glaubte. Kurzum, wir standen auch weiterhin loyal zu Moskau, weil die Sache des Weltkommunismus auch ohne die Unterstützung eines kleinen, wenn auch heldenhaften und bewunderten Landes auskommen würde, aber nicht ohne die von Stalins Supermacht. Im Unterschied zu dem, was in den dreißiger Jahren passierte, kann ich mich an keine ernsthaften Versuche erinnern, Parteimitglieder zu zwingen, jene Serie von Schauprozessen zu legitimieren, die auf die letzten Jahre Stalins einen Schatten warfen, doch das mag nicht mehr bedeuten, als daß Intellektuelle wie ich selbst den Versuch aufgegeben hatten, sich überzeugen zu lassen. Die wenigsten von uns wußten etwas über Bulgarien, so daß der erste dieser Prozesse, gegen Traicho Kostov (der 1949 hingerichtet wurde), mich zwar unzufrieden, aber nicht übermäßig skeptisch machte. Der Prozeß gegen Laszlo Rajk in Ungarn im Herbst 1949 war eine andere Sache. Unter den »Agenten des britischen Secret Service«, die angeblich den Kommunismus unterwandert hatten, nannte das Urteil den (zweifellos durch passende Geständnisse bestätigten) Namen eines Mannes, den ich persönlich kannte: den des Journalisten Basil Davidson. Das glaubte ich einfach nicht. Ein großer, kräftiger Mann mit einem scharfen Verstand, bereits angegrautem drahtigem Haar, einem Blick für Frauen und einer sehr

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attraktiven Gattin, hatte Basil einen, wie man sagte, »guten«, aber unorthodoxen Krieg hinter sich. Er hatte mit den jugoslawischen Partisanen in der flachen, fruchtbaren Wojwodina an der Grenze zu Ungarn – ein gefährliches Guerrillagebiet – und danach mit den italienischen Partisanen in den ligurischen Bergen gekämpft und über beides ein gutes Buch, Partisan Picture, geschrieben. (Das verhalf ihm zur nötigen Ausbildung für seine späteren Fußmärsche mit afrikanischen Freiheitskämpfern im Hinterland von Portugiesisch-Guinea und Angola.) Wir wurden Freunde und sind es bis heute geblieben. Die ungarische Anklage war nicht von vornherein unglaubwürdig. Tatsächlich war Davidson, obwohl ich das damals nicht wußte, in seiner Zeit wie andere britische Journalisten auf dem Kontinent vom britischen Geheimdienst angeworben und nach Ungarn geschickt worden. Es hätte mich nicht überrascht, wenn er Rajk damals kennengelernt hätte. Was mich skeptisch stimmte, abgesehen von meinem persönlichen Urteil über diesen Mann, war der Umstand, daß seine journalistische Karriere mit dem Kalten Krieg einen scharfen Knick bekommen hatte. Nachdem er die (Londoner) Times verlassen hatte, wurde er als Mitläufer aus dem New Statesman and Nation, damals als das Organ der seriösen Linken auf dem Gipfel, praktisch hinausgedrängt. Niemand wollte ihn haben. Er war dabei, sich als Freiberufler eine neue Karriere als hochgeachteter Pionier der Geschichtsschreibung Afrikas und als Experte für die antiimperialistischen Befreiungsbewegungen südlich der Sahara aufzubauen. Die Beschuldigung war einfach unsinnig. Die letzte und größte Serie osteuropäischer Schauprozesse, in der Tschechoslowakei, wirkte sogar noch weniger überzeugend, ganz abgesehen von der deutlich antisemitischen Färbung, die sie mit der berüchtigten »Ärzteverschwörung« 1952 gegen Stalin in der UdSSR selbst teilte. Meine Studentengeneration kannte viele der jungen tschechischen Emigranten in England. Mindestens einen der hingerichteten »Verräter« kannten wir gut: Otto Sling, verheiratet mit der stets verläßlichen Marion Wilbraham aus der Youth Peace Movement der Vorkriegszeit, war in sein Land zurückgekehrt, um Parteichef von Brünn (Brno) zu werden, der zweitgrößten Stadt der Tschechoslowakei. Zu dieser Zeit schien selbst der – erwarteten – offiziellen Rechtfertigung der tschechischen Prozesse durch die Partei die rechte Überzeugungskraft zu fehlen. Natürlich blieben Leute wie ich nicht deshalb in der Kommunistischen Partei, weil wir uns über die UdSSR viele Illusionen gemacht hätten, auch wenn wir durchaus welche hatten. So unterschätzten wir beispielsweise fraglos die Schrecken der Stalinzeit, bis sie 1956 von

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Chruschtschow angeprangert wurden. Da über die sowjetischen Lager etliche Informationen vorlagen, die nicht ohne weiteres ignoriert werden konnten, half uns auch die Ausrede nicht weiter, daß selbst westliche Kritiker bis 1956 nicht das ganze Ausmaß des Systems dokumentiert hätten.16 Außerdem traten nach 1956 viele von uns aus der Partei aus. Warum sind wir dann trotzdem geblieben? Vielleicht läßt sich etwas von der Stimmung auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges – vor allem der Zeit zwischen Hiroshima und Panmunjom – durch eine Episode aus dem Leben Bertrand Russells vermitteln, an die sich der große Philosoph in seinen späteren Jahren als aktiver Atomgegner nicht gern erinnert hat. Kurz nach dem Abwurf der beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki gelangte Russell zu dem Schluß, daß das amerikanische Monopol auf Kernwaffen nicht von langer Dauer sein würde. Solange es Bestand hatte, sollten die USA es ausnutzen, notfalls durch einen präventiven Atomangriff gegen Moskau. Das würde die UdSSR daran hindern, den Kurs einer bevorstehenden Welteroberung einzuschlagen, die sie sich in seinen Augen zum Ziel gesetzt hatte, und würde hoffentlich ein Regime vernichten, das ihm äußerst abstoßend erschien. Kurzum, was die Menschen in der UdSSR betraf, hielt er es anscheinend mit dem damals im Westen bekannten Slogan des Kalten Kriegs: »Lieber tot als rot«. In der Praxis waren es immer die anderen, auf die dieser buchstäblich sinnlose Slogan angewandt wurde. Sofern er überhaupt einen Sinn hatte, besagte er nicht etwa, daß Kubaner, Vietnamesen oder, falls es sich so ergab, Italiener sich lieber umbringen sollten als unter einem kommunistischen Regime zu leben, sondern daß sie mit den Waffen der freien Welt getötet werden sollten, um dieser entsetzlichen Möglichkeit zuvorzukommen. (Kein vernünftiger Mensch erwartete ernsthaft einen Massenselbstmord in England oder in den USA.) Auch wenn die Möglichkeit amerikanischer atomarer Präventivschläge Whitehall beunruhigte17, hörte niemand auf Russell, der ohnedies seine Meinung änderte, als beide Supermächte in der Lage waren, sich gegenseitig zu vernichten, was einem globalen Selbstmord gleichgekommen wäre. Doch bis es soweit war, sprachen die Menschen, darunter selbst einige seriöse Politiker, zweifellos über eine Art apokalyptischen weltweiten Klassenkampf. Es ging um Großes. Auf welcher Seite man auch stand, kein Preis konnte zu hoch sein. Der Krieg hatte die Welt vor allem seit Hiroshima und Nagasaki an menschliche Opfer gewöhnt, die in die Hunderttausende und selbst in die Millionen gingen. Wer sich gegen Kernwaffen wandte, wurde beschuldigt, er wolle den Westen einer notwendigen, einer unverzicht-

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baren Waffe berauben. Auch wir – ich sage das mit nachträglichem Bedauern – ließen bei dem Preis, den wir bereit waren, andere bezahlen zu lassen, keine Grenze gelten. Es macht die Sache nicht besser, wenn ich hinzufüge, daß auch wir selbst bereit waren, ihn zu bezahlen. Auf der einen Seite unterstellten die Kommunisten den USA und ihren Verbündeten, sie bedrohten eine noch immer belagerte und verwundbare UdSSR mit völliger Vernichtung, um den weltweiten Vormarsch der Kräfte der Revolution seit der Niederlage Hitlers und Hirohitos aufzuhalten. Sie sahen in der UdSSR noch immer den unverzichtbaren Garanten dieses Vormarschs. Auf der anderen Seite war für die USA und ihre Verbündeten die UdSSR sowohl die globale Bedrohung als auch ein System, das komplett abzulehnen war. Alles wäre so einfach, wenn sie keine Supermacht wäre. Und noch einfacher wäre es, wenn es sie gar nicht geben würde. Für uns bestand kein Zweifel, daß die UdSSR nicht in der Lage war, die Welt für den Kommunismus zu erobern. Einige von uns waren sogar enttäuscht, weil sie das anscheinend gar nicht wollte. Es war – zumindest in den Augen von westlichen kommunistischen Intellektuellen, auch wenn sie es nicht aussprachen – ein System mit schweren Mängeln, aber titanischen Errungenschaften, das noch immer das unbegrenzte Potential des Sozialismus besaß. (Auch wenn es heute unglaublich klingt, in den fünfziger Jahren und nicht nur für ihre Sympathisanten sah die Sowjetunion noch nicht wie ein wankender Wirtschaftskoloß aus, sondern wie eine Ökonomie, deren Produktionskraft man es durchaus zutraute, den Westen zu überrunden.) Für den größten Teil der Welt sah es nicht so aus, als sei dieses System das schlimmste aller möglichen Regimes, sondern es schien ein Verbündeter im Kampf um Emanzipation vom westlichen Imperialismus, alt oder neu, und ein Modell für eine außereuropäische wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Die Zukunft sowohl der Kommunisten als auch der Regimes und Bewegungen der dekolonisierten und der in der Dekolonisierung begriffenen Welt hing von ihrer Existenz ab. Was die Kommunisten anging, hatte die Unterstützung und Verteidigung der Sowjetunion noch immer die entscheidende internationale Priorität. Also unterdrückten wir unsere Zweifel und geheimen Vorbehalte und verteidigten dieses Regime. Oder vielmehr, weil dies leichter war, wir griffen das kapitalistische Lager an, weil es ein Westdeutschland, das von alten Nazis regiert wurde und sehr bald gegen die UdSSR wiederbewaffnet werden sollte, einem Ostdeutschland vorzog, dessen Regierung aus ehemaligen KZ-Häftlingen bestand; weil es den alten Imperialismus gegenüber den Bewegungen der antiimperialistischen Befreiung und

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ein Amerika vorzog, das Francos Spanien zu seinem Militärstützpunkt gegen diejenigen machte, die einmal die Republik unterstützt hatten. Trotzdem war es nicht leicht. Im Westen Kommunist zu sein, bereitete keine Schwierigkeiten. Das Problem lag in der Erfahrung des Kommunismus im Osten. Doch das sollte ich bald selbst feststellen. Es gab die ersten Anzeichen eines leichten Tauwetters an den Rändern der Eiskappe von Stalins UdSSR. 1952, noch bevor der schreckliche alte Mann gestorben war, erhielt der Historiker E. A. Kosminskij zusammen mit seiner Frau die Erlaubnis zu einem kurzen Besuch in England, das erste Mal, seit er vor langer Zeit, in den zwanziger Jahren, in London über die Probleme der Geschichte der englischen Grundherrschaft im Mittelalter gearbeitet hatte, was ihn in der Welt der historischen Wissenschaft berühmt gemacht hatte. Ich brachte ihn zum Britischen Museum, weil er den Wunsch hatte, noch einmal den großen runden Lesesaal zu benutzen. Ob er einen befristeten Leseausweis bekommen könne? Eine Bibliothekarin fragte ihn, ob er schon einmal Benutzer der Bibliothek gewesen sei. Er bejahte. »Aha«, sagte sie und suchte seinen Namen in den Karteikästen. »Aber natürlich bekommen Sie einen Ausweis, kein Problem. Wohnen Sie noch immer am Torrington Square?« Es war ein Augenblick tiefer Rührung für ihn. Einige Monate später, nach dem Tod Stalins, aber noch vor dem Poststalinismus, erreichte er, daß die Sowjetische Akademie der Wissenschaften eine Gruppe marxistischer Historiker aus England in die UdSSR einlud. Es war meine erste, aber nicht unbedingt einzige Begegnung mit dem Land der Oktoberrevolution. Ich verspürte kein besonderes Bedürfnis, noch einmal dorthin zu reisen. Dieser Besuch trug dazu bei, mich für den entscheidenden Wendepunkt im Leben aller kommunistischen Intellektuellen und in der weltkommunistischen Bewegung vorzubereiten, der das Hauptthema des folgenden Kapitels ist – die Krise von 1956.

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12 Stalin und danach

I Ich gehöre zu den verhältnismäßig wenigen Bewohnern der Welt außerhalb der ehemaligen UdSSR, die Stalin tatsächlich gesehen haben; zugegebenermaßen nicht mehr als Lebenden, sondern in einer Glasvitrine im großen Mausoleum auf Moskaus Rotem Platz: ein kleiner Mann, der noch kleiner erschien, als er in Wirklichkeit war (etwa 1,60 Meter), ein Kontrast zu der ehrfurchteinflößenden Aura autokratischer Macht, die ihn selbst im Tod umgab. Anders als Lenin, der noch immer zu sehen ist, nachdem er bislang (2002) in elf postsowjetischen Jahren alle Versuche überstanden hat, ihn zu entfernen, wurde der tote Stalin nur während der wenigen Jahre zwischen seinem Tod 1953 und 1961 ausgestellt. Als ich ihn im Dezember 1954 sah, überstrahlte seine Aura noch immer sein Land und die weltkommunistische Bewegung. Er hatte zu diesem Zeitpunkt noch keinen eigentlichen Nachfolger, auch wenn Nikita Chruschtschow, der nur wenige Monate später die »Entstalinisierung« einleitete, bereits den Posten des Generalsekretärs innehatte und sich bereit machte, seine Rivalen abzudrängen. Aber von dem, was sich hinter den Kulissen in Moskau abspielte, wußten wir nichts. »Wir«, das waren vier Mitglieder der Historikergruppe der KP Großbritanniens, eingeladen von der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften während der akademischen Weihnachtsferien 1954/55 im Rahmen des noch schmerzhaft langsamen Prozesses, in dem das sowjetische intellektuelle Leben aus seiner Isolation befreit wurde: Christopher Hill, bereits gut bekannt als Historiker der Englischen Revolution, der Byzantinist Robert Browning, ich selbst und der freiberuflich arbeitende Wissenschaftler Leslie (A. L.) Morton, dessen marxistische People’s History of England das offizielle Imprimatur der Sowjetbehörden erhalten hatte. Wahrscheinlich hatte nur Robert Browning, ein Schotte mit einer erstaunlich umfassenden Bildung und sprachlichen Kompetenz, der einen Vortrag über die vor kurzem gelungene Entschlüsselung der kretischen Linear B hielt, eine wirkliche Vorstellung

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davon, wie sehr die sowjetischen Gelehrten von aller englischsprachigen Literatur abgeschnitten waren. (Die Kontakte mit Frankreich waren nie im selben Maße zerfallen.) Da keiner der Besucher sich auf russische Geschichte spezialisiert hatte, wo natürlich die eigentliche Stärke unserer Gastgeber lag, hatten sie alles in allem wahrscheinlich mehr von unseren Gesprächen als wir. Was erhofften wir von diesem Besuch der UdSSR? Wir waren zur Verständigung nicht ausschließlich auf die offiziellen Reiseführer/ Dolmetscher angewiesen, die uns von der Akademie zur Verfügung gestellt wurden, denn zwei von uns sprachen Russisch – Christopher Hill, der Mitte der dreißiger Jahre ein Jahr in der Sowjetunion verbracht und dort Freunde hatte, und der anscheinend fast akzentfreie Robert Browning. Andererseits gab es in der UdSSR zwei Jahre nach Stalins Tod und überhaupt noch für einige Jahre wenig Neigung zu informellen Gesprächen mit Ausländern, auch nicht wenn sie auf russisch geführt wurden. Nicht daß eine offizielle »Delegation«, eingeladen von der Akademie, einer Institution mit beträchtlichem Ansehen und Einfluß in der damaligen Sowjetgesellschaft, viele Möglichkeiten zu informellen Kontakten oder freie Zeit gehabt hätte. Denn selbst das kulturelle und Unterhaltungsprogramm war auf die Bedeutung der gastgebenden Organisation und der daraus errechneten Bedeutung der Gäste aus dem Ausland abgestimmt. Außerhalb von Gebäuden durften unsere Füße kaum den Boden berühren. Mit anderen Worten, als intellektuelle VIPs – eine ungewohnte Rolle – wurden wir höchstwahrscheinlich mit mehr Kultur verwöhnt als andere ausländische Besucher, außerdem mit einer verwirrenden Fülle von Produkten und Privilegien in einem sichtlich verarmten Land. Wir wurden beispielsweise nach einer Fahrt mit dem Nachtzug, dem berühmten Roten Pfeil, von Moskau nach Leningrad direkt nach unserer Ankunft in eine Matinee entführt, eine Aufführung von Schwanensee durch ein Kinderballett im Kirowtheater, wo wir in der Intendantenloge saßen, in die nach der Aufführung die Primaballerina – ich glaube, es war Alla Shelest – von der Bühne weg und noch schweißnaß geführt wurde, um uns vorgestellt zu werden, vier Ausländern ohne besondere Bedeutung, die sich für kurze Zeit am Ort der Macht befanden. Fast ein halbes Jahrhundert später empfinde ich noch immer ein eigenartiges Schamgefühl bei der Erinnerung an den Knicks, den sie vor uns machte, während die Kinder Leningrads nach Hause aufbrachen und die – überwiegend jüdischen – Musiker einer nach dem anderen den Orchestergraben verließen. Es war keine gute Reklame für den Kommunismus. Doch von Rußland und dem russischen Leben

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bekamen wir kaum etwas zu sehen außer den Frauen in mittleren Jahren, vermutlich Kriegswitwen, die Steine schleppten und von den winterkalten Straßen Schutt wegräumten. Es kam noch hinzu, daß selbst die Grundausstattung des Intellektuellen, Hilfsmittel zum Nachschlagen oder zum Nachschauen, fehlten. Es gab keine Telefonbücher, keine Straßenkarten, keine öffentlichen Fahrpläne, nichts von dem, was man benötigt, um sich im Alltag zurechtzufinden. Man war verblüfft über das fundamental Unpraktische an einer Gesellschaft, in der eine fast paranoische Angst vor Spionage jede für das Alltagsleben benötigte Information zu einem Staatsgeheimnis machte. Kurzum, man konnte über Rußland durch einen Besuch fast nichts in Erfahrung bringen, was man nicht auch im Ausland hätte erfahren können. Dennoch gab es etwas. Es gab die offensichtliche Beliebigkeit und Unvorhersehbarkeit der Anordnungen. Es gab die erstaunliche Errungenschaft der Moskauer Metro, die in der eisernen Ära der dreißiger Jahre unter einem der legendären »harten Männer« des Stalinismus, Lazar Kaganowitsch, gebaut worden war: der Traum von einer zukünftigen Stadt aus Palästen für eine hungrige und verarmte Gegenwart, aber auch eine moderne Untergrundbahn, die funktionierte wie ein Uhrwerk – und wie man mir gesagt hat, tut sie das bis heute. Es gab den fundamentalen Unterschied zwischen den Russen, die Entscheidungen fällten, und denen, die es nicht taten – wie wir unter uns witzelten, konnte man sie an ihren Haaren erkennen. Das Haar der Entscheidungsfreudigen stand senkrecht nach oben oder war durch die Anstrengung ausgefallen, während das Haar der anderen schlaff über die Stirn fiel. Es gab das außergewöhnliche Schauspiel einer intellektuellen Gesellschaft, die kaum eine Generation von der alten bäuerlichen Welt entfernt war. Ich erinnere mich noch an die Silvesterfeier im Club der Wissenschaftler in Moskau. Zwischen den üblichen Trinksprüchen auf Frieden und Freundschaft machte einer den Vorschlag, in einem Wettbewerb herauszufinden, wer die meisten Sprichwörter wußte – allerdings nicht x-beliebige, sondern Sprichwörter oder Redewendungen, in denen spitze oder scharfe Gegenstände vorkamen wie »Die Axt im Haus erspart den Zimmermann« oder »Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht«. Die gemeinsamen Ressourcen Englands waren bald erschöpft, doch die Russen, allesamt renommierte Wissenschaftler in der Forschung, kämpften gegeneinander mit immer neuen Volksweisheiten vom Land über Messer, Äxte, Sicheln und andere spitze oder scharfe Gerätschaften, bis das Unternehmen abgebrochen werden mußte. Das war immerhin das, was sie von den analphabeti-

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schen Dörfern, in denen viele von ihnen geboren waren, mitgebracht hatten. Es war eine interessante, aber auch entmutigende Reise für ausländische kommunistische Intellektuelle, denn wir trafen dort auf kaum jemanden wie uns selbst. Anders als die »Volksdemokratien« und die »real existierenden Sozialismen« im übrigen Europa, in denen Kommunisten, die gegen Unterdrückung gekämpft hatten, am Ende des Krieges, von der Verfolgung erlöst, an die Macht kamen, befanden wir uns in der UdSSR in einem Land, das seit langem von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion regiert wurde und in dem eine berufliche Laufbahn bedeutete, Mitglied in der Partei zu sein oder zumindest mit ihren Anforderungen und offiziellen Erklärungen konform zu gehen. Wahrscheinlich waren einige von denen, die wir kennenlernten, überzeugte und loyale Kommunisten, aber es war eine nach innen gekehrte sowjetische und keine ökumenische Überzeugung, auch wenn wir vermutlich mit einigen von denen, mit denen wir gern gesprochen hätten, die jedoch »leider wegen gesundheitlicher Probleme verhindert [waren], nach Moskau zu kommen«, »vorübergehend in Gorki abwesend« oder noch nicht aus den Lagern heimgekehrt waren, mehr gemeinsam gehabt hätten. Es war wesentlich leichter nachzuempfinden, was »der Große Vaterländische Krieg« für die Menschen, mit denen wir sprachen, persönlich und emotional bedeutete – vor allem für die in Leningrad, das eine furchtbare Belagerung durchgestanden hatte –, als was ihnen der Kommunismus bedeutete. Jedenfalls bin ich sicher, daß das, was wir – vor dem Finnländischen Bahnhof stehend, im zauberhaften Winterlicht dieser wunderbaren Stadt, an deren Namen St. Petersburg ich mich wohl nie gewöhnen werde – über die Oktoberrevolution dachten, nicht dasselbe war wie das, was unsere Begleiter von der Leningrader Akademie der Wissenschaften darüber dachten. Ich kam aus Moskau politisch unverändert, aber deprimiert und ohne den Wunsch zurück, noch einmal dorthin zu fahren. Dennoch kehrte ich, wenn auch nur flüchtig, zurück: 1970, um an einem historischen Weltkongreß teilzunehmen, und in den letzten Jahren der UdSSR bei kurzen touristischen Ausflügen von Helsinki aus, wo ich mehrere Sommer an einem UN-Forschungsinstitut tätig war.* * Nebenbei möchte ich an dieser Stelle anmerken, daß keines meiner Bücher jemals während der kommunistischen Periode ins Russische oder in eine andere sowjetische Sprache übersetzt wurde. Die einzigen »real existierenden sozialistischen« Sprachen, in die einige der Bücher vor dem Fall der Berliner Mauer übersetzt wurden, waren Ungarisch und Slowenisch. Mein Buch über Jazz wurde immerhin ins Tschechische übersetzt.

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Die Reise in die UdSSR 1954/55 war mein erster Kontakt mit den Ländern des später so bezeichneten »real existierenden Sozialismus«, denn zu den Weltjugendspielen 1947 in Prag fuhr ich, bevor die Partei in den neuen »Volksdemokratien« die ganze Macht übernommen hatte. In der Tschechoslowakei hatte sie gerade 40 Prozent der Wählerstimmen errungen, als die mit Abstand größte Partei bei einer echten Mehrparteienwahl. Abgesehen davon, daß ich einige ihrer Historiker persönlich kennengelernt habe, erfolgte mein unmittelbarer Kontakt mit den übrigen sozialistischen Ländern erst nach dem XX. Parteitag der KPdSU, der die weltweite Krise der kommunistischen Bewegung auslöste. Allerdings war bei dem ersten Besuch in die DDR im April/Mai 1956 Chruschtschows Kongreßrede gegen die Verbrechen Stalins noch nicht veröffentlicht worden. Doch seit 1956 hatte sich alles geändert. II In der Geschichte der revolutionären Bewegung des vergangenen Jahrhunderts gibt es zwei »zehn Tage, die die Welt erschütterten«: die Tage der Oktoberrevolution, die in dem Buch von John Reed mit dem gleichnamigen Titel beschrieben wurden, und der XX. Parteitag der KPdSU (14.-25. Februar 1956). Beide Ereignisse teilen diese Geschichte abrupt und unwiderruflich in ein »Davor« und ein »Danach«. Ich kenne kein vergleichbares Ereignis in der Geschichte einer bedeutenden weltanschaulichen oder politischen Bewegung. Um es in wenigen einfachen Worten auszudrücken, die Oktoberrevolution schuf eine weltkommunistische Bewegung, der XX. Parteitag zerstörte sie. Die weltkommunistische Bewegung war nach Lenins Vorstellungen als eine einzige disziplinierte Armee angelegt, die sich die Veränderung der Welt unter einem zentralisierten und quasimilitärischen Kommando zur Aufgabe machte und ihren Sitz in dem einzigen Staat hatte, in dem »das Proletariat« (das hieß die Kommunistische Partei) die Macht übernommen hatte. Sie wurde nur deshalb zu einer Bewegung von weltweiter Bedeutung, weil sie mit der UdSSR verbunden war, die ihrerseits zu dem Land wurde, das den Angriffswillen Nazideutschlands gebrochen hatte und aus dem Krieg als Supermacht hervorging. Der Bolschewismus hatte ein schwaches Regime in einem riesigen, aber rückständigen Land zu einer Supermacht gemacht. Der Sieg der Sache in anderen Ländern, die Befreiung der kolonialen und semikolonialen Welt, beruhte auf seiner Unterstützung und seinem zuweilen zögerlichen, aber realen Schutz. Was immer seine Schwächen gewesen

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sein mochten, allein schon seine Existenz war der Beweis, daß der Sozialismus mehr war als nur ein Traum. Und der leidenschaftliche Antikommunismus der Kalten Krieger, der in den Kommunisten nichts anderes sah als Agenten Moskaus, schweißte sie noch fester mit der UdSSR zusammen. Im Lauf der Zeit und vor allem während der Jahre des Kampfes gegen den Faschismus wurde die wirksam organisierte revolutionäre Linke praktisch mit den Kommunistischen Parteien gleichgesetzt. Diese hatten andere Arten von Sozialrevolutionären absorbiert oder ausgeschaltet. Während die kommunistische Universalkirche immer neue Scharen von Abtrünnigen und Ketzern hervorbrachte, war es keiner dieser Rebellengruppen, die von ihr abgestoßen, ausgeschlossen oder getötet wurden, je gelungen, sich als mehr als nur lokale Konkurrenz zu etablieren. Erst Tito gelang dies 1948 – doch im Gegensatz zu allen anderen stand er bereits an der Spitze eines revolutionären Staates. Zu Beginn des Jahres 1956 wurde die Gesamtstärke der drei rivalisierenden trotzkistischen Gruppen in England auf weniger als 100 Personen geschätzt.1 Seit 1933 hatten die Kommunistischen Parteien praktisch ein Monopol auf die marxistische Theorie, in der Hauptsache infolge des angestrengten sowjetischen Bemühens, die Werke der »Klassiker« unter das Volk zu bringen. Es zeichnete sich immer deutlicher ab, daß für Marxisten – wo immer sie lebten und mit all ihren möglichen Vorbehalten – »die Partei« ihr ein und alles war. Der große französische Altphilologe J. P. Vernant, vor dem Krieg Kommunist, brach mit der Partei, indem er sich von Anfang an entgegen der damals geltenden Parteilinie der gaullistischen Résistance anschloss, und machte sich im Krieg einen Namen als »Oberst Berthier« und compagnon de la libération, trat jedoch nach dem Krieg wieder in die Partei ein, da er ein Revolutionär geblieben war. Wohin hätte er sonst gehen sollen? Der verstorbene Isaac Deutscher, der Biograph Trotzkijs, doch in seinem Herzen ein enttäuschter politischer Führer, sagte mir, als ich ihn zum ersten Mal auf dem Höhepunkt der kommunistischen Krise von 1956/57 traf: »Was immer Sie tun, bleiben Sie auf jeden Fall in der Partei. Ich habe es zugelassen, daß ich 1932 ausgeschlossen wurde, und habe es bis heute bedauert.« Im Gegensatz zu mir konnte er sich nie mit der Tatsache abfinden, daß er nur dadurch politisch bedeutend wurde, daß er schrieb. War es denn nicht die Aufgabe der Kommunisten, die Welt zu verändern statt sie nur zu interpretieren?

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III Warum hat Chruschtschows kompromißlose Anprangerung Stalins die Fundamente der weltweiten Solidarität der Kommunisten mit Moskau zerstört? Schließlich setzte sie einen Prozeß der gelenkten Entstalinisierung fort, der seit über zwei Jahren stetig vorangeschritten war, auch wenn andere Kommunistische Parteien die vertraute sowjetische Angewohnheit wenig schätzten, sie unvermittelt und unvorbereitet mit der Notwendigkeit zu konfrontieren, eine unerwartete Wendung in der Politik zu rechtfertigen. (1955 hatte Chruschtschows Versöhnung mit Tito vor allem jene Genossen aufgebracht, die sieben Jahre zuvor gezwungen waren, höchstwahrscheinlich gegen ihren Willen, seine Exkommunizierung aus der wahren Kirche gutzuheißen.) Überhaupt wirkte der XX. Parteitag, bevor der Inhalt der Rede Chruschtschows auch bei einer breiteren Öffentlichkeit einschließlich der der Kommunistischen Parteien bekannt wurde, einfach wie ein weiterer, wenn auch wesentlich größerer Schritt weg von der Stalinära. Ich glaube, wir müssen hier unterscheiden zwischen der Wirkung der Rede auf die Führung der Kommunistischen Parteien, vor allem auf jene, die bereits in einem Staat an der Regierung waren, und ihrer Wirkung auf das kommunistische Fußvolk. Natürlich hatten beide Seiten die zwingenden Verpflichtungen eines »demokratischen Zentralismus« akzeptiert, der in aller Stille alles abgelegt hatte, was er anfangs an demokratischen Elementen noch gehabt haben mochte.2 Und alle, ausgenommen vielleicht die KP Chinas, die trotzdem den Primat Stalins anerkannte, akzeptierten Moskau als den obersten Kommandeur der disziplinierten Armee des Weltkommunismus im globalen Kalten Krieg. Beide teilten die außergewöhnliche, echte und spontane Bewunderung für Stalin als den Führer und die Verkörperung der Sache und das von vielen bezeugte Gefühl der Trauer und eines persönlichen Verlusts, das Kommunisten zweifellos bei seinem Tod 1953 verspürten. Während das bei den Menschen an der Basis der Partei nur allzu verständlich war, für die er ein fernes Bild des Triumphs und der Befreiung der armen Leute darstellte – »der Bursche mit dem Riesenschnauzer«, der noch immer eines Tages kommen könnte, um mit den Reichen ein für allemal Schluß zu machen –, wurde dieses Gefühl zweifellos auch von hartgesottenen Führern wie Palmiro Togliatti geteilt, der den furchtbaren Diktator aus nächster Nähe kannte, und selbst von seinen wirklichen oder künftigen Opfern. Molotow hielt ihm noch 33 Jahre nach seinem Tod die Treue, obwohl Stalin ihn in seinen letzten paranoiden Jahren gezwungen hatte, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, sie verhaften

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und verhören ließ und ins Exil schickte und offenbar Vorbereitungen traf, auch Molotow einen Schauprozeß zu machen. Anna Pauker von der Komintern und der KP Rumäniens weinte, als sie von Stalins Tod hörte, obwohl sie ihn nicht gemocht und sogar Angst vor ihm gehabt hatte und damals kurz davor stand, als angebliche bürgerliche Nationalistin und Agentin Trumans und des Zionismus den Wölfen zum Fraß vorgeworfen zu werden. (»Weinen Sie nicht«, sagte der Mann, der sie verhörte. »Wäre Stalin noch am Leben, dann wären Sie jetzt tot.«3) Kein Wunder, daß Chruschtschows leidenschaftliche Attacke auf seine Untaten und auf den »Personenkult« die internationale kommunistische Bewegung in ihren Grundfesten erschütterte. Doch so sehr andererseits ihre Führer Stalin bewunderten und die »führende Rolle« der Sowjetpartei akzeptierten, die Kommunistischen Parteien, ob an der Macht oder in der Opposition, waren weder im Stalinschen Sinne »monolithisch« noch einfach nur ausführende Organe der Politik der KPdSU. Und spätestens seit 1947 hatte Moskau ihnen – häufig politisch nachteilige – Dinge befohlen, die sie oder zumindest beträchtliche Teile ihrer Führung von sich aus nie getan hätten. Solange Stalin lebte und die Führung und die Macht in Moskau »monolithisch« blieben, war daran nichts zu ändern. Die Entstalinisierung öffnete bisher blockierte Optionen, zumal die Männer im Kreml offensichtlich nicht über die alte Autorität verfügten, und begegnete doch noch immer einer starken Opposition durch die Altstalinisten. Kurzum, weil Moskau keiner monolithischen Herrschaft mehr unterstand. Sehr bald konnten sich jetzt die Risse im Gefüge des unter sowjetischer Kontrolle befindlichen Gebiets erweitern. Innerhalb weniger Monate nach dem XX. Parteitag taten sie das auch für alle sichtbar in Polen und Ungarn. Und das verschärfte wiederum die Krisen innerhalb der Kommunistischen Parteien, die in ihren Ländern nicht in der Regierung saßen. Was die große Masse ihrer Mitglieder verstörte, war die Tatsache, daß die bis zur Brutalität schonungslose Anprangerung der Untaten Stalins nicht von der »bürgerlichen Presse« kam, deren Geschichten, wenn sie überhaupt gelesen wurden, von vornherein als Verleumdungen und Lügen zurückgewiesen werden konnten, sondern von Moskau selbst. Es war für loyale Gläubige unmöglich, die Informationen nicht zur Kenntnis zu nehmen, aber ebenso unmöglich zu wissen, was sie daraus machen sollten. Selbst diejenigen, die »[im Hinblick auf die enthüllten Tatsachen] schon Jahre vor Chruschtschows Rede einen starken Verdacht gehegt hatten, . . . der auf eine moralische Gewißheit hinauslief«4, waren erschüttert über das schiere Ausmaß der Massen-

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morde Stalins an Kommunisten, das ihnen bislang weitgehend verborgen geblieben war. (Von den anderen Opfern hatte Chruschtschow noch gar nicht gesprochen.) Und kein denkender Kommunist kam darum herum, sich einige ernsthafte Fragen zu stellen. Trotz alledem darf man wohl sagen, daß Anfang 1956 keine Führung einer Kommunistischen Partei in Ländern, in denen sie sich in der Opposition befand, ernsthaft der Meinung war, die Entstalinisierung bedeute eine grundlegende Revision der Rolle, der Ziele und der Geschichte dieser Parteien. Und sie rechneten auch nicht mit größeren Problemen durch ihre Mitglieder, da diejenigen, die der Partei treu geblieben waren, zehn Jahre lang der Propaganda der Kalten Krieger widerstanden hatten. Doch wahrscheinlich gerade wegen dieser Zuversicht gelang es ihnen diesmal nicht, eine nennenswerte Anzahl ihrer Mitglieder auf ihre Seite zu ziehen. In der Rückschau liegt der Grund dafür auf der Hand. Man hatte uns nicht die Wahrheit über etwas gesagt, das den innersten Kern der Überzeugung eines Kommunisten betreffen mußte. Außerdem konnten wir sehen, daß die Leute an der Spitze der Partei in Wirklichkeit kein Interesse daran hatten, uns die Wahrheit zu sagen – sie verheimlichten sie, bis die Rede Chruschtschows zur nichtkommunistischen Presse durchgesickert war –, und sie wollten offensichtlich jede Diskussion darüber so schnell wie möglich beenden. Als die Krise in Polen und Ungarn ausbrach, hielten sie weiterhin alles unter der Decke, was unsere eigenen Journalisten berichteten. Man konnte verstehen, warum sie das als Parteiorganisatoren für zweckmäßig hielten, aber es hatte weder etwas mit Marxismus zu tun noch war es eine seriöse Politik. Als der vertraute Appell an die unverbrüchliche Treue seinen Zweck verfehlte, bestand ihre reflexhafte Reaktion darin, dem leidigen Wankelmut jener wohlbekannten Instabilitäts- und Schwächefaktoren der kleinbürgerlichen Intellektuellen die Schuld daran zu geben. Die Parteioberen benötigten acht Monate, vom März bis zum November 1953, um einzusehen, was der Ausschuß der Historikergruppe in der KP Großbritanniens fast sofort erkannt hatte, daß dies »die gravierendste und kritischste Situation der Partei seit ihrer Gründung« war.5 Nach der ungarischen Revolution und ihrer Niederschlagung durch die Sowjetarmee später in diesem Jahr konnten dies vernünftigerweise nicht einmal mehr die ergebensten Parteimitglieder leugnen. Als die Führung 1957 wieder fest im Sattel saß – zuvor hatte sie einen beispiellosen Ausbruch der offenen Opposition abgewehrt –, hatte die KP Großbritanniens ein Viertel ihrer Mitglieder, ein Drittel der Mitarbeiter ihrer Zeitung, des Daily Worker, und wahrscheinlich das Gros dessen, was von der Generation der kommuni-

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stischen Intellektuellen der dreißiger und vierziger Jahre übriggeblieben war, verloren. Doch obwohl auch mehrere Gewerkschaftsführer der Partei den Rücken gekehrt hatten, gewann sie schnell ihren nationalen Einfluß in der Industriearbeiterschaft zurück, der seinen Höhepunkt in den siebziger und frühen achtziger Jahren erreichte. Es ist schwer, nicht nur die Stimmung, sondern auch die Erinnerung an jenes traumatische Jahr zu rekonstruieren: wie es, nach einer Abfolge kleinerer Krisen, in der Rückeroberung Ungarns durch die Sowjetarmee einen erschreckenden Höhepunkt fand und in den anschließenden monatelangen aussichtslosen und fieberhaften Auseinandersetzungen stolpernd und strauchelnd auf eine erschöpfte Niederlage zusteuerte. Arnold Weskers Bühnenstück Hühnersuppe mit Graupen, in dem es um eine jüdische Arbeiterfamilie geht, die mit ihrer kommunistischen Überzeugung ringt, vermittelt eine gute Vorstellung von dem, was jemand als »[den] Schmerz, sie zu verlieren, und [den] Schmerz, daran festzuhalten«, bezeichnet hat.6 Noch nach fast einem halben Jahrhundert schnürt es mir die Kehle zu, wenn ich mich an die fast unerträglichen Spannungen erinnere, unter denen wir Monat für Monat lebten, die immer wiederkehrenden Augenblicke der Entscheidung, was wir sagen und tun sollten, von denen unser Leben und unsere Zukunft abzuhängen schienen, die Freunde, die jetzt noch mehr zusammenhielten oder sich als erbitterte Gegner gegenüberstanden, das Gefühl, unfreiwillig, aber unwiderstehlich durch das Geröll des Abhangs dem Absturz entgegenzuschlittern. Und das Ganze, während wir alle, bis auf ein paar feste Mitarbeiter der Partei, weitermachen mußten, als wäre nichts geschehen, in unserem Alltagsleben und in unserer Arbeit, die für eine gewisse Zeit wie unwillkommene Ablenkungen von der Monstrosität erschienen, die unsere Tage und Nächte beherrschte. 1956 war weiß Gott ein dramatisches Jahr in der britischen Politik, doch in der Erinnerung derer, die damals Kommunisten waren, ist alles andere völlig in den Hintergrund getreten. Natürlich haben wir zusammen mit einer endlich einmal völlig vereinigten Linken der Labour Party und der Liberalen gegen Anthony Edens verlogene Regierung in der Suezkrise mobilgemacht. Doch Suez raubte uns nicht den Schlaf. Wahrscheinlich könnte man es vereinfacht so ausdrücken, daß britische Kommunisten über ein Jahr lang am Rande des politischen Äquivalents zu einem kollektiven Nervenzusammenbruch gelebt haben. Was die Dinge noch schlimmer machte, war der Umstand, daß die KP Großbritanniens klein und familiär und in vieler Hinsicht, um eine apokryphe Kritik durch die Komintern zu zitieren, »eine Partei von guten Freunden« war. Im Gegensatz zu den KPs anderer Länder hatte

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es bei ihr keine spektakulären Parteiausschlüsse und Exkommunikationen gegeben. Ihr fehlte jene eigentümliche Version des »bolschewistischen« Führungsstils, die rücksichtslose, selbstgefällige Rabauken wie André Marty in der KPF hervorbrachte. In der Regel kannten wir unsere Führer und hatten mit ihnen geredet, wir mochten die meisten von ihnen, und mindestens einige von uns konnten verstehen, welcher Druck auf ihnen lastete. Keiner der Kritiker wollte aus der Partei austreten, und die Partei wollte uns nicht verlieren. Wohin unsere politische Zukunft uns auch bringen würde – und selbst diejenigen, die austraten oder aus der Partei ausgeschlossen wurden, blieben in der übergroßen Mehrzahl auf der Linken –, wir alle durchlebten die Krise von 1956 als überzeugte Kommunisten. Ich wäre in jedem Fall mittendrin in der Krise gewesen, war aber ihrem Zentrum auch deshalb besonders nahe, weil ich 1956 den Vorsitz der Historikergruppe der Partei innehatte – eines der wenigen Male, daß ich Vorsitzender einer Organisation war – und die Gruppe sich fast sogleich als Kern einer vernehmlichen Opposition gegen die Parteilinie herausschälte, sobald sie uns am 8. April, kurz nach der Rede Chruschtschows, durch einen Sprecher von King Street bekanntgegeben wurde, genauer nach dem bald darauf stattfindenden Parteitag der KP Großbritanniens, wo (vergeblich) versucht worden war, die ganze Frage zu umgehen. Wir begehrten auf, und die Gruppe wandte sich zweifach und in hochdramatischer Weise gegen die Partei. Zum einen trat eines der führenden Mitglieder der Gruppe, Christopher Hill, als Sprecher für den Minderheitenbericht der Kommission zur innerparteilichen Demokratie auf, das heißt als faktischer Führer der Opposition auf dem Parteitag im Mai 1957. Mitte Juli brachten John Saville von der Universität Hull und E.P. Thompson, damals Lehrer im außeruniversitären Bereich der Universität Leeds, ein beispielloses und nach den Usancen der Partei völlig illegitimes oppositionelles Periodikum innerhalb der Partei in Umlauf, The Reasoner. (Nachdem sie aus der Partei ausgetreten waren, wurde es 1957 als The New Reasoner wiederbelebt, mit Beiträgen verschiedener Sympathisanten, unter anderem auch von mir.) Die Intervention sowjetischer Truppen in die ungarische Revolution bewog dann mehrere von uns zu einem zweiten und noch ungeheuerlicheren Verstoß gegen die Parteidisziplin, der formal mit einem Parteiausschluß geahndet werden konnte. Es war ein gemeinsamer Protestbrief, der von den meisten besser bekannten Historikern unterschrieben war (darunter auch der gewöhnlich schweigende Loyalist Maurice Dobb), dessen Abdruck vom Daily Worker verweigert wurde und der daraufhin demonstrativ in einer parteifremden Zeitung

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erschien.7 Nur Parteimitglieder der damaligen Generation können einen Begriff davon haben, wie unverzeihlich ein solcher Bruch der Disziplin war. Einige Jahre später ermöglichte mir dieser Brief, an einem emotionalen Abend in einem Alpbacher Lokal in Österreich, einen ziemlich betrunkenen und grätigen Arthur Koestler in die Schranken zu weisen, der wissen wollte, ob Leute wie ich den Russen wegen der Intervention in Ungarn jemals etwas entgegengesetzt hätten. Die Historiker waren die erfolgreichste und beständigste unter den »Kulturgruppen« der Partei und politisch eine der loyalsten. Wie kam es, daß wir – mehr als die Schriftsteller, mehr als die Naturwissenschaftler, die völlig benommen waren von den Auswirkungen der Absurditäten eines Lysenko und der offiziellen Sowjetideologie – von Anfang an in vorderster Linie der Opposition standen? Der Grund war im wesentlichen, daß wir uns der Situation nicht nur als Privatpersonen und militante Kommunisten stellen mußten – es stand auch und vor allem unsere berufliche Kompetenz auf dem Spiel. Bei der Frage, was unter Stalin geschehen war und warum man es verheimlicht hatte, ging es buchstäblich um Geschichte. Dasselbe galt für die offenen, aber undiskutierten Fragen über Episoden unserer eigenen Parteigeschichte, die unmittelbar mit Entscheidungen Moskaus während der Stalinära zusammenhingen, vor allem die Abkehr von der antifaschistischen Linie 1939/41. Und es galt für unsere eigene politische Einstellung. Wie jemand am ersten Tag unseres Aufstands gesagt hatte: »Warum sollen wir Chruschtschow ohne weiteres Recht geben? Wir wissen es nicht, wir dürfen die Führung nur unterstützen – aber Historiker halten sich an die Fakten.«8 Das erklärt unsere einzige gemeinsame Intervention als Gruppe in die Angelegenheiten der Partei 1956. Wir forderten eine seriöse Geschichte der KP. Die Parteiführung, die, wie ich heute sehen kann, verzweifelt bemüht war, eine aufmüpfige Truppe von Intellektuellen versöhnlich zu stimmen, in denen sie trotz allem eine Stütze sah, willigte ein, eine Kommission ins Leben zu rufen, um die Angelegenheit zu diskutieren. Harry Pollitt, Vorsitzender und zu unserer Zeit unangefochtener Führer der Partei, Palme Dutt, der ideologische Guru, und James Klugmann vertraten die Führung, ich als Vorsitzender der Gruppe und Brian Pearce sprachen für die Historiker. (Pearce, früher auf die Tudorzeit spezialisiert und inzwischen ein ausgezeichneter Übersetzer aus dem Französischen und dem Russischen, hatte seit langem die Mythen und weißen Flecken der KP-Geschichte kritisiert. Er sollte aus der Partei austreten und sich einer trotzkistischen Gruppe anschließen.) Ich erinnere mich an frustrierende Sitzungen. Nicht daß die Histo-

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riker es mit einer einzigen, koordinierten Linie zu tun gehabt hätten. Pollitt hatte Stalin bewundert und war, wie die meisten langgedienten Parteiführer, mit Chruschtschow weder einverstanden noch respektierte er ihn. Er war ein Arbeiterführer von Format, mit mehr Charisma als jeder andere führende Politiker in der Labour Party mit Ausnahme Aneurin Bevans und als alter Kesselschmied mit mehr Sinn für die Gewerkschaften als Bevan. Seine Instinkte und seine lange Erfahrung machten ihn skeptisch gegenüber Leuten, die über Parteigeschichte forschen wollten. Als Politiker wußte er, daß die Leichenschau auf lange zurückliegende Streitigkeiten, vor allem zwischen noch lebenden Genossen, zumeist nur Ärger mit sich brachten. Als alter Hase in der Komintern war ihm klar, daß viele Dinge nicht ausgesprochen werden konnten und daß manches besser ungesagt blieb. Keiner von uns konnte damals wissen, daß Pollitt sich 1937 in Moskau für einen ehemaligen Kominternvertreter in England und dessen Frau verwendet hatte, die gerade verhaftet worden waren – wobei er möglicherweise sogar bei Stalin persönlich vorgesprochen hatte. Dieser außerordentlich mutige und aufrechte Schritt hatte ihn in jenen Tagen des paranoiden Terrors in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht, die Komintern erwog, ihn als Parteiführer auszuwechseln, und ein möglicher Schauprozeß gegen ihn zeichnete sich ab. Er wurde von Dimitroff mit Hilfe eines britischen Passes vor dem Schlimmsten bewahrt – vielleicht auch durch die hartnäckige Weigerung des ehemaligen Organisationschefs der Komintern, Ossip Pjatnitskij, unter der Folter das nötige »Geständnis« abzulegen, mit dem die zuvor bezeichneten Opfer belastet werden sollten.9 Was hätte die Bewegung davon gehabt, wenn jemand diese Episode der Parteigeschichte veröffentlicht hätte, auch wenn es zweifellos der Partei und vor allem Pollitt selbst Ehre eingetragen hätte? Er ließ keinen Zweifel daran, daß in seinen Augen der Partei nur eine Form der Geschichtsschreibung, die der Regimentsgeschichte, dienen konnte – eine Aufzählung von geschlagenen Schlachten, heroischen Taten, Opfern für die Sache und von roten Fahnen, die geschwungen wurden –, um die Genossen mit Stolz und Hoffnung zu erfüllen. Der indoskandinavische Intellektuelle Palme Dutt, eine dieser unglaublich hoch aufgeschossenen Figuren aus der Oberschicht, denen man gelegentlich unter Bengalen begegnet, gehörte über seine Mutter einer vornehmen schwedischen Familie an – Olof Palme war ein weiteres Mitglied.* Anders als Pollitt war Dutt ein geborener Intellektueller und instinktiver Hardliner. Lange Jahre zuvor hatte der Abend, den er in meinem kleinen Haus in Cambridge nach einer Versammlung verbrachte, bei mir eine anhaltende Bewunderung für seinen scharfen

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Verstand hinterlassen, und eine dauerhafte Überzeugung, daß er nicht an der Wahrheit interessiert war, sondern seinen Intellekt allein dazu benutzte, die Linie des Augenblicks, worin immer sie bestehen mochte, zu erläutern und zu rechtfertigen. Aus heutiger Sicht war ich wohl ungerecht gegen die intellektuellen Instinkte, die dennoch tief in seinem Inneren verborgen lagen, oder vielleicht auch gegen seine Hoffnung, daß er posthum als etwas Besseres anerkannt würde denn als ein begabter Sophist im Dienst einer Autorität. Für ihn stand außer Frage, daß eine wirkliche Geschichte der Kommunistischen Partei letztlich nur die Geschichte ihrer politischen Entscheidungen, das hieß der Veränderungen der Linie sein konnte. Und dazu gehörte natürlich eine kritische und notfalls negative Beurteilung. Aber ob der Zeitpunkt dafür schon gekommen war? Er bezweifelte es. Und unser alter Held James Klugmann? Er saß ganz rechts außen am Tisch und sagte kein Wort. Er wußte, daß wir recht hatten. Wenn wir eine Geschichte unserer Partei produzierten, ohne auch die problematischen Augenblicke einzubeziehen, würden diese doch nicht verschwinden. Die Geschichte würde einfach von antikommunistischen Historikern geschrieben werden – und tatsächlich dauerte es keine zwei Jahre, bis genau das geschah.10 Doch ihm fehlte, was der große Bismarck einmal »Zivilcourage« genannt hat, der zivile im Unterschied zum militärischen Mut. Er wußte, was richtig war, scheute jedoch davor zurück, es öffentlich zu sagen. (Darin war er wie eine politische Persönlichkeit ganz anderer Art, Isaiah Berlin, wenn es um die Politik des Staates Israel ging.) Er sagte nichts und erklärte sich bereit, die Aufgabe auf sich zu nehmen, eine vertretbare offizielle Geschichte der KP Großbritanniens zu schreiben, wohl wissend, daß es unmöglich war. Zwölf Jahre später veröffentlichte er einen ersten Band, der bis 1924 reichte. Mein ziemlich schroffer Nachweis, daß er seine Zeit vergeudet hatte, tat unserer Beziehung keinen Abbruch.11 Bis zu seinem Tod veröffentlichte er noch einen zweiten Band, der bis 1927 führte, also kurz vor den Punkt, wo er sich mit den umstrittensten Episoden hätte befassen müssen. Er hätte niemals weitergeschrieben. Inzwischen gab er * Ebenso Professor Sven Ulric Palme von der Universität Stockholm, der mich für meinen ersten Ehrendoktor vorschlug, gekrönt durch einen echten Lorbeerkranz, den unsere Putzfrau in Clapham später im Mülleimer versenkte. (Die Welt der schwedischen Wissenschaft nimmt sich ernst genug, um nichts Ungewöhnliches an einer Ansammlung von Gelehrten mittleren Alters im dunklen Anzug zu finden, die sich mit einem Lorbeerkranz auf dem Kopf und einem Glas Sekt in der Hand unterhalten wie Schauspieler in einer »modernen« Bühneninszenierung von Julius Caesar.)

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Marxism Today heraus, eine Zeitschrift, deren Ziel es war, jene Kritiker zu beschwichtigen, die 1957 in der Partei blieben, und die eine offene Diskussion weder anregte noch direkt mißbilligte. IV Bedenke ich die Wirkung, die der XX. Parteitag auf die umfassendere historische Bühne hatte, dann ist es mir fast ein wenig peinlich, mich mit den Stürmen in unserer britischen Teekanne aufzuhalten. Nach Streiks polnischer Arbeiter und Demonstrationen polnischer Katholiken – schon damals eine wirkungsvolle Kombination – gelangte in Polen eine neue kommunistische Führung unter Wladyslaw Gomulka an die Macht, der 1949 von seinem Amt als Ministerpräsident zurücktreten mußte und erst kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden war. (Glücklicherweise hatten die Polen es vermieden, jene abgesprochenen Prozesse und Hinrichtungen zu organisieren, die auf Bulgarien, Ungarn und der Tschechoslowakei einen bleibenden Makel hinterlassen haben, und kannten deshalb lebende Personen statt Tote »rehabilitieren«.) Die Chinesen, damals noch ein Teil der internationalen Bewegung, überzeugten die Russen, auf ein militärisches Eingreifen zu verzichten. Die ungarische Revolution, die unmittelbar danach folgte, hatte weniger Glück, höchstwahrscheinlich weil ihre neue Führung über alles hinausging, was die Sowjets aller Voraussicht nach gerade noch hinnehmen würden, indem sie den Austritt aus dem östlichen Militärbündnis, dem Warschauer Pakt, und ihre Neutralität im Kalten Krieg erklärte. Nichts von alledem und am wenigsten Chruschtschow selbst beeindruckte die Chinesen, deren Beziehungen mit der UdSSR sich damals abrupt zu verschlechtern begannen. Innerhalb von ein bis zwei Jahren hatten sich die beiden kommunistischen Riesen entzweit. Von nun an gab es zwei rivalisierende kommunistische Bewegungen, auch wenn tatsächlich fast alle bestehenden Kommunistischen Parteien dem sowjetischen Zentrum treu blieben. Der sogenannte »Maoismus« der sechziger Jahre brachte keine wirklichen Parteien, sondern kleine und untereinander zerstrittene aktivistische Sekten hervor. Noch die seriöseste, dem Anschein nach prochinesische Gruppe, die Communist Party of India (Marxist), die sich von der CPI abspaltete, war nicht eigentlich maoistisch. Soweit die Massen in Indien den Kommunismus unterstützten, gaben sie ihre Stimme der CPI (M), vor allem im Bundesstaat Kerala, wo man auf den Landstraßen auch heute noch Lastwagen mit dem Bild Stalins sehen kann, und in Westbengalen, dessen

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68 Millionen Einwohner seit Jahrzehnten von der immer wiedergewählten CPI (M) regiert werden. In England bestand die hauptsächliche Wirkung des großen Erdbebens von 1956 darin, daß etwa 30 000 Mitglieder der Kommunistischen Partei sich ziemlich schlecht fühlten und die Kräfte der kleinen extremen Linken zersplittert wurden. Die meisten von denen, die aus der Partei austraten, zogen sich in aller Stille aus dem politischen Aktivismus zurück. (Dasselbe passierte bei einigen, die wie ich in der Überzeugung dabeiblieben, die Partei werde, da sich nicht reformiert hatte, im Land auch keine politische Zukunft haben.) Manche schlossen sich einer der drei trotzkistischen Hauptgruppen an, die ihren Zulauf allerdings weniger ausgetretenen KP-Mitgliedern als dem allgemeinen Zerfall des weltkommunistischen Monolithen und dem Verlust des praktischen Monopols auf den Marxismus der Kommunistischen Parteien verdankten. Die Militanten unter der nachwachsenden Generation hatten jetzt mehrere Alternativen innerhalb der Linken. Die meisten Kritiker aus der Historikergruppe, die die Krise nicht erfolgreich überstand, suchten oder bauten vielmehr an einer »neuen Linken«, die von der Erinnerung an den Stalinismus unbefleckt wäre. Savilles und Thompsons Zeitschrift The New Reasoner (1957-59) wurde zur Heimat der meisten Intellektuellen unter den ausgetretenen KPMitgliedern. Schließlich wurde sie mit der Universities and Left Review vereinigt, die das jüngste ehemalige Mitglied der Historikergruppe, Raphael Samuel, gemeinsam mit einem weiteren Exkommunisten, Gabriel Pearson, und zwei ziemlich beeindruckenden ungebundenen jüngeren Oxford-Radikalen gründete, dem jamaikanischen Kulturtheoretiker Stuart Hall und dem kanadischen Philosophen Charles Taylor. Das Durchschnittsalter der Herausgeber lag bei 24 Jahren. Von den frühen sechziger Jahren an wurde diese etwas unfreiwillig zustande gekommene New Left Review von einem neuen Team junger, aber nie der KP angehöriger Marxisten von der Universität Oxford übernommen, deren Kern aus dem alten angloirischen Milieu der Republik Irland kam. Ihr Wortführer war der für seine 22 Jahre erstaunlich fähige Perry Anderson, der die Zeitschrift auch zum größten Teil finanzierte. Im Gegensatz zu den etwas engstirnigen Briten der älteren Gruppierungen der »Neuen Linken« waren ihre Interessen ausgesprochen international, stärker theoretisch und weniger mit der Arbeiterbewegung oder der sozialistischen Politik verbunden. Auch wenn die New Left Review sich in den Einflußbereich der Vierten Internationale begab, gelang es ihr, sich als die wichtigste Zeitschrift einer neuen Generation angelsächsischer Marxisten zu etablieren.

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In der Praxis waren diese »Neuen Linken« trotz ihrer intellektuellen Produktivität fast völlig unbedeutend. Sie reformierten weder die Labour Party (der sie ambivalent gegenüberstanden) noch die KPGB (wie es in Schweden geschah). Sie brachten weder neue Parteien der Linken hervor (wie in Dänemark) noch dauerhafte neue Organisationen von Bedeutung oder auch nur einzelne nationale Anführer. Thompson selbst wurde schließlich als Wortführer der Bewegung für atomare Abrüstung landesweit berühmt, doch obwohl die CND (Campaign for Nuclear Disarmament), die mit Abstand wichtigste Bewegung der britischen Linken nach 1945, etwa zur selben Zeit (1958) gegründet wurde, hatte sie nichts mit der Krise der Kommunistischen Partei zu tun. In mancher Hinsicht symbolisiert die kurze Episode des »Partisan Coffee House« die Verbindung aus Ideologie, fehlendem Sinn für das Praktische und sentimentaler Hoffnung der frühen »Neuen Linken« nach 1956. Wie so manches andere war es das geistige Produkt von Raphael Samuel, der sich neben Edward Thompson, einem weiteren und größeren geborenen Romantiker, als originellster Einfluß innerhalb der ehemaligen KP-Intellektuellen herausstellte. Jeder, der Samuel während seines leidenschaftlichen Lebens kannte, das durch eine Krebserkrankung frühzeitig beendet wurde, hat genau dieselben Erinnerungen an ihn: ein schmales, begeistertes Gesicht mit sanften, wachen Augen unter einem Wasserfall von später immer schütterer werdendem schwarzem Haar, stets allein unterwegs, wobei er ein Konvolut von Notizen und Heftern überallhin mit sich trug, aus dem er Mühe hatte, jeweils das richtige Papier herauszufischen. Alles, was er je publizierte, war Teil einer unendlichen, allumfassenden Arbeit, die nie fertig wurde. Er schaffte es nicht, sich zwischen den vielen interessanten Themen der (überwiegend) britischen Vergangenheit zu entscheiden, weshalb er auch mit seiner Doktorarbeit nicht weit kam, die ich durchsehen sollte – wenn ich mich recht erinnere, ging es um irische Arbeiter im viktorianischen London –, sowenig wie mit allen anderen Projekten. Nicht ungewöhnlich für einen so eingefleischten Aktivisten, fand er seinen Platz im Ruskin College, wo er Gewerkschafter in Hörweite der meist gleichgültigen Dons der Universität Oxford schulte. Seine Geschichte hatte weder eine Struktur noch Grenzen. Es war ein endloser und erstaunlich kenntnisreicher Streifzug durch die wundervollen Landschaften, durch die Erinnerung und das Leben einfacher Menschen, mit einem gelegentlichen intellektuellen Schlenker, wenn sich unterwegs ein besonders faszinierender Anblick darbot. Dieser quirlige Vagabund, die absolute Negation einer planenden und ausführenden Effizienz, trug in seinem Innern eine geballte La-

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dung Energie, eine unerschöpfliche Fähigkeit, Ideen und Initiativen zu produzieren und vor allem andere Leute dazu zu bringen, sie in die Tat umzusetzen. Die Universities and Left Review war eine davon, die »History Workshop«-Bewegung, aus der das History Workshop Journal hervorging, der einflußreichste Sammelplatz der postmarxistischen Linken, eine weitere. Das »Partisan Coffee House« war eine dritte. Mit zwei Generationen jüdischer revolutionärer Marxisten aus Osteuropa hinter sich träumte er davon, an die Stelle des stalinistischen Autoritarismus der Partei eine unbeschwerte kreative Mobilisierung politischer Köpfe zu setzen, und was für ein Ort wäre dafür besser geeignet gewesen als ein Café? Nicht eines dieser neobarocken Schnellcafés, die damals in den Nebenstraßen des West Ends mit den gerade populären Gaggia-Espressomaschinen aufkamen, sondern ein echtes Soho-Café, in dem die Besucher theoretische Fragen erörtern, Schach spielen, Apfelstrudel essen und in einem Hinterzimmer politische Versammlungen abhalten konnten, wie auf dem Kontinent in den alten Tagen, als die Welt noch in Ordnung war. Die Erlöse aus dem Café würden die Review tragen, deren Arbeitsräume darüber liegen würden. Das »Partisan« würde sowohl den neuen Geist der Politik als auch den neuen Geist der Künste zum Ausdruck bringen. Entworfen würde es von den avantgardistischen jungen Architekten der Zeit, die – das war doch sicher – an dem Projekt Gefallen finden würden. Ich weiß nicht mehr, ob auch Jazz-Sessions zu diesem Traum gehörten – wahrscheinlich eher Folk. Um seine Seriosität deutlich zu machen (und vielleicht die Unterstützung der älteren Generation zu gewinnen), sollten einige geeignete Persönlichkeiten der Linken ein Direktorium bilden. Ich selbst habe mich gegen mein besseres Urteil zu einem solchen Posten überreden lassen. Außer einem renommierten Architekten und ehemaligen KP-Mitglied im Tweedanzug mit einem Haus in Keats Grove kann ich mich an keinen weiteren erinnern. Raph selbst nahm keinerlei Notiz von uns. Im Rückblick erscheint es unglaublich, daß dieses verrückte Projekt über sein Anfangsstadium hinausgelangt ist. Und doch war es so. Selbst Raphaels Genie als Verkäufer hätte die erforderliche große Summe nicht ohne den vorherigen Zusammenbruch des sogenannten »Business Branch« der Kommunistischen Partei aufgebracht, mit dessen Einkünften bisher ein Großteil der Ausgaben der Partei gedeckt wurde. Bis 1956 bildeten seine Mitarbeiter eine feste Bastion linientreuer Orthodoxie, die eingeladene Parteiredner (in diesem Fall mich, als ich einmal dort gesprochen hatte) bat, bei ihnen Vorträge über Themen wie »Die Pariser Kommune von 1871« zu halten. Inzwischen wohlhabend und zum

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Teil sogar sehr reich geworden, waren diese überwiegend jüdischen Bewohner des East Ends, die während der antifaschistischen Ära für die Partei angeworben worden waren, zutiefst schockiert über die Enthüllungen dessen, was den Juden der UdSSR während Stalins letzter Jahre angetan worden war. Jeder, der das »Partisan« unterstützte, mußte gewußt haben, daß hier keine seriöse Geschäftsidee zugrunde lag, aber etwas an der Jugend und der reinen idealistischen Zuversicht Raphs mußte die Menschen in mittleren Jahren, deren moralisches Universum in Trümmer gegangen war, angesprochen haben. Irgendwie bekam Raph das Geld zusammen, ein Haus in der Carlisle Street in Soho mit Blick auf Marx’ alten Wohnsitz in der Dean Street wurde gekauft oder gemietet und das »Partisan Coffee House« eingerichtet. Es war ein Plan, der scheitern mußte. Die damalige Mode unter Architekten bevorzugte karge Innenräume, die wie Wartesäle in Bahnhöfen anmuteten. Diese lockten nicht nur die heruntergekommeneren Gammler und die Randexistenzen von Soho an, die in Lokalen mit etwas gewählterer Ausstattung weder willkommen waren noch sich von diesen angezogen fühlten, sondern auch die städtische Polizei bei ihren Drogenrazzien. Die großen, teuren Tische und die würfelförmigen klobigen Sessel waren dazu gedacht, daß man dort Referate schreiben und lange Debatten über die richtige Taktik führen konnte, während der Platz für zahlungskräftige Gäste, die dort auch etwas hätten verzehren können, auf ein Mindestmaß beschränkt war. Jedenfalls achtete die Leitung des Cafés nicht besonders darauf, die Einnahmen zu überprüfen und Buch zu führen. Kurzum, auch wenn Raphael versuchte, das alles dem zunehmend trübsinniger werdenden Direktorium gegenüber wegzuerklären, mußte das Café nach zwei Jahren aufgeben. Nur Nostalgie und die Notwendigkeit, den Kontakt zwischen den beiden Generationen der Linken vor 1956 und nach 1956 zu erhalten, können erklären, warum ich mich auf dieses wahnwitzige Unternehmen eingelassen habe. Andererseits war es nicht aussichtsloser als die verschiedenen anderen Unternehmungen der ehemaligen KP-Genossen, die 1956/57 aus der Partei austraten. Ähnlich wie das »Partisan Coffee House« sind die politischen Projekte der »Neuen Linken« von 1956 heute nur noch eine weitgehend vergessene Fußnote. Auf der intellektuellen Ebene hinterließ das Jahr 1956 wesentlich deutlichere Spuren – nicht zuletzt den nachhaltigen Einfluß von E.P. Thompson, der im Arts and Humanities Citations Index (1976-1983) als einer der 100 meistzitierten Autoren des 20. Jahrhunderts auf allen vom Index erfaßten Gebieten geführt wurde. Vor 1956 war er im Grunde nur innerhalb der KP bekannt, in der er die Jahre nach seiner

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Rückkehr aus dem Krieg als ein brillanter, gutaussehender, leidenschaftlicher und rednerisch begabter Aktivist in Yorkshire verbracht hatte, außerdem bei seinen erwachsenen Schülern, die ihn als einen »großgewachsenen, etwas schlaksigen Burschen« mit überschäumender Energie kannten, der Gedichte von William Blake interpretierte.12 Denn seine ursprüngliche Leidenschaft galt der Literatur und nicht der Geschichte als solcher, auch wenn er am Rande bei der Historikergruppe teilnahm. Es waren die Ereignisse von 1956, die ihn primär zum Historiker machten. Sein späterer Ruhm beruhte in der Hauptsache auf seinem Buch The Making of the English Working Class (1963*), ein 848 Seiten starker historischer Vulkan in der Entladung, der selbst von der Welt der Fachhistoriker sogleich als bedeutendes Werk anerkannt wurde und junge radikale Leser auf beiden Seiten des Atlantiks und wenig später auch europäische Soziologen und Sozialhistoriker auf dem Kontinent in seinen Bann schlug. Und das trotz der fast provozierend kurzen behandelten Zeitspanne und des enggefaßten, rein auf England – und nicht einmal auf Großbritannien – beschränkten Gegenstandes. Nachdem er aus dem Käfig der alten Parteiorthodoxie ausgebrochen war, ermöglichte ihm dieses Buch auch, sich einer kollektiven Debatte mit anderen bislang isolierten Denkern der alten wie der neuen Linken anzuschließen, von denen einige ebenfalls in der Erwachsenenbildungsbewegung verankert waren, vor allem die zweite bedeutende Persönlichkeit der ersten »Neuen Linken«, der Literaturwissenschaftler Raymond Williams. Thompson verfügte in der Tat über außergewöhnliche Gaben, nicht zuletzt über die Art augenfälliger »Starqualitäten«, die dazu führten, daß alle Augen sich auf sein zunehmend verwittertes attraktives Äußeres richteten, sobald er einen Raum betrat. In seiner »Arbeit verbanden sich Leidenschaft und Intellekt, die Gaben des Dichters, des Erzählers und des Analytikers. Er war der einzige Historiker, den ich kannte, der nicht nur Talent, Brillanz, Gelehrsamkeit und die Gabe des Schreibens besaß, sondern . . . ›Genie im traditionellen Sinne des Wortes‹«13, und das um so offensichtlicher, als er dem romantischen Bild des Genies im Aussehen, Leben und Werk entsprach – besonders vor dem passenden Hintergrund der Waliser Berge. Kurzum, es war ein Mann, über den die Feen bei der Geburt alle denkbaren guten Gaben ausgeschüttet hatten, bis auf zwei. Die Natur * Eine deutsche Übersetzung erschien erst ein knappes Vierteljahrhundert später: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, 2 Bde., Frankfurt 1987 (A.d.Ü.).

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hatte vergessen, ihn mit einem eingebauten Redakteur und einem eingebauten Kompass zu versehen. Und bei all seiner Wärme, seinem Charme, Humor und seiner Besessenheit ließ sie ihn in mancher Hinsicht unsicher und verletzlich. Wie so viele seiner anderen Werke hatte The Making of the English Working Class als erstes Kapitel eines kurzen Lehrbuchs begonnen, in diesem Fall über die Geschichte der britischen Arbeiter von 1790 bis 1945, und war dann seiner Kontrolle entglitten. Seine Arbeit an den bemerkenswerten Studien zur Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, mit denen er begonnen hatte, nachdem The Making ihn vorübergehend zu einem orthodoxen Akademiker gemacht hatte – was seinem Stil nicht entsprach –, brach er nach wenigen Jahren ab. Statt dessen stürzte er sich in einen jahrelangen theoretischen Kampf gegen den Einfluß eines französischen Marxisten, des verstorbenen Louis Althusser, der einige der gescheitesten Köpfe der damaligen jungen Linken anregte. Am Ende der siebziger Jahre richtete er seine ganze Energie auf die Antiatombewegung, zu deren nationalem Star er wurde. Er kehrte nicht mehr zur Geschichte zurück, bis er zu krank war, um seine begonnenen Projekte abzuschließen. 1993 starb er in seinem Garten in Worcestershire. Keinen Wissenschaftler konnte man dafür tadeln, daß er das Schreiben zu Beginn der achtziger Jahre für eine Kampagne gegen die Atomkraft aufgab, seine Auseinandersetzung mit Althusser war dagegen nicht so leicht zu rechtfertigen. Ich sagte ihm damals, es sei fast ein Verbrechen von ihm, seine möglicherweise epochemachende historische Arbeit liegenzulassen, um sich an einem Denker abzuarbeiten, der in zehn Jahren keinen Einfluß mehr haben würde. Und tatsächlich hatte Althusser schon damals innerhalb des französischen Milieus der »Marxisants« sein Verfallsdatum fast erreicht. Auch wenn er zu seiner Zeit dazu beitrug, die theoretische Debatte auf der Linken zu eröffnen, denkt man bei seinem Namen heute weniger an den Philosophen, sondern an den Mann mit seinem tragischen Lebensweg. Er war ein manisch-depressiver Mensch, der eines Tages seine Frau umbringen sollte. Doch das war damals nicht vorhersehbar, auch wenn Althusser in seinen manischen Phasen für die Menschen in seiner Umgebung schon etwas höchst Verwirrendes haben konnte. Kurz vor der Tragödie kam er nach London, offiziell zu einem Seminar am University College, inoffiziell um Unterstützung für eine haarsträubend verrückte Initiative zu werben, an der Marxism Today und ich mich beteiligen sollten. Sein Gastgeber übergab ihn uns, nachdem er ihn eine Nacht bei sich beherbergt hatte, und Marlene kümmerte sich einen Vormittag lang um ihn, in dessen Verlauf ihn unser bescheidenes Instrument dazu

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anregte, in einem hiesigen Geschäft einen Flügel zu bestellen, der unbedingt nach Paris geliefert werden sollte. Als er von seinem nächsten Gastgeber abgeholt wurde, äußerte er ein unvermitteltes Interesse an einem Rolls-Royce (oder war es ein Jaguar?) im Schaufenster eines Autohändlers in Mayfair, den er unbedingt besuchen wollte. Es schien deutlich, daß eine Art mentales Motorrad in diesem brillanten Kopf mit Höchstgeschwindigkeit auf eine Todeswand zuraste. Die Wahrheit ist, daß Thompson zutiefst am Scheitern der »Neuen Linken« von 1956 litt. Keiner in der Generation der Exkommunisten versprach sich viel von der Labour Party. Die neue Generation der jungen Intellektuellen, zu denen er um keinen Preis den Kontakt verlieren wollte, bewegte sich in neue und für ihn nicht erstrebenswerte Richtungen. Empfanden sie wie er (und Raymond Williams) die moralische Stärke der britischen Arbeiterklasse? Der neue, theoretisch orientierte kontinentale Marxismus war seine Sache nicht, und hinter der neuen internationalen Studentenbewegung entdeckte er ein »irrationales«, »revoltierendes Bürgertum«. Er befand sich am äußeren Rand der Politik. Das kränkte ihn. Ich glaube, das war einer der Gründe, warum er sich mit solcher Leidenschaft in die Aktivitäten der Atomkraftgegner stürzte. Obwohl ich im Unterschied zu den meisten meiner Freunde in der KP blieb, war meine Situation als jemand, dessen politische Haltetaue durchschnitten waren, nicht wesentlich anders als ihre. In jedem Fall änderte sich nichts an meinen Beziehungen zu ihnen. Die Partei forderte mich auf, das zu ändern, aber ich weigerte mich. Sie entschieden sich vernünftigerweise dafür, mich nicht auszuschließen, doch das war ihre Entscheidung und nicht meine. Die Mitgliedschaft in der KP bedeutete für mich nicht mehr das, was sie seit 1933 bedeutet hatte. In der Praxis mauserte ich mich von einem Parteisoldaten zu einem Sympathisanten, oder anders ausgedrückt, von einem faktischen Mitglied der KP Großbritanniens im Geiste zu einem Mitglied der KP Italiens. Sie entsprach meiner Vorstellung vom Kommunismus weit mehr. (Meine Sympathien wurden von der italienischen KP erwidert.) In jedem Fall spielten die individuellen politischen Aktivitäten von keinem von uns noch eine Rolle. Wir hatten Einfluß als Lehrer, Wissenschaftler, politische Autoren oder bestenfalls als »öffentliche Intellektuelle«, und dafür war unsere Mitgliedschaft in einer Partei oder Organisation zumindest in England ohne Bedeutung, ausgenommen für Leute, die eine feste Meinung zur KP hatten. Wenn wir unter den jungen Linken Einfluß ausübten oder erwarben, so deshalb, weil unsere linke Vergangenheit und unser gegenwärtiger Marxismus oder un-

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sere Verpflichtung auf eine radikale Wissenschaft uns eine Art Respekt verschaffte, da wir über wichtige Fragen schrieben und ihnen das, was wir schrieben, gefiel. Unter dem Blickwinkel dieses jüngeren oder auch älteren Lesepublikums waren die ideologischen Unterschiede zwischen Thompson, Raymond Williams und Hobsbawm weniger wichtig als die Tatsache, daß alle drei zu den wenigen »Namen« gehörten – intellektuell anerkannten Denkern und Autoren –, die erkennbar der Linken zuzurechnen waren. Dennoch bleibt die Frage, warum ich anders als viele meiner Freunde und trotz stark abweichender Meinungen in der Partei geblieben bin. Im Lauf der Zeit mußte ich diese Frage immer wieder beantworten. Fast jeder Journalist, von dem ich interviewt wurde, hat sie mir gestellt, denn in unserer medienübersättigten Gesellschaft eine Person zu identifizieren geht am schnellsten anhand von einer oder zwei unverwechselbaren Besonderheiten: Bei mir bestehen sie darin, daß ich ein Professor bin, der den Jazz liebt und länger als die meisten anderen in der KP blieb. Ich habe – bald mehr, bald weniger ausführlich – im Grunde stets dieselbe Antwort gegeben.14 Sie war meine nachträgliche Rechtfertigung in späteren Jahrzehnten und ist nicht unbedingt identisch mit dem, was ich damals empfand. Diese Empfindungen lassen sich heute unmöglich rekonstruieren, auch wenn mich damals wie später die Vorstellung abstieß, mich in der Gesellschaft von Exkommunisten zu befinden, die deshalb zu fanatischen Antikommunisten wurden, weil sie sich nur dadurch vom Dienst an dem »Gott, der scheiterte«, befreien konnten, daß sie ihn dämonisierten. Von dieser Sorte gab es während der Ära des Kalten Krieges viele. Wenn ich heute zurückblicke und die Person, die ich 1956 war, als Historiker und nicht als Autobiograph sehe, gibt es meiner Ansicht nach zwei Dinge, die erklären können, warum ich in der Partei geblieben bin, obwohl ich natürlich einen Austritt erwogen hatte. Ich kam nicht als junger Engländer in England zum Kommunismus, sondern als Mitteleuropäer in Deutschland, als die Weimarer Republik in ihren letzten Zügen lag. Und ich kam zu ihm, als ein Kommunist zu sein nicht einfach nur Kampf gegen den Faschismus bedeutete, sondern die Weltrevolution. Ich gehöre noch zu den Schlußlichtern der ersten Generation von Kommunisten, zu denen, für die die Oktoberrevolution der zentrale Bezugspunkt im politischen Universum war. Der Unterschied in Herkunft und Lebensgeschichte war durchaus real. Er war für mich und für andere auch innerhalb der Partei nicht zu übersehen. Kein Intellektueller, der in England aufgewachsen war, konnte Kommunist werden und die Zeilen

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». . . in den Tagen, da die Himmel einstürzten, in der Stunde, da die Fundamente der Erde sich auflösten . . .«* ebenso empfinden wie ein Mitteleuropäer, da dies trotz aller bestehenden Probleme einfach nicht die Situation im England der dreißiger Jahre war. Doch in mancher Hinsicht war es sogar noch bedeutsamer, vor 1935 Kommunist geworden zu sein. Politisch gesehen – obwohl ich formell erst 1936 in die Kommunistische Partei eingetreten bin – gehöre ich zur Ära der antifaschistischen Einheits- und der Volksfront. Das bestimmt mein strategisches politisches Denken bis heute. Doch emotional gehörte ich – einer, der als Heranwachsender im Berlin von 1932 bekehrt wurde – zu der Generation, die eine fast unzerreißbare Nabelschnur mit der Hoffnung auf die Weltrevolution und ihrer Heimat, der Oktoberrevolution, verband, mochte ich der UdSSR auch noch so skeptisch oder kritisch gegenüberstehen. Für jemanden, der sich der Bewegung dort, woher ich kam, und zu der Zeit wie ich angeschlossen hatte, war es einfach schwerer, mit der Partei zu brechen, als für diejenigen, die später und woandersher kamen. Letzten Endes vermute ich, daß dies der Grund war, warum ich mir selbst erlaubt habe zu bleiben. Niemand hat mich gezwungen auszutreten, und die Gründe für einen Austritt waren einfach nicht stark genug. Doch – und hier spreche ich als Autobiograph und nicht als Historiker – ich darf ein persönliches Gefühl nicht vergessen: Stolz. Wenn ich das Handikap meiner KP-Zugehörigkeit abgestreift hätte, wäre dies meiner Karriere zugute gekommen, nicht zuletzt in den USA. Es wäre ein leichtes gewesen, sich in aller Stille zu verabschieden. Aber ich konnte mich vor mir selbst beweisen, wenn ich als bekannter Kommunist erfolgreich sein würde – was immer »Erfolg« bedeutete –, trotz dieses Handikaps und mitten im Kalten Krieg. Ich verteidige diese Form des Egoismus nicht, aber verleugne auch nicht ihre Macht. Also blieb ich.

* Aus einem Gedicht von Alfred Edward Housman (1859-1936), »Epitaph on an army of mercenaries«: »These, in the days when heavens were falling the hour the earth’s foundations fled, followed their mercenary calling and took their wages and are dead . . .« (A.d.Ü.)

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13 Wasserscheide

Es gibt Augenblicke in der Geschichte – die Ausbrüche der beiden Weltkriege zum Beispiel –, die wie Erdbeben oder Vulkanausbrüche erkennbar den Charakter von Katastrophen haben. Es gibt ähnliche Augenblicke im persönlichen Leben, oder zumindest hat es sie in meinem Leben gegeben, wie die vorangegangenen Kapitel zeigen. Wenn wir jedoch bei geologischen Metaphern bleiben wollen, dann gibt es auch andere Augenblicke, die sich am besten mit Wasserscheiden vergleichen lassen. Scheinbar ereignet sich nichts besonders Augenfälliges oder Dramatisches, doch nachdem man ein im übrigen nichtssagendes Gelände passiert hat, entdeckt man, daß man eine Epoche in der Geschichte oder im eigenen Leben zurückgelassen hat. Die Jahre auf beiden Seiten von 1960 – meine frühen und mittleren Vierziger – bildeten eine solche Wasserscheide in meinem Leben und vielleicht auch in der Sozial- und Kulturgeschichte der westlichen Welt, auf jeden Fall Englands.1 Es scheint mir ein geeigneter Augenblick, meine lange Wanderung durch das kurze 20. Jahrhundert zu unterbrechen, um einen Blick auf die Landschaft zu werfen. Die zweite Hälfte der fünfziger Jahre bildet eine eigenartige Zwischenphase in meinem Leben. Nach der Beendigung meines Fellowships am King’s College bezog ich wieder einen Dauerwohnsitz in Bloomsbury, eine sehr geräumige, teilweise dunkle Wohnung vollgestopft mit Büchern und Schallplatten und mit Blick auf den Torrington Place, die ich bis zu meiner Hochzeit 1962 nacheinander mit einer Reihe von Kommunisten oder exkommunistischen Freunden teilte: mit Louis Marks und Henry Collins von der Historikergruppe, dem alten marxistischen Literaturkritiker Alick West und dem spanischen Flüchtling Vicente Girbau León. Da die Wohnung zentral gelegen war und genügend Raum für Gäste hatte, zog sie auch Schlafgäste von außerhalb und andere vorübergehende Bekanntschaften an. Es machte offen gesagt schon mehr Spaß, als in einem Cambridge-College zu wohnen, auch wenn ich hier die schlimmsten Perioden der Krise des Kommunismus und den Verlust meiner politischen Wurzeln durchlebt habe. Die Wohnung hatte den zusätzlichen Vorteil, so nahe beim Birkbeck

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College zu liegen, daß ich nötigenfalls zwischen den Vorlesungen zu Fuß nach Hause gehen konnte. In London ließ sich gut leben. Das war das Umfeld, in dem ich die Wasserscheide passierte. Daß mein persönliches und berufliches Leben sich in diesen Jahren änderte, liegt auf der Hand. Inmitten aller Weltpolitik lernte ich eine in Wien geborene junge Frau im Ozelotmantel kennen. Wir verliebten uns. Sie war vor kurzem von dem vergeblichen Versuch der Vereinten Nationen zurückgekehrt, im Kongo einzugreifen, und ich stand im Begriff, in das Havanna Castros zu reisen. Marlene und ich heirateten während der Kubakrise 1962. Es war drei Jahre, nachdem ich meine ersten Bücher veröffentlicht hatte, und wenige Wochen bevor The Age of Revolution, 1789-1848 erschien. Beruflich hatte ich begonnen, mir einen gewissen internationalen Ruf zu erwerben und deshalb auch außerhalb meines gewohnten Bereichs während der fünfziger Jahre – Frankreich, die Iberische Halbinsel und Italien – zu reisen. In den sechziger Jahren begannen meine akademischen Reisen in die Vereinigten Staaten und nach Kuba, ich entdeckte Lateinamerika, das ich in den folgenden Jahren erkundete, fand mich in Israel und Indien und kehrte in das Mitteleuropa zurück, das ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte. Darüber hinaus begann ich zu bemerken, daß ich nicht mehr in der ständigen Erwartung seismischer Katastrophen lebte, wie Mitteleuropäer es in den Tagen meiner Jugend getan hatten. Ich stellte fest – ich weiß jedoch nicht mehr genau wann –, daß ich mich in einem zeitlichen Rahmen von Jahrzehnten und nicht mehr von Jahren oder gar Monaten bewegte wie vor 1945. Ich habe die grundlegenden Vorsichtsmaßnahmen des potentiellen Flüchtlings, die Menschen wie ich, ob als Juden oder als Kommunisten, zu beachten gelernt haben, um sich gegen die plötzlichen Wechselfälle des wirtschaftlichen und politischen Lebens zwischen den Kriegen zu schützen, nicht bewußt aufgegeben: ein gültiger Paß, eine ausreichende Menge an sofort verfügbarem Geld, um von einem Augenblick zum nächsten eine Fahrkarte in das schon zuvor gewählte Land der Zuflucht zu kaufen, eine Lebensweise, die einen schnellen Aufbruch ermöglichte, und eine ungefähre Vorstellung von dem, was man mitnehmen würde, wenn es soweit war. Als ich kurz nach der Heirat mit Marlene und mitten in der Kubakrise im Oktober 1962 ins Ausland reisen mußte, reagierte ich denn auch entsprechend. Ich traf einige finanzielle Vorkehrungen und eine provisorische Verabredung mit Marlene in Buenos Aires, wo ich in ein bis zwei Wochen erwartet wurde, falls die Dinge sich zu sehr zuspitzen sollten, und ließ für sie genügend Geld für den Flug zurück. Andererseits stand zwar außer Frage, daß die Kubakrise für die Welt

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eine Sache auf Leben und Tod war, aber ich kann eigentlich nicht mit einem atomaren Weltkrieg gerechnet haben, weil ich sonst vernünftigerweise Marlene wahrscheinlich sofort mitgenommen hätte, zumindest um uns beide aus der unmittelbaren Schußlinie zu bringen. Wäre es zum Schlimmsten gekommen, dann wäre Südamerika zuletzt davon betroffen gewesen. Ich ließ mich damals schon von der Annahme leiten, daß die Gefahr für die Welt nicht von den globalen Ambitionen oder der Aggressivität der USA ausging (die UdSSR war für beides zu schwach), sondern von den mit den Politikern und Generälen auf beiden Seiten verbundenen Risiken, da diese ein nukleares Spiel spielten, bei dem sie zwar wußten, daß jeder Zug reiner Selbstmord wäre, das ihnen jedoch leicht außer Kontrolle geraten konnte. Tatsächlich wissen wir heute, daß genau dies die Lehre war, die Kennedy und Chruschtschow, von denen keiner einen Krieg wollte, aus der Kubakrise von 1962 zogen. Kurzum, was mich betraf, so war der Kalte Krieg ab 1960 zwar nicht vorbei, aber seine Gefährlichkeit hatte drastisch abgenommen. Was die langfristige Planung anging, so kann niemand, der frisch verheiratet ist, sie umgehen, selbst wenn er oder sie es wollten. Ich war bereits einige Jahre früher gezwungen, mich mit dem Problem zu befassen, als ein Kind aus einer früheren Beziehung unterwegs war – der Halbbruder Joshua meiner Kinder –, und nur die Weigerung der betroffenen Frau, ihren Mann zu verlassen, hatte es aus meinem Leben in das Leben anderer versetzt. Mitte der sechziger Jahre war ich der Vater von Andy und Julia, erstmaliger Eigentümer eines Kleinwagens, in dem ich sie zu einem Ferienhäuschen in Nordwales fuhr, und erstmaliger [Mit-]Eigentümer eines großen Hauses in einem bislang nur rudimentär sanierten Teil von Clapham. Wir hatten es gemeinsam mit dem schweigsamen Alan Sillitoe und seiner Frau, der Lyrikerin Ruth Fainlight, erworben und von einem Freund, einem Architekten, in zwei Hälften aufteilen lassen. »Hat er im Lotto gewonnen oder was?« wurde Marlene vom Zeitungshändler um die Ecke gefragt, da er in jenen Tagen der Vollbeschäftigung nicht verstehen konnte, womit sich ein offensichtlich gesunder und solide wirkender junger Mann beschäftigte, der nicht morgens zur Arbeit ging und abends nach Hause kam wie alle anderen Männer. Obwohl Sillitoe ein mindestens ebenso besessener Workaholic war wie die meisten Schriftsteller, war die Frage nicht völlig absurd: Tatsächlich hatte er Samstag nacht und Sonntag morgen und Die Einsamkeit des Langstreckenläufers geschrieben, Bücher, die aufgrund ihrer Meriten und des enormen Ausbaus der weiterführenden Schulen zwei von diesen zeitgenössischen Klassikern wurden, die

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als vorgeschriebener Prüfungsstoff für den Erwerb der mittleren Reife und des Abiturs einen dauerhaften Zustrom von Tantiemen gewährleisten. Er konnte es sich leisten, von seinen Büchern zu leben, und entging dadurch der Tretmühle des freiberuflichen Journalismus. Ich selbst schrieb zwar auch zu Hause, entsprach jedoch der Norm, denn ich fuhr mit der Northern Line zur Arbeit am Birkbeck College und kam von dort spätabends nach Hause zurück. Andererseits fiel ich insofern aus dem Rahmen, als ich keine Begeisterung für die Gartenarbeit zeigte und im Unterschied zu den karibischen Elektrikern und Transportarbeitern in der kurzen Straße, die vor unserer Vordertür zur Wandsworth Road führte, den Sonntagvormittag nicht damit verbrachte, unseren Wagen zu waschen. Ich befand mich offenbar auf dem besten Weg zu einem alltäglichen Leben von akademischer und bürgerlicher Ehrbarkeit. An diesem Punkt geschieht außer Reisen nicht mehr viel Taugliches für eine Autobiographie, außer im Kopf des Schreibers oder den Köpfen anderer Leute. Das gilt übrigens auch für die Protagonisten von Biographien, wie Generationen von Autoren, die über das Leben großer Geister geschrieben haben, zu ihrem Leidwesen erfahren mußten. Wie überragend auch die Leistung Charles Darwins war, nachdem er von der Reise mit der Beagle heimgekehrt war und geheiratet hatte, gibt es über die materiellen Ereignisse in seinem Leben während seiner letzten 40 Jahre nicht viel mehr zu sagen, als daß er »diese Zeit in Down, Kent, als Gutsbesizer verbrachte«2, und man kann bestenfalls noch über die Gründe für seinen schlechten Gesundheitszustand spekulieren. Das Leben des angesehenen Wissenschaftlers ist nicht erfüllt von beruflichen Dramen, oder vielmehr, seine Dramen sind wie die der Ämterpolitik nur für diejenigen von Interesse, die unmittelbar davon betroffen sind. Desgleichen ist zwar jedes Familienleben voll von dramatischen Spannungen, vor allem wenn zwischen Eltern und ihren pubertierenden Kindern allerlei Konflikte aufbrechen, doch Dritte, wie die Leser von Biographien, werden in der Regel vom im Innern anderer Familien tobenden Drama des Lebens weniger in Atem gehalten als vom eigenen. Das Szenario ist vertraut. So bilden die Jahre um 1960 nicht nur in meinem Leben, sondern auch im Aufbau dieser Autobiographie eine Wasserscheide. Doch Privatleben sind in den umfassenderen Umständen der Geschichte verankert. Der wirkungsvollste unter ihnen war das unerwartete materielle Glück jener Zeit. Es näherte sich meiner Generation unmerklich und traf uns unverhofft, vor allem die Sozialisten unter uns, die nicht darauf vorbereitet waren, eine Ära des spektakulären ka-

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pitalistischen Erfolgs zu erleben. Spätestens in den frühen sechziger Jahren war dieser Erfolg kaum mehr zu übersehen. Ich kann nicht sagen, daß wir »das Goldene Zeitalter«, wie ich es in meinem Zeitalter der Extreme nannte, als solches erkannt hätten. Das wurde erst nach 1973 möglich, als es vorbei war. Wie alle anderen sind auch Historiker hinterher am klügsten. Dessenungeachtet bestand im England der frühen sechziger Jahren für meine Generation, das heißt für die breite Masse derer, die bei Kriegsende in den Zwanzigern waren, kein Zweifel mehr, daß wir ein weit besseres Leben führten, als wir jemals in den dreißiger Jahren erwartet hätten. Wer von uns denjenigen sozialen Schichten angehörte, deren männliche Angehörige erwarteten, »Karrieren« vor sich zu haben statt einfach nur »zur Arbeit zu gehen« (damals beteiligten sich noch nicht viele Frauen an diesem Spiel), der entdeckte, daß es uns um einiges besser, manchmal sogar beträchtlich besser ging als unseren Eltern, vor allem wenn wir mehr Prüfungen bestanden hatten als sie. Zugegeben, das galt nicht für zwei Gruppen unserer Generation: diejenigen, deren Karrieren ihren Höhepunkt während des Krieges erreicht hatten und die dorthin von den Niederungen des zivilen Nachkriegslebens mit Wehmut zurückblickten, und die Angehörigen der etablierten oberen Schichten, deren Eltern als Gruppe schon früher ebensoviel Wohlstand, Privilegien, Macht oder berufliches Ansehen genossen wie ihre Kinder aller Wahrscheinlichkeit nach erben oder erreichen würden. Manche mochten sich sogar als ewige zweite Wahl sehen, wenn sie in die Berufsfelder gingen, in denen ihre Väter ungewöhnlich erfolgreich gewesen waren – Politik, Wissenschaft, die alten freien Berufe oder was immer. Wer hat nicht den Politikersohn bedauert, der nie aus dem Schatten seines Vaters trat – Winston und Randolph Churchill sind das klassische Beispiel –, oder die ordentlichen, aber mittelmäßigen Naturwissenschaftler, deren Väter Fellows der Royal Society oder Nobelpreisträger waren? Wie jedem Akademiker, der in Cambridge studiert hat, sind mir etliche solche Fälle bekannt. Doch für die meisten von uns war das Nachkriegsleben eine Rolltreppe, die uns ohne besondere Anstrengungen höher trug, als wir jemals erwartet hatten. Selbst Leute wie ich, deren berufliches Fortkommen durch den Kalten Krieg ungewöhnlich stark verzögert wurde, kamen auf der Treppe weiter. Natürlich lag das zum Teil an meinem historischen Glück, in die akademische Zunft zu einer Zeit eingetreten zu sein, als sie noch ziemlich klein und ihr Status hoch war, und infolgedessen nach den Maßstäben, die von den benthamitischen, liberalen und fabianistischen Reformern für den öffentlichen Dienst der viktorianischen und edwardianischen Ära gesetzt worden waren, ziemlich gut

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bezahlt zu werden. Denn auch wenn die Universitätslehrer in England im Unterschied zu anderen europäischen Ländern keine Beamten waren, so standen sie doch unter dem Schutz des Staates. Er stellte die Mittel für die gemeinsame Fünfjahresplanung der Universitäten bereit und wurde dennoch auf Distanz gehalten. Solange der akademische Stand klein blieb und die Ideologie des freien Marktes in Schach gehalten wurde, stand fest, daß das Gehalt wie der Status eines durchschnittlich erfolgreichen Lehrbeauftragten auf einem ähnlich hohen Niveau blieb wie das eines durchschnittlich erfolgreichen Beamten im höheren Dienst: keine unfaßlichen Reichtümer, aber genug für ein anständiges bürgerliches Auskommen. Die Kosten waren noch bescheiden, zumindest in den Augen der fortschrittlich Denkenden, die ihre Kinder auf staatliche Schulen schicken wollten und noch keinen Grund sahen, dies nicht zu tun. Der Sozialstaat begünstigte die bürgerlichen Schichten im Vergleich stärker als die Arbeiter. Es war die Zeit, als Menschen wie ich es weitgehend aus prinzipiellen Gründen – und noch nicht entmutigt durch praktische Erfahrungen mit dem National Health Service – ablehnten, eine Krankenversicherung abzuschließen. Häuser blieben erschwinglich bis zum Boom der frühen siebziger Jahre, und ihre Wertsteigerung verhalf uns zu einem automatischen Bonus. Kurz bevor die Immobilienpreise in astronomische Höhen schossen, war es möglich, ein Haus in Hampstead für knapp unter 20 000 Pfund brutto oder (unter Berücksichtigung des Gewinns beim Verkauf des bisherigen Hauses) 7000 Pfund netto zu erwerben. All denen, die früh heirateten und Kinder hatten, standen zweifellos ein paar relativ knappe Jahre bevor, mit Ferien auf Campingplätzen und einer Plackerei, um sich ein paar Pfund nebenher zu verdienen. Doch ein zunächst kinderloser Hochschullehrer wie ich, der die universitäre Stufenleiter schon zur Hälfte erklommen und sich erst in seinen Vierzigern wiederverheiratet hatte, stand bei der Ernährung einer Familie von keinen echten Problemen. Tatsächlich kann ich mich nicht erinnern, daß mein Bankkonto je überzogen gewesen wäre. Wenn doch Probleme auftraten, wurden sie durch steigende Einkünfte aus Tantiemen und aktuellen literarischen Tätigkeiten gemildert, die um 1960 allerdings noch wenig zu meinem Einkommen beitrugen. Die Generationen, die vor dem Krieg ins Erwachsenenalter eingetreten waren, konnten ihre Nachkriegsexistenz mit dem Leben ihrer Eltern oder den eigenen Vorkriegserfahrungen vergleichen. Vor allem, wenn sie sich bereits den immergleichen Anforderungen gegenübersahen, die bei der Versorgung einer Familie auftreten, war es für sie nicht ohne weiteres zu erkennen, daß ihre Lage in der neuen »Über-

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flußgesellschaft« des Westens nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ anders war als in der Vergangenheit. Schließlich änderten auch die neuen Technologien nichts Grundlegendes an der täglichen Hausarbeit, sie machten sie nur leichter. Einmal verheiratet, waren die Ehepartner die meiste Zeit damit beschäftigt, Geld zu verdienen und sich um die Kinder, das Haus und den Garten, die Wäsche und den Abwasch zu kümmern. Nur die Jüngeren und Mobilen konnten alle Möglichkeiten einer Gesellschaft wahrnehmen und nutzen, die ihnen zum ersten Mal genügend Geld in die Hand gab, um das zu kaufen, was sie brauchten, genügend Zeit, um das zu tun, wonach ihnen der Sinn stand, oder sie in anderer Weise von der Familie unabhängig zu machen. Jugend war der Name der geheimen Zutat, die die Konsumgesellschaft und die westliche Kultur revolutionierte. Das zeigt sich besonders eindrücklich am Aufstieg des Rock ’n’ Roll, einer Musik, deren Anhänger fast ausschließlich Teenager oder Twens oder in dieser Altersphase zu ihr bekehrt worden waren. Der Schallplattenumsatz in den USA stieg von 277 Millionen Dollar im Jahr 1955, dem Geburtsjahr des Rock ’n’ Roll, auf über 2 Milliarden Dollar im Jahr 1973, von denen 75 bis 80 Prozent auf Rockmusik und verwandte Stilrichtungen entfielen. Ich gehöre ganz gewiß nicht zur Rockgeneration. Dennoch hatte ich das Glück, bei der Geburt dieser Generation in England dabeizusein und sie auch als solche zu erkennen. Denn wie die Dinge lagen, bildete in diesem Land eine bestimmte Stilrichtung des Jazz eine Brücke zwischen den älteren Formen jugendlicher Unterhaltungsmusik und der Rockrevolution. Als 1955 mein Fellowship am King’s College auslief und ich nach London zurückkehrte, um dort dauerhaft zu leben, wollte es der Zufall, daß ich beruflich mit Jazzmusik zu tun hatte. Da ich jetzt in London Miete zahlen mußte, nachdem ich jahrelang im College mietfrei gewohnt hatte, sah ich mich nach möglichen Nebenverdiensten um. Etwa zu dieser Zeit kam das Londoner Kulturestablishment, aufgeschreckt durch die Herausforderung der »zornigen jungen Männer« der fünfziger Jahre, auf die Idee, dem Jazz, für den diese sich offenbar begeisterten, seine besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Der Observer hatte einen der ›Zornigen‹, Kingsley Amis, als Jazzkritiker angestellt. Er befand sich bereits auf dem Weg von einer linksorientierten Jugend zu einem konservativen gesetzten Alter, war jedoch noch ein ganzes Stück weit entfernt von der Rolle des reaktionären Klub-Schwätzers, in die er sich später begeben sollte. Da ich mich seit den frühen dreißiger Jahren den eingeweihten Jazzexperten unterlegen gefühlt hatte, war ich mir zwar bewußt, daß mir hierzu die Qualifikation fehlte, aber ich hatte keinerlei Zweifel, daß ich von die-

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sem Gebiet mindestens ebensoviel verstand wie Kingsley Amis und schon viel länger als er damit vertraut war. Deshalb überzeugte ich Norman Mackenzie, einen ehemaligen Genossen aus der Zeit an der LSE, der inzwischen beim New Statesman arbeitete, daß sie dort auch einen Jazzkritiker bräuchten. Die Zeitschrift erlebte damals eine Glanzzeit unter ihrem großartigen Chefredakteur Kingsley Martin, der zwar für Jazz weder Verständnis noch Interesse aufbrachte, dem es jedoch einleuchtete, daß man die Leser über diese neue Kulturmode auf dem laufenden halten mußte, zumindest in Form einer regelmäßigen monatlichen Kolumne. Er wies mich darauf hin, daß ich beim Schreiben meiner Artikel stets den idealtypischen Leser der Zeitschrift vor Augen haben müsse, nämlich einen Beamten zwischen 40 und 50 Jahren, und übergab mich an die damalige Leiterin der Kulturredaktion, die vortreffliche Janet Adam Smith, die fast alles über Literatur und Bergsteigen und eine Menge über die übrigen Künste wußte, aber nichts über Jazz. Da ich die Personen des Universitätslehrers und des Jazzkritikers getrennt halten wollte, schrieb ich in den nächsten rund zehn Jahren unter dem Pseudonym Francis Newton, nach Frankie Newton, einem der wenigen Jazzmusiker, von denen bekannt ist, daß sie Kommunisten waren: ein exzellenter, wenn auch kein Superstar-Trompeter, der mit Billie Holiday auf der unvergeßlichen Session von Commodore Records gespielt hat, bei der »Strange Fruit« aufgenommen wurde. Jazz ist nicht einfach nur »ein bestimmter Musiktypus«, sondern »ein bemerkenswerter Aspekt der Gesellschaft, in der wir leben«3, ganz abgesehen von seiner Rolle in der Unterhaltungsindustrie. Außerdem war von den wenigsten Lesern des New Statesman zu erwarten, daß sie Jazzkonzerte besuchten oder Platten von Thelonius Monk kauften, auch wenn ich zu meinem großen Vergnügen beobachten konnte, daß die zweite Hälfte der fünfziger Jahre ein neues Goldenes Zeitalter für diese Musik waren. Ihre amerikanischen Stars kamen jetzt nach England, nachdem sie wegen eines Streits ihrer Gewerkschaften 20 Jahre von der Insel ferngehalten worden waren. Deshalb schrieb ich nicht nur als Kritiker von Konzerten, Schallplatten und Büchern, sondern auch als Historiker und Reporter. Hinzu kam, daß ich sehr bald (wahrscheinlich durch meinen Cousin Denis) mit dem kleinen, aber im kulturellen Trend liegenden Verlag McGibbon and Kee ins Gespräch kam – er wurde damals von einem launischen millionenschweren Anhänger der Labour Party finanziert, Howard Samuel, der bereits Bücher von Humphrey Lyttelton, dem vermutlich einzigen Jazzbandleader, der Eton besucht hatte, und von Colin MacInnes herausgebracht hatte, dem schwierigen, einsamen und ruhelosen sozialen Beobachter Londons in

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den fünfziger Jahren; ein intimer Kenner des neuen schwarzen Londons und der Anfänge der musikgesättigten Teenagerkultur. Sie wollten, daß ich ein Buch über den Jazz schriebe. Es erschien 1959 unter dem Titel The Jazz Scene, im selben Jahr wie mein erstes Geschichtsbuch, und wurde freundlich aufgenommen, auch wenn es sich nicht besonders gut verkaufte.4 Das ermutigte mich, die Szene systematischer zu erkunden. Das war nicht schwer, denn mindestens einige der Jazzliebhaber der frühen dreißiger Jahre waren als Agenten oder Konzertveranstalter ins Musikgeschäft eingestiegen, nicht zuletzt auch mein Cousin Denis, der im Begriff stand, sich auf dem Gebiet des einheimischen Jazz und der Ethnomusik als der vermutlich führende britische Schallplattenproduzent zu etablieren. Tatsächlich stieg sein Glücksstern mit dem der Künstler, die er herausbrachte, etwa Lonnie Donegan, dessen »Rock Island Line« (ein Gefangenenlied, das ursprünglich von dem unvergeßlichen Leadbelly aufgenommen worden war) in die große Zeit im Frühjahr 1956 hineinplatzte. Zum Glück war auch ich damals noch unverheiratet, und da ich an einer Abendschule unterrichtete, deren Veranstaltungen nicht vor sechs Uhr begannen, konnte ich mich dem Lebensrhythmus der Nachtschwärmer anpassen, die die Unterhaltungsetablissements bevölkerten. Außerdem wohnte ich in Bloomsbury, von wo aus die einschlägigen Lokale im West End innerhalb weniger Minuten zu Fuß erreichbar waren. So kam es, daß ich ohne Schwierigkeiten in meine gewohnte Rolle als »teilnehmender Beobachter« oder Kiebitz schlüpfte. Die Jazzer waren keineswegs Teenager. Und dennoch zeigen sowohl meine damalige Skizze des Publikums der traditionellen Jazz- und Skifflemusik und Roger Maynes Fotografien für die erste Auflage von The Jazz Scene deutlich, daß das, was die Musik, die sie spielten, beseelte, vor allem ein Kreuzzug von etwas älteren Kindern war. Sie gehörten zur Jugendkultur, deren Umrisse schon damals so weit sichtbar wurden, daß zumindest diejenigen von uns, die sich aus den verschiedensten Gründen an ihren Rändern herumtrieben, ihre Existenz erkennen konnten, auch wenn sich nur jemand wie Colin MacInnes, mit seiner besonderen persönlichen Affinität zu jugendlicher Rebellion und Unabhängigkeit, auf ihre Wellenlänge einstellen konnte. Doch abgesehen von einer deutlichen Lockerung weiblicher sexueller Konventionen im Umkreis von Musikern und Sängern war die Jugendkultur noch nicht mit einer Gegenkultur verbunden. Dazu kam es zumindest in England erst in den sechziger Jahren. Andererseits sollte vieles von dem, was die jugendliche Gegenkultur der sechziger Jahre symbolisierte, von der alten Jazzszene übernommen

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werden – insbesondere Drogen und die Lebensformen einer, wie ich damals schrieb, »nomadischen Gemeinschaft schwarzer [und weißer] Berufsmusiker, die auf den selbstgenügsamen kleinen Inseln der populären Entertainer und anderer Nachtmenschen leben«, und die Orte, an denen die Tagmenschen nach Einbruch der Dunkelheit ihre Hemmungen verloren. Das war nicht unbedingt eine Gegenkultur im späteren Sinne, denn Jazzmusiker hatten eine fast grenzenlose Toleranz gegenüber jeder Spielart menschlichen Verhaltens, machten jedoch in der Regel kein Programm daraus. Was einer Gegenkultur in Verbindung mit der Jazzszene am nächsten kam, fand sich an ihren Rändern und unter ihrem Anhang oder außenstehenden Bewunderern sowie unter den Freundinnen der Musiker, die auf der Straße innerhalb weniger Stunden einige hundert Pfund verdienen konnten – in den fünfziger Jahren gutes Geld –, um für ein paar Tage nach Marokko zu verschwinden. Es fand sich auch unter den bewußten Verächtern traditioneller bürgerlicher Konventionen wie Ken Tynan oder unter den bürgerlichen Insidern in ihren mittleren Jahren, die ihren Außenseiterstatus darauf gründeten, daß sie sich zu Trinkgelagen in der Stammkneipe des Malers Francis Bacon trafen, Muriel Belcher’s Colony Club in der Frith Street in Soho. Nicht daß die überwiegend homosexuellen Gäste dem Jazz besonders viel abgewonnen hätten, auch wenn ich in diese schäbige Bude im ersten Stock von einem bewundernden Kritiker von The Jazz Scene eingeführt wurde. Auch traf ich dort des öfteren Colin MacInnes, der den Jazz pries, ohne eine Ahnung davon zu haben, und George Melly, der ihn sang und um so mehr davon verstand. Melly gehörte einer Randgruppe der britischen Jazzszene an, Leuten, die aus der bürgerlichen Wohlanständigkeit geflüchtet waren oder ihre Musik mit Aktivitäten in der Welt der Wörter und Bilder verbanden. Die Fans kannten ihn als einen sich selbst parodierenden Bluessänger, dessen Auftritte einer Varieténummer recht nahekamen, so wie sie Wally Fawkes als Klarinettisten kannten. In der bürgerlichen Welt waren beide wesentlich besser bekannt als die gemeinsamen Schöpfer einer höchst populären Comic-Serie, freundlicher Satiren über die wiedererkennbaren Mitglieder dessen, was erst später Medienwelt genannt werden sollte. Die dritte Veränderung, diesmal etwas schneller diagnostiziert, war der Wandel in der politischen oder ideologischen Stimmung nach 1956. Heute kann ich sehen, daß der Faktor, der sie bewirkt hat, das Ende der Imperien war, doch in England wurde dies erst in den sechziger Jahren erkannt. Der Kalte Krieg blieb, doch außerhalb westlicher Regierungen begann die Festlegung der Öffentlichkeit auf einen emotionalen Anti-

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kommunismus zu schwinden. Mochte sie auch noch so geschmäht werden, die Berliner Mauer stabilisierte seit 1961 die Grenze zwischen den Imperien der Supermächte in Europa, und von keiner der beiden wurde ernsthaft erwartet, daß sie diese Grenze überschreiten würde. Wir lebten noch unter der schwarzen Wolke der atomaren Apokalypse. Wir waren ihr in der Kubakrise von 1962 sehr nahe, und 1963 produzierte Stanley Kubrick ihre definitive Version, den Film Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben – doch zu dieser Zeit fiel er bereits in die Kategorie des schwarzen Humors. Dagegen verfolgte die – ausschließlich auf England bezogene – neue CND (Campaign for Nuclear Disarmament; 1959), die bei weitem größte öffentliche Mobilisierung der britischen Linken, nicht die ohnedies unrealistische Absicht, das nukleare Wettrüsten der USA und der UdSSR zu beeinflussen, auch wenn viele Engländer aufrichtig von der Idee bewegt wurden, der Welt ein gutes moralisches Beispiel zu geben. Es ging darum, sich aus dem Kalten Krieg herauszuhalten oder, vielleicht genauer, England daran zu gewöhnen, daß es keine Großmacht und kein Weltreich mehr war. (Das Argument, daß England in der Lage sein müsse, eigene Atomwaffen zu bauen, um die Sowjets abzuschrecken, ergab keinen Sinn, zumal die Bombe, wie wir heute wissen, ursprünglich von den britischen Regierungen gebaut wurde, um ihren Rang und ihre Unabhängigkeit gegenüber den USA zu wahren und nicht, um Moskau von einem Angriff abzuhalten.) Im Rückblick zeigt sich jedoch, daß das, was die Politik der Linken nach 1956 formte, ein Nebenprodukt der Entkolonialisierung und – zumindest in England – der Masseneinwanderung aus den karibischen Regionen des alten Empires war. Die Krise der Vierten Republik in Frankreich hatte mit dem Kalten Krieg wenig zu tun, dafür um so mehr mit dem Befreiungskampf der Algerier. Ich kann mich noch an eine Massenkundgebung im Friends’ House gegen den Militärputsch erinnern, der ihm ein Ende machte. Die Rede hielt der rothaarige, leidenschaftliche Journalist Paul Johnson, damals ein versprengter Linkskatholik, der General de Gaulle als den nächsten faschistischen Diktator brandmarkte. Es war hauptsächlich die schockierende und von der Presse verbreitete Anwendung der Folter durch die Franzosen in Algerien, was aus amnesty international (1961) eine westliche internationale Vorkämpferorganisation machte, die sich nicht primär gegen osteuropäische Menschenrechtsverletzungen wandte. Mit den amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen und dem Zustrom farbiger Immigranten nach England wurde der Rassismus zu einem weitaus zentraleren Thema auf der Linken, als er es bisher gewe-

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sen war. Durch den Jazz fand ich mich mit einer frühen antirassistischen Kampagne in England nach den sogenannten Notting-Hill-(eigentlich Notting-Dale-)Unruhen von 1958 verbunden, der sogenannten »Stars Campaign for Interracial Friendship« (SCIF), weniger eine echte politische Aktion (auch wenn Colin MacInnes mit von der Partie war, der Informationsblätter in die Briefkästen warf und sich dabei ganz in seinem Element fühlte) als ein Beispiel für die Wirkungsweise der modernen Massenmedien, da sie wie andere ihrer Art nach einigen Monaten erfolgreicher Publizität im Sand verlief. Sie mobilisierte sogar die »Stars«, hauptsächlich des Jazz – die meisten großen englischen Namen waren dabei, Johnny Dankworth und Cleo Laine, Humphrey Lyttelton und Chris Barber sowie einige Popstars –, aber ihre Stärke lag in den Machern, die Artikel in der Presse und Sendungen im Fernsehen unterbrachten und Ideen für berichtenswerte Veranstaltungen hatten wie etwa die Weihnachtsfeier 1958 für Kinder aus allen Ländern, die im Fernsehen gesendet wurde. Solange die Kampagne währte, erfreute sie sich der unschätzbaren Mitarbeit der überaus tüchtigen und bewundernswerten Claudia Jones, eine Funktionärin der KP der USA, die in Westindien geboren und in den Tagen der Hexenjagd aus den USA als »Nichtbürgerin« (»non-citizen«) ausgewiesen worden war. Sie setzte sich mit mäßigem Erfolg dafür ein, die karibischen Immigranten in West London nach dem Vorbild der KP etwas systematischer zu organisieren und innerhalb dieser Gemeinde eine gewisse politische Struktur aufzubauen, außerdem warb sie bei der KP Großbritanniens um Unterstützung für ihre Bemühungen. Sie war eine beeindruckende Persönlichkeit, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, außer vielleicht als eine der Initiatorinnen des jährlich stattfindenden und längst nicht mehr politischen Notting Hill Carnival. Die Passion für die Dritte Welt wurde erst in den sechziger Jahren zu einer bedeutenden Triebkraft für die Linke und schwächte nebenbei die Macht der Ideologen des Kalten Kriegs über westliche Liberale und Sozialdemokraten. Doch am Ende der fünfziger Jahre hatte die kubanische Revolution bereits gesiegt und stand davor, der Ikonographie der Weltrevolution ein neues Bild hinzuzufügen und aus den USA einen gut sichtbaren Goliath zu machen, der dem Trotz des bärtigen jungen Davids ins Auge sah. 1961 erfolgte die Reaktion auf die versuchte Invasion in der Schweinebucht unmittelbar – so unmittelbar wie fünf Jahre zuvor nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Ungarn –, und sie erfaßte weit mehr als die üblichen Parteien, Unterzeichner von Petitionen und überhaupt das Spektrum der üblichen Protestierer. Ken Tynan rief mich an dem Morgen, als wir die Nachricht erhielten, ver-

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zweifelt an: Etwas mußte getan werden! Obwohl ein echter Linker, dessen politische Aufrichtigkeit von Marlene wie von mir gegen alle, die ihn als Poseur bezeichneten, verteidigt wurde, war er keineswegs ein Mann, der sich nur öffentlichkeitswirksam auf die Seite der guten Sache stellte. Sonst hätte er selbst gewußt, was er tun sollte. Als wir den üblichen Ausschuß gebildet, die üblichen Verdächtigen für Protestbriefe zusammengetrommelt und einen Protestmarsch zum Hyde Park organisiert hatten – ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wen wir als Redner aufgestellt hatten –, konnte ich zu meiner angenehmen Überraschung beobachten, daß diese Veranstaltung zumindest dem äußeren Anschein nach ganz anders war als die gewohnte linke Demo. Die Forderung, Fidel Castro zu verteidigen, aufgestellt von Tynan oder eher noch von Tynans Mann Friday Clive Goodwin, Schauspieler, Agent und Aktivist, hatte eine erstaunliche Menge jüngerer Theaterleute und junger Frauen aus den Modeagenturen auf die Straße gebracht. Es waren die bestaussehenden Teilnehmer einer politischen Veranstaltung, an die ich mich erinnern kann, ein wundervoller Anblick, und die Stimmung war um so fröhlicher, als wir bereits wußten, daß die amerikanische Invasion zurückgeschlagen worden war. So glitt ich selbst – und die Welt – fast unmerklich in eine neue Stimmung, als die fünfziger in die sechziger Jahre übergingen. Selbst politisch war ich nicht mehr so isoliert, wie KP-Mitglieder es früher gewesen waren, obwohl ich nach 1956 weder aus eigenem Entschluß die KP verlassen hatte noch aus ihr ausgeschlossen wurde. Parteizugehörigkeiten waren nicht mehr entscheidend für diejenigen, die die neuen politischen Kampagnen – gegen Atomwaffen, gegen Imperialismus, gegen Rassismus oder was auch immer – unterstützten. Als im Jahr 1952, wohl einer der schlimmsten Phasen des Kalten Kriegs, die man sich vorstellen kann, einige kommunistische Historiker eine neue historische Zeitschrift, Past & Present, gründeten, planten wir sie bewußt nicht als eine marxistische Zeitschrift, sondern als gemeinsame Plattform für eine »Volksfront« von Historikern, deren veröffentlichte Beiträge nicht nach dem Abzeichen am ideologischen Revers der Autoren beurteilt werden sollten, sondern nach ihrem Inhalt. Wir wollten um jeden Preis das Fundament unserer Redaktion erweitern, in der zu Beginn natürlich Parteimitglieder dominierten, da nur sehr wenige, gewöhnlich einheimische, radikale Historiker mit einer sicheren akademischen Basis wie der Althistoriker A.H.M. Jones aus Cambridge den Mut hatten, mit den Bolschewisten an einem Tisch zu sitzen. Der hervorragende Kunsthistoriker Rudolf Wittkower wurde sogar davor ge-

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warnt, unsere Einladung anzunehmen, und es sollte noch zehn Jahre dauern, bis Moses Finley, ein in Cambridge freundlich aufgenommenes Opfer des McCarthyismus, bereit war, für uns zu schreiben. Uns war außerdem viel daran gelegen, den Kreis unserer Autoren zu erweitern. Jahrelang scheiterten wir mit unserem ersten Ziel, während wir dank unseres ausgezeichneten Rufs unter dem wissenschaftlichen Nachwuchs mit dem zweiten erfolgreich waren. 1958 hatten wir es geschafft. Eine Gruppe nichtmarxistischer Historiker, die sich später einen Namen machen sollten, war bereit, zu uns zu stoßen. Angeführt wurden sie von Lawrence Stone, der bald darauf nach Princeton ging, und dem zukünftigen Sir John Elliott, später Regiusprofessor in Oxford, der mit unseren Zielen sympathisierte, bislang jedoch keine Möglichkeit gesehen hatte, sich formell dem früheren roten Establishment anzuschließen. Ihren Beitritt machten sie allerdings davon abhängig, daß wir die ideologisch problematische Bezeichnung »Zeitschrift für wissenschaftliche Geschichte« aus dem Impressum strichen. Das kostete uns nicht viel. Sie stellten uns keine Fragen zu unseren politischen Überzeugungen – orthodoxe Kommunisten waren sowieso kaum noch in der Redaktion zu finden –, wir fragten nicht nach ihren, und so sind in der Redaktion nie irgendwelche ideologischen Probleme entstanden. Selbst das Londoner Institute of Historical Research, das sich standhaft geweigert hatte, die Zeitschrift in seiner Bibliothek zu halten, gab schließlich nach. So wurde also mein persönliches Leben in mancher Hinsicht »normal«, und die Welt, in der ich lebte, war (trotz gegenteiliger Behauptungen) oder schien zumindest weniger unsicher und provisorisch und verbesserte auf jeden Fall meine wirtschaftliche Lage. Ersteres war unbestreitbar, auch wenn meine akademische Laufbahn für ihre Entwicklung immer noch etwas Zeit brauchte. Ich sollte meinen Lehrstuhl oder die üblichen Zeichen der offiziellen Anerkennung – Mitgliedschaft in Akademien, die ersten ehrenhalber verliehenen akademischen Grade – erst in den siebziger Jahren erhalten, als ich schon gut in meinen Fünfzigern war. Nachträglich betrachtet bedeutete dies einen Glücksfall, denn nichts ist schlimmer für eine Karriere, als wenn man den Gipfel zu früh erreicht und den langen Marsch auf dem flachen Plateau des Establishments vor sich hat, oder noch schlimmer, zu sehen, wie die Arbeiten, mit denen man sich einen Ruf erworben hat, immer weiter in die Vergangenheit entschwinden. Ich war spät gestartet und lange Jahre hindurch aufgehalten worden, darum konnte ich mich in einem Alter, in dem andere nur noch erwarten konnten, das Ende hinauszuschieben, auf immer noch bessere Dinge freuen.

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Was die Welt anging, so wußten wir sehr wohl, daß ihre Lage nur scheinbar stabil war, auch wenn das außerordentliche Tempo ihrer wirtschaftlichen und technischen Entwicklung außer Frage stand. Für diejenigen von uns, die das Glück hatten, in Mittel- und Westeuropa zu leben, war diese Stabilität dennoch keine Illusion. Vielleicht haben wir damals unser Glück nicht in seinem ganzen Ausmaß erkannt, aber wir lebten auf einer Insel der Seligen: eine Region ohne Krieg, ohne die Wahrscheinlichkeit oder Drohung sozialer Umwälzungen, in der die meisten Menschen ein Leben im Wohlstand, eine Fülle von Möglichkeiten der Wahl im Alltag und im Urlaub und ein Maß an sozialer Sicherheit genossen, wie es in der Generation unserer Eltern nur den ganz Reichen vergönnt war und selbst die Träume der Armen überstieg. Wo wir lebten, war es besser als an jedem anderen Ort auf der Erde. Ich sollte bald entdecken, daß man das von anderen Teilen des Globus nicht sagen konnte. Und wie die sechziger Jahre zeigen sollten, befriedigte es auch die Bewohner der Insel der Seligen nicht.

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Es war 1961, kurz nachdem ich mich mit Bertrand Russell und vielleicht 12 000 anderen bei einer berühmten Protestkundgebung der Atomkraftgegner auf dem Trafalgar Square niedergelassen hatte, zum Glück ohne von der Polizei festgenommen zu werden, als mein Freund und »Apostel«-Bruder Robin Gandy sagte, ich sähe ein wenig überarbeitet aus und ein paar gemeinsame Tage mit ihm in Nordwales würden mir sicher guttun. Er hatte dort ein kleines, fast provozierend einfaches Landhäuschen neben einer verfallenden Kapelle, wo er zwischen Wanderungen und Klettertouren auf den Bergen über Probleme der mathematischen Logik nachdachte. In jenen Tagen, als das wunderbare Netz ländlicher Kleinbahnlinien in England noch nicht zerstört war, konnte man gemütlich zwischen Bäumen durch das Herzland von Mittelwales bis zur Küste reisen und von dort mit dem Cambrian Coast Express, der seinen Namen nicht ganz zu Unrecht trug, nach Penrhyndeudraeth in der Grafschaft Merioneth fahren, wie sie für Anglophone immer noch hieß, die letzte Region auf den Britischen Inseln, die sich noch dafür aussprach, den Verkauf oder öffentlichen Ausschank von Alkohol am Tag des Herrn zu verbieten. Dort holte mich Robin in seiner gewohnten schwarzen Lederkluft mit seinem Motorrad ab, um mir einen mühseligen Marsch von mehreren Kilometern über den Küstenkamm und eine dahinterliegende Ebene (The Traeth) zu ersparen, eine frühere Meeresbucht, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch einen Deich trockengelegt worden war, den ein Mr. Maddocks gebaut hatte; nach ihm sollte später der neue Hafen Portmadoc benannt werden. Das Werk war von fortschrittlichen Besuchern, zu denen auch der Dichter Shelley gehörte, sehr bewundert worden. Vor dem Deichbau konnten Schiffe bis an den Fuß der Berge fahren und sich an dem dramatischen und nicht zu verkennenden Dreieck des Cnicht (The Knight) als Landmarke orientieren. Der Name läßt vermuten, daß die Silhouette die Seefahrer an einen mittelalterlichen Helm erinnerte. Wo die Straße die Traeth verließ und sanft zum höher gelegenen Croesortal unmittelbar unterhalb des Cnicht anstieg, war die Grenze von Cloughs Reich. Dort sollten ich und nach meiner Wiederheirat Marlene und die Kin-

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der während des kommenden Vierteljahrhunderts den größten Teil unserer Ferien verbringen. Der Herrscher über dieses Reich und sein eigentlicher Schöpfer, Clough Williams-Ellis, war ein großgewachsener, aufrechter, umgänglicher Mann mit einer Adlernase, stets in einer Tweedjacke, Breeches und gelben Kniestrümpfen – er war der einzige, der in dieser Kleidung das Athenäum besuchte – und damals weit in den Siebzigern. Einer Generation, der das England, in dem er aufwuchs, so fremd ist wie das Rußland Tolstojs, kann ihn vielleicht am ehesten eine Anekdote nahebringen. Als er während des Ersten Weltkriegs heiratete, fragten ihn seine Offizierskameraden, was er sich als Hochzeitsgeschenk wünsche. Er hatte den Wunsch, einen nutzlosen Bau zu errichten – die künstliche Ruine einer nachempfundenen mittelalterlichen Burg mit Blick aufs Meer. Und so geschah es. Man gelangte zu ihr durch ein Eisentor, in der unverkennbaren Farbe von Eisen und Balkenwerk in Cloughs Reich »clough-grün« gestrichen; es lag gegenüber dem Haupteingang zu seinem Haus, Plas Brondanw, einem kleinen alten Gebäudekomplex mit einem wunderschönen architektonischen Garten, der den Blick auf den Gipfel des Snowdon freigab, gerahmt von den für Clough typischen Urnenvasen und Bögen. Vom Tor aus ging man einige hundert Meter auf einem sanft ansteigenden Parkweg, der zu beiden Seiten mit Bäumen gesäumt war, die er selbst gepflanzt hatte. (Bäume waren eine seiner zahlreichen Leidenschaften. Er war so empört über den Vorschlag, die prachtvolle Allee, die zu dem großen Haus von Stowe führte, das er gerade zu einer Public School umbaute, an einen Bauunternehmer zu verkaufen, daß er sie selbst erwarb und dafür sorgte, daß sie erhalten blieb. Es war möglicherweise sein größter Beitrag zu diesem Projekt.) Unsere Kinder liebten es, in dem Turm zu spielen und die Treppen hinaufzuklettern, die nirgendwohin führten außer zu einem Absatz mit Blick auf das Meer und eine feuchte Heidemoorfläche. Dahinter erhoben sich in einigen Kilometer Entfernung der große und der kleine Moelwyn, die beiden anderen Berge des Reichs, nach denen Clough seinen Sohn genannt hatte, der im Krieg geblieben war. Es hatte einmal als Drehort für einen Film über China gedient. Clough war darüber hocherfreut gewesen. Es war nicht die romantische Absurdität als solche, was er liebte, sondern das Theaterspiel, nicht zu reden von den Berühmtheiten. Außerdem war die Filmgesellschaft sehr wahrscheinlich nicht deshalb nach Merioneth gekommen, weil ein kleiner Teil davon sich so herrichten ließ, daß er chinesischer aussah als alle anderen Gegenden Englands, sondern weil Star und Anhang in der bekanntesten der Schöpfungen Cloughs, dem größten seiner Phantasie-

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bauten, Portmeirion, untergebracht werden konnten. Das war und ist eine lebensgroße pseudobarocke Disneystadt, die den Eindruck eines Badeorts an der italienischen Riviera mit allem Drum und Dran erwecken soll und plötzlich mitten aus mit Rhododendron bewachsenen Felsen jenseits der grauen Wasserflächen des seichten Ästuars aufragt, das in die Cardigan Bay mündet. Er finanzierte seine ständige Erweiterung, indem er einen Teil davon zu einem Hotel mit Feriendorf von der Art machte, die etwas bohemehafte Leute aus dem Showbusineß unwiderstehlich fanden (mit Feuerwerk statt mit Golfplätzen), und nicht zuletzt, wenn auch widerstrebend, mit dem Geld, das von Tagesausflüglern ausgegeben wurde. (Freunde der Familie hatten freien Zutritt.) Nichts an Portmeirion war oder ist ganz real – obwohl es dort eine Fülle von echten Statuen und Bruchstücken von architektonischem Dekor gab, die Clough vor der Zerstörung bewahrt hatte –, sondern alles repräsentierte Tagträume, aus denen allerdings auch nächtliche Alpträume werden konnten. Später wurde es als Szenerie für eine Kultserie – The Prisoner – im britischen Fernsehen ausgewählt, deren Protagonist, ein kafkaeskes Opfer, feststellte, daß es ihm unmöglich war, aus einer Umgebung zu fliehen, die ihn fortwährend bezauberte und gleichzeitig bedrohte. Demselben Bann erlagen auch die Produzenten der Serie, die deshalb nach 17 Episoden abrupt beendet wurde. Es gibt eine große Kultgemeinde, für die sie mehr oder weniger regelmäßig wiederholt wird. In mancher Hinsicht wurde auch Clough, der sehr stolz auf seinen Ruf als Architekt war, das Opfer der Umgebung, die er geschaffen hatte und die ihn nicht mehr losließ. Als der jüngere Sohn einer Grundbesitzerfamilie mußte er einen Beruf erlernen, und die Architektur, eine Leidenschaft seit seiner Kindheit, bot sich angesichts seiner Herkunft und seiner Neigungen geradezu an. Er hatte nur ein Trimester richtig studiert. Was ihm an beruflicher Qualifikation fehlte, glich er durch seine Verbundenheit mit dem Landleben, seine kultivierte Begeisterung und Kontakte von jener Art wieder aus, die ein gutaussehender und charmanter junger Mann aus guter Familie in der Welt der Wochenendgesellschaften im edwardianischen England, die letztlich seine eigene war, leicht anknüpfen konnte. Freunde oder Freunde von Freunden boten ihm die Chance, zunächst Ställe zu bauen, dann Landhäuser, dann Flügel von Herrenhäusern und staatliche Schulen und selbst einen ganzen edwardianischen Gebäudekomplex in Massivbauweise, Llangoed Hall in Breconshire an den Ufern des Wye, das heute als Nobelhotel fungiert. (Tatsächlich waren die meisten der von ihm errichteten Gebäude von bescheidenen Ausmaßen.) Und dennoch war

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er durch Portmeirion so abgestempelt, daß er nach den Maßstäben des hochentwickelten professionellen Puritanismus der Ära eines Le Corbusier und Mies van der Rohe als »kein seriöser Architekt« galt. Erst mit 87 Jahren wurde ihm die Ritterwürde als Sir (Bertram) Clough Williams-Ellis zuerkannt. Das war eine völlige Verkennung dieses Mannes. Für ihn waren Gebäude ohne Bäume, Mauern, Ausblicke und Wege, die nicht zu Bauernhöfen, Cottages oder einem Gewässer führten, ohne jede wirkliche Bedeutung. Was er schaffen oder gestalten wollte, waren nicht einfach Bauwerke, sondern kleine Welten, in denen Menschen lebten und arbeiteten, in einer Einheit aus Mauern, wilder ebenso wie gestalteter Landschaft, Ausblicken, Symbolen und Erinnerungsstücken, die natürlich auch von Besuchern als Ensemble bewundert werden durften. Da es kein Ort war, wo Menschen ihren alltäglichen Verrichtungen nachgingen, sondern eine Art Vergnügungspark, ein jeu d’esprit oder im besten Fall ein flüchtiges Wunschbild, war Portmeirion nicht typisch für das, was ihm eigentlich vorschwebte. Sein Ideal war nicht Lutyens, sondern Squire Headlong, der Landjunker und begeisterte Gestalter eines walisischen Guts in Thomas Love Peacocks Headlong Hall. (Die Romane oder eigentlich eher Konversationsstücke von Peacock, einem Freund Shelleys und amüsierten Bewunderer Wales’, waren in Cloughs Reich Pflichtlektüre.) Und die Essenz eines solchen Guts mußte jene typische Verbindung aus wilder natürlicher Schönheit, Armut und der Gleichgültigkeit der Bewohner gegenüber einer visuellen Ästhetik sein, die höchst überraschend wirkt bei einem Volk, das für Musik und Worte so empfänglich ist wie das walisische. Obwohl er es für wichtig hielt, seine Welten mit passendem symbolischem Gemäuer und Metallarbeiten zu verschönern und die Aufmerksamkeit auf ihr romantisches Potential zu lenken, sollten sie nicht »schön«, sondern einfach nur sie selbst sein. Und vor allem sie selbst bleiben. Seine Kampagnen für den Schutz der ländlichen Landschaft gegen den »Kraken« einer planlosen »Erschließung« gingen bis in die zwanziger Jahre zurück. Hauptsächlich um sie in ihrem damaligen Zustand zu erhalten, hatte er zwischen den Kriegen die kahlen Hänge, Heidemoore und Berge gekauft, die sein Reich darstellten. Glücklicherweise – denn er war zwar wohlhabend, aber nicht reich – hatten sie damals praktisch keinerlei Marktwert. »Mit einem in London verdienten Honorar von zehn Guineen konnte er viele Morgen Hügelland kaufen«.1 Und tatsächlich war Cloughs Reich trotz der vielen herrlichen Dinge, die es enthielt, nicht »schön« im herkömmlichen Wortsinn. Wie hätte es das auch sein können? Es bestand zu einem Großteil aus einem ge-

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spenstischen, zweifach zerstörten steinigen Land, seit jeher unergiebig und verödet durch den Niedergang der kleinen unwirtschaftlichen Berghöfe und die endgültige Schließung der großen Schieferbrüche, die mit ihrer Belieferung der Bauunternehmer und Bauträger im viktorianischen England mit Schieferplatten für die Dachdeckung in einer unfruchtbaren Bergregion eine Zeitlang ein Leben oberhalb des Existenzminimums ermöglicht hatten. Es war buchstäblich eine Landschaft aus postindustriellen Ruinen. Man konnte von den riesigen toten Schieferbrüchen von Blainau Ffestiniog hinauf zur Kraterlandschaft des aufgegebenen Schieferbruchs und der Arbeiterbaracken unterhalb der Dohlen von Cwmorthin klettern und wieder hinunter entlang der stillgelegten Eisenbahnstrecke, die durch den kahlen Cwm Croesor verlief. Die Strecke führte auch an dem verlassenen Steinbruch von Croesor vorbei, wo wir für einige Jahre in den Ferien in einem der dortigen Cottages wohnten, zu der stillgelegten langen Gefällstrecke, auf der die vollen Schwerlastwagen im Leerlauf zur Traeth hinunterrollten und sie überquerten, bis sie in Portmadoc entladen wurden. Es war auch eine Landschaft aus postagrarischen Ruinen von der Art, wie der große Dichter der Region, R. S. Thomas, sie in seinem »The Welsh Hill Country« besungen hat: »Das Moos und der Moder auf den kalten Schornsteinen Die Nesseln, die durch die geborstenen Türen wachsen Die Häuser stehen leer in Nant-yr-Eira Es gibt Löcher in den Dächern, die mit Sonnenlicht gedeckt sind Die Felder werden wieder zu kahlem Heideland« Noch in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann der Tourismus nur langsam die Lücke zu schließen – denn obwohl der Snowdon die Szenerie beherrschte, waren die hauptsächlichen Aussichtspunkte (und die wichtigsten Routen für Bergsteiger) Snowdonias einige Kilometer weit entfernt. Die Instandsetzung der zerstörten Ffestiniog-Eisenbahn, die Schmalspurbahn, auf der früher 200 Männer von Llanfrothen und Penrhyndeudraeth täglich zu den großen Schieferbrüchen in Blaenau Ffestiniog gefahren waren, durch passionierte Laien hatte gerade erst begonnen, was dankbaren Touristen-Eltern zugute kam, die nicht wußten, wie sie ihre Kinder beschäftigen sollten. Während der meisten Zeit unserer Jahre in Nordwales hörte die Strecke abrupt an einem überwachsenen Berghang auf, von wo der Zug wieder nach Portmadoc zurückfuhr. Ein großer Teil von Cloughs Arbeit als Herrscher über sein Reich

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bestand darin, buchstäblich Ruinen bewohnbar zu machen und leere Wände auf Bergrücken zu füllen, deren Bewohner immer noch von dort abwanderten. Unser erstes Cottage war eines von vieren in einer windgepeitschten Reihe, die irgendwo in das ausgebaggerte kahle Bergtal außerhalb des Schieferbruchdorfs Croesor für den Schieferbruch in der Nähe gebaut worden waren. Seine damalige einzige dauerhafte Bewohnerin war unsere geliebte Nellie Jones, die drei Kinder von verschiedenen Vätern samt einem Hund in einem Raum großgezogen hatte, der entfernt an eine Küche erinnerte, und die für einige fast ebenso lebhafte englische Besucher die Rolle einer Hausverwalterin spielte. (Das Drei-Seelen-Dorf Croesor selbst stand kurz davor, seinen Lebensmittelladen und zugleich die Poststelle zu verlieren, und nur ein unablässiger Kampf gegen die Behörden – unterstützt von Cloughs Politik, leerstehende Cottages an unverheiratete oder verlassene Mütter zu vermieten – verhinderte, daß auch das winzige Schulhaus geschlossen wurde.) Unser zweites war eine Ruine aus dem 16. Jahrhundert, früher einmal Teil eines Gebäudekomplexes, der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts der Landsitz der Anwyl-Familie gewesen, danach jedoch aufgegeben worden war. Ihn hatte Clough zu einem bewohnbaren Haus für Feriengäste aus London umgebaut, denen es nichts ausmachte, auf jeden Komfort zu verzichten, wenn sie dafür in einer romantischen Umgebung wohnen konnten. In einer für ihn bezeichnenden Weise hatte er einen Teil einer vorspringenden Mauer aus Steinquadern von drei Fuß Kantenlänge stehen lassen, aus der im Lauf der Jahrzehnte ein Baum so mächtig und hoch herausgewachsen war, daß wir auf einer Klausel in unserem Mietvertrag bestanden, die uns von jeder Haftung befreite, falls der Baum bei einem Sturm umstürzte, was den größten Teil des Hauses zerstören würde. Ich glaube nicht, daß es ein einziges bewohntes Gebäude in seinem Besitz gab, das er nicht entweder selbst überhaupt erst gebaut oder instand gesetzt oder wohnfertig gemacht hatte. Doch die Bewohner gehörten mindestens zwei völlig verschiedenen Kategorien an, zwischen denen es kaum Überschneidungen gab: sie waren entweder Mieter von Ferienhäusern oder einheimische Waliser. Die neu Zugezogenen waren ein Kreis von bürgerlichen englischen Intellektuellen mit dem einen oder anderen Bohemien im Schlepptau. Die meisten von ihnen waren auf die eine oder andere Weise direkt oder indirekt mit der Familie Williams-Ellis verbunden. Das ging vielfach auf Cambridge zurück, wo auch Clough selbst und sein gefallener Sohn Kitto studiert hatten, dessen Freunde vom King’s College mit der Zeit als regelmäßige Besucher und (in einem Fall) als Schwiegersohn

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zum festen Bestand der Brondanw-Szene gehörten. So war seinerzeit Robin Gandy in das Tal gekommen. Jeder aus der ersten Generation der Zuzügler hatte Freunde, Altersgenossen, Lehrer und Studenten, die ebenfalls kamen, sahen und besiegt wurden: die Hobsbawms, einer nach dem anderen, dazu zwei Kinder, gefolgt von Marlenes Bruder Walter Schwarz mit Frau und fünf Nachkömmlingen, die Historiker E. P. und Dorothy Thompson von den tiefer gelegenen Hängen der Moelwyns und mehrere Söhne und Töchter der Bennettfamilie, deren Eltern, beide englische Dons, Stützen der akademischen Gesellschaft in Cambridge waren. Eine ganze Reihe von Cambridge-Größen standen bereits vorher in einer Beziehung zu Cloughs Reich: der Philosoph Bertrand Russell auf der Portmeirion-Halbinsel; der Physiker und Nobelpreisträger Patrick Blackett, der sich auf seine alten Tage in einem ehemaligen Ferienhäuschen unmittelbar oberhalb von Brondanw, nicht weit vom Haus seiner Tochter in Croesor niedergelassen hatte; Joseph Needham, der große Historiker der chinesischen Wissenschaft, verbrachte regelmäßig seine Ferien in Portmeirion mit einer seiner beiden Geliebten – seine Frau blieb vermutlich zu Hause in Cambridge. John Maddox, viele Jahre lang der Herausgeber von Nature, hatte sich eine Zeitlang in einem von Cloughs Cottages auf der Traeth eingemietet, und mein Lehrer, der Wirtschaftshistoriker Mounia Postan, und seine Frau, Lady Cynthia (Keppel) besaßen ein Haus, eine ehemalige Schule, am Rand von Ffestiniog. Die Bezeichnung »walisische Bloomsburygruppe« – sie stammte von Rupert Crawshay Williams, einem ortsansässigen charmanten und traurigen Philosophen, der Bertrand Russell hierher gebracht hatte – ist etwas zuviel der Ehre. Allerdings herrschte eine muntere Geselligkeit unter den Anglophonen der Halbinsel Portmeirion, des Croesortals und Ffestiniogs. Eines der typischsten Geräusche an Ferientagen in Nordwales war das von ins Haus tretenden Gästen, die das Wasser von ihren Regenmänteln abklopften, ihre nassen Regenschirme in der Diele abstellten und sich darauf einstimmten, sich unter einer niedrigen Landhausdecke zu unterhalten und bewirtet zu werden. Und da so viele von ihnen vom Wort lebten, lag zumindest eine dichterische Wahrheit in dem Scherz, an windstillen Abenden könne man im Croesortal stets von irgendwoher das Klappern einer Schreibmaschine hören. Auch wenn Wissenschaft und Cambridge miteinander Hand in Hand gingen, vermute ich, daß es Cloughs Frau war, die Schriftstellerin Amabel Williams-Ellis, die aus der Ansammlung kluger Köpfe im Hinterland der Gegend die größte Befriedigung bezog. Sie war eine Strachey aus einer Familie von Grundbesitzern und Intellektuellen mit

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seit langem bestehenden Verbindungen zu Indien und einer gewissen Nähe zur Politik. Ihr Vater, der Journalist St. Loe Strachey, verfügte über beträchtlichen politischen Einfluß, und ihr Bruder John Strachey sagte sich von der Familie los und folgte zunächst der (damaligen) Hoffnung der Labour Party, dem draufgängerischen Frauenhelden Sir Oswald (»Tom«) Mosley, bis dieser zum Führer des britischen Faschismus wurde, um anschließend zum bekanntesten Intellektuellen der Kommunistischen Partei der Jahre nach 1930 aufzusteigen. 1940 wandte er sich vom Kommunismus ab und wurde nach 1945 ein prominenter, wenn auch nicht besonders erfolgreicher Minister in den Labourregierungen. Amabel ihrerseits war der Kommunistischen Partei inoffiziell beigetreten und sehnte sich ein wenig nach der Zeit zurück, als die Partei noch eine halb konspirative kämpferische Schar von Brüdern und Schwestern war. Sie begrüßte mich als eine Erinnerung an jene Zeit, als jemanden, mit dem sie über die Genossen plaudern konnte, doch vielleicht hauptsächlich als einen zuverlässigen Gesprächspartner bei intellektuellen Themen. Wenn sie das brauchte, fuhr sie mit dem Wagen zu unserem Ferienhaus hinauf, voller Erinnerungen, mit der übertriebenen Vorsicht und gefährlichen Langsamkeit einer ziemlich betagten Fahrerin. Da außer den Einheimischen kaum jemand die Croesor Road benutzte, zeigte der Verkehr ihr gegenüber die erforderliche Nachsicht. Amabel hatte in weit höherem Maße als Clough eine Passion für den Intellekt. Als Mädchen hatte sie davon geträumt, Wissenschaftlerin zu werden, doch das war nicht das, was »gels« in einer Familie wie der ihren taten. Man schickte sie nicht einmal auf die Schule. Sie wurde Schriftstellerin und schließlich am meisten durch ihre Kinderbücher bekannt, während, wie es in ihrer Generation üblich war, ihr beträchtlicher Beitrag zum Werk und Denken ihres Mannes Clough unter seinem Namen lief. Amabel gehörte nicht zu den tragischen Figuren – im Gegenteil, sie genoß die Annehmlichkeiten des Lebens und die neue Emanzipation der Frau, einschließlich eines (wie es schien) freizügigen Verhältnisses zur ehelichen Treue, doch hätte man sie nicht dazu erzogen, die Haltung ihrer Klasse zu bewahren, so hätte man an ihr eine gewisse Bitterkeit bemerkt. Sie hätte eine sehr tüchtige Wissenschaftlerin abgegeben, und sie sorgte dafür, daß zumindest eine ihrer Töchter Meeresbiologin wurde. Ich habe die alte Dame mit der Zeit sehr liebgewonnen, auch wenn ich ihren Ausflügen auf der Suche nach intellektueller Aufklärung gelegentlich mit Vermeidungsstrategien begegnete. Wir redeten viel miteinander, vor allem in ihren letzten Jahren, nach Cloughs Tod, als sie auf Besucher wartete und sterben wollte. Sie beklagte sich nicht, machte jedoch kein

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Geheimnis daraus, daß sie ein Ende ihres Zustands herbeisehnte, allein und mit Schmerzen ans Bett gefesselt zu sein, in einem alten, feuchten Haus mit dicken Mauern aus Stein. Sie hatte lange genug gelebt. Doch selbst ihre politische Solidarität konnte sie bis zum Schluß nicht dazu bewegen, mir zu verraten, wo sich der Eingang zu den unterirdischen Gewölben irgendwo unter Cloughs Reich befand, in denen während des Zweiten Weltkriegs die Schätze der National Gallery eingelagert worden waren. Eine kommunistische Vergangenheit war eine Sache, Staatsgeheimnisse eine ganz andere. Abgesehen von der Minderheit, die hierherkam, um ordentliche Klettertouren zu unternehmen, was hatte uns übrige Außenseiter in die walisischen Berge geführt? Ganz bestimmt nicht die Suche nach Komfort. In unseren walisischen Ferienhäusern lebten wir freiwillig unter Bedingungen, wie wir sie dem Kapitalismus vorgehalten hatten, weil er sie seinen ausgebeuteten Arbeitern aufbürdete. Selbst angesichts der spartanischen Lebensführung der Mittelschichten in den fünfziger Jahren hätte keiner von uns auch nur im Traum daran gedacht, in unserem Alltag in Cambridge oder London diese Bedingungen zu akzeptieren, nicht einmal mein Schwager Walter Schwarz mit seiner grenzenlosen Begeisterung für primitive Einfachheit als Zeichen für ein umweltbewußtes naturnahes Leben. Die einzigen Menschen, die regelmäßig die Mißhelligkeiten wie die Schönheiten des Lebens in Parc Farm mit uns teilten, waren enge und wetterfeste Freundinnen und Freunde wie Dorothy Wedderburn. Um auch nur ein Mindestmaß an Trockenheit an unserem jeweiligen Ankunftsabend zu gewährleisten, mußten wir jedesmal vor der Abreise alle Bettdecken und die Bettwäsche in große, luft- und wasserdichte Plastiksäcke packen. Nach jeder Ankunft dauerte es zwei bis drei Tage, bis wir das Haus so weit trockengeheizt hatten, daß es einigermaßen bewohnbar war, und selbst dann war es nur in zwei oder drei Ecken warm zu halten. Da halfen auch Paraffinöfen – eine Mindestausstattung, jedoch ohne großen Nutzen für die Toilette im Freien – und die Kamine wenig, für die das Feuerholz von großstädtischen Intellektuellen in Klamotten, in denen sie wie Landstreicher aussahen, im Nieselregen hinter dem Haus kleingehackt wurde. Vielleicht war es gerade das Spartanische an dem Leben in Wales, was einen Teil seines Reizes ausmachte: Es gab uns das Gefühl, der Natur näher zu sein oder zumindest jenem fortwährenden Kampf gegen die Mächte des Klimas und der Geologie, der dem Menschen eine solche Genugtuung verschafft. In meinen lebhaftesten Erinnerungen an Nordwales geht es um diese Konfrontationen: wie wir mit unseren beiden kleinen Kindern nach einem Gang auf steinigen,

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schneebedeckten Wegen in einer Felsenhöhle Unterschlupf fanden und sie mit Schokolade fütterten, von einer langen Wanderung mit Robin im Dauerregen zurückkehrten, auf Schafspfaden steile Berghänge hinaufkraxelten – wenn ein Schaf das konnte, warum dann nicht auch ein Historiker in seinen besten Jahren? – und vor allem, wie wir in dem abgelegenen steilen und felsigen Arddy, westlich vom Kamm des Cnicht gewandert, balanciert und geklettert waren, belohnt durch den vertrauten, aber immer wieder unerwarteten Anblick der kalten Seen, die in seinen Spalten verborgen waren. Doch das waren die Freuden von Menschen, die hier lediglich ihre Urlaubszeit verbrachten. Unser Teil von Nordwales zog überdies ein besonderes Völkchen von dauerhaft oder zeitweilig ansässigen Zuzüglern oder eher Flüchtlingen von außerhalb an: freie Autoren, versprengte Bohemiens aus Soho, Sucher nach spiritueller Erlösung mit niedrigem oder unregelmäßigem Einkommen und den einen oder anderen anarchistischen Intellektuellen. Die Gegenwart von Bertrand Russell, dem betagten Guru der militanten Atomkraftgegner in Cloughs Reich, führte einige von ihnen in diese Region, nicht eingerechnet einige Mitglieder seiner schwierigen Familie. Ralph Schoenman, der junge militante Amerikaner, der damals einen außergewöhnlichen Einfluß auf den alten Philosophen gewann, schloß sich nie der lokalen Szene an. Er war zu sehr damit beschäftigt, in der Gegend herumzuschwirren und, wie er behauptete, die Welt – angeblich im Namen Russells – zu retten. Dagegen ließ sich Pat Pottle, Sekretär des aktivistischen Committee of a Hundred (und einer der Befreier des Sowjetspions George Blake aus dem Gefängnis in Brixton), nachdem er sich aus diesem Kampf zurückgezogen hatte, in Croesor nieder, angezogen von seinem Mitstreiter und Mitrevolutionär, dem Maler Tom Kinsey (später der einzige bekannte anarchistische Master of Foxhounds, allerdings, aufgrund der besonderen Bedingungen Snowdonias, zu Fuß statt zu Pferd). Nach der Kubakrise 1962 hatte dieser in Portmeirion eine Dankesdemonstration zu Ehren Russells organisiert, weil er den Weltfrieden gerettet habe – denn es war ein Telegramm an Russell (als Antwort auf ein Telegramm, das Kinsey aufgesetzt haben wollte), in dem Chruschtschow die öffentliche Erklärung abgegeben hatte, daß die Krise beendet sei. Diese Gemeinschaft von Auswärtigen lebte Seite an Seite mit der traditionellen walisischen Bevölkerung, jedoch nicht nur durch die Sprache von ihr getrennt, sondern auch und vielleicht noch mehr durch ihre soziale Herkunft, ihre Lebensweise und den zunehmenden Separatismus der Einheimischen. Abgesehen von sexuellen Beziehun-

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gen gab es tatsächlich sehr wenige enge Freundschaften über die »Rassenschranken« hinweg und kaum etwas von jenem ungezwungenen Nachbarschafts- und dörflichen Geist, der die Ankunft in unserer gegenwärtigen, nicht weniger abgelegenen und sogar noch ländlicheren Gemeinde im – anglophonen – mittleren Teil von Wales zu einer solchen Wohltat machte, vor allem für jemanden, der so spontan auf andere Menschen zugeht wie Marlene, nach den wachsenden Spannungen in Croesor. Im Gegensatz zur ansässigen Oberschicht, deren Angehörige wie die Familie Williams-Ellis mit Leib und Seele Waliser, aber ausnahmslos anglophon sind, haben in den siebziger Jahren die Zugezogenen mit Dauerwohnsitz in Wales begonnen, selbst die Sprache zu lernen, nicht um sich in ihr mitzuteilen, sondern aus Rücksicht auf die zunehmend offensichtliche nationalistische Stimmung in der Region. Schon in den sechziger Jahren waren bis auf die allerältesten und vereinzelt lebenden Einheimischen alle zweisprachig, und diese Zweisprachigkeit war für jeden Waliser, selbst im kymrischsten Dorf, unverzichtbar, der Fernsehsendungen sehen und Umgang mit Menschen außerhalb der Nachbarschaft haben wollte, einschließlich der 80 Prozent Einwohner seines Landes, die nicht Walisisch sprachen. Das war in der Tat das grundlegende Problem für walisischsprechende Gebiete wie dem unseren und der Ausgangspunkt ihres immer schriller werdenden Nationalismus. Selbst die volle sprachliche Assimilation einiger vereinzelter Fremder wog so gut wie nichts im Vergleich zu der unaufhaltsamen anglophonen Flut der Zivilisation. Für die Mehrzahl der Bergbewohner war die walisische Sprache hauptsächlich eine Arche Noah, in der sie die Flut als Gemeinschaft überstehen konnten. Es ging ihnen nicht so sehr darum, zu bekehren und sich zu unterhalten: Die Menschen sahen auf südwalisische Besucher mit ihrem »Schulwalisisch« herab. Im Unterschied zu Noah rechneten sie nicht damit, daß die Flut zurückgehen werde. Sie wandten sich nach innen, da sie das Gefühl hatten, sich in einer höchst verzweifelten Lage zu befinden, der einer belagerten, hoffnungslosen und dauerhaften Minderheit. Doch für einige gab es eine Lösung: die Zwangskymrisierung, auferlegt durch eine nationalistische politische Herrschaft. In der Zwischenzeit konnten die zugezogenen Eindringlinge demoralisiert werden, indem man ihre Ferienhäuser anzündete. Nach Angaben von Leuten, die angeblich Bescheid wußten, wohnten einige der Aktivisten in Cloughs Reich, auch wenn hier kein Zentrum solcher Brandstiftungen lag. Die Menschen unterschieden zwischen den regelmäßigen Besuchern der Ferienhäuser in ihrer Nachbarschaft und »den

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Engländern« allgemein. Und obwohl auf dem Land im Unterschied zur Großstadt auf die Dauer nichts geheimgehalten werden kann, wurde keine dieser Brandstiftungen von der Polizei aufgeklärt. In mancher Hinsicht waren die einheimischen Bewohner von Cloughs Reich und der Berge von Nordwales überhaupt somit ebenso entwurzelt wie die nur im Sommer anwesenden oder sogar die meisten der festansässigen englischen Zuzügler, die in die von den Einheimischen aufgegebenen Höfe und Cottages eingezogen waren. Wie bei einem Haus, das auf nachgebendem Boden gebaut ist, brachen die Fundamente ihrer Gesellschaft auseinander; anders als ein solches Haus konnten sie jedoch nicht abgestürtzt werden. Die Isolation hatte die Gesellschaft in der Vergangenheit ebenso zusammengehalten wie die Dichtung, der Puritanismus und die allgemeine Armut einer im wesentlichen ländlichen Wirtschaft. Das alles ging nun dahin. Die Kapellen standen leer. (Ich kann mich nicht erinnern, in unseren Jahren im Croesortal einem Geistlichen begegnet zu sein, ausgenommen dem höchst untypischen, weil anglikanischen R. S. Thomas, der gekommen war, um unseren Nachbarn und seinen Dichter-Kollegen (in englischer Sprache zwar), zu begraben, auf einem steil abfallenden Friedhof mit einem unvergeßlichen Blick auf den Snowdon.) Die völlige Abstinenz vom Alkohol, die in einer Bevölkerung, die so energisch an außerehelichem Verkehr (den es offiziell nicht gab) interessiert war, das entscheidende Kriterium eines puritanischen Protestantismus sein mußte, wurde immer weniger beachtet. Der Ort für die neue Kultur eines militanten walisischen Nationalismus war nicht die Kapelle, sondern die Kneipe. (Clough hatte eine gebaut, die »Brondanw Arms«, mit einem wunderschön gewundenen metallenen Kranz als Wirtshausschild, doch dieses Motiv sagte den Bewohnern von Garreg und Llanfrothen nichts, die das Haus und den Kranz einfach nur den »Ring« nannten.) Es blieb nur ein nachsichtiges Schweigen über die unehelichen Kinder, selbst wenn sie nicht als unerwartete jüngere Geschwister ihrer Mütter ausgegeben werden konnten. Die Berge wurden zugunsten des Flachlands verlassen, wo es preiswerte Sozialwohnungen mit Zentralheizung gab. Selbst das Geld entzweite jetzt die Gemeinden stärker als früher: Innerhalb der walisischen Sprachgemeinschaft war Wohlstand in der Vergangenheit nicht entscheidend gewesen, da die wirklich Reichen und Mächtigen anglisiert waren oder wurden, mit anderen Worten nicht dazugehörten. Sofern einige einen höheren Rang als die übrigen eingenommen hatten, war dieser spiritueller oder intellektueller Art – wenn jemand etwa Geistlicher (das heißt Redner), Dichter oder Gelehrter war, eine

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Rolle, die jeder übernehmen konnte: ein Postbote mit einer Begabung für Gedichte im komplexen Versmaß der walisischen Dichtung oder ein Schreiber in einem Steinbruch wie der große Antiquar und Gelehrte Bob Owen, der Stolz von Croesor, dessen Bibliothek heute einen Bestandteil der National Library of Wales in Aberystwith bildet. (Seine Söhne und seine Angehörigen – Tudwr, Gaynor und ihre Kinder Bob, Eleri und das Baby Deian – waren und blieben unsere Freunde im Dorf.) Einen weniger kulturellen, aber noch immer lokal anerkannten männlichen Status genoß, wer sich beim Wildern hervorgetan hatte, ein vielfach geübter und allgemein gebilligter Sport. Noch in unserer Zeit, als uns ein walisischer Freund aus einem alten Schieferbruchdorf Lachs für unser Essen geben wollte und den wöchentlich aufkreuzenden fahrenden Fischhändler nach dem Preis fragte, gab dieser wie selbstverständlich zur Antwort: »Wollen Sie kaufen oder verkaufen?« Die großartigen Gedichte eines R. S. Thomas sollten uns nicht zu der falschen Vorstellung verleiten, die meisten Bergbauern in Nordwales seien ungehobelte, geistlose Klötze. Unter diesen niedrigen Dächern, von den Vorfahren so ausgelegt, daß sie den größtmöglichen Ausblick auf nahende Fremde mit dem größtmöglichen Schutz vor Regen und Sturm vereinbarten, wurde viel gelesen und gedacht. In vieler Hinsicht war unser Nachbar Edgar aus Croesor Ychaf, der uns das regelmäßige gemeinsame Zusammentreiben all der frei in der Wildnis streifenden Schafe durch die ansässigen Bauern und ihre Hunde vor der Schur erklärte, über die Ökologie des Geländes ebensogut unterrichtet wie der an einem College ausgebildete, verdrossen nationalistische Aufseher über das Naturschutzgebiet, der in das ehemalige Dorfpostamt eingezogen war, und mindestens ebenso redegewandt wie dieser. Ob Cloughs Reich für den gebirgigen Teil von Wales typisch war, kann ich nicht sagen, aber es war ein instabiler und unglücklicher Ort voll unterschwelliger Spannungen. Diese äußerten sich in einem wachsenden und zuweilen erbitterten engländerfeindlichen Ressentiment, einem Rückzug aus persönlichen Beziehungen, der bei Erwachsenen selbstverständlicher als bei Kindern erfolgte.2 Es gab noch weitere Anzeichen für soziales Unbehagen. Als die »orange people«, die »Sanyasin« oder Anhänger des indischen Gurus Sri Baghwan zu Beginn der achtziger Jahre ins Tal kamen, gewannen sie ihre Jünger unter den einheimischen Walisern ebenso wie – was weniger überraschend war – innerhalb der Diaspora englischer Bohemiens. Und das lag eindeutig nicht nur daran, daß ihr Weg zum Heil zu ausgiebigem freien Sex aufforderte. Croesor war ein wunderbarer Ort, um Familienferien zu verbringen, aber es war kein glückliches Tal.

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Als ich 1982 meine Tätigkeit am Birkbeck College aufgab, hatten wir fast zwei Jahrzehnte lang jedes Jahr eine gewisse Zeit in Cloughs Reich verbracht. Bryn Hyfryd und mehr noch Parc Farm, flankiert vom alten Gutshaus (Big Parc), mit seinen Besuchern und dem winzigen Gatws, voll von Cousins der Schwarzfamilie, war ein Teil unseres und mehr noch des Lebens unserer Kinder und unserer Freundschaften. Einfach weil sie nicht vom ständigen Einerlei des Alltags und des Berufslebens erstickt wurde, ist die in Nordwales verbrachte Zeit – samt den häuslichen und den Familienkrächen – in der Erinnerung ganz besonders lebendig geblieben: die furchtbare Nachricht vom sowjetischen Einmarsch in Prag 1968, die Nachricht vom Tod meiner Tante Mimi, die per Telegramm – so etwas gab es noch – einem Cottage ohne Telefonanschluß überbracht wurde, die Autotür, die vom Sturm aus den Scharnieren gerissen wurde, als wir gerade ausstiegen, um uns auf einem von Fackeln erleuchteten Weg zu Edward Thompsons Silvesterparty zu begeben, unsere Fahrt mit Dorothy Wedderburn zu einem Picknick vorbei an Aberdaron am abgelegenen Ende der Halbinsel Lleyn an einem sonnigen Weihnachtstag, der alte Brunnen in Parc, der uns selbst während der großen Dürre von 1976 mit Wasser versorgte. Mit Ausnahme der Landschaft war es nicht vollkommen: das einfache Leben ohne jeden Komfort wie bei den Pfadfindern verlor mit der Zeit an Reiz (Marlene hatte ihm nie etwas abgewinnen können), und der zunehmende Nationalismus erfüllte die Beziehungen zu den walisischen Einheimischen mit Bitterkeit. Doch obwohl ich im Begriff stand, vier Monate im Jahr in New York zu verbringen, wären wir wahrscheinlich doch bis ans Ende unseres Lebens im Croesortal geblieben. Nachdem jedoch Clough 1978 und Amabel 1984 gestorben waren, änderten sich die Dinge. Cloughs Enkel, der das Anwesen übernahm – seine Eltern waren vollauf damit beschäftigt, die Fabrik zur Herstellung der Portmeirion-Keramik zu führen und sich um den Vertrieb zu kümmern –, war ein glühender walisischer Nationalist, der kein Interesse an der Sammlung von Cambridge-Antiken seiner Großeltern zeigte, die Platz in Häusern in Anspruch nahmen, deren Wände eigentlich von der walisischen Sprache ihrer wiederhergestellten kymrischen Familien widerhallen sollten. Kurzum, die Mietverträge der Auswärtigen wurden nicht verlängert. Die offizielle Begründung war, daß nur noch an Dauermieter vermietet werde. Man erlaubte uns, jeweils ein weiteres Jahr zu kommen, bis sich ein geeigneter walisischer Interessent fand oder bis das Gut das Geld aufgetrieben hatte, um das Innere von Parc Farm so einzurichten, daß das Haus für jeden bewohnbar war, nur

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nicht mehr als Zweitwohnsitz für einen Romantiker. Wir blieben noch ein oder zwei Jahre zu diesen Bedingungen und suchten inzwischen nach einem neuen Haus in Wales, aber nicht mehr im Norden. Jedenfalls verloren auch unsere Freunde ihre Cottages, und als ich die Siebziger überschritten hatte, war das Klettern an den Hängen des Cnicht nicht mehr so reizvoll. Wir fanden etwas Geeignetes in der milderen Landschaft und im bekömmlicheren politischen Klima von Powys, von dessen Anhöhen aus ich an klaren Tagen Cader Idris sehen kann. Meine Tochter besucht auch heute gelegentlich das Tal. Weder Marlene noch ich waren noch einmal dort, seit wir 1991 weggezogen sind. Ich bringe es nicht übers Herz, den Ort noch einmal aufzusuchen. Aber ich kann ihn nicht vergessen.

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I In den ersten Tagen des Mai 1968 befand ich mich in Paris, wo eine der Unterorganisationen der UNESCO zum Gedenken an den 150. Geburtstag von Marx eine Mammutkonferenz zum Thema »Marx und das gegenwärtige wissenschaftliche Denken« vorbereitet hatte. Wie bei den meisten derartigen Veranstaltungen bestand ihre offensichtliche Funktion darin, einer Reihe von Wissenschaftlern an Universitäten zu einer kostenlosen Reise zu einem angenehmen touristischen Ziel zu verhelfen; und wie die meisten Konferenzen über Marx, vor allem jene, bei denen ein Aufgebot von ideologischen Bürokraten aus der UdSSR sterbenslangweilige Referate ohne jedes Interesse beitrug, regte sie die Teilnehmer dazu an, den Konferenzsaal zu verlassen und auf die Straße zu gehen. Doch am 8., 9. und 10. Mai waren die Straßen von Paris – zumindest im 5. und 6. Arrondissement – schwarz von demonstrierenden Studenten. Durch eine Laune des Zufalls fiel das Gedenken an den Geburtstag von Marx mit dem Höhepunkt des großen Pariser Studentenaufstands zusammen. Innerhalb von ein oder zwei Tagen sollte mehr daraus werden als nur eine Rebellion von Studenten, nämlich ein landesweiter Arbeiterstreik und eine größere politische Krise des Regimes von General de Gaulle.1 Innerhalb weniger Monate wurden die »Maiereignisse« als das Zentrum einer in zwei Kontinenten ausbrechenden Studentenrevolte erkannt, die sich über politische und ideologische Grenzen hinweg von Berkeley und Mexiko-Stadt im Westen bis Warschau, Prag und Belgrad im Osten erstreckte. Während ich dies schreibe, blicke ich auf die Bilder jener Pariser Tage in einer Anthologie von 68er Fotografien, die dreißig Jahre später als Buch veröffentlicht wurden.2 Einige der eindrucksvollsten wurden am letzten Tag der Marxkonferenz aufgenommen – ich erinnere mich noch an das beißende Tränengas nach den Bränden im Quartier Latin –, doch was mir am längsten im Gedächtnis haften blieb, ist in Henri Cartier-Bressons undatierter Aufnahme von einem massiven studentischen Protestmarsch eingefangen: ein unübersehbarer Strom von überwie-

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gend männlichen Jugendlichen, mit offenem Hemd und geballter Faust, fast ausnahmslos noch mit dem kurzen bürgerlichen Haarschnitt vor dem Hippiezeitalter, eine Menge, in der vereinzelte Gesichter von Erwachsenen fast untergehen. Dennoch sind es diese isolierten Gesichter von Erwachsenen, an die ich mich besonders lebhaft erinnere, da sie sowohl die Einheit als auch die Unvereinbarkeit der alten Generation der Linken – meiner eigenen – mit der neuen deutlich machen. Ich erinnere mich an meinen alten Freund und Genossen Albert (»Marius«) Soboul, Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte der Französischen Revolution an der Sorbonne, aufrecht, mit feierlichem Gesicht, im dunklen Anzug mit Krawatte eines akademischen Granden, Seite an Seite mit jungen Männern, die ohne weiteres seine Kinder hätten sein können und Slogans riefen, die er als loyales Mitglied der KPF zutiefst mißbilligte. Doch wie hätte ein Mann in der Tradition der Revolution und der Republik es fertigbringen sollen, bei einem solchen Anlaß nicht »auf die Straße zu gehen«? Ich erinnere mich an Jean Pronteau – damals noch ein ranghohes Parteimitglied –, der 1944 den Aufstand von Paris gegen die deutschen Besatzer im Quartier Latin kommandiert und mir erzählt hatte, wie bewegt er beim Anblick der Barrikaden gewesen sei, die spontan an derselben Ecke der Rue Gay-Lussac errichtet wurden wie schon 1944, wo sie sich auch zweifellos schon in den Revolutionen von 1830, 1848 und während der Pariser Kommune von 1871 befunden hatten. Nicht nur Adel, auch eine revolutionäre Tradition verpflichtet. Und tatsächlich hat mich damals nichts so schockiert wie die Versammlung, zu der ich und einige weitere Marxisten auf der UNESCOVeranstaltung vom Institut Maurice Thorez oder einem anderen akademischen Anhängsel der französischen KP eingeladen waren und wo Punkte einer marxistischen Interpretation diskutiert werden sollten, während die Studenten marschierten. Niemand schien von dem, was da draußen vor sich ging, Kenntnis zu nehmen. Ich erzeugte für einige Augenblicke ein gewisses Unbehagen, als ich diesen Umstand zur Sprache brachte. Hatten wir nichts zu dem zu sagen, fragte ich, was auf denselben Straßen passierte, durch die wir auf dem Weg zu unserer Versammlung gegangen waren? Konnten wir nicht wenigstens unsere allgemeine Zustimmung erklären? Leider kann ich mich 34 Jahre später beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, ob es denen, die ähnlich dachten wie ich, gelang, die Versammlung so zu beschämen, daß sie eine solche Erklärung abgab. Wahrscheinlich nicht. Die Sammlung von Magnum-Fotografien enthält ein weiteres Bild, das zumindest einen Teil meiner damaligen Empfindungen zum Ausdruck bringt. (Auch dieses Bild, ich muß es kaum betonen, stammt von

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Cartier-Bresson, der immer wieder auf geniale Weise den historischen Augenblick erfaßt.) Ein älterer Angehöriger des Bürgertums blickt stehend mit hinter dem Rücken verschränkten Armen nachdenklich auf eine ganz mit Plakaten beklebte Pariser Mauer und ein grob gezimmertes Holztor – das vermutlich zu einem Lager oder einer Baustelle führt. Die oberste Schicht der Plakate ist halb abgerissen, so daß darunter Mauersteine und ältere Kinoplakate zum Vorschein kommen. Auf dem Tor ist eine Ansammlung von politischen Plakaten angebracht – ein KPF-Plakat oberhalb eines Textes über Studentengewalt, ein halbzerrissener Aufruf zum Kampf für eine demokratische Gesellschaft als Wegbereiterin des Sozialismus und über allem ein großes Graffito, geschrieben mit der Grundausrüstung des 68er Revolutionärs, einer Farbspraydose. Es lautet »Jouissez sans entraves«, was von den Herausgebern verschämt mit »Tut euch keinen Zwang an« übersetzt wurde. (Tatsächlich bedeutete es: »Es lebe der Orgasmus«.) Wir wissen nicht, was sich Cartier-Bressons älterer Betrachter zu den Mauern von Paris gedacht hat, den Hauptopfern und öffentlichen Zeugen der Studentenrevolte. Meine eigene Reaktion war skeptisch. Wie jeder Historiker weiß, sind Revolutionen an der großen Flut von Worten zu erkennen, die sie hervorbringen: gesprochene Worte, aber in Schriftgesellschaften Worte, die in gewaltigen Mengen von Männern und Frauen geschrieben werden, die sich normalerweise nicht schriftlich ausdrücken. Nach diesem Kriterium war der Mai 1968 eine Art Studentenrevolution – doch aus ihren Worten sprach eine eigenartige Revolution, wie jeder sehen konnte, der damals auf die Mauern von Paris geblickt hat. Das liegt daran, daß die typischen Plakate und Graffiti von 1968 nicht eigentlich politisch im traditionellen Sinne waren, abgesehen von den immer wiederkehrenden Schmähungen der Kommunistischen Partei, vermutlich durch die Militanten der zahlreichen Gruppen und Fraktionen der Linken, die fast alle aus irgendeinem leninistischen Schisma hervorgegangen waren. Und doch, wie selten waren die Verweise auf die großen Namen dieser Weltanschauung – Marx, Lenin, Mao oder auch nur Che Guevara – auf den Mauern von Paris!3 Später tauchten ihre Bilder auf Abzeichen und T-Shirts auf, als Ikonen, die den Sturz von Systemen symbolisierten. Die studentischen Rebellen erinnerten manche Theoretiker an einen längst vergessenen bakuninistischen Anarchismus, doch im Zweifelsfall waren sie noch am ehesten mit den »Situationisten« zu vergleichen, denen eine »Revolution des Alltagslebens« durch die Veränderung der persönlichen Beziehungen vorschwebte. Das (und ihre sehr französische Brillanz bei der Formulierung eingängiger Slogans) war der Grund, warum sie zum Sprachrohr einer

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sonst noch nicht ausgereiften Bewegung wurden, obwohl ziemlich sicher ist, daß bis dahin noch kaum jemand außerhalb eines kleinen Kreises von linken Malern von ihnen gehört hatte. (Ich jedenfalls nicht.) Andererseits waren die Slogans von 1968 nicht einfach nur Ausdruck einer Gegenkultur von Aussteigern, auch wenn es ein offensichtliches Bedürfnis gab, das Bürgertum zu schockieren (»LSD tout de suite!«). Sie wollten die Gesellschaft umstürzen und ihr nicht einfach nur ausweichen. Für Linke in mittleren Jahren wie mich waren der Mai 1968 und überhaupt die sechziger Jahre eine ebenso willkommene wie verwirrende Erfahrung. Wir benutzten wohl dasselbe Vokabular, aber wir sprachen anscheinend nicht dieselbe Sprache. Mehr noch, selbst wenn wir an denselben Ereignissen teilhatten, erlebten diejenigen von uns, die alt genug waren, die Eltern der militanten Jugendlichen zu sein, die Ereignisse offenkundig anders als diese. Zwanzig Nachkriegsjahre hatten diejenigen von uns, die in den Staaten einer kapitalistischen Demokratie lebten, zu der Einsicht gebracht, daß eine Sozialrevolution in diesen Ländern nicht auf der politischen Tagesordnung stand. Jedenfalls erwartet man, wenn man die Fünfzig hinter sich hat, die Revolution nicht hinter jeder Massendemonstration, und sei sie noch so eindrucksvoll und aufregend. (Daher erklärt sich übrigens auch unsere – und überhaupt jedermanns – Überraschung über die überproportionale Wirkung der 68er Studentenbewegungen, die schließlich die Präsidenten der USA und, mit einer gewissen Verzögerung zur Wahrung des Gesichts, Frankreichs zu Fall brachte). Außerdem hatte für uns, die wir mit der Geschichte von 1776, 1789 und 1917 aufgewachsen und alt genug waren, um die Veränderungen nach 1933 zu durchleben, die Revolution, wie intensiv sie als emotionale Erfahrung auch sein mochte, ein politisches Ziel. Revolutionäre wollten alte politische Regimes stürzen, im eigenen Land und im Ausland, mit dem Ziel, an ihrer Statt neue politische Regimes einzusetzen, die dann eine neuere und bessere Gesellschaft errichten oder deren Fundamente legen würden. Doch was immer die Mehrzahl dieser jungen Menschen auf die Straße getrieben hatte, dieses Ziel war es nicht. Beobachter, die nicht mit ihnen sympathisierten, wie Raymond Aron (der sich in der Rolle Tocquevilles sah, der die Ereignisse in Paris von 1848 kommentierte), gelangten zu dem Schluß, daß sie überhaupt kein Ziel hatten: 1968 müsse einfach als ein kollektives Straßentheater, »Psychodrama« oder »Verbaldelirium« verstanden werden, da es lediglich »eine kolossale Freisetzung unterdrückter Gefühle« sei.4 Wohlwollende Beobachter wie der Soziologe Alain Touraine, Autor eines der ersten und noch immer erhellendsten Bücher, die über diese außergewöhnlichen Wochen geschrieben wurden,

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sah ihr unausgesprochenes Ziel in einer Rückkehr zu den utopischen Ideologien der Zeit vor 1848.5 Aber man konnte eigentlich keine Utopie in den generellen Antinomismus von Slogans wie »Es ist verboten, zu verbieten« hineinlesen, der wahrscheinlich dem, was die jungen Rebellen empfanden, recht nahekam – ob nun im Hinblick auf die Regierung, Lehrer, Eltern oder das Universum. Tatsächlich waren sie anscheinend nicht besonders an einem sozialen – kommunistisch oder wie immer definierten – Ideal interessiert, ganz im Unterschied zu dem individualistischen Ideal, sich von allem zu befreien, was das Recht und die Macht für sich beanspruchte, den einzelnen an der Verwirklichung dessen zu hindern, wonach seinem Ich oder seinem Es gerade der Sinn stand. Und doch, soweit sie andererseits öffentliche Embleme fanden, die sie sich ans private Revers heften konnten, waren es die Embleme der revolutionären Linken, allein schon deshalb, weil diese traditionell mit Opposition verknüpft waren. Die spontane Reaktion von Altlinken auf die neue Bewegung lautete: »Diese Leute haben noch nicht gelernt, wie sie ihre politischen Ziele erreichen.« Das ist vermutlich der Grund, warum Alain Touraine, der den studentischen Rebellen von 1968 voll Sympathie gegenüberstand, auf den Vorsatz des für mich bestimmten Exemplars seines Buchs schrieb: »Das sind die Primitiven einer neuen Rebellion« – in Anspielung auf den französischen Titel meines Buchs Primitive Rebels, das vor kurzem in Paris erschienen war.6 Denn die Absicht meines Buchs war es tatsächlich gewesen, sozialen Kämpfen historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – Banditen, chiliastischen Sekten, vorindustriellen städtischen Aufständischen –, die man übersehen oder einfach abgetan hatte, nur weil sie versucht hatten, den Problemen der Armen in einer neuen kapitalistischen Gesellschaft mit historisch überholten oder unzureichenden Instrumenten zu Leibe zu rücken. Aber angenommen, die »neuen Primitiven« verfolgten überhaupt nicht unsere Ziele, sondern ganz andere? Weil mein erstmals 1959 erschienenes Buch sich so klar und leidenschaftlich auf die Seite der ewigen Verlierer stellte, über die ich schrieb, hatte es mir unter den jungen anglophonen »neuen Linken« mehr »Ansehen« eingetragen, als Parteimitglieder damals üblicherweise für sich verbuchen konnten. Dennoch war ich erstaunt und ein wenig verdutzt, als mich ein Kollege von der University of California, Berkeley, dem Zentrum der Studentenrevolte in den USA, darüber informierte, daß die intellektuelleren der jungen Rebellen dort das Buch mit großer Begeisterung läsen, »weil sie sich und ihre Bewegung« mit meinen Rebellen »identifizierten«. Nachdem ich 1967 in den USA auf dem Höhepunkt der Anti-Viet-

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nam-Bewegung gelehrt und 1968 die Ereignisse in Paris beobachtet hatte, schrieb ich 1969 einen Artikel über »Revolution and Sex«*, in dem ich mein mangelndes Verständnis äußerte. Soweit es wirklich einen Zusammenhang zwischen beidem gebe, so mein Argument, dann einen negativen: Herrscher hielten ihre Sklaven und die Armen ruhig, indem sie sie zu sexueller Freizügigkeit ermutigten. Ich hätte – in Anlehnung an Aldous Huxleys Schöne neue Welt – auch Drogen erwähnen können. Als Historiker wußte ich, daß alle Revolutionen ihren libertären »Jeder-gegen-jeden«-Aspekt haben, doch »für sich allein betrachtet sind Kulturrevolte und Gegenkultur Symptome und keine revolutionären Kräfte«. »Je auffälliger diese Dinge sind« – wie es offensichtlich in den USA der Fall war –, »desto sicherer können wir sein, daß die entscheidenden Dinge nicht passieren.«7 Aber was wäre, wenn die »entscheidenden Dinge« nicht der Sturz des Kapitalismus oder auch nur einiger unterdrückerischer oder korrupter politischer Regimes sein sollten, sondern gerade die Zerstörung traditioneller Muster zwischenmenschlicher Beziehungen und des persönlichen Verhaltens innerhalb der bestehenden Gesellschaft? Was, wenn wir im Irrtum wären, in den Rebellen der sechziger Jahre eine weitere Phase oder Variante der Linken zu sehen? In diesem Fall wäre es kein schiefgegangener Versuch zu einer Revolution einer bestimmten Art, sondern die wirkungsvolle Ratifizierung einer Revolution anderer Art: einer, die die traditionelle Politik und letztlich die Politik der traditionellen Linken mit dem Slogan »Das Persönliche ist das Politische« abschafft. In der Rückschau nach etwas mehr als dreißig Jahren ist leicht zu erkennen, daß ich die historische Bedeutung der sechziger Jahre falsch verstanden hatte. Einer der Gründe dafür war, daß ich seit 1955 in den kleinen und überwiegend nächtlichen Kosmos der Jazzmusiker eingetaucht war. Die Welt, in der ich in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre nach der Arbeit lebte, schien bereits vieles vom Geist der sechziger Jahre vorwegzunehmen. Das war ein Irrtum. Es war ganz anders. Wenn es überhaupt etwas gibt, was die sechziger Jahre symbolisiert, dann ist es die Rockmusik, die ihre Eroberung der Welt in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre begann und innerhalb kurzer Zeit zwischen den Generationen vor 1955 und nach 1955 eine tiefe Kluft aufriß. Diese Kluft war unmöglich zu übersehen, als meine Frau und ich in Berkeley und San Francisco für ein paar Tage auf dem Höhepunkt des * (Deutsch: »Revolution und Sex«, in: Ungewöhnliche Menschen. Über Widerstand, Rebellion und Jazz, München 2001)

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»Flower-Power«-Jahres 1967 ein ehemaliges Au-pair-Mädchen von Andy und Julia in Haight-Ashbury besuchten, wo sie damals mit ihrer Selbstfindung beschäftigt war. Es war offensichtlich wunderbar für das Mädchen, das gewöhnlich eine so vernünftige Holländerin war, wie man sie sich nur wünschen konnte, und es machte Spaß, sie zu sehen, aber wie hätte dies unsere Welt sein können? Man nahm uns zum Fillmore mit, dem riesigen Tanzsaal, der von Stroboskoplichtern durchzuckt wurde und von den extremen Verstärkern bebte. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, welche Gruppen aus der Bay Area wir gehört haben – die einzige für mich verständliche Nummer an diesem Abend war eine von den Motown Girl Groups – waren es die Marvelettes oder die Supremes? –, die in der vertrauten Weise des schwarzen Rhythm and Blues swingten. Vielleicht ist das kein Wunder. Wer von diesem Jahr in San Francisco etwas haben wollte, der mußte wirklich permanent auf Drogen sein, vorzugsweise auf LSD, und das waren wir nicht. Tatsächlich waren wir aufgrund unseres Alters ein Lehrbeispiel für den Spruch: »Wenn du dich an irgend etwas aus den sechziger Jahren erinnern kannst, dann bist du nicht dabeigewesen.« Außerdem konnte die Jazzwelt – mit ganz seltenen Ausnahmen – den Rock nicht verstehen. Sie reagierte auf die Rockmusik mit derselben Verachtung, mit der sie schon auf die Mickymausmusik der alten Theater- und der kommerziellen Orchester reagiert hatte. Vielleicht sogar mit noch mehr Verachtung, da die Männer, die die langweiligste Musik auf Bar-Mizwa-Feiern spielten, wenigstens Berufsmusiker waren. Umgekehrt brachte der Rock innerhalb weniger Jahre den Jazz fast um. Die generationsbedingte Kluft zwischen denen, für die die Rolling Stones Götter waren, und denen, die in ihnen gerade noch eine glaubhafte Imitation des schwarzen Bluesgesangs sahen, war praktisch unüberbrückbar, auch wenn beide Seiten von Zeit zu Zeit in der Beurteilung des einen oder anderen Talents übereinstimmten. (Zufällig hegte ich eine gewisse Bewunderung für die Beatles und erkannte an Bob Dylan die Ansätze zu einem Genie, einem potentiell großen Dichter, der zu bequem oder zu sehr mit sich beschäftigt war, um die Aufmerksamkeit der Muse länger als für zwei oder drei Zeilen auf sich zu ziehen.) Welchen Anschein es auch haben mochte, meiner Generation blieben die sechziger Jahre fremd. Und dies, obwohl Sprache, Kultur und Lebensstil der neuen Rockgenerationen für einige Jahre politisiert waren. Man sprach Dialekte, die sich erkennbar aus der alten Sprache der revolutionären Linken ableiteten, allerdings natürlich nicht aus dem orthodoxen Moskau-Kommunismus, der sowohl durch die Verbrechen der Stalinära als auch durch

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die politische Mäßigung der Kommunistischen Parteien diskreditiert war. Jeder, der das beste Buch über die sechziger Jahre gelesen hat, das in England erschienen ist, Promise of a Dream von meiner Freundin und ehemaligen Studentin Sheila Rowbotham, wird einsehen, daß es einige Jahre lang für einen Angehörigen ihrer Generation (Jahrgang 1943) fast unmöglich war, zwischen dem Persönlichen und dem Politischen zu unterscheiden. Es war »der linke Alexis Korner« – ich sehe ihn noch vor mir, dunkelhaarig und ruhig in Bayswater –, der »die direkte hämmernde Sexualität der Bluesbands«8 wie den Rolling Stones inspirierte: Mick Jagger schrieb »Street Fighting Man« nach einer dramatischen Solidaritätsdemonstration für Vietnam 1968 und veröffentlichte den Text in der von dem extravaganten pakistanischen Trotzkisten Tariq Ali herausgegebenen neuen radikalen Zeitschrift The Black Dwarf (»PARIS, LONDON, ROME, BERLIN. WE WILL FIGHT. WE SHALL WIN«). Pink Floyd, »Die Dialektik der Befreiung«, Che Guevara, Mittelerde und LSD gehörten zusammen. Nicht daß die Trennlinie vollkommen aufgehoben gewesen wäre. Ein späterer Inhaber eines Lehrstuhls für Ökonomie in Cambridge machte den Vorschlag, daß prinzipientreue Sozialisten öffentlich gegen die Ausbreitung von Stripteaselokalen in Soho protestieren sollten, indem sie beispielsweise vor ihnen auf der Straße selbst einen Striptease veranstalteten. (Die Leute von der New Left Review hatten ihm gesagt, er sei »puritanisch und altmodisch in seiner Einstellung zum Sozialismus«.) Träger »des düsteren und immer abgetrageneren ›Kampfanzugs‹ . . . der Linken« schüttelten den Kopf über eine ebenso engagierte Militante, die zu einer Besetzung der London School of Economics »in einem olivgrünen Hosenanzug mit ausgestellten Hosenbeinen [erschien], den [sie] im September in einem Kaufrausch erstanden hatte«.9 Das meiste hiervon strich an der älteren Linken vorbei, auch wenn die jungen Radikalen in England – möglicherweise dank meiner Generation von roten Historikern – wahrscheinlich mehr Geschichte, vor allem mehr Geschichte der Arbeiter, in sich aufgenommen hatten als jede andere Generation. Wir kannten die meisten der Hauptaktivisten als Mitdemonstranten, Schüler oder Freunde. Ich hielt es nicht für nötig, den Black Dwarf zu lesen, obwohl ich gebeten wurde, einen Artikel für ihn zu schreiben, was ich natürlich getan habe. Menschen wie ich wurden von den Jungen für solche Unternehmungen mobilisiert wie VietnamTeach-ins – ich wurde auf dem von Tariq Ali organisierten Teach-in der Debattiergesellschaft Oxford Union 1965 gegen den katastrophal schlecht ausgewählten Henry Cabot Lodge aufgestellt, den ehemaligen amerikanischen Big Brother in Saigon. Zum Glück blieb mir in mei-

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nem eigenen College die kränkende Erfahrung einer Besetzung durch die Studenten erspart, immer eine starke Belastung für die Beziehungen zwischen den Generationen, auch wenn ich eingeladen wurde, vor Besetzern in den Cambridger Old Schools zu sprechen, und zwar von einem ihrer Anführer, dem Sohn von alten Freunden. Mein Vorschlag, auch die Geschichte von Epochen, die in den Nebeln einer grauen Vorzeit versunken seien wie das 19. Jahrhundert, könne »relevant« sein – das Blähwort von damals –, war für sie wohl eine Enttäuschung. Wir haben nicht erkannt, wie weitgehend die unzweifelhaft politische Ultralinke, die bewaffneten Revolutionäre und Neoterroristen, die aus den sechziger Jahren hervorgingen, von der »Gegenkultur« beeinflußt oder besser gesagt ein Teil von ihr waren. Die »Weathermen« in den USA entnahmen ihre Bezeichnung einem Lied von Bob Dylan. Die Rote Armee Fraktion, damals besser bekannt als die Baader-MeinhofBande, lebte in der deutschen Version einer Gegenkultur, als Außenseiter durch eigene Wahl und im Lebensstil. Meine Altersgruppe verstand nicht, daß die Studentengenerationen des Westens in den sechziger Jahren, wie einst wir selbst, überzeugt waren – wenn auch in einer Weise, die man nicht mehr so ohne weiteres als »politisch« bezeichnen kann –, in einer Zeit zu leben, in der alles durch die Revolution verändert werden würde, weil in ihrer Umgebung bereits alles in einer Veränderung begriffen war. Wir, oder zumindest pessimistisch veranlagte Rote in den mittleren Jahren wie ich selbst, die bereits die Narben eines halben Lebens von Enttäuschungen trugen, konnten nicht den fast grenzenlosen Optimismus der Jungen teilen, wenn sie sich »von diesem Wirbel der internationalen Rebellion erfaßt« fühlten.10 (Eines seiner Nebenprodukte war die Mode des globalen Revolutionstourismus, so daß 1967 beim Tod Che Guevaras und dem Prozeß gegen Régis Debray italienische, französische und englische Linksintellektuelle gleichzeitig in Bolivien eintrafen.) Natürlich waren wir alle in diese großen globalen Kämpfe verwickelt. Wirklich hatte die Dritte Welt die Hoffnung auf eine Revolution in den sechziger Jahren in die erste zurückgebracht. Die beiden großen internationalen Ermutigungen kamen aus Kuba und Vietnam, Triumphe nicht nur der Revolution, sondern auch von Davids gegen Goliaths, der Schwachen gegen die Allmächtigen. »Die Guerilla« – ein emblematisches Wort jener Zeit – wurde zum Schlüssel schlechthin zur Veränderung der Welt. Fidel Castros Revolutionäre, erkennbar an ihrer Jugend, ihren langen Haaren und Bärten und ihrer Rhetorik als die Erben von 1848 – man denke nur an das berühmte Bild von Che

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Guevara –, hätten fast erfunden worden sein können, um als Weltsymbole eines neuen Zeitalters der politischen Romantik zu dienen. Es kostet Mühe, sich an die fast unmittelbar weltweit erfolgenden Rückwirkungen dessen zu erinnern (und selbst heute fällt es schwer zu verstehen), was im Januar 1959 letztlich kein ungewöhnliches Ereignis in der Geschichte einer einzelnen lateinamerikanischen Insel von bescheidenen Ausmaßen war. Kleine, abgemagerte Vietnamesen auf Dschungelpfaden und in Reisfeldern setzten die gewaltige Zerstörungsmacht der USA schachmatt. Von dem Augenblick an, als Präsident Johnson 1965 seine Soldaten entsandte, hatten selbst Leute wie ich, in mittlerem Alter und ohne utopische Hoffnungen, nicht den geringsten Zweifel, wer gewinnen würde. Mehr als alles andere in den sechziger Jahren waren es die Größe, der Heldenmut und die Tragik des vietnamesischen Kampfes, was die englischsprechende Linke bewegte und mobilisierte und ihre beiden Generationen und fast alle sich gegenseitig befehdenden Sekten zusammenband. Ich habe auf dem Grosvenor Square Altersgenossen und Schüler getroffen, die vor der amerikanischen Botschaft demonstrierten. Ich beteiligte mich zusammen mit Marlene und unseren beiden Kindern an Demonstrationsmärschen und skandierte »Ho-Ho-Ho Chi Minh« wie alle anderen. Ich war ein erklärter Skeptiker gegenüber der guevaristischen Guerillastrategie, die sich jedenfalls von Anfang bis Ende als katastrophal erwiesen hat (s. Kap. 21), doch Vietnam bleibt in unser beider Herzen eingeschrieben. Sogar am Ende des Jahrhunderts war die Emotion in Hanoi noch da und spürbar, als Marlene und ich eine Gruppe von schmächtigen, zähen älteren Männern im Gesellschaftsanzug, die ihre militärischen Orden trugen, unter den Bäumen zum Haus Ho Chi Minhs gehen sahen. Sie hatten für uns, an unserer Statt gekämpft. Abgesehen von meiner Beteiligung an Vietnamaktionen hatte ich während des Krieges keine besondere Verbindung mit diesem Land und besuchte es auch erst ein Vierteljahrhundert nach seinem Sieg und auch dann nur im Rahmen einer Ferienreise. Dagegen besuchte ich wie so viele Linke, die von der kubanischen Revolution beflügelt waren, Kuba in den sechziger Jahren mehrmals und bekam auf diese Weise nebenbei einen guten Querschnitt durch die Wanderlinke der Welt. Meine erste Reise dorthin machte ich 1960, während des unwiderstehlichen Frühlings der jungen Revolution. Dort traf ich zufällig zwei Freunde und Ökonomen, mit denen ich mich zusammentat und die jenes seltene Phänomen der alten US-amerikanischen marxistischen Linken repräsentierten, die sich weder mit der KP noch mit deren Gegnern identifizierte: den großgewachsenen Paul Sweezy, ganz

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der langsam sprechende New England-Yankee, und Paul Baran. Da ihre kämpferische kleine Zeitschrift, die Monthly Review, in den USA im Kalten Krieg die rote Fahne hochgehalten hatte, fanden sie bei Castro und den Exguerillas der Sierra Maestra freundliche Aufnahme. Meine eigenen Kontakte wurden dagegen durch einen imponierenden KPFührer mit einer seltenen Begabung für politische Anpassung, Carlos Rafael Rodriguez, vermittelt, dessen konsequentes Zusammengehen mit Castro während der Zeit in der Sierra Maestra sich nach dem Sieg auszahlte. Havanna hatte noch eine ausreichende Ähnlichkeit mit dem lebensfrohen Paradies für zwielichtige Touristen aus dem Musical Guys and Dolls (Schwere Jungs und leichte Mädchen), um Rumba und kulturelle Toleranz zu verbreiten, und die Insel schien fruchtbar genug, um dem Revolutionsregime eine scheinbar leichte Zukunft zu verheißen. Wir waren uns einig, daß sie keine Schwierigkeiten haben dürfte, ihre zehn Millionen Einwohner zu ernähren, wobei noch genug für Cuba Libres (Cola mit Rum), Zigarren und diese wundervollen kleinen Kaffees an jeder Straßenecke übrigbleiben würden, die verschwinden sollten, als die Wirtschaft zusammenbrach. 18 Monate nach dem Sieg waren die Flitterwochen zwischen dem Volk und der revolutionären Regierung noch spürbar. Die radikalen jungen US-Amerikaner mit Schmalfilmkameras meidend, reisten wir in einer Wolke aus Optimismus durch das Land. Meinen zweiten Besuch, im Jahr 1962 über Prag, Shannon und Gander, unternahm ich mit einer Delegation von britischen Linken in der üblichen Zusammensetzung: ein Labour-Abgeordneter, einige Vorkämpfer für eine einseitige atomare Abrüstung, ein knallharter Gewerkschaftsführer, in der Regel auf Parteilinie und nicht ohne Interesse an einem fremdländischen Abenteuer, ein oder zwei radikale Verschwörer, KP-Funktionäre und dergleichen. Ein junger, zudringlicher Afrikaner hatte sich irgendwie unter uns gemischt, der behauptete, er vertrete eine unbestimmte »Jugendbewegung« in einer nicht näher bezeichneten Region Westafrikas, und sich nach der Landung in Prag als erstes auf den Weg zum Außenministerium machte, wo er jemanden zu finden hoffte, der über ihn die Revolution der Dritten Welt finanzierte. Die Kubaner wollten nicht das geringste mit ihm zu tun haben. Damals sah ich in ihm jenes kuriose Abfallprodukt der Zeit, einen schwarzen Hochstapler, der die Unwissenheit oder die antiimperialistischen Reflexe von weißen Progressiven ausnutzte: einen der braven Soldaten Schwejk des Kalten Kriegs. Die liberale Linke machte zunehmend Bekanntschaft mit solchen Figuren und ließ sich manchmal von ihnen ausnutzen – in England war der höchst unangenehme »Michael

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X«, auf halbem Wege zwischen einem schlechten Anfang als Westlondoner Gauner und einem bösen Ende unter dem Galgen in Trinidad sowie in V. S. Naipauls scharfzüngigem Roman, eine Zeitlang ein bekannter Gast bei Londoner Partys. Solches Treibgut eines zerfallenden Empires war sicherlich weniger beeindruckend als die militanten Schwarzen aus den USA, die sehr bald von Kuba Hilfe erhofften, doch hinter den durchsichtigen Gaunermaschen von Leuten wie dem jungen Afrikaner lag die Tragödie eines entwurzelten Lebens unter weißen Fremden, die ich damals nicht genügend erkannte. Was die Delegation selbst anging, so kann ich mich nur noch daran erinnern, daß ich für Che übersetzte, der uns (statt Castro) zu einem Essen im ehemaligen Hilton empfing. (Er war tatsächlich, wie er auf dem berühmten Foto erscheint: ein Bild von einem Mann, obwohl er nichts sagte, das von Interesse gewesen wäre.) Doch dank der unschätzbaren Dienste von Argeliers León, Experte auf dem Gebiet afrokubanischer Geheimgesellschaften und -kulte und Direktor des Instituts für Ethnologie und Volkskunde, das vom neuen Regime gerade eingerichtet worden war, kam ich in den schwarzen barrios von Havanna in den Genuß wunderbarer Musik. Mein dritter Besuch galt einer etwas extravaganten Veranstaltung, dem Kulturkongreß in Havanna, der »letzten Episode in Fidel Castros Affäre mit der europäischen Intelligenzija« im Januar 1968. Zu ihm hatte Castro, dessen Beziehungen zu Moskau sich damals ziemlich abgekühlt hatten, demonstrativ keine kulturellen Persönlichkeiten aus dem Ostblock oder (mit Ausnahme Italiens, wo Kultur und KPI noch Hand in Hand gingen) orthodoxe KP-Intellektuelle eingeladen. Statt dessen fand sich dort ein beeindruckendes Aufgebot von unabhängigen, abtrünnigen und heterodoxen Linken aus unterschiedlichen Kulturszenen ein, darunter ein Großteil der älteren Generation der politischen Outgroups der Pariser Avantgarde. Ihr denkwürdigster Beitrag zu dem Kongreß bestand darin, einen politisch-künstlerischen »Zwischenfall« zu inszenieren, als alte Surrealisten bei der Eröffnung einer Kunstschau den mexikanischen Künstler Siqueiros tätlich angriffen, der einmal mit den Plänen zur Ermordung Trotzkijs in Verbindung gebracht worden war, ohne daß klar geworden wäre, ob dieser Attacke eher künstlerische oder politische Differenzen zugrunde lagen. Das Eigenartige an dieser Invasion der Vergangenheit aus dem Quartier Latin lag jedoch darin, wie wenig sie mit der Studentenrevolte gemein hatte oder diese vorwegnahm, die bald darauf Paris erschüttern sollte. Dennoch war es ein aufregendes Ereignis, wenn auch etwas deprimierend angesichts der schlimmen Lage, in die Kubas Wirtschaft sich gebracht hatte. Im-

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merhin erhielt ich auf diese Weise die Gelegenheit, den bemerkenswerten Hans Magnus Enzensberger in seiner Fidelistaphase und seine russische Frau kennenzulernen, die bezaubernde Mascha, eine verlorene Seele, deren Leben auf tragische Weise in London enden sollte, ein Kind der dunklen Nacht der stalinistischen Sowjetunion. Denn ihr Vater war Aleksandr Fadejew, der Generalsekretär des Schriftstellerverbandes in den Jahren des Großen Terrors, mit anderen Worten ein Staatsbürokrat, der sich über die Aufgabe, das Leben und den Tod seiner Freunde zu verwalten, so lange hinwegtrank, bis er 1955 Selbstmord beging. Ich weiß nicht, was Castro mit diesem eigenartigen Zustrom von Europäern anfing. Etwas wohler dürfte er sich in der Gesellschaft von Giangiacomo Feltrinelli gefühlt haben, einem schnauzbärtigen Mann von sportlicher Erscheinung, der vor kurzem aus Bolivien und obendrein aus Peru ausgewiesen worden war und den Kubanern »in einem nur für einen Italiener verständlichen Spanisch« erzählte, »seine Aufgabe als ein europäischer Verleger sei beendet und er sehe sich ganz und gar als einen antiimperialistischen Kämpfer«.11 Glücklicherweise ist der Verlag, der 1955 von ihm gegründet wurde und sich mit der Veröffentlichung politischer und schöngeistiger Literatur gleichermaßen einen Namen gemacht hat – dort erschienen Boris Pasternaks Doktor Schiwago und Lampedusas Der Leopard als Erstveröffentlichungen –, noch heute ein blühendes Unternehmen. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihn bei dieser Gelegenheit getroffen habe, obwohl ich diesen intensiven jungen Multimillionär oberflächlich etwa seit Beginn der fünfziger Jahre kannte, als er ein leidenschaftlicher KP-Aktivist und Finanzier von kommunistischen Kulturveranstaltungen war. Ich erinnere mich an ein sommerliches Gespräch mit ihm in seinem Mailänder Büro in der nervenaufreibenden Zeit der internationalen kommunistischen Krise 1956/57 über die Frage, wohin die Bewegung gehen könnte oder sollte – unterbrochen von Telefonanrufen, bei denen er sich mit einem Mädchen für ein Wochenende in irgendeinem Schloß an der adriatischen Küste verabredete. Es muß ziemlich genau zu der Zeit gewesen sein, als er aus der Partei austrat. Sein Dissidententum sollte ihn in die Unterwelt des bewaffneten revolutionären Kampfs führen. Als Heranwachsender hatte er mit den kommunistischen Partisanen für die Revolution gekämpft, gegen den Faschismus und gegen alles, wofür seine Familie und die Superreichen der Mailänder Bourgeoisie standen. Der Geist Che Guevaras belebte diese Erinnerungen wieder. Bald nach 1968 ging er in den Untergrund – oder so weit in den Untergrund, wie dies einem reichen und prominenten Mann, der ständig in den internationalen Schlagzeilen

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auftaucht, möglich ist – und kam 1972 unter ungeklärten Umständen bei dem Versuch ums Leben, einen Hochspannungsmast in Segregate im mailändischen Hinterland in die Luft zu sprengen. Ob Castro persönlich die charmanten jungen frankokanadischen Intellektuellen gekannt hat, die mich vergeblich davon zu überzeugen suchten, ihr Plan, in den Wäldern Quebecs eine zweite Sierra Maestra aufzubauen, werde die Sache der Weltrevolution voranbringen, weiß ich nicht. Ich vermute, daß irgend jemand in Kuba sie gekannt hat. Den Intelligentesten und Sympathischsten von ihnen habe ich einige Jahre später mehrmals vergeblich angerufen, als ich mich in Montreal aufhielt. Es hob niemand ab. So mangelhaft war mein Kontakt zum Geist der damaligen Zeit, daß mir erst etliche Zeit später der Gedanke kam, daß er zu den Terroristen der nationalistischen Front de Libération du Québec gehört haben mußte, die den britischen Handelsattaché in ihre Gewalt gebracht und einen Quebequer Minister erdrosselt hatte, möglicherweise einer von denen, die als Gegenleistung für die Freilassung des britischen Diplomaten nach Kuba ausreisen durften. Doch so waren die Zeiten, als selbst die Ultras eines ethnolinguistischen Nationalismus wie die frühe baskische ETA sich im Gewand der Weltrevolution präsentierten. II Für einen Augenblick in den späten sechziger Jahren hatten die Jungen oder zumindest die Kinder der alten bürgerlichen Schichten und der neuen Massen, die durch die Explosion im höheren Bildungswesen in diese Ränge aufgestiegen waren, das Gefühl, die Revolution zu verwirklichen, ob durch einen einfachen kollektiven privaten Auszug aus der Welt der Macht, der Eltern und der Vergangenheit oder durch die anhaltende, sich verstärkende, fast orgiastische Erregung durch politische oder scheinpolitische Aktionen oder Gesten, die an die Stelle von Aktionen traten. Die Stimmung der politischen Jugend in »jenem hektischen Frühling und Sommer« von 1968 war erkennbar revolutionär, aber unverständlich für die Altlinken meiner Generation, und nicht nur deshalb, weil die Lage einfach in keiner realistsischen Hinsicht revolutionär war. Ich möchte Sheila Rowbotham das Wort geben, die diese Lage mit wunderbarer Klarheit beschrieben hat: »Persönliche Gefühle traten in den Hintergrund. Meine sexuellen Begegnungen wurden zwischen Sitzungen absolviert, und irgendwie machten sich die gewohnten Gefühle bei ihnen nicht bemerk-

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bar. Es war, als habe die Intimität eine beinahe wahllose Qualität angenommen. Die Kraft des äußeren Kollektivs wurde so intensiv, es schien, als wären die Grenzen der engen Verbundenheit, der ekstatischen Innerlichkeit auf die Straßen übergeschwappt . . . Mir bot sich also ein flüchtiger Blick auf die eigenartige Vernichtung des Persönlichen inmitten dramatischer Ereignisse wie der Revolution . . . In der historischen Distanz erscheinen Revolutionen puritanisch, doch so werden sie nicht erlebt . . . Von diesem Wirbel einer internationalen Rebellion erfaßt, hatten wir das Gefühl, als würden wir an den Rand der bekannten Welt befördert.«12 Wie auch immer, als aus den dichten Wolken einer maximalistischen Rhetorik und kosmischen Erwartung der Regen des Alltags geworden war, wurde der Unterschied zwischen Ekstase und Politik, Flower Power und realer Macht, zwischen Reden und Handeln schnell wieder sichtbar. Der Schall der Posaunen Josuas hatte die Mauern von Jericho nicht zum Einsturz gebracht. Die politische Jugend mußte darüber nachdenken, was getan werden mußte, um die Stadt einzunehmen. Da die ältere wie die jüngere Generation von Revolutionären eine gemeinsame Sprache sprachen, hauptsächlich in dem einen oder anderen marxistischen Dialekt, wurde wieder ein Anschein von Kommunikation möglich, zumal die aktivistischen Gruppen mit dem vagen Glauben an spontane Einfälle brachen und häufig zur Tradition disziplinierter Avantgardeorganisationen zurückkehrten. Tatsächlich bestand jedoch noch immer eine breite Kluft zwischen den alten und den jungen Linken. In unseren Ländern war keine Revolution »angesagt«. Für Revolutionäre meiner Generation bestand das zentrale Problem immer noch darin, was marxistische Parteien in nichtrevolutionären Ländern tun sollten und worin überhaupt ihre Aufgabe bestehen könnte. Und anderswo? Wo ein erfolgreicher Aufstand oder die Eroberung der Macht durch eine Guerilla realistischerweise anstand, waren wir – oder jedenfalls ich – immer noch dafür. Der alte Instinkt, auf der Seite von Aufständischen und Guerrillas zu stehen, die die Sprache der Linken sprachen, und sei sie noch so dumm und unscharf, hielt sich hartnäckig. Erst in den achtziger Jahren, als ich mit dem Phänomen der peruanischen Guerillas vom »Leuchtenden Pfad« konfrontiert war – der zugegebenermaßen auf einer Ideologie beruhte, die selbst nach den Maßstäben der hundertfünfzigprozentigsten Marxisten-Leninisten exzentrisch war –, gestand ich mir offen ein, daß es sich hier um eine linke revolutionäre Bewegung handelte, deren Sieg ich einfach nicht wollte. (Glücklicherweise hatten gute viet-

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namesische Kommunisten den killing fields von Pol Pot ein Ende gemacht.) Vielleicht war die Sympathie für die Rebellen nicht mehr als die Version des Intellektuellen von der uralten omertà der Armen, der Reflex, niemanden zu verraten, der vom Staat und seinen uniformierten Leuten verfolgt wurde. Vielleicht war das ganz natürlich für den Autor von Die Sozialrebellen und Die Banditen, der noch immer Schwierigkeiten hat, kämpferischen, wenn auch schlicht irregeleiteten Verlierern seine Bewunderung vorzuenthalten. In den USA galten meine Sympathien den Black Panthers. Ich bewunderte ihren Mut und ihre Selbstachtung. Ich war gerührt vom einfältigen Leninismus ihrer Veröffentlichungen, auch wenn für mich feststand, daß sie nicht die geringste Chance hatten, ihre Ziele zu verwirklichen. Gegenüber den meisten Organisationen von Aufständischen oder genauer den kleinen bewaffneten Aktionsgruppen, die in Europa aus dem Schutt der großen Rebellion von 1968 entstanden, empfand ich keinerlei Sympathie. Im Hinblick auf ihre Pendants in der völlig anderen politischen Lage in Lateinamerika (siehe Kap. 21) gab es Spielraum für begründete Meinungsunterschiede, doch in Europa waren ihre Aktivitäten entweder sinnlos oder kontraproduktiv. Die einzigen Operationen dieser Art, die eine gewisse politische Realisierungschance für sich beanspruchen konnten, waren die der separatistischen Nationalisten, der Québequois, Basken oder Iren, deren politischem Projekt ich sehr ablehnend gegenüberstand. Marxisten sind keine separatistischen Nationalisten.13 Davon abgesehen hat eine der beiden dauerhaftesten separatistischen Bewegungen von der Art, wie sie damals geboren wurden, die Provisional IRA, für sich überhaupt nicht in Anspruch genommen, der Linken anzugehören, sondern sich im Gegenteil 1969 von der seit langem bestehenden (»offiziellen«) IRA abgespalten, die tatsächlich links geworden war. Mithin fand ich mich, und sei es auch nur wegen meines Alters, ohne Sympathie für und ohne Kontakt mit den neuen praktischen Revolutionären. Nicht daß es von ihnen sehr viele gegeben hätte. In England gab es keine außer der kurzlebigen, wirkungslosen anarchistischen Angry Brigade. In Westdeutschland zählten die aktiven Anhänger einer bewaffneten Aktion höchstens ein paar Dutzend Leute, die sich auf die Unterstützung von vermutlich 1500 Sympathisanten verlassen konnten, zu denen vielleicht noch eine Handvoll weiterer dazukam, die vom bewaffneten Kampf im eigenen Land zu internationalen Aktionen in antiimperialistischer Solidarität mit irgendeiner Rebellenorganisation in der dritten Welt, zumeist mit den Palästinensern, übergegangen waren. Es war eine Welt, die ich nicht kannte, sofern nicht der

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eine oder andere unter den häufig sehr radikalen jungen westdeutschen Historikern gewisse Beziehungen zu ihnen unterhielt. Ich war ohne Kontakt zu den Roten Brigaden und ihresgleichen in Italien, der bei weitem eindrucksvollsten unter den bewaffneten Aktionsgruppen in Europa außer der baskischen ETA. Ich bezweifle, daß die Zahl der aktiven Mitglieder dieser Gruppen über ein- bis zweihundert hinausging. Aus für mich bis heute unverständlichen Gründen sind offenbar keine nennenswerten bewaffneten revolutionären Gruppen der Linken aus den Trümmern von 1968 in Frankreich hervorgegangen, während in Belgien eine kleine, aber sehr effektive terroristische Gruppe mehrere Jahre lang aktiv war. Wenn ich allerdings mit solchen Gruppen in Verbindung gestanden hätte, dann hätte ich sie nicht gefragt, was sie taten, und sie hätten mir nichts gesagt, auch wenn sie überzeugt gewesen wären, daß ich politisch auf ihrer Seite stand. Und wohin führte das alles? In der Politik kaum irgendwohin. Da eine Revolution nicht zur Debatte stand, mußten sich die europäischen Revolutionäre von 1968 der politischen Hauptströmung der Linken anschließen, oder sie zogen sich als gescheite junge Intellektuelle, und das waren viele von ihnen, aus der Realpolitik in die akademische Sphäre zurück, in der revolutionäre Ideen auch ohne eine mit ihnen verbundene politische Praxis überleben konnten. Politisch hat die Generation von 1968 sich gut geschlagen, vor allem wenn man jene mit einschließt, die es in den Staatsdienst und die Denkfabriken gezogen hat oder die sich der steigenden Zahl von Beratern in den Privatbüros der Politiker anschlossen. Während ich dies hier schreibe, ist der Extrotzkist Lionel Jospin französischer Ministerpräsident, der deutsche Außenminister Joschka Fischer war früher Straßenkämpfer, und selbst die »New Labour«-Regierung Tony Blairs hat unter ihren weniger bedeutenden Mitgliedern mehr als einen Hitzkopf jener Tage. Nur in Italien, wo die extreme Linke eine starke unabhängige Präsenz wahrte, wurde die Mainstream-Linke nicht durch die jungen Radikalen von 1968 verjüngt. Ist das nicht genau das unvermeidliche Absickern früherer Revolutionäre aus dem Radikalismus in die Mäßigung, das alle intellektuellen Generationen seit 1848 kennzeichnet? Was die westliche Welt wirklich verändert hat, ist die Kulturrevolution der sechziger Jahre. Das Jahr 1968 wird sich möglicherweise weniger als ein Wendepunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts erweisen als das Jahr 1965, dem keinerlei politische Bedeutung zukommt – aber es war das Jahr, in dem die französische Textilindustrie zum ersten Mal mehr Hosen als Röcke für Frauen produziert hat und die Zahl der angehenden katholischen Priester sichtbar einbrach. Den Studenten in mei-

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nen Seminaren über die englische Arbeiterbewegung habe ich immer gesagt, daß der große Dockarbeiterstreik von 1889, der in keinem Lehrbuch fehlen darf, möglicherweise weniger bedeutsam war als die geräuschlose Übernahme einer bestimmten Kopfbedeckung durch die Masse der englischen Industriearbeiter irgendwann zwischen 1880 und 1905, an der sie wie an einem Abzeichen als Angehörige ihrer Klasse zu erkennen waren, nämlich der vertrauten Schirm- oder »Schlägermütze«. Man könnte auch behaupten, der wirklich aussagekräftige Indikator der Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei nicht eine Ideologie oder die Tatsache, daß Studenten neben dem Studium einem Job nachgingen, sondern der Vormarsch der Blue Jeans. Doch leider habe ich mit dieser Geschichte nichts zu tun. Denn die Levi’s triumphierte, wie die Rockmusik, als Zeichen der Jugend. Damals war ich nicht mehr jung. Weder hatte ich eine besondere Sympathie für das zeitgenössische Äquivalent zu Peter Pan: den Erwachsenen, der für immer ein Jugendlicher bleiben möchte, noch sah ich mich als jemanden, der die Rolle des ältesten Teenagers auf der Bühne glaubwürdig spielte. Deshalb beschloß ich, fast aus Prinzip, diese Kleidung nie zu tragen, und habe es auch nie getan. Das behinderte mich als Historiker der sechziger Jahre: Ich stand außerhalb von ihnen. Was ich über diese Zeit geschrieben habe, ist das, was ein Autobiograph schreiben kann, der nie Jeans getragen hat.

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I In der Rückschau bin ich überrascht, wie gering meine direkte politische Aktivität in meinem Leben nach 1956 war, wenn man meinen Ruf als engagierter Marxist bedenkt. Ich übernahm keine führende Rolle in der Bewegung für atomare Abrüstung und hielt keine Reden vor großen Menschenmengen im Hyde Park wie Edward Thompson. Ich marschierte nicht an der Spitze einer öffentlichen Demonstration wie Pierre Bourdieu in Paris. Ich bewahrte keinen türkischen Redakteur vor dem Gefängnis, der einen meiner Artikel veröffentlicht hatte, indem ich anbot, ihm in seinem Prozeß als Mitangeklagter zur Seite zu stehen, wie Noam Chomsky dies 2002 getan hat. Natürlich kann ich mich nicht mit dem Ruhm oder den Starqualitäten dieser Freunde vergleichen, doch selbst auf der Ebene einer geringeren Berühmtheit gab es vieles, was ich hätte tun können. Ich beteiligte mich nach 1968 nicht einmal aktiv an dem erbitterten politischen Kampf innerhalb der kleinen KP Großbritanniens zwischen den Hardlinern der Moskaufraktion und den Eurokommunisten, der schließlich der Partei 1991 den Todesstoß versetzte, auch wenn ich natürlich keinen Zweifel daran ließ, auf welcher Seite ich stand. Abgesehen von vereinzelten Vorträgen erschöpfte sich meine politische Aktivität im wesentlichen darin, Bücher und Aufsätze zu schreiben, vor allem für jenen unabhängigsten unter den Herausgebern, Paul Barker, während seiner Zeit bei der New Society. Ich schrieb als Historiker oder historisch denkender Journalist und als Marxist, was meinen Schriften offensichtlich ebenso eine politische Dimension verlieh wie mein Spezialgebiet, die Geschichte der Arbeiterbewegung. Selbst meine politischsten Schriften der sechziger und siebziger Jahre hingen nur indirekt mit aktuellen Themen zusammen. Somit war ich nicht besonders gut auf den Augenblick vorbereitet, als ich mich zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben in einer kleinen Nebenrolle auf der nationalen Bühne der britischen Politik wiederfand. Etwa zehn Jahre lang seit dem Ausgang der siebziger Jahre war ich an den öffentlichen Debatten über die Zukunft der Labour

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Party und – nach dem Beginn einer, wie sich später herausstellen sollte, 18 Jahre währenden Regierung der Konservativen – über das Wesen des neuen »Thatcherismus« sehr engagiert beteiligt. Die meisten meiner Beiträge wurden in zwei Bänden mit politischen Arbeiten wiederveröffentlicht. Das Ganze entwickelte sich aus einem Keimling, der ohne besondere Absicht im September 1978 in die Seiten der »theoretischen und Diskussionszeitschrift« der Kommunistischen Partei Marxism Today eingepflanzt wurde, die eine unerwartet wichtige Rolle in der politischen Debatte der achtziger Jahre spielen sollte. Ihr Herausgeber war seit kurzem ein brillanter, kahlköpfiger, joggender, Autorennen liebender, politisch-intellektueller Organisator und ehemaliger Hochschuldozent, mein Freund Martin Jacques. Marxism Today veröffentlichte einen Vortrag, den ich im Rahmen der jährlichen Marx Memorial Lectures unter dem Titel »The Forward March of Labour Halted?« gehalten hatte. Er war nicht als politische Wortmeldung gedacht, sondern als Überblick eines marxistischen Historikers über die Entwicklung der britischen Arbeiterklasse während der letzten hundert Jahre. Darin vertrat ich die These, der scheinbar unaufhaltsame, wenn auch nicht gleichmäßige Aufstieg der britischen Arbeiterbewegung in der ersten Hälfte des Jahrhunderts sei offenbar zum Stehen gekommen. Man könne zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht unbedingt erwarten, daß sich die ihr einst prophezeite historische Bestimmung erfüllen werde, allein schon aus dem Grund, weil die moderne Wirtschaft sich geändert und das Industrieproletariat gespalten und in seiner relativen Stärke verringert hatte. Soweit mein Vortrag eine politische Stoßrichtung hatte, richtete er sich gegen die Führung der Labour Party unter Harold Wilson, von 1964 bis 1970 und von 1974 bis 1976 Premierminister, der 1966 nicht erkannt hatte, daß die Arbeiterbewegung für kurze Zeit eine neue Blüte erlebte. Dessenungeachtet lief der Vortrag auf eine öffentliche Warnung hinaus, daß die Bewegung am Ende der siebziger Jahre einer sehr schwierigen Zeit entgegengehe. Ein Teil meiner Darlegung wurde sogleich einer aufgebrachten Kritik von Ken Gill unterzogen, einem Mitglied des General Council des TUC und vielleicht der wichtigste Gewerkschaftsführer der KP Großbritanniens. Er wandte sich gegen meine Bemerkungen zum deutlichen Anwachsen eines Partikularismus innerhalb der Industriearbeiterschaft. Ich hatte darauf verwiesen, daß die so offensichtliche Militanz der Gewerkschaften in den siebziger Jahren in der Hauptsache für die rein wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder eingesetzt worden war und daß dies selbst unter einer linken Führung nicht zwangsläufig als

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Anzeichen dafür genommen werden könne, daß die Arbeiterbewegung wieder auf dem Vormarsch sei. Für mich hatte es vielmehr den Anschein, »daß wir heute eine wachsende Spaltung der Arbeiter in Sektionen und Gruppen erleben, die jeweils ohne Rücksicht auf die übrigen ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgen«. Angesichts der neuen gemischten Wirtschaftsform würden sich die Gruppen nicht mehr auf Streiks stützen, die für die Arbeitgeber mit potentiellen Verlusten verbunden seien, sondern auf die Unannehmlichkeiten, die sie möglicherweise der Öffentlichkeit zumuteten, das heißt auf den auf den Staat ausgeübten Druck, schlichtend einzugreifen. Nach der Natur der Dinge verstärkte dies nicht nur die potentiellen Reibungen zwischen verschiedenen Gruppen von Arbeitern, sondern es drohte auch die Machtposition der Arbeiterbewegung insgesamt zu schwächen. Niemand konnte die streikseligen siebziger Jahre in England erlebt haben, ohne die Militanz der Gewerkschaften und die Spannungen zwischen ihnen und der Regierung zur Kenntnis zu nehmen. Sie erreichten ihren Höhepunkt im Herbst und Winter 1978/79. Ich war jedoch so weit von der politischen Bühne der Linken innerhalb der Industriearbeiterschaft entfernt, daß mein Vortrag zu meinem eigenen Erstaunen im kommenden Jahr zu einer intensiven und politisch aufgeladenen Kontroverse in Marxism Today führte. Ohne daß dies meine eigentliche Absicht gewesen wäre, hatte ich mehrere wunde Punkte getroffen. Die Tatsache, daß innerhalb weniger Monate nach Erscheinen des Aufsatzes die schwache und erfolglose Labour-Regierung in allgemeinen Wahlen von den Konservativen unter ihrer neuen militant klassenkämpferischen Führerin Margaret Thatcher vernichtend geschlagen wurde, machte den Schmerz noch unerträglicher. Zu der Zeit, als die letzte Kritik an meinem Aufsatz in Marxism Today erschien, hatte die Ära Thatcher bereits begonnen. Und als die Diskussion über den Aufsatz vor den Wahlen mit der Diskussion in den Monaten nach den Wahlen 1981 zusammengefaßt und in einem Buch unter der Schirmherrschaft von Marxism Today und Verso Editions publiziert wurde1, war die Labour Party selbst durch den Austritt der sogenannten Social Democrats gespalten, und die verbleibende Rumpfpartei kämpfte um ihr Überleben. Im Rückblick sind die Illusionen der gemischten Koalition aus Linken, die die Labour Party zwischen 1978 und 1981 fast vernichteten, schwerer zu verstehen als die Illusionen der Gewerkschaftsführer über ihre Macht, die sie seit den späten sechziger Jahren untergraben hatten. Seit dem Generalstreik von 1926 hatte die herrschende Klasse in England sorgfältig jede direkte Konfrontation mit den Gewerkschaften vermieden, das heißt mit jenen rund 70 Prozent der britischen Er-

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werbstätigen, die sich als Arbeiter verstanden. Das goldene Zeitalter der Nachkriegswirtschaft hatte sogar der traditionellen Gewerkschaftsfeindlichkeit der Industriellen die Schärfe genommen. Denn eine zwanzig Jahre währende Nachgiebigkeit gegenüber den Gewerkschaftsforderungen hatte die Gewinne nicht geschmälert. Erst die siebziger Jahre machten Politikern und Ökonomen erste Sorgen, während sie eine Zeit des Triumphs für die Gewerkschaftsführer waren, die alle Pläne der Labour-Regierung durchkreuzten, ihre Macht zu begrenzen, und die zweimal durch einen nationalen Bergarbeiterstreik der konservativen Regierung eine Niederlage beigebracht hatten. Selbst jene Gewerkschaftsführer, die erkannt hatten, daß unkontrollierte Unterhandlungen auf dem freien Markt Grenzen haben mußten, sahen sich beim Aushandeln einer »Lohnpolitik« in einer beeindruckenden Position der Stärke. Zufällig waren die für die Gewerkschaften glorreichen siebziger Jahre auch die glorreichen Jahre der Gewerkschaftslinken. Denn obwohl die britische KP klein, im Niedergang begriffen und zwischen moskautreuen Hardlinern und einer »eurokommunistischen« Führung gespalten war und auf der Linken von militanten jungen Trotzkisten bedrängt wurde, spielte sie wohl auf der nationalen Gewerkschaftsbühne in den siebziger Jahren eine größere Rolle als je zuvor. Damals stand sie unter der Führung von Bert Ramelson, einem überaus tüchtigen Organisator innerhalb der Industriearbeiterschaft, dessen bewundernswerte Frau Marian, eine Textilarbeiterin aus Yorkshire, selbst eine autodidaktische Historikerin war und die Historikergruppe aktiv unterstützt hatte. Die KP schwamm nicht einfach im Strom der Militanz der siebziger Jahre mit. Mit der (nicht uneingeschränkten) Billigung von zwei Persönlichkeiten, die im TUC fast den Status nationaler Paten genossen, Hugh Scanlon von der Metallgewerkschaft und Jack Jones, ehemaliger Kämpfer der Internationalen Brigaden von der Transport and General Workers Union, koordinierte die Linke im TUC, weitgehend unter der Führung von Ramelson und Ken Gill, den Kampf der Gewerkschaften gegen die beiden Versuche der Wilson-Regierung, ihnen die Flügel zu stutzen. Außerdem war es in den sechziger Jahren zu der lange erhofften Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse in der (immer noch großen) nationalen Bergarbeitergewerkschaft gekommen. Yorkshire hatte eine Linkswendung vollzogen und dem jungen Arthur Scargill, damals ein KP-Schützling, zu nationaler Prominenz verholfen. Neben den schon immer festen und von der Partei geführten Bollwerken Wales und Schottland hatte die Linke jetzt die Mehrheit gegenüber den zuverlässigen Bastionen der Gewerkschaftsrechten in Nordengland erobert. Die fünfzehn Jahre nach 1970 waren die Zeit

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der großen nationalen Bergarbeiterstreiks – siegreich 1972 und 1974, katastrophal 1984/85, was seinen Grund in der Entschlossenheit Margaret Thatchers, der Gewerkschaft das Genick zu brechen, und in den Illusionen des damaligen Gewerkschaftsführers Scargill hatte. Mein Vortrag im Herbst 1978 kam zu einem Zeitpunkt, als die Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und der Labour Party besonders angespannt waren. Die Illusion von einer gewerkschaftlichen Macht, die unter linken Führern und Aktivisten verbreitet war, nährte die noch größere Illusion einer Eroberung der Labour Party und damit weiterer Labour-Regierungen bei der sozialistischen Linken. Eine gemischte Koalition von Linken innerhalb der Labour Party und »entristischen« Revolutionären, die in die Partei eingetreten waren, hatte sich nach und nach hinter dem Projekt gesammelt, unter der Fahne des zunehmend radikalen Exministers Tony Benn die Kontrolle über die Partei zu erobern. Im Unterschied zur Militanz der Industriegewerkschaften, hinter der ein großer Teil der Mitglieder stand, deren Zahl damals ihren Gipfel erreicht hatte, war die politische Militanz Ausdruck eines Rückgangs des politischen Interesses, der Wahlbeteiligung und der Parteimitgliedschaft unter den Arbeitern. Tatsächlich stützte sich ihre Strategie auf die Fähigkeit kleiner militanter Gruppen innerhalb einer weitgehend inaktiven Mitgliedschaft, Ortsvereine der Labour Party zu erobern und, verstärkt durch die politisch entscheidende »Sammelstimme« (stellvertretende Stimmabgabe durch eine Person) von Gewerkschaften mit linker Führung auf Parteitagen, der Labour Party eine radikalere Führung und Politik aufzuzwingen. Das war eine durchaus praktikable Strategie, und fast wäre sie auch aufgegangen. Die Illusion lag in der Vorstellung, daß die auf diese Weise von einer gemischten Minderheit aus linken Sektierern eroberte Labour Party auch weiterhin einig bleiben, weitere Wählerstimmen auf sich ziehen und eine Politik entwickeln werde, die den Angriff der Klassenkämpfer unter Margaret Thatcher, deren Stärke systematisch unterschätzt wurde, zurückschlagen könne. Infolgedessen führte diese Illusion in die Katastrophe. Viele traditionelle Wähler – ein Drittel der damaligen selbsterklärten Arbeiter unter den Wählern – wurden jedenfalls der Labour Party abtrünnig und wählten die Konservativen. Die Partei spaltete sich, und einige Jahre lang errang das Bündnis zwischen der neuen Sozialdemokratischen Partei und den Liberalen fast mehr Stimmen als die Labour Party. Zweieinhalb Jahre nach dem Sieg der Konservativen unter Margaret Thatcher hatte die Labour Party ein weiteres Fünftel ihrer Wähler verloren und verfügte in keiner Gruppe der Arbeiterschaft mehr über eine Mehrheit,

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nicht einmal unter den ungelernten Arbeitern und den Arbeitslosen. Und das zu einer Zeit, da die konservative Regierung seit den Wahlen von 1979 selbst Wähler verloren hatte. Damals schrieb ich: »Der Triumph Thatchers ist ein Abfallprodukt der Niederlage der Labour Party.« Was die Dinge schlimmer machte, war »die schlichte Weigerung eines Teils der Linken, unwillkommenen Tatsachen ins Gesicht zu sehen«.2 Kurzum, die Zukunft und vielleicht überhaupt die Existenz der Labour Party stand in den Jahren nach dem Wahlsieg der Konservativen 1979 auf dem Spiel. Die neuen Sozialdemokraten hatten sie abgeschrieben und strebten das Ziel an, sie durch ein Bündnis und langfristig eine Verschmelzung mit den Liberalen zu ersetzen. Ich erinnere mich noch an die Gelegenheit – ein Essen im Haus von Amartya Sen und seiner Frau Eva Colorni –, zu der einer ihrer Nachbarn aus Kentish Town erst spät und unter Entschuldigungen erschien. Bill Rogers hatte sich gerade mit den übrigen drei der sogenannten »Viererbande« getroffen (Roy Jenkins, David Owen und Shirley Williams, die sich schließlich alle im Oberhaus wiederfanden), um die Erklärung aufzusetzen, mit der einige Wochen später die Sozialdemokratische Partei gegründet werden sollte. Ihr schloß sich eine beträchtliche Zahl von Labour-Anhängern aus der Mittelschicht und den gehobenen Berufen an, von denen einige zur Partei zurückfinden sollten, als diese ihren offensichtlich selbstmörderischen Kurs beendete. Auf der anderen Seite hatten die militante Linke und viele sozialistische Intellektuelle wie mein alter Freund Ralph Miliband (dessen Söhne in den Ämtern von Premierminister Tony Blair und Schatzkanzler Gordon Brown wichtige Positionen einnehmen sollten) die Labour Party bis zu dem Augenblick abgeschrieben, als sie übernommen wurde und bereit war, eine »wirkliche sozialistische Partei« zu werden, was immer damit gemeint war. Ich brachte einige meiner Freunde in Rage, als ich darauf hinwies, daß sie nicht ernsthaft versuchten, Mrs. Thatcher zu schlagen. Was immer sie denken mochten, »sie handelten, als wäre eine weitere Labour-Regierung wie die, die wir seit 1945 von Zeit zu Zeit hatten, nicht einfach nur unzulänglich, sondern schlimmer als gar keine Labour-Regierung . . . (das heißt) schlimmer als die einzige überhaupt verfügbare Alternative, nämlich eine Regierung unter Mrs. Thatcher«.3 Die Frage war, konnte die Labour Party gerettet werden? Am Ende wurde sie gerettet, aber nur knapp, auf dem Parteitag 1981, als Tony Benn für den stellvertretenden Parteivorsitz kandidierte und nur um eine Nasenlänge von Denis Healey geschlagen wurde. Die Zukunft der Partei war erst nach den verheerenden Wahlen von 1983 sicher, als Michael Foot, der 1980 (als Kandidat der Linken und ebenfalls

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gegen Healey) zum Vorsitzenden gewählt worden war, von Neil Kinnock abgelöst wurde. Am Vorabend seiner Wahl sprach ich auf einer Randveranstaltung zu diesem Parteitag, die von der Fabian Society oder von Marxism Today organisiert worden war. Kinnock selbst legte Wert darauf, dort zu sein und ein Exemplar meines Buchs »mit wärmstem Dank« zu signieren, und wenn ich mich recht erinnere, waren auch David Blunkett und Robin Cook da, die damals ebenfalls der Labour-Linken, aber nicht dem Flügel um Tony Benn angehörten. Trotz all seiner Grenzen war Neil Kinnock, dessen Kandidatur ich nachdrücklich befürwortet hatte, der Führer, der die Labour Party vor den Sektierern rettete. Nach 1985, als er den Ausschluß der trotzkistischen »Militant Tendency« aus der Partei bewerkstelligte, war ihre Zukunft endgültig gesichert. Es war die einzige Gelegenheit, bei der ich Neil Kinnock persönlich traf, abgesehen von der Zeit, als ich ihn etwas später für Marxism Today interviewte und einigermaßen deprimiert über sein Potential als künftiger Premierminister zurückkehrte. Um so absurder war die Angewohnheit einiger politischer Journalisten in den nächsten ein bis zwei Jahren, meinen Namen mit dem Kinnocks in Verbindung zu bringen (»Kinnocks Guru«). Dennoch gab es einen guten politischen Grund, warum der Name eines marxistischen Intellektuellen, der nicht einmal der Labour Party angehörte, an bestimmten Punkten des Kampfes um das Überleben dieser Partei jenen nützlich erscheinen konnte, die diese Partei retten wollten. Ich war einer der ganz wenigen, die der Partei ernsthafte Schwierigkeiten prophezeit hatten, was mir in der Kontroverse ein gewisses Ansehen verlieh. Ich gehörte zu den wenigen bekannten sozialistischen Intellektuellen, die dem Projekt einer Übernahme der Partei mit unverhohlener Skepsis gegenüberstanden und gegen ihre Befürworter leidenschaftlich und (wie ich hoffe) wirkungsvoll gestritten haben.* Doch in diesen schwierigen Zeiten war es für die Gegner der Sektierer besonders hilfreich, sich der Unterstützung einer Person versichern zu können, die den meisten Aktivisten in der * »Das Gewerkschaftswesen kann bei all seinen Unvollkommenheiten niemals die Massen übergehen, weil es sie ständig millionenfach organisiert und sie immer wieder mobilisieren muß. Doch eine Eroberung der Labour Party für die Linke ist auf kurze Sicht auch ohne die Massen möglich. Sie könnte theoretisch sehr wohl von . . . einigen Zehntausend überzeugter Sozialisten und linken Labour-Anhängern mittels Versammlungen, der Formulierung von Resolutionen und von Abstimmungen erreicht werden. Die Illusion der frühen achtziger Jahre liegt darin, Politik lasse sich durch Organisation ersetzen.« Martin Jacques und Francis Mulhern (Hg.), The Forward March of Labour Halted?, London 1981, S. 173.

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Partei – zumindest soweit sie Bücher und Fachzeitschriften lasen – bekannt war und bei Linken seit langem den unumstrittenen Ruf eines gestandenen Marxisten genoß. Denn 1980 und 1981 hatten Änderungen des Parteistatuts den sektiererischen Linken zu etwas verholfen, was wie eine garantierte Mehrheit in der Partei aussah, so daß deren Geschicke praktisch in ihre Hände gelegt wurden. Die Zukunft der Partei hing ganz wesentlich davon ab, daß eine ausreichende Zahl von Aktivisten der Parteilinken aus dem Lager der Sektierer abgeworben wurde, um diesen Mechanismus zumindest in kritischen Augenblicken außer Kraft zu setzen. Die Begründung für ein solches Vorgehen mußte von der Linken kommen, zumal seit 1983 der hauptsächliche Alternativkandidat für die Parteiführung Denis Healey war, ehemaliger Verteidigungsminister und Schatzkanzler, der für alles stand, was der Linken ein Greuel war, der seine Verachtung für die meisten Linken kaum verbergen konnte und sich nicht zu Unrecht den Ruf eines politischen Rüpels erworben hatte. Die Labour Party unter Tony Blair hat sich von ihrer traditionellen Position so weit nach rechts bewegt, daß der ideologische Unterschied zwischen Healey und mir, wenn wir uns heute begegnen, zwei alte Männer, die auf eine bessere Vergangenheit blicken, wahrscheinlich geringer ist als zu der Zeit, als wir uns zum ersten Mal in der Studentenorganisation der KP begegneten, doch nach den Maßstäben der siebziger Jahre war er der Mann der Labour-Rechten. Im Privatleben war und ist er eine Person mit Charme, hoher Intelligenz und Bildung hinter den Zinnen seiner charakteristischen Augenbrauen, und einer der wenigen britischen Politiker, deren Memoiren mit Genuß gelesen werden können. Der öffentliche Healey dagegen war leichter zu respektieren als zu mögen. Er hätte sicherlich einen weit besseren politischen Führer abgegeben als jeder der übrigen Kandidaten, auch wenn die Sektierer alles darangesetzt hätten, ihn zu vernichten. Wie die Dinge damals lagen, konnte wahrscheinlich nur ein Vorsitzender, der das Vertrauen des linken Flügels genoß, die Partei aus ihrer Krise herausführen. Michael Foot, gegen den er damals unterlag, war nicht aus dem Holz eines Parteiführers oder eines potentiellen Premierministers geschnitzt und hätte eigentlich nicht als Parteivorsitzender gewählt werden dürfen. Er war und ist ein wunderbarer Mensch. Jahrelang trafen wir uns an der Bushaltestelle Hampstead und fuhren gemeinsam ein Stück Wegs, ich zur Universität und er zum Unterhaus oder zum Büro der Tribune, ein zunehmend gebeugter, nachlässig gekleideter humpelnder alter Mann mit einem schönen Profil, der den Kopf mit den weißen

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Haaren temperamentvoll schüttelte. Die eigenen Füße – er gehörte zur Generation der Wanderer unter den großen britischen Intellektuellen – und die öffentlichen Verkehrsmittel waren seine Fortbewegungsmittel. Er bekleidete nur für kurze Zeit in den siebziger Jahren ein Ministeramt – einen Dienstwagen brauchte er für sein Ego nie. Er ist bis heute ein Labour-Politiker, der aufrichtige Zuneigung auf sich zieht und darüber hinaus Bewunderung für seine offensichtliche moralische Integrität, seine beträchtlichen Talente und seine literarische Bildung. Er verfügte über eine Eloquenz von der Art, die in die Ära der Massenkundgebungen und großer Anlässe im Unterhaus, vor der Zeit der kleinen Fernsehbildschirme gehörte: der Andachtsraum, wo das blitzende Auge, die Geste und die Vortragsweise auch die letzte Reihe erreicht. Ein überaus professionell arbeitender Journalist mit großer rhetorischer Kraft, unübertroffen in der Anprangerung von Unrecht und reaktionärem Denken. Er war ein unersättlicher Leser, seine flüssige Prosa hatte einen gewissen Stil, und unermüdlich sang er das Lob derer, die er bewunderte, Jonathan Swift und William Hazlitt. Vielleicht machte ihn seine Fähigkeit zur Schwärmerei oder sein Unwillen, andere zu verletzen, zu unkritisch. Seine Biographie von Aneurin Bevan, dem großen Führer der Labour-Linken, dessen Wahlkreis in den Tälern von Südwales er übernahm, um ihn mit der Zeit an Neil Kinnock weiterzugeben, geriet zu hagiographisch, seine zahlreichen Buchrezensionen, auch die meiner eigenen Erzeugnisse, waren nicht kritisch genug. Mir fällt niemand ein, dem er wirklich unsympathisch gewesen wäre. Er schien selbst in den Augen seiner Altersgenossen und Kollegen, einer älteren Generation, fast aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg anzugehören, der ersten aus der alten provinziellen Mittelschicht mit einem eigenen Kopf, die ihre traditionelle Loyalität gegenüber der Liberalen Partei für die Sache der Arbeiter aufkündigte. Er war nicht für die Macht geschaffen, sondern für die Opposition, ein »Volkstribun«, der das Volk gegen die Anmaßung seiner Herrscher verteidigte. Fast während seiner gesamten Zeit in der Labour Party war er der Sprecher der Linken gegen die Führung, obwohl diese sich stets auf seine völlige Loyalität gegenüber der Bewegung verlassen konnte – vor allem 1964, als die Linke mit einer winzigen Mehrheit von drei Stimmen Harold Wilsons erste Labour-Regierung in der Hand hatte. Er war kein Organisationstalent. Ihm fehlten die unseligerweise so nützlichen Gaben der Intrige und des Kuhhandels, die das Wort »Politiker« wie eine Beleidigung klingen lassen, und der Sinn für Egoismus und persönlichen Ehrgeiz, der viele der fähigsten unter ihnen antreibt. Die drei Jahre seiner Parteiführung waren eine Katastrophe.

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Tony Benn, einem guten und ehrenwerten Mann, der die Partei fast in den Ruin getrieben hätte, fehlten weder Ego noch Ehrgeiz. Schließlich hatte er ein Gutteil seiner Zeit und seiner Energie für das Recht aufgewendet, auf seinen Titel als erblicher Peer zu verzichten, um das Recht zu erhalten, seinen Namen zu kürzen und sich in die Realpolitik des Unterhauses zu begeben. In mancher Hinsicht war er äußerst gut gerüstet, das zu sein, was er einfach mehr als alles andere sein wollte: Führer der Partei und nach einigen Jahren Premierminister. Gut und bemerkenswert jung aussehend, körperlich kräftig – Politik ist ein kraftraubender Sport wie Rugby oder Schach – und eloquent, ist er bis heute eines der wenigen Gesichter und eine der wenigen Stimmen, die von der allgemeinen Öffentlichkeit fast sofort erkannt werden. Selbst sein beflissenes Auftreten – wie ein Pfadfinder auf der Suche nach einer Gelegenheit für eine gute Tat, seine unvermeidliche Pfeife, seine proletarische Vorliebe, Tee aus Bechern zu trinken, waren Pluspunkte. Obwohl er in der Vergangenheit politisch nicht besonders auf sich aufmerksam gemacht hatte, wandte er sich in den siebziger Jahren mehr und mehr der Linken zu. Wenn er gewollt hätte, wäre er ziemlich sicher in der Lage gewesen, die Labour Party zusammenzuhalten und durch schwierige Zeiten zu manövrieren. Er sah so aus, als würde er früher oder später den Vorsitz erringen, und gleich vielen anderen war ich der Meinung, er sei wohl der beste Mann für diesen Posten – bis er ihn verschenkte. Im Oktober 1980 interviewte ich ihn eingehend für Marxism Today und war beeindruckt, um nicht zu sagen völlig beruhigt, als er betonte, seiner Ansicht nach müsse die Labour Party »ein sehr großes Haus« bleiben. Doch wenige Monate später zeigte sich überdeutlich, daß Benn für diese Aufgabe absolut ungeeignet war. Er hatte alles auf die Sektierer gesetzt. Im Januar 1981 wurden die Geschicke der Partei auf einem Sonderparteitag in die Hände der Linken gelegt. Die Einzelheiten spielen keine Rolle. Jetzt war klar, daß nur noch seine eigene politische Dummheit Benn daran hindern könnte, in nächster Zukunft Vorsitzender der Labour Party zu werden. An diesem Punkt hätte jeder, der auch nur über ein Mindestmaß an politischem Gespür verfügte, in dem Wissen, wie tief die Partei gespalten war, die Karte der Großzügigkeit, der Versöhnung und der Einheit ausgespielt. Statt dessen erließ Benn einen triumphierenden Aufruf an die siegreiche Linke, das Ruder zu übernehmen und ihre Macht zu demonstrieren, indem sie ihn statt Healey zum stellvertretenden Vorsitzenden wählte. Ob ein konzilianteres Vorgehen die Abspaltung der zukünftigen Sozialdemokraten verhindert hätte, muß offenbleiben. Doch Benns völlige Identifizierung

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mit den linken Sektierern öffnete jedem, der nicht wollte, daß die Labour Party zur bedeutungslosen sozialistischen Andachtsstätte verkam, die Augen dafür, daß im Interesse ihres Fortbestehens ein Sieg dieses Mannes verhindert werden mußte. Und dieses Ziel wurde erreicht, wenn auch nur knapp. Tony Benn selbst zog sich auf die ehrenhafte Position eines Hinterbänklers zurück, der die Verfassung, Demokratie und die bürgerlichen Freiheiten verteidigte und den Sozialismus propagierte, doch seine Karriere als seriöser Politiker war beendet. II Soweit ich mich in der politischen Debatte selbst zu Wort gemeldet habe, tat ich es ausschließlich über Marxism Today. Man hätte nicht erwartet, daß diese bescheidene Monatsschrift im Lauf der achtziger Jahre und trotz ihrer Verbindung zur KP zu einer wichtigen Lektüre in der politischen und der Medienwelt werden würde – und nicht nur innerhalb der Linken. Selbst einige herausragende konservative Politiker – Edward Heath, Michael Heseltine, Christopher Patten – schrieben für sie oder ließen sich von ihr interviewen. Ein junger LabourPolitiker ohne jegliche Sympathien für den linken Flügel, der 1983 ins Unterhaus gewählt wurde, bezeichnete sich als regelmäßigen Leser und ließ sich ebenfalls von ihr interviewen: Tony Blair. Die meisten der bereits etablierten Namen, die in der späteren Labour-Regierung eine wichtige Rolle spielten, kamen hier zu Wort: Gordon Brown, Robin Cook, David Blunkett und Michael Meacher. Die Zeitschrift war das Ziel erbitterter Angriffe durch die Hardliner innerhalb der KP, die kurz davorstand, von inneren Kämpfen und durch den Zusammenbruch der kommunistischen Regimes vernichtet zu werden, doch ihre politische Führung, unerschütterliche Anhänger des Prager Frühlings und eines Kommunismus auf italienisch, gab ihr eine solide politische und natürlich finanzielle Unterstützung, solange sie dazu in der Lage war. (Sie hörte Ende 1991 zusammen mit der Partei und der UdSSR zu bestehen auf.) In einer Ära der Krise für die Labour Party kamen die Ideen für ihre Zukunft von einer kommunistischen Zeitschrift. Ihren überwältigenden Erfolg verdankte diese einer Verbindung aus politischer Vernunft und dem journalistischen Gespür von Martin Jacques und nicht zuletzt der Entscheidung, ihre Seiten auch Autoren zu öffnen, die weitab von der Parteilinie und den Orthodoxien der alten Sozialisten lagen. Andererseits profitierten wir auch von der fast vollständigen Auflösung der traditionellen politisch-intellektuellen Welt im

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England der Thatcher-Ära. Das betraf in der Hauptsache die Gruppen links von der Mitte, doch selbst die Konservativen wagten sich auf ein unbekanntes Territorium vor. Was mußte oder konnte in der neuen Ära getan werden? In welcher Weise und wo überhaupt sollte es diskutiert werden? Marxism Today bot einen Raum, in dem die Fragen außerhalb der etablierten Strukturen erörtert werden konnten, vor allem weil die Zeitschrift darauf beharrte, daß mit dem Auftritt von Mrs. Thatcher bzw. mit »The Great Moving Right Show«, wie der Kulturtheoretiker Stuart Hall den Rechtsruck 1979 in einem Aufsatz bezeichnete, in dem er auch den Begriff des »Thatcherismus« prägte, die Karten völlig neu gemischt worden waren. Und Marxism Today hatte es vor allen anderen ausgesprochen. Nachträglich betrachtet, ist es natürlich offensichtlich. Die ThatcherÄra kam im 20. Jahrhundert einer politischen, sozialen und kulturellen Revolution am nächsten – und nicht zum Besseren. Ausgestattet mit einer unkontrollierten und zentralisierten Macht, wie es sie in diesem Umfang noch in keiner Wahldemokratie gegeben hatte, machte diese Regierung sich daran, in England alles zu zerstören, was einer unheiligen Verbindung eines hemmungslos auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Privatunternehmertums und nationaler Selbstbehauptung, mit anderen Worten Habgier und Hurrapatriotismus im Wege stand. Angetrieben wurde sie nicht nur von der berechtigten Überzeugung, daß die britische Wirtschaft einen Tritt in den Hintern brauchte, sondern auch von einem gewissen Klassenressentiment, einem, wie ich es einmal genannt habe, »Anarchismus der unteren Mittelschicht«. Es richtete sich gleichermaßen gegen die traditionellen herrschenden Schichten und ihre Regierungsweise einschließlich der Monarchie, die etablierten Institutionen des Landes und gegen die Arbeiterbewegung. Im Verlauf dieses weitgehend geglückten Unternehmens vernichtete diese Regierung den größten Teil der traditionellen britischen Werte und veränderte das Land bis zur Unkenntlichkeit. Die meisten Angehörigen meiner Generation empfinden wahrscheinlich dasselbe wie einer meiner amerikanischen Freunde, der beschlossen hatte, sich nach Beendigung seiner Hochschultätigkeit in Massachusetts im neuen Jahrhundert in England niederzulassen, und gefragt wurde, ob er die USA vermisse. Seine Antwort lautete: »In keiner Hinsicht so sehr, wie ich das England vermisse, das ich kennenlernte, als ich zum ersten Mal hierherkam.« Das war letztlich der Grund für die überwältigende Nichtübereinstimmung oder gar den verbreiteten instinktiven Haß gegenüber Margaret Thatcher, der im intellektuellen und kulturellen England empfunden wurde, und die zunehmende Ablehnung der meisten An-

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gehörigen der Mittelschicht mit Collegebildung, die in der spektakulären Weigerung der Universität Oxford zum Ausdruck kam, ihr die Ehrendoktorwürde zu verleihen. Nicht daß dies den ideologischen Vormarsch der thatcheristischen Überzeugung aufgehalten hätte, der einzig richtige Weg, die öffentlichen und privaten Angelegenheiten einer Nation zu regeln bestehe darin, daß Geschäftsleute mit Geschäftserwartungen Geschäftsmethoden anwendeten. Was den Triumph des Thatcherismus so bitter machte, war, daß er sich nicht etwa einem massiven Meinungsumschwung in der Bevölkerung nach 1979 verdankte, sondern primär, wenn auch nicht ausschließlich, der tiefen Gespaltenheit seiner Gegner. Im England der achtziger Jahre gab es keine Welle von Thatcherwählern wie die, von der Ronald Reagan in den USA getragen wurde. Sie blieben durchweg eine Minderheit unter der Gesamtheit der Wähler. Meine eigenen Aufrufe zu einem Wahlabkommen zwischen der Labour Party und dem Bündnis aus Liberalen und Sozialdemokraten oder zumindest zu einer taktischen Stimmabgabe* antikonservativer Wähler wurden (natürlich) von beiden Seiten ignoriert, während die Wähler selbst am Ende mehr Vernunft zeigten als die Parteien und ihre Stimmen in großer Zahl und mit gutem Erfolg taktisch einsetzten. Was die Lage so entmutigend machte, war, daß weder die Labour Party noch das Bündnis aus Liberalen und Sozialdemokraten eine Alternative anzubieten hatten. Der Thatcherismus brauchte als Strategie keine Konkurrenz zu fürchten. Schließlich konnten wir nur noch darauf hoffen, daß er mit der Zeit immer unbeliebter würde und eines Tages gegen jede Opposition verlieren müßte, was dann auch tatsächlich eintraf, allerdings erst nach achtzehn Jahren. Wir warnten davor, daß ein Großteil der thatcheristischen Revolution sich als unumkehrbar erweisen könnte. Auch hierin behielten wir recht. Auf dem Papier war es leicht, die Situation realistisch zu analysieren und die »Rufe des Verrats gegen jene [zu überhören], die darauf beharren, die Dinge zu sehen, wie sie sind«.4 In der Praxis war es schwer, da viele von denen, gegen die ich anschrieb, Genossen (oder zumindest ehemalige Genossen) und Freunde waren. Außer meiner eigenen Person und Stuart Hall konnte Marxism Today mit keiner dauerhaften Unterstützung durch etablierte Intellektuelle der alten und der ursprünglichen neuen (seit 1956) Linken rechnen. Die meisten sozialistischen und marxistischen Intellektuellen außerhalb des Milieus der Zeitschrift standen dieser feindselig gegenüber, darunter so angesehene * Wahrscheinlich war ich der erste, der diesen Begriff in die Wahldebatte eingeführt hat.

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Persönlichkeiten wie Raymond Williams, Ralph Miliband und die Galionsfiguren der New Left Review. Auf Gewerkschaftsversammlungen war ich die Zielscheibe von Schmähungen. Das kam nicht überraschend. Für viele von ihnen bedeutete die Linie von Marxism Today den Verrat an den traditionellen Hoffnungen und politischen Strategien von Sozialisten und erst recht an der proletarischen Revolution, der die Trotzkisten noch immer entgegensahen. Sie konnte sogar als Illoyalität gegenüber der Arbeiterklasse aufgefaßt werden, die mit der ganzen Kraft der staatlichen Macht einer Regierung mißhandelt wurde, die einen Klassenkrieg führte, vor allem während des großen Bergarbeiterstreiks von 1984/85, der die ganze Kraft der emotionalen Sympathie der Linken (und nicht nur dieser) mobilisierte. Auch ich stand nicht abseits, auch wenn es auf der Hand lag, daß die Illusionen einer extremistischen Gewerkschaftsführung, die sich auf die Rhetorik der Militanz und die traditionelle Weigerung der Gewerkschaften stützte, mitten im Kampf abzutreten, die Gewerkschaft und die Familien in den Kohlerevieren in die sichere Katastrophe führten. Wir waren ja selbst nicht immun gegenüber der reinen Wucht der rhetorischen Selbsttäuschung der Bewegung. Selbst Marxism Today konnte sich in einer – bis zu einem gewissen Grad realistischen – Analyse des gescheiterten Streiks nicht dazu durchringen, sich das ganze Ausmaß der Niederlage einzugestehen.5 Das war überhaupt die allgemeine Zwangslage der Sozialisten in England seit der Mitte der siebziger Jahre. Denn ob Marxisten oder Nichtmarxisten, Revolutionäre oder Reformisten, wir waren letzten Endes davon überzeugt, daß der Kapitalismus unfähig sei, die Bedingungen eines guten Lebens für die Menschheit hervorzubringen. Er war weder gerecht noch langfristig lebensfähig. Ein alternatives, sozialistisches Wirtschaftssystem oder zumindest dessen Vorläufer, eine Gesellschaft, die sich der sozialen Gerechtigkeit und dem Allgemeinwohl verschrieben hätte, könnte seinen Platz einnehmen, wenn nicht jetzt, dann irgendwann in der Zukunft; und das Fortschreiten der Geschichte würde uns diesem Zustand durch das Wirken staatlichen oder öffentlichen Handelns im Interesse der Masse der lohnarbeitenden Klassen näherbringen, die implizit oder explizit antikapitalistisch waren. Das sah wahrscheinlich zu keiner Zeit so einleuchtend aus wie in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als selbst europäische konservative Parteien Wert darauf legten, sich als antikapitalistisch zu erklären, und US-Staatsmänner die Vorzüge einer staatlichen Wirtschaftsplanung priesen. In den siebziger Jahren wirkte keine dieser Annahmen überzeugend. Zum Ende der achtziger Jahre stand die Nie-

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derlage der politischen und intellektuellen Linken nicht mehr in Frage. Ihre Literatur wurde von Variationen zum Thema »What’s Left?« (»Was ist links?«, aber auch: «Was ist übriggeblieben?«) dominiert. Ich selbst habe dazu einen Beitrag geleistet. Paradoxerweise war das Problem weitaus drängender in den nichtkommunistischen Ländern. In fast allen kommunistischen Regimes hatte der Zusammenbruch eines weitgehend diskreditierten »real existierenden Sozialismus«, des einzigen offiziell bestehenden Sozialismus, jede andere Form auf der politischen Bühne ausgeschlossen. Außerdem war es durchaus vernünftig für die dortigen Menschen, ihre Hoffnungen, auch wenn sie manchmal utopisch waren, auf einen unbekannten westlichen Kapitalismus zu setzen, der so offensichtlich erfolgreicher und effizienter war als ihr eigenes zusammengebrochenes System. Es war im Westen und Süden, wo die Argumente gegen den Kapitalismus überzeugend blieben, vor allem gegen den zunehmend vorherrschenden Kapitalismus eines extremen Laisser-faire, wie er von transnationalen Unternehmen mit Unterstützung ökonomischer Theologen und Regierungen bevorzugt wurde. Für Marxism Today stand fest, daß die schlichte Weigerung anzuerkennen, daß die Dinge sich einschneidend verändert hatten (»Though cowards flinch and traitors sneer, we’ll keep the red flag flying here«, wie es in der Parteihymne der Labour Party heißt), auch wenn die Anhängerschaft sich dadurch emotional angesprochen fühlte, nicht weiterhalf. Das war überhaupt der Grund, warum die traditionelle Linke innerhalb der Labour Party, die in der Geschichte der Partei seit jeher präsent und wichtig, wenn auch nur selten ausschlaggebend war, nach 1983 von der Bildfläche verschwand. Es gibt sie nicht mehr. Andererseits brachten wir es nicht fertig, die Alternative von »New Labour« zu billigen – bis zur Wahl Tony Blairs 1994 zum Parteivorsitzenden konnten wir es uns nicht einmal vorstellen –, die darin bestand, die logischen und praktischen Ergebnisse des Thatcherismus zu akzeptieren und bewußt alles aufzugeben, was die entscheidenden bürgerlichen Wählerschichten an Arbeiter, Gewerkschaften, staatliche Industrieunternehmen, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit oder gar Sozialismus erinnerte. Wir wollten eine reformierte Labour Party, nicht Thatcher in Hosen. Die knappe Wahlniederlage der Labour Party 1992 machte diese Option zunichte. Ich stehe nicht allein, wenn ich jene Wahlnacht als die traurigste und verzweifeltste in meinem politischen Leben in Erinnerung habe. Die Logik der Wählerpolitik aus der Sicht von Politikern, deren Programm in permanenter Wiederwahl bestand, und nach 1997 die Logik der Regierung vertrieb uns aus der »Realpolitik«. Einige der

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Jungtürken bei Marxism Today gingen dorthin, wo sich die Macht befand. Als Martin Jacques achtzehn Monate nach der Rückeroberung der politischen Macht durch die Labour Party die Zeitschrift für ein Sonderheft wieder zum Leben erweckte, in dem die neue Ära Blair besichtigt wurde, blickte einer von ihnen aus den Höhen von Downing Street auf uns herab – insbesondere auf mich und Stuart Hall: als Menschen, die die Gesellschaft vom Hörsaal aus betrachten, »wie von außen, ohne jedes Gefühl der Zugehörigkeit oder einer Verantwortung«, im Unterschied zu »Intellektuellen, die in der Lage sind, Kritik, Vision und praktische Politik miteinander zu verbinden«. Kurzum, ob Akademiker oder nicht, »Kritik genügt nicht mehr«.6 Jetzt war die Zeit gekommen für die politischen Realisten und Technokraten der Regierung. Und beide mußten in einer Marktwirtschaft operieren und sich nach deren Erfordernissen richten. Alles schön und gut. Aber an unserer – auf jeden Fall meiner – Position hat sich deshalb nichts geändert: Wenn Kritik nicht mehr genügt, ist sie notwendiger denn je. Wir haben New Labour nicht kritisiert, weil sie die Realitäten des Lebens in einer kapitalistischen Gesellschaft akzeptiert, sondern weil sie die ideologischen Annahmen der vorherrschenden Theologie der freien Marktwirtschaft im Übermaß übernommen hatte. Nicht zuletzt die Annahme, welche die Grundlagen aller politischen Bewegungen für eine Verbesserung der Lage der Menschen und damit zugleich die Rechtfertigung aller Labour-Regierungen zerstört, daß nämlich eine effiziente Regelung der Angelegenheiten einer Gesellschaft nur durch das Streben nach persönlichem Vorteil möglich sei, das heißt, daß Politiker sich wie Geschäftsleute verhalten müßten. Die Kritik am Neoliberalismus war um so notwendiger, als dieser nicht nur von Geschäftsleuten und von Regierungen begrüßt wurde, die ihr traditionelles Mißtrauen gegenüber einer Arbeiterpartei ablegen wollten und nach einer Rechtfertigung dafür suchten, daß sie sich um die bürgerlichen »Wechselwähler« bemühten, sondern auch, weil er die Autorität einer »Wissenschaft« für sich in Anspruch nahm, die zunehmend mit den Interessen des Weltkapitalismus gleichgesetzt wurde, nämlich die Wirtschaftswissenschaft, wie sie fast ein Vierteljahrhundert lang ihre höchsten Weihen durch die Vergabe des Nobelpreises für Ökonomie empfangen hat. Erst ganz am Ende des Jahrhunderts, als er schließlich an Amartya Sen verliehen wurde und danach an einen lautstarken Kritiker des »Washington-Konsenses«, Joseph Stiglitz, wurde er wieder an Ökonomen vergeben, die dafür bekannt waren, außerhalb der herrschenden Orthodoxie zu stehen; und soweit bekannt ist, geschah dies erst, nachdem die Mitglieder des Gre-

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miums, das die Preisträger für die Naturwissenschaften auswählte, ihren Unmut über die fortwährende ideologische Parteilichkeit bei der Vergabe eines Preises geäußert hatten, mit dem in erster Linie hervorragende wissenschaftliche Leistungen gewürdigt werden sollten. Möglicherweise war es das Platzen der gewaltigen Spekulationsblasen des Fin de siècle zwischen 1997 und 2001, was schließlich den Bann des Marktfundamentalismus gebrochen hat. Das Ende der Hegemonie des globalen Neoliberalismus war seit langem prophezeit und sogar angekündigt worden – ich selbst habe das mehr als einmal getan. Er hat schon genug Unheil angerichtet. III Während all dem lag der sowjetische Sozialismus im Sterben. Anders als das Ende des Kalten Kriegs und die Implosion des Sowjetreichs vollzog sich das Ende der UdSSR vergleichsweise im Zeitlupentempo, zwischen 1985, als Gorbatschow an die Macht kam, und ihrem offiziellen Tod 1991. Dazwischen gab es Augenblicke einer medienwirksamen Dramatik – Jelzin, der auf einem Panzer in Moskau gegen den Putschversuch vom August 1991 Widerstand leistet –, doch die entscheidenden Handlungen fanden in der Düsternis der sowjetischen Machtkorridore statt, so die unveröffentlichte, aber folgenreiche Entscheidung 1989, den letzten der Fünfjahrespläne (1986-1992) auf halbem Weg aufzugeben. Zufällig arbeitete ich gerade im World Institute of Development and Economic Research (WIDER) der United Nations University und beobachtete die Vorgänge von Helsinki aus, wenige Stunden auf dem Landweg und nur wenige Minuten mit dem Flugzeug von den Sowjets entfernt, wo ich während dieser letzten Jahre mehrere Sommer verbrachte. Diese Tätigkeit verschaffte mir unter anderem einen Einblick in die katastrophale Blindheit der westlichen Ökonomen, die dort auf der Durchreise Zwischenstation machten. Wie gewohnt im Pendeltaxi zwischen Flughafen und den Hotels einer internationalen Hotelkette bereiteten sie sich darauf vor, die russische Wirtschaft durch die ungehinderten Mechanismen einer freien Marktwirtschaft wieder in Ordnung zu bringen, und sie waren dabei so sicher, im Besitz der allein selig machenden Wahrheit zu sein wie ein fundamentalistischer Mullah. Mit der Vorstellung, daß diejenigen von uns, die von der Oktoberrevolution inspiriert waren, den Sozialismus der UdSSR oder ihrer Anhänger im Sinn hätten, war es spätestens in den achtziger Jahren vorbei. Man konnte ihn noch als notwendiges Gegengewicht zur ande-

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ren Supermacht ansehen und – mit größerer moralischer Überzeugung – darauf hinweisen, daß er für den Befreiungskampf unterdrückter Völker vor allem in Südafrika eintrat. Das Moskauer Regime unterstützte den Kampf des ANC jahrzehntelang finanziell und mit Waffenlieferungen, ohne daß eine unmittelbare Aussicht auf einen Erfolg oder einen sowjetischen Nutzen bestand. Das Engagement für koloniale Befreiungsbewegungen dürfte das letzte Relikt vom Geist der Weltrevolution gewesen sein. Tatsächlich war das, was mich gegen die Faszination des Maoismus immun gemacht hatte, meine Überzeugung, daß der chinesische Kommunismus und die maoistische Ideologie trotz ihrer internationalistischen Rhetorik in den Tagen der Spaltung zwischen Peking und Moskau im wesentlichen national, um nicht zu sagen nationalistisch waren. Daran hat auch ein mehrwöchiger Besuch in diesem beeindruckenden Land 1985 nichts geändert. Anders als die UdSSR, die nie eine Bewegung unterstützt hätte, die von einer Sozialrevolution so weit entfernt war wie die brutale UNITA in Angola, unterstützte das maoistische China, das seine Berufung als Zentrum des globalen bewaffneten Kampfes verkündete, Guerillabewegungen in Wirklichkeit sehr selektiv und fast ausschließlich aus antisowjetischen und antivietnamesischen Gründen. Wir oder zumindest ich hatten keine großen Hoffnungen mehr. Mein Freund Georg Eisler erinnert sich, daß ich mich nach meiner Rückkehr aus Kuba in den sechziger Jahren gefragt hatte, wie lange es wohl dauern würde, bis Havanna dasselbe Bild wie Sofia bot. Der sowjetische Einmarsch in die Tschechoslowakei, an den ich mich so lebhaft erinnere, wie andere Leute sich an den Tag erinnern, an dem Kennedy ermordet wurde, machte es sogar undenkbar, Prag noch einmal zu besuchen, aber wäre es in Frage gekommen, sich im Alter in ein so relativ liberales Land wie Ungarn zurückzuziehen? Die Antwort war nein, auch wenn es für einen alten Mitteleuropäer intellektuell und kulturell weitaus lebendiger und weniger provinziell war als sein strahlend erfolgreicher Nachbar Österreich. Was erwarteten Altkommunisten und die allgemeine Linke in den achtziger Jahren von der UdSSR, außer daß sie ein Gegengewicht zu den USA bildete und allein schon aufgrund ihrer Existenz die Reichen und die Herrscher der Erde so einschüchterte, daß diese die Bedürfnisse der Armen wenigstens ein bißchen zur Kenntnis nahmen? Nichts mehr. Und doch empfanden wir ein eigenartiges Gefühl der Erleichterung, als Michail Gorbatschow 1985 an die Macht kam. Trotz allem schien er für einen Sozialismus zu stehen, wie wir ihn uns vorstellten – nach seinen früheren Erklärungen zu urteilen sogar für einen Kommu-

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nismus von der Art, wie er von den Italienern repräsentiert wurde, oder den »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« des Prager Frühlings – und von dem wir geglaubt hatten, er sei dort völlig ausgestorben. Seltsamerweise sollte unsere Bewunderung durch die Tragödie seines dramatischen Scheiterns innerhalb der Sowjetunion, das fast vollständig war, kaum eine Einbuße erfahren. Mehr als jeder andere einzelne Mann wurde er verantwortlich für ihre Zerstörung. Aber zugleich war er auch, könnte man sagen, fast ganz allein dafür verantwortlich, daß der ein halbes Jahrhundert währende Alptraum eines drohenden atomaren Weltkriegs beendet wurde, und in Osteuropa für die Entscheidung, die Satellitenstaaten der UdSSR ihren eigenen Weg gehen zu lassen. Er war es, der letztlich die Berliner Mauer eingerissen hat. Wie manche andere im Westen bringe ich ihm in Gedanken auch künftig meine ungeschmälerte Dankbarkeit und meine moralische Anerkennung entgegen. Wenn es aus den achtziger Jahren ein Bild gibt, das ich heute noch vor mir sehe, dann ist es das vielfache Gesicht Michail Gorbatschows auf einer Galerie von Bildschirmen in einem Fernsehgeschäft, vor dem ich irgendwo auf der 57. Straße in New York stehenblieb. Mit einer Mischung aus Staunen und Erleichterung hörte ich zu, wie er vor den Vereinten Nationen sprach. Daß er im eigenen Land scheitern würde, wurde leider sehr bald offensichtlich; vielleicht sogar auch, daß er und seine Mitreformer zu tollkühn oder, wenn man so will, weder groß noch sachkundig genug waren im Hinblick auf die Welt, die sie regierten, um genau zu wissen, was sie da eigentlich taten. Möglicherweise war das niemand, und das Beste für die Sowjetunion und ihre Völker wäre gewesen, ihren allmählichen Niedergang fortzusetzen und auf eine schrittweise Verbesserung unter einem weniger ehrgeizigen und dafür realistischeren Reformer zu hoffen. Von Helsinki aus habe ich damals in einem Kommentar zu dem fehlgeschlagenen Putsch, der die Ära Gorbatschow beendete, geschrieben: »Er wählte Glasnost, um die Perestroika durchzusetzen; er hätte es umgekehrt machen sollen. Und weder der Marxismus noch westliche Ökonomen verfügten über Erfahrungen oder Theorien, die hilfreich gewesen wären.«7 Wie ein havarierter Riesentanker, der auf ein Riff zusteuerte, trieb eine führerlose Sowjetunion ihrer Auflösung entgegen.8 Schließlich ging sie unter. Und die Verlierer waren kurz- und mittelfristig nicht nur die Völker der ehemaligen UdSSR, sondern die Armen der Welt. »Der Kapitalismus und die Reichen haben vorläufig aufgehört, sich weiter zu ängstigen«, schrieb ich 1990. »Warum sollten sich die Reichen, vor allem in Ländern wie dem unseren, wo sie sich jetzt in Un-

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gerechtigkeit und Ungleichheit sonnen, über irgend jemanden außer sich selbst den Kopf zerbrechen? Welche politischen Strafen haben sie zu befürchten, wenn sie zulassen, daß der Wohlstand untergraben wird und der Schutz derjenigen, die ihn nötig haben, dahinschwindet? Das ist die hauptsächliche Wirkung des Verschwindens selbst einer sehr mangelhaften sozialistischen Region von der Erde.«9 Zehn Jahre nach dem Ende der UdSSR kann es sein, daß die Angst zurückgekehrt ist. Die Reichen und die Regierungen, die sie von ihrer Unentbehrlichkeit überzeugt haben, werden vielleicht wieder entdecken, daß die Armen Zugeständnisse statt Verachtung brauchen. Doch dank der Schwächung des sozialdemokratischen Konsenses und des Zerfalls des Kommunismus kommt die Gefahr heute von den Feinden der Vernunft: religiöse und ethnisch-tribale Fundamentalisten, Fremdenhasser, zu denen auch die Erben des Faschismus oder vom Faschismus inspirierte Parteien gehören, die in den Regierungen Indiens, Israels und Italiens sitzen. Es ist eine der vielen Ironien der Geschichte, daß nach einem halben Jahrhundert des antikommunistischen Kalten Kriegs die einzigen Feinde der Regierung in Washington, die tatsächlich ihre Bürger auf US-Territorium getötet haben, ihre eigenen ultrarechten Fanatiker und militante fundamentalistische sunnitische Muslime sind, die einmal bewußt von der »freien Welt« für den Kampf gegen die Sowjets finanziert wurden. Vielleicht wird die Welt es noch einmal bedauern, daß sie sich angesichts Rosa Luxemburgs Alternative »Sozialismus oder Barbarei« gegen den Sozialismus entschieden hat.

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Wie ist es der Geschichtsschreibung während meines Lebens ergangen? Leser, die sich für dieses eher spezialisierte Thema nicht interessieren, können dieses Kapitel überspringen, auch wenn es gar nicht so akademisch ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Der Vergangenheit werden wir nicht entgehen, genauer gesagt den Menschen, die sie aufzeichnen, auslegen, diskutieren und konstruieren. Unser Alltag, die Staaten, in denen, und die Regierungen, unter denen wir leben, sind umgeben und durchdrungen von den Erzeugnissen meines Berufs. Was in die Schulbücher und die Reden der Politiker über die Vergangenheit eingeht, das Material für Romanautoren und Produzenten von TV-Sendungen und Videos, stammt letztlich von Historikern. Mehr noch, die meisten und vor allem die guten Historiker wissen, daß sie bei der Erforschung der jüngeren und selbst der weit zurückliegenden Vergangenheit mit Gedanken und Meinungen operieren, die durch die Gegenwart und deren Probleme geprägt sind. Die Geschichte zu verstehen ist für normale Bürger ebenso wichtig wie für Fachleute, und England verfügt glücklicherweise über die mächtige Tradition einer ebenso seriösen wie lesbaren Publizistik von Fachleuten für ein breiteres Publikum: Adam Smith, Edward Gibbon, Charles Darwin, Maynard Keynes. Historiker sollten niemals nur für ihre Kollegen schreiben. In meiner Generation wurde das, was Marc Bloch als »das Handwerk des Historikers« bezeichnet hat, in England in keiner systematischen Weise gelehrt. Wir eigneten uns dieses Wissen häppchenweise selber an, so gut es eben ging. Es kam ganz darauf an, wem wir als Studienanfänger begegneten. Damals gab es in Cambridge nur einen einzigen Lehrer, dessen Vorlesungen, obwohl sie um neun Uhr morgens begannen, ich gemeinsam mit den meisten gescheiten jungen radikalen Geschichtsstudenten jener Zeit regelmäßig besucht habe.1 Der erstaunliche M.M. (»Mounia«) Postan, gerade erst von der London School of Economics hierhergekommen, war ein rothaariger Mann und glich einem quicklebendigen Menschenaffen oder leibhaftigen Neandertaler, was seiner beeindruckenden Attraktivität für Frauen keinen Abbruch tat. Er las, mit starkem russischem Akzent, Wirtschaftsgeschichte. Sie

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bildete den einzigen Teilbereich des Fachs im damaligen Lehrplan der Universität Cambridge, der für die Interessen von Marxisten von Bedeutung war, doch die Vorlesungen Postans hatten das Flair einer intellektuellen Erweckung und zogen selbst Studenten wie den jungen Arthur M. Schlesinger an, der aus seinem »Mangel an Fähigkeiten (und Interesse) auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeschichte« kein Hehl machte, ganz zu schweigen von seinem mangelnden Interesse am Marxismus. Jede dieser Vorlesungen – intellektuell-rhetorische Dramen, bei denen zunächst eine historische These entwickelt, dann völlig auseinandergenommen und schließlich durch Postans eigene Version ersetzt wurde – war ein Urlaub von der britischen Isolation der Zwischenkriegszeit, wofür die historische Fakultät der Universität ein besonders selbstzufriedenes Beispiel gab. Welcher Don außer Postan hätte uns 1936 ans Herz gelegt, die vor kurzem gegründeten Annales d’histoire économique et sociale zu lesen, die selbst im eigenen Land Frankreich noch nicht berühmt waren, oder den großen Marc Bloch zu Vorträgen nach Cambridge einzuladen, den er uns mit Recht als den wichtigsten lebenden Mediävisten vorstellte? (Leider kann ich mich in diesem Zusammenhang an nichts mehr erinnern außer an einen kleinen, dicken Mann.) Obwohl bekennender Antikommunist, war Postan in Cambridge der einzige, der Marx, Weber, Sombart und alle anderen großen Mittelund Osteuropäer kannte und ihre Arbeiten ernst genug nahm, um sie uns vorzustellen und seiner Kritik zu unterziehen. Er wußte trotzdem, daß er die jungen Marxisten anzog, und wenngleich er ihren Glauben an den russischen Bolschewismus verwarf, begrüßte er sie doch als Verbündete im Kampf gegen den historischen Konservatismus.2 Während des Kalten Kriegs, als ich auf seine Gutachten als Betreuer meiner Doktorarbeit angewiesen war, trug er auch das Seine dazu bei, daß mich bei meiner Stellensuche niemand einstellen wollte, indem er alle Welt darauf hinwies, daß ich Kommunist sei. Ich kann eigentlich nicht sagen, daß er mein Lehrer war – das war er wohl für niemanden, denn er bildete keine Schule und hatte auch keine Schüler –, aber er war meine Brücke zur eigentlichen Welt der Geschichte. Und er war sicherlich die erstaunlichste Persönlichkeit, die man in England oder sonst irgendwo zwischen den Kriegen auf einem Lehrstuhl für Geschichte antreffen konnte – imponierend, charmant und skurril. Denn Mounia Postan war – für einen Historiker ziemlich ungewöhnlich – ein lebenslanger Phantast und Träumer. Ohne eine unabhängige Bestätigung konnte man kein Wort von dem glauben, was er sagte. Wenn er die Antwort auf eine Frage nicht wußte – über das Mittelalter oder die Liebesgeschichten seiner Studenten –, erfand er eine.

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Da er außerdem im England der Zwischenkriegsjahre offensichtlich ein Außenseiter war, dessen ganzes Streben darauf gerichtet war, dazuzugehören, kannte seine Phantasie keine Grenzen. Obendrein log er mit einer völlig entwaffnenden Schamlosigkeit oder Chuzpe. Viele Jahre später, als für ihn die Zeit gekommen war, sich von seinem Lehrstuhl in Cambridge zurückzuziehen, was er jedoch nicht wollte, teilte er der Universität mit, er sei in Wirklichkeit ein Jahr jünger als in seinem Paß angegeben, und behauptete, das Register, in dem seine Geburt verzeichnet gewesen sei – in einem Ort, der seinerzeit zu Rußland und inzwischen zu Rumänien gehörte –, existiere nicht mehr. Wie gewöhnlich blieb man skeptisch. Und wie gewöhnlich schüttelte man lächelnd den Kopf und sagte: »Typisch Mounia!« In mancher Hinsicht war die großartigste seiner Phantasien die Konstruktion einer neuen Identität in England, in das er 1921 aus Sowjetrußland über Rumänien eingewandert war. Die frühe Phase seines Lebens entsprach weitgehend dem, was man von einem jungen Juden aus bürgerlichen Verhältnissen aus den südwestlichen Grenzregionen des zaristischen Rußlands erwarten mochte. Er hatte an der Universität Odessa studiert, bis die Revolution ausbrach, die er begrüßte, und sich einer radikalen marxistisch-zionistischen Gruppe angeschlossen, die nur gespalten war zwischen denen, die nach Palästina gehen und dort sofort eine sozialistische Gesellschaft errichten wollten, und denen, deren vordringlichstes Ziel zuerst die Weltrevolution war. Postan gehörte der zweiten Richtung an. Als die dem Zionismus mißtrauisch gegenüberstehende Sowjetmacht nach dem Bürgerkrieg in der Ukraine fest im Sattel saß, sperrte man ihn nach eigenen Angaben einige Monate ins Gefängnis und entließ ihn dann wieder. (Während des Zweiten Weltkriegs machte ihn dies für die Sowjetbehörden als Vertreter des britischen Ministeriums für wirtschaftliche Kriegführung inakzeptabel.) Danach ging er nach England, wo er sich zunächst als Werkstudent durchschlug und schließlich an der London School of Economics als Historiker der Agrarverhältnisse im Mittelalter Karriere machte. Er verbarg seine Herkunft eigentlich weniger, als daß er der Welt die Möglichkeit gab, zwischen einer Sammlung von Geschichten verschiedener Abenteuer auf dem Kontinent auszuwählen, zumeist ohne sein Judentum anzudeuten, obwohl kein Jude, der mit ihm zusammenkam, und im England der Zwischenkriegszeit auch fast kein Nichtjude über diesen Punkt auch nur für einen Augenblick im Zweifel sein konnte. Trotzdem gelang es ihm allein aufgrund seiner Brillanz, eines unglaublichen Charmes, der Entschlossenheit des Einwanderers und nicht zuletzt der Hilfe seiner Lehrerin und ersten Frau, der mediävisti-

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schen Wirtschaftshistorikerin Eileen Power (1889-1940), die Gipfel seiner neuen Umgebung zu erklimmen und sein Leben als Sir Michael Postan zu beenden, verheiratet mit Lady Cynthia Keppel, der Schwester des Earl of Albemarle. In dieser Hinsicht war er erfolgreicher als der andere unwahrscheinliche und intellektuell brillante historiographishe Import aus Osteuropa, der seines Judentums durchaus bewußte L.B. (Sir Lewis) Namier, der zwar ebenfalls zum Ritter geschlagen wurde, dem jedoch ein Lehrstuhl an seiner geliebten Universität Oxford versagt blieb. Ein offensichtlicher Unterschied zwischen den beiden bestand darin, daß der eine als internationale Größe global dachte und agierte, während sich die historischen Interessen des anderen weitgehend auf die britische Insel beschränkten. Bei einer unserer ersten Begegnungen fragte mich Fernand Braudel: »Ich habe gehört, daß in England viel über einen Historiker namens Namier und seine Schule geredet wird. Können Sie mir etwas über ihn sagen?« Weder er noch irgendein anderer Wirtschaftshistoriker hätte eine solche Frage zu Postan gestellt, und zwar schon deshalb nicht, weil er ab 1934 die international bekannte Zeitschrift Economic History Review herausgegeben hat. Außerdem interessierte es außerhalb Englands außer einer Handvoll Spezialisten niemanden besonders, daß Namier den Zugang zu dem esoterischen Thema der englischen Parlamentsgeschichte des 18. Jahrhunderts (wie man damals meinte) revolutioniert hatte, während tatsächlich alle Wirtschaftshistoriker im realen akademischen Universum Postans Themen zur Agrargeschichte des Mittelalters als wichtig anerkannten, ernst nahmen und bereit waren, auch jenseits staatlicher und ideologischer Grenzen – von der Harvard University bis zur Universität Tokio – in eine Debatte darüber einzutreten. Anders als die Forschung über Nationalpolitik in der Vergangenheit hatte die Wirtschaftsgeschichte damals einen verbindlichen Gegenstandsbereich und selbst einen akzeptierten Rahmen, der ein Urteil über die Relevanz der gestellten Fragen ermöglichte, mochten die Antworten auch noch so sehr auseinandergehen. In mancher Hinsicht symbolisierte der Gegensatz zwischen Postan und Namier den Hauptkonflikt, der die historische Zunft spaltete, und die Haupttendenz ihrer Entwicklung von den neunziger Jahren des 19. bis zu den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Es war der Kampf zwischen der herkömmlichen Annahme »Geschichte ist vergangene Politik«, entweder innerhalb einzelner Nationalstaaten oder in deren gegenseitigen Beziehungen, und einer Geschichte der Strukturen und des Wandels von Gesellschaften und Kulturen; zwischen Geschichte als

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Erzählung und Geschichte als Analyse und Synthese; zwischen denen, die es für unmöglich hielten, verallgemeinernde Aussagen über menschliche Angelegenheiten der Vergangenheit zu machen, und denen, die dies für wesentlich hielten. Der Kampf hatte in Deutschland in den Jahren nach 1890 begonnen, doch zu meiner Studentenzeit befanden sich die prominentesten Vorkämpfer der Rebellion in Frankreich: Marc Bloch und Lucien Febvre mit ihrer Zeitschrift Annales. Paradoxerweise war es Blochs und Postans Feld der mittelalterlichen Geschichte – von dem man eigentlich erwartet hätte, daß es konservative Historiker anzog –, das zu originellen Gedanken über die Vergangenheit anregte. Selbst für den traditionellsten Historiker war es unmöglich, das mittelalterliche Leben säuberlich in einzelne Bereiche – Politik, Wirtschaft, Religion oder was auch immer – zu zerlegen. Es machte Vergleiche und eine Überprüfung zeitgenössischer Annahmen geradezu notwendig und relativierte nebenbei die Grenzen moderner Staaten, Nationen und Kulturen. Ebenso wie die alte Geschichte und vielleicht auch aus ähnlichen Gründen ist die mittelalterliche Geschichte ein Fachgebiet, das zu meinen Lebzeiten einige der besten, aber auch der verstaubtesten historischen Denker angezogen hat, wenn auch weniger brillante marxistische Gelehrte als das Altertum. Andererseits war sie ein Bereich, in dem sich viele Leute vom Schlag meines Chefs am Birkbeck College betätigten, der verstorbene R.R. Darlington, dessen Lebenstraum es war, eine umfassende Edition der Schriften eines unbedeutenden Chronisten aus dem 12. Jahrhundert herauszugeben, und der völlig entsetzt reagierte, als ich als junger Lehrbeauftragter die Meinung äußerte, ein Seminar, das ein südafrikanischer Sozialanthropologe am College hielt, könnte für Studenten seines eigenen Seminars über das angelsächsische England von Interesse sein. In welchen Archiven hatte er denn geforscht? In diesen Kampf zwischen dem alten und dem neuen Geschichtsverständnis stürzten sich junge Marxisten wie ich zu Beginn ihrer Berufskarriere als Historiker, als sie sich auf dieses damals noch kleine (gemessen an der geringen Zahl seiner Vertreter und deren Veröffentlichungen) Forschungsfeld begaben. Die enorme Ausdehnung alter und neuer Universitäten und der astronomische Anstieg »der Literatur« setzte erst in den sechziger Jahren ein. Selbst in Ländern wie England und Frankreich oder in relativ ausgedehnten Forschungsfeldern wie der Wirtschaftsgeschichte weltweit kannten sich praktisch alle untereinander oder konnten sich kennenlernen. Zum Glück wurde der erste Internationale Kongreß der historischen Wissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg in Paris abgehalten. Vor dem Krieg hatte das histo-

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rische Establishment den Ton angegeben – der Faschismus hatte seine Position durch die erzwungene Auswanderung der besten Vertreter der Sozialwissenschaften allenfalls noch gestärkt. Den Neuerern gelang es im besten Fall, in einer breit definierten Zone der »Wirtschafts- und Sozialgeschichte« Fuß zu fassen, wie in Frankreich und England. Doch der Krieg hatte die alten Strukturen so weitgehend zerstört, daß die Rebellen für kurze Zeit tatsächlich das Ruder übernommen hatten. Der Kongreß, organisiert von einem Mann der Annales, Charles Morazé – den der aufsteigende Stern Fernand Braudel kurz und schmerzlos aus seiner Machtposition in der Redaktion der Zeitschrift entfernen sollte –, war nach heterodoxen Gesichtspunkten geplant worden, in der Hauptsache von den Franzosen, unter geringfügiger Mitwirkung von Historikern aus Italien sowie den Niederlanden und Skandinavien sowie einigen sehr untypischen Angelsachsen: Postan selbst, der australische historische Statistiker Colin Clark und ein marxistischer Althistoriker. Die Deutschen waren natürlich praktisch abwesend, auch wenn zu dieser Zeit nicht bekannt war, in welchem Ausmaß ihre herausragenden Historiker in das NS-System verstrickt waren. Die Historiker aus den USA waren in Scharen gekommen – wann wären Amerikaner nicht darauf aus gewesen, Paris zu besuchen? –, aber man hatte sie offenkundig in die Planung nicht recht einbezogen. Abgesehen von einem einzigen Bericht über Alte Geschichte und einer in letzter Minute eingereichten texanischen Abhandlung über Weltgeschichte als »Pionier«-Geschichte hielt man sie von den geplanten Hauptsektionen fern. Die Sowjetunion und alle ihre Satelliten, mit Polen als einziger Ausnahme, waren nicht vertreten. Sie alle tauchten 1955 nach Stalins Tod auf dem nächsten internationalen Kongreß in Rom in voller Besetzung auf. Die Zeiten waren angespannt in jenen Monaten unmittelbar nach dem Ausbruch des Koreakriegs, als der (französische) Präsident des Internationalen Ausschusses düster bemerkte, der Kongreß werde »künftigen Historikern der Historiographie ein wichtiges Beispiel für die Mentalität von Historikern nach der Krise des Zweiten Weltkriegs hinterlassen . . ., während sie auf den dritten warteten«.3 Eine Neuerung, an der ich unmittelbaren Anteil hatte, war eine Sektion zur Sozialgeschichte, wahrscheinlich die erste überhaupt auf einem historischen Kongreß. Tatsächlich gab es Sozialgeschichte bisher fast gar nicht, zumindest nicht für das 19. und 20. Jahrhundert, noch hatten die Planer bisher Klarheit darüber gewonnen, was der Begriff eigentlich bedeuten sollte. Es war offensichtlich mehr als die etwas enggefaßten Untersuchungen über Arbeiter- und sozialistische Organisationen, die bislang Anspruch auf diese Bezeichnung erhoben hat-

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ten (sprich das Amsterdamer Internationale Institut für Sozialgeschichte, wo sich die Manuskripte von Marx und Engels befanden). Ebenso offensichtlich sollte die Sozialgeschichte sich mit der Geschichte der Arbeiter befassen, mit sozialen Klassen und sozialen Bewegungen und mit den Beziehungen zwischen wirtschaftlichen und sozialen Erscheinungen, ganz zu schweigen von den »wechselseitigen Einflüssen zwischen wirtschaftlichen Fakten und politischen, rechtlichen, religiösen etc. Phänomenen«.4 Zu meiner Überraschung, da ich kaum meinen ersten Aufsatz in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht hatte, wurde ich als offizieller Vorsitzender der Sitzung »Zeitgeschichte« ernannt, auf der ein verkrüppelter marxistischer Gelehrter einen glänzenden Vortrag über Polen im 15. und 16. Jahrhundert hielt. Wahrscheinlich hatte Postan mich vorgeschlagen, ein anderer konnte es nicht gewesen sein. Meine Veranstaltung wurde von einer merkwürdigen Ansammlung von Kuriositäten und noch Namenlosen besucht, die bald näher ans Zentrum der historischen Welt rücken sollten. Da war J. Vicens Vives, ein einsamer Besucher aus Francos Barcelona auf der Suche nach intellektuellem Kontakt, später eine Quelle der Inspiration für die Historiker seines Landes. Da waren Paul Leuillot, Sekretär der Annales, der sich als Sprecher für Marc Bloch und Fernand Braudel verstand, sowie ich selbst, der wenig später Mitbegründer von Past & Present werden sollte. Da waren die häufig brillanten französischen Forscher mit unvollständigen, aber umfassenden Dissertationen wie Pierre Vilar und Jean Meuvret, die eben deshalb noch nicht in das Universitätssystem integriert waren, aber sehr bald in Braudels neuem Konkurrenzunternehmen zur Sorbonne unterkommen würden, der 6. Abteilung der École Pratique des Hautes Études (heute École des Hautes Études en Sciences Sociales). Da waren die Marxisten und ihre Kritiker. Kurzum, das Gesicht der Historiographie der fünfziger und sechziger Jahre zeichnete sich bereits ab. Der entscheidende Punkt war damals, daß trotz offenkundiger ideologischer Differenzen und einer durch den Kalten Krieg bedingten Polarisierung die verschiedenen Schulen der historiographischen Modernisierer denselben Weg gingen und gegen dieselben Gegner kämpften – und sie wußten es. Im wesentlichen waren sie gegen den »Positivismus«, die Vorstellung, wenn man nur die richtigen »Fakten« zusammentrage, würden sich die Schlußfolgerungen schon von allein ergeben, und gegen die traditionelle Vorliebe konventioneller Historiker für Könige, Minister, Schlachten und Verträge, das heißt für politische und militärische Entscheidungsträger auf höchster Ebene. Mit anderen Worten, sie wollten ein wesentlich erweitertes oder demo-

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kratisiertes sowie methodologisch anspruchsvolles Feld der Geschichte. Sie traten für eine Geschichte ein, die von den Sozialwissenschaften (einschließlich insbesondere der Sozialanthropologie) befruchtet wurde, was der Grund dafür war, daß die Annales sich von der Wirtschaftsund Sozialgeschichte ausgehend erweiterten und hinfort den Untertitel Economies, Sociétés, Civilisations trugen. Als fünfzehn Jahre nach Hitlers Ende eine Nachkriegsgeneration von Neuerern in der Bundesrepublik Deutschland begann, der deutschen Geschichte ihren Stempel aufzudrücken, machte sie die »historische Sozialwissenschaft« zu ihrem Programm. Wie ich bereits angedeutet habe, waren die historischen Modernisierer zwar einig in ihrem Kampf gegen die Konservativen, sonst jedoch weder ideologisch noch politisch homogen. Die Vorstellungen der Franzosen waren in keiner Weise marxistisch, ausgenommen die Historiographie der Französischen Revolution, die, da sie im Hafen der Sorbonne sicher vor Anker gegangen war, mit der Schule der Annales nichts zu tun hatte. (Braudel sagte mir einmal bedauernd, das Problem der französischen Geschichte zu seinen Lebzeiten sei, daß ihre beiden bedeutendsten Vertreter, er und Ernest Labrousse von der Sorbonne, Brüder seien, die nicht miteinander auskommen könnten.) In England dagegen standen die Marxisten ungewöhnlich stark im Vordergrund, und die Zeitschrift Past & Present, die aus den Diskussionen der Historikergruppe der KP Großbritanniens hervorging, wurde zum hauptsächlichen Medium der Neuerer. Die Rebellen unter den deutschen Historikern, eine Nachkriegsgeneration, waren weitgehend geprägt von ihren Studien in England und den USA und neigten eher zu Max Weber als zu Marx, im Unterschied zum einheimischen Marxismus der Historikergruppe der KP. Dennoch betrachteten wir uns alle gegenseitig als Verbündete. So erkannte Past & Present im ersten Absatz ihrer ersten Ausgabe die von den Annales ausgehenden Impulse an. Für die Annales wiederum verglich Jacques Le Goff (»ein Leser von Anfang an, ein Bewunderer, ein Freund, fast [wenn ich das sagen darf] ein heimlicher Liebhaber«5) Past & Present mit seiner Zeitschrift, während der Altmeister der neuen Deutschen, Hans-Ulrich Wehler, anscheinend in »der erstaunlichen Wirkung [dieser] marxistischen Historikergeneration« den Hauptfaktor hinter »de[m] weltweit wirkende[n] Einfluß der englischen Geschichtswissenschaft vor allem seit den 1960er Jahren« erblickt.6 In dieser Phase spielte die Geschichte (im Unterschied zu den Sozialwissenschaften) in den USA noch eine relativ unbedeutende internationale Rolle. Tatsächlich gab es kaum einen realen Kontakt zwi-

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schen ihr und der Alten Welt, ausgenommen die Bereiche, die für amerikanische Europahistoriker traditionell von Interesse waren wie die Französische Revolution, sowie jene Felder, die nach 1933 von den deutschen Exilanten in die USA mitgebracht wurden. Doch Europahistoriker waren eine Minderheit und wurden von der großen Mehrheit der im allgemeinen monoglotten Historiker als kosmopolitische Überflieger mit Mißtrauen betrachtet. Diese Historiker befaßten sich in der Hauptsache mit der Geschichte der Vereinigten Staaten, ein Thema, das in der Form, in der es von ihnen behandelt wurde, wenig mit der Arbeit von Historikern in anderen Ländern zu tun hatte. Lediglich die Sklaverei war ein Thema, das international Interesse weckte, doch die jüngeren Historiker auf diesem Gebiet, die im Ausland von sich reden machten, waren in den fünfziger und sechziger Jahren sehr untypische Vertreter ihrer Zunft. Zu ihnen gehörten mehrere junge Nachkriegsmitglieder der KP der USA – Herb Gutman, der brillante Gene Genovese und der ehemalige nationale Sekretär der Young Communist League und spätere Nobelpreisträger, der unendlich einfallsreiche Bob Fogel. Merkwürdigerweise galt das selbst für ein so offenkundig globales Fach wie die Wirtschaftsgeschichte, was vielleicht erklärt, warum die internationale Vereinigung, die in diesem Bereich gegründet wurde, als anglo-französisches Kondominium von Braudel und Postan geführt wurde. Amerikanische Neuerungen in der Geschichtswissenschaft – Wirtschaftsgeschichte als »Unternehmensgeschichte« in den fünfziger Jahren, »Psychohistorie« (freudianische Interpretationen historischer Persönlichkeiten) und die wesentlich dramatischere »Kliometrie« (Geschichte als retrospektive und häufig fiktive Ökonometrie) in den sechziger Jahren – fanden kaum den Weg über den Atlantik. Erst 1975 wurde der alle fünf Jahre stattfindende Weltkongreß der historischen Wissenschaften in den USA abgehalten, vermutlich aus diplomatischen Gründen, weil er 1970 in Moskau stattgefunden hatte. Alles in allem kämpften die Traditionalisten unter den Historikern in den dreißig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein Rückzugsgefecht in einer verlorenen Schlacht gegen die vordringenden Modernisierer aus den meisten westlichen Ländern, in denen die Geschichtswissenschaft sich frei entfalten konnte. Vielleicht hätten sie sich wirksamer verteidigt, wenn die Garnison des zentralen Bollwerks einer traditionellen historischen Gelehrsamkeit, Deutschland, sich nicht durch ihre Verbindung mit dem Nationalsozialismus um jeden Kredit gebracht hätte. (Die Lage der Historiker in kommunistischen Ländern war mit der im Westen nicht vergleichbar, doch wie es der Zufall wollte, paßte

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der Marxismus, auf den sie offiziell und manchmal auch aus aufrichtiger Überzeugung verpflichtet waren, besser zu den Arbeiten westlicher Modernisierer als zu der traditionalistischen, hauptsächlich nationalistischen Geschichte in ihren eigenen Länden.) 1970 wurde von der amerikanischen Zeitschrift Daedalus eine ziemlich optimistische, um nicht zu sagen triumphale Tagung organisiert, die einen Überblick über den Stand der Geschichtswissenschaft geben sollte. Abgesehen von den (defensiven) Sprechern der Politik- und Militärgeschichte wurde die Veranstaltung von den Modernisierern dominiert – Briten, Franzosen und, unter den noch nicht Vierzigjährigen, Amerikaner.7 Zu dieser Zeit hatte man eine gemeinsame Flagge für die alles andere als homogene Volksfront der Neuerer gefunden: »Sozialgeschichte«. Sie paßte zur politischen Radikalisierung der sich dramatisch erweiternden Studentenpopulation der sechziger Jahre. Der Begriff war unbestimmt, gelegentlich irreführend, doch wie ich damals im Zusammenhang mit dem »bemerkenswert lebendigen« Zustand des Forschungsfelds schrieb: »Es ist ein guter Augenblick, um Sozialhistoriker zu sein. Selbst diejenigen von uns, die nie daran gedacht hätten, uns so zu bezeichnen, werden keine Einwände dagegen erheben.«8 Es gab durchaus Grund zur Zufriedenheit. Nicht zuletzt, weil – ein wenig unerwartet – der Kalte Krieg sich auf die Entwicklungen in der Geschichte nicht wesentlich ausgewirkt hatte. Überhaupt ist es überraschend, wie wenig er die Welt der Historiographie durchdrungen hat, ausgenommen natürlich in Themenbereichen wie der Geschichte Rußlands und der UdSSR. In Capitalism and the Historians, in den vierziger Jahren unter der Schirmherrschaft Friedrich von Hayeks veröffentlicht, wurde die These vertreten, daß Historiker, die auf die negativen Auswirkungen der industriellen Revolution für die Armen hinwiesen, grundsätzlich gegen die Vorzüge eines Systems des freien Unternehmertums eingenommen seien. Das zog eine lebhafte Polemik nach sich – Studenten fanden sie durchaus unterhaltsam –, die sogenannte »Standard-of-Living-Debate«, als die Linke (das heißt ich selbst als Sprecher für die kommunistischen Historiker) erwiderte. Aber man kann nicht behaupten, daß diese Debatte, die seither mit Unterbrechungen andauert, danach zwischen unterschiedlichen ideologischen Lagern geführt worden wäre. Brisante Themen wie Rußland (vor allem im 20. Jahrhundert) und die Geschichte des Kommunismus waren natürlich ideologische Kampfplätze, auch wenn die Debatte einseitig verlief, da die im Sowjetreich erzwungenen Orthodoxien sowohl die Historiker als auch ihre Interpretationen lähmten. Ein seriöser Sowjethistoriker konnte sich bestenfalls auf die Geschichte des alten Orients und

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des Mittelalters spezialisieren, auch wenn es rührend war mit anzusehen, wie sich die Modernisten jedesmal, wenn das Fenster sich ein wenig öffnete – wie 1956 und Anfang der sechziger Jahre –, beeilten (innerhalb der Grenzen des Erlaubten), zu sagen, was sie für wahr hielten. Ich selbst wurde hauptsächlich deshalb ein Historiker des 19. Jahrhunderts, weil ich bald entdeckte – im Verlauf eines abgebrochenen Projekts der Historikergruppe in der KP, eine Geschichte der britischen Arbeiterbewegung zu schreiben –, daß man angesichts der festen offiziellen Ansichten von Partei und Staat in der UdSSR über das 20. Jahrhundert mit der Geschichtsschreibung bei 1917 aufhören mußte, um nicht Gefahr zu laufen, als politischer Ketzer gebrandmarkt zu werden. Ich war bereit, über das Jahrhundert in einer politischen oder öffentlichen Eigenschaft zu schreiben, aber nicht als Fachhistoriker. Meine Geschichte hörte mit dem Juni 1914 in Sarajewo auf. Zum Glück enthielt ich mich einer Geschichte des 20. Jahrhunderts, bis es fast vorbei war, aber dies ging gegen die historiographische Bewegung weg von der fernen Vergangenheit und hin zur Gegenwart. Bis weit nach 1945 endete die »wirkliche« Geschichte spätestens 1914, wonach die unmittelbare Vergangenheit von Chronik, Journalismus oder zeitgenössischen Kommentaren verwaltet wurde. Da die Archive in England jahrzehntelang verschlossen blieben, konnte sie nach den Maßstäben traditioneller Historiker auch gar nicht geschrieben werden. In den meisten Ländern war noch nicht einmal das 19. Jahrhundert von den historischen Fakultäten – mit Ausnahme der Wirtschaftshistoriker – der Hochschulen vollständig aufgearbeitet worden. Die großen historischen Debatten machten vor dieser Epoche halt, auch wenn der politische Radikalismus, nicht zuletzt in Form einer neuen Leidenschaft für die Geschichte der Arbeiterbewegung, jetzt die Aufmerksamkeit auf eine Zeit lenkte, die in mehreren Ländern von den Historikern weitgehend vernachlässigt worden war. Selbst in England wurden bis in die sechziger Jahre hinein die Biographien der großen Persönlichkeiten des viktorianischen Zeitalters von Politikern, seriösen Journalisten, Verwandten und Essayisten geschrieben und nicht von Fachhistorikern. Dennoch verringerte sich die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart, vielleicht weil so viele Fachhistoriker sich praktische Erfahrung im Zweiten Weltkrieg erworben hatten. Gleichzeitig beschränkte sich die Geschichtswissenschaft im westlichen Sinn noch immer weitgehend auf die erste und zweite Welt sowie Japan. Grob gesagt existierte sie außerhalb dieser Regionen entweder nicht, dümpelte vor sich hin oder wurde weiterhin im traditionellen

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Sinn betrieben, wenn man von vereinzelten Marxisten und (wie in Teilen Lateinamerikas) Enklaven mit modernistischem Einfluß aus Paris absieht. Außerdem war der weitaus größte Teil der Geschichte an den Universitäten eurozentrisch oder befaßte sich mit »westlicher Zivilisation«, ein Begriff, der in den USA vorgezogen wurde. Die Welt fand nur als »die Expansion Europas« Eingang in die in Cambridge gelehrte Geschichte. Mit seltenen Ausnahmen wie Charles Boxer waren es nicht Historiker, sondern Geographen, Anthropologen und Sprachwissenschaftler, abgesehen natürlich von den kolonialen Verwaltungsbeamten, die sich mit »nichtwestlichen« Angelegenheiten beschäftigten. Vor dem Krieg interessierte die außereuropäische Geschichte als solche nur wenige Historiker außer Marxisten (aufgrund ihres Antiimperialismus) und nichteuropäische Historiker wie die Japaner, die damals ebenfalls unter starkem marxistischem Einfluß standen. In Cambridge führte eine Abfolge von Historikern die sogenannte »colonial group« des kommunistischen Studentenverbands (zumeist Südasiaten). Auf den Kanadier E.H. Norman, später ein Diplomat und ein Pionier auf dem Gebiet der Geschichte des neuzeitlichen Japan, der 1957 unter dem Druck der amerikanischen Hexenjäger Selbstmord beging, folgte mein alter Freund V.G. (Victor) Kiernan, ein Mann von entwaffnendem Charme mit universellen, hervorragenden Kenntnissen über alle Kontinente, der auch über den römischen Dichter Horaz schrieb und Urdu-Gedichte übersetzte. Nach ihm kamen der Kanadier Harry Ferns, der über Argentinien forschte und in späteren Jahren zu einem extremen Konservativen wurde, und der brillante, originelle und selbstzerstörerische Jack Gallagher, der nie vor zwölf Uhr mittags aufstand und später die Lehrstühle für Kolonialgeschichte in Oxford und Cambridge innehatte. Mein persönliches Interesse an außereuropäischer Geschichte rührt ebenfalls aus meiner Verbindung zu dieser Gruppe. Die außerwestliche Geschichte kam erst mit der Entkolonialisierung der alten Kolonialreiche und dem gleichzeitigen Aufstieg der USA zur Weltmacht zu sich. Die Weltgeschichte als Geschichte unseres Planeten kam in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf, parallel zum offensichtlichen Fortschreiten der Globalisierung. Historiker aus der dritten Welt, vor allem eine Gruppe brillanter Inder, die aus den lokalen Schulen marxistischer Debatten hervorgegangen waren, errangen erst in den neunziger Jahren weltweit Anerkennung. Ihre Interessen als Weltmacht in Verbindung mit den außerordentlichen Ressourcen, die den US-Universitäten zur Verfügung standen, machten die USA zum Zentrum der neuen, posteurozentrischen Weltgeschichte und veränderten nebenbei die amerikanischen Lehrbücher und Zeitschriften für

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Geschichte. Wie hätten die historischen Perspektiven auch dieselben bleiben können? Fidel Castro war der Grund, daß in England zu Beginn der sechziger Jahre die systematische Entwicklung der Lateinamerikastudien in Angriff genommen wurde. Soweit wir damals wußten, standen dahinter Anregungen aus Präsident Kennedys Washington, es sei zweckmäßig, nordamerikanische Experten für diese Region durch die vertrauenswürdigeren Europäer zu ersetzen. (Falls das zutraf, ging dieser Schuß jedenfalls nach hinten los. Die Geschichte Lateinamerikas zog in erster Linie junge Radikale an.) Doch die Geschichten Europas, der Vereinigten Staaten und der übrigen Welt blieben voneinander getrennt – ihre Adressaten koexistierten, doch es gab kaum Berührungen. Die Geschichte ist, leider, für Autoren wie Leser eine Sammlung von Nischenmärkten geblieben. In meiner Generation hat nur eine Handvoll Autoren versucht, diese Vielfalt in eine umfassende Weltgeschichte zu integrieren. Das lag zu einem Teil daran, daß es der Geschichtsschreibung weitgehend aus institutionellen und sprachlichen Gründen einfach nicht gelang, sich aus dem Bezugssystem des Nationalstaats zu befreien. Im Rückblick war dieser Provinzialismus wahrscheinlich die Hauptschwäche dieses Fachs zu meinen Lebzeiten. Trotz alledem durfte man um 1970 mit einigem Recht annehmen, daß der Kampf um die Modernisierung der Geschichtsschreibung, der in den Jahren nach 1890 begonnen hatte, gewonnen war. Das Hauptschienennetz, auf dem die Züge der Historiographie fahren sollten, war fertiggestellt. Nicht daß die Modernisierer, zumindest außerhalb der französischen Gegner der »Ereignisgeschichte«, unbedingt eine Hegemonie der Wirtschafts- und Sozialgeschichte vorgeschlagen hätten, auch keine Verbannung der Politikgeschichte oder gar der Ideen- und Kulturgeschichte. Die Modernisierer waren alles andere als Reduktionisten. Auch wenn sie die Überzeugung hegten, daß eine historische Darstellung erklären und generalisieren müsse, mußte ihnen niemand sagen, daß sie etwas anderes war als eine Naturwissenschaft. Sie waren allerdings der Meinung, daß die Geschichte ein umfassendes Projekt hat, ob es nun Braudels »totale« oder »globale Geschichte« ist, die »die Beiträge aller Wissenschaften vom Menschen einbezieht«, oder, wenn ich meine eigene Definition dessen anführen darf, um was es in der Geschichte letztlich geht: »Wie und warum hat sich Homo sapiens aus der Altsteinzeit zum Atomzeitalter entwickelt?«9 Doch innerhalb weniger Jahre hat sich die Bühne völlig verändert. Wie Braudel selbst über die Annales klagte, die er in den siebziger Jahren nicht mehr leitete, war der Sinn für Prioritäten, die Unterscheidung zwischen Bedeutung und Trivialität, die für das alte Projekt wesentlich gewesen

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war, verlorengegangen. In derselben Weise beklagten sich alte Mitarbeiter von Past & Present über Raphael Samuels neues History Workshop Journal (ein letzter entfernter Sprößling der alten Historikergruppe in der KP), daß es die verschiedensten Winkel der Vergangenheit aufspüre, die vielleicht für Enthusiasten interessant seien, aber daß es kein Bedürfnis erkennen lasse, historische Fragen zu stellen. Geschichte als die Erkundung einer objektiv wiedergewinnbaren Vergangenheit stand noch nicht zur Disposition. Das kam erst mit der Mode der »Postmoderne«, ein Begriff, der in England bis zum Beginn der achtziger Jahre praktisch unbekannt war und bis zum Beginn des neuen Jahrtausends in das Feld seriöser Geschichtsschreibung glücklicherweise nur marginal eingedrungen war. Nichtsdestoweniger wendete sich irgendwann in den frühen siebziger Jahren für die Historiographie das Blatt. Denjenigen, die glaubten, sie hätten seit 1930 die meisten Schlachten gewonnen, blies jetzt der Wind ins Gesicht. Mit »Struktur« ging es bergab, mit »Kultur« ging es bergauf. Vielleicht läßt sich die Veränderung am besten in wenigen Worten so ausdrücken, daß die jungen Historiker nach 1945 ihre Inspiration in Braudels La Méditerranée (1949; deutsch: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Frankfurt/M., 1. Bd. 1990) fanden, die jungen Historiker nach 1968 in der brillanten Tour de force »dichter Beschreibung« des Anthropologen Clifford Geertz, »Deep Play: Notes on the Balineses Cock-Fight« (1973).10 Es gab eine Verlagerung weg von historischen Modellen oder »den großen Warum-Fragen«, eine Verschiebung vom »analytischen zum deskriptiven Modus«11, von der Wirtschafts- und Sozialstruktur zur Kultur, von der Beschreibung von Fakten zur Beschreibung von Zuständen und Gefühlen, vom Blick durch das Fernglas zum Blick durch das Mikroskop – wie in der ungeheuer einflußreichen kleinen Monographie über die Weltsicht eines exzentrischen furlanischen Müllers von dem jungen italienischen Historiker Carlo Ginzburg.12 Vielleicht gab es auch ein Element jenes eigenartigen intellektuellen Mißtrauens gegenüber dem Rationalismus der Naturwissenschaften, das gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend in Mode kam. Nicht daß es unter Fachhistorikern zu einer vollkommenen Abwendung von der Strukturgeschichte zurück zur narrativen Geschichte oder zur Politikgeschichte alten Stils gekommen wäre. Soweit mir bekannt ist, haben die Historiker der jüngeren Generationen in den letzten dreißig Jahren jedenfalls kein Meisterstück der nichtanalytischen narrativen Geschichte hervorgebracht, das sich mit jenem anerkannten Triumph traditioneller Gelehrsamkeit in diesem Genre, Steven Runcimans The Crusades

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(1951-1954; deutsch: Die Kreuzzüge) vergleichen ließe. Doch allein schon das enorme Ausmaß, in dem offenkundig wichtige Themen während des halben Jahrhunderts seit 1945 unberücksichtigt blieben oder mit Schweigen übergangen wurden, ließ viel Raum für nüchternes, auf viel Archivarbeit gestütztes Schließen von Lücken oder die »Ereignisgeschichte«. Man braucht nur an den verborgenen Kontinent sowjetischer Archive zu denken, die in den neunziger Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, an die Geschichte des Kalten Kriegs oder das lange offizielle Schweigen oder die öffentlichen Mythen über Frankreich unter der deutschen Besatzung oder über die Gründung und die frühen Jahre Israels. Obwohl die historiographischen Modernen, die bis in die späten sechziger Jahre so erfolgreich gegen die Alten gekämpft hatten, ein Bündnis bildeten, an dem die Marxisten beteiligt waren, kam die Herausforderung ihrer Vormachtstellung nicht von der ideologischen Rechten. Wenn meine Generation marxistischer Historiker, die in den Jahren von 1933 bis 1956 geprägt wurden, keine eigentlichen Nachfolger hatten, so nicht, weil die Kalten Krieger an Schulen und historischen Fakultäten an Boden gewonnen hätten – das Gegenteil dürfte eher der Fall gewesen sein –, sondern weil die Generationen der Linken nach 1960 in der Mehrzahl etwas anderes wollten. Doch auch hier war es keine spezifisch gegen den Marxismus gerichtete Reaktion. In Frankreich wurde die praktische Hegemonie der Braudelschen Geschichte und der Annales nach 1968 beendet, und der internationale Einfluß der Zeitschrift ging abrupt zurück. Zumindest ein Teil der Veränderungen in der Geschichtswissenschaft war ein Widerhall der außergewöhnlichen Kulturrevolution der späten sechziger Jahre, die von den Universitäten und hier vor allem von den geisteswissenschaftlichen Fakultäten ausging. Es war weniger eine intellektuelle Herausforderung als ein Stimmungsumschwung. In England war die »History Workshop«-Bewegung der charakteristischste Ausdruck der neuen »historischen Linken« nach 1968. Ihr ging es weniger um historische Entdeckung, Erklärung oder auch nur Darstellung als um Inspiration, Einfühlung und Demokratisierung. In ihr äußerte sich auch die erstaunliche und unerwartete Zunahme des Interesses an der Vergangenheit beim Massenpublikum, was der Geschichte einen überraschend großen Raum in den Print- und Bildmedien verschaffte. History-Workshop-Veranstaltungen, bei denen Amateure und Fachhistoriker, Intellektuelle und Arbeiter und eine große Zahl von Jüngeren mit Schlafsäcken und improvisierten Kinderkrippen zusammenkamen, glichen Gospelveranstaltungen, besonders wenn sie mit dem erforder-

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lichen Predigertonfall, dem hwyl von Starrednern wie dem wunderbaren Historiker von Wales, Gwyn Alf Williams, eröffnet wurden, einem gedrungenen, dunkelhaarigen Mann, dessen grandiose Bewältigung seines Stotterns sein Rednertalent noch unterstrich. Es ist bezeichnend, daß die erste Konferenz von Women’s Liberation in England (zu der Marlene von den Frauen unserer Freunde von der »New Left« mitgenommen wurde) aus einem Ende der sechziger Jahre vorgeschlagenen History Workshop hervorging. Sheila Rowbothams historisches Manifest des Feminismus, das folgte, trug den charakteristischen Titel Hidden from History. Das waren Menschen, für die Geschichte nicht so sehr eine Methode war, die Welt zu deuten, sondern ein Mittel zur kollektiven Selbstfindung oder, bestenfalls, zur Erlangung kollektiver Anerkennung. Die Gefahr dieser Position war und ist, daß sie die Universalität des Diskursuniversums untergräbt, die das Wesen aller Geschichte als einer gelehrten und intellektuellen Disziplin ist, einer Wissenschaft im deutschen wie im engeren englischen Sinn des Wortes.13 Und sie untergräbt das, was die Älteren und die Jüngeren miteinander gemein hatten, nämlich die Überzeugung, daß die Untersuchungen von Historikern mit Hilfe von allgemein anerkannten Regeln der Logik und von Beweisregeln zwischen Fakten und Fiktionen unterscheiden: zwischen dem, was sich nachweisen, und dem, was sich nicht nachweisen läßt, zwischen dem, was der Fall ist, und dem, was wir gerne so hätten. Diese Gefahr ist deutlich gewachsen. Politische Pressionen, denen die Geschichtsschreibung ausgesetzt ist, durch alte und neue Staaten und Regimes, identity groups und Kräfte, die lange unter der Eiskappe des Kalten Kriegs verborgen waren, sind stärker als je zuvor seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, und die moderne Mediengesellschaft hat der Vergangenheit zu einer beispiellosen Bedeutung und einem enormen Marktpotential verholfen. Heutzutage wird mehr Geschichte denn je von Leuten umgeschrieben oder erfunden, die nicht die wirkliche Vergangenheit wollen, sondern eine, die ihren Zwecken dient. Wir leben heute im großen Zeitalter der historischen Mythologie. Die Verteidigung der Geschichte durch ihre Experten ist heute in der Politik dringlicher denn je. Man braucht uns. Wir haben auch viel Arbeit vor uns. Während die konkreten Angelegenheiten der Menschheit heute in der Hauptsache nach den Maßgaben problemlösender Technologen bearbeitet werden, für die unser Fach so gut wie keine Bedeutung hat, ist die Geschichte für das Verständnis der Welt heute entscheidender denn je. In aller Stille ist inmitten der Auseinandersetzung über die objektive Existenz der Vergan-

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genheit der historische Wandel zu einem wesentlichen Bestandteil der Naturwissenschaften geworden, von der Kosmogonie bis zum Neodarwinismus. Durch die Molekular- und Evolutionsbiologie, die Paläontologie und Archäologie wird sogar die Menschheitsgeschichte selbst verändert. Sie hat wieder ihren Platz im Gebäude einer globalen, ja kosmischen Evolution gefunden. Die Entdeckung der DNS hat sie revolutioniert. So wissen wir heute, wie außerordentlich jung Homo sapiens als Spezies ist. Wir haben Afrika vor 100 000 Jahren verlassen. Was gewöhnlich als »Geschichte« seit der Erfindung des Acker- und des Städtebaus beschrieben worden ist, erstreckt sich in seiner Gesamtheit über kaum mehr als vierhundert Menschengenerationen oder 10 000 Jahre, ein Augenblinzeln in der geologischen Zeit. Wenn man die dramatische Beschleunigung im Tempo der Herrschaft des Menschen über die Natur während dieser kurzen Zeitspanne bedenkt, vor allem während der letzten zehn bis zwanzig Generationen, läßt sich die Gesamtheit der bisherigen Geschichte bildlich als eine Explosion unserer Spezies, eine Art biosoziale Supernova in eine unbekannte Zukunft verstehen. Wir wollen hoffen, daß sie keine katastrophalen Folgen hat. Vorläufig und zum ersten Mal überhaupt haben wir einen adäquaten Rahmen für eine Weltgeschichte im emphatischen Wortsinn, die zudem den ihr gebührenden zentralen Platz wieder eingenommen hat, weder innerhalb der Geisteswissenschaften noch in den Natur- oder den mathematischen Wissenschaften, noch von diesen getrennt, sondern für beide Seiten wesentlich. Ich wäre gern jung genug, um sie mit zu schreiben. Trotzdem war es eine gute Sache, Historiker zu sein, selbst in meiner Generation. Vor allem hat es Spaß gemacht. In einem Gespräch über seine intellektuelle Entwicklung hat mein Freund, der verstorbene Pierre Bourdieu einmal gesagt: »Für mich steht das Leben des Intellektuellen dem des Künstlers näher als dem Universitätsalltag . . . Von allen Formen der intellektuellen Arbeit ist das Geschäft des Soziologen zweifellos dasjenige, dessen Praxis mir in jedem Sinn des Wortes Glück beschert hat.«14 Man ersetze »Soziologe« durch »Historiker«, und ich unterschreibe sofort.

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Wie kann der Autobiograph, der ein Leben lang Hochschullehrer und Autor war, über sein berufliches Leben schreiben? Was beim Schreiben geschieht, vollzieht sich im wesentlichen in der Zurückgezogenheit des Studierzimmers auf dem Bildschirm oder dem Papier. Wenn Autoren mit etwas anderem beschäftigt sind, schreiben sie nicht oder sammeln höchstens Material zu diesem Zweck. Das gilt selbst für die literarische Aktivität von Männern (oder Frauen) der Tat wie Julius Cäsar. Es gab viel zu sagen über die Eroberung Galliens, und wie jeder weiß, der ein humanistisches Gymnasium besucht hat, konnte Cäsar es sehr gut in Worte fassen, doch über die eigentliche Niederschrift von De bello Gallico gibt es wenig zu sagen, außer daß der große Julius den Text einem Sklavenschreiber diktiert hat, wenn er gerade nichts Wichtigeres zu tun hatte. Andererseits verbringt man als Hochschullehrer den größten Teil seiner Arbeitszeit mit den Routinetätigkeiten von Lehre und Forschung, Konferenzen und Prüfungen. Sie sind ereignislos, und ihnen fehlt das Überraschungsmoment eines bewegteren Lebens. Einen Großteil seiner Freizeit verbringt man gemeinsam mit anderen Hochschullehrern, eine Spezies, die als Individuen durchaus interessant sein mag, in größerer Zahl jedoch keine aufregende Gesellschaft ist. Vor einem halben Jahrhundert konnte man begründetermaßen behaupten, daß eine Versammlung von Historikern, etwa bei den Jahresversammlungen ihrer Vereinigungen, sich von einer Versammlung leitender Mitarbeiter eines Versicherungsunternehmens weniger unterschied als von einem Treffen von akademischen Vertretern der übrigen Fachrichtungen. Doch seit die 68er Generation die Lehrstühle an den Hochschulen eingenommen hat, dürfte sich das geändert haben. Was die Studenten angeht, so sind sie in großer Zahl sicherlich für jeden interessanter, der seine Lehrtätigkeit liebt, allerdings hauptsächlich wegen ihrer Jugend und all der Dinge, die damit verbunden sind, Begeisterung, Leidenschaft, Hoffnung, Unwissenheit und Unreife, und weniger, weil viel zu erwarten wäre, wenn man es mit einer großen Menge von ihnen zu tun hat. Das trifft zugegebenermaßen für die bei-

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den Institute, an denen ich den größten Teil meiner Lehrtätigkeit ausgeübt habe, das Birkbeck College an der Universität London und die Graduate Faculty der New School for Social Research (heute New School University) in New York, nur eingeschränkt zu. Beide fallen etwas aus dem Rahmen des gewöhnlichen Universitätsbetriebs und haben eine besondere Studentenschaft. Birkbeck College, der Nachfolger der London Mechanics’ Institution von 1825, ist bis heute ein Abendcollege, an dem Menschen unterrichtet werden, die tagsüber berufstätig sind. Einer der Gründe, warum ich meine gesamte berufliche Laufbahn in England dort verbracht habe, war das Vergnügen, überdurchschnittlich motivierte Frauen und Männer zu unterrichten, die in der Regel älter und damit reifer waren als die normalen Studenten, die direkt von der Schule kamen. Vor ihnen mußten die Lehrer jede Woche erneut die Probe auf ihr berufliches Können bestehen: Wie hält man abends zwischen acht und neun Uhr das Interesse von Menschen wach, von denen man weiß, daß sie nach einem vollen Arbeitstag zum College gekommen sind, nur schnell zwischendurch in der Cafeteria etwas gegessen und bereits ein oder zwei Vorlesungen gehört haben und anschließend möglicherweise noch eine Stunde für den Heimweg benötigen, wenn ich mit meinem Stoff fertig bin? Birkbeck war eine gute Schule, wo man unter anderem auch lernte, mit anderen zu kommunizieren. Das Besondere an der Graduate Faculty der New School war ihre Verbindung von Heterodoxie und Internationalismus. Die New School for Social Research selbst war nach dem Ersten Weltkrieg von pädagogischen, ideologischen und politisch radikalen Reformern gegründet worden, die gegen das rebellierten, was in ihren Augen die Tyrannei der Prüfungen war. Sie fand erstklassige Leute, an denen in New York City kein Mangel herrschte und die alles unterrichteten, was nachgefragt wurde, von klassischer Philosophie bis zu Yoga. Die Graduate Faculty war 1933 ins Leben gerufen worden, um die ersten akademischen Flüchtlinge aus Hitlerdeutschland unterzubringen, denen später die Flüchtlinge aus dem übrigen Europa folgten. Sie ist bekannt als die erste akademische Einrichtung, die Vorlesungen über Jazz anbot, und höchstwahrscheinlich die erste, die ein Seminar über Strukturalismus veranstaltete (unter der Leitung von Claude Lévi-Strauss und Roman Jakobson), beides während des Zweiten Weltkriegs. Ihr Ruf der Heterodoxie und des Radikalismus zog ungewöhnliche Studenten aus den USA und noch interessantere und fähigere junge Menschen aus westeuropäischen und lateinamerikanischen Ländern an. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts knüpfte sie Beziehungen zu den Län-

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dern an, die im Begriff standen, ihre kommunistischen Regimes abzuschütteln. Die Polen, Russen, Bulgaren und Chinesen trafen in unseren Klassen auf Brasilianer, Spanier und Türken. In einer meiner Klassen waren zwanzig verschiedene Nationalitäten vereint. Da sie mehr über ihre Länder und Spezialgebiete wußten als ich, lernte ich mindestens ebensoviel von ihnen wie sie von mir. Es hat wohl nirgends eine zweite Universität gegeben, deren Studenten so bunt gemischt und anregend gewesen wären wie hier. Kommunikation ist die Essenz des Lehrens und des Schreibens. Glücklich der Autor, der beides liebt, denn es rettet ihn vor der einsamen Insel, auf der wir gewöhnlich sitzen und Botschaften für unbekannte Empfänger unter unbekannten Adressen schreiben, die in Flaschen, die wie Bücher geformt sind, den Ozean überqueren müssen. Doch der Lehrer-Schriftsteller spricht unmittelbar zu den potentiellen Lesern. Das Abhalten von Vorlesungen war vermutlich in meiner Generation die hauptsächliche Form des akademischen Lehrens, und in vieler Hinsicht bezieht sich der Vortragende auf einen Hörsaal voller Studenten, wie ein Schauspieler sich auf die Gesichter im Zuschauerraum des Theaters bezieht, nur daß im Hörsaal das Licht nicht ausgeht. Beide sind wir Darsteller, sie sind diejenigen, für die wir etwas darstellen. Es gibt nichts Besseres, als einen Vortrag zu halten, um zu spüren, wann wir die Aufmerksamkeit des Publikums verlieren. Dennoch ist die Aufgabe des Vortragenden schwieriger, denn er möchte erreichen, daß seine Zuhörer ein bestimmtes Quantum an spezifischen Informationen und Ideen mitnehmen, die sie im Gedächtnis behalten und verarbeiten sollen, und nicht nur die emotionale Befriedigung der Situation. Auch ein guter Redner, der einen Vortrag hält, vermittelt nur das, was von jedem anderen Vortragenden mit einer Bühnenausstrahlung ausgeht, nämlich die Projektion einer Persönlichkeit, eines Temperaments, eines Bildes, eines denkenden Wesens bei der Arbeit – und mit ein wenig Glück kann er in der Phantasie des einen oder anderen Zuhörers vor ihm einen entsprechenden Funken entzünden. In der folgenden Diskussion im Seminar können wir feststellen, ob wir wirklich das mitgeteilt haben, was wir vermitteln wollten. Das ist einer der Gründe, warum ich während meiner ganzen Laufbahn als Hochschullehrer allgemeine gegenüber Fachseminaren vorgezogen habe. Tatsächlich gingen meine Bücher über allgemeine historische Themen entweder aus Vorlesungen für Studenten hervor oder wurden in diesen Vorlesungen zuvor getestet. Die Befriedigung aus der Tätigkeit als Lehrer ergibt sich in der Hauptsache aus den Beziehungen zu einzelnen Personen, die allerdings nur einen Bruchteil der großen Menge männlicher und weib-

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licher Studenten mit Kladden in Hörsälen darstellen, deren Trimesterund Prüfungsarbeiten alle durchgesehen werden müssen und den größten Teil des Arbeitslebens eines Universitätsprofessors in Anspruch nehmen. Und selbst diese wenigen sind Bestandteil einer weitgehend unveränderten Routine. Aus der Sicht eines Beteiligten kann ein Forschungsseminar einen unvergeßlichen Eindruck hinterlassen, doch ein Außenstehender – und ich denke dabei an meine eigene Veranstaltung am Institute of Historical Research in London in den siebziger und achtziger Jahren – sieht darin lediglich ein paar Dutzend Studenten am Spätnachmittag, die inmitten von Büchern an einem Tisch sitzen und ein Referat diskutieren, das einer von ihnen oder ein Besucher vorgelesen hat, und die anschließend auf ein Bier oder zwei in die nächste Kneipe ziehen. Als Szene für einen potentiellen Film hätte das nicht einmal für Ingmar Bergmann, etwas hergegeben. In der Erinnerung bilden die Jahre des akademischen Autobiographen eine lange Kette, wie die Waggons dieser endlos langen Güterzüge, die man von einer Anhöhe aus beobachtet, wie sie Container durch die amerikanische Landschaft befördern. In der Rückschau betrachtet, ist die Aufeinanderfolge der Güterwaggons weniger interessant als die sich verändernde Gegend, durch die sie fahren. In meinem Fall haben sie drei Großstädte und Campus in drei Kontinenten passiert – vier, wenn man Nord- und Südamerika getrennt zählt –, wenn auch vor der Beendigung meines aktiven Berufslebens in der Regel nur relativ kurzfristig und besuchsweise, ausgenommen ein Semester als Gastprofessor am Massachusetts Institute of Technology (1967) und ein halbjähriger Lehr- und Forschungsauftrag in Lateinamerika (1971). Beide Male war meine Familie bei mir, doch ein Wanderleben mit kleinen Kindern ist nicht das Ideale für Hochschullehrer, und schließlich wurde es wegen ihrer Einschulung unmöglich. Da ich eine dauerhafte Berufung auf einen Lehrstuhl in den Vereinigten Staaten abgelehnt habe, hatte ich keine Gelegenheit, den Antikommunismus der US-Behörden auf die Probe zu stellen. Wenn ich durch kurze Gastprofessuren an der einen oder anderen großen nordamerikanischen Universität in Versuchung geführt wurde, stand Marlenes Veto dagegen: Das Leben an der Seite eines Professors in einer Kleinstadt war nichts für sie. Nur ein einziger Ort brach ihren Widerstand, das Getty Center – damals noch in Santa Monica –, fast ein Paradies für Wissenschaftler, wo wir 1989 einige Zeit verbrachten. Doch Los Angeles kann man kaum als finsterste Provinz bezeichnen. Ich selbst war gegen das Campusleben durch meine eigene kurze Erfahrung im Sommerquartal an der Stanford University immunisiert, damals wie heute eine erst-

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klassige Hochschule, eine der weltweit fünf oder sechs besten Universitäten überhaupt, aber mitten in Palo Alto, wo man vor Langeweile fast umkommt. Jahrelang brachte ich es nicht einmal über mich, diesen gottverlassenen Ort noch einmal aufzusuchen, in dessen leeren Straßen Autos gegenseitig ihre Besitzer in wunderschönen Häusern besuchen fuhren. Das ideale Arrangement für uns beide war das Leben in einer festen Wohnung in einer Hauptstadt, unterbrochen von immer häufiger werdenden kurzen Lehr- und Forschungsaufenthalten im Ausland, die seit den sechziger Jahren durch die Revolution im Flugverkehr sehr erleichtert wurden. Sie haben uns von Finnland bis Neapel, von Kanada bis Peru und von Japan bis Brasilien geführt. Unsere Zeit hat den »fliegenden« Professor jenem anderen Beruf beigesellt, der an die Freuden, Unannehmlichkeiten und Absurditäten eines Lebens an wechselnden Orten erinnert, das trotzdem im wesentlichen dasselbe bleibt: dem des Auslandskorrespondenten. Ich hatte das Glück, während des größten Teils meines beruflichen Lebens im Zentrum der beiden großen Kulturstädte der Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts oder doch in deren Nähe zu wohnen: zum einen nur einen Steinwurf entfernt vom Britischen Museum und zum anderen in einem Büro in Greenwich Village über Bradley’s, dem Treffpunkt aller Jazzmusiker in Manhattan. (Leider mußte Bradley’s 1996 schließen, und seitdem ist New York nicht mehr dasselbe für mich.) Wie auch immer, weder Karrieren noch Güterzüge laufen normalerweise nicht völlig linear und gleichmäßig. Der Krieg hatte den Beginn meiner eigenen Karriere hinausgezögert, und der Kalte Krieg hatte sie merklich verlangsamt. Lange Zeit tat sich kaum etwas, doch um die Mitte der sechziger Jahre, als andere Angebote in England wie im Ausland einzutreffen begannen, erschien dies so auffällig, daß es allgemein als skandalös angesehen wurde.1 Erst in meinen Vierzigern hatte ich begonnen, Bücher zu veröffentlichen, und als ich mich schließlich in England »Professor« nennen durfte, war ich mitten in den Fünfzigern, eine Lebensphase, in der die meisten Hochschullehrer ihr selbstgestecktes und von der Welt erwartetes Karriereziel erreicht haben. In diesem Lebensabschnitt gehören für die meisten von uns Hoffnungen auf einen weiteren beruflichen Aufstieg der Vergangenheit an, und dasselbe gilt für die Leistungen, die sich mit ihrer Verwirklichung verbunden haben. Nüchtern betrachtet, sehen Menschen in einer solchen Position einer zweiten Lebenshälfte entgegen, in der kein Morgen besser ist als das Heute, abgesehen von den Talaren und Ordensbändern – akademischen, vielleicht auch öffentlichen Ehrungen –, die (zumin-

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dest in den Geisteswissenschaften) in der Regel bedeuten, daß die Zukunft des zu Ehrenden seiner Vergangenheit nichts mehr hinzufügen wird außer dem langsamen Verfall des Alters. Der Weltkrieg und der Kalte Krieg haben mich vor all dem bewahrt. Dank einer unerwarteten Fügung des Schicksals verlängerten sie die Periode meiner Jugend und meiner Hoffnungen bis in meine mittleren Jahre. Gleichzeitig fing nach meiner Wiederheirat und der Geburt unserer Kinder für mich privat ein neues Leben an. Eigentlich hatte mich nur der Krieg wirklich beruflich zurückgeworfen – aber wahrscheinlich auch nicht mehr als die meisten Männer meiner Altersgruppe. (In England hatte er dafür die Chancen der graduierten Frauen verbessert.) Der Kalte Krieg der fünfziger Jahre vereitelte Festanstellungen und Verlagsverträge, doch »auf der Straße«, wie es im Jargon des Fin de siècle heißt, also unter den tätigen Historikern, hatte ich von Anfang an einen seriösen Ruf, auf jeden Fall in der inoffiziellen Welt meiner jüngeren Kollegen. Innerhalb der – wesentlich kleineren – Gemeinschaft der marxistischen Historiker war ich zweifellos auf dem Weg nach oben. Natürlich fragte ich mich, wohl aus Stolz und intellektueller Eitelkeit, ob mein Ruf möglicherweise allein von den Sympathien der Linken getragen wurde, oder etwa nur auf der relativen Seltenheit von Marxisten beruhte, die kaum die Nische füllten, welche seit dem Zweiten Weltkrieg selbst die konventionelle Geschichte für diese Version einer anerkannten »Opposition« reservierte? Nicht daß es mir damals etwas ausgemacht hätte, als »Hobsbawm, der marxistische Historiker« identifiziert zu werden – das tut es auch heute nicht –, ein Etikett, das ich noch immer um den Hals trage, wie die Dekantierflaschen, die nach dem Dinner in den Gemeinschaftsräumen die Runde machen, damit die Dons nicht ihren Port mit ihrem Sherry verwechseln. Es ist wichtig, die Aufmerksamkeit junger Historiker auf die materialistische Geschichtsauffassung zu lenken, gerade heute, da selbst linke akademische Moden sie ebenso abqualifizieren wie in den Tagen, als sie als totalitäre Propaganda verdammt wurde. Schließlich habe ich mich mehr als ein halbes Jahrhundert lang bemüht, Menschen davon zu überzeugen, daß es mit der marxistischen Geschichtsschreibung mehr auf sich hat, als sie bisher angenommen haben, und wenn es dabei hilft, daß ein bestimmter Historikername mit dieser Geschichtsauffassung assoziiert wird, dann um so besser. Was meiner Eitelkeit zu schaffen machte, war eher die Furcht vor einer reinen Ghetto-Reputation. Ich denke dabei an prominente Persönlichkeiten, die aus einem anderen charakteristischen kulturellen Ghetto des 20. Jahrhunderts nur unter großen Schwierigkeiten (wenn

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überhaupt) ausbrechen konnten, der katholischen Gemeinde in England. G.K. Chesterton, dessen Talent in seinem ganzen Ausmaß Nichtkatholiken allein wegen seiner engen Verbindung zur Kirche verborgen blieb, ist hierfür ein gutes Beispiel. (Kein englischer Schriftsteller käme auf die Idee, ihn mit den Augen Italo Calvinos zu sehen, der einmal gesagt hat, es sei eine seiner Ambitionen, »der Chesterton der Kommunisten« zu werden.) Es ging nicht darum, gute Buchrezensionen von wohlmeinenden Kritikern zu bekommen. Erfolg bemaß sich daran, ob die neutralen und feindseligen Kritiker sich äußerten. Etwa ab 1960 zeichnete sich immer deutlicher ab, daß ich das Ghetto hinter mir gelassen hatte. Mein erstes, 1959 erschienenes Buch, Primitive Rebels (deutsch: Sozialrebellen), wurde in den USA von Historikern wie Sozialwissenschaftlern positiv aufgenommen. Innerhalb weniger Jahre wurde es ins Deutsche, Französische und Italienische übersetzt. Mein zweites Buch, The Age of Revolution 1789-1848, das 1962 erschien (deutsch: Europäische Revolutionen von 1789 bis 1848), war für ein breiteres Publikum gedacht und wurde ein Erfolg. Immerhin beeindruckte es einen bewährten Literaturagenten, den mächtigen, weißhaarigen und schnauzbärtigen Bonvivant David Higham, so sehr, daß er mich fragte, ob ich zu seinem »Stall« stoßen wolle, und mich regelmäßig zum Essen an seinem Fenstertisch im Restaurant Étoile in der Charlotte Street einlud. Zur Zeit der Niederschrift dieses Buchs gibt es das Étoile (mit fast derselben Speisekarte) und den Tisch immer noch, unter der Aufsicht einer anderen Schirmherrin der Agenten und Autoren, Elena, die ihren Ruf als die Königinmutter der literarischen Restaurants bereits früher in Soho erworben hat, und ich befinde mich noch immer unter den Fittichen des Nachfolgers des guten Higham in der Firma, die noch immer seinen Namen trägt, es ist mein Freund Bruce Hunter. Die Geschichte mag sich mit Geschoßgeschwindigkeit bewegen, doch manches ist doch noch von Dauer. Da The Age of Revolution im Rahmen einer Reihe erschien, deren internationale Koproduktion George Weidenfeld organisiert hatte, wäre das Buch auch ungeachtet seiner Verdienste in jedem Fall sehr schnell übersetzt worden. Nichtsdestoweniger waren die sieben Übersetzungen und die in den sechziger Jahren im Ausland erschienenen Ausgaben natürlich eine große Hilfe, und das Buch wurde überall gut aufgenommen. Später habe ich erfahren, daß eine auffallend schwache spanische Übersetzung aus dem Jahr 1964 von der schnell anwachsenden francofeindlichen Bewegung an den spanischen Universitäten begrüßt wurde, da sie im Unterschied zu den meisten sonstigen marxistischen Veröffentlichungen legal erhältlich war.

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In den sechziger Jahren habe ich sehr viel veröffentlicht: Eine Sammlung von früheren Arbeiten über die Geschichte der Arbeiter (Labouring Men, 1964), einen Text über die britische Wirtschaftsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert (Industry and Empire, 1968; deutsch: Industrie und Empire), eine kleine Studie über Mythos und Realität der Robin Hoods dieser Welt, das ich in Wales schrieb, während die Russen dem Prager Frühling ein Ende machten (Bandits, 1969; deutsch: Die Banditen), und im selben Jahr gemeinsam mit meinem Freund George Rudé eine wesentlich umfangreichere Forschungsarbeit über den Aufstand der englischen Landarbeiter 1830 (Captain Swing, 1969). Als ich schließlich 1971 den offiziellen Professorentitel an der Universität London erhielt, drang ich bereits in die Sphäre der Akademien (zumindest in den USA) und der Ehrentitel (zumindest in Schweden) vor. Somit war ich in den siebziger Jahren eine wenn nicht politisch, so doch wissenschaftlich geachtete und anerkannte Persönlichkeit. Während dieses Jahrzehnts festigte sich diese Situation. In meiner Mitgliedschaft in der KP Großbritanniens sah man inzwischen kaum mehr als die persönliche Marotte eines bekannten Historikers, eines Angehörigen jener neuen Spezies der »Spagatprofessoren«. Nur Amerika wollte den subversiven Hobsbawm nicht vergessen, denn bis zur Aufhebung der Smith Act Ende der achtziger Jahre bestand für mich eine Visumsperre für die USA, und ich benötigte jedesmal bei meiner Einreise in die Staaten (praktisch einmal im Jahr) einen »waiver«, der diese Sperre vorübergehend außer Kraft setzte. Ich war Gründer und aktives Mitglied der Redaktion einer der angesehensten historischen Zeitschriften in englischer Sprache und gehörte den Gremien und Ausschüssen akademischer historischer Gesellschaften an. Seminare und Lehrveranstaltungen für Graduierte und die Betreuung von Doktoranden aus dem In- und Ausland hielten den neuen Professor auf Trab. Die Zahl der Einladungen zu Vorträgen und Gastprofessuren nahm ständig zu. Während meines letzten Jahres am Birkbeck College erfüllte ich gleichzeitig Lehrverpflichtungen in London, Paris (am Collège de France und an der École des Hautes Études en Sciences Sociales) und in den USA (als »Professor-at-large« an der Cornell University). Es war um so erfreulicher, wenn auch leicht grotesk, da ich diesen plötzlichen Aufschwung meiner beruflichen Geschicke weder aktiv angestrebt noch erwartet hatte. So oder so, wir hatten eine prächtige, gelegentlich sogar etwas unwirkliche Zeit in den siebziger Jahren, nicht zuletzt (mit einer jungen Familie) in Mexiko, Kolumbien, Ecuador und Peru und (ohne Familie) in Japan. Nicht jede Ehefrau eines Hochschullehrers kommt in die Lage, mit zwei kleinen Kindern und einem Tonbandgerät fünf-

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zig Kilometer in einem Bus voller Geflügel im peruanischen Hochland zum gemeinsamen Musikunterricht mit den Kindern eines britischen Anthropologen zu fahren, während ihr Ehemann ohne übertriebene Hast – denn die Gebäude liegen über 4000 Meter hoch – die Unterlagen einer vor kurzem verstaatlichten hacienda einsieht, die bald darauf dem vor kurzem eingerichteten landwirtschaftlichen Archiv des Landes übergeben werden sollen. Vielleicht erklärt das, warum ich in diesem Jahrzehnt zwar weiterhin wissenschaftliche Aufsätze, aber weniger Bücher veröffentlicht habe – praktisch nur The Age of Capital (1974; deutsch: Die Blütezeit des Kapitals 1848-1875) – was mir ins Bewußtsein rückte, daß ich ohne eigentliche Absicht dabei war, eine maßlos ehrgeizige allgemeine Geschichte des 19. Jahrhunderts zu schreiben. Das intensivste Projekt während jener Zeit, die nicht weniger ambitionierte Arbeit an einer Geschichte des Marxismus, die 1978-1982 bei Einaudi in Turin erschien, erreichte praktisch nur ein italienischsprachiges Publikum, da das allgemeine Interesse an diesem Thema gegen Ende der siebziger Jahre schlagartig nachließ. In den achtziger Jahren war ich wieder produktiver, nicht zuletzt dank der großartigen Bedingungen, unter denen ich in New York und Los Angeles arbeiten konnte. Ich veröffentlichte eine neue Sammlung von Aufsätzen zur Geschichte der Arbeiter (Worlds of Labour, in den USA Workers) 1984, drei Jahre später den dritten Band über das 19. Jahrhundert, The Age of Empire 1875-1914 (deutsch: Das imperiale Zeitalter 1875-1914), und zwei Bücher, die auf Gastvorlesungen zurückgingen, Nations and Nationalism Since the 1780s (deutsch: Nationen und Nationalismus – Mythos und Realität) und Echoes of the Marseillaise: Two Centuries Look Back on the French Revolution, und beide 1990 erschienen. Außerdem war ich Mitherausgeber und einer der Autoren eines Bandes, der Beiträge zu einer Konferenz von Past & Present vereinigte, die ich einige Jahre zuvor organisiert hatte, und der sich als ungewöhnlich anregend erwies: The Invention of Tradition (1983). Mein Image zu Beginn meines achten Lebensjahrzehnts war das eines exzentrischen älteren Granden unter den wissenschaftlichen Historikern, der nun einmal darauf bestand, Marxist zu sein, aber sonst als Autor nichts von seiner Produktivität eingebüßt hatte. Tatsächlich wurde die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die ich unter den glücklichen Umständen der New School geschrieben habe (wo ich seit 1984 jeweils ein Semester im Jahr Vorlesungen gehalten hatte), The Age of Extremes 1914-1991 (1994; deutsch: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts), mein erfolgreichstes Buch, im Hinblick auf den Verkauf ebenso wie auf die Reaktion der Kritiker. Es wurde

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quer durch das gesamte ideologische Spektrum aller Länder positiv aufgenommen – Frankreich war da die einzige Ausnahme –, es gewann Preise in Kanada und in Taiwan, wurde ins Hebräische und ins Arabische übersetzt, in das Taiwan-Mandarin und das Festland-Mandarin, es gab serbische und kroatische Ausgaben in einer Sprache, die für meine Generation immer noch das Serbokroatische ist, und Übersetzungen ins Albanische und ins Mazedonische. Bis zum Jahr 2002 war das Buch in 37 Sprachen erschienen oder befand sich im Druck. Andererseits wäre es in einem Feld, das so stark von Politik – der eigenen wie der Weltpolitik – durchtränkt ist wie das Schreiben von Geschichte, gänzlich unrealistisch, das eine vom anderen trennen zu wollen. Sosehr jemand in meiner Position es als Ärgernis empfinden müßte, in ein marxistisches Ghetto eingepfercht zu werden, so hat doch mein Ruf als Historiker (und auf jeden Fall der Absatz meiner Bücher in den sechziger und siebziger Jahren) zweifellos von meinem Ruf als Marxist profitiert. Paradoxerweise war es gerade in der Welt des »real existierenden Sozialismus«, wo meine Bücher, abgesehen von Ungarn und Slowenien, nicht veröffentlicht wurden. Die dortigen Theologen wußten nicht, wie sie mit einem Historiker verfahren sollten, der dem Lesepublikum weder als Ungläubiger präsentiert werden konnte (»natürlich kein Marxist, aber in mancher Hinsicht doch lesenswert«) noch als Marxist, da sie eine »marxistische Interpretation« nur dann akzeptierten, wenn sie ein Abklatsch der offiziell anerkannten Orthodoxie war. Im Westen und erst recht in den Regionen, die damals als Dritte Welt bezeichnet wurden, waren die sechziger Jahre eine gute Zeit für meine Art von Geschichte, oder genauer für das Bündnis der historischen Neuerer, deren Lage ich im vorigen Kapitel geschildert habe. Nehmen wir die dreibändige Economic History of Britain, die damals von Penguin Books auf Empfehlung von Jack (später Sir John) Plumb in Auftrag gegeben wurde, damals vielleicht nicht mehr der junge Radikale im Cambridge der dreißiger Jahre, aber nicht ohne Erinnerungen an diese Zeit: Die Autoren waren M.M. Postan, Christopher Hill und ich selbst. Marxisten, die nicht länger im Ghetto schmachteten, sofern sie es nicht freiwillig taten, gehörten vorläufig zum historischen Mainstream. Damals kam an den Universitäten und Schulen Europas und der USA eine neue politisch-intellektuelle Linke auf: Sie suchte von sich aus Lehrer, die als Radikale ausgewiesen waren. Das war der Grund, warum E.P. Thompsons wunderbares Buch The Making of the English Working Class um die Mitte der sechziger Jahre Triumphe feierte und seinem Autor verdientermaßen und dennoch zu jedermanns Überraschung fast über Nacht zu

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internationalem Ruhm verhalf. Eine Zeitlang beklagten sich ältere Dozenten, daß die Studenten praktisch kein anderes Buch läsen. Ich hatte weder Thompsons Genie und Charisma noch seine Auflagenziffern, aber ich schrieb ebenfalls über diese Themen und mit Überzeugungen, die radikalisierte junge studentische Leser und Leserinnen anzogen. Nirgends waren wissenschaftliche Forschung und Politik enger miteinander verbunden als in der sogenannten Dritten Welt, wo natürlich der Marxismus aufgrund seines Antiimperialismus nicht einfach nur das Markenzeichen einer kleinen akademischen Minderheit war, sondern die vorherrschende Ideologie unter den jüngeren Intellektuellen. Brasilien war hierfür ein gutes Beispiel. Selbst während des Militärregimes (1964-1985), das aus dem öffentlichen Leben fast alle hinausgedrängt hatte, die bekanntermaßen mit der Linken in Verbindung standen und die nicht inhaftiert oder in die Emigration getrieben worden waren, wurden Leute wie ich bei der Personalausstattung einer neuen Universität zu Rate gezogen. Und 1975 tatsächlich zu einem Vortrag vor einer Konferenz zu dem unbestimmten Thema »Geschichte und Gesellschaft« an derselben neuen Universität eingeladen, deren Studentenschaft – wohl nicht ganz unerwartet – dem Regime aus innerster Überzeugung ablehnend gegenüberstand. Das war kein Zufall. Die Presse, die dem akademischen Provinzereignis ungewöhnlich viel Platz einräumte, nahm es zwar sonst nicht sehr genau (der Estado de São Paulo beispielsweise bezeichnete mich als einen »gebürtigen Iren«), legte jedoch Wert darauf, meine »marxistische Prägung« zu erwähnen. Wie ich von befreundeten Journalisten erfuhr, begann das Regime tatsächlich um die Mitte der siebziger Jahre die Zügel etwas zu lockern, und die ganze Konferenz von Campinas war Teil einer Operation, mit der getestet wurde, welches Maß an Liberalisierung es zu tolerieren bereit war. Und was hätte ein wirkungsvollerer Test sein können als die Ankündigung der Einladung eines bekannten Marxisten, dessen außerwissenschaftliche Ideen zudem höchstwahrscheinlich (und so geschah es auch) den Beifall der Studenten finden und der Veranstaltung selbst zu viel Publizität verhelfen würden?2 Das war ein charakteristisches Beispiel für die bewundernswerte brasilianische Mischung aus Zivilcourage und Intelligenz: niemals die Diktatur hinzunehmen und stets bis hart an die Grenzen ihrer Toleranz zu gehen. Gewiß, die brasilianischen Generäle waren nicht ganz so mörderisch wie manche andere in Lateinamerika, doch das Regime war blutrünstig genug, und die Risiken einer Verhaftung und Folter waren real. Wie sich zeigte, hatte die Opposition richtig kalkuliert: Das Regime war bereit, Zugeständnisse zu machen.

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Es ist vielleicht nicht überraschend, daß ich in der Folge als Autor von meiner völlig unbedeutenden und unbewußten Nebenrolle im Kampf gegen die brasilianische Militärdiktatur profitiert habe. Wie auch von dem außergewöhnlichen Umstand, der von vielen westlichen Liberalen kaum bemerkt wird, daß zwischen 1960 und der Mitte der achtziger Jahre die von den USA so genannte »freie Welt« die ausgedehnteste Phase nichtdemokratischer Regierungen seit dem Sturz des Faschismus erlebt hat, überwiegend in der Form von Militärregimes. Intellektuelle und auf jeden Fall Studenten bezogen hier eine klare Gegenposition, auch wenn sie gelegentlich durch reinen Terror zum Schweigen gebracht wurden, ob in Griechenland, Spanien, der Türkei, von den üblichen Verdächtigen in Lateinamerika oder in Ländern wie Südkorea. Die Beschaffung und Lektüre oppositioneller Literatur war der sichtbare erste Schritt auf dem Weg zur Demokratisierung, sobald diese Regimes auch nur die geringste Nachgiebigkeit zeigten. Da die Universitäten die Stätten waren, wo die nichtkommerzielle Elite dieser Länder ihre Bildung erhielt – außerhalb der USA sollte der Triumph der betriebswirtschaftlichen Akademien erst noch kommen –, wurde in jenen Jahrzehnten ein hoher Anteil derjenigen, die später in die Politik, den Staatsdienst, an die Universitäten und zu den Medien gehen sollten, mit den Namen vertraut, die für ein linkes soziales und historisches Denken standen. Da die Zahl der Zeitgenossen mit einem solchen Ruf klein war, wurden unsere Namen in Leserkreisen ziemlich bekannt, auch wenn der tatsächliche Absatz unserer Schriften in legalen Auflagen oder als Raubdrucke bescheiden war. Natürlich konnte er nach der Demokratisierung wesentlich höher werden, wenn auch nirgends so wie in Brasilien, wo von der ersten Auflage meiner Geschichte des 20. Jahrhunderts mehr Bücher verkauft wurden als in jedem anderen Land, was allerdings zu einem Großteil der Unterstützung durch einen superlativen Verleger, Luis Sczwarcz, zu verdanken war. Auf diese Weise kann die Berufslaufbahn eines Autors während und nach dem Aufstieg, der Schwächung und dem Sturz von Regierungen der harten Rechten im Westen ein Licht auf die allgemeinere intellektuelle Geschichte der »freien Welt« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werfen. Gemeint ist der Aufstieg neuer Generationen gebildeter Eliten seit den sechziger Jahren, die im Geist der Rebellion groß wurden, auch wenn sie bald ins »Establishment« »kooptiert« wurden, sofern sie sich nicht selbst hineinkooptierten. Damit soll die Bedeutung einer Lektüre dieser Autoren nicht überbewertet werden. Einige waren lediglich so etwas wie Abzeichen einer vorübergehenden po-

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litischen oder ideologischen Mode. So lagen beispielsweise in den Jahren der großen Studentenrevolten der späten sechziger Jahre die Schriften des politischen Philosophen Herbert Marcuse in allen Universitätsbuchhandlungen der westlichen Welt aus – zumindest sah ich sie an der Ost- und der Westküste der USA, in Paris, Stockholm, Mexiko und Buenos Aires. (Marcuse selbst, ein braungebrannter, sportlicher Typ, sah eher wie ein ehemaliger Skilehrer denn wie ein Philosoph aus, als ich ihn damals im Haus von Freunden in Cambridge, Massachusetts, kennenlernte.) Doch innerhalb weniger Jahre waren seine Schriften wieder in jener Versenkung verschwunden, in der strebsame Akademiker verzweifelt nach Themen für eine Doktorarbeit suchen. Ob die Autoren, die auf diese Weise zu politischen Abzeichen in einem Land wurden, jeweils mitbekamen, was aus ihrem Namen wurde, spielte kaum eine Rolle. Es gibt Länder, von denen ich nicht einmal wußte, daß ich dort gelesen wurde, bis ich beispielsweise bei einem Besuch in Südkorea 1987 entdeckte, daß fünf meiner Titel ohne Lizenz in die Landessprache übersetzt und gedruckt worden waren. Und wenn es keinen iranischen Freund an der New School gegeben hätte, dann hätte ich wahrscheinlich nie erfahren, daß ein gewisser AliAkbar Mehdian, von dem sonst nichts weiter bekannt ist, im Frühjahr 1995 in Teheran The Age of Revolution 1789-1848 übersetzt und veröffentlicht hatte. In den Titel hatte er noch »Europa« eingefügt, »wahrscheinlich um die Erlaubnis für eine Veröffentlichung zu erhalten«*. In Brasilien und in einem geringeren Ausmaß in Argentinien, Ländern, die ich kannte und in denen ich Freunde hatte, bekam ich einen Eindruck davon, wie vertraut solche Namen werden können, erst wesentlich später auch einen von der Größe dieses potentiellen Lesepublikums. Das führt einen marxistischen Autobiographen auf das willkommene Gebiet Technik und Bildung, nämlich zu der Explosion in der Produktion von Fotokopiergeräten, welche die gewaltige Expansion des höheren Bildungswesens im Westen seit den sechziger Jahren begleitete. Das bot den neuen Massen der Lehrer, Schülern und Studenten einen – in der Regel kostenlosen – Zugang zu sündhaft teuren importierten wissenschaftlichen Texten, die normalerweise weit jenseits ihrer finanziellen Möglichkeiten lagen und auch die knappen Ressourcen ihrer Bibliotheken bald erschöpft hätten. Es war das Büro in Buenos Aires meines bewundernswerten spanischen Verlegers bei Critica, * Vgl. auch den Titel der deutschen Ausgabe: Europäische Revolutionen, München 1978.

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Gonzalo Pontón, das daraus den Schluß zog, daß man doch eine lokale Sonderausgabe meiner Werke herausbringen könnte, und ich entdeckte 1998 bei einem Besuch in Buenos Aires das ganze Ausmaß dieses jugendlichen Publikums oder zumindest den Anteil jugendlicher Leser, die auf meinen Namen positiv reagierten. Umgekehrt war es das systematische Fehlen dieser Geräte in der kommunistischen Welt, das lange Zeit ihre Dissidentenliteratur auf das beschränkte, was man mühevoll mit der Schreibmaschine tippen und mit Hilfe von Kohlepapier kopieren oder was man auswendig lernen konnte. Sicherlich gibt es es Autoren – zu denen ich freilich nicht gehöre –, die den intellektuellen Dimensionen des Niedergangs und Zusammenbruchs des Kommunismus und seinen Konsequenzen in ähnlicher Weise nachspüren: indem sie das Schicksal ihrer Werke verfolgen. Diese Methode ist offensichtlich weitaus mühseliger, und zwar aus zwei Gründen. Vor dem Sturz dieser Regimes waren Bücher von Dissidenten oder auch nur eine heterodoxe Literatur praktisch nicht legal zugelassen. Es gibt keine Möglichkeit, den Einfluß von Schriften festzustellen, die den meisten Lesern nicht im Druck zugänglich waren, auch wenn das nicht bedeutet, daß solche Werke nicht auf andere Weise bekannt wurden. Seit dem Ende des Kommunismus war die Veröffentlichung seriöser Arbeiten zur Geschichte und Politik auf die Subventionen so wohlwollender Mäzene wie dem bewundernswerten George Soros angewiesen. Das sagt dem Autor wenig über seine intendierten, potentiellen oder aktuellen Leser. Dank Soros, dessen Stiftungen und andere Wohltaten die intellektuellen und wissenschaftlichen Aktivitäten in der ehemaligen UdSSR und in einem Großteil Osteuropas fast im Alleingang davor bewahrt haben, dem Buschfeuer des sogenannten »freien Marktes« zum Opfer zu fallen, konnten mindestens zwei meiner Bücher, Das Zeitalter der Extreme und Nationen und Nationalismus, in mehreren kleineren osteuropäischen Sprachen erscheinen, deren winziges Lesepublikum die enormen Übersetzungskosten niemals hätte rechtfertigen können. Außerdem ist das zweite dieser Bücher eine Kritik gerade jenes ethnisch-sprachlichen Nationalismus, auf dem die kleinen Nachfolgestaaten gründen, so daß es äußerst unwahrscheinlich ist, daß in den einschlägigen Buchhandlungen in Tirana, Pristina und Skopje eine dringende Nachfrage nach solchen Kritiken bestanden hat. Da die Welt jedoch immer noch im Schatten des Turms von Babel lebt, wie hätte ich das wissen sollen? Trotzdem kam ich mit dem Problem der babylonischen Sprachverwirrung besser zurecht als die meisten meiner englischsprachigen Kollegen, nicht zuletzt, weil mein Berufsleben nicht nur von Reisen geprägt

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war, sondern sich auch mehrsprachig gestaltete. Historiker benötigen natürlich Sprachkenntnisse in höherem Maße als andere Wissenschaftler, ausgenommen Linguisten und Komparatisten, da es außer einer reinen Lokalgeschichte kaum etwas gibt, was ein seriöser Historiker in einer einzigen Sprache erforschen kann, nicht einmal innerhalb der meisten Einzelstaaten. Da ich zweisprachig aufgewachsen bin und eine gewisse Begabung habe, mir andere Sprachen eher im unmittelbaren Gespräch als durch einen formalen Unterricht anzueignen, und dank der von einer Generation zur nächsten überlieferten jüdischen Erfahrung, immer wieder den Wohnort zu wechseln und unter Fremden zu leben, habe ich mich bei meinen Lehrveranstaltungen und bis zu einem gewissen Grad bei meiner Arbeit als Autor für Verlage, Funk und Fernsehen verschiedener Sprachen bedient, die ich nicht alle gleich gut beherrsche. Das hat meinem Lebensweg als Fachhistoriker eine mehr als üblich kosmopolitische Note verliehen, ganz abgesehen von einer stärker zur Kenntnis genommenen Präsenz in Ländern, deren Rundfunk- und Fernsehjournalisten darauf zählen können, daß in ihre mir entgegengestreckten Mikrophone einige Worte in der Sprache ihres Publikums gesprochen werden, oder von gelegentlichen öffentlichen Vorträgen oder einem Gespräch im Fernsehen. Im Lauf der Jahre gewöhnte sich das Fachbereichssekretariat des Birkbeck College an die vielfältigen Akzente von Ausländern, die sich nach dem Zimmer von Professor Hobsbawm erkundigten, und an unenglische Laute an meinem Tisch in der Cafeteria, während sich die peruanischen, mexikanischen, uruguyaischen, bengalischen oder nahöstlichen Forschungsstipendiaten ihrerseits an das Londoner Leben gewöhnten. Nicht alle von ihnen waren echte Studenten. In den letzten vierzig Jahren ist Englisch so sehr zum universellen Idiom der weltweiten Kommunikation geworden, und die Kenntnis des Französischen, der anderen internationalen Sprache, hat so schnell abgenommen, daß Wissenschaftler wie ich viel von ihrer früheren Funktion als Dolmetscher und intellektuelle Vermittler eingebüßt haben. Dennoch blieb diese Rolle in Europa wichtig, zumindest zu Lebzeiten der Generation großer monoglotter französischer Intellektueller, die (mit ganz seltenen Ausnahmen wie dem brillanten und unglücklichen Raymond Aron) Englisch weder sprachen noch verstanden. Ich bin auf den frühen Nachkriegskonferenzen der Economic History Society als Übersetzer des bedeutenden Historikers Ernest Labrousse aufgetreten. (Er warnte mich nachdrücklich davor, jemals einen weißen Bordeaux anzurühren, der eines jeden französischen Weintrinkers, der etwas auf sich halte, unwürdig sei.) Ohne mein Französisch hätte ich niemals eine Beziehung zu Fernand

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Braudel herstellen können. Als die nächste, weniger monoglotte Generation um die Mitte der sechziger Jahre das Erwachsenenalter erreichte, sprach sie noch lange kein flüssiges Englisch, wie Frankreichs rangältester Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie bestätigen wird, wenn er sich noch an seinen ersten Besuch in London erinnert. Wissenschaftler aus Osteuropa stützten sich früher auf das Französische; in den Jahren nach 1990 hatten ihre Schüler an der New School keine Schwierigkeiten, ihre Semesterarbeiten auf englisch zu schreiben. Und dennoch ist das globale Dorf, in dem die Hochschullehrer leben, immer noch auf eine Mehrsprachigkeit angewiesen, wie jeder westliche Intellektuelle feststellen kann, der sich führerlos in einer Straße in Nanjing, Nagoya oder Seoul wiederfindet – das heißt de facto taub, stumm und analphabetisch. Wer sich dorthin begibt, benötigt einen mindestens zweisprachigen Dolmetscher. Dennoch ist das globale Dorf eine Realität, und da die Grenzen von Zeit und Raum auf der Erde praktisch aufgehoben wurden, sind die akademischen Lehrer wieder das, was sie schon einmal im europäischen Mittelalter waren, nämlich fahrende oder vielmehr fliegende Magister und in diesem Dorf zu Hause. Ich selbst habe wohl an die vierzig Jahre in ihm gewohnt. Und genau an diesem Punkt wird die Trennlinie zwischen Beruf und Privatleben verschwommen oder verschwindet ganz. In der Erinnerung verschmelzen die Essen für ausländische Besucher zur Zeit der akademischen Wanderbewegungen (wie am Ende des Sommertrimesters) mit den Weihnachtsessen, bei denen die Familie gewöhnlich Freunde des Hauses aus dem In- und Ausland zu Gast hatte, die vorübergehend ungebunden oder den saisonalen Rhythmen abhold waren: Francis und Larissa Haskell, Arnaldo Momigliano, Yolanda Sonabend. Nicht daß Professoren Freunde nur unter ihresgleichen hätten, auch wenn es der Natur der Sache nach häufig doch so ist. In der Tat gehörte es zu den Gründen, warum Marlene und ich uns entschlossen hatten, in Metropolen zu wohnen, daß keine universitäte Gemeinschaft in London oder New York groß genug ist, um das dortige gesellige Leben zu dominieren. Andererseits ist das globale Dorf für Akademiker wie für Medien- oder Geschäftsleute weniger ein Ort zum Leben als einer der Begegnungen. Jeder seiner Bewohner hat Wurzeln, und die meisten sind von Dauer – entweder »hier« (wo immer das sein mag, in London, Cambridge oder Manhattan) oder anderswo. Häufig, und das ist neu, haben sie mehrfache Wurzeln oder zumindest mehrfache Bindungen, privat oder beruflich – mein jährlicher Wechsel von London nach Manhattan, die Professorenehepaare, deren Arbeitsplätze sie unter der Woche durch Kontinente und

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Ozeane trennen und die sich nur an den Wochenenden oder noch seltener sehen können. Das globale Dorf ist die Menge der Begegnungen dieser – in einer ständigen brownschen Bewegung quer über den heutigen Erdball begriffenen Reisenden: erwartungsgemäß, wie auf Konferenzen und Symposien, oder zufällig und unerwartet, wie bei der Arbeit oder im Urlaub. Es ist die Frage: »Was machen Sie denn hier?«, die mein Leben in Santiago de Chile, Seoul und Mysore begleitet hat. Doch ist das nur eine der Begegnungsformen im globalen Dorf. Ihre Kennzeichen sind Unbeständigkeit, Isolation, unvorhergesehene Ereignisse im Mietwagen, an der Bar und im Hotelzimmer mit CNN. Selbst die hochorganisierten Rundreisen eines »Geschäfts-« oder »Berufstourismus« – die wissenschaftlichen Symposien in wunderbarer Umgebung, die Villa Serbelloni am Comer See, die Fondazione Cini in den Wassern Venedigs, die luxuriösen Zusammenkünfte von Geschäftsleuten in der Nähe von Sandstränden und Golfplätzen – sind nicht der eigentliche Ort des globalen Dorfs. Seine wirkliche Form nimmt es in dem lokalen Netz menschlicher Kommunikationen an, das einheimische Familien, Durchreisende und Fremde, Ankünfte, Projekte und Abreisen zusammenfügt. Kurzum, es funktioniert primär durch den globalen Kreislauf häuslicher Gastfreundschaft. Denn das ist das Grundmuster des Lebens der meisten verheirateten Akademiker sowie anderer seßhafter Professionen. Die Männer und Frauen, die zu uns nach Hause kommen, gehören nicht zur Familie, aber wir begegnen ihnen so familiär, als gehörten sie dazu, ob sie nun aus New Delhi oder Florenz kommen oder in Helsinki oder in Manhattan zu uns kommen. Sie sind ein Teil unserer kleinen alltäglichen Welt. Oft haben wir schon vorher von ihnen gehört und sie von uns, selbst wenn Freunde uns zum ersten Mal zusammenbringen, was in der Regel nicht das letzte Mal sein wird. Wir haben dieselben Bezugspunkte und teilen dieselben Nachrichten und dieselben Klatschgeschichten. Es kann sein, daß wir gemeinsam von irgendwo anders eintreffen, um uns in einer neuen dauerhaften oder halbdauerhaften Existenz in einer neuen Umgebung einzurichten, wie es in meinen ersten Jahren an der New School in den achtziger Jahren der Fall war. Wir leben unter ihnen, sie leben unter uns, als Nachbarn. In meinem Fall war es ein außerordentlich schönes Leben, sorgenfrei, voller Abwechslung durch meine Reisen, immer öfter in Begleitung Marlenes, in dem Arbeit, Forschung und Urlaub, Neuartiges und alte Freundschaften miteinander verbunden waren. Nur das Bewußtsein, daß Menschen, die in Armut leben, in der ständigen Gegenwart

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von Unglück und Tod, auch lachen können oder zumindest gute Witze erzählen, gibt mir den Mut zu sagen: Es hat viel Spaß gemacht. Es war kein Berufsleben voll dramatischer Taten und Mühen oder (höchstens in der Vorstellung) voll Gefahr und Angst. Wie andere aus der kleinen privilegierten Minderheit, der ich angehöre, bin ich verwundert über den »offensichtliche[n] Widerspruch zwischen den eigenen Lebenserfahrungen . . . und den Fakten des 20. Jahrhunderts . . . den schrecklichen Ereignissen, die die Menschheit durchlebt hat«.3 Gemessen an meinem beruflichen Erfolg habe ich keinen Grund zur Klage. Es hat mir mehr privates Glück beschert, als ich je erwartet habe. War es das Leben, das mir vorschwebte, als ich jung war? Nein. Es wäre sinnlos, ja sogar dumm, zu bedauern, daß es diese Wendung genommen hat, aber irgendwo in meinem Innern höre ich eine Stimme flüstern: »Man sollte sich in einer Welt wie der unsrigen nicht wohl fühlen.« Oder wie dieser Mann sagte, als ich ihn in meiner Jugend las: »Es kömmt drauf an, sie zu verändern.«

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Seit 1933 bin ich jedes Jahr in Frankreich gewesen, ausgenommen während des Zweiten Weltkriegs. Das Land war fast siebzig Jahre lang ein Teil meines Lebens, eigentlich sogar noch länger, da meine Mutter begonnen hatte, ihren Kindern daheim Französischunterricht zu erteilen, indem sie mit uns aus den Trois Mousquetaires von Dumas père las, einem dickleibigen Band mit steifem Rücken, den wir nie zu Ende gelesen haben. Sie und ihre Schwestern waren als Heranwachsende in ein belgisches Pensionat geschickt worden, um dort ihre Französischkenntnisse zu vervollkommnen. Ich gehöre zu dieser letzten europäischen Generation, für die Französisch noch die universelle erste Fremdsprache war. Selbst nach einem langen Reiseleben bin ich wahrscheinlich öfter nach Paris gefahren als in jede andere Großstadt im Ausland: Und für uns alle war und bleibt Paris der Kern unserer Erfahrung von Frankreich. Meine erste direkte Begegnung mit der Stadt war während einer kurzen Reiseunterbrechung auf dem Weg von Berlin nach England im Frühjahr 1933. Ich reiste mit meinem Onkel, der vermutlich in Berlin noch bestimmte letzte Vorbereitungen treffen mußte und in Paris noch einiges Geschäftliche zu erledigen hatte, denn die Stadt lag nicht auf dem direkten Weg nach London. Ich nehme an, daß es etwas mit dem Filmgeschäft zu tun hatte, denn bei seinen späteren Aktivitäten in Paris konnte er sich auf ein ausgedehntes Netz in der französischen Filmszene stützen, das auf seine Zeit bei der Universal Pictures zurückging und durch Kontakte zu emigrierten Filmtechnikern verstärkt wurde, die er in Berlin kennengelernt hatte. Da Jungen aus Familien wie meiner damit rechneten, früher oder später einmal nach Paris zu gehen, war ich zwar aufgeregt, aber nicht überrascht. Aufgeregt allerdings nicht nur wegen Paris, sondern auch wegen der Aussicht, die Grenzkontrollen der Nazis in Begleitung eines jungen und gut angezogenen bürgerlichen Kommunisten hinter mich zu bringen. Ich glaube, er hieß Hirsch und ging aus nicht näher genannten Gründen ebenfalls nach Frankreich; ich hattte mit ihm im Gang des Zugs Bekanntschaft geschlossen, und er brachte mir meine

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erste französische Redewendung bei (»merde alors!«). Mein Onkel hatte uns im Hotel Montpensier in der Rue de Richelieu angemeldet, zwischen der Comédie Française und der Bibliothèque Nationale, deren Existenz mir damals nicht bekannt war; ein Gebäude, das mich in die Grundbauweise französischer Aufzüge in den dreißiger Jahren einführte, an der sich offensichtlich seit den Tagen der Dritten Republik nichts geändert hatte. (Bei seinen späteren Geschäftsreisen nach Paris übernachtete mein Onkel in etwas weniger anspruchslosen Etablissements – während seiner optimistischsten Phase war es das Georges Cinq.) An jenem Abend und vielleicht auch dem folgenden nahm er mich zum Bummel auf den großen Boulevards mit, den langgestreckten Avenuen, in denen sich ein Café ans andere reiht, von der Place de la République im Osten bis zur Madeleine im Westen, die damals noch die Hauptpromenaden von Paris waren wie seit den Zeiten von Haussmann, und er machte mich auf die Nutten aufmerksam, die damals grues (Kraniche) hießen, und auf den Rotlichtbezirk am Boulevard Sébastopol, von dem heute eines der Bordelle als historisches Denkmal vor den Verwüstungen der Stadtsanierung geschützt wird. Allerdings habe ich erst einige Jahre später eines von ihnen betreten, als ich im Lauf eines feuchtfröhlichen Abends gemeinsam mit einem ungarischen Kommunisten meine Unschuld verlor: in einem Etablissement – an die Adresse kann ich mich nicht mehr erinnern – mit einem Orchester aus lauter nackten Damen und in einem von allen Seiten mit Spiegeln umgebenen Bett. Der Ungar, György Adam, gab mir den Rat, unbedingt nach Ungarn zu fahren, wo die verheirateten Damen des Bürgertums, die am Plattensee ihre Sommerferien verbrachten, ganz verrückt seien auf Burschen wie uns. Später, in den Tagen der stalinistischen Säuberungen, kam er ins Gefängnis, blieb jedoch überzeugter Marxist. Die einzige verheiratete Dame, mit der ich jemals seine Hypothese am Plattensee überprüft habe, war meine Frau, mit der ich dort einen kurzen Urlaub im Gästehaus der ungarischen Akademie der Wissenschaften verbrachte, ein recht ansprechendes intimes Hotelrestaurant, in dem sich die Gäste eine angebrochene Weinflasche für das nächste Essen zurückstellen lassen konnten. Am nächsten Tag war ich allein und ging in den nahe gelegenen Louvre, damals noch flankiert von der gigantischen Hochzeitstorte des Gambettadenkmals, das die Vernichtung der Skulpturen (zumeist aus der Dritten Republik) während der deutschen Besatzung und seit dem Krieg nicht überlebt hatte. Ich war beeindruckt von der Größe der Venus von Milo, jedoch mehr noch von der Nike von Samothrake, und zweifellos bin ich auch vor der Mona Lisa stehengeblieben. Sie sprach mich

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allerdings nicht an. Ein anderes Bild dagegen schon, Manets Olympia. Vielleicht war es nur natürlich, daß sich ein sexuell noch gänzlich unerfahrener Jugendlicher von fünfzehn Jahren von dem kühlen, gereiften Blick dieses erstaunlichen Bildnisses einer nackten Frau durchbohrt fühlte, die sich in luxe und calme gefiel und der für den Augenblick an volupté sichtlich nichts gelegen war. Und doch, was meine erste Begegnung mit diesem Meisterwerk so unvergeßlich machte, war nicht die Sinnlichkeit – schließlich ist der Louvre voll von erregenden Nackten –, sondern das Gefühl, daß es diesem wunderbaren Maler nicht um die zufällige Emotion ging, sondern um »die Wahrheit«; in den holprigen Worten einer späteren Generation von Heranwachsenden also darum, »zu sagen, was Sache ist«. Die Olympia ist das, woran ich mich von meinem ersten Besuch in Paris erinnere. Wenn man mich noch zu Frankreich hätte bekehren müssen, wäre Manet der richtige Missionar gewesen. Ich brauchte allerdings keine Bekehrung, sondern Kenntnisse. In den nächsten drei Jahren, in denen ich zum ersten Mal Prüfungen auf französisch absolvieren mußte, bezog ich sie aus Schulbüchern und von Lehrern, unter anderem von einem französischen Intellektuellen, der sich auf die Agrégation* oder thèse** vorbereitete und natürlich überzeugt war, an der Spitze der französischen Kultur zu stehen. Er versicherte mir, daß es nur drei bedeutende zeitgenössische Schriftsteller gebe, die drei »Gs« – André Gide, Jean Giono und Jean Giraudoux. Ich weiß nicht, warum er gerade diese Auswahl favorisierte und nicht beispielsweise Gide, Céline und Malraux. Ich habe es mit allen dreien gewissenhaft versucht und fand Gide langweilig, woran sich für mich, ehrlich gesagt, bis heute nichts geändert hat. Von Jean Giono hatte ich schon etwas gelesen, da die Vossische Zeitung in Berlin eine Übersetzung einer seiner Rhapsodien des bäuerlichen Lebens in der Provence als Fortsetzungsroman gedruckt hatte. Ich war so tief bewegt von seiner casserole aus Sonne, Boden, Leidenschaft und ländlicher Roheit, daß ich einige Jahre später bei einer Trampfahrt zum Mittelmeer eigens einen Umweg machte, um Manosque im damaligen Département Basses Alpes einen Besuch abzustatten, wo er wohnte, dem Autor meine Reverenz zu erweisen – er war nicht zu Hause – und kurz in das eiskalte tosende Wasser der Durance einzutauchen, der Zeugin seiner menschlichen Dramen. Wie sich herausstellte, hatte mindestens eine weitere Person aus Verehrung für den Autor diese Pilgerfahrt unter* Entspricht etwa dem zweiten Staatsexamen (A.d.Ü). ** Entspricht etwa der Doktorprüfung (A.d.Ü.).

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nommen, eine nicht besonders attraktive junge Frau, die Tochter polnischer Immigranten, die ebenfalls von der Wucht seiner Sprache ganz erschlagen war, und keusch verglichen wir in der provenzalischen Nacht unsere Aufzeichnungen. Ich besitze noch immer die preiswerten Ausgaben seiner Romane jener Zeit, habe jedoch bis heute nicht den Mut gefunden, sie noch einmal zu lesen. Dagegen kommt es bis heute immer einmal vor, daß ich Jean Giraudoux mit seiner gewählten Sprache wiederlese, der damals einem breiteren französischen Publikum hauptsächlich als sehr erfolgreicher Bühnenautor mit intellektuellen Neigungen bekannt war, dessen Stücke von dem großen Schauspieler und Bühnenleiter Louis Jouvet zur Uraufführung gebracht wurden. Sein Stück La Guerre de Troie n’aura pas lieu (deutsch: Der Trojanische Krieg findet nicht statt), das eine düstere Überzeugung zeigte, daß ein weiterer Weltkrieg absolut unvermeidbar sei, ist bis heute ein bedeutender Text für alle, die sich mit dem französischen Establishment der dreißiger Jahre beschäftigen. Ich bewunderte ihn wegen seiner in Romanform gegossenen Selbstgespräche, vor allem das großartige Feuerwerk von Siegfried et le Limousin (deutsch: Siegfried), das kurz nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben wurde und die extreme Unvereinbarkeit zeigen sollte zwischen dem, was Frankreich den Franzosen und Deutschland den Deutschen bedeutete, sowie die Komplementarität der beiden Zivilisationen. Möglicherweise ist das eine Erklärung, warum sein Autor nach der Befreiung von der französischen intellektuellen Bühne verschwand, obwohl er kein übermäßig prominenter Anhänger des Vichy-Regimes oder Kollaborateur war. Unentschieden schwankend zwischen zwei Sprachen und zwei Kulturen wie ein Liebhaber zwischen zwei gleich attraktiven Objekten des Begehrens, erwärmte ich mich für Giraudoux’ Fähigkeit, leidenschaftlich, intuitiv und intellektuell Franzose zu sein und gleichzeitig Deutschland zu lieben, zumal er sich über beide lustig machte. Er brauchte mir nichts über die Deutschen zu sagen, doch in Giraudoux traf und erkannte ich zum ersten Mal jenes Frankreich, über das mein Freund, der Historiker Richard Cobb, besser als jeder andere geschrieben hat: das Frankreich der Dritten Republik, in dem Giraudoux verwurzelt war. Das Frankreich, mit dem ich durch das unwahrscheinliche Medium seiner raffinierten Romane Bekanntschaft schloß, war nicht das Frankreich der Hochintellektuellen – von ihrer Überlegenheit so überzeugt wie sonst nur »Etonians« in England –, auch wenn er als ein Produkt der École Normale Supérieure in Paris selbst zu ihnen gehörte. Es war das jakobinische Frankreich,

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das ich durch sein eigenes Sprachrohr bald für mich entdeckte und das zu meinem Frankreich der dreißiger Jahre wurde, die Republik des Canard Enchaîné. Diese graue vier- oder in Ausnahmefällen sechsseitige Zeitung aus Kommentaren, Witzen und Karikaturen, ohne Sponsor und Subventionen, die jegliche Werbeanzeigen ablehnte, sich einfach als »eine satirische Mittwochszeitung« bezeichnete und Woche für Woche von einer halben Million Besuchern der Cafés du Sport und der Cafés du Commerce von Dünkirchen bis Perpignan gekauft wurde, war vielleicht der einzige nationale Ausdruck der Dritten Republik. Tatsächlich waren ihre Sprache, ihre Traditionen, Anspielungen und Annahmen so esoterisch, daß sie für jedermann unverständlich bleiben mußten, der nicht in ihr geboren und aufgewachsen war oder eine ausführliche Erläuterung erhielt. Seit General de Gaulle, den sie in einem wöchentlichen »Hofbericht« im klassischen Stil der Erinnerungen des Herzogs von Saint-Simon an Ludwig XIV. verulkte, hat sie vielleicht eher die Hochschulabsolventen und die politischen »In-Groupies« angesprochen als ihre ursprünglichen Leser, die radikalsozialistischen, sozialistischen oder gar kommunistischen Wähler von Clochemerle (das Urbild einer Gemeinde der Dritten Republik, nicht wiederzufinden in einem Land, das ländliche Telefonzellen wegen der Verbreitung von Handys in la France profonde abschaffen will).* Denn es war ein Glaubensartikel der Zeitung und ihrer Leser, daß die Dritte Republik keine Feinde auf der Linken habe. (Die weiteren Glaubensartikel waren ein Glaube an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, an Vernunft, Antiklerikalismus und an die Vorzüge eines guten Weins, und Abscheu gegenüber Krieg und Militarismus.) Sie stand allen Regierungen äußerst skeptisch gegenüber. Ihre Leser in den dreißiger Jahren hielten sich für frei von Illusionen über die Reichen – die beuteten sie aus und bestachen sowohl die Regierung, die den Lesern zuviel Steuern abnahm, als auch die meisten Politiker und Journalisten, die ihnen mit ihren Reden das Gehirn verkleistern wollten (bourrage de crânes). Der Canard bestärkte sie in diesen Überzeugungen, wenn er auch letztlich im Unterschied zu seinen Lesern das System nicht verurteilte. Wie in Marcel Pagnols damals berühmter Komödie Topaze (deutsch: Das große ABC), in der * Das politische Leben dieser fiktiven Stadt in Burgund, die in einem Mitte der dreißiger Jahre erschienenen Roman gleichen Namens von Gabriel Chevallier verewigt wurde, drehte sich um einen Streit zwischen rechts und links über die Frage, welchen Standort ein geplantes öffentliches Pissoir erhalten sollte – ein weiteres charakteristisches Merkmal des Lebens in der Dritten Republik.

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ein idealistischer Lehrer lernt, daß beruflicher Erfolg und Reichtum nicht durch republikanische Tugend zu erreichen sind – nicht einmal die staatliche Anerkennung seiner pädagogischen Verdienste, der Orden der Palmes Académiques, nach dem er sich sehnt* –, war Korruption für den Canard kein Thema für Kreuzzüge, sondern für ein desillusioniertes Gelächter. Nichts hätte von der Welt des Canard weiter entfernt sein können als die Dame, die mich in die Welt eines anderen Frankreichs einführte, Madame Humbline Croissant, in deren Wohnung an der Porte de Versailles ich im Sommer 1936 wohnte. Ich hatte ein Stipendium des London County Council, während ich darauf wartete, nach Cambridge zu gehen. Madame Croissant, eine grauhaarige Dame normannischer Abstammung, spielte Harfe, bezog die altmodische und konservative Revue des Deux Mondes und mißbilligte unter vielem anderen meine Lektüre Prousts, den ich mir in der Leihbücherei Gallimard am Boulevard Raspail besorgt hatte, die ich fast ebenso regelmäßig aufsuchte wie das Dôme auf dem Montparnasse. (Die Buchhandlung Gallimard befindet sich noch heute im selben Straßenblock.) Ihrer Meinung nach schrieb Proust ein schlechtes Französisch. Andererseits lehrte sie mich die unverrückbaren Wahrheiten der französischen Tafel, zum Beispiel daß man keinesfalls Fleisch und Gemüse wie Kraut und Rüben zusammen auf einen Teller legen durfte, sondern daß beides getrennt verspeist werden mußte und daß zum Fisch Weißwein gehörte (»le poisson sans boisson est poison«). Ihr gesellschaftlicher Verkehr war beschränkt und formell. Trotz ihrer wunderbaren Küche waren wir füreinander wohl eine Enttäuschung. Ihr Frankreich war nicht meines. Junge intellektuelle Männer meiner Generation waren glücklich, wenn sie in den dreißiger Jahren Frankreich kennenlernen durften. (Die Möglichkeiten, die das Land jungen Frauen bot, waren wesentlich begrenzter.) Historiker begeistern sich wenig für das Frankreich, dessen Boden ich erstmals im Frühjahr 1933 betrat und wo ich zwischen diesem Jahr und dem Zweiten Weltkrieg fast alle meine Sommer verbrachte. Politisch ging die Dritte Republik ihrem Untergang entgegen. Kulturell lebte Frankreich von einem Kapital, das vor dem Großen Krieg akkumuliert worden war und das die Franzosen nach 1918 kaum vermehrt hatten. Die meisten großen Namen der École de Paris der Zwi* Diese Komödie kam mir unwillkürlich in den Sinn und machte es mir schwer, nicht das Gesicht zu verziehen, als die französische Regierung mir viele Jahre später die »Palmes Académiques« verlieh.

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schenkriegszeit, Franzosen oder Immigranten, waren die von Künstlern, die ihre Reife und ihren Ruf bereits vor 1914 erlangt hatten. Wie A.J. Liebling, der großartigste amerikanische Autor über Boxen, New Orleans, Politik und Gastronomie bemerkt hat, hatte zwischen den Kriegen selbst die französische haute cuisine ebenso wie die Kurtisanen von Paris ihre beste Zeit hinter sich. Trotzdem sah das für uns ganz anders aus. Schließlich befanden sich Picasso und Matisse noch im besten Mannesalter, und der Sohn von Auguste Renoir, das größte Talent in der Welt des französischen Films, produzierte jedes Jahr ein neues Meisterwerk. Was wir sahen, war kein Land im Niedergang, geschweige denn an der Schwelle zur erbärmlichen und schmählichen Episode des Zweiten Weltkriegs, mit deren Bewältigung die Franzosen ein halbes Jahrhundert später noch immer ihre Schwierigkeiten haben, sondern das Frankreich, dessen Bild der gebildeten westlichen Welt seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts als ein Muster der Zivilisiertheit und des guten Lebens vorgehalten wurde. Der berühmte Witz, daß gute Amerikaner nach dem Tod nach Paris kommen – gedruckt erschien er erstmals in dem außergewöhnlichen Kompendium besten französischen Geistes, dem Paris Guide von 1867 –, klang immer noch völlig überzeugend; die Amerikaner (aus Nord-, Mittel- und Südamerika gleichermaßen) sollten an ihrem Glauben an Paris als das Paradies auf Erden sogar länger festhalten als die meisten übrigen Ausländer. Selbst das nationalsozialistische Deutschland konnte sich von diesem Glauben nicht freimachen. Die Kriegserinnerungen hochgebildeter deutscher Zivilund Militärpersonen im besetzten Frankreich, mochten deren Autoren vom minderwertigen Charakter der Besiegten noch so überzeugt sein, lassen vermuten, daß die Eroberer sich dennoch als eine Art Römer unter Athenern sahen. Frankophile Ausländer akzeptierten die offensichtliche und noch nicht ins Wanken geratene Überzeugung der Franzosen, ihr Land sei tatsächlich das Zentrum der Weltzivilisation, ein »Mittleres Reich« des Geistes wie China, die einzige andere Kultur, die diese Überzeugung von der eigenen unangefochtenen Überlegenheit teilte. Was brachte uns dazu, die Selbsteinschätzung Frankreichs zu übernehmen? Was bewog uns zu der Annahme, Paris sei noch immer in mancher Hinsicht die »Hauptstadt des 20. Jahrhunderts«, so wie sie unstreitig die des 19. Jahrhunderts gewesen war? Außer der Malerei und Bildhauerei und der außergewöhnlichen Tradition des französischen Romans gab es nichts in der hohen Kultur und dem intellektuellen Leben Frankreichs, das offensichtlich »Weltspitze« war oder zu sein schien.

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Die Literaturen anderer führender europäischer Sprachen fühlten sich der französischen nicht unterlegen. Selbst leidenschaftliche Frankophile behaupteten nicht, Rabelais oder Racine seien Shakespeare, Goethe, Dante oder Puschkin überlegen. Die französische Musik stand trotz ihrer Originalität hinter der österreichischen zurück. Die französische Philosophie schien der deutschen unterlegen (zumindest in den Augen junger Menschen aus Mitteleuropa), der zeitgenössischen französischen Naturwissenschaft fehlte einfach die schiere Fülle an Spitzenleistungen Englands und des Deutschlands vor 1933, die französische Technik schien beim Bau des Eiffelturms und der Pariser Metro im Stil des art nouveau stehengeblieben zu sein, und im Hinblick auf die modernen Annehmlichkeiten des Lebens war es abgesehen von dem damals der angelsächsischen Kultur noch unbekannten Bidet zweifellos nicht der Standard der sanitären Einrichtungen, was junge Engländer und Amerikaner in Hotels von der Sorte trieb, die sich die meisten von ihnen gerade noch leisten konnten. Auf einer etwas verfeinerteren Ebene wurde dagegen die Überlegenheit der französischen Zivilisation für selbstverständlich gehalten. Seit Voltaire war der französische Witz das Vorbild für die westliche Welt. Niemand bezweifelte, daß die couture und Kosmetik der französischen Frauen, französischer Wein und französisches Essen die besten auf der Welt waren, französischer (heterosexueller) Sex galt als besonders kultiviert und gewagt, französischer Stil und Geschmack in all diesen und anderen Dingen waren etwas, vor dem meine Generation sich bereitwillig verneigte. Selbst das beruhte auf der seit langem bestehenden Gewohnheit, einzelne Überlegenheiten Frankreichs in eine generelle Überlegenheit umzumünzen, die man diesem Land unterstellte. Wir wußten sehr wohl, daß es eine Menge Dinge gab, in denen die Franzosen nicht überlegen waren. Doch unsere Bewunderung für Frankreich war völlig ungetrübt durch die Tatsache, die jungen Männern und Frauen meiner Generation aus Nordamerika, Mittel- und Nordeuropa kaum entgehen konnte, daß nämlich die französische Lebensart zwischen den Kriegen bislang zu Freizeitaktivitäten nichts zu sagen hatte. Der Umgang mit der Natur bedeutete in Frankreich nicht viel. Der Franzose zeigte kein besonderes Interesse am Wandern, einzeln oder in Gruppen, Bergsteigen, Skifahren, aktiver oder passiver Beteiligung an Mannschaftsspielen, nicht einmal am Fußball. In den dreißiger Jahren schien ein ideologisches Interesse an der freien Natur noch immer auf Konservative beschränkt, von sozialen Katholiken bis zu den offen Reaktionären. Dafür weckte Frankreichs einzige nationale Sportleidenschaft der kleinen Leute, die Tour

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de France, von einigen kleinen Grenzländern abgesehen, im Ausland kaum Interesse.* Andererseits hatte Frankreich ein bedeutendes Plus für sich. Offenbar bot es seine Zivilisation jedem Ausländer an, der das Bedürfnis danach hatte. Wir durften daran teilhaben, und wir nahmen das Angebot an, und dies nicht nur, weil Hitler und Mussolini die deutsche und die italienische Kultur besudelt hatten – meiner Generation wäre es nie in den Sinn gekommen, ihre Ferien im faschistischen Venedig oder Rom zu verbringen –, die britische Kultur zu insulär war und die amerikanische Kultur zu einem anderen Stamm als dem unseren gehörte. Die Französische Revolution, der Ausgangspunkt der neuzeitlichen Weltgeschichte für jeden Menschen auf der Erde mit einer westlichen Bildung, hatte die berühmteste und exklusivste der großen höfischen Kulturen demokratisiert und die Tore einer bekannt chauvinistischen Nation allen geöffnet, die die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und die französische Sprache als eine untrennbare Einheit akzeptierten. Im 19. Jahrhundert wurde Frankreich nicht nur das größte Einwanderungsland in Europa, sondern auch – vor allem zwischen den Revolutionen von 1830 und 1848 – die willkommene Zuflucht für politische und kulturelle Dissidenten aus allen Ländern Europas. Paris war das Zentrum der internationalen Kultur, der Ort, an dem man sein oder gewesen sein mußte. Wie anders hätte die Ecole de Paris des frühen 20. Jahrhunderts möglich werden können, in der spanische, bulgarische, deutsche, holländische, italienische und russische Künstler Seite an Seite mit Lateinamerikanern, Norwegern und natürlich einheimischen Franzosen nebeneinandersaßen? In keinem anderen Land konnte sich die Widerstandsbewegung so sehr auf Immigranten stützen – geflohene spanische Republikaner, etliche Polen, Italiener, Mitteleuropäer, Armenier und Juden der MOI (main d’œuvre immigrée – eingewanderte Arbeiter) der KP Frankreichs. In meinen Erinnerungen an Paris, bevor ich nach Cambridge ging, sehe ich Amerikaner in Kunstgalerien auf dem linken Seineufer, deutsche Surrealisten in Dachateliers, die Tische des Dôme auf dem Montparnasse, an denen sich mittellose künstlerische Genies aus Rußland und Mitteleuropa drängten und darauf warteten, anerkannt zu werden. Zu meinen Erinnerun* Dagegen spielte Frankreich einige Jahre vor dem Aufstieg des amerikanischen und australischen Tennis in den dreißiger Jahren auf der internationalen Tennisbühne eine prominente Rolle mit den »Vier Musketieren« – Cochet, Lacoste, Brugnon und Borotra – und einer der seltenen namhaften Sportlerinnen jener Zeit, Suzanne Lenglen.

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gen aus meiner Zeit in Cambridge und als junges KP-Mitglied gehören Treffen mit antifaschistischen Mitteleuropäern im Restaurant des Balkans in der Rue de la Harpe, an die internationalen Konferenzen mit italienischen, deutschen und schließlich auch spanischen Flüchtlingen, verfolgten Jugoslawen, Ungarn und vereinzelten asiatischen Revolutionären, für die James Klugmann seine jungen Cambridge-Loyalisten mobilisierte. Denn Hitler machte Frankreich nicht nur mehr denn je zu einem internationalen Zentrum, sondern zwischen 1933 und 1939 auch zum letzten großen Refugium für die europäische Zivilisation, und mit dem Vormarsch des Faschismus zum einzigen noch vorhandenen Hauptquartier der europäischen Linken. Zwar nahm Frankreich Flüchtlinge und Asylsuchende nicht gerade mit offenen Armen auf, doch da es im Unterschied zu England vor München an Masseneinwanderungen gewöhnt war, unternahm das Land keinen systematischen Versuch, seine Grenzen für diese Menschen zu schließen. Es gab andere Zufluchtsstätten – die kleinen Beneluxländer, die Tschechoslowakei (bis München), die unwillige Schweiz, Dänemark, wohin Brecht gegangen war, sogar – für völlig unpolitische Juden – Italien, bis Mussolini 1938 den Rassismus einführte. (Nicht dagegen seit der Zeit des Großen Terrors das Rußland Stalins.) Es waren nur Schlupflöcher für die Verfolgten. Mit Frankreich war es anders. In besseren Zeiten gingen selbst die Exilierten freiwillig dorthin. Es schien naheliegend und ist es auch heute noch, daß das letzte große Ereignis vor dem Abstieg in die Hölle, als das gesamte zerrissene Europa noch einmal eine große Show aufführte, die Weltausstellung von 1937, in Paris stattfinden sollte. Wo sonst? Ich bin höchstwahrscheinlich nicht der einzige, der sich daran als eine internationale und französische Veranstaltung erinnert: nicht nur wegen Picassos Guernica und der deutschen und sowjetischen Pavillons, die einander finster gegenüberstanden, sondern auch wegen der wunderbaren und glänzenden Ausstellung französischer Kunst, die schönste, die ich je gesehen habe. Und außerdem wurde Frankreich für einen kurzen Augenblick nicht nur zum Refugium der Zivilisation, sondern auch der Ort der Hoffnung. 1934 verbanden sich die natürlichen Instinkte der populären republikanischen Politik (Vereinigung zur Verteidigung der Republik, keine Feinde auf der Linken) mit dem ungewöhnlich realistischen Sinn des überzeugten frankophilen Vertreters der mitteleuropäischen Komintern bei der KPF, des »Genossen Clément«, so daß die beste Strategie zur Bekämpfung des scheinbar unaufhaltsamen Vormarschs des Faschismus entwickelt wurde, die Bildung einer »Volksfront«.1

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Eine Volksfront gewann die Wahlen in Spanien im Februar 1936. Im Mai gewann sie die Wahlen in Frankreich. Sie brachte die erste Regierung in der französischen Geschichte mit einem Sozialisten an der Spitze ins Amt – die Kommunisten konnten sich nicht dazu durchringen, tatsächlich in das Kabinett einzutreten – und löste einen außergewöhnlichen, spontanen Ausbruch von Hoffnung und Freude innerhalb der Arbeiterklasse aus, die Welle von Sit-in-Streiks oder genauer gesagt von Fabrikbesetzungen im Juni 1936. Ich traf am Ende dieser außerordentlichen und bemerkenswert heiteren Siegesfeier in Paris ein, aber einige Wochen später war noch genug von dieser Stimmung übrig, um den Nationalfeiertag am 14. Juli zu einem unvergeßlichen Erlebnis zu machen. Ich hatte das Glück, ihn von einem denkbar guten Standort aus zu verfolgen: Ich fuhr auf einem Lastwagen mit einem Kamerateam der Sozialistischen Partei Frankreichs durch die Stadt. Das Zelluloid, auf dem es den großen Tag festhielt, war ihm höchstwahrscheinlich von meinem Onkel verkauft worden. Für junge Revolutionäre meiner Generation waren Massendemonstrationen etwa das, was für Katholiken die Versammlungen auf dem Petersplatz in Rom waren. Doch 1936 war die Jahresfeier des Sturms auf die Bastille östlich der Place de la République mehr als die größte aller Massendemonstrationen der französischen Linken. (Niemand interessierte sich in diesem Jahr besonders für die Militärparade und andere offizielle Veranstaltungen der Regierung zum Nationalfeiertag in den bürgerlichen Vierteln der Stadt.) Ganz Paris war auf der Straße und marschierte – oder schob sich zwischen endlosen Wartepausen vorwärts – oder stand am Straßenrand, um den Zug zu sehen und ihm zuzuwinken, so wie Familien vielleicht einem frischvermählten Paar nach der Hochzeit zum Abschied zuwinken. Die roten Fahnen und Trikoloren, die Führer, die Abordnungen der siegreichen streikenden Arbeiter bei Renault und der streikenden Arbeiterinnen der Kaufhäuser Printemps und Galeries Lafayette, die Bretons Emancipés, die unter ihrem Banner marschierten, die grünen Fahnen des »Nordafrikanischen Sterns«, die vor den dichtgedrängten Massen auf den Gehsteigen vorbeigetragen wurden, die Fenster voller Menschen, die freundlich winkenden Caféhausbesitzer, Kellner und Gäste, die noch freundlichere Begeisterung der versammelten und applaudierenden Bordellbesatzungen. Es war einer der seltenen Tage, an denen mein Denken abgeschaltet war. In mir gab es nur Empfinden und Erleben. Am Abend sahen wir vom Montmartre aus das Feuerwerk über der Stadt, und nachdem ich die Gruppe auf dem Lkw verlassen hatte, schlenderte ich wie auf Wol-

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ken langsam durch Paris zurück und machte an jeder zweiten Straßenecke halt, um auf ich weiß nicht wie vielen spontanen Straßenfesten etwas zu trinken und zu tanzen. Als ich meine Unterkunft erreichte, dämmerte der Morgen. Tatsächlich war die Volksfront wie geschaffen für die Jugend, denn sie führte (infolge eines neuen Gesetzes unter einem neuen Staatssekretär »für Sport und Freizeit«, Léo Lagrange) den ersten landesweiten bezahlten Urlaub und gleichzeitig billige Eisenbahntarife ein. Dank des einzigen Geldes, das ich jemals in der Staatslotterie gewinnen sollte, eines Betrags von 165 Francs (nach damaligem Kurs 40 bis 60 Mark) leistete ich mir eine vierzehntägige Wandertour mit dem Rucksack in den Pyrenäen und im Languedoc und schloß mich im Nachtzug von der Gare d’Orsay nach Luchon den ersten Nutznießern der Loi Lagrange an. Diese Fahrt sollte mich zum ersten und einzigen Mal mit dem erst wenige Wochen alten Bürgerkrieg in Spanien in direkte Berührung bringen (siehe 20. Kapitel). Außerdem machte ich zum ersten Mal (durch einen jungen Tschechen, den ich unterwegs kennenlernte) Bekanntschaft mit dem Trampen, eine Praxis, die damals in Europa praktisch noch unbekannt war, ausgenommen bei einigen fahrtenlustigen jungen Anhaltern aus Mitteleuropa. Das machte mir die Reise leicht, vor allem nachdem ich entdeckt hatte, daß ich bürgerliche französische Autofahrer davon abhalten konnte, ihren Abscheu gegenüber Léon Blum und den Kommunisten zu äußern, indem ich sie zum richtigen Zeitpunkt über ihre Meinung zu Napoleon befragte – ein Thema, über das sie sich über bis zu 200 Kilometer auslassen konnten. Von da an erweiterte ich meine Frankreichkenntnisse, indem ich jedes Jahr eine lange Trampfahrt mit dem Rucksack unternahm. Zu der Zeit, als der Krieg ausbrach, glaubte ich wie viele andere meiner Altersgenossen, Paris sehr gut zu kennen, in mancher Hinsicht sogar besser als London. Ich fühlte mich wahrscheinlich mehr zu Hause zwischen dem Montparnasse, dem Panthéon, dem Pont Saint-Michel, dem langgezogenen Boulevard Raspail und der Rue de Rennes als in irgendeinem ebenso ausgedehnten Streifen der Londoner City. Ich konnte gut genug Französisch, um über das Stadium hinaus zu sein, in dem die Franzosen einem höflich dazu gratulierten, wie gut man ihre Sprache sprach. Ich wußte ebensoviel von Frankreichs Politik wie von der Englands oder glaubte es zumindest; ich wußte, welche Theatertruppen »in« waren (Jouvet, Dullin, die Pitoëffs), hatte Renoirs La Règle du jeu in der Erstaufführung gesehen, hielt meine Gauloise im Mundwinkel wie Jean Gabin und hatte mir die Werke von Saint-Just und die Reden Robespierres gekauft. In Wirklichkeit wußten und ver-

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standen wir sehr viel weniger, als wir dachten, doch da die meisten von uns kein besonderes wissenschaftliches, berufliches oder familiäres Interesse an französischen Angelegenheiten hatten, fühlten wir uns in Paris zu Hause. Wir kamen gut zurecht in Frankreich und mit Frankreich. Allerdings gab es eine Merkwürdigkeit an der Beziehung zu diesem Land. Franzosen, und zwar einheimische und nicht so sehr die Immigranten und mehr oder weniger dauerhaft ansässige Ausländer, kamen in unserem Frankreich praktisch nicht vor. Für die meisten Ausländer in den dreißiger Jahren waren die Franzosen physisch in der Hauptsache als Dienstleister oder als Komparsen auf der permanenten Filmbühne ihres Landes präsent. Erst in den fünfziger Jahren wurde mein Paris zu einer Stadt, in der ich französische Freunde hatte und meine Zeit ebenso gewohnheitsmäßig mit Franzosen verbrachte wie mit der üblichen kosmopolitischen Gemeinschaft von Ausländern auf Besuch oder Immigranten. Die Franzosen waren und sind bis heute ein bemerkenswert förmliches Volk, und ihre Gesellschaft ist ein Theater mit klar vorgeschriebenen Rollen und Abläufen. Ich kenne kein anderes Land, in dem ein berüchtigter Casanova, ein Philosoph im sogenannten besten Mannesalter, es in den fünfziger Jahren noch »drauf« gehabt hätte, vor seiner Angebeteten in die Knie zu gehen und ihr eine Rose zu überreichen. Sofern sie nicht offiziell zu einem vertraulichen Ton verpflichtet sind, beenden die Franzosen auch heute noch einen ganz alltäglichen Brief mit einer der sorgfältig abgestuften Floskeln der traditionellen Ehrerbietung (»Nehmen Sie bitte, Monsieur, die Versicherung meiner vorzüglichen/ganz vorzüglichen/vorzüglichsten Hochachtung entgegen«). Die Berufung in die Académie Française oder ins Collège de France, zu der noch immer eine formelle Erklärung des Kandidaten erforderlich ist, gefolgt von seinen rituellen werbenden Besuchen bei allen Mitgliedern, ist eine wesentlich zeremoniellere Angelegenheit als anderswo; es ist eine Ehre und eine bereitwillig übernommene gesellschaftliche Verpflichtung für diejenigen, die zur Ausstattung des erfolgreichen Wissenschaftlers beigetragen haben, der Feierlichkeit beizuwohnen, um sein Zeremonienschwert zu bewundern. Selbst der zwanglose Umgang hat seine Verpflichtungen. Wenn Intellektuelle der Linken angehörten, meinten sie, ihr Status als solcher bringe es mit sich, miteinander im Vokabular Bellevilles zu reden.* Dennoch war es damals – und ist es vielleicht heute noch – schwierig, in ihr Leben einzutreten, ohne * Belleville ist ein plebejischer Stadtteil von Paris, dessen Bewohner für ihren revolutionären Geist bekannt waren (A.d.Ü.).

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in irgendeiner Form vorgestellt zu werden. Nur in Frankreich war es möglich, daß man den großen Historiker Ernest Labrousse zu Hause besuchte – wir kannten einander sehr gut von wirtschaftshistorischen Konferenzen in England – und im Vestibül die vorgeschriebenen zehn Minuten warten mußte, bevor man in sein Arbeitszimmer gebeten und herzlich als cher ami, cher collègue begrüßt wurde. Ein Professor an der Sorbonne und ehemaliger Kabinettschef unter Léon Blum wußte, was ihm gebührte. Jean-Paul Sartre war der einzige »große französische Intellektuelle« von Amts wegen, den ich je kennengelernt habe, der auf diesen öffentlichen Status keinerlei Wert zu legen schien. Selbst die Gleichheit war formalisiert. Ich wußte, daß ich als Intellektueller, der dazugehörte, akzeptiert war, wenn etwas jüngere französische Kollegen mich automatisch mit du anredeten, wie man es mit den alten Herren und Altersgenossen an der École Normale Supérieure oder ähnlichen Elitehochschulen tut. (Natürlich haben sich Kommunisten ungeachtet ihres Status und ihres Herkunftslandes mit Ausnahme vielleicht der DDR ebenfalls spontan geduzt, doch die meisten ehemals kommunistischen französischen Historiker waren zu der Zeit, als ich sie näher kennenlernte, nicht mehr in der KP.) Nicht daß damit eine persönliche Vertrautheit einhergegangen wäre. Da ich mit dem Du stets eine gewisse Vertraulichkeit verbunden habe, wurden meine persönlichen Beziehungen zu Fernand Braudel für immer beeinträchtigt, nachdem der große Mann, der sehr viel älter und weitaus angesehener war als ich, mir formell das Du anbot. Ein Gespräch mit ihm wurde unendlich schwer – wie wenn man einen Roman schreiben will, in dem kein einziges Mal der Buchstabe »e« vorkommt, wie Georges Perec es getan hat –, wenn man weder das alte formelle Sie benutzen konnte noch das Du, das einem partout nicht über die Lippen wollte. Ich brachte es einfach nicht fertig, ihn als einen gewöhnlichen Freund von gleich zu gleich zu behandeln und nicht als einen wohlwollend leutseligen Gönner, eine Rolle, in der ich ihn bewundern und lieben gelernt hatte (und die er vollendet beherrschte). In einem solchen Land, das dem Zutritt zu seinem geographischen Raum wenig Hindernisse in den Weg legte, war der Zugang zum menschlichen Raum überaus schwierig, wenn man keine persönlichen Verbindungen hatte oder die stillschweigenden Erkennungssignale nicht kannte: Sie waren so notwendig und unumgänglich wie die Codes an den Türen von Pariser Freunden in ihren Mietwohnungen – heute, da die traditionelle Concierge nicht mehr über das Kommen und Gehen nach Einbruch der Dunkelheit und an Wochenenden wacht –, wenn man sie besuchen will. Was mir Zutritt verschaffte, war

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meine Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei und meine Verbindung mit einem bestimmten Clan unter den französischen Historikern. Die Türen öffneten sich für mich auf dem und durch den Internationalen Kongreß der historischen Wissenschaften in Paris 1950. Auf diesem Kongreß, der im 17. Kapitel geschildert wird, lernte ich die Art von Leuten kennen, aus denen Braudel, der große akademische Unternehmer, gemeinsam mit seinem wunderbaren Stabschef Clemens Heller sehr bald das Gegenmodell zur Sorbonne schmieden sollte, die »Sechste Sektion« der École Pratique des Hautes Études. Heute fungiert sie als »Hochschule für Sozialwissenschaften« in dem schwarz verglasten Gebäude der Maison des Sciences de l’Homme, die Braudel und Heller an der Stelle des ehemaligen Gefängnisses Cherche-Midi errichten konnten, gegenüber dem Komfort des Hôtel Lutetia, in dem die Gestapo vor noch nicht allzu langer Zeit ihre Gefangenen gefoltert hatte. Und die große Neuerung der Maison als einer offiziellen Institution bestand nicht nur darin, daß sie dank Braudel und mehr noch Heller systematisch versuchte, Franzosen und Ausländer zusammenzubringen, sondern daß sie vor allem der Bedeutung eines zwanglosen Umgangs und persönlicher Gespräche Rechnung trug. Es erleichterte natürlich das Anknüpfen persönlicher Beziehungen, wenn man mit den Historikern im Umfeld Braudels und der Annales ungezwungen verkehrte, zumal sie sich mit Ausnahme des großen Meisters selbst, den ich um die Mitte der fünfziger Jahre kennenlernte, noch nicht mit bedeutenden Werken einen Namen gemacht hatten. In gewisser Weise verlief unser Berufsleben parallel, so daß unsere sozialen Beziehungen mehr oder weniger gleichberechtigt gediehen – zumindest bis zu der eigenartigen posthumen Rückkehr französischer Intellektueller zum Antikommunismus des Kalten Krieges in den neunziger Jahren. Doch die akademisch vermittelten Freundschaften entfalteten sich erst in den sechziger Jahren und meine engeren Verbindungen mit der Maison, der École (an der ich später einen Monat im Jahr unterrichtete) und dem Collège de France erst nach 1970. Das war in erster Linie das Verdienst des bemerkenswerten Clemens Heller. Heller, ein stattlicher, zerstreut blickender Mann mit einem schlurfenden Gang, der Telefongespräche von über 50 Sekunden Dauer verabscheute und gern in eine makkaronische Sprachenmischung verfiel, war wohl der originellste intellektuelle Impresario im Europa der Nachkriegszeit. Die Anspielung auf das Theater trifft den Punkt. Der Sohn von Hugo Heller, einem Wiener Buchhändler und Kulturunternehmer, der das Pech hatte, den Sarkasmus von Karl Kraus auf sich zu ziehen, begann seine Karriere als Schüler der Theaterschule von Max

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Reinhardt, bevor er nach Hitlers Machtergreifung in die Vereinigten Staaten geschickt wurde. Er kehrte als US-Offizier zurück und rief das berühmte Salzburg-Seminar ins Leben, das er infolge der Hexenjagd der USA verlassen mußte, und ließ sich in Paris nieder. Dort bauten er und Braudel ihre so außerordentlich erfolgreiche Partnerschaft auf, in die Heller die zutiefst kosmopolitische Kultur des expatriierten Mitteleuropas, eine Nase für intellektuell interessante und vielversprechende Menschen und Ideen sowie ein internationales Netz von Beziehungen einbrachte. Außerdem gelang es ihm, die finanzielle Unterstützung seiner akademischen Projekte durch die amerikanischen Stiftungen zu sichern. Wie Frankreich nun einmal war, wurde er dabei als Agent der CIA denunziert, was glücklicherweise folgenlos blieb. Der Musik und dem Intellekt galten die Leidenschaften dieses außergewöhnlich warmherzigen und generösen Mannes. Es gehörte zum Lohn eines langen Lebens, sein Freund gewesen zu sein. Obwohl meine Freundschaften in den fünfziger Jahren durch den Historischen Kongreß zustande kamen, wurden sie durch die politischen Überzeugungen von Intellektuellen vermittelt. Die Kommunistische Partei spielte dabei eigentlich keine Rolle, auch wenn die meisten, die ich kennenlernte, damals noch in der KP waren. Die KP Frankreichs, eine Organisation, die anscheinend von politischen Hauptfeldwebeln geführt wurde, hatte ein ganz besonderes Talent, die Intellektuellen, die ihr aufgrund ihrer Rolle in der Résistance in großer Zahl zugeströmt waren, zu schurigeln und schließlich gegen sich aufzubringen. Das erstaunte diejenigen unter uns, die an die entspanntere Atmosphäre der Kommunistischen Parteien in Italien und England gewöhnt waren; mein Freund Antonin Liehm hat mich jedoch darauf hingewiesen, daß sich die KPF als echte Massenpartei zwischen den Kriegen ebenso wie die KP der Tschechoslowakei selbst stalinisiert hatte, statt von außen »bolschewisiert« zu werden. Nach 1947 in der Defensive, zog sie sich in ein privates kulturelles und politisches Universum zurück, das gegen die Versuchungen der Außenwelt in einer Weise abgeschirmt war, die mich an katholische Minderheiten in der Ära des Vaticanums I erinnerte, jedenfalls in England. (Da sie in einem katholischen Land aufgewachsen waren, konnten die französischen kommunistischen Intellektuellen natürlich die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen der Partei und der Kirche nicht übersehen.) Die KPF hegte den Intellektuellen gegenüber ein proletarisches Mißtrauen. Als die Historikergruppe innerhalb der KP Großbritanniens sich nach einer vergleichbaren Gruppe in Frankreich erkundigte, erhielt sie von der KPF keine Unterstützung. Die Vorkriegs-KPF wollte Kämpfer

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und keine Akademiker. Das war auch der Grund, warum der Historische Kongreß 1950 zwar junge Marxisten anzog, aber von etlichen der später herausragenden und schließlich antikommunistischen Historiker nicht besucht wurde, die damals stramme junge KP-Aktivisten waren – François Furet, Annie Kriegel, Alain Besançon und Le Roy Ladurie. Ich habe sie erst nach ihrem Austritt aus der Partei kennengelernt. Aus heutiger Sicht ist für mich klar, daß der gemeinsame Nenner meines Freundeskreises weniger der Kommunismus als die Erfahrung und die Identifikation mit der Résistance waren. Während dieses ganzen Jahrzehnts und bis zur tragischen Zerrüttung ihrer Ehe sollte mein Stützpunkt in Paris die ziemlich einfache Arbeiterwohnung am Boulevard Kellerman von Henri Raymond und der bezaubernden Hélène Berghauer sein. Zu den Raymonds ging ich während des größten Teils meiner Ferien, und mit ihnen verbrachte ich auch den größten Teil meiner sonstigen freien Zeit. Einige Jahre lang nach der Trennung von meiner ersten Frau waren sie fast eine Familie für mich. Wenn sie aus Paris wegfuhren, reiste ich mit ihnen in ihrem Kleinwagen überallhin, wo es uns allen drei gefiel – ins Loiretal, nach Italien oder sonstwohin. Waren sie in der Stadt, genoß ich Paris in ihrer Gesellschaft, beobachtete vor den einschlägigen Cafés wie dem Flore oder dem Rhumerie die Passanten und hielt Ausschau nach Bekannten innerhalb der Intelligenzija, um mit ihnen den Tagesklatsch zu besprechen – Lucien Goldmann, Roland Barthes, Edgar Morin. Wenn die beiden nicht zu Hause waren, blieb ich dort allein und nutzte die Wohnung als meine private einsame Insel. Das Spartanische der Wohnung wurde wettgemacht durch die sprühende gute Laune von Hélène und einen phantastischen Bildteppich von Lurçat, der später aus Geldnot verkauft werden mußte. Ebenso wie Henris Freundschaft mit dem Libertin und Romanautor Roger Vailland und dem marxistischen Philosophen und Soziologen Henri Lefebvre war er ein Relikt der Résistance, der er sich in ganz jungen Jahren angeschlossen hatte. (Daß eine junge Frau, die ebenfalls der Résistance angehört und die ich auf dem Kongreß kennengelernt hatte, mich zuerst zur Wohnung der Raymonds geführt hatte, sollte mir zur Bekanntschaft mit Lefebvre verhelfen.) Henri, der einige Jahre jünger war als ich, stammte nach seinen eigenen Worten aus einer bäuerlichen Familie im Orléanais und veröffentlichte seine Gedichte und die seiner Freunde mit Zeichnungen von Hélène in kleinen plaquettes oder Broschüren – er bat mich auch, dafür etwas über Jazz zu schreiben –, und arbeitete damals für die verstaatlichte Eisenbahn. Er studierte wie Lefebvre Soziologie und Urbanistik

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und lehrte schließlich an der École des Beaux Arts. Auf diese Weise schloß er ein Stück weit zu seinem älteren Bruder André auf, von Anfang an ein sehr ernsthafter Akademiker, der eine wissenschaftliche Arbeit nach der anderen produzierte und zum internationalen Experten auf dem Gebiet islamischer Handwerkergilden und zur Säule der französischen Orientalistik werden sollte. Hélène, sowohl kosmopolitischer als auch entschieden pariserischer, hatte während des Krieges mit ihrer Familie in Brasilien gelebt. Sie setzte alles daran, Malerin zu werden. Offen gesagt war sie nicht besonders gut, aber auch wenn das niemand einer so bezaubernden und überaus attraktiven jungen Frau gern sagte, dürfte sie zu intelligent gewesen sein, um ihre Grenzen nicht zu sehen, und dementsprechend gelitten haben. Vorläufig verdiente sie ihr Geld im brasilianischen Konsulat. Ihr polnischer Vater, mit dem sie gespannte Beziehungen unterhielt, machte Geschäfte, ihr Bruder hatte irgendwie mit der couture zu tun oder war zumindest der Freund einer der ersten dieser schönen japanischen Mannequins, die den erotischen Multikulturalismus vorwegnahmen. Vielleicht kann das zum Teil erklären, wie sie es schaffte, zu einer Zeit Balmain zu tragen, als die Marken der Haute couture noch nicht in jedem Kaufhaus verkauft werden durften. Ebenso wie Henri war sie in der KP, in einer cellule im proletarischen 13. Arrondissement, aber angefangen hatte sie an den Rändern der jüdischen Terrororganisation in Palästina, die unter dem Namen Sternbande bekannt war, oder zumindest in deren äußerstem linken Flügel. Sie hatte sich eine innere Nähe zur direkten Aktion bewahrt. Während der Periode des algerischen OAS-Terrorismus besuchte sie mich in London, wo sie Zeitgeber für eine, wie sie sagte, linke Bombenkampagne gegen die OAS kaufte. Als ich sie fragte, wo man die bekomme, antwortete sie: »Bei Harrod’s natürlich.« Natürlich, wo sonst? Zwar machten sich einige aus dem näheren Umkreis der Raymonds später einen Namen auf ihrem Gebiet, doch in der Hauptsache bewegten sie sich in den unteren Gefilden der linken Pariser Intelligenz, auch wenn Hélène glaubhaft behauptete, sie sei au fait über die Skandale in den höheren Rängen, den Klatsch über Literaturpreise und über diejenigen in der KP-Führung, die auf dem absteigenden Ast waren. Sie lasen Le Monde und gelegentlich noch L’Humanité, doch die meisten von denen, die wir kannten (im Unterschied zu denen, über die wir klatschten), wurden in der Regel nicht gebeten, eine dieser Erklärungen von Intellektuellen zu öffentlichen Fragen zu unterschreiben, die für jene Zeit so typisch waren, bevor die bedeutenden »Medienintellektuellen« ihre eigenen festen Kolumnen in den Tages- und Wochen-

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zeitungen hatten. Es war weitgehend ein prä-achtundsechziger Milieu, und in den fünfziger und sechziger Jahre erlebte es seinen allmählichen Niedergang, als die alte Linke über Stalin und Algerien in Splittergruppen zerfiel und sich zum Teil absetzte und die alte Garde der KPF zunehmend jeden Vorschlag zu einem Wandel als unfreundlichen Akt betrachtete, vor allem wenn er von Intellektuellen kam. Etliche meiner kommunistischen Freunde wechselten zu einer kleineren Gruppierung, dem Parti Socialiste Unitaire (PSU), und wenn sich dieser Weg als nicht gangbar erwies, gingen sie in die Forschung, schrieben Bücher oder traten in die alte Sozialistische Partei ein, wenn sie in der Politik bleiben wollten. Da ich damals einige der Exkommunisten, die unvermittelt in einen rabiaten Antikommunismus verfielen, noch nicht kannte oder ihnen nur gelegentlich begegnet war, konnte ich die Spuren ihrer politischen Wege nicht weiter verfolgen. Das Scheitern der Ehe der Raymonds änderte zwangsläufig die Form meiner Aufenthalte in Paris. Doch mein Leben änderte sich ab 1961 auch ohnehin durch die Beziehung mit Marlene. Wie dauerhaft meine Leidenschaft auch sein mochte, weder der Jazz noch Paris konnten für einen Mann in mittleren Jahren mit einer Frau und schließlich auch Kindern dasselbe bleiben. Und Marlene hatte ohnehin ihre eigenen Freunde in Frankreich und lernte hier auch neue kennen, ganz abgesehen von denen, die wir gemeinsam hatten und noch kennenlernen würden. Außerdem hatte ich seit 1957 zwei weitere enge Pariser Freunde gewonnen, die es bis heute geblieben sind: Richard und Elise Marienstras. Die Raymonds und ich hatten beschlossen, zu einem kleinen Ort am Mittelmeer auf der Halbinsel Gargano in Süditalien zu fahren – dem »Sporn«, der aus dem »Stiefel« Italiens in die Adria hineinragt –, weil dort ein Roman spielte, La Loi (deutsch: Hart auf hart), den der ehemals kommunistische Schriftsteller Roger Vailland vor kurzem veröffentlicht hatte. Dort am Strand trafen wir auf das Ehepaar Marienstras, er ein großgewachsener, breitschultriger Blonder, sie zierlich, dünn und dunkelhaarig, auf dem Weg zu ihren Stellen als Gymnasiallehrer in Tunesien, das damals bereits unabhängig, aber dessen Bildungswesen noch an das französische Schulsystem angeschlossen war. Nie waren die französischen Intellektuellen so sehr in Nordafrika engagiert wie in den fünfziger Jahren, als Tunesien und Marokko ihre Unabhängigkeit erlangten und die Algerier um ihre Freiheit noch kämpften. Wir hatten also viel Gesprächsstoff. Der Maghreb hatte ohnehin seit dem frühen 19. Jahrhundert in der Phantasie französischer Maler und Schriftsteller eine bedeutende Rolle gespielt, aber auch als intellektueller Stimulus für die jungen agrégés, die als Gymnasiallehrer

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dorthin gingen, genauer gesagt als zukünftige Hochschullehrer: Fernand Braudel unter den Historikern und Pierre Bourdieu unter den Soziologen, um nur zwei zu nennen. Die wissenschaftlichen Interessen der beiden Marienstras galten nicht dem Mittelmeerraum oder dem Orient, sondern der angelsächsischen Sprache und Literatur, so daß sich ein weiterer Anknüpfungspunkt ergab. Richard Marienstras sollte zur bedeutendsten französischen Autorität auf dem Gebiet der Shakespeareforschung werden, und seine Frau Elise erwarb sich später einen Ruf als Historikerin der Vereinigten Staaten. Beide stammten aus polnischjüdischen Familien und hatten das Glück, während des Krieges in der unbesetzten Zone Frankreichs zu überleben. Richard hatte sich mit sechzehn Jahren der bewaffneten Résistance in den südöstlichen Bergen angeschlossen, eine Erfahrung, an die er sich als die einzige Zeit erinnerte, in der es niemanden kümmerte, daß er Jude war, und ihn auch niemand danach fragte. Viele Jahre später fühlte er sich tief bewegt, als er als der einzige Intellektuelle unter seinen überlebenden und in die Jahre gekommenen Mitkämpfern gebeten wurde, zur Feier ihres 50. Jahrestags irgendwo im Rhônetal die Gedenkrede zu halten. Obwohl sie natürlich links standen, fühlten sie sich nicht zum Marxismus hingezogen, aber – in ihrem Stolz auf ein säkulares, emanzipiertes Judentum – in der Diaspora auch nicht zum Zionismus. Sie bezogen – von Anfang an oder vielleicht zunehmend im Lauf der Zeit – eine Minderheitenposition innerhalb des französischen Judentums, das hauptsächlich aufgrund des massiven Exodus aus dem ehemaligen Französisch-Nordafrika zur größten jüdischen Gemeinde in Europa und seit dem Ende der UdSSR in irgendeinem Land der Alten Welt wurde. Es gab noch einen dritten, eher akademischen Grund, warum sich mein Verhältnis zu Paris in den sechziger Jahren änderte. Die Konvergenz zwischen dem, was die französischen Historiker in den Annales und dem, was wir in Past & Present taten, trat immer deutlicher zutage. Etwa ab 1960 wurde ich mehr und mehr in das akademische Leben in Paris und insbesondere in das neue akademische Reich Fernand Braudels hineingezogen. In den siebziger Jahren schloß ich mich ihm sogar für eine Weile offiziell als außerordentlicher directeur de recherche an der neuen École des Hautes Études en Sciences Sociales an. Kurzum, ab 1960 bestimmten meine akademischen Aktivitäten zunehmend den Rhythmus meiner oder vielmehr unserer Besuche in Paris. In gewisser Weise paßten diese Veränderungen zusammen. Als ich zum ersten Mal nach der Hochzeit mit Marlene, die bislang zur Welt der Hochschullehrer fast keinen Bezug hatte, wieder nach Paris kam,

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luden uns die Braudels, die von ihr mit Recht entzückt waren, zum Essen in ihre Wohnung ein, und Fernand erwarb für immer ihr Wohlwollen, indem er ihr versicherte, ein guter Ehemann zu sein, sei eine wesentliche Voraussetzung für einen guten Historiker. Bei solchen Anlässen verpfänden die Granden des französischen intellektuellen Lebens zwar nicht ihr Wort, doch sie verstehen es, ihren dem Anlaß angemessenen Worten eine Form zu geben, aus der Aufrichtigkeit ohne jeden Anflug von Gönnerhaftigkeit spricht. Wir waren alle sehr zufrieden. Umgekehrt war Marlene in London die Gastgeberin von Emmanuel Le Roy Ladurie, als dieser bei uns wohnte, nachdem ich ihn zu einem Seminar eingeladen hatte, und viele Jahre später von Louis Althusser in einer seiner manischen Phasen, kurz bevor er in einer der darauffolgenden Depressionen seine Frau tötete. Wie auch in anderen akademischen Familien ließen sich persönliche und berufliche Beziehungen nicht klar voneinander trennen. Im Gegensatz zum Frankreich der Dritten oder selbst der Vierten Republik fühlte ich mich im Frankreich de Gaulles und seiner gaullistischen Nachfolger nicht mehr zu Hause, auch nicht in Mitterrands Frankreich, das eine neue Art eines öffentlichen rhetorischen Jargons entwickelte, wo Politiker ihr Land als das »Hexagone« bezeichneten, von »la France profonde« sprachen und ihre Tatkraft unter Beweis stellten, indem sie den Kurs ganz neu bestimmten, wodurch Paris zu einem einzigen gigantischen sanierten bürgerlichen Ghetto wurde, dem größten in Europa, wo die Kneipen an den Straßenecken am Wochenende geschlossen waren, weil die älteren Einwohner von Paris die Mieten dort nicht mehr bezahlen konnten, auch wenn sie unter der Woche hier arbeiteten. Abgesehen von dem großen Loch im Zentrum, das durch die Verlegung der Markthallen entstanden und mit Richard Rogers’ Beaubourg gefüllt worden war, bewahrte die Stadt immer noch ihren Charakter, bis Präsident Mitterrand sie mit seinen architektonischen Sauriern füllte und umstellte. (Der General, der wußte, daß ihm sein Platz in der Geschichte sicher war, hatte es abgelehnt, seinen Namen durch monumentale Bauten zu verewigen.) Paris ist für Touristen nach wie vor eine wunderbare Stadt, doch als Historiker kann ich mich nur schwer an die Tatsache gewöhnen, daß die Linke in das Haus der Pariser Kommune nur noch den einen oder anderen Stadtrat wählen kann, es sei denn, die rechte Stadtverwaltung hat mit ihrer Korruption für kurze Zeit zuviel Staub aufgewirbelt. Andererseits mußte jeder, der in England lebte, die Vorzüge der Modernisierung Frankreichs nach dem Krieg anerkennen, die die unverändert hohe Qualität und Vielfalt der französischen Lebensmittel und Kochkünste um den Hochge-

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schwindigkeitszug TGV und ein hervorragendes öffentlichen Nahverkehrssystem bereichert hat. Ich lernte, anfangs widerstrebend, die Größe des Generals zu würdigen und seinem Stil etwas abzugewinnen. Unter noch größerem Widerstreben lernte ich, Mitterrand zu respektieren. Keiner von beiden wäre in der Dritten Republik erfolgreich gewesen. Beide kamen aus dem Milieu der – wie die Dritte Republik es (zutreffend) bezeichnet hätte – »Reaktion«. De Gaulle war ein Mann der Rechten, jedoch einer, für den die Republik einschließlich ihrer Linken ein wesentlicher Teil jener »bestimmten Idee von Frankreich« war, nach der er nach dem Krieg Frankreich wiedererschuf. Er war der erste französische Politiker nach 1793, dessen Frankreich sowohl für die Monarchie als auch für die Revolution Platz hatte. Vermutlich war es ihm nicht einmal ganz unlieb, mit Ludwig XIV. verglichen zu werden, der seine Diener in mehr oder weniger derselben Weise angesprochen hätte wie de Gaulle den Verleger seiner Memoiren, als dieser für die Jahre 1940 bis 1944 eine ziemlich ungaullistische Vergangenheit einbekannte. »Ich entnehme dem«, sagte der große Mann (der sehr wahrscheinlich die einschlägigen Akten eingesehen hatte), »daß Sie sich in einem meiner Gefängnisse befunden haben.« Sowohl das Possessivpronomen als auch der Plural entsprachen ganz dem Stil de Gaulles.* Seit seinem Tod ist im Hinblick auf die Mehrdeutigkeiten und Komplexitäten der Karriere François Mitterrands viel Kritik laut geworden. Es läßt sich jedoch nicht bestreiten, daß sie sich erstaunlich gleichmäßig immer weiter nach links verlagert hat, von der Ultrarechten vor dem Krieg über Vichy und die Résistance und dann zu einem politischen Werdegang, der ihn zum Baumeister und Führer einer reorganisierten Sozialistischen Partei gemacht hat. Diese sicherte sich die Herrschaft über die Linke nicht in der Weise, daß sie die Kommunisten in der üblichen Manier des Kalten Krieges isolierte, sondern dadurch, daß sie ihn im Bündnis mit ihnen an die Macht brachte. In der Dritten wie der Vierten Republik hätten sich die Politiker in die entgegengesetzte Richtung bewegt. Er und de Gaulle gehörten einer Ära an – nein, beide waren Gestalter dieser Ära –, in der die französische Politik nicht länger vor allem ein Kampf um die große Revolution war, deren Erinnerung die Linke von der Rechten schied. Trotzdem wußten beide Männer in ihrem Innersten, daß die Revolution für das Frankreich, das sie regierten, ebenso zentral war wie die amerikanische Verfassung für die * »Alors, vous avez bien connu mes prisons.« Die Anekdote verdanke ich dem Verleger selbst.

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Vereinigten Staaten. Darin waren sie realistischer als die Ideologen eines gemäßigten Liberalismus, eines ungezügelten Antikommunismus und einer freien Marktwirtschaft, in Frankreich schon immer eine untypische Minderheit, die in den späten achtziger und den frühen neunziger Jahren die Pariser intellektuellen Moden beherrschten. Doch auch wenn ich mich im Frankreich de Gaulles und Mitterrands nicht mehr so richtig wohl fühlte, erkannte ich doch die Kontinuität zwischen diesem neuen und meinem eigenen Frankreich, der fernen Landschaft der vergangenen Republik. In mancher Hinsicht war das Frankreich des Canard Enchaîné noch nicht tot. Die Skandale und die zunehmende Korruption in der späten gaullistischen und der späten Mitterrand-Ära sorgten sogar für eine wirtschaftliche Wiederbelebung des Blatts. Aber auch die intellektuelle Atmosphäre der Zeit sagte mir nicht mehr zu. Wie weltweit jeder auf der Linken war ich von der Rebellion von 1968 aufgewühlt, doch ich blieb skeptisch. Zwar befand ich mich in weit engerem Kontakt zu französischen Historikern, die bis in die siebziger Jahre hinein die Kerndisziplin der französischen Sozialwissenschaften darstellten und aus denen viele der von Hamon und Rotman näher untersuchten »Intellokraten« hervorgingen.2 Trotzdem hatte ich in mancher Hinsicht den Kontakt zu vielen Strömungen der französischen Kultur und theoretischen Diskussion nach den sechziger Jahren verloren, und obwohl ein Bewunderer von Queneau und Perec der französischen und daher der intellektuellen Tradition der Sprachspiele nur wohlwollend gegenüberstehen kann, fand ich die französischen Denker, als sie sich zunehmend auf das Terrain der »Postmoderne« begaben, uninteressant, unverständlich und jedenfalls für Historiker nicht besonders anregend. Selbst ihren Wortwitzen fehlte der Biß. Nach der kurzen Revolte von 1968 befand sich die alte ebenso wie die neue Linke in den siebziger und achtziger Jahren in Frankreich unstreitig auf dem Rückzug. Von der KPF nach 1945 hatte ich nie eine besonders hohe Meinung gehabt, und die Führung unter Georges Marchais hatte ich lange als Katastrophe angesehen. Ehrlicherweise muß ich aber zugeben, daß ihr Niedergang – von der großen Massenpartei der französischen Arbeiterklasse zu einer Rumpfpartei, die weniger als 4 Prozent der Wähler auf sich vereinigte – für einen alten Kommunisten schmerzhaft ist. Und ebenso ehrlicherweise muß ich zugeben, daß das meiste von dem, was heute noch in Frankreich unter dem Etikett »Marxismus« existiert, wenig beeindruckend ist. Andererseits machte mir in den achtziger und neunziger Jahren der zunehmend militante und verdrießliche Antikommunismus vieler ehemals

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linker »Intellokraten« meine Beziehungen zu einigen unter ihnen immer komplizierter. Auch wenn wir uns respektierten und in einigen Fällen auch gut verstanden, fühlten sich manche, mit denen ich in Paris intellektuell oder gesellschaftlich zu tun hatte, in meiner Gegenwart befangen und umgekehrt. Da ich seit 1956 stets derselbe geblieben bin, ein bekannter, wenngleich heterodoxer Kommunist, dessen Arbeiten in der UdSSR nie veröffentlicht wurden, nahmen es einige von ihnen, die in ihrer Jugend womöglich stalinistischer oder sogar maoistischer waren, als es mir je möglich gewesen wäre, offenbar übel, daß ich mich in ihren Augen bewußt geweigert hatte, denselben Weg wie sie zu gehen. Ich wiederum fand mich stärker abgestoßen von der Sprache des Kalten Kriegs und dem Liberalismus einer freien Marktwirtschaft, zu denen sich einige der Tüchtigsten und Angesehensten unter ihnen in den achtziger Jahren hingezogen fühlten, als von der einfachen Rückkehr eines Mannes wie Le Roy Ladurie (in jeder Hinsicht ein bedeutender Historiker) zum traditionellen Konservativismus seiner normannischen Vorfahren. Paradoxerweise wurde mit dem Niedergang der Kommunistischen Parteien, dem Ende des Kalten Kriegs und dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres Imperiums der Ton der antikommunistischen und antimarxistischen Polemik immer erbitterter, um nicht zu sagen hysterischer. Der verstorbene François Furet, ein Historiker und Publizist von hoher Intelligenz und großem Einfluß – und vielleicht fast eine Art chef d’école dieser Tendenz –, bemühte sich nach Kräften, den 200. Jahrestag der Französischen Revolution in einen intellektuellen Angriff auf diese selbst umzumünzen. Einige Jahre später stellte sein Buch Le passé d’une illusion (deutsch: Das Ende der Illusion: Der Kommunismus im 20. Jahrhundert) die Geschichte des 20. Jahrhunderts als die Geschichte der Befreiung von dem gefährlichen Traum des Kommunismus dar. Es wird niemanden überraschen, daß ich seine Sicht der Dinge kritisiert habe.3 Als inzwischen ziemlich bekannter marxistischer Historiker befand ich mich eine Zeitlang in der Rolle eines Vorkämpfers der verschanzten und belagerten französischen intellektuellen Linken. Das machte die Beziehungen noch komplizierter, zumal durch einen Zufall meine eigene Geschichte des 20. Jahrhunderts, The Age of Extremes (Das Zeitalter der Extreme), kurz vor Furets Buch erschien. Während es in anderen Ländern inhaltlich akzeptiert und selbst von bekannt konservativen Kritikern sachlich aufgenommen wurde, sah in Frankreich zumindest ein einflußreicher Teil der »Intellokraten« darin im wesentlichen eine politisch-ideologische Polemik, die sich gegen antikommunistische Liberale richtete. Obwohl es in seiner englischen

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Fassung in Fachzeitschriften diskutiert wurde, gab es in Frankreich jahrelang keine französische Übersetzung, weil es angeblich zu teuer war für seinen zwangsläufig begrenzten Abnehmerkreis. Das Argument überzeugte nicht, da sich das Buch in anderen westlichen Sprachen gut verkaufte. Tatsächlich war die seltsame Egozentrik der französischen intellektuellen Szene in jenen Jahren so ausgeprägt, daß Französisch über mehrere Jahre hinweg die einzige Sprache der Mitgliedsstaaten der EU und überhaupt die einzige Weltkultursprache (einschließlich des Chinesischen und des Arabischen) war, in der das Buch nicht erschien oder für eine Veröffentlichung vertraglich vorgesehen war. Schließlich erschien es 1999 doch noch in Frankreich, dank der Initiative eines belgischen Verlegers und der aktiven Unterstützung einer der wenigen unbußfertigen publizistischen Organe der Linken, der Monde diplomatique. Möglicherweise hatte die ideologische Stimmung einen Umschwung erlebt, seit Lionel Jospin, der das Gewissen der französischen Linken weniger stark strapazierte als der sterbende Mitterrand, 1997 das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. Von den Kritikern wurde es sehr gut aufgenommen. Die potentiellen Rezensenten aus den frühen neunziger Jahren hüllten sich in Schweigen oder hatten das Kriegsbeil begraben. Es verkaufte sich ganz zufriedenstellend, wenigstens eine Zeitlang. Es brachte mir mehr persönliche Briefe von unbekannten Lesern aus ganz Frankreich ein als jede der zahlreichen übrigen Übersetzungen dieses Werks. Und es ermöglichte einem alten Frankophilen, dessen Liebesgeschichte mit der Tradition der französischen Linken auf einem Kamerawagen am Tag der Bastille 1936 begonnen hatte, sie 63 Jahre später mit einer weiteren passend symbolischen Erfahrung zu krönen. Es war an der Sorbonne, einstmals die einzige Universität von Paris, heute die Mutter einer Familie. Das Auditorium maximum war bis auf den letzten Platz mit Parisern besetzt, die der Einladung gefolgt waren, einer Debatte über mein jüngst veröffentlichtes Buch zuzuhören. Die wenigsten der zu diesem Anlaß Erschienenen hatten eines meiner Bücher gelesen, die, woran mich die Verleger bei ihrer Ablehnung einer Übersetzung dieses Buchs immer wieder erinnerten, auf dem hexagonalen Markt nur einen Achtungserfolg, einen succès d’estime erreicht hatten. Was sie hierher geführt hatte, war der Umstand, daß jemand – und das war zufälligerweise ich – offen, kritisch, skeptisch, aber ungebeugt und nicht ohne Stolz für all jene sprach, die für eine Linke standen, in der die alten Ehrenzeichen von Partei und Orthodoxie nicht mehr zählten. Mir gefällt der Gedanke, daß ich bei dieser Veranstaltung an einer Art Wiederauferstehung – wenngleich nur für kurze Zeit – der intellektuellen Linken von Paris nach einem langen Belagerungszustand teilnahm.

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Es ist eine passende Episode, um dieses Kapitel über eine lebenslange Liebesgeschichte zu beschließen. Für meine Generation bleibt Frankreich etwas Besonderes. Das französische Verlustempfinden angesichts des weltweiten Triumphs der Sprache Benjamin Franklins über die Sprache Voltaires kann ich teilen. Es ist nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine kulturelle Transformation, denn sie bezeichnet das Ende der Minderheitenkulturen, in denen nur die Eliten eine internationale Kommunikation benötigten – und es spielte kaum eine Rolle, daß die Sprache, in der dieser Verkehr stattfand, nicht in vielen Teilen der Erde gesprochen oder (wie im Fall der klassischen toten Sprachen) gar nicht gesprochen wurde. Ich kann den Rückzug einer einstmals hegemonialen französischen Kultur in ein hexagonales Ghetto verstehen, der durch die Popularität »postmoderner« französischer Ideologen unter amerikanischen Studenten höherer Semester, die diese Lektüre auch nicht immer verstehen, kaum besser wird. Nicht daß es das wäre, was Paris braucht; das Problem ist, daß es sich nicht an eine Lage der Dinge gewöhnen kann, in der die übrige Welt nicht länger nach Paris blickt und seiner Führung folgt. Es ist ein hartes Los, innerhalb von zwei Generationen von einer globalen Hegemonie auf einen Regionalismus zurückgeworfen zu werden. Und am härtesten ist es festzustellen, daß das alles den größten Teil der übrigen Welt kaltläßt. Aber nicht meine Generation von Europäern, Lateinamerikanern und Bewohnern des Nahen Ostens. Und auch jüngeren Generationen sollte es nicht gleichgültig sein. Das zähe Rückzugsgefecht Frankreichs zur Verteidigung der globalen Rolle seiner Sprache und Kultur mag zum Scheitern verurteilt sein, aber es ist zugleich eine notwendige Verteidigung – deren Vergeblichkeit keineswegs feststeht – jeder Sprache und jeder nationalen und kulturellen Besonderheit gegen die Gleichmacherei einer zutiefst vielfältigen Menschheit durch die Prozesse der Globalisierung.

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I Fleißige Romanautoren müssen nie lange nach einem Thema suchen. Wenn alle Stricke reißen, gibt es immer noch die Familie und die eigene Lebensgeschichte. Fleißige Fachhistoriker haben keine innere Richtschnur, die ihnen sagt, welchen Teil der Vergangenheit sie erforschen könnten und auf was sich ihr Ruf stützen wird – die Tudorzeit, die Englische Revolution, Spanien im 17. Jahrhundert oder was auch immer. In der Regel wählen sie ein Thema an der Universität, geben ihm einen Titel für eine Doktorarbeit (oder zu meiner Zeit, als Oxbridge über solche Titel nur die Nase rümpfte, einer Fellow-Dissertation) und bleiben danach in den meisten Fällen bei ihrem »Forschungsfeld« oder ihrer »Periode«. Der Krieg hatte mir den Weg versperrt, den auch ich ursprünglich einschlagen wollte. So kam es, daß mein erstes Buch als Historiker, Primitive Rebels (deutsch: Sozialrebellen), in ein Gebiet fiel, über das ich mir zuvor wenig und über das sich tatsächlich überhaupt noch niemand Gedanken gemacht hatte.1 Im wesentlichen fußt dieses Buch auf meinen häufigen Reisen nach Spanien und Italien in den fünfziger Jahren, zwei Länder, mit denen seither mein Leben und die Wege meiner Veröffentlichungen verbunden waren. Im Unterschied zu Italien – welcher Antifaschist wollte schon dorthin reisen? – war Spanien, wohin es mich ab 1951 regelmäßig zog, schon seit längerem ein Teil meines Lebens gewesen, sogar noch vor dem Bürgerkrieg, der es zu einem Teil des Lebens meiner gesamten Generation machte. Trotz allem war es nach 1945 für andere Europäer immer noch ein fremdes Land. In der Vorstellung der meisten von uns gehörte es noch einer seltsamen Sphäre an, in der die Bilder von Revolution, Krieg und Niederlage in dürren Landschaften die exotistischen Bilder – Flamenco, Kastagnetten, Stierkämpfe, Carmen, Don José, Escamillo – ebenso überlagerten wie die Bilder eines ursprünglichen »Spanischtums« – Don Quijote, Ehre, Stolz und Schweigen. Mein Onkel war dort gewesen und hatte während seiner Zeit bei der Universal Pictures etliche Leute kennengelernt. Die letzten Erinne-

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rungsstücke an seine Besuche verstaubten in den Ecken unseres Hauses: eine blutverkrustete banderilla, ein Buch über den Stierkampf, ein signiertes Foto von einem älteren, militärisch aussehenden Anführer der katalanischen Autonomiebewegung und ähnliches mehr. Nach dem Aufstand von 1934 in Asturien schickte ihm ein Freund einige Exemplare von spanischen Illustrierten, vermutlich der monarchistischen ABC, mit dramatischen Bildern. Und dann, im Sommer 1936, in der ersten Woche nach dem Aufstand der Generäle, habe ich das Land dank einer merkwürdigen Verkettung historischer Umstände für einen kurzen Augenblick selbst zu Gesicht bekommen. Ich wohnte damals für drei Monate in Paris, bevor ich nach Cambridge gehen sollte, und hatte ein Stipendium vom London County Council, um meine Französischkenntnisse zu verbessern. Eines Tages Ende Juli stellte ich zu meiner angenehmen Überraschung fest, daß ich bei der Staatslotterie ein Gewinnlos im Wert von 165 Francs (2-3 Pfund) gezogen hatte. Zum Glück hatte die Volksfrontregierung in Frankreich kurz zuvor eine ihrer wenigen dauerhaften Neuerungen eingeführt, les congés payés (bezahlter Urlaub), sowie – dank einer weiteren Neuerung, der Einrichtung einer staatlichen Behörde für Sport und Freizeit – billige Eisenbahnfahrten, damit die Bevölkerung von dem Urlaub auch Gebrauch machen konnte. Mit diesem Geld fuhr ich mit dem Zug in die Pyrenäen, um dort vierzehn Tage lang mit dem Rucksack zu wandern und in Jugendherbergen und im Zelt zu übernachten. Unterwegs wurde mir die noch billigere Form der schnellen Fortbewegung nahegebracht, von einem dieser wanderlustigen jungen Mitteleuropäer, die damals auf dieser Seite des Atlantiks das »Trampen« einführten. Und so fand ich mich auf dem Weg von der atlantischen zur Mittelmeerseite der Pyrenäen unterwegs in einer Jugendherberge in der Nähe der spanischen Grenze und der spanischen Stadt Puigcerda wieder. Die Gelegenheit war zu verführerisch. Ich ging zur Grenze und wurde von dem jungen Milizionär, der sie bewachte, abgewiesen. Ich hatte nicht die richtigen Papiere. Ich ging etwa zwei Kilometer weiter zum nächsten Übergang, wo ich ohne Probleme passieren konnte, und verbrachte den Tag mit einem Bummel durch Puigcerda, damals praktisch eine unabhängige revolutionäre Gemeinde unter der Herrschaft der Anarchisten und einem kleinen Anteil von Mitgliedern des POUM (Partido Obrero de Unificación Marxista – Arbeiterpartei der marxistischen Einigung). (Von den Kommunisten oder Sozialisten, die sich damals zu einer einzigen Partei vereinigt hatten, dem PSUC [Partido Socialista Unificado de Cataluña, Vereinigte Sozialistische Partei Kataloniens] war nichts zu sehen.) Ich weiß nicht mehr, wie ich mich mit den Anwoh-

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nern verständigt habe, die sich natürlich für einen unangekündigten oder überhaupt jeden Fremden interessierten, doch vermischen sich in dieser Region Spanien und Frankreich stark, und das Katalanische steht jedenfalls den Sprachen beider Länder gleich nahe. In meiner Erinnerung gab es keine Schwierigkeiten. Meine eindrucksvollste Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag ist die an einige Lkws, die auf dem Hauptplatz geparkt waren. Wenn jemand sich entschlossen hatte, in den Krieg zu ziehen, ging er zu den Lastwagen, und sobald genügend Freiwillige für einen Lkw zusammenkamen, fuhr dieser ab an die Front. Viele Jahre später habe ich über dieses Erlebnis geschrieben: »Der Satz c’est magnifique mais ce n’est pas la guerre hätte für diese Situation erfunden werden sollen. Es war wundervoll, aber die Hauptwirkung dieser Erfahrung auf mich war die, daß ich zwanzig Jahre brauchte, bis ich imstande war, im spanischen Anarchismus mehr als eine tragische Farce zu sehen.«2 Tatsächlich machte Puigcerda nicht den Eindruck einer Gemeinde, die auf Krieg eingestellt war, und ich habe sie auch nicht als einen Ort in Erinnerung, in dem es von jungen Männern in Milizuniformen gewimmelt hätte wie bei späteren Revolutionen. (In den spanischen Provinzen von 1936 gab es beispielsweise keine Anzeichen für uniformierte junge Frauen.) Bestenfalls wirkte die Stadt wie ein Ort, der von politischem Leben, Gesprächen und Auseinandersetzungen erfüllt war, mit Menschen, die in Gruppen herumstanden oder mit ihren Zeitungen an den Tischen vor den Cafés saßen. Leider endete der Tag für mich schlecht. Der junge anarchistische Grenzsoldat, der mich bei meinem ersten Versuch an der Grenze abgewiesen hatte, kam an diesem Abend vom Dienst zurück, sah mich auf der Plaza essen und plaudern und zeigte mich sofort bei seinem Kommissar an. Ich wurde sehr höflich, aber bestimmt von einem ernsten Mann in einer Art militärischen Aufmachung vernommen. Ich bin sicher, daß er nicht so recht wußte, was er von meiner Anwesenheit dort halten sollte – ich wußte es ja selbst nicht –, doch jedenfalls konnte man es mit der Macht der Arbeiter nicht so leichtnehmen, auch wenn der junge Engländer, der die Grenze nicht nur auf irreguläre Weise, sondern auch in grober Mißachtung der Entscheidung, ihn abzuweisen, überschritten hatte, nicht danach aussah, als wolle er die Revolution gefährden. Von schießwütigen Amateuren in die Mangel genommen zu werden, die nach Konterrevolutionären Ausschau halten, ist keine beruhigende Aussicht. Ich gestehe, daß ich nervös war spät an diesem

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Abend, als man mich aufforderte, auf der dunklen Straße zur französischen Grenze zurückzugehen, während der Gewehrlauf eines bewaffneten Milizsoldaten auf meinen Rücken gerichtet war. So endete mein flüchtiger Kontakt mit dem Spanischen Bürgerkrieg mit meiner Vertreibung aus der Spanischen Republik. Was habe ich an diesem Tag in Puigcerda gemacht? An dieser Stelle hebt der Historiker gegenüber dem Autobiographen hilflos die Hände. Es liegt nicht einfach daran, daß meine Erinnerung an diesen Tag durch einen über sechzig Jahre währenden Prozeß der geistigen Bearbeitung fast sicher entstellt ist, sondern daran, daß an dem Tag selbst, an dem ich die Grenze zu Spanien überquert habe, meine Absicht unmöglich klar gewesen sein kann. Was hätte ich getan, wenn mein Aufenthalt dort nicht so plötzlich abgebrochen worden wäre? Angesichts der gängigen Erinnerung an den Spanischen Bürgerkrieg hätte ich den Gedanken in Erwägung ziehen müssen, mich den Kräften der Republikaner im Krieg gegen den Faschismus anzuschließen, wie es etliche junge Engländer in den ersten Wochen des Bürgerkriegs getan haben. Höchstwahrscheinlich ging mir nichts dergleichen durch den Kopf, als ich mich aufmachte, um mir einen Eindruck zu verschaffen, wie eine Revolution aussah, obwohl ich mich wie andere meiner Generation auf der Linken sogleich leidenschaftlich mit dem Kampf der spanischen Volksfrontregierung identifizierte. Habe ich an diesem Tag daran gedacht? Ich kann es nicht sagen, oder wenn ich meine Empfindungen rekonstruieren könnte, würde ich vielleicht meine Zuflucht zum Fifth Amendment der amerikanischen Verfassung* nehmen, weil im Licht der späteren Aufstellung Internationaler Brigaden** jede Antwort für mich schmählich ausfallen müßte. Falls ich nicht daran gedacht habe, warum nicht? Und falls mir doch der Gedanke kam, warum habe ich mich dann nicht freiwillig gemeldet? Angenommen, es gäbe irgend* Nach dem Fifth Amendment der US-Verfassung kann jemand vor Gericht die Antwort auf eine Frage verweigern, wenn er sich damit selbst belasten würde (A.d.Ü.). ** Die ersten Einheiten, die formell rekrutiert und organisiert wurden, von der italienischen Gruppe Giustizia e Libertà, datieren von Ende August; die Internationalen Brigaden der Komintern wurden wesentlich später aufgestellt. Die meisten der ursprünglichen ausländischen Einheiten setzten sich aus Ausländern zusammen, die sich zum Zeitpunkt des Aufstands der Generäle in Barcelona zu einer »Volksolympiade« aufhielten. John Cornford (siehe Kap. 8), der etwa zu der Zeit in Barcelona eingetroffen sein mußte, als ich die Grenze passierte, beschloß »ganz impulsiv«, sich etwa eine Woche später freiwillig zu melden; Peter Stansky und William Abraham, Journey to the Frontier, London 1966. S. 328.

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welche weiteren Quellen außer meiner persönlichen Erinnerung, welche Schlußfolgerung würde ein anderer Historiker, der in dieser Sache weniger befangen wäre, über den seltsamen Fall des jungen E. Hobsbawm in der spanischen Revolution ziehen? Solcherart sind die Probleme, wenn man Geschichte als Biographie schreibt, oder vielleicht die umfassenderen Probleme bei dem Bemühen, die menschliche Natur zu verstehen. Jedenfalls demonstriert mein Tag in Puigcerda die Sinnlosigkeit jener Übungen in der Geschichtswissenschaft, deren Fragen mit den Worten beginnen: »Was wäre gewesen, wenn . . .« und die heute im akademischen Jargon als »kontrafaktische Hypothesen« bezeichnet werden. Es gibt keine Möglichkeit, eine Auswahl unter den unzähligen Hypothesen zu treffen, wie mein weiteres Leben beeinflußt worden wäre, wenn dieser junge anarchistische Milizsoldat mich bei meinem ersten Versuch, nach Spanien zu gelangen, nicht abgewiesen hätte. Und er demonstriert auch, daß nichts dem Historiker bessere Dienste leistet, als Augen und Ohren offenzuhalten, vor allem wenn er das Glück hat, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Puigcerda verhalf mir zu meiner ersten Bekanntschaft mit jener typischen Brutstätte von »Sozialrebellen«, dem spanischen Anarchismus, der auf mich seitdem eine dauerhafte Faszination ausgeübt hat. In den fünfziger Jahren habe ich ihm an Ort und Stelle nachgespürt, weitgehend angeregt durch das bemerkenswerte Buch von Gerald Brenan, The Spanish Labyrinth (deutsch: Spanische Revolution), das ich bald nach dem Erscheinen der 2. Auflage 1950 gelesen haben muß. Ich weiß nicht mehr, ob ich es vor oder – was wahrscheinlicher ist – nach meiner ersten wirklichen Bekanntschaft mit Spanien gelesen habe, »was den tiefen und bleibenden Eindruck [hinterließ], den Spanien auf all diejenigen macht, die es kennen«.3 Mindestens zwei meiner Besuche in Spanien waren im wesentlichen Erkundungen der anarchistischen Tradition: 1956, als ich nach Casas Viejas reiste, das Dorf, das einmal (1933) versucht hatte, von sich aus die Weltrevolution zu machen, und 1960, als ich tief bewegt den Spuren eines vor kurzem gefallenen anarchistischen Guerilleros, Francisco Sabaté, gefolgt war.4 Ich weiß nicht mehr genau, warum ich in den Osterferien 1951 beschloß, nach Spanien zu fahren. Es war ein Land, dessen Sprache ich nicht verstand, abgesehen von den Texten der Slogans und Lieder des Bürgerkriegs und dem ideologischen Vokabular, das ohnedies international war. Ebenso wie später in Italien mußte ich mir die Sprache im Gespräch aneignen und gelegentlich in einem Taschenwörterbuch nachschlagen – was in Italien, wo die Konversation hauptsächlich in der Hochsprache geführt wurde, leichter war als in Spanien, wo meine

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Gewährsleute in der großen Mehrzahl keine Intellektuellen waren. (Wären sie es gewesen, so hätten wir uns wahrscheinlich auf französisch unterhalten.) Wie auch immer, ich erlangte relativ schnell in beiden Sprachen eine gewisse, wenn auch grammatisch fragwürdige Flüssigkeit im Sprechen, wobei ich mit meinem Sprachstudium gleich nach meiner Ankunft in Barcelona im abendlichen Café Nuevo am Paralelo begann (Kaffee und Varieté 5 Peseten), wo mein Nachbar, ein gerade aus Murcia angekommener Maurer auf Arbeitsuche, mir die Wörter für »schön«, »häßlich«, »dick«, »dünn«, »blond«, »brünett« und andere gängige Begriffe beibrachte, indem er auf die entsprechenden Merkmale der (mittelmäßigen) Künstlerinnen auf der winzigen Bühne zeigte. Aus meinen damaligen Notizen5 geht hervor, daß ich von der Nachricht eines großen und erfolgreichen Straßenbahnboykotts Anfang März in Barcelona gegen höhere Fahrpreise angezogen wurde. Auf den Boykott folgte ein Generalstreik, über den ich nach meiner Rückkehr einen Aufsatz schrieb. Ich war der übertrieben hoffnungsvollen Erwartung, er habe »jene Kruste der Passivität und des attentisme aufgebrochen, die (als Folge des Fehlens effektiver illegaler Organisationen) heute Francos größtes Kapital sind . . .«6 Das war eine übermäßig optimistische Einschätzung, auch wenn in der zweiten Hälfte jenes Jahrzehnts die ersten Risse im Regime sichtbar wurden. Die exilierten Francogegner, die ich damals kennenlernte, hatten nicht nur einen republikanischen Hintergrund – wie der Historiker (und spätere Leiter des postfranquistischen Instituto Cervantes) Nicolás Sánchez Albornoz, der Sohn des Mannes, der von den Emigranten immer noch als nomineller Präsident einer Schattenrepublik anerkannt wurde –, sondern stammten auch aus Familien, die zum Establishment unter Franco gehörten. Einer von ihnen, mein guter Freund Vicente Girbau León, war direkt von einem Posten in Francos Außenministerium in ein Gefängnis des Generals gewandert. Später teilten wir meine Wohnung in Bloomsbury, bevor er nach Paris ging, um dort am Aufbau des Verlags Ruedo Ibérico mitzuwirken, dessen in Spanien verbotene Titel (darunter auch die bahnbrechende Untersuchung von Hugh Thomas über den Spanischen Bürgerkrieg) im Spanien der sechziger Jahre unter der schnell anwachsenden Bewegung junger Dissidenten großen Einfluß erlangen sollten. Er war es, der mich später mit den Anarchisten zusammenbrachte. Doch zurück zu Barcelona, mit dem ich 1951 zum ersten Mal Bekanntschaft schloß und das damals noch voll war von »den feldgrauen Grüppchen bewaffneter Polizisten, deren Gewehre und Maschinenpistolen wie Stacheln von ihren Körpern abstanden, alle 100 bis 150 Me-

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ter in der Innenstadt und vor den Fabriktoren«, und die die charakteristischen palastartigen Banken bewachten, Symbole des Straßenbilds in den städtischen Geschäftsvierteln in Franco-Spanien, wie Festungen der Machthaber, die über ein hungriges Volk herrschten. Nach ein paar Tagen in Barcelona fuhr ich mit dem Zug und per Anhalter die Küste entlang nach Valencia und von dort nach Murcia, Madrid, Guadalajara, Saragossa und wieder zurück nach Barcelona. Spanien war arm und hungrig in den frühen fünfziger Jahren, vielleicht so hungrig wie noch nie seit Menschengedenken. Die Menschen schienen sich nur von Kartoffeln, Blumenkohl und Orangen zu ernähren. Ich blickte auf die wunderbare goldblonde Kathedrale inmitten der Trümmer des Römischen Reiches und fragte mich, ob es Tarragona in seiner ganzen Geschichte jemals so schlecht ergangen war. Spanien hatte keine öffentlichen Stimmen. Die Nachrichten aus Barcelona erreichten das übrige Spanien durch Gerüchte, Reisende wie ich selbst, Hausierer, Lkw-Fahrer und gelegentliche Hörer von Auslandssendern im Radio. In der Presse gab es lediglich dunkle Andeutungen. Intellektuell schien das Land, dessen Talente fast alle ins Ausland gegangen waren, stranguliert (man fand nur wenige spanische Werke in den »seriösen« Buchhandlungen – Übersetzungen und selbst spanische Klassiker gab es hauptsächlich in lateinamerikanischen Ausgaben). Spanien war unglücklich. Immer wieder, in Cafés, in den Fahrerkabinen von Lastwagen oder auf den unsäglichen correos, den billigen Bummelzügen, die an jeder Station anhielten, sagten die Menschen Sätze wie diesen: »Das ist das schlimmste Land auf der Welt« oder: »Die Menschen in diesem Land sind ärmer als überall sonst.« »Alles in diesem Land ist seit Primo de Rivera [1923-1930 Diktator in Spanien] vor die Hunde gegangen«, sagte die Matriarchin einer Familie von Ramschhändlern in Madrid, die mich unter ihre Fittiche genommen hatte. Spanien hatte den Bürgerkrieg nicht vergessen, und die Besiegten, auch wenn sie machtlos und ohne Hoffnung waren, hatten ihre Meinung darüber nicht geändert. Doch wenn das Thema zur Sprache kam, gab es immer wieder einen, der sagte: »Bürgerkrieg – nichts kann schlimmer sein. Der Vater gegen den Sohn, der Bruder gegen den Bruder.« Das Spanien unter Franco in den frühen fünfziger Jahren war ein Regime, das auf dem Prinzip des Philosophen Thomas Hobbes’ gründete: die schlimmste, aber wirksame politische Macht ist besser als gar keine Ordnung. Das Regime überlebte trotz seiner wahrgenommenen Ungerechtigkeit und seiner allgemeinen Unbeliebtheit – zumindest in den östlichen Landesteilen, die ich durchreiste – nicht so sehr wegen

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seiner Macht und seiner Bereitschaft, die Bevölkerung zu terrorisieren, sondern weil niemand einen zweiten Bürgerkrieg wollte. Vielleicht hätte Franco sich nicht halten können, wenn die Amerikaner und die Engländer gegen sein Regime gewesen wären und 1944-45 zugelassen hätten, daß die bewaffneten Einheiten der Résistance in Südfrankreich, in denen überwiegend spanische Republikaner kämpften, in Spanien einmarschierten. Aber sie taten es nicht. Vor allem war Spanien isoliert. Sein blutrünstiges Regime war immer noch eingeschlossen in den Panzer von Antimoderne, traditionalistischem Katholizismus und einer selbstgenügsamen Autarkie. Die außergewöhnliche Industrialisierung des Landes, die es in den nächsten 30 oder 40 Jahren bis zur Unkenntlichkeit umkrempeln und selbst das äußere Erscheinungsbild der Spanier verändern sollte, hatte noch kaum begonnen. Wo sonst in Europa außer im ebenso abgekapselten Portugal hätte man noch einen Ort wie Murcia finden können, der sich in nichts von einer Habsburger Provinzstadt aus der Zeit vor 1914 unterschied: dutzendweise Kindermädchen in schwarz-weißer Einheitskleidung, die ihre Kinder an der Flußpromenade beaufsichtigten, unter den Augen von Soldaten aus den Barracken der Garnison; bürgerliche junge Frauen mit Anstandsdamen; Bauern und Viehhändler, die ihren Handel in Cafés am Marktplatz abschlossen? Touristen in Spanien wurden damals nach Hunderten und noch nicht nach Zigmillionen gezählt. Die Mittelmeerstrände waren noch leer. Wenn ich versuche, mich an die costas Andalusiens zu Beginn der fünfziger Jahre zu erinnern, dann sehe ich eine staubige, glühendheiße, leere Straße zwischen Steinen und Meer vor mir und den Anblick von Geiern, die aus allen Himmelsrichtungen zu Boden schweben, um sich dem Mob anzuschließen, der bereits dabei ist, den Kadaver eines Maultiers oder eines Esels auszuweiden. Vielleicht war es das Fehlen jenes großen Verderbers der Moral, des Massentourismus der Wohlhabenden in den Gebieten der Armen, was es den Spaniern von damals ermöglichte, ihren traditionellen Stolz zu bewahren. Nichts beeindruckte mich in jenen Tagen mehr als das Beharren armer Frauen und Männer auf Beziehungen der Gegenseitigkeit: Sie nahmen keine Zigarette an, ohne selbst eine anzubieten, oder sie nahmen keinen Cognac von einem offenkundig bessergestellten Engländer an, weil sich das nicht mit einer Gleichwertigkeit vertrug, einen Kaffee dagegen schon. In meiner Erfahrung waren Ausländer noch nicht im wesentlichen Einkommensquellen für arme Einheimische geworden, nicht einmal wenn sie – wie ich 1952 mit befreundeten Studenten – in Sevilla mit einer offensichtlich englischen Yacht ankamen und das Boot in der Stadt fest-

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machten, direkt gegenüber den noch nicht modernisierten Kneipen der Vorstadt Triana. Da Spanien in seiner Geschichte erstarrt zu sein schien, ohne daß sich daran vorläufig etwas ändern würde, war es ein ungewöhnlich gefährliches Terrain für Beobachter und Analytiker von außen. Die übermächtige Gegenwart einer scheinbar unveränderlichen Vergangenheit – einschließlich der letzten Jahrzehnte – verbarg die inneren und äußeren Kräfte, die im Begriff standen, das Land in den kommenden Jahrzehnten tiefgreifender und unwiderruflicher umzuformen als fast jedes andere Land in Europa. Ich versuchte, seine Geschichte zu begreifen, doch abgesehen von der Erkenntnis, daß der Franquismus nicht überdauern konnte, hatte ich keinerlei Anhaltspunkte, in welche Richtung es sich bewegen würde. Noch 1966 hatte ich geschrieben: »Der Kapitalismus ist in diesem Land immer wieder gescheitert, ebenso die soziale Revolution, obwohl sie ständig vor der Tür stand und auch gelegentlich einbrach.«* Es war für mich noch nicht offensichtlich, wie anachronistisch dieser Satz zu jener Zeit geworden war. Hätte ein engerer Kontakt zur Opposition gegen Franco oder zu spanischen Intellektuellen in den fünfziger Jahren mir zu einem schärferen Sinn für die Realitäten verholfen? Das glaube ich nicht, denn die einzige effektive Oppositionspartei, die Kommunistische Partei, widersetzte sich damals immer noch der Erkenntnis, die von ihren illegalen Kadern ins Ausland übermittelt wurde, daß in der unmittelbaren Zukunft keine Aussicht auf einen Sturz des Regimes bestehe. Die Anarchisten, einst eine mächtige Gruppe innerhalb der spanischen Arbeiterbewegung, waren nach dem Bürgerkrieg keine ernstzunehmende Kraft mehr. Dennoch muß ich im Rückblick überrascht feststellen, wie wenig Kontakt ich in den fünfziger Jahren mit intellektuellen und politisch informierten Personen in Spanien hatte oder, vor den sechziger Jahren, mit der neuen Generation jüngerer spanischer Studenten und Exstudenten. Sie kamen zu mir nach London, weil sie von mir als einem Linken gehört oder meine Bücher gelesen hatten, die ab 1964 von mir völlig unbekannten Verlegern herausgegeben wurden, zum Teil in ziemlich fragwürdigen Übersetzungen – ein Symptom für die allmähliche Schwächung des Regimes, das sich der massiven kulturellen und politischen Ablehnung der gebildeten Jugend gegenübersah. Die sechziger Jahre in Spanien waren der erste von mehreren historischen Augenblicken, in denen der Niedergang autoritärer Regimes mir als Autor zugute kam. * E.J. Hobsbawm, Revolution und Revolte, Frankfurt a.M. 1973, S. 106.

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II Meine Entdeckung Italiens 1952 unterschied sich in fast jeder Hinsicht von der Spaniens. Italien hungerte weder, noch fehlte es der Wirtschaft an Energie. Obwohl ich keine großen Ausgaben hatte – in den fünfziger Jahren rechnete ich mit Reisekosten von 1 Pfund pro Tag für alles –, war nicht zu erwarten, wie in Spanien auf Reisende aus dem vermutlichen Mittelstand mit geflickter Kleidung zu stoßen. Auch wenn die Tage des Wirtschaftswunders das Leben durchschnittlicher Italiener selbst im Norden bis in die sechziger Jahre hinein nicht veränderte, waren die frühen Anzeichen der Dynamik bereits erkennbar: farbige moderne Raststätten, die schon damals mehr waren als reine Tankstellen; die überall anzutreffenden automatischen Espressomaschinen, die bald die Welt erobern sollten; die zahlreichen Motorroller, die die Explosion auf dem Kleinwagenmarkt vorwegnahmen. Nicht daß ganz Italien auf dem Weg in die westliche »Moderne« gewesen wäre, vor allem nicht im Süden und auf den Inseln. Soweit mein Buch Sozialrebellen einen einzelnen Ursprung hatte, so war es ein Essen im Haus von Professor Ambrogio Donini in Rom 1952, genauer gesagt die übliche Unterhaltung nach dem Essen, da nach den egalitären Überzeugungen der Doninis die Familie ihr Essen gemeinsam mit den Dienern und Gästen einnahm. Mein Gastgeber erzählte »von den toskanischen Lazzarettisten und den Sektierern Süditaliens«.7 Denn er war nicht nur ein Mitglied des Zentralkomitees der KPI – sogar ein ziemlich linientreuer Stalinist –, sondern auch ein Experte als Religionshistoriker. Deshalb bemerkte er beifällig, die Anhänger eines toskanischen Messias auf dem Land, der 1878 ermordet worden war, hätten in aller Stille überdauert und einen erneuten Anlauf zu einem Tausendjährigen Reich genommen, indem sie 1948 nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf den italienischen KP-Führer Palmiro Togliatti einen Aufstand unternommen hätten. Und er erzählte mir von den Problemen, die sich für die Parteiführung daraus ergäben, daß mehrere ländliche Ortsvereine der Partei darauf bestünden – 1949/50 war eine große Ära der Radikalisierung im Süden –, als Sekretäre dieser Unterorganisationen Mitglieder der Siebenten-Tags-Adventisten oder ähnlicher Sekten zu wählen, die man normalerweise nicht als geeignete Kandidaten für einen Kaderposten in einer marxistischen Partei angesehen hätte. Wer waren diese Menschen, die eine Denkweise, die im Mittelalter durchaus nicht ungewöhnlich gewesen wäre, in politische Bewegungen der Mitte des 20. Jahrhunderts hineintrugen? Wer behandelte die Zeit Lenins und Stalins, als wäre sie auch die Zeit Martin Luthers? Was ging in ihren

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Köpfen vor? Wie sahen sie im Unterschied zu den politischen Bewegungen, die durch ihren Zulauf gestärkt wurden, die Welt? Warum wurde ihnen so wenig Aufmerksamkeit geschenkt, ausgenommen von italienischen Denkern wie dem außergewöhnlichen Antonio Gramsci? In Italien stieß man anscheinend überall auf ihre Spuren. Fasziniert und bewegt versuchte ich sie zu finden, indem ich den Süden in den nächsten Jahren auf abgelegenen Straßen bereiste. Glücklicherweise gab es einige Anthropologen, die ein Interesse an ähnlichen Problemen entwickelten, denen sie bei ihren Untersuchungen antikolonialer Bewegungen in Afrika begegnet waren. Max Gluckman aus Manchester, ein überaus origineller Kopf und eindrucksvoller akademischer Häuptling, der jede Woche mit den Mitarbeitern seines Lehrstuhls ins Stadion aufbrach, um Manchester United aus angemessen anthropologischer Sicht zu unterstützen, verhalf mir zu drei Lehrveranstaltungen in Verbindung mit einem Seminar, in deren Verlauf er mir (und zugleich seiner Gruppe) Gelegenheit bot, erstmals Marilyn Monroe in Das verflixte siebte Jahr zu sehen, und zu dem Schluß gelangte, ich müsse auf der Grundlage meiner Vorlesungen ein Buch schreiben. Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch in Sizilien 1953, wo sich Michele Sala meiner annahm, der Bürgermeister und Abgeordnete von Piana degli Albanesi, ein rotes Bollwerk seit 1893, als der edle Dr. Nicola Barbato den Einwohnern des Ortes, das damals noch den Namen Piana dei Greci trug, auf dem Felsen des abgelegenen Gebirgspasses Portella dellas Ginestra, der bis heute als Barbatostein bekannt ist, das Evangelium des Sozialismus predigte. (In seiner Jugend hatte der in der Nachbarschaft geborene Michele Sala noch selbst die »gute Nachricht« aus dem Mund des Apostels vernommen.)8 Ob Regen oder Sonnenschein, Krieg, Frieden oder Faschismus, manche Pianesi hatten seitdem zuverlässig am 1. Mai einen Demonstrationszug zu diesem Ort geschickt. Der 1. Mai 1947, der Tag, an dem der Bandit Giuliano die Teilnehmer an dieser Kundgebung niedermetzelte, wird in Francesco Rosis großartigem Film Wer erschoß Salvatore G.? wunderbar in Szene gesetzt. Bald darauf hatte die Partei Sala beauftragt, sich dieses komplizierten Teils von Sizilien anzunehmen. Er hatte den sizilianischen Sinn für Realitäten. In seiner Jugend hatte er unter anderen Giuseppe Berti angeworben, einen führenden Kommunisten zur Zeit der Komintern und damals Student in Palermo, denn nachdem er das sozialistische Büro strategisch günstig in einer Wohnung gegenüber dem Ausgang eines Bordells untergebracht hatte, konnte er damit rechnen, potentielle Neumitglieder, die zu einer roten Propaganda bereit waren, in

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einer entspannten Stimmung anzusprechen. Das verband er mit einer nüchternen politischen Praxis in Brooklyn, wo er zwanzig Jahre in der politischen Emigration verbracht und genügend Englisch gelernt hatte, um mir die Massen von Neubauten zu zeigen, die er an den Rändern der Stadt hatte errichten lassen (»lotta guys need jobs«). In seinem Dienstwagen fuhren wir die Neubauviertel ab, wobei er immer wieder nach links und nach rechts grüßte (»In this town I know who I gotta say hello to!«). Er zeigte mir den Friedhof, genauer gesagt, die Nekropolis, die Gräber der Matrangas, Schiròs, Barbatos, Loyacanos und der übrigen albanischen christlichen Sippen, die im 15. und 16. Jahrhundert nach Süditalien und Sizilien ausgewandert waren. Jeder jüngere Grabstein, ob groß oder klein, trug die Fotografie des Verstorbenen. Der Tod, geachtet und unvergessen, war in Piana stets gegenwärtig. Ich sah etwas, das noch immer für eine Selbstverständlichkeit genommen wurde, die schweigenden, schwarzgekleideten Frauen, die auf der Straße saßen, das Gesicht stets zum Haus gerichtet. Wir gingen auf der einen Seite der Piazza – die Antikommunisten und die Mafiosi gingen auf der anderen –, als er mich für einen Augenblick aufhielt. »Sagen Sie hier keinem, daß Sie Engländer sind«, warnte er. »Hier gibt es Leute, die Sie nicht gern in meiner Gesellschaft sehen. Ich sage ihnen, daß Sie aus Bologna kommen.« Das war durchaus plausibel: Selbst in Sizilien wußten sie, daß Bologna rot war, und deshalb lag es nahe, daß ein Kommunist einen anderen besuchte. Die Sache hatte nur einen Haken. Wir waren den ganzen Tag zusammen, und jeder konnte hören, daß wir uns auf englisch unterhielten. Sala, der seine Leute kannte, winkte ab. »Was wissen die hier schon, wie die Leute in Bologna reden?« Tatsächlich hätte dies gut neunzig Jahre früher, kurz nach der Einigung Italiens, die Sache genau getroffen. 1865 wurden die ersten Lehrer, die das neue Königreich hierher geschickt hatte, um den sizilianischen Kindern das Italienisch Dantes beizubringen, für Engländer gehalten. In dieser Hinsicht hatte sich im Innern Siziliens bis zur Einführung eines nationalen Fernsehprogramms nichts Grundlegendes geändert. Doch selbst weniger rückständige Teile Italiens hatten etwas von der Dritten Welt an sich. Für den Löwenanteil seiner Bewohner – selbst die zweisprachigen, die es anstelle des Sizilianischen, Kalabresischen oder Piemontesischen sprachen – bestand das Italienische aus zwei Sprachen: der gesprochenen Alltagssprache und jener formellen und immer noch barock-überladenen Sprache, in der Zeitungen und Bücher geschrieben und offizielle Reden gehalten wurden. Sie blieb ein Relikt der Vergangenheit noch in dem in ihr artiku-

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lierten öffentlichen Respekt vor den Intellektuellen als solchen, auf die sie sich zugleich stützte. Ich kann mir kein anderes europäisches Land vorstellen, in dem ein waschechter Intellektueller wie Bruno Trentin, das Kind einer Familie antifaschistischer akademischer Emigranten, als Führer einer großen Industriegewerkschaft – der Metallarbeiter – und später des Dachverbands der nationalen Gewerkschaften akzeptabel gewesen wäre. Italien kennenzulernen war auch in einer zweiten Hinsicht anders. Nach 1945 wurde ein Tourismus ohne schlechtes Gewissen wieder möglich, denn das Land hatte unüberhörbar mit seiner faschistischen Vergangenheit gebrochen. Ich hatte das Glück, die denkbar besten Führer zu haben: Francis Haskell, der die Planung übernahm, und Enzo Crea mit seinen enzyklopädischen Kenntnissen auf dem Gebiet aller Künste, der seinen Freunden die abgelegensten Ecken und die berühmtesten Schätze Italiens mit immer gleicher Begeisterung enthüllte. Es kam noch hinzu, daß ich nur selten alleine nach Italien reiste oder im Land ohne italienische Freunde war. Nachdem ich zum zweiten Mal geheiratet hatte, gehörten auch die Freunde Marlenes dazu, die mehrere Jahre in Rom gelebt hatte, bevor wir uns kennenlernten. Außerdem hatte ich den enormen Vorteil, von einem Mann eingeführt zu werden, dessen Name alle Türen auf der italienischen Linken und daneben noch einige andere öffnete, Piero Sraffa. Seit langen Jahren in Cambridge in einer wunderschönen Wohnung im Trinity College etabliert, gegenüber den Räumen von Maurice Dobb, mit dem er an einer Ausgabe des Gesamtwerks des Ökonomen David Ricardo arbeitete, war dieser kleine, höfliche, grauhaarige Mann, der jede Geschwätzigkeit mied und wenig schrieb, als gewaltige kritische Intelligenz bekannt. Sein natürlicher Lebensraum lag hinter den Kulissen. Auch wenn er sich über seine politischen Ansichten ebenso wortkarg äußerte wie über alles andere, war doch bekannt, daß er eng mit Antonio Gramsci befreundet und von 1926 bis zu dessen Tod 1937 der Hauptkontakt zwischen dem inhaftierten kommunistischen Führer und der Außenwelt gewesen war. Er war der Mittelsmann, durch den Gramscis in der Haft entstandene Schriften nach seinem Tod mit Hilfe eines weiteren einflußreichen Freundes im Bankwesen sicher aufbewahrt wurden. Nicht bekannt war dagegen die Tatsache, daß ohne ihn die bemerkenswerten Manuskripte Gramscis wahrscheinlich überhaupt nicht hätten geschrieben werden können, denn nach der Verhaftung hatte Sraffa (der aus einer wohlhabenden Turiner Familie stammte) sogleich bei einer Mailänder Buchhandlung ein unbeschränktes Konto eröffnet. Mit Palmiro Togliatti, dem damaligen Führer der KPI, war er

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seit ihrer gemeinsamen Studentenzeit eng befreundet. Es hieß, er habe sich mit dem Gedanken getragen, nach dem Krieg nach Italien zurückzukehren, diesen jedoch nach dem für das Bündnis zwischen Kommunisten und Sozialisten katastrophalen Wahlergebnis von 1948 wieder aufgegeben. Da er alle Leute in der antifaschistischen Szene kannte – schließlich war Turin die Hauptstadt des liberalen wie des kommunistischen Antifaschismus – führte sein Name dazu, daß ich bei den Parteiintellektuellen sogleich akzeptiert wurde. Damals war ein ausländischer Kommunist automatisch ein Mitglied der Bruderschaft, ein compagno, der mit tu anstatt mit lei angeredet wurde. Der erste auf Sraffas Liste, den ich in Rom anrief, war der rangälteste kommunistische Historiker jener Zeit, Delio Cantimori, ein bedächtiger, beleibter Experte auf dem Gebiet der Ketzer des 16. Jahrhunderts, der über einen boshaften Witz verfügte und älter aussah, als er war. Er lud mich unverzüglich ein, bei ihm und seiner Frau Emma, die Marx übersetzte, in Trastevere zu wohnen. Von dort aus nahm ich mit seiner Unterstützung Kontakt zu den antifaschistischen Intellektuellen in Rom auf, die damals zum größten Teil Mitglieder oder Sympathisanten der KPI waren. Das meiste von dem, was ich über Italien weiß – abgesehen von seiner Landschaft und seiner Kunstgeschichte –, lernte ich damals von italienischen Kommunisten oder von Italienern, die ihnen zu Beginn der fünfziger Jahre immer noch nahestanden. Es war mein Glück, daß meine Freunde unter den italienischen Linksintellektuellen und vor allem Historikern Theorie und Praxis miteinander verknüpften und zugleich als aufmerksame und analytische Journalisten arbeiteten. Doch fast jeder, der in den fünfziger Jahren durch die abgelegeneren Regionen Italiens reiste, fand Menschen, die auf die Fragen von Ausländern bereitwillig antworteten und ihrerseits Fragen stellten. Es war schließlich noch immer ein Land der mündlichen Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. In Ortschaften wie Spezzano Albanese (Cosenza, Kalabrien) mußten die wenigen Zeitungen, die hier eintrafen, den Leseunkundigen noch immer in Cafés, Werkstätten und der »Sezione« der KPI vorgelesen werden. 1955 hatte das Telefon San Giovanni in Fiore, der Heimatstadt des großen hochmittelalterlichen Theoretikers des Chiliasmus, Abt Joachim von Fiore, erst vor wenigen Monaten erreicht. Fremde, Italiener oder Ausländer, brachten Nachrichten mit – auch für Menschen, die wußten, daß unweigerlich neue Zeiten kommen würden, ob es ihnen paßte oder nicht. »Die Dinge ändern sich«, bekam ich 1955 in Sizilien mehr als einmal zu hören. »Unsere Sitten werden wie die im Norden, daß zum Beispiel Frauen auf die Straße

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gehen. Eines Tages werden wir wahrscheinlich wie die Leute im Norden sein.« Damals schien die KPI der Hauptzugang zu diesen neuen Zeiten zu sein. Sie hatte etwa zwei Millionen Mitglieder – etwa ein Viertel aller Wahlberechtigten –, deren Zahl sich mit jeder neuen Wahl erhöhte, bis sie zum Ende der siebziger Jahre ihren Gipfel erreicht hatte, der mehr oder weniger den 34 Prozent der dauerhaft an der Regierung befindlichen Christlichen Demokraten entsprach und diesen Wert, wie manche Enthusiasten glaubten, sogar noch übertrumpfen würde. Sozial war die KPI zugleich ein Querschnitt durch die italienische Gesellschaft und eine Klassenpartei, vor allem in ihren Hochburgen im Norden von Mittelitalien: Emilia-Romagna, Toskana, Umbrien – Regionen der Kultur und des Wohlstands, einer technischen und wirtschaftlichen Dynamik und einer ehrlichen Verwaltung. Der italienische Kommunismus war nicht ganz Italien, aber ein zentrales und wunderbar zivilisierendes Element darin. Die Kommunisten waren und blieben ebenso wie die Nonkonformisten in England eine Minderheit. Dennoch war er eine breite und tief verwurzelte Bewegung. Der popolo communista, das kommunistische Volk, wie die Kader ihre Mitglieder nannten, war mehr als nur eine Addition von Kreuzen auf Stimmzetteln oder ein Haufen von jährlich erneuerten Mitgliedsausweisen. Ihre hauptsächliche regelmäßige Kundgebung, nach außen ein Mittel zum Sammeln von Spenden für die Parteizeitung L’Unità (die große Mehrheit der Mitglieder las sie sowenig, wie die meisten Italiener eine Tageszeitung lasen), war eine Pyramide aus regelmäßigen Volksfesten, die in jedem Dorf oder Stadtbezirk eine Basis hatte und ihren Höhepunkt in der jährlichen Festa Nazionale de l’Unità in einer der größeren Städte erreichte. Meine Verbindung mit der italienischen Politik begann, als man mich 1953 bei einem solchen Fest in einem Dorf in der Nähe des Pos als einen »brüderlichen Delegierten« vorstellte und ich eine Ansprache halten mußte – weiß der Himmel, wie ich es geschafft habe. Die Festa war im wesentlichen ein kollektiver nationaler Feiertagsausflug für die Familie, bei dem Geld für die Sache ausgegeben wurde und man es sich mit Frau und Kind, Freunden und getreuen Führern gutgehen ließ. Als das Fest zum ersten Mal in Neapel gefeiert wurde, sollen die Einwohner dieser großen Stadt in dem Bewußtsein, daß die Besucher an diesem Tag keine Touristen waren, die ausgenommen werden konnten, sondern einfache Leute und compagni, dem Aufruf ihrer Führer gefolgt sein und für 24 Stunden auf ihre sprichwörtlichen Aktivitäten verzichtet haben. Die Festa war natürlich zugleich eine politische Kundgebung, denn in den Tagen vor der Ein-

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führung des Fernsehens waren politische Reden von Parteigrößen von außerhalb, deren zustimmende Aufnahme beim Publikum in einem direkten Verhältnis zu ihrer Länge stand und deren begleitende Gestik und Mimik weitgehend der von Stummfilmdarstellern entsprachen, zugleich die größte Unterhaltungsdarbietung, die je in den Dörfern zu sehen war. Da nun das »kommunistische Volk« auch der einzige Teil der nichtbürgerlichen Italiener war, dem die eigene Weiterbildung und das Lesen wichtig waren, verließen sich fortschrittliche Verleger auf diese Veranstaltungen, vor allem die nationale Festa, auf denen sie einen Großteil ihrer Jahresumsätze erzielten, insbesondere mit mehrbändigen Enzyklopädien, Geschichtsbüchern und anderen langlebigen geistigen Konsumgütern. Mit dem gewohnten Gespür für den nationalen Markt beschloß beispielsweise mein Verleger Giulio Einaudi, die mehrbändige Storia del Marxismo (deren Mitherausgeber ich war) zur großen Festa in Genua 1978 herauszubringen, dem Höhepunkt der KPI unter Enrico Berlinguer und zugleich der Beginn ihres (unvorhergesehenen) Niedergangs. Leider ging etwa ab dieser Zeit in Italien auch das Interesse des Publikums am Marxismus zurück, auch wenn der erste Band der Storia sich noch gut verkaufte. Es war der einzige Band, der ins Englische übersetzt wurde. Trotzdem war dies ein unvergeßlicher Anlaß für Ansprachen in dem weiten Amphitheater über dem blauen Meer, wo mit Speisen überladene Tische in großen Zelten standen, in denen sich Familiengruppen drängten und Freunde Begrüßungsworte austauschten, und wo hoffnungsfrohe kommunistische Führer (außer dem stillen Berlinguer) im Foyer des Hotels plauderten und Witze machten. Ich hatte das Glück, von einer höchst beeindruckenden Gruppe von Kommunisten der Vorkriegszeit und aus der Widerstandsbewegung in Italien eingeführt zu werden. Etliche der Berufspolitiker, die ich unter ihnen kannte, hatten sich einen Ruf als Intellektuelle und Autoren erworben – Giorgio Napolitano, Bruno Trentin, der große und kräftige Giorgio Amendola und der kleine und rundliche Universalgelehrte Emilio Sereni aus einer der ältesten jüdischen Familien in Rom, der während des Kriegs von den Deutschen in Rom inhaftiert worden war. Er schrieb mit derselben Originalität über die Geschichte der italienischen Landschaft wie über die Vorgeschichte Liguriens. Auch die Akademiker unter ihnen waren zu einem Teil gleichzeitig Politiker. Etliche gehörten dem Zentralkomitee der Partei an. Renato Zangheri, ein Wirtschaftshistoriker, verbuchte glänzende Erfolge als Bürgermeister der wunderbar erhaltenen und dennoch modernen mittelalterlichen Stadt Bologna, Italiens größte »rote« Metropole; Giuliano Procacci und

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Rosario Villari (mit seiner Frau Anna Rosa, unsere engsten Freunde) gehörten dem italienischen Parlament an. Von Anfang an verstand ich mich mit den italienischen Kommunisten unerwartet gut, möglicherweise, weil so viele von ihnen Intellektuelle waren, aber auch weil sie eine entwaffnende Liebenswürdigkeit an den Tag legten. Nicht jeder nationale Parteiführer wäre in aller Stille nach Cambridge gereist wie Giorgio Napolitano, einfach um dem sterbenden Piero Sraffa die Hand zu halten, der verzweifelt gegen seinen geistigen Verfall ankämpfte; oder hätte seine Arbeit als Innenminister des Landes für ein paar Stunden unterbrochen, um an einer öffentlichen Feier aus Anlaß meines 80. Geburtstags in Genua teilzunehmen. Innerhalb weniger Jahre nach meinem ersten Besuch Italiens fand ich mich in den Halbschatten des Parteiestablishments gezogen – als offizieller Mitbegründer des Kongresses der Gramsci-Studien im Januar 1958, und als einziger Anwesender aus England, der den Anlaß zur ersten formellen Anerkennung des Theoretikers der italienischen Kommunisten durch die Wachhunde der ideologischen Orthodoxie in Moskau bildete. Es war die einzige Gelegenheit, bei der ich den Führer der KPI, Palmiro Togliatti, persönlich kennenlernte. Ich meinerseits fühlte mich vom italienischen Kommunismus angezogen, fand seinen toten Guru Gramsci wunderbar anregend und nach 1956 seine politische Position begrüßenswert. Anders als in England lohnte es sich in Italien durchaus, auch nach 1956 noch in die KP einzutreten. Warum war es so leicht, sich mit den Italienern zu verstehen? Anders als die Franzosen oder die Engländer sind die Italiener entzückt, geschmeichelt und fühlen sich sogar ermutigt, sobald Ausländer sich für ihre Angelegenheiten interessieren, selbst wenn oder gerade weil diese Ausländer sichtbar anders sind als sie selbst oder – wie in meinem Fall – wenn ihre Kenntnis des Italienischen etwas unsicher und die des Landes nur oberflächlich ist. Das liegt wohl zu einem Teil an einer langen Geschichte der Zugehörigkeit zu einem Land, das von der Außenwelt als bezaubernd, aber nicht besonders ernstzunehmend behandelt wurde, ein Land, das seit 1860 geeint ist, aber in Kriegs- und Friedenszeiten nicht allzuviel geleistet hat. Ich habe den Eindruck, daß dies zu einem tief eingewurzelten Gefühl geführt hat, nur eine Randbedeutung zu haben und provinziell zu sein. Die Italiener hatten sich mit der Vorstellung abgefunden, daß das eigentliche historische Geschehen, die maßgeblichen Zentren der Zivilisation und Intellektualität anderswo seien. Seit dem 17. Jahrhundert hatte niemand, der nach Vorbildern für kulturelle und intellektuelle Errungenschaften außerhalb der Musik suchte, ernsthaft nach Italien geblickt; seit dem 19. Jahrhun-

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dert nicht einmal mehr auf dem Gebiet der Oper. Der Faschismus hatte zwar in mancher Hinsicht das Gefühl der nationalen Identität gestärkt, hatte jedoch das Leiden der Italiener unter einer politischen und militärischen Minderwertigkeit nicht zu heilen vermocht und auf jeden Fall nichts unternommen, um die italienische Kultur aus ihrem Provinzialismus herauszuführen. Das postfaschistische Italien hatte, wie es schien, kulturell enorm viel aufzuholen, und Vorbilder gab es anscheinend nur im Ausland. Übersetzungen ausländischer Schriftsteller spielen auf dem italienischen Büchermarkt immer noch eine größere Rolle als in jedem anderen Land vergleichbarer Größe. Und fast jede Anerkennung italienischer Leistungen aus dem Ausland wurde begrüßt. Giulio Einaudi wußte sehr gut, was er tat, als er Gerratanas hervorragende kritische Ausgabe von Gramscis Gefängnisheften noch 1979 nicht in Rom, sondern in Paris lancierte, wie er auch seine große vielbändige Storia d’Italia (»Geschichte Italiens«) in Oxford lanciert hat. Der Stempel der Zustimmung durch Paris oder das Prestige Oxfords war noch immer der Weg zu einer erfolgreichen Vermarktung dieser Bücher in Italien. Und natürlich war die italienische Kultur nach dem 18. Jahrhundert weitgehend provinziell, was an Gramscis eigener Lektüre und seinen Schriften abzulesen ist. Selbst dort, wo wirklich Hervorragendes geleistet wurde, abgesehen von der Mathematik, der Oper und einem kurzlebigen Interesse am Futurismus, hat im Ausland niemand von italienischen Produkten besonders Notiz genommen. Vielleicht bestand die eindrucksvollste und am wenigsten erwartete Leistung der Italienischen Republik, die aus dem antifaschistischen Widerstand geboren wurde, darin, daß sie alles das geändert und damit bewiesen hat, was für jeden unvoreingenommenen Fremden schon immer offensichtlich war: daß nämlich die Italiener nichts von den intellektuellen, künstlerischen und unternehmerischen Talenten verloren hatten, die zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert so erstaunliche und allgemein bewunderte Leistungen hervorgebracht haben. In mancher Hinsicht haben die französische und die italienische Kultur nach dem Krieg entgegengesetzte Wege eingeschlagen. Während Frankreich nach 1945 die kulturelle Hegemonie verlor, die es so lange Zeit für selbstverständlich gehalten hatte, und sich praktisch in ein frankophones Ghetto zurückzog, nahm das Ansehen von italienischer Kunst, Wissenschaft und Industrie, von italienischem Design und Lebensstil zu, das Image Italiens bewegte sich von den Rändern zum Zentrum der westlichen Kultur. Selbst die Talente, die unter dem Faschismus gediehen oder geduldet wurden – so bedeutende Persönlichkeiten

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des italienischen Films wie Rosselini, Visconti und de Sica waren bereits eine ganze Zeit vor Mussolinis Sturz im Einsatz –, wurden durch den Widerstand befreit. In den fünfziger Jahren wäre der Gedanke, daß die internationale Industrie der Haute Couture eines Tages nach Mailand und Florenz statt nach Paris blicken könnte, noch unvorstellbar gewesen. Trotzdem fiel es dem italienischen Denken außerhalb der vollständig transnationalen Disziplinen wie der Mathematik und den Naturwissenschaften schwer, den Provinzialismus der Vergangenheit abzuschütteln; nicht zuletzt aufgrund des hinhaltenden Widerstands des italienischen Hochschulwesens mit seiner eingewurzelten Verbindung aus Kontrolle durch staatliche Bürokraten und Politiker einerseits und den Manövern seiner eigenen »Barone« mit ihrem wirkungsvollen System der Ämterpatronage andererseits. Daraus erklärt sich die außergewöhnliche Bedeutung kommerzieller Verlagshäuser wie Laterza, Einaudi und Feltrinelli im italienischen intellektuellen Leben der ersten drei oder vier Nachkriegsjahrzehnte. Tatsächlich dienten Verlage, ähnlich wie im Nachkriegsdeutschland, weitgehend anstelle der konservativen Universitäten als intellektuelle und kulturelle Kraftwerke oder, wenn man den modischen Jargon der Jahre nach 1989 vorzieht, als Organe der »Zivilgesellschaft«. Der Fürst unter diesen kulturellen Architekten des postfaschistischen Italiens war Giulio Einaudi (1912-1999), mein Freund und Verleger, der Sohn von Italiens berühmtestem Ökonomen der freien Marktwirtschaft und späterem ersten Präsidenten des Landes. Er gründete seinen Verlag 1933 mit 21 Jahren und leitete ihn anschließend fünfzig Jahre lang. Paradoxerweise war er selbst keine besonders intellektuelle Persönlichkeit, aber er verfügte über ein Team von Beratern, das außergewöhnliche Intelligenz, Wissen und kosmopolitische Kultur mit Geist und literarischer Kreativität in sich vereinigte. Sie alle einte ihr Antifaschismus und der aktive Widerstand – entweder in der kommunistischen oder der liberalsozialistischen Tradition von Giustizia e Libertà – und die meisten von ihnen zudem das klare, unabhängige intellektuelle Milieu von Turin. Sie schufen das, was in den fünfzehn Jahren nach 1945 wohl das glänzendste Verlagshaus der Welt war. Das Wort »Fürst« habe ich mit Bedacht gewählt, denn trotz seiner kommunistischen Sympathien war Giulios Stil, seine imponierende bella figura in der Stadt oder auf dem Land königlich oder zumindest feudal. Noch als Gast in einem Wohnzimmer in Hampstead strahlte er ein grandseigneurhaftes Wohlwollen aus. Und sogar in Badehosen an einem Strand von Havanna sah man ihm den Gönner an. Der feudale

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Geist erstreckte sich auch auf seinen Umgang mit geschäftlichen Schulden einschließlich der Verpflichtungen gegenüber seinen Autoren, was ihn schließlich in den Bankrott trieb. (Andererseits kam es des öfteren vor, daß Autoren als Neujahrsgeschenk Kisten mit Barolo aus den Weingütern der Einaudis erhielten, ein Rotwein, der etwas so Besonderes war, daß die Kellerei empfahl, ihn mindestens acht Stunden atmen zu lassen, bevor er getrunken wurde.) Gleich einem absoluten Monarchen hielt er sein Reich für ein Anhängsel seiner Person, und am Ende war es seine Weigerung, auf Ratschläge in finanziellen Dingen zu hören oder auch nur an die Zukunft des Hauses nach seiner Regierungszeit zu denken, was ihn ruinierte. Das Ansehen des Verlags war so groß, daß er mehr als einmal als nationales Gut durch das Eingreifen des italienischen antifaschistischen Establishments vor dem Bankrott bewahrt wurde, wobei die Federführung bei dem großen Bankier Raffaele Mattioli lag (derselbe, der 1937 die Manuskripte des verstorbenen Gramsci in einem Safe der Bank verwahrte, bis sie durch Piero Sraffa der Vertretung der KPI im Ausland ausgehändigt werden konnten). In den achtziger Jahren verlor er schließlich die Kontrolle über den Verlag, und 1991 wurde Giulio Einaudi Editore dem Medienimperium Silvio Berlusconis einverleibt. Ich weiß nicht mehr, wann ich Giulio Einaudi zuletzt gesehen habe. Wahrscheinlich auf der Feier zum achtzigsten Geburtstag, die für mich 1997 von der Stadt Genua organisiert wurde, alt, traurig und nicht mehr ganz aufrecht, in einem Italien, das völlig anders war als das Land in den Tagen seines eigenen Glanzes. Früher einmal hatten er und Italo Calvino zur Ehrenwache am Sarg Togliattis gehört, der sein Ansehen und seine politischen Sympathien gewürdigt hatte, indem er dem Haus Einaudi die Rechte an der Veröffentlichung der Werke Antonio Gramscis persönlich übertrug. Doch auch die KPI war nicht mehr das, was sie unter Togliatti gewesen war. In den Jahren 1952 bis 1997 war Italien gekennzeichnet durch einen tiefgreifenden sozialen und kulturellen Wandel, verbunden mit einer völlig erstarrten Politik. Zum Ende des Kalten Kriegs besaßen die Einwohner dieses traditionell armen Landes mehr Autos pro Kopf der Bevölkerung als praktisch jeder andere Staat auf der Welt. Das Land des Papstes legalisierte die Geburtenkontrolle und die Scheidung, wobei die Bevölkerung von ersterem ausgiebigen, von letzterem jedoch einen spürbar zurückhaltenden Gebrauch machte. Es war ein anderes Land. Doch seit dem Beginn der Ost-West-Konfrontation 1947 war klar, daß die USA es unter keinen Umständen zulassen würden, daß in Italien die Kommunisten an die Macht kämen oder auch nur in ein

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Regierungsamt gewählt würden. Das blieb Washingtons Grundprinzip, sozusagen seine »Voreinstellung«, solange es eine UdSSR und eine KPI gab, und noch einige Jahre danach. Aber es wurde ebenso deutlich klar, daß eine kommunistische Massenpartei weder durch polizeiliche Unterdrückung noch durch trickreiche Verfassungsänderungen ausgehebelt werden konnte, auch wenn die große Bauernrevolte im Mezzogiorno, deren Nebenerscheinungen meine Aufmerksamkeit auf die »Sozialrebellen« gelenkt hatten, bis zur Mitte der fünfziger Jahre abgeflaut war. Als Realisten nahmen die Christdemokraten dies hin und ließen der KPI einen politischen Spielraum in ihren Regionen, in der Kultur und in den Medien. Schließlich hatten sie die Republik gemeinsam mit den Kommunisten gegründet. Im Innern Italiens war der Kalte Krieg kein Nullsummenspiel. Das Italien, in das ich kam, hatte demnach begonnen, sich für die absehbare Zukunft ähnlich wie Japan als ein ungeheuer korruptes politisches »Schutzgebiet« der USA einzurichten, unter einer einzigen Partei, den Christlichen Demokraten, die durch den von den USA über die KPI verhängten Bann ein Monopol auf die Regierung hatten. Bei meinem ersten Besuch in Italien stellte ich fest, daß die bescheidene Nachkriegsmafia in Sizilien praktisch noch undokumentiert und unbeschrieben war, während die neapolitanische Camorra, die heute vielleicht noch mächtiger ist, damals ausgestorben zu sein schien.9 Beide sind Produkte des politischen Systems des Kalten Kriegs. Im Lauf der Jahrzehnte nach 1950 wurde die Italienische Republik zu einer seltsamen, labyrinthischen, häufig absurden und zuweilen gefährlichen Institution, die sich zunehmend von der konkreten Realität des Lebens ihrer Einwohner entfernte. Der Witz, Italien sei der Beweis dafür, daß ein Land ohne einen Staat auskommen könne und Bakunin somit gegen Marx recht behalten habe, trifft den Sachverhalt nicht genau, da die Italiener einen Großteil ihrer Zeit damit verbrachten, etwas zu umgehen, was auf dem Papier ein starker, allumfassender und interventionistischer Staat war. Die Italiener verstanden sich auf dieses Spiel und konnten auch gar nicht anders, da die massive Umgestaltung der öffentlichen Macht, der Ressourcen und der Beschäftigung zu einem nationalen System der Ämterpatronage und des Protektionsschwindels es zunehmend erforderlich machte, Mittel und Wege zu finden, das Blut des Staatskörpers durch eine Million Kapillargefäße fließen zu lassen und dabei die immer stärker verstopften Arterien zu umgehen. Die Dinge zu »richten« – durch Beziehungen statt durch plumpe Bestechung – wurde für die Italiener zum nationalen Motto. Irgendwo zwischen einer gedeihenden und immer selbstbewußte-

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ren Zivilgesellschaft und den Arkana des Staates und überlagert von Schichten des Schweigens und der Vernebelung lag das Feld der Macht. Sie hatte keine Verfassung und keine formelle Struktur. Es gab einen azephalen Komplex von Machtzentren, die sich auf lokaler oder nationaler Ebene miteinander arrangieren mußten: private, öffentliche, gesetzliche, heimliche, formelle und informelle Zentren. Jeder wußte beispielsweise, daß der »avvocato« – Gianni Agnelli, das Oberhaupt der Familie, die FIAT besaß und noch manches andere – ein nationales Machtzentrum war, so wie auch jeder wußte, daß keine italienische Regierung an ihm vorbeikam, während er es sich seinerseits mit den Leuten – wer immer es sein mochte – an den Schalthebeln der Macht in Rom nicht verderben durfte. Ein Teil dieses Machtfeldes war unterirdisch und geheim und wurde nur zu Krisenzeiten wie in den siebziger und achtziger Jahren teilweise sichtbar. In solchen Zeiten kehrte die italienische Politik zum Opernhaften oder zum Stil der Borgia zurück, zwischen endlosen Auseinandersetzungen, in denen es nicht so sehr darum ging, wer die Mörder der »cadaveri eccellenti«*, der erlauchten Leichen waren, sondern wer hinter ihnen stand, welche Verbindungen zu unauffälligen, aber einflußreichen Freimaurerlogen und zu den obskuren Projekten bestanden, die KPI von der politischen Macht fernzuhalten, nötigenfalls auch durch einen Militärputsch. In den neunziger Jahren brach dieses System zusammen. Das Ende des Kalten Kriegs beraubte das italienische Regime seiner einzigen Legitimation, und ein echter Aufstand der öffentlichen Meinung gegen die wirklich unglaubliche Habgier des sozialistischen Ministerpräsidenten und seiner Partei brach ihm das Kreuz. Bei den Wahlen von 1994 wurden alle Nachkriegsparteien hinweggefegt außer der KPI, die durch ihren nicht unberechtigten Ruf der Ehrlichkeit gerettet wurde, und den Neofaschisten, die ebenfalls in permanenter Opposition verharrt waren. Leider zeigten die neunziger Jahre hier wie anderswo, daß es zwar möglich war, ein schlechtes altes Regime zu zerstören, daß damit jedoch noch nicht die Bedingungen für die Schaffung eines besseren hergestellt wurden.

* So der Titel von Francesco Rosis Film (deutsch: Die Macht und ihr Preis) aus dem Jahr 1976 nach einem Roman des grandiosen sizilianischen Schriftstellers Leonardo Sciascia.

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III Was kann ein Autobiograph über ein Land sagen, das für ein halbes Jahrhundert ein Teil seines Lebens und das seiner Frau gewesen ist? Einige der Menschen, die uns ganz besonders nahestehen, sind oder waren Italiener. Wir sprachen italienisch zu Hause, wenn wir nicht wollten, daß die Kinder uns verstanden. Italien war gut zu uns, und wir verdanken ihm Freundschaft an wunderschönen Orten, immer neue Entdeckungen seiner schöpferischen Fähigkeit in Vergangenheit und Gegenwart und mehr von jenen seltenen Augenblicken der reinen Befriedigung darüber, am Leben zu sein, als Menschen im reifen Alter vernünftigerweise erwarten können. Es hat mir meine Themen als Historiker gegeben. Seine Leser waren mir gegenüber als Autor großherzig. Da ich jedoch der Meinung bin, daß das berufliche Sein des Historikers zum tieferen Verständnis eines Landes beiträgt, muß ich mich fragen, warum das Italien von Signor Berlusconi im Jahr 2002 nicht das Land ist, das ich fünfzig Jahre zuvor erwartet hatte. Wieweit bin ich in die Irre gegangen, weil ich nicht gesehen habe, auf welchem Weg Italien sich befand, da meine Beobachtung unzulänglich war oder voreingenommen, und wieweit lag es daran, daß der Weg Kurven aufwies, die man noch nicht absehen konnte? War es die Demokratisierung der Konsumgesellschaft, was die Kluft zwischen der Minderheit der Gebildeten und Intellektuellen, in deren Gesellschaft ältere Historiker sich gern bewegen, und der übrigen Bevölkerung erweiterte, die kaum die Tageszeitung las und pro Kopf weniger Geld für Bücher ausgab als alle anderen Länder der Europäischen Union bis auf die beiden ärmsten? Hat allein das hohe Tempo des wirtschaftlichen und damit des sozialen und kulturellen Wandels jede Prognose zuschanden werden lassen, in Italien wie anderswo? Sicherlich haben die wenigsten die Zeichen richtig gedeutet in jener von einem Putsch bedrohten Zeit der Angst und der Anspannung, den siebziger Jahren, als die KPI landesweit und in den Großstädten ihre größten Wahlerfolge verbuchen konnte. Wir haben nicht gesehen, daß der tiefgreifende industrielle Wandel den politischen Einfluß der KPI in der wirtschaftlichen Kernregion Italiens, dem Norden, in verhängnisvoller Weise geschwächt hatte: In den ehemaligen Montagehallen von FIAT in Turin findet inzwischen die jährliche Buchmesse statt. Die Partei erkannte nicht, daß sie nach 1968 ihr bedeutendstes politisches Kapital verloren hatte, nämlich die anerkannte Hegemonie über die italienische Linke und überhaupt über alle Kräfte der Opposition außer den Überresten des Faschismus. Das schmale Bändchen, das ich

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damals innerhalb kurzer Zeit zusammen mit Giorgio Napolitano schrieb, der zu jener Zeit dem Sekretariat der KPI angehörte, läßt nicht erkennen, daß es in dem Jahrzehnt geschrieben wurde, das in der Entführung und Ermordung des italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro durch die Roten Brigaden kulminierte, der gefährlichsten europäischen Terroristenbewegung der Linken.10 Was vielleicht am schlimmsten war, die Partei begann wie alle Bewegungen der Arbeiterklasse anderswo den Kontakt zu ihrem popolo communista zu verlieren, für das sie die Partei des Widerstands, der Befreiung und der sozialen Hoffnung, die Verteidigerin der Armen gewesen war. Schon in den siebziger Jahren sagten mir Freunde aus Turin: »Wir sind keine Bewegung mehr; wir werden zu einer ›Partei der Leitartikel‹ wie die anderen.« Wie hätte man mit den wachen, medienerfahrenen, ziemlich jungen Journalisten, die von der (mittlerweile angeschlagenen) Parteizeitung L’Unità aus telefonierten, über Politik in derselben Weise reden sollen wie mit der Journalistengeneration aus der Zeit der Partisanen und der Befreiung? Die Partei entdeckte, daß sie mit der geplanten Verjüngung ihrer Kader auch ihren Charakter verändert hatte. Während sie allmählich verfiel und mit ihrem Namen zu viel von einer großen Tradition aufgab, machte sie sich bereit, ihren Weg durch die neunziger Jahre im ungewissen Schatten ihrer jüngst improvisierten botanischen Logos – Eiche und Ölbaum – zu machen. Innerhalb von fünf Jahren nach Berlinguers Tod war die Berliner Mauer gefallen, und die KPI, die ihre Symbole und ihre Traditionen hinter sich gelassen hatte, strukturierte sich um und nannte sich jetzt etwas unbestimmt die Demokratische Linke (die übliche Rückzugsbezeichnung der alten Moskauer Kommunistischen Parteien), gegen eine erbitterte interne Opposition und die Abspaltung einer neuen Partei des Neugegründeten Kommunismus. So erwies es sich auf die Dauer als einfacher, Italien zu genießen, als es zu verstehen. Paradoxerweise wurde dies leichter, als die Republik die Ära ihrer Krise durchlebte. Wenn ich Italien in den achtziger Jahren als reine Privatperson betrachte, dann sehe ich eine Abfolge von öffentlichen Veranstaltungen und akademischen Unterhaltungen an Stätten, deren Vertrautheit ihnen nichts von ihrer Schönheit nahm, von Tagen mit Freunden, zumeist in der Gegend des Landhauses von Rosario und Anna Rosa Villari in der Toskana. Es war ein unwirkliches Land, in dem man sich nach dem Essen mit Freunden auf der Terrasse mit Blick auf das Val d’Orcia räkelte und der Stimme der Callas lauschte – »Casta Diva« –, die von einem Plattenspieler in einem Zimmer im ersten Stock kam.

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Inzwischen war das gesamte Italien der achtziger Jahre eine Art reductio ad absurdum des öffentlichen Lebens, die Ära einer leicht blutbefleckten Marx-Brothers-Politik. Während die Männer Craxis ehemalige »fortschrittliche Intellektuelle« kauften, führten sozialistische Minister mit High life-Ambitionen Starlets in Nachtlokale aus, wo ihre Rechnungen von der Geschäftsführung bezahlt wurden, die ein Interesse daran hatte, ihr Gefolge anzulocken; gewaltige staatliche Beihilfen nach gewaltigen Erdbeben lösten sich in Luft auf, die Finanzen des Vatikans waren in Unordnung, weil mit der Mafia in Verbindung stehende Bankiers sich verspekuliert hatten – einer von ihnen wurde vor nicht allzu langer Zeit unter der Blackfriars-Brücke in London erhängt aufgefunden –, und ein neapolitanischer Professor schaffte es, sich ein Hochschulinstitut in einem städtischen Palast einzurichten, nachdem er sich mit seinen Forschungen, von bedeutenden Kollegen begutachtet, einen Namen gemacht hatte – den Kollegen war nur entgangen, daß jedes seiner Bücher Wort für Wort eine sorgfältige Übersetzung aus deutschen Dissertationen darstellte. Meine lebhafteste Erinnerung an jene Jahre ist die an eine kurze Reise nach Rom, »Marxisch« in beiden Bedeutungen. Das italienische Fernsehen hatte mich gebeten, an einer Sendung mit dem Titel »Ein Abend mit Karl Marx« aus Anlaß des 100. Todestages des großen Mannes teilzunehmen. Die Veranstaltung hatte etwas Unwirkliches, auch wenn ich die Sendung selbst leider nie gesehen habe, so daß mir der Vortrag der Internationale durch die berühmte klassisch-moderne Sängerin Cathy Berberian entging. Im Innern einer riesigen Halle der RAI (Italienisches Fernsehen) hatte man um einen überlebensgroßen Kopf aus Pappmaché von Karl Marx, dessen Oberteil abnehmbar war, ein kunstvolles Bühnenbild aufgebaut. Aus diesem Kopf zog der Moderator, ein bekannter Komiker, von Zeit zu Zeit große Karten mit Aufschriften wie »Klassenkampf«, »Dialektik« und ähnliches. Man hatte auch eine Art Datscha auf einem Tschechowschen Landgut aufgebaut, auf deren Veranda ich zusammen mit dem inzwischen verstorbenen Lucio Colletti saß, einem brillanten Exkommunisten und Hochschullehrer, mit dem ich innerhalb von höchstens fünf Minuten die »Arbeitswertlehre« erläutern sollte, sobald die entsprechende Karte aus dem Kopf von Marx gezogen würde. Später unterstützte er Silvio Berlusconi, doch auch er selbst hätte das 1983 noch nicht wissen oder sich vielleicht vorstellen können. Ich weiß nicht, wie der übrige »Abend mit Karl Marx« verlaufen ist, denn ich brach auf und holte mir mein Honorar ab, das mir von einer

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jungen Staatsbediensteten in bar ausgezahlt wurde. Sie gab mir noch einen Rat mit auf den Weg: »Sie wissen, daß Sie nicht soviel Geld ausführen dürfen. Am besten ist es wohl, wenn Sie es zwischen die Hemden in Ihrem Koffer legen. Da wird sich niemand die Mühe machen nachzuschauen.« Ich habe Grund, mich an die neunziger Jahre gern zu erinnern. Il Secolo Breve (Das Zeitalter der Extreme) war in Italien ein beträchlicher Erfolg. Auf seine öffentliche Weise jagte das italienische Volk das korrupteste Regime in Europa aus dem Amt und fügte den Parteien der Republik des Kalten Kriegs eine vernichtende Niederlage zu. Wir waren selbst zur Zeit der Wahlen 1994 in Italien, bei denen die Parteien, die als Christliche Demokraten und Sozialisten angetreten waren, so stark dezimiert wurden, daß sie in einem Parlament mit 630 Sitzen nur noch mit 32 bzw. 15 Abgeordneten vertreten waren, ein Triumph, der bereits durch den – damals noch zweifelhaften – Sieg von Berlusconis Rechtskoalition befleckt war. Was freilich ihre alten Bewunderer besonders enttäuschte, wenn es auch nicht mehr unerwartet kam, war das Scheitern der einstigen KPI. Nachdem sie sich endlich in einer Position befand, ihren Platz an der Spitze einer fortschrittlichen demokratischen Regierung einzunehmen, war sie dieser Aufgabe nicht gewachsen. Während England, Frankreich und Deutschland von Regierungen der Linken regiert wurden, betrat Italien das neue Jahrtausend, indem es sich auf die erste eindeutige Regierung der Rechten seit dem Ende des Faschismus vorbereitete. Für die meisten Italiener ging das Leben weiter, wahrscheinlich zufriedenstellender als je nach dem wundersamsten halben Jahrhundert der Verbesserung in ihrer Geschichte. Aber würde man das auch vermuten, wenn man an das (zumindest in meinen Augen) vielleicht großartigste Buch denkt, das ein Italiener zu meinen Lebzeiten schrieb, Italo Calvinos wunderbaren Roman Die unsichtbaren Städte? (Ich sehe ihn noch vor mir, kurz vor seinem vorzeitigen Tod, auf seiner grünen Dachterrasse über dem Campo Marzio in Rom, mit einem skeptischen halben Lächeln in seinem dunklen Gesicht, voll Esprit und diskreter Gelehrtheit.) Darin geht es um Geschichten, die Kublai Khan, dem Kaiser von China, von Städten erzählt werden, teils real, teils imaginiert oder beides, denen Marco Polo auf seinen Reisen begegnet ist. Er spricht von der Stadt Irene, die nur von außen gesehen werden kann. Aber wie sieht sie von innen aus? Das hat kaum Bedeutung. »Irene ist der Name für eine Stadt aus der Ferne, und nähert man sich ihr, so wird sie eine andere.« Es geht auch um die »verheißenen, im Geiste besuchten, aber noch nicht entdeckten« Städte, die im Atlas des Groß-Khans

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enthalten sind: Utopia, der Sonnenstaat. Aber wir wissen nicht, wie wir dorthin gelangen oder sie betreten können. Doch was ist mit den Städten, die »von Alpträumen und Verwünschungen bedroht sind«, deren Namen wir ebenfalls kennen? »Und Polo: ›Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, was sein wird; gibt es eine, so ist es die, die schon da ist, die Hölle, in der wir tagtäglich wohnen, die wir durch unser Zusammensein bilden. Zwei Arten gibt es, nicht darunter zu leiden. Die eine fällt vielen recht leicht: die Hölle akzeptieren und so sehr Teil davon werden, daß man sie nicht mehr erkennt. Die andere ist gewagt und erfordert dauernde Vorsicht und Aufmerksamkeit: suchen und zu erkennen wissen, wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Bestand und Raum geben.‹«* Das war nicht der Geist, in dem meine Generation, einschließlich Calvino, das Italien sah, das sich gerade vom Faschismus befreit hatte.

* Zitate aus: I. Calvino, Die unsichtbaren Städte, München 1985, S. 145 und 191f.

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I 1962 gewährte mir die Rockefeller Foundation ein Reisestipendium nach Südamerika, wo ich dem Thema meines gerade erschienenen Buchs Primitive Rebels weiter nachgehen wollte, in einem Kontinent, in dem zu erwarten stand, daß »Sozialrebellen« in der Zeitgeschichte eine größere Rolle spielen würden als in Europa um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Es war die Zeit, als Stiftungen ihre Stipendiaten noch erster Klasse fliegen ließen, mit Fluglinien, deren Namen eine entschwundene Vergangenheit festhalten – Panam, Panair do Brasil, Panagra, TWA, auch wenn mit Ausnahme Perus die nationalen Fluggesellschaften anscheinend immer noch existieren. Etwa drei Monate lang in den Jahren 1962/63 habe ich in Südamerika die Runde gemacht – Brasilien, Argentinien, Chile, Peru, Bolivien, Kolumbien –, alles in diesem luxuriösen Stil, der einem Forscher über Bauernrevolten eigentlich schlecht ansteht. Es war der erste von zahlreichen Besuchen des kontinentalen Lateinamerikas in den folgenden Jahren, sowohl in Mexiko als auch in verschiedenen Teilen Südamerikas, eigentlich in allen seinen Ländern mit Ausnahme Guyanas und Venezuelas. Die vermutlich längste ununterbrochene Periode seit 1933, in der ich mich außerhalb Englands aufgehalten habe, waren die rund sechs Monate, die ich gemeinsam mit meiner Familie 1971 zwischen Mexiko und Peru damit verbracht habe, zu lehren, zu forschen und zu schreiben. Es ist ein Kontinent, auf dem ich viele Freunde und Schüler habe, mit denen ich seit vierzig Jahren verbunden bin, und in dem es mir, ohne daß ich die genauen Gründe wüßte, immer erstaunlich gut gegangen ist. Es ist der einzige Teil der Welt, in dem es für mich nichts Überraschendes war, ehemalige, gegenwärtige und zukünftige Präsidenten kennenzulernen. Der erste, den ich in seinem Amtszimmer aufsuchte, der trockene Victor Paz Estenssoro von Bolivien, zeigte mir sogar den Laternenpfahl auf dem Platz vor seinem Balkon in La Paz, an dem sein Vorgänger Gualberto Villaroel 1946 von aufständischen Indios aufgehängt worden war.

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Nach dem Sieg Fidel Castros und erst recht nach dem gescheiterten Versuch, ihn 1961 durch die Invasion in der Schweinebucht zu stürzen, gab es in Europa oder den USA keinen Intellektuellen, der nicht im Bann Lateinamerikas stand, eines Kontinents, in dem anscheinend die Lava der Sozialrevolution brodelte. Obwohl auch dies mich dort hinzog, war der Hauptgrund doch eher praktischer Natur, nämlich die Sprache. Historiker, die sich mit dem Leben gewöhnlicher Menschen beschäftigen, müssen in der Lage sein, mit ihnen mündlich zu verkehren, und Lateinamerika war der einzige Teil der sogenannten Dritten Welt, in dem eine große Zahl dieser Menschen Sprachen sprachen, die mir zugänglich waren. Denn es ging mir nicht einfach um eine geographische Region, sondern um eine wesentlich größere Unbekannte, das heißt 80 Prozent der Männer, Frauen und Kinder, die außerhalb der Zone lebten, die bis zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts primär von Menschen mit einer (sogenannten) weißen Hautfarbe bewohnt wurde. Während der ersten Hälfte meines Lebens wußten diese 80 Prozent nichts von der Welt, und von ein paar Tausend Individuen abgesehen, wußte umgekehrt die Welt praktisch nichts von ihnen. Nichts ist für jemanden in meinem Alter eindrucksvoller als die seit 1970 einsetzende außergewöhnliche Entdeckung der Ersten Welt durch die Völker der Dritten Welt oder – da diese Begriffe selbst der Zeit des Kalten Kriegs angehören – der Möglichkeit, daß arme Menschen ihr Leben zum Besseren wenden können, indem sie in die reichen Länder abwandern. Natürlich haben wir mit ganz seltenen Ausnahmen wie den Vereinigten Staaten seit den sechziger Jahren kein Interesse daran, daß sie kommen, selbst wenn wir sie brauchen. Eine Welt, die sich der freien globalen Bewegung aller gewinnverheißenden Produktionsfaktoren verschrieben hat, ist zugleich eine Welt, die entschlossen ist, die einzige Form einer Globalisierung zu unterbinden, die zweifellos von den Armen angestrebt wird, nämlich die Suche nach einer besser bezahlten Arbeit in den reichen Ländern. Wir haben uns so sehr an die Unmenschlichkeit des Jahrhunderts gewöhnt, daß wir keinen Unterschied mehr machen zwischen Flüchtlingen und den afghanischen und kurdischen Emigranten, die von Schleuserbanden in schwimmenden Särgen herantransportiert werden, ähnlich den italienischen und russischen Juden der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, die gerade entdeckt hatten, daß sie nicht dazu verurteilt waren, bis an ihr Lebensende in den paesi und den Schtetln ihrer Geburt zu schmachten. In den ersten vierzig Jahren meines Lebens war das schlichtweg anders. Die Sprache – nicht die »Nationalsprachen«, sondern das, was

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Menschen ohne jeden Schulbesuch wirklich sprachen, die dichten, lokal begrenzten Dialekte oder patois, die außerhalb eines Umkreises von vielleicht fünfzig Kilometern von keinem mehr verstanden wurden – isolierte die Menschen voneinander. Ihre fehlende elementare Bildung und mehr noch der fehlende Zugang zu Radio- und Fernsehgeräten sperrten sie von dem ab, was für uns »Nachrichten« sind, wenn auch nicht von dem einen oder anderen welterschütternden Ereignis. »Wo liegt England?« fragte mich ein mexikanischer Bauer noch in den siebziger Jahren, als ich ihm sagte, es sei das Land, aus dem ich käme. (Die erste Frage, die in allen Gesellschaften, die untereinander einen mündlichen Verkehr pflegen – so zum Beispiel Soldaten –, an Fremde gerichtet wird, lautet stets: »Wo kommst du her?«) Meine Erklärungen halfen nicht weiter. Wahrscheinlich hatte er auch noch nie etwas vom Atlantik gehört. Schließlich grenzte er meine Heimat auf eine Region ein, von der er schon einmal etwas gehört hatte: »Ist das irgendwo bei Rußland?« Ich sagte, nicht allzuweit davon entfernt. Damit gab er sich zufrieden. Damals waren Menschen mit dunkler Hautfarbe in »weißen« Ländern äußerst selten, abgesehen von der Anomalie der Afroamerikaner in den USA. Die Immigration aus lateinamerikanischen Ländern war so gering, daß bei der Volkszählung vor 1960 alle Lateinamerikaner in einer einzigen Kategorie erfaßt wurden, ohne zwischen verschiedenen Herkunftsländern zu unterscheiden. Dasselbe galt – abgesehen von europäischen Siedlern wie den Französischalgeriern (die in Wirklichkeit überwiegend spanischstämmig waren) und den jüdischen Kolonisten in Palästina – von den Weißen, die in Ländern mit einer überwiegend indigenen Bevölkerung lebten. Für gewöhnliche Weiße war es sehr unwahrscheinlich, daß sie im Lauf ihres normalen Lebens den multiethnischen Straßenszenen begegneten, wie sie heute für große westliche Städte typisch sind. Abgesehen von kleinen und untypischen Minderheiten gab es nur sehr wenige Weiße – sofern sie nicht im Ausland lebten –, die Menschen mit einer anderen Hautfarbe kannten oder gar mit ihnen befreundet waren. Vor den sechziger Jahren gehörten sie primär zwei Gruppen an: Christen (bei großzügiger Auslegung des Begriffs unter Einschluß der Quäker) und Kommunisten, die beide auf unterschiedliche Weise einen generellen emanzipatorischen und egalitären Abscheu gegenüber jeglichem Rassismus hegten. Und beide, aber vor allem die Marxisten, hatten aufgrund eines praktischen Antiimperialismus und des Potentials einer Revolution im Osten ein spezielles Interesse an der Geschichte des nichtweißen Teils der Menschheit. Das war es, was mich als Student in die »Kolonialgruppe« der Partei geführt und mich bewogen hatte, Nordafrika und schließlich Lateinamerika zu er-

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kunden. Und unsere »kolonialen« Freunde, in meinem Fall zumeist aus Südasien, eröffneten uns einen ersten Blick auf diese Welten. Erst wesentlich später erkannte ich, wie untypisch sie für ihre Gesellschaften waren. Diejenigen, die nach Cambridge, Oxford und zur London School of Economics gekommen waren, gehörten zur Elite der Eliten der »eingeborenen« Kolonialbevölkerungen, was bald nach der Entkolonialisierung offenbar wurde. Außerdem waren die meisten von ihnen finanziell wesentlich besser gestellt als wir. Sie waren Familienfreunde der Nehrus wie P.N. Haksar von der LSE, der in Primrose Hill für die Geheimhaltung der Verlobung Indira Nehrus mit Feroze Gandhi sorgte und als Beamter der mächtigste Mann im unabhängigen Indien war, als ich ihn 1968 in Neu-Delhi besuchte. Der Mann, der mich auf der Rollbahn vom Flugzeug abholte, war mein alter Freund vom King’s College, Mohan Kumaramangalam, bis vor kurzem noch Kommunist, dann Chef der Indian Airlines, der bald darauf der Minister sein sollte, der Frau Indira Gandhi vielleicht am nächsten stand, bis er 1973 bei einem Flugzeugunglück auf tragische Weise ums Leben kam. Seine jüngere Schwester Parvati, die Mohan in Cambridge besuchte, hatte inzwischen ihr Haar wieder wachsen lassen, war mit dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei verheiratet und saß im Parlament. Ein weiterer Bruder, auch in Eton zur Schule gegangen wie seine Brüder, jedoch kein Kommunist, war inzwischen Oberkommandierender der indischen Armee geworden. So viel zur sozialen und politischen Stellung der Familie Kumaramangalam aus Madras. Ähnlich lagen die Dinge bei den Sarabhais aus Ahmadabad, strenge Jainas, die kein Tier töteten, und sei es noch so winzig, und die ich durch Manorama kennenlernte, eine enge Freundin meiner ersten Frau aus den Tagen an der LSE, die Le Corbusier beauftragt hatte, ihr Haus zu bauen. Ihre Familie gehörte zu einer der großen, die Kongreßpartei unterstützenden Wirtschaftsdynastien der Gudscharaten, die ihre Textilbetriebe auf komplexere Produktbereiche umgestellt hatten. Am sichtbarsten waren sie wohl im kulturellen Bereich engagiert, doch ein Sarabhai wurde schließlich der Leiter des indischen Kernkraftprogramms. Während der ersten Generation der Unabhängigkeit wurden die Angelegenheiten Indiens mit einer Einwohnerzahl von mehreren hundert Millionen – im öffentlichen wie im privaten Sektor, in der Regierung und der Opposition –, von einem außergewöhnlich stark anglisierten, modern denkenden »Establishment« von rund 100 000 Personen aus den hochgebildeten (das heißt hauptsächlich wohlhabenden) Familien geführt, die zum Teil dem Raj gedient und zum Teil am Aufbau der Freiheitsbewegung mitgewirkt hatten. Das Bizarre an dieser Mischung zeigte sich bei

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einem Weihnachtsessen im Haus der rehäugigen Renu Chakravarty, damals Abgeordnete der KP – die Partei hatte sich noch nicht gespalten – und eine Frau von großem Einfluß in Kalkutta. Nach Schinken und Truthahn, zubereitet von Renus Cousin, dem Sekretär des Calcutta Club, der offenbar noch nicht vom Speisezettel der Zeit abgekommen war, als man noch keinen Inder in das Gebäude eingelassen hätte, es sei denn als Diener, folgten Biryani und schließlich Weihnachtspudding, ebenso vom Club zubereitet, und Betelnüsse zum Kauen. Selbst in der Sprache, die einige von ihnen zu Hause sprachen und mühelos lasen oder schrieben, waren sie anglisiert; ich hatte den Eindruck, daß nur die Bengalis unter ihnen und vielleicht einige der traditionelleren Muslimfamilien, deren radikale Sprößlinge die fortschrittlichen Dichter in der Urdusprache lasen (bewundert von meinen alten Freunden und Genossen Victor Kiernan und Ralph Russell), ihr geistiges Leben ausschließlich in der Landessprache lebten. Das ist alles – und es ist nicht besonders viel –, was man durch persönliche Freundschaft über eine Gesellschaft lernen kann. Freunde sind möglicherweise zu tief in ihr verwurzelt, um ihre Eigenarten zu erkennen, und ohnehin sind die Grenzen zwischen gesellschaftlichen Klassen ebenso wirkungsvoll wie solche der geographischen Distanz, der Kultur oder der Sprache. Als die Partei ihn an die Spitze der Straßenbahnergewerkschaft in Kalkutta und später der Jutearbeiter (West-)Bengalens stellte, mußte mein bewundernswerter Freund und Genosse vom King’s College, der verstorbene Indrajit (»Sonny«) Gupta, später Generalsekretär der Kommunistischen Partei und für kurze Zeit Innenminister, über die Arbeiterklasse Kalkuttas ebensoviel lernen wie ein Ausländer. Was ich aus solchen Freundschaften gelernt habe, die auf der antirassistischen Kameradschaft des studentischen Kommunismus beruhten, ist die Trennung des Gefühls von Gleichheit vom Bewußtsein der Haar- oder Hautfarbe, der körperlichen Erscheinung und der Kultur. Das globale Dorf der Wirtschaftsbeziehungen, der Wissenschaft, Technik und der Universitäten des 21.Jahrhunderts weist so viele Hautfarben auf, daß dies vielleicht heute kein Problem mehr ist – was leider noch bezweifelt werden muß. Bis etwa 1960 wurde das Gefühl rassischer Überlegenheit unter westlichen Weißen verstärkt durch das reine Gewicht westlicher Macht und westlicher Errungenschaften auf allen Gebieten mit Ausnahme einiger Künste. Zudem wurde vor allem von weißen Männern die reine körperliche Überlegenheit von Rassen, die allgemein als minderwertig galten, als psychische Kränkung empfunden und deshalb verdrängt und überkompensiert. Die israelischen Juden machten kein Hehl aus

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ihrer Verachtung gegenüber »den Arabern«, vor allem in der Zeit vor 1987, als deren Intifadas noch nicht die passive Hinnahme der israelischen Besetzung von palästinensischem Territorium durchbrochen hatten. Es war eine seltsame, aber lehrreiche Erfahrung, bei meinem Besuch der Araber der Westbank 1984 als einer der ihren behandelt zu werden, das einzige Mal, daß ich unter der Herrschaft eines fremden Militärs gelebt habe. Der enorme Vorzug des Kommunismus, vor allem wenn er durch Freundschaft verstärkt wurde, bestand darin, daß es unmöglich war, einen Genossen nicht als gleichrangig zu behandeln. Das offensichtliche Selbstbewußtsein der wenigen Privilegierten unter den farbigen »kolonialen« Eliten, die es auf eine der britischen Universitäten schafften, trug ebenfalls dazu bei. So wie ein Pferd spürt, wenn sein Reiter Angst hat, so spüren Menschen die Erwartung ihres Gegenübers, als minderwertig behandelt zu werden. Herrschende Klassen und Eroberer haben diese Erwartung der Überlegenheit seit jeher ausgenutzt. Meine »kolonialen« Freunde der Vorkriegszeit erwarteten nicht, als Unterlegene behandelt zu werden. Wie auch immer, bis zu dem Zeitpunkt, als ich 1938 von der Universität ein Stipendium für eine Reise nach Französisch-Nordafrika erhielt, war ich seit meiner Ausreise aus Ägypten als Baby in keiner der Regionen gewesen, die heute als Dritte Welt bezeichnet werden. Ich reiste in Tunesien und im Osten Zentralalgeriens, vom Mittelmeer bis zur Sahara, kam jedoch nie bis Westalgerien und Marokko. Unterwegs erwarb ich eine lebenslange Skepsis gegenüber Agrarstatistiken in solchen Gegenden, und zwar durch einen einsamen französischen Verwaltungsbeamten, der sich freute, mit einem gebildeten Besucher ins Gespräch zu kommen. (»Wenn die Regierung von mir eine Zählung des Viehbestands verlangt, mache ich nur oberflächliche Stichproben, weil das Vieh sonst in die Berge verschwinden würde. Dann sehe ich nach, was wir das letzte Mal durchgegeben haben, und setze eine Zahl ein, die überzeugend wirkt.«) Ich erwarb auch einen Respekt gegenüber den Bergen und Menschen der Kabylei und der Intelligenz und Bildung der französischen Maghrebisten und Islamisten, obwohl die meisten von ihnen, wie die britische Afrika-Anthropologie in jenen Tagen, ihrem Regime dienten. Ich lernte den Führer der kleinen Kommunistischen Partei Algeriens kennen, der nach 1939 in die Sahara exiliert und umgebracht wurde, jedoch nicht den damals bedeutendsten Revolutionär, Messali Hadj. Ich habe mich gelegentlich gefragt, ob ich ein besserer Historiker geworden wäre, wenn ich nach dem Krieg das Forschungsthema »Das Agrarproblem in Französisch-Nord-

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afrika« wieder aufgegriffen hätte, das ich von meinen Reisen mit zurückbrachte. Personen, die ich bewundere – der große Historiker Braudel, mein verstorbener Freund Pierre Bourdieu und der ebenfalls verstorbene Ernest Gellner – haben im Maghreb gearbeitet und daraus Anregungen bezogen, und ich kann verstehen warum. Aber hätte ich es wirklich getan, so hätten die wenigsten davon Notiz genommen. Mit der eigenartigen Ausnahme Schwarzafrikas hatte das Ende der Kolonialreiche eine Amnesie über ihre Geschichte zur Folge, die eine ganze Generation befiel. Außerdem hat der blutige Algerienkrieg der fünfziger Jahre und die bitter enttäuschende weitere Entwicklung des unabhängigen Algeriens dieses Forschungsfeld ins Abseits gedrängt. Nur nebenbei sei bemerkt, daß die Zukunft Tunesiens unter seinem Präsidenten Habib Bourguiba 1938 bereits erkennbar war, während es 1938 in Algerien keinerlei Anhaltspunkte gab, die jene Kraft hätte vermuten lassen, die das Land schließlich befreien sollte, den FLN (Front der nationalen Befreiung). II Die Revolution Fidel Castros 1959 löste einen plötzlichen Anstieg des Interesses an allem aus, was mit Lateinamerika zu tun hatte, einer Region, über die viel geredet wurde, aber über die es außerhalb der beiden Amerikas kaum konkrete Kenntnisse gab. Von seltenen Ausnahmen abgesehen, lebten die dort ansässigen Europäer im Unterschied zu den dortigen spanischen Flüchtlingen und Nordamerikanern in ihrer eigenen Welt, wie beispielsweise meine chilenischen Verwandten, die keine Mischehen eingingen und sich noch immer als englische Expatriierte oder zumindest als europäische Flüchtlinge verstanden. (Ich glaube, alle meine fünf Cousins verbrachten den Zweiten Weltkrieg im Dienst für ihr Land in britischen Uniformen.) Da der Kontinent entkolonialisiert worden war, fehlte hier eine umfangreiche intelligente und dokumentierte Literatur, wie sie von Kolonialbeamten erstellt wurde, deren Aufgabe es war, die Länder zu verstehen, um sie effizient regieren zu können. Wie die Erfahrung lehrt, sind Gemeinschaften von expatriierten Geschäftsleuten denkbar ungeeignet als Informationsquellen über die jeweiligen Länder, in denen sie tätig sind, auch wenn die Engländer unter ihnen die Fußballvereine gegründet haben, in denen der südamerikanische Patriotismus seinen stärksten Ausdruck gefunden hat. Lateinamerika war damals von der Alten Welt weiter entfernt als von

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jedem anderen Teil des Globus – aber natürlich nicht von der imperialen Macht im Norden, die ihre technisch unabhängigen Satelliten überwachte. Die beiden Weltkriege erlebte es lediglich als etwas, das ihm einen wirtschaftlichen Aufschwung bescherte. Es durchlebte das mörderischste Jahrhundert von allen mit nur einem einzigen internationalen Krieg auf seinem Territorium (dem Chaco-Krieg 1932-1935 zwischen Bolivien und Paraguay), allerdings nicht ohne erhebliches internes Blutvergießen. Als Kontinent mit einer einzigen Religion war Lateinamerika bislang von der weltweiten Epidemie des sprachlichen, ethnischen und konfessionellen Nationalismus verschont geblieben. Lateinamerika war nicht leicht zu fassen. Als ich den Kontinent 1962 zum ersten Mal besuchte, befand er sich in einer der periodisch wiederkehrenden Phasen des expansiven wirtschaftlichen Selbstvertrauens, das die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika artikulierte. Dieses Expertengremium mit Sitz in Santiago de Chile unter dem Vorsitz eines argentinischen Bankiers empfahl eine Politik der geplanten, staatlich geförderten und weitgehend staatseigenen Industrialisierung und der Substitution von Importgütern zur Erzielung von wirtschaftlichem Wachstum. Das schien zu funktionieren, vor allem im riesigen, inflationsgeschüttelten, aber boomenden Brasilien. Es war die Zeit, als Juscelino Kubitschek de Oliveira, der in der Tschechoslowakei geborene Staatspräsident, die Erschließung des riesigen Binnenlandes in Angriff nahm, indem er dort eine neue Hauptstadt erbauen ließ. Entworfen wurden seine öffentlichen Gebäude größtenteils vom bedeutendsten Architekten des Landes, Oscar Niemeyer, einem bekannten Mitglied der mächtigen, aber verbotenen Kommunistischen Partei, der, wie er mir erzählte, während der Arbeit an seinen Entwürfen Engels im Sinn gehabt hatte. Lateinamerikas wichtigste Länder befanden sich außerdem in einer der gelegentlichen Phasen auf dem Kontinent, in denen – nicht mehr lange – eine konstitutionelle Zivilregierung an der Macht war. Der caudillo oder persönliche Häuptling alten Typs war allerdings bereits im Verschwinden begriffen – zumindest außerhalb der Karibik. Die Regimes der Folterer sollten aus Kollektiven von gesichts- und zumeist farblosen Offiziere bestehen. In Südamerika gab es damals nur ein einziges Land mit einer Militärdiktatur, das ungewöhnlich altmodische Paraguay unter dem ewigen General Stroessner, ein häßliches Regime, das geflohene Nazis freundlich aufnahm, in einem entwaffnend schönen und bezaubernden Land, das weitgehend vom Schmuggel lebte. Graham Greenes anrührender Roman Der Honorarkonsul ist eine ausgezeichnete Einführung in dieses Land. Vielleicht stehe ich ihm etwas übertrieben

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wohlwollend gegenüber, denn es war der einzige lateinamerikanische Staat, der eine indianische Sprache, das Guaraní, offiziell anerkannte. Außerdem habe ich bei einem Besuch einige Jahre später festgestellt, daß mein Name dem Herausgeber der etwas unerwarteten Revista Paraguaya de Sociologica, die dort erschien, als Autor von Rebeldes Primitivos geläufig war. Welchem Wissenschaftler würde es nicht schmeicheln, in Paraguay bekannt zu sein? Niemand, der Südamerika entdeckt, kann der Region widerstehen, erst recht nicht, wenn er als erstes mit den Brasilianern in Berührung kommt. Doch davon einmal abgesehen, was an seinen Ländern sofort ins Auge sprang, war weniger seine eklatante wirtschaftliche Ungleichheit, die seither nur noch zugenommen hat, als die enorme Kluft zwischen seinen herrschenden und intellektuellen Klassen, mit denen reisende Akademiker in Kontakt kamen, und der einfachen Bevölkerung. Die Intellektuellen, zumeist aus besseren oder »guten« – überwiegend weißen – Familien waren kultiviert, weitgereist und sprachen Englisch und (noch) Französisch. Wie so oft in der Dritten Welt (der die Argentinier sich um keinen Preis zurechnen lassen wollten), bildeten sie auf dem gesamten Kontinent die schmalste soziale Schicht, denn in ihrem Denken – anders als der künstliche Begriff »Europa« in den Köpfen der Bewohner des alten Kontinents – war Lateinamerika eine ständige Realität. Sofern sie in der Politik waren, hatten die meisten von ihnen eine Zeitlang als Exilanten in einem anderen lateinamerikanischen Land gelebt oder hatten mit mehreren anderen zusammen das Kuba Castros besucht; waren es Akademiker, hatten sie vielleicht als Mitglieder eines multinationalen Gremiums eine gewisse Zeit in Santiago, Rio oder Mexiko verbracht. Da diese Schicht zahlenmäßig sehr klein war, kannten sich ihre Angehörigen untereinander persönlich oder vom Hörensagen. Das war der Grund, warum 1962 ein Besucher wie ich, der von Anfang an von einem Kontakt zum nächsten weitergereicht wurde, das für ihn Wissenswerte sehr schnell von Personen erfahren konnte, deren Namen in Europa nichts bedeuteten, die jedoch in Lateinamerika als Intellektuelle oder öffentliche Personen eine zentrale Rolle spielten. Doch allein die Tatsache, daß diese Menschen sich in einer Welt bewegten, die ihnen nicht weniger vertraut war als New York, Paris und fünf oder sechs lateinamerikanische Hauptstädte, trennte sie von der Welt, in der die meisten – dunkelhäutigeren und mit weniger guten Beziehungen ausgestatteten – Lateinamerikaner damals lebten. Außerhalb des bereits urbanisierten »Südzipfels« (Argentinien, Uruguay und Chile) strömten diese Menschen vom Land in die Elends-

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viertel der explodierenden Großstädte und brachten ihre ländlichen Gewohnheiten mit. In den zehn Jahren, bevor ich dorthin kam, hatte sich die Einwohnerzahl São Paulos verdoppelt. Sie ließen sich an städtischen Berghängen nieder, so wie sie auf dem Land ungenutzte Ecken der riesigen Landgüter bearbeitet hatten, und bauten Unterkünfte und Schutzhütten, aus denen im Lauf der Zeit richtige Häuser wurden, wie sie es in ihren Dörfern gemacht hatten, mit der gegenseitigen Hilfe von Nachbarn und Verwandten, denen man mit einer Party Dank abstattete. Auf den Straßenmärkten von São Paulo, im Schatten der neuen Hochhäuser, kauften die Massen aus dem ausgedörrten Hinterland des Nordostens Hemden und Jeans auf Raten und die billigen illustrierten Heftchen mit Balladen über die großen Banditen ihrer Region. Die Heftchen, die ich damals gekauft habe, besitze ich heute noch. Im peruanischen Lima gab es bereits Rundfunksender, die Programme auf Quechua brachten – in den frühen Morgenstunden, wenn die Weißen noch in ihren Betten lagen –, für die indianischen Zuwanderer aus den Bergen, die inzwischen so zahlreich waren, daß sie trotz ihrer Armut einen Markt darstellten. Der große Schriftsteller, Volkskundler und Indianist José Maria Arguedas nahm mich in eines dieser Tingeltangel mit, die sonntagmorgens von den Hochlandindianern besucht wurden, um Liedern und Witzen über »daheim« zuzuhören. (»Jemand da aus Ancash? Jetzt hören wir was für die Jungen und Mädchen aus Huanuco!«) 1962 schien es fast undenkbar, daß ich dreißig Jahre später den Sohn eines dieser Männer bei seiner Doktorarbeit an der New School in New York betreuen sollte. Es ist etwas Außergewöhnliches, mit der ersten Generation in der schriftlich überlieferten Geschichte gelebt zu haben, in der ein armer Bursche mit einer analphabetischen Frau aus einem quechuasprechenden Dorf in den Hochanden ein gewerkschaftlich organisierter Krankenwagenfahrer werden konnte, nachdem er sich das Lastwagenfahren beigebracht hatte, und auf diese Weise in der Lage war, seinen Kindern die Welt zu öffnen. Ich besitze noch seinen langen Brief in der bedächtigen Handschrift und der sorgfältigen spanischen Orthographie des Autodidakten. Auch wenn sein Leben nach unseren Maßstäben hart war, nach den Begriffen der Massen von Taglöhnern, Straßenverkäufern und Armen aller Art hatte er es nach ganz oben geschafft. Die Menschen, die in die Großstadt kamen, waren zumindest auf der Straße sichtbar. Die Menschen auf dem Land wurden von den bürgerlichen Schichten durch eine geographische und eine soziale Distanz gleich zweifach ferngehalten. Selbst für diejenigen, die ein besonderes Interesse daran hatten, mit dieser Schicht in eine möglichst enge

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Berührung zu kommen, erwiesen sich die Unterschiede in der Lebensweise und des mit ihr verbundenen Lebensstandards als ein fast unüberwindliches Hindernis. Es gab nur wenige Experten von außerhalb, die tatsächlich unter den Bauern lebten, wenn es auch viele gab, die einen relativ guten Kontakt zur Landbevölkerung hatten. Zu diesen gehörten natürlich die allgegenwärtigen Forscher der verschiedenen internationalen Organisationen, die mit den Vereinten Nationen zu tun hatten. Am weitesten entfernt von den wirklichen Verhältnissen auf dem Land waren jene Ausländer, die ihre Kenntnisse von der intellektuellen Linken des Landes oder aus der internationalen Presse bezogen. Die einen neigten wie so oft dazu, politische Agitation und die Hoffnungen der Fidelistas mit Informationen zu verwechseln, die anderen begnügten sich mit dem, was auf den Schreibtisch ihres Chefredakteurs in der Hauptstadt gelangte. Als ich zum ersten Mal nach Südamerika kam, handelte die wichtigste »Bauerngeschichte«, wenn es denn eine gab, von den ligas camponesas, den Kleinbauernverbänden in Brasilien, eine Bewegung, die 1955 unter der Führung von Francisco Julião ins Leben gerufen worde, einem Anwalt und Lokalpolitiker aus dem Nordosten, der mit Sympathieerklärungen für Castro und Mao die Aufmerksamkeit von US-Journalisten auf sich gezogen hatte. (Zehn Jahre später lernte ich ihn persönlich kennen, ein kleiner, trauriger, verwirrter Mann, der vom brasilianischen Militärregime verbannt worden war und unter dem Schutz des theatralischen mitteleuropäischen Ideologen Ivan Illich in Cuernevaca, Mexiko, lebte.) Einige Stunden in ihren Büros in Rio Ende 1962 ergaben, daß die Bewegung auf nationaler Ebene kaum präsent war und ihren Zenith offensichtlich bereits überschritten hatte. Dagegen waren die beiden großen südamerikanischen Bauernunruhen, die keinem Beobachter von außerhalb nach ein paar Tagen in den betreffenden Ländern entgehen konnten, praktisch undokumentiert und der Außenwelt Ende 1962 so gut wie unbekannt. Es waren die großen Bauernbewegungen im Hoch- und Grenzland von Peru und der »Zustand der Desorganisation, des Bürgerkriegs und der lokalen Anarchie«, in den Kolumbien seit der Implosion einer potentiellen Sozialrevolution durch einen spontanen Aufruhr verfallen war, der 1948 durch die Ermordung eines im ganzen Land berühmten Volkstribunen, Jorge Eliezer Gaitán, ausgelöst worden war.1 Dennoch fanden diese Dinge nicht immer völlig jenseits der Außenwelt statt. Die breite Bewegung der bäuerlichen Landbesetzungen erreichte ihren Höhepunkt in Cuzco, wo selbst Touristen, die keine Lokalzeitungen lasen, wenn sie in der kalten dünnen Luft der Hoch-

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landabende in der Nähe der Inkabehausungen spazierengingen, die endlosen schweigenden Kolonnen indianischer Männer und Frauen vor den Büros des Bauernverbandes beobachten konnten. Der dramatischste Fall einer erfolgreichen Bauernrevolte in jenen Tagen, in den Tälern von La Convención, ereignete sich flußabwärts von den Wundern Machu Picchus, die schon damals allen Touristen in Südamerika bekannt waren. Nur ein paar Dutzend Kilometer mit der Eisenbahn von dieser großen Inka-Anlage entfernt bis zum Ende der Strecke und einige weitere Stunden auf der Ladefläche eines Lastwagens brachten den Reisenden zur Provinzhauptstadt Quillamba. Ich verfaßte darüber einen der ersten Berichte von außen. Für einen Historiker, der die Augen offenhielt, vor allem einen Sozialhistoriker, waren diese ersten, fast zufälligen Impressionen eine plötzliche Offenbarung, ähnlich wie der Anblick der Schatzkammer im Goldmuseum in Bogotá für meinen achtjährigen Sohn, als ich ihn etliche Jahre später dorthin mitnahm. Wie hätte man diesen unbekannten und doch historisch vertrauten Planeten nicht erkunden wollen? Meine vollständige Bekehrung erfolgte ein bis zwei Wochen später auf den riesigen Straßenmärkten Boliviens, zwischen den endlos ansteigenden Reihen von Verkaufsständen, die von untersetzten Aymara-Bäuerinnen mit Bowlern auf den schweren geflochtenen Haaren beaufsichtigt wurden. Ohne Möglichkeit, nach Potosí zu gelangen, verbrachte ich Weihnachten mit einem anderen kurzfristigen Alleinreisenden, einem französischen UN-Experten auf dem Gebiet der Dorferschließung, größtenteils in einer Hotelbar in La Paz. Wir tranken zusammen, und er erzählte, ohne Pause, leidenschaftlich, eben so, wie ein Mann nach einem Arbeitsaufenthalt in den winterkalten Dörfern des Altiplano dankbar seine Erlebnisse bei dem einzig ansprechbaren und willigen Zuhörer anbringt. Es war ein intellektuell wie alkoholisch ergiebiges Weihnachtsfest, wenn auch etwas die feriale Stimmung fehlte. Den anschließenden Neujahrstag verbrachte ich in Bogotá. Kolumbien war ein Land, von dessen Existenz außerhalb Lateinamerikas kaum jemand Notiz zu nehmen schien. Das war meine zweite große Entdeckung. Auf dem Papier das Musterbild einer repräsentativen konstitutionellen Zweiparteiendemokratie, in der Praxis fast vollständig immun gegen Militärputsche und Diktaturen, wurde das Land nach 1948 zur Schlachtbank Lateinamerikas. Zu dieser Zeit erreichte Kolumbien eine Rate von über 50 Tötungsdelikten auf 100 000 Einwohner, obwohl selbst diese Zahl verblaßt vor der Tötungsbereitschaft der Kolumbianer am Ende des 20. Jahrhunderts.2 Während ich dies schreibe, liegen die vergilbten Zeitungsausschnitte aus den damaligen

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Lokalzeitungen vor mir auf dem Tisch. Sie machten mich mit dem Begriff genocidio vertraut, den die kolumbianischen Journalisten verwendeten, um die kleinen Massaker in bäuerlichen Siedlungen und an Busfahrgästen zu beschreiben – 16 Tote hier, 18 dort, 24 anderswo. Wer waren die Täter, und wer waren die Opfer? »Ein Sprecher des Kriegsministeriums sagte, . . . es könnten keine genaueren Angaben über die Täter gemacht werden, da die Bezirke [veredas] jener Zone [im Departement Santander] regelmäßig von einer Serie von ›Vendettas‹ zwischen den Parteigängern traditioneller politischer Gruppierungen betroffen seien«, nämlich der Liberalen und der Konservativen Partei, und wie die Leser von García Márquez wissen, gehörte jedes kolumbianische Baby kraft seiner Familie und ihrer lokalen Loyalität mit dem Tag seiner Geburt einer von beiden an. Die Welle des Bürgerkriegs, die sogenannte Violencia, hatte 1948 begonnen, war offiziell lange beendet und hatte dennoch in diesem »ruhigen Jahr« fast 19 000 Opfer gefordert. Kolumbien war und ist der Beweis dafür, daß eine allmähliche Reform im Rahmen einer liberalen Demokratie nicht die einzige oder gar die überzeugendste Alternative zu sozialen oder politischen Revolutionen ist, einschließlich derer, die scheitern oder abgebrochen werden. Ich entdeckte ein Land, in dem das Unvermögen, eine Sozialrevolution zu bewerkstelligen, die Gewalt zum konstanten, universellen und allgegenwärtigen Kern des öffentlichen Lebens gemacht hatte. Was La Violencia eigentlich genau war oder um was es dabei ging, war alles andere als klar, auch wenn ich immerhin das Glück hatte, genau zu der Zeit dorthin zu kommen, als die erste größere Untersuchung dieser Gewaltwelle veröffentlicht wurde; einem der Autoren, mit dem ich befreundet bin, dem Soziologen Orlando Fals Borda, verdanke ich meine erste Einführung in die Probleme Kolumbiens.3 Damals habe ich dem Umstand noch keine allzu große Aufmerksamkeit geschenkt, daß der bedeutendste Forscher zum Thema der Violencia ein katholischer Monsignore war und daß gerade eine bahnbrechende Forschungsstudie über ihre sozialen Auswirkungen von einem auffallend gutaussehenden jungen Priester, dem Jesuitenpater Camilo Torres, aus einem der Gründungsclans des Landes erschienen war. Wie es hieß, war er ein großer Herzensbrecher unter den jungen Frauen der Oligarchie. Es war kein Zufall, daß die Konferenz lateinamerikanischer Bischöfe, aus der einige Jahre später die sozial radikale Befreiungstheologie hervorging, in der hügeligen kolumbianischen Stadt Medellín in der Zentralkordillere abgehalten wurde, damals noch wegen ihrer Textilindustrie und noch nicht wegen des Drogenhandels bekannt. Ich führte einige

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Gespräche mit Torres, und nach meinen damaligen Aufzeichnungen zu urteilen nahm ich seine Behauptungen sehr ernst, aber er war noch weit von dem sozialen Radikalismus entfernt, der ihn drei Jahre später bewog, sich den neuen Fidelista-Guerillas der Nationalen Befreiungsarmee anzuschließen, die noch immer existiert. Inmitten der Violencia hatte die Kommunistische Partei Zonen einer »bewaffneten Selbstverteidigung« oder »unabhängige Republiken« gebildet, als Zufluchtsstätten für Bauern, die den Mörderbanden der Konservativen und gelegentlich auch der Liberalen aus dem Weg gehen wollten. Im Lauf der Zeit wurden sie die Stützpunkte der mächtigen Guerillabewegung der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia; Bewaffnete Kräfte der kolumbianischen Revolution). Die bekanntesten »befreiten« Gebiete dieser Art, Tequendama und Sumapaz, lagen in Luftlinie überraschend nahe an Bogotá, doch da es ein gebirgiges Land ist, war die Strecke zu Pferd und mit Maultieren sehr langwierig und mühsam. Viotà, ein Bezirk von Kaffee-Haciendas, aus dem sich die Grundbesitzer zurückgezogen hatten, nachdem sie in den Jahren der Reform nach 1930 von den Bauern enteignet worden waren, mußte überhaupt nicht kämpfen. Selbst die Soldaten hielten sich fern, während der Distrikt alle seine Angelegenheiten unter der Aufsicht des politischen Kaders (ein ehemaliger Brauereiarbeiter) regelte, den die Partei hierhergeschickt hatte, und verkaufte seinen Kaffee friedlich durch die üblichen Händler auf dem Weltmarkt. Die Berge von Sumapaz, Grenzgebiet für freie Männer und Frauen, befanden sich unter der Herrschaft eines einheimischen Führers vom Land, einer jener seltenen bäuerlichen Begabungen, die dem Schicksal entging, das der Dichter Thomas Gray in seiner berühmten »Elegie auf einem Dorfkirchhof« besungen hat, nämlich »ein stummer, ruhmloser Milton [zu sein] . . . ein Cromwell, unschuldig am Blut seines Landes«. Denn Juan de la Cruz Varela war alles andere als stumm und friedfertig. Im Verlauf seiner wechselvollen Karriere als Häuptling von Sumapaz machte er sich einen Namen als Liberaler, Anhänger von Gaitán, Kommunist, Führer seiner eigenen bäuerlichen Bewegung und als Revolutionärer Liberaler, doch jedesmal fest an der Seite des Volkes. Entdeckt von einem dieser großartigen Dorfschullehrer, den eigentlichen Beförderern der Emanzipation des größten Teils des Menschengeschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, war er zu einem Leser und zugleich zu einem praktischen Denker geworden. Seine politische Bildung entnahm er einem Exemplar von Victor Hugos Les Misérables, das er überallhin mit sich führte und in dem er alle Stellen angestrichen hatte, die auf seine eigene oder die politische Situation besonders gut zu passen schienen. Meine Freun-

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din Rocío Londoño, die während ihres Forschungsaufenthalts am Birkbeck College an seiner Biographie arbeitete, erbte sein Exemplar und seinen übrigen schriftlichen Nachlaß. Soweit er etwas vom Marxismus in sich aufnahm, geschah dies wesentlich später, durch die Schriften eines heute vergessenen englischen Geistlichen und UdSSR-Schwärmers, des verstorbenen Hewlett Johnson, Dekan von Canterbury (der regelmäßig mit dem Erzbischof verwechselt wird). Er hatte sie anscheinend von kolumbianischen Kommunisten bekommen, deren Glauben an eine Agrarrevolution ihm zusagte. Lange Zeit als eine Person von Macht und Einfluß akzeptiert, deren Gebiet außerhalb der Reichweite von Regierungstruppen lag, vertrat er deren Idee im Kongreß. Sumapaz blieb auch nach seinem Tod dem Zugriff der Hauptstadt entzogen. Bei seiner Beerdigung, der Rocío beiwohnte, wurde er durch eine Vorführung seiner bewaffneten Reiter geehrt. Die ersten Verhandlungen über einen Waffenstillstand zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC sollten im Hinterland seines Territoriums stattfinden. Die FARC selbst, die zur bedeutendsten und dauerhaftesten der lateinamerikanischen Guerillabewegungen werden sollten, existierten noch nicht, als ich zum ersten Mal nach Kolumbien kam, auch wenn ihr langjähriger militärischer Führer Pedro Antonio Marín (»Manuel Marulanda«), ebenfalls ein einheimischer Mann vom Land, bereits in den Bergen aktiv war, die an das alte Bollwerk kommunistischer Bauernagitation und Selbstverteidigung in Südtolima angrenzten.4 Sie wurden erst gegründet, nachdem die kolumbianische Regierung, die gegen die Kommunisten die neuen, von US-Experten entwickelten Methoden der Guerillabekämpfung erprobte, die Kämpfer aus ihrer Hochburg in Marquetalia vertrieben hatte. Einige Jahre später, um die Mitte der achtziger Jahre, sollte ich mehrere Tage an der Geburtsstätte der kommunistischen Guerillaaktivität in dem Kaffee anbauenden municipio von Chaparral, im Haus meines Freundes Pierre Gilhodès verbringen, der eine Frau aus dem Ort geheiratet hatte. Die FARC, stärker denn je, waren immer noch in den Bergen über der Stadt, die man seit einigen Jahren von Bogotá aus leicht im Auto erreichen konnte und die inzwischen mit der Außenwelt so eng verbunden und so wohlhabend geworden war, daß in dem Zeitungskiosk an der plaza auch die Zeitschrift Vogue auslag. Die Saumpfade und Fußwege führten noch immer in steilen Rinnen hinauf in die Berge. Es war eine stille Landschaft, in der aus naheliegenden Gründen Verschwiegenheit das oberste Gebot war. Die Bauern von Chaparral standen im Begriff, das wirtschaftliche Potential des Mohnanbaus zu entdecken, hatten damit jedoch vermutlich noch nicht begonnen.

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Wie ich nach meiner Rückkehr schrieb, erlebte Kolumbien »die größte Mobilisierung bewaffneter Bauern (als Guerillas, Banditen oder Selbstverteidigungsgruppen) in der gegenwärtigen Geschichte der westlichen Hemisphäre, ausgenommen vielleicht einige Episoden der Mexikanischen Revolution«.5 Merkwürdigerweise wurde diese Tatsache von der damaligen Linken in Südamerika oder außerhalb entweder nicht bemerkt oder heruntergespielt (deren guevaristische GuerillaVersuche spektakulär fehlschlugen), das letztere aus dem vorgeblichen Grund, weil dieser Umstand mit einer orthodoxen Kommunistischen Partei zusammenhing, in Wirklichkeit jedoch weil diejenigen, die dem Modell der kubanischen Revolution folgten, nicht sahen oder nicht sehen wollten, was lateinamerikanische Bauern tatsächlich dazu bewog, zu den Waffen zu greifen. III Es war nicht schwer, in den frühen sechziger Jahren Lateinamerikaexperte zu werden. Der Triumph Fidel Castros löste ein enormes Interesse an der Region aus, die außerhalb der Vereinigten Staaten in der Presse und an den Hochschulen kaum Beachtung gefunden hatte. Ich hatte ursprünglich nicht beabsichtigt, mich mit der Region intensiver zu beschäftigen, auch wenn ich in den sechziger und frühen siebziger Jahren Vorlesungen darüber hielt und in der New York Review of Books und anderswo darüber schrieb, die (erste) spanische Ausgabe meiner Primitive Rebels um Anhänge über die peruanische Bauernbewegung und die kolumbianische Violencia erweiterte und 1971 ein Sabbatical en famille damit verbrachte, eingehender über die Bauern Mexikos und Perus zu forschen. Ich reiste auch weiterhin jedes Jahrzehnt mehrmals in diesen Kontinent, hauptsächlich nach Peru, Mexiko und Kolumbien, gelegentlich auch nach Chile, vor und während der Regierung Allendes sowie nach dem Ende der Ära Pinochet. Und natürlich habe ich gar nicht erst versucht, der außerordentlichen Dramatik und Farbe jenes Kontinents zu widerstehen, auch wenn sich dort einige der unwirtlichsten Regionen unseres Planeten befinden – der Altiplano in den Hochanden, an den Grenzen der Kultivierbarkeit, die kakteenübersäte Halbwüste Nordmexikos und einige der unbewohnbarsten Riesenstädte der Welt – Mexiko und São Paulo. Im Lauf der Jahre gewann ich gute Freunde wie die Gasparians in Brasilien, Pablo Macera in Peru und Carlos Fuentes in Mexiko sowie Studenten und Kollegen, mit denen ich mich anfreundete. Kurzum, ich wurde auf Lebenszeit zu Lateinamerika bekehrt.

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Dennoch habe ich nie versucht, Lateinamerikaexperte zu werden, und habe mich auch nie so gesehen. Wie für den Biologen Darwin war für mich als Historiker die Offenbarung Lateinamerikas nicht regional begrenzt, sondern allgemein. Es war ein Laboratorium des historischen Wandels, der meist anders kam, als man es erwartet hätte; ein Kontinent, dazu geschaffen, konventionelle Wahrheiten zu erschüttern. Es war eine Region, in der die historische Entwicklung im Eiltempo ablief und dabei innerhalb der halben Lebensspanne einer einzigen Person beobachtet werden konnte, von der ersten Abholzung von Wäldern für landwirtschaftliche Betriebe und Viehzüchter bis zum Untergang der Kleinbauern, vom Aufstieg und Fall der für den Weltmarkt bestimmten landwirtschaftlichen Erzeugnisse bis zur Explosion gigantischer Städte wie die Megalopolis von São Paulo, wo man eine Mischung von Einwanderergruppen finden konnte, die sogar noch unwahrscheinlicher war als in New York – Japaner und ehemalige Okinawaner, Kalabreser, Syrer, argentinische Psychoanalytiker und ein Restaurant, das sich stolz »Churrasco tipico Norkoreano« (»Typisch nordkoreanisches Steakhaus«) nannte. Es war ein Kontinent, auf dem zehn Jahre genügten, um die Einwohnerzahl Mexikos zu verdoppeln und die Indianer, die in ihrer traditionellen Kleidung das Stadtbild Cuzcos bestimmt hatten, durch Passanten zu ersetzen, die überwiegend westliche (»cholo«-)Kleidung trugen. Lateinamerika änderte zwangsläufig meinen Blick auf die Geschichte der übrigen Welt, und sei es auch nur, indem es die Grenze zwischen der »entwickelten« und der »Dritten« Welt, der Gegenwart und der historischen Vergangenheit auflöste. Wie in García Márquez’ großem Roman Hundert Jahre Einsamkeit, in dem jeder, der mit Kolumbien vertraut ist, das Magische und das Realistische wiedererkennt, zwang es den Betrachter, in das auf den ersten Blick Unwahrscheinliche einen Sinn zu bringen. Es lieferte etwas, was mit »kontrafaktischen« Spekulationen nie erreicht werden kann, nämlich eine reale Reihe von alternativen Resultaten historischer Situationen: rechtsstehende Anführer, die Arbeiterbewegungen ins Leben rufen (Argentinien, Brasilien), faschistische Ideologen, die ein Bündnis mit einer linken Bergarbeitergewerkschaft eingehen, um eine Revolution zur Verteilung von Boden an die Kleinbauern zu machen (Bolivien), der einzige Staat in der Welt, der wirklich und wahrhaftig seine Armee abgeschafft hat (Costa Rica), ein notorisch korrupter Einparteienstaat, dessen Partei der Institutionellen Revolution PRI ihr Personal systematisch aus den revolutionärsten Studenten rekrutiert (Mexiko), eine Region, in der Einwanderer aus der Dritten Welt der ersten Generation Präsidenten

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werden und Araber (»Turcos«) in vielen Ländern geschäftlich erfolgreicher sind als Juden. Was diesen außergewöhnlichen Kontinent für Europäer noch zugänglicher machte, war ein unerwartetes Gefühl der Vertrautheit, etwa wie bei den wilden Erdbeeren, die man auf dem Fußweg hinter Machu Picchu findet. Natürlich konnte jeder Mensch meines Alters, der sich in der Mittelmeerregion auskannte, die Bevölkerungen im Mündungsgebiet des Rio de la Plata als Italiener wiedererkennen, die sich seit zwei oder drei Generationen von riesigen Rindersteaks ernährten. Man war von Europa her mit den kreolischen Macho-Werten Ehre, Scham, Mut und Freundestreue sowie mit oligarchischen Gesellschaften vertraut. (Erst seit den Kämpfen zwischen jungen Revolutionären der gesellschaftlichen Elite und Militärregierungen in den siebziger Jahren wurde die grundlegende soziale Unterscheidung, die Graham Greene in Unser Mann in Havanna so deutlich formuliert hat, zumindest in einigen Ländern aufgegeben, nämlich zwischen den »folterbaren« niederen und den »nicht-folterbaren« höheren Klassen.) Doch mehr noch, für Europäer waren diese von unserer eigenen Erfahrung ziemlich weit entfernten Aspekte des Kontinents in Institutionen verwurzelt und mit diesen verflochten, die Historikern vertraut sind, etwa die katholische Kirche, das spanische Kolonialsystem oder solche Ideologien des 19. Jahrhunderts wie der utopische Sozialismus und Auguste Comtes »Religion de l’humanité«. Das unterstrich auf drastische Weise sowohl die Eigenart ihrer lateinamerikanischen Umgestaltungen als auch das, was sie mit anderen Teilen der Welt gemeinsam hatten. Lateinamerika war ein Paradies für vergleichende Historiker. Als ich den Kontinent erstmals entdeckte, stand er im Begriff, in die finsterste Periode seiner Geschichte des 20. Jahrhunderts einzutreten, die Ära der Militärdiktaturen, von staatlichem Terror und Folter. In den siebziger Jahren gab es davon in der sogenannten »freien Welt« mehr, als es seit der Besetzung Europas durch Hitler gegeben hatte. Die Generäle übernahmen in Brasilien 1964 die Macht, und Mitte der siebziger Jahre regierte das Militär in ganz Südamerika mit Ausnahme der Staaten, die an die Karibik grenzten. Die Demokratisierung der mittelamerikanischen Republiken war mit Ausnahme Mexikos und Kubas seit den fünfziger Jahren durch die CIA und die Drohung oder die Realität einer US-Intervention sicher verhindert worden. Eine Diaspora lateinamerikanischer politischer Flüchtlinge konzentrierte sich in den wenigen Ländern der Hemisphäre, die Zuflucht gewährten – Mexiko und bis 1973 Chile –, und war über Nordamerika und Europa verstreut: die Brasilianer in Frankreich und England, die Argentinier in

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Spanien und die Chilenen überall. (Obgleich viele lateinamerikanische Intellektuelle Kuba auch weiterhin besuchten, wählten die wenigsten von ihnen die Insel zu ihrem Exil.) Die »Ära der Gorillas« (um die argentinische Bezeichnung zu gebrauchen) entstand im wesentlichen durch das Zusammentreffen von drei Ursachen. Die lokalen herrschenden Oligarchien wußten nicht, wie sie der Drohung ihrer immer stärker mobilisierten unteren Gesellschaftsschichten in Stadt und Land und den populistischen radikalen Politikern begegnen sollten, die bei den Unterschichten offensichtlich auf Resonanz stießen. Die junge bürgerliche Linke, inspiriert durch das Beispiel Fidel Castros, war der Überzeugung, der Kontinent sei reif für eine Revolution, die durch eine bewaffnete Guerillaaktion ausgelöst werden könnte. Und Washingtons eingefleischte Furcht vor dem Kommunismus, die durch die kubanische Revolution neue Nahrung erhalten hatte, wurde durch die internationalen Rückschläge der USA in den siebziger Jahren verstärkt: die Niederlage in Vietnam, die Ölkrisen und die afrikanischen Revolutionen, die sich der UdSSR zuwandten. Ich selbst fand mich in diese Ereignisse als ein gelegentlicher marxistischer Besucher des Kontinents verwickelt, der auf dessen Revolutionäre mit Sympathie blickte – schließlich waren Revolutionen hier, anders als in Europa, notwendig und möglich –, einem Großteil seiner radikalen Linken allerdings mit Skepsis begegnete. Da ich den kubanisch inspirierten, hoffnungslosen Guerillaträumen der Jahre 1960-1967 äußerst kritisch gegenüberstand, verteidigte ich die zweitbeste Lösung gegen die Kritik von Revolutionstheoretikern auf dem Campus: »Die Geschichte Lateinamerikas ist voll von Surrogaten für die wirklich im Volk verankerte sozialrevolutionäre Linke, die nur selten stark genug war, um den Verlauf der Geschichten ihrer Länder zu bestimmen. Die Geschichte der lateinamerikanischen Linken ist mit seltenen Ausnahmen . . . die Geschichte der Alternative zwischen einer fruchtlosen sektiererischen Reinheit und dem Bemühen, aus unerquicklichen politischen Situationen wie etwa zivilem oder militärischem Populismus, nationalen Bourgeoisien oder was auch immer das Beste zu machen. Es gehört auch zur Geschichte der Linken, daß sie immer wieder ihr Unvermögen bedauert hat, sich mit solchen Regierungen und Bewegungen zu arrangieren, bevor diese durch etwas noch Schlimmeres ersetzt wurden.«6 Ich dachte an die Junta reformistischer Militaristen unter General Velasco Alvarado in Peru (1969-1976), der die »peruanische Revolution«

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verkündete, über die ich mit Sympathie, aber auch Skepsis berichtet habe.7 Seine Regierung vergesellschaftete die großen haciendas des Landes und erkannte als erstes peruanisches Regime die Masse der Peruaner, die quechuasprechenden Indianer der Hochanden an, die jetzt als potentielle Staatsbürger zur Küste, in die Städte und in die Moderne strömten. Alle anderen in diesem jämmerlich armen und hilflosen Land waren gescheitert, nicht zuletzt die Kleinbauern selbst, die durch ihre massive Landbesetzung in den Jahren 1958-1963 der Oligarchie von Großgrundbesitzern das Grab gegraben hatten. Doch sie hatten nicht gewußt, wie sie beerdigen. Die peruanischen Generäle handelten, weil niemand außer ihnen handeln wollte oder konnte. (Ich muß leider hinzufügen, daß auch sie scheiterten, auch wenn ihre Nachfolger noch schlimmer waren.) Solche Töne wurden nicht gern gehört innerhalb oder außerhalb Lateinamerikas, zu einer Zeit, als noch viele an den selbstmörderischen guevaristischen Traum von einer Revolution durch die Aktion kleiner Gruppen in tropischen Grenzgebieten glaubten. Das erklärt zu einem Teil, warum mein Auftritt vor den Studenten der San-Marcos-Universität in Lima – »furchtbares Lima«, wie der Dichter es mit Recht nennt – keinerlei Resonanz fand. Denn der Maoismus in einer seiner zahlreichen Spielarten war die Ideologie der Söhne und Töchter der neuen bürgerlichen Schicht aus hispanisierten Hochlandindianern (»cholos«), die in die Stadt gezogen waren, zumindest so lange, bis sie ihr erstes Examen gemacht hatten. Ihr Maoismus war ebenso wie der Militärdienst für die Bauern und das »gap year«* der britischen Studenten ein sozialer Übergangsritus. Aber gab es keine Hoffnung in Chile, dem Land mit der stärksten Kommunistischen Partei, zu dem ich persönliche und politische Beziehungen unterhielt? Mein Onkel Berk (Ike oder Don Isidro), ein Bruder meines Vaters und Bergbauingenieur, seit dem Ersten Weltkrieg in Chile ansässig und gemeinsam mit seiner Frau, einer Miss Bridget George aus Llanwrthwl in Powys, Gründer des größten noch bestehenden Zweigs der Familie meines Namens, stand sogar mit der kurzlebigen Chilenischen Sozialistischen Republik von 1932 unter der Führung eines Obersts mit dem glanzvollen Namen Marmaduke Grove in Verbindung. Etliche Jahrzehnte später lernte ich durch Claudio Veliz, damals in Chatham House in London, dem ich einen Großteil meiner Anfangskenntnisse über den Kontinent verdanke, eine offensichtlich * In England ist es üblich, nach dem Schulabschluß und vor dem Eintritt in die Universität ein Reise- oder Arbeitsjahr einzulegen (A.d.Ü.).

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sehr intelligente und nicht minder gutaussehende Dame kennen, die Frau eines prominenten chilenischen Sozialisten, die ich durch Cambridge in England führte: Hortensia Allende. Bei meinem ersten Besuch in Santiago war ich im Haus der Familie Allende zum Essen eingeladen, wo ich zu dem Schluß gelangte, daß ihr nicht besonders spritziger Ehemann Salvador die weniger beeindruckende Hälfte des Paares sei. Wie sich zeigen sollte, war dies eine krasse Unterschätzung des Formats und demokratischen Geistes eines mutigen und ehrenhaften Mannes, der bei der Verteidigung seines Amtszimmers den Tod fand. Andere Menschen erinnern sich noch heute daran, wo sie sich gerade befanden, als sie die Nachricht von der Ermordung Kennedys erhielten. Ich selbst weiß noch genau, wo ich war, als ich durch den Anruf eines Radiojournalisten die Nachricht von seinem Tod erhielt – auf einer internationalen Konferenz über die Geschichte der Arbeiterbewegung, auf einer Anhöhe, von der aus man auf Linz und die Donau blickte. Ich war 1971 zuletzt in Chile gewesen, auf einem Abstecher von Peru, um über das erste Jahr der ersten sozialistischen Regierung zu berichten, die zur allgemeinen Überraschung, auch der von Allende selbst, durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen war.8 Obwohl ich ihren Erfolg zutiefst wünschte, konnte ich damals vor mir selbst nicht verhehlen, daß alle Zeichen gegen sie standen. Ich versuchte, meine Sympathien ganz aus dem Spiel zu lassen, und schätzte ihre Chancen, es zu schaffen, auf eins gegen zwei. Erst 1998 besuchte ich Chile erneut, als ich mit Tencha Allende und anderen Freunden und Genossen in Santiago im Fernsehen den wunderbaren Augenblick verfolgte, als der oberste britische Gerichtshof das epochemachende Urteil der Law Lords gegen den früheren Diktator General Pinochet verkündete. Diese Freude konnte ich mit meinen chilenischen Verwandten nicht teilen, die – jedenfalls soweit sie noch in Santiago wohnten – sein Regime unterstützt hatten. Debatten über die lateinamerikanische Linke wurden in den siebziger Jahren mit dem Triumph der Folterer akademisch, und in den achtziger Jahren noch akademischer mit dem Bürgerkrieg in Mittelamerika, in dem auch die USA ihre Hand im Spiel hatten, und mit dem Rückzug der Militärregierungen in Südamerika; völlig abstrakt wurden sie schließlich mit dem Niedergang der Kommunistischen Parteien und dem Ende der UdSSR. Der wahrscheinlich einzige bedeutsame Versuch einer bewaffneten Guerillarevolution alten Stils war der »Leuchtende Pfad«, das geistige Produkt eines fanatischen maoistischen Dozenten an der Universität Ayacucho, der zu dem Zeitpunkt, als ich diese Stadt Ende der siebziger Jahre besuchte, noch nicht zu den

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Waffen gegriffen hatte. Er bewies, was den kubanischen Träumern der sechziger Jahre auf spektakuläre Weise aufzuzeigen mißlungen war, daß nämlich eine ernsthafte bewaffnete Politik auf dem Land in Peru möglich war, zugleich aber auch – zumindest für einige von uns –, daß dies eine Sache war, der man keinen Erfolg wünschen mochte. Tatsächlich wurde er von der Armee in der üblichen brutalen Weise unterdrückt, mit Hilfe jener Teile der bäuerlichen Bevölkerung, die die Senderistas sich zum Feind gemacht hatten. Doch die größte der bäuerlichen Guerillas, die kolumbianischen FARC, gedieh und nahm an Stärke zu, obwohl sie in diesem blutgetränkten Land nicht nur die staatlichen Streitkräfte gegen sich hatte, sondern sich auch der bestens gerüsteten Killer des Drogenkartells und der brutalen »Paramilitärs« der Großgrundbesitzer erwehren mußte. Präsident Belisario Betancur (1982-1986), ein sozial denkender und zivilisierter konservativer Intellektueller, der nicht nach der Pfeife der USA tanzte – zumindest vermittelte er mir in unserem Gespräch diesen Eindruck –, ergriff die Initiative, um mit den Guerillas über einen Frieden zu verhandeln, ein Prozeß, der seither mit Unterbrechungen fortgesetzt wurde. Seine Absichten waren gut, und es gelang ihm, zumindest eine der Guerillabewegungen, die sogenannte M19, den Liebling der Intellektuellen, zu befrieden. (Es gab eine Zeit, als man auf jeder Cocktailparty in Bogotá ein oder zwei junge Leute aus besseren Berufen treffen konnte, die ein paar Monate bei ihnen in den Bergen verbracht hatten.) Tatsächlich waren auch die FARC selbst bereit, sich an die Spielregeln der Verfassung zu halten, indem sie eine »Vaterländische Union« ins Leben riefen, die jene Partei der Linken darstellen sollte, der es nie richtig gelungen war, den Raum zwischen Liberalen und Konservativen auszufüllen. In den großen Städten war ihr nur ein geringer Erfolg beschieden, und nachdem etwa 2500 ihrer Ortsbürgermeister, Stadträte und Aktivisten auf dem Land, die ihre Waffen niedergelegt hatten, ermordet worden waren, schwand bei den FARC aus verständlichen Gründen die Bereitschaft, statt auf ihre Waffen auf die Wahlurnen zu vertrauen. Ich war Gastgeber eines dieser Aktivisten, auf dem Weg zu oder von einer internationalen Versammlung, in der Cafeteria des Birkbeck Colleges, weit weg vom wilden Grenzgebiet der Bananenplantagen, Kämpfen zwischen den FARC und maoistischen Guerillas und den lokalen Paramilitärs in Urabà, in der Nähe des Isthmus von Panama, wo er als legaler Politiker tätig war. Als ich mich bei der nächsten Gelegenheit bei Freunden nach ihm erkundigte, war er bereits tot.

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IV Was ist aus Lateinamerika geworden, seit ich den Kontinent vor rund vierzig Jahren zum ersten Mal betrat? Zu der erwarteten und in so vielen Ländern notwendigen Revolution ist es nicht gekommen, da sie vom einheimischen Militär und von den USA unterdrückt wurde, zugleich aber auch der Schwäche, der inneren Spaltung und Unfähigkeit der einzelnen Länder zum Opfer fiel. Sie steht auch jetzt nicht auf der Tagesordnung. Keines der politischen Experimente, die ich seit der Kubanischen Revolution von weitem oder aus der Nähe beobachtet habe, hat eine größere nachhaltige Änderung bewirkt. Es gibt allerdings zwei, die möglicherweise einen Erfolg versprechen, aber sie sind noch zu neu, um ein abschließendes Urteil zu ermöglichen. Das erste, bei dem es allen alten Roten warm ums Herz werden muß, ist der nationale Aufstieg der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores; PT) in Brasilien seit ihrer Gründung 1980, deren Führer und inzwischen zum Präsidenten gewählter »Lula« (Luis Inácio da Silva) der weltweit einzige Industriearbeiter an der Spitze einer Arbeiterpartei sein dürfte. Es ist ein spätes Beispiel für eine klassische große sozialistische Arbeiterpartei und -bewegung, wie sie in Europa vor 1914 aufkamen. Ich trage ihren Anhänger an meinem Schlüsselring, zum Zeichen alter und gegenwärtiger Sympathien und als Erinnerung an meine Zeiten mit dem PT und mit Lula, die häufig anrührend, manchmal tief bewegend waren, wie die Geschichten der Basisaktivisten der Partei aus den Automobilfabriken São Paulos und den abgelegenen Gemeinden im Landesinneren. Und als Tribut an den demokratischen und bildungspolitischen Eifer der Musterstadt Porto Alegre (Rio Grande do Sul), anständig, blühend und eine Gegnerin der Globalisierung, die ihren Stadtrat dazu brachte, mit ihrem Bürgermeister als Vorsitzendem eine Frage-und-Antwort-Sitzung für die Bürger der Stadt mit einem britischen Historiker auf Besuch auf dem Hauptplatz der Stadt zu organisieren, inmitten des Lärms der effizienten städtischen Straßenbahnen. Der andere, dramatischere Wendepunkt war das im Jahr 2000 erfolgte Ende einer siebzigjährigen unerschütterlichen Einparteienregierung der Partei der Institutionellen Revolution PRI in Mexiko. Es ist jedoch leider zu bezweifeln, ob das zu einer besseren politischen Alternative führt, nicht anders als bei der Revolte der italienischen und japanischen Wähler in den frühen neunziger Jahren gegen die erstarrten Regimes ihrer Länder aus der Zeit des Kalten Kriegs. Demnach bleibt die Politik in Lateinamerika erkennbar das, was sie seit langem gewesen ist, ebenso wie das kulturelle Leben (abgesehen

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von der gewaltigen weltweiten Explosion auf dem Gebiet der höheren Schulbildung, an der seine Republiken teilhatten). Auf der weltwirtschaftlichen Bühne spielt Lateinamerika, auch wo es von den großen Krisen der letzten zwanzig Jahre nicht geschüttelt wurde, nur eine kleine Rolle. Politisch ist es von Gott so weit entfernt und den Vereinigten Staaten so nahe geblieben wie eh und je und folglich weniger als jeder andere Teil der Welt geneigt zu glauben, die USA seien beliebt, weil sie »eine Menge Gutes auf der Welt [tun]«.9 Ein halbes Jahrhundert lang haben Journalisten und Wissenschaftler in vorübergehende politische Trends säkulare Wandlungsprozesse hineingelesen, doch die Region bleibt das, was sie während des größten Teils eines Jahrhunderts war: trotz seiner zahlreichen Verfassungen und Juristen in seiner politischen Praxis ein instabiler Kontinent. Historisch war und ist es für seine nationalen Regierungen schwer zu kontrollieren, was auf ihren Territorien vorgeht. Seine Herrscher haben sich bemüht, die Logik der Wählerdemokratie in Bevölkerungen, bei denen keine Garantie dafür besteht, daß sie so wählen, wie die »besseren Leute« es sich vielleicht wünschen mögen, durch eine Vielzahl von Methoden zu umgehen, von einer Herrschaft durch lokale Granden über Ämterpatronage, allgemeine Korruption und gelegentliche demagogische »Väter des Volkes« bis hin zu einer Militärherrschaft. Alles das gehört auch heute noch zu den verfügbaren Optionen. Und dennoch hat in diesen vergangenen vierzig Jahren eine gesellschaftliche Umwälzung stattgefunden. Die Bevölkerung Lateinamerikas hat sich fast verdreifacht, ein in der Hauptsache agrarischer und noch immer weitgehend unbewohnter Kontinent hat den größten Teil seiner Kleinbauern verloren, die in die Riesenstädte und von Mittelamerika in die USA gezogen sind, und das in einer Größenordnung, die nur mit den Wanderungsbewegungen der Iren und Skandinavier im 19. Jahrhundert zu vergleichen ist. Manche, wie die ecuadorianischen Erntearbeiter in Andalusien, haben sogar die Ozeane überquert. Geldüberweisungen der Emigranten sind an die Stelle der großen Modernisierungshoffnungen getreten. Der billige Flug- und Telefonverkehr bringt Freunde und Bekannte ins letzte Dorf. In den neunziger Jahren habe ich Lebensstile beobachtet, die in den sechziger Jahren unvorstellbar waren: der New Yorker Taxifahrer aus Guyaquil, der zur Hälfte in den Vereinigten Staaten und zur Hälfte in Ecuador lebt, wo seine Frau eine kleine Druckerei führt; die vollbeladenen Kleinlaster von (legal oder heimlich) eingewanderten Mexikanern, die von Kalifornien oder Texas in den Urlaub nach Jalisco oder Oaxaca fahren; Los Angeles, das zu einer Stadt von eingewanderten politicos und Gewerkschaftsführern

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aus Mittelamerika geworden ist. Gewiß, die meisten Lateinamerikaner bleiben arm. Tatsächlich waren sie im Jahr 2001 höchstwahrscheinlich relativ ärmer als in den frühen sechziger Jahren, selbst wenn wir die Verwüstungen der Wirtschaftskrisen der letzten zwanzig Jahre ausklammern, denn nicht nur hat die Ungleichheit in diesen Ländern drastisch zugenommen, sondern der ganze Kontinent selbst hat international an Boden verloren. Gemessen am BSP mögen die Wirtschaften Brasiliens und Mexikos weltweit an 8. bzw. 16. Stelle stehen, doch mit ihrem Pro-Kopf-Einkommen liegen diese Länder auf den Plätzen 52 und 60. Wenn man andererseits die lateinamerikanischen Armen auffordern würde, ihr Leben zu Beginn des neuen Jahrtausends mit dem ihrer Eltern oder gar Großeltern zu vergleichen, würden die meisten wahrscheinlich sagen, es gehe ihnen heute besser. Doch in den meisten Ländern des Kontinents könnten sie auch sagen, das Leben sei unberechenbarer und gefährlicher geworden. Es ist nicht an mir, ihnen zuzustimmen oder zu widersprechen. Schließlich sind sie das Lateinamerika, das ich vor vierzig Jahren aufgesucht und entdeckt habe, über das Pablo Neruda in dem wundervoll barocken Gedicht der Gedichte über seinen Kontinent geschrieben hat, in dem Abschnitt »Die Höhen des Machu Picchu« in seinem Canto General. Es endet mit der Anrufung der unbekannten Erbauer dieser toten grünen Inkastadt, durch deren toten Mund der Dichter sprechen möchte: »Juan Steinbrecher, Wiracochas Sohn Juan Ißkalt, grünen Sternes Sohn, Juan Barfuß, Enkel des Türkis«.* »Wenn Sie Südamerika verstehen wollen«, sagte man mir, bevor ich in England meine Reise antrat, »dann müssen Sie nach Machu Picchu gehen und das Gedicht dort lesen.« Ich hatte damals den großen Dichter noch nicht persönlich kennengelernt, ein rundlicher Mann, dessen natürliches Element nicht die Berge waren, sondern das Meer, das noch heute unterhalb seines schönen Hauses liegt, und der auf die Frage, was er in London gern sehen wolle, nur einen einzigen Wunsch hatte: das Segelschiff Cutty Sark in Greenwich. Er starb einige Tage nach dem Sturz Salvador Allendes an gebrochenem Herzen. Ich las sein Gedicht 1962 in Machu Picchu auf einem dieser steilen, mit Stufen versehenen Berge, als die Sonne unterging, in einer argentinischen * Der große Gesang, Darmstadt 1984, S. 41

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Paperbackausgabe, die ich in einem chilenischen Buchladen gekauft hatte. Ob es mir geholfen hat, Lateinamerika als Historiker zu verstehen, weiß ich nicht, aber ich weiß, was der Dichter sagen wollte, und kenne die breitbrüstigen, Koka kauenden, braunen, stillen Männer und Frauen, an die er gedacht hat, die in der dünnen Luft der Hochanden für ihren Lebensunterhalt schuften, wo es schwerer ist als fast überall sonst auf der Erde zwischen Arktis und Antarktis, ein Mensch zu sein. Wenn ich an Lateinamerika denke, sind es diese Menschen, die mir einfallen. Nicht nur der Dichter, auch der Historiker sollte ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen.

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I Wenn alle Intellektuellen meiner Generation zwei Länder hatten, ihr eigenes und Frankreich, dann lebten im 20. Jahrhundert alle Bewohner der westlichen Welt und möglicherweise alle Großstadtbewohner auf der Erde geistig in zwei Ländern, ihrem eigenen und den USA. Nach dem Ersten Weltkrieg erkannte jeder Mensch mit einer Grundschulbildung die Wörter »Hollywood« und »Coca Cola«, und die meisten Analphabeten kamen irgendwann in ihrem Leben mit den Produkten von beiden in Berührung. Amerika mußte nicht entdeckt werden: Es war ein Teil unseres Daseins. Und doch, was die meisten Menschen von Amerika kannten, war nicht das Land selbst, sondern eine bestimmte Anzahl von Bildern, die im wesentlichen durch seine Künste vermittelt wurden. Bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg gab es relativ wenige Menschen, die von außerhalb in die USA reisten, es sei denn als Einwanderer, und von den frühen zwanziger bis zu den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts machte die Politik der US-Regierung eine Einwanderung äußerst schwierig. Ich selbst betrat dieses Land erst 1960. Nordamerikaner haben wir anderswo kennengelernt. Ich glaube, zu meinem ersten wirklichen Kontakt mit »Middle America« (das bürgerlich-konservative Amerika), wie es damals noch nicht genannt wurde, kam es, als die Rotarier beschlossen, ihre internationale Zusammenkunft 1928 in Wien abzuhalten, und ich als zweisprachig aufgewachsener Junge als Dolmetscher eingesetzt wurde. Ich kann mich an nichts mehr davon erinnern außer an das Foyer eines Hotels an der Ringstraße, in dem sich zahlreiche Männer in bunteren Hemden drängten, als man sie in Wien gewöhnt war, an einen freundlichen Anästhesisten irgendwo aus dem mittleren Westen, der mir anschließend Briefmarken für meine Sammlung schickte, und an mein Rätselraten, was es mit Rotary eigentlich genau auf sich hatte. Die offizielle Erklärung (»Dienst«) erschien mir ziemlich inhaltsleer. Es fällt mir schwer, das Bild der USA zu rekonstruieren, das sich ein

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anglophoner Junge vom europäischen Kontinent vor 1930 gemacht hat. Merkwürdigerweise – denn mein Onkel arbeitete tatsächlich für eine Hollywood-Filmgesellschaft – kam es für mich nicht aus Hollywoodfilmen. Die Sorte von Wildwestfilmen mit Tom Mix, die wir sahen, zählte kaum, denn selbst für Kinder war klar, daß das Leben in Amerika so nicht sein konnte. (Was zeigte, wie wenig wir von den USA wußten.) Die Hollywoodfilme, die in Amerika spielten, sollten nicht das amerikanische Alltagsleben zeigen, sondern eine künstliche Welt zur Wunschbefriedigung der Kinogänger. Wenn unser Bild von Amerika irgendwo herkam, dann von der Technik und der Musik: das eine als Idee, das andere als Erfahrung. Denn auch die Technik erhielten wir aus zweiter Hand. Die meisten von uns würden nie im Leben ein Fließband zu sehen bekommen, aber wir wußten, daß die Automobile von Ford an diesen Bändern produziert wurden. Dagegen erreichten uns die Künste unmittelbar. Meine Mutter und meine Tanten tanzten Shimmy und Foxtrott und wir hörten erkennbar amerikanische Musik, selbst wenn sie von englischen Bands gespielt und von englischen Sängern gesungen wurde. Radio und Grammophon brachten uns Jerome Kern und George Gershwin ins Haus. »Jazz«, wie er damals allgemein verstanden wurde – eine synkopische, rhythmische Musik mit Saxophonen und ohne Streichinstrumente –, war bereits in den zwanziger Jahren die Klangkulisse für die Freizeit der urbanen bürgerlichen Schichten. Jazz bedeutete Amerika und damit Moderne, kurze Haare für Frauen und das Zeitalter der Maschinen. Die Mitarbeiter des Bauhauses ließen sich mit einem Saxophon fotografieren. Als ich nach England kam und von meinem Cousin Denis zum Jazz bekehrt wurde, diesmal zum echten Jazz, öffneten sich darum die Tore nicht nur auf eine neue ästhetische Erfahrung, sondern auf eine neue Welt. Ebenso wie Alistair Cooke, einer meiner Vorgänger als Redakteur von Granta, der damals seine Karriere als lebenslanger Kommentator über die Vereinigten Staaten mit einer Sendereihe I Hear America Singing begann, entdeckte auch ich Amerika mit dem Ohr. Der Jazz war eine hervorragende Einführung in die USA, da zumindest in England der Klang und seine soziale Bedeutung – eine für die dreißiger Jahre ganz typische Formulierung – Hand in Hand gingen. Ein Jazzfan zu sein hieß nicht nur, aus offensichtlichen Gründen, gegen Rassismus und für die Neger zu sein (erst später wollten sie als Schwarze und dann als Afroamerikaner bezeichnet werden), sondern alle Informationen über die USA zu sammeln, die auch nur den geringsten Bezug zum Jazz hatten: Und es gab kaum etwas über dieses Land, das nicht in irgendeiner Weise mit Jazz zu tun gehabt hätte. Und

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so trugen alle Fans ein immer neu faszinierendes Sammelsurium von Fakten über die USA zusammen, von den Namen amerikanischer Großstädte, Flüsse und Eisenbahnen (Milwaukee, der breite Missouri, der Aitchison, Topeka und Santa Fe) bis zu den Namen von Gangstern und Senatoren. In den dreißiger Jahren konnte man sich einfach dadurch einen Ruf erwerben, daß man Faktenwissen über die USA hatte. Denis Brogan, ein schwer trinkender und im Lauf der Jahre nicht mehr ganz so schwer arbeitender Glasgower, der in Cambridge Politik lehrte, war Fachmann für zwei Länder, machte sich jedoch im Rundfunk – er war einer der ersten Medien-Dons in Europa – nicht etwa als beschlagener Historiker und Beobachter Frankreichs einen Namen, sondern als der Typ Mann, der die Hauptstädte aller Bundesstaaten der USA und die Titel sämtlicher Lieder von Irving Berlin herunterbeten konnte. Das Bild von Amerika ist so mächtig und umfassend, daß man leicht annehmen kann, es habe sich im Laufe des, wie wir heute wissen, »amerikanischen Jahrhunderts« kaum verändert. Doch für diejenigen von uns, denen Amerikas Reichweite in den dreißiger Jahren bewußt wurde, vor allem wenn sie auf der Linken standen, war es in mancher Hinsicht ganz anders. Zum einen war unser Bild kein neidisches. Wir begannen über Amerika zu dem einzigen Zeitpunkt nachzudenken, als die US-Wirtschaft für die übrige Welt kein triumphierendes Modell für Reichtum und ein produktives Potential war. In der Dekade der Großen Depression sahen wir nicht mehr die Welt des großen Gatsby, sondern die der Früchte des Zorns. In den zwanziger und frühen dreißiger Jahren war Amerika gleichbedeutend mit gefühllosem Profitstreben, mit Ungerechtigkeit und einer erbarmungslosen, skrupellosen und brutalen Unterdrückung. Doch das Amerika F.D. Roosevelts widerlegte diesen Ruf nicht nur, es vollzog eine scharfe Wendung nach links. Seine Regierung wurde sichtbar eine Regierung für die Armen und die Gewerkschaften. Mehr noch, Roosevelt wurde vom amerikanischen Big Business gehaßt und vehement angegriffen, das heißt genau von den Leuten, die für uns mehr als alle anderen die Übel des Kapitalismus repräsentierten. Es trifft zwar zu, daß die Kommunistische Internationale, in ihrer extrem sektiererischen Phase befangen, wie üblich ihre Zeit brauchte, um zu erkennen, was für jeden anderen auf der Hand lag, und zunächst den New Deal brandmarkte, doch 1935 sah selbst sie wieder klar. Kurzum, in den dreißiger Jahren war es möglich, sowohl die USA als auch die UdSSR zu bejahen, und die meisten jugendlichen Kommunisten taten beides, wie auch viele Sozialisten und Liberale. Franklin D. Roosevelt war sicherlich nicht Genosse Stalin,

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und doch, wären wir Amerikaner gewesen, hätten wir mit echter Begeisterung für ihn gestimmt. Mir fällt kein anderer »bürgerlicher« Politiker irgendeines Landes ein, dem unsere Gefühle in derselben Weise gegolten hätten. In den über sechzig Jahren, seit ich Arthur Schlesinger Jr. in Cambridge kennengelernt habe, gab es vermutlich keine einzige politische Frage, in der wir einer Meinung gewesen wären, außer dieser einen. Seine damalige Bewunderung für FDR teile ich bis heute. Obwohl es wahrhaftig nichts Besonderes war, von Cambridge aus in die USA zu reisen, hatte ich vor dem Krieg nie eine Gelegenheit dazu – und nach 1945 schien der Kalte Krieg es unmöglich zu machen. Denn die Vereinigten Staaten wollten keine Kommunisten auf ihrem Boden, jedenfalls keine aus dem Ausland. Als KP-Mitglied hatte ich automatisch kein Recht auf ein Visum, sofern die Einreisesperre nicht durch einen besonderen »waiver« befristet aufgehoben wurde. Dazu hätte ich allerdings die unverzichtbare Bedingung für eine auch noch so kurzzeitige Aufnahme in die Gemeinschaft der Freien erfüllen müssen: öffentlich meine Sünde zu bekennen und ihr abzuschwören; eine Denunzierung anderer Kommunisten wurde von Ausländern wohl nicht verlangt. Es ging nicht um leere Formalitäten. Ich erinnere mich an ein langes Gespräch mit dem Filmregisseur Joseph Losey, ein Opfer der Hexenjagd in Hollywood, mit dem ich aufgrund einer gemeinsamen Begeisterung für Billie Holiday eine Freundschaft anknüpfte, die allerdings das Gespräch nicht überdauern sollte. Einige Jahre lang hatte er sich in Europa herumgetrieben, hatte Filme unter Pseudonymen gedreht oder sich sonstwie durchgeschlagen. Schließlich, in den sechziger Jahren, hatte er den Durchbruch geschafft. Nicht nur sein Talent, auch das Marktpotential seiner Filme wurde allmählich erkannt. Nur noch die berüchtigte Frage (»Sind Sie oder waren Sie jemals?«) stand ihm im Weg. Freunde und Produzenten deuteten an, es könnte ihm nicht schaden, sie jetzt zu beantworten. Soll ich? wollte er wissen, was ich so verstand, daß er sich bereits weitgehend dazu durchgerungen hatte. Ich konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen, war jedoch zu ehrlich oder vielleicht auch zu selbstgerecht, um ihm einfach die Antwort zu geben, die er hören wollte. Wahrscheinlich hätte ich es tun sollen. Es ist keine Kleinigkeit zu entscheiden, ob die Chance, ein großes Talent zur Geltung zu bringen, das Opfer des eigenen Stolzes und der Selbstachtung wert ist. Ich kann immer noch die Angst spüren, die hinter seiner Frage steckte. Zum Glück stand ich selbst nie vor einem Dilemma dieser Art. Falls die US-Behörden mir diese Frage stellten und mich nicht ins Land ließen, wenn ich sie ehrlich beantwortete, dann würde ich eben nicht

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dorthin gehen. Natürlich wollte ich eigentlich. Außerdem gab es immer mehr Gründe, in die USA zu reisen, allein schon deshalb, weil die amerikanische Akademikergemeinschaft auch damals die Heterodoxen wesentlich schneller anerkannte als ihre ziemlich bornierten britischen Kollegen. Gerade da ergab sich die Gelegenheit, das Land zu besuchen, das ich bislang sozusagen nur als eine virtuelle Realität kennengelernt hatte. Auf einem der frühen internationalen Soziologenkongresse der Nachkriegszeit – 1956 in Amsterdam oder, wahrscheinlicher, 1959 in Stresa – hatte ich die Bekanntschaft des Wirtschaftswissenschaftlers Paul Baran gemacht, der in den dreißiger Jahren aus Deutschland geflohen war und behauptete, der einzige bekennende Marxist auf einem Lehrstuhl in den USA zu sein.1 Anscheinend verstand er sich mit mir – ein großer, leidenschaftlicher Mann mit sanften Augen und schlurfendem Schritt –, denn er lud mich ein, während des Sommerquartals 1960 an der Stanford University zu lehren und in dieser Zeit bei ihm zu wohnen. Wir planten, gemeinsam einen Aufsatz gegen Walt Rostows gerade erschienenes Buch The Stages of Economic Growth (deutsch: Stadien wirtschaftlichen Wachstums) zu schreiben, dessen amerikanischer Untertitel »a noncommunist manifesto«* lautete und das ein lebhaftes Echo gefunden hatte. Das erledigten wir später in einer Hütte am Lake Tahoe. Bei dieser Gelegenheit umschiffte ich mein Visumproblem dank der mangelnden bürokratischen Erfahrung des US-Konsulats in London. Man vergaß, mir die Frage zu stellen. Mein Status als Besucher der USA wurde erst 1967 endgültig geregelt, als ich eingeladen wurde, eine Gastprofessur am Massachusetts Institute of Technology zu übernehmen. Zum Glück hatte das MIT bereits Erfahrung sowohl im Umgang mit Visa-Anträgen von Personen, deren politisches Umfeld für das FBI und die CIA verdächtig war, als auch mit den politischen Verfahrensweisen Washingtons. Das Prestige der Institution und ihres Präsidenten in Verbindung mit der Erkenntnis, daß sie dem Staat wertvolle Dienste leistete, sorgten dafür, daß das MIT selbst darauf bestehen konnte zu entscheiden, welche Ausländer eine Einladung wert waren und welche nicht. Die Machtpolitik zwischen den Behörden bewog somit das MIT, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um eine Ausnahmegenehmigung für das Visum eines im übrigen unbedeutenden britischen kommunistischen Professors zu erlangen. Ich bekam meine Bewilligung, mußte jedoch der freundlichen, aber entschiedenen Dame, die sich um * Die deutsche Ausgabe trug den Untertitel: »Eine Alternative zur marxistischen Wirtschaftstheorie« (A.d.Ü.).

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die ausländischen Gäste am MIT »kümmerte«, jedesmal Bescheid sagen, wenn ich beabsichtigte, das Stadtgebiet von Boston zu verlassen. »Sie meinen, ich kann den Abend nicht ohne Ihr okay in New York verbringen?« fragte ich. Sie erkannte das Absurde der Situation und bestand nicht weiter darauf. Danach schränkte niemand mehr meine Bewegungsfreiheit in den USA ein. Erst spät merkte ich, wie schwierig das Problem meines Visums für die US-Behörden gewesen sein mußte. Wie alle Bürokratien reagierten sie zunächst mit Schweigen und Ausflüchten. Doch im Lauf einer Reihe zunehmend verzweifelter transatlantischer Telefonate wurde mir etwas klarer, was meinen Fall so kompliziert machte. »Nehmen Sie es mir bitte nicht übel«, sagte mein Sponsor im Verlauf eines dieser Gespräche zu mir, »wenn ich Ihnen eine Frage stelle, die keinerlei Auswirkungen auf unsere Einladung an Sie hat. Sind Sie oder waren Sie jemals der Vorsitzende der KP Großbritanniens?« Es war ein typischer Eintrag in einer Geheimdienstakte, eine Mischung aus Bequemlichkeit (denn die Namen aller Parteivorsitzenden hätte jeder Agent mühelos in allgemein zugänglichen Quellen recherchieren können) und Konfusion. Seit 1939 hatte ich zu keiner Zeit in der Partei eine politische Funktion bekleidet, nicht einmal auf der Ebene einer Unterorganisation. Offenbar war jemand nicht in der Lage gewesen, einen Unterschied zu erkennen zwischen der einzigen »Organisation« innerhalb oder außerhalb der Partei, deren Vorsitzender ich jemals war, nämlich der Historikergruppe der britischen KP (siehe 12. Kapitel) und der Partei selbst. Jedenfalls gewann das MIT gegen die Einwanderungsbehörde. Ich erhielt mein Visum. Von da an gab es fast keine Probleme mehr. Sobald es einen Präzedenzfall gibt, wissen die Bürokraten, was sie tun müssen: dasselbe wie beim letzten Mal. Künftig reiste ich ohne große Schwierigkeiten in die Staaten, auch wenn ich am Anfang noch ein- oder zweimal von dem für die Aufhebung von Visumsperren zuständigen Konsulatsbeamten angesprochen wurde. Er warf einen Blick in meine Akte, sagte beiläufig: »Ich sehe, Sie waren wieder in Kuba«, womit bewiesen war, daß Uncle Sam ein wachsames Auge auf mich hatte, und bestellte den waiver. Natürlich konnte ich immer noch nicht ohne Visum in den USA landen, nicht einmal bei einem Lufttransit, doch schließlich wurden meine Anträge routinemäßig innerhalb weniger Tage bearbeitet und bewilligt, bis die prinzipielle Visumsperre für Kommunisten schließlich aufgehoben wurde und britische Besucher kein Visum mehr benötigten.

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II Auf diese Weise wurden die USA aus einer virtuellen Realität zu einem wirklichen Land. Und wie? Hier erwies sich zumindest am Anfang meine Liebe zum Jazz als viel entscheidender als meine marxistischen oder meine akademischen Kontakte. Denn die Wahrheit ist, im Jahr 1960 waren die amerikanischen Marxisten meiner Generation weitgehend von der Welt isoliert, in der sie lebten, und die amerikanischen Professoren für Geschichte, die ich kannte, wußten nicht gerade allzuviel darüber. In New York konnte ich die Probleme der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals und des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus mit meinen Freunden von Science and Society diskutieren, der ältesten englischsprachigen Zeitschrift des intellektuellen Marxismus, für die ich schrieb. Aber sie erzählten mir nicht mehr über New York, als irgendein Jude aus Manhattans unterer Mittelschicht einem Besucher aus dem All erzählt hätte: wo die guten Feinkostgeschäfte und Antiquariate waren (von denen es damals mehr gab als nur den Strand Bookshop am Broadway Ecke 12th Street), was es mit Dr. Brown’s Celery Tonic auf sich hatte und daß in den USA Pastrami nicht dasselbe war wie salt beef in England. Wesentlich mehr erfuhr ich durch Paul Baran an der Westküste, hauptsächlich weil er (vermutlich über seine damalige Geliebte, eine kalifornische Japanerin) die Intellektuellen kannte, die in Harry Bridges’ International Longshore and Warehousemen’s Union arbeiteten, Eckpfeiler der Linken in der Bay Area. Diese Gewerkschaft organisierte alle Pazifikhäfen von Portland bis San Diego und obendrein alles, was in Hawaii organisiert werden konnte. Zu meiner tiefen Genugtuung wurde ich mit Bridges persönlich bekannt gemacht, ein schlaksiger, hakennasiger Held, der den nicht gerade umgänglichen Arbeitgebern an der Pazifikküste mit Hilfe von zwei Generalstreiks, gesundem Machtinstinkt und einer klugen Verhandlungsstrategie einen Tarifvertrag mit der Gewerkschaft zu kalifornischen Bedingungen abgerungen hatte. Außerdem hatte er mehrere Versuche der US-Regierung abgewehrt, ihn als subversiven Ausländer abzuschieben. Er war damals widerwillig damit befaßt, den sanften Tod der Dockarbeiter an der Pazifikküste zu beaufsichtigen, indem er über die Einführung von Containern und einer neuen Ladetechnik bei Tankern verhandelte. Sie sollte durch lebenslange üppige Renten für die Gewerkschaftsmitglieder kompensiert werden, deren Arbeitsplätze dadurch verschwanden. Die Gewerkschaft war noch stark, und Bridges’ revolutionäre Überzeugungen, mit einem australischen Akzent vorgetragen, dem ein halbes Leben als

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amerikanischer Gewerkschaftsführer wenig hatte anhaben können, waren ungebrochen. Er träumte noch immer von einem Generalstreik aller Dockarbeiter der Welt, der das kapitalistische System in die Knie zwingen würde, denn im Denken der Menschen von der Wasserkante sind die Weltmeere Brücken zwischen den Kontinenten und keine Barrieren. Nicht daß er für Seeleute viel übrig gehabt hätte, die seiner Meinung nach alle »Herumtreiber« waren, da ihnen das Stehvermögen einer Gewerkschaft auf festem Boden wie den Schauerleuten fehlte, die durch ihre Familien und feste Gemeinschaften zusammengehalten wurden. Und als guter Australier hatte er auch von den Engländern keine hohe Meinung. In seiner Jugend als Seemann hatte er einmal, wie er mir erzählte, im Hafen von London mit der Tochter eines Dockarbeiters verkehrt. Seitdem hegte er eine lebenslange Verachtung für britische Arbeiter, die ihre soziale Unterlegenheit dankend hinnähmen. Da es das Jahr 1960 war, diskutierten wir auch über die anstehenden Präsidentschaftswahlen. Jimmy Hoffa von der Truckergewerkschaft, die Zielscheibe von Bobby Kennedy und dem FBI, trug sich mit dem Gedanken, mit seiner Gewerkschaft Nixon statt Kennedy zu unterstützen. Die Sympathie der Trucker war für die Arbeiter ebenso wichtig wie für das Kapital in Kalifornien, doch Hoffa hatte einen schlechten Ruf. Bridges, der sich keiner der beiden »bürgerlichen Parteien« verpflichtet fühlte, sah darin eine rein pragmatische Entscheidung. War Hoffa nicht in der Hand der Mafia, fragte ich ihn. »Es kann sein, daß er mit den Ganoven zusammenarbeitet«, sagte Bridges finster und offenbar aus Erfahrung, »aber er ist ein ganzer Kerl, und soviel ich weiß, hat er noch nie seine Leute verkauft. Was er absahnt, kommt von den Bossen und nicht von den Arbeitern.« Niemand hatte Bridges selbst je beschuldigt, er sei reich geworden oder habe die Mitglieder seiner Gewerkschaft verkauft. Er starb bald nach unserer Begegnung, während San Francisco sich weit von der Stadt der Bridges und Sam Spades entfernte. Ich erinnere mich an ihn voller Bewunderung und Rührung. Über die Ganoven war seine Gewerkschaft zweifellos im Bilde. Eines Nachmittags gab mir ihr Organisator, der später in die akademische Welt wechselte, eine Art Lehrstunde über das Verhandeln mit der Mafia. Die ILWU mußte ihre Aktivitäten mit ihr abstimmen, denn während die Gewerkschaften in den Häfen der Pazifikküste sauber waren, wurden die Gewerkschaften am Atlantik und am Golf von der Mafia kontrolliert. Abmachungen mit ihr beruhten auf zwei Grundannahmen und dem Wissen um deren Grenzen. Die erste, ein gegenseitiger Respekt, wurde anscheinend von niemandem in Frage gestellt. Beide Parteien operierten an der Wasserkante, die kein Kinderspielplatz war.

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Sie kannten die Regeln, von denen die oberste lautete, daß nicht »gesungen« wurde. Die Wortführer auf beiden Seiten mußten sich nicht gegenseitig vertrauen, aber sie konnten miteinander reden. Die zweite war, daß von der Mafia keinerlei Gefälligkeit, wie gering oder symbolisch sie auch immer war, angenommen werden durfte, weil das automatisch als Herstellung eines Abhängigkeitsverhältnisses verstanden würde. Deshalb gab es stets höfliche, aber entschiedene Ablehnungen auf Vorschläge, die beiden Gewerkschaften könnten sich doch in angenehmer Umgebung treffen, um über Fragen zu entscheiden, die gemeinsame Interessen betrafen – beispielsweise ein gemeinsames Datum für den Ablauf von Tarifverträgen –, etwa in Las Vegas. Andererseits gab die genaue Kenntnis der Grenzen der Mafia einer politisch wohlinformierten Organisation wie einer roten Gewerkschaft die Möglichkeit, etwas zu demonstrieren, was für die Gangster wie eine sehr respektable Macht aussehen mußte. Natürlich hatte die ILWU keine Macht, auch wenn die Abgeordneten und Senatoren aus Hawaii ihre Ansichten vermutlich sehr ernst nahmen. Sie hatte lediglich Strategien, nationale politische Horizonte, engagierte und sachkundige Intellektuelle, und sie wußte, wie sie in Washington vorgehen mußte. Dagegen waren nach den Erfahrungen der ILWU die wirtschaftlichen Perspektiven der Mafia ebenso begrenzt wie ihre politischen Horizonte. »Sie sprachen mit Stadträten und Bürgermeisterämtern. Wir haben sie einmal im Kongreß in Washington herumgeführt«, erzählte mir der Organisator. »Sie konnten unsere Leute sehen, konnten Abgeordneten und Senatoren aus allen Teilen des Landes guten Tag sagen, und wir fragten sie, ob sie gern mit Jimmy Roosevelt Jr., dem Sohn von FDR, sprechen wollten. Das hat sie beeindruckt. Danach wurden die Verhandlungen wesentlich einfacher.« Das alles trug dazu bei, mich gegen die Neigung von US-Laien und politischen Wahlkämpfern zu immunisieren, die Macht und den Einfluß der Mafia aufzubauschen. Oder auch ihren Reichtum, auch wenn der aktuelle Nettowert des Vermögens einer Mafiafamilie, bescheiden im Vergleich zum wirklichen Geld in New York, nur in den frühen siebziger Jahren ermittelt wurde, in dem Jahrzehnt, in dem die Italoamerikaner zu ihrem Recht kamen und Amerika (über Hollywood) seine Liebesgeschichte mit den Paten erlebte.3 Es war zudem eine realistische Einführung in die amerikanische Politik. Wie sehr hat dies mein Bild von den USA verändert? Wie alle transatlantischen Beobachter der USA und, wie ich entdeckte, eine Subkultur amerikanischer Intellektueller war auch ich von den Gangstern fasziniert. Glücklicherweise wurde in den fünfziger Jahren erstmals eine Fülle von Material über die Entwicklung des organisierten Ver-

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brechens in den USA zugänglich, das natürlich auch die Wechselwirkungen zwischen der Mafia und den Organisationen der Arbeiterbewegung untersuchte. (Sie waren im Geschichtsbild der amerikanischen Arbeiterbewegung von jungen Linken nicht besonders betont worden.) Meine Studien zur sizilianischen Mafia hatten mir jedenfalls ein berufliches Interesse an der amerikanischen Seite ihrer Betätigung mitgegeben. Deshalb war ich genügend mit ihr vertraut, um eine kleine Studie über »die politische Ökonomie des Gangsters« als eine Unterart der Marktökonomie zu schreiben, die vollkommen unbeachtet blieb, was zu einem Teil wohl daran lag, daß ich sie aus Jux der ältesten, ja fast schon prähistorischen und ungelesenen Tory-Zeitschrift The Quarterly Review geschickt hatte, die den Aufsatz anstandslos veröffentlichte.4 Als ich in den USA eintraf, war ich somit über derartige Themen bereits gut informiert (aus offensichtlichen Gründen jedoch nicht über die bevorstehenden Projekte der Kennedyfamilie, ihre Verbindungen zur Mafia zu nutzen, um Castro zu erledigen). Und trotzdem hing ich in mancher Hinsicht noch immer der Grundauffassung der Volksschuloder Hollywoodmoral an, der zufolge die Guten (anständige Menschen) sich wie gute Menschen benehmen und deshalb besser sind als die Schlechten (Gauner) und nichts mit ihnen zu tun haben, auch wenn sie mit ihnen zusammenleben müssen. Selbst nachdem ich lange in einer höchst unvollkommenen Welt gelebt habe, würde ich es immer noch vorziehen, daran zu glauben. Auf den gesetzestreuen und staatlich regierten Britischen Inseln der fünfziger Jahre schien es nicht nur ein frommer Wunsch, sondern bis zu einem gewissen Grad auch eine Realität zu sein. Doch die USA waren weder gesetzestreu, auch wenn es dort mehr Rechtsanwälte gab als in der gesamten übrigen Welt zusammengenommen, noch waren sie eine Gesellschaft, die die Herrschaft des Staates anerkannte, auch wenn ich zu meiner Überraschung entdeckte, daß sie vielmehr auf allen Ebenen leidenschaftliche Bürokraten sind. Die Politik und manche Kollegen zogen mich nach Amerika, doch abermals war es der Jazz, der mir das Gefühl gab, etwas von der Realität dieses außergewöhnlichen Landes begriffen zu haben. Ich hätte als Jazzliebhaber kaum einen günstigeren Zeitpunkt für meinen Besuch wählen können als 1960. Zu keiner Zeit davor oder danach war es möglich, das gesamte Spektrum dieser Musik live zu erleben, von den Überlebenden der zwanziger Jahre bis zu den anarchistischen Klängen Ornette Colemans und Don Cherrys, die von einer entschlossenen Avantgarde schon gehört wurden, nämlich an den östlichen Ausläufern von Greenwich Village. Tatsächlich waren trotz der selbstmörderi-

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schen Lebensweise der Jazzmusiker (mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen) die großen Namen, mit denen meine Generation aufgewachsen ist, noch immer einsatzfähig. Hinzu kam, daß wir als Zuhörer der einzigartigen Originalität von Thelonius Monk und der absoluten Extraklasse eines Miles Davis Quintetts der Milestones und Kind of Blue feststellen durften, daß die zweite Hälfte der fünfziger Jahre ein goldenes Zeitalter der Musik war, das letzte, wie sich zeigen sollte. Es war Seligkeit, um mit Wordsworth zu sprechen, in diesen Nächten in New York und San Francisco lebendig zu sein, auch wenn es zu spät war für einen Historiker in den Vierzigern, den wahren Himmel der Jugend zu genießen. Nicht daß der Jazz sich von der Politik der Linken hätte trennen lassen, auch wenn er im Hinblick auf seinen Ort innerhalb der Professorenschaft eher der Homosexualität vergleichbar war: Es war eine private Vorliebe einiger Professoren, die nichts mit ihrer akademischen Tätigkeit zu tun hatte. Das ist der Grund, warum New York, das bekanntlich für »Middle America« viel untypischer ist als etwa Green Bay, Wisconsin, vermutlich der beste Ort war, um jemanden wie mich davon zu überzeugen, daß es tatsächlich möglich war, dieses außergewöhnliche Land zu verstehen und vielleicht sogar zu lieben. Le tout Manhattan verachtete die Hexenjagd, und da es eine Stadt eingewanderter Juden und das Zentrum des intellektuellen Verlagswesens, des Theaters und der Unterhaltungsmusik und der Plattenaufnahmen war, nahm sie die Existenz eines revolutionären Marxismus in Vergangenheit und Gegenwart unter ihren Bürgern als eine Selbstverständlichkeit hin. In »Big Apple« machte sich eigentlich nur das FBI Sorgen über die genaue Beschaffenheit der politischen Orientierung der Einwohner, denn als ich dorthin kam, war es eine Stadt, in der selbst Milliardäre in den meisten Fällen der Demokratischen Partei anhingen. Merkwürdigerweise sagte der Jazz den amerikanischen Berufsmarxisten nichts, die sich anscheinend emotional mehr von der klassischen Musik und dem politischen Folksong angezogen fühlten. (Ich werde nie den katastrophalen Abend vergessen, als ich Paul Baran mitnahm, um Miles Davis im Black Hawk in San Francisco zu hören.) Die meisten meiner Jazzkontakte waren Männer, mit einigen wenigen Ausnahmen wie der kampferprobten Broadway-Agentin, die ihr Leben der Aufgabe widmete, den beruflichen Erfolg des wunderbaren Pianisten Erroll Garner zu fördern. Sie versuchte, mir einen unschätzbaren Gefallen zu tun, indem sie mich zur Johnny Carson Show mit Garner mitnahm, da sie damit rechnete, daß ich für mein Buch über Jazz, das ich vor kurzem veröffentlicht hatte, Reklame machen würde. (Meine

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völlige Ahnungslosigkeit im Umgang mit den Realitäten des amerikanischen Verlagswesens im Jahr 1960, das der britischen Szene um dreißig Jahre voraus war, zeigte sich darin, daß ich während des gesamten vierminütigen Interviews kein einziges Mal den Titel meines Buchs nannte.) Die meisten von ihnen waren in der einen oder anderen Weise Flüchtlinge aus dem konventionellen Leben amerikanischer Männer in den fünfziger Jahren, dem Jahrzehnt des »Mannes im grauen Flanell«, ausgenommen der größte Talentsucher und Förderer in der Geschichte des Jazz, John Hammond Jr. Kein auswärtiger Besucher, der ihn beispielsweise vor dem Village Vanguard sah, dem bekanntesten Jazz-Klub in Manhattan, hätte ihn gefragt, wie ich gefragt wurde, als ich mit einem Freund vor einem Lokal in North Beach, San Francisco, stand: »Entschuldigen Sie bitte, sind die Herren vielleicht Beatniks?« Natürlich hätte niemand fragen müssen, wer er war, wenn er vor Small’s Paradise in Harlem gestanden hätte, wohin er mich mitnahm. John Hammond Jr. war fast die Karikatur eines Angehörigen der WASP-Oberschicht* mit dem Diplom einer Eliteuniversität: groß gewachsen, Bürstenhaarschnitt, ein Akzent, wie er von den Personen in einem der Romane von Edith Wharton gesprochen werden könnte – er war selbst ein Vanderbilt –, und im Gesicht ein unentwegtes Grinsen. Wie so oft in den USA war dies kein Zeichen für einen besonderen Sinn für Humor. Formlosigkeit oder ein ungezwungenes Lachen lag ihm nicht, etwas, das er mit seinem ehemaligen Schwager Benny Goodman gemeinsam hatte, dem man nachsagte, er könne seine Instrumentalisten mit einem Basiliskenblick erstarren lassen. John Hammond blieb bis zum Schluß ein erzkonservativer und militanter Linker der dreißiger Jahre, auch wenn das FBI es nie geschafft hat, ihn als Kommunisten mit Parteiausweis zu enttarnen. Die Geschichte des Jazz in den USA vor dem Zweiten Weltkrieg und, da er wahrscheinlich den für eine Einzelperson größten Anteil an der Popularisierung der »Swingmusik« in den dreißiger Jahren hatte, die Geschichte der USA überhaupt wären ohne ihn nicht zu schreiben. Ich fragte ihn auf dem Sterbebett, auf was er in seinem Leben am meisten stolz sei. Darauf, daß er Billie Holiday entdeckt hatte, lautete die Antwort. Zu der Zeit, als ich ihn kennenlernte, befand er sich nicht mehr im musikalischen Zentrum, auch wenn man einen Mann, der gerade im Begriff stand, Bob Dylan groß herauszubringen, nicht uneingeschränkt als von gestern bezeichnen konnte. Ein weiterer New Yorker Jazzlieb* WASP: Akronym für White Anglo Saxon Protestant, Angehöriger der privilegierten und besonders einflußreichen Schicht in den USA (A.d.Ü.).

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haber, der mein bester amerikanischer Freund wurde, ließ es sich als Journalist nicht nur angelegen sein, mit allen Generationen in seiner Reichweite, alt und jung, Kontakte zu pflegen, sondern tat dies auch noch mit einer geradezu surrealen Spontanität, die alle für ihn einnahm. Es war der Mann, der unter anderem gerade Lenny Bruce entdeckt hatte und sich zum Wahlkampfagenten des großen Trompeters Dizzy Gillespie machte, der für das Amt des amerikanischen Präsidenten kandidierte, worin keiner von beiden nur einen Witz sah: Ralph Gleason. Ein New Yorker irischer Abstammung, hatte er die Stadt verlassen, um Kolumnist für Showbusiness und Unterhaltungsmusik beim San Francisco Chronicle zu werden, eine Zeitung, die stolz darauf war, nicht zum Presseimperium von Randolph Hearst zu gehören, stolz auch darauf, Kolumnisten zu beschäftigen, die sich durch nichts erschüttern ließen, was immer ihnen in einer wohlhabenden, gelassenen und freundlich andersdenkenden Stadt begegnen mochte. Er wohnte in einem bescheidenen Haus oben auf der Höhe in Berkeley, voll mit Plattensammlungen, Tonbändern, musikalischen Projekten, Druckerzeugnissen in allen Formaten und (im allgemeinen jungen) Besuchern, und das alles wurde von seiner tüchtigen und umsichtigen Frau Jeanie in Ordnung gehalten. Für mich war es eine Zuflucht aus Palo Alto, und für die Fahrten benutzte ich den ersten Wagen, den ich je besessen habe, einen 1948er Kaiser, den ich für 100 Dollar erstanden hatte und am Ende des Sommerquartals einem mathematischen Logiker von Weltrang für 50 Dollar wieder verkaufte. Was die Musik und das Showgeschäft anging, war die Bay Area von San Francisco 1960 durchaus auf der Höhe, ein guter Markt, aber doch begrenzt. Alle traten in der Stadt auf, aber kaum etwas war daraus hervorgegangen bis auf die erste selbstbewußte Welle einer weißen Dixielandmusik. Es war ein Ort von der Art, wo sich Altmeister wie der große Jazzpianist Earl Hines niederließen, wo sie sich eines guten, soliden Klubpublikums sicher waren. Selbst Duke Ellington nahm dort eher einen Auftritt in einem Klub an als ein Konzert, womit er mir die unvergeßliche Gelegenheit gab, die erste seit 1933, die Band in dem Milieu zu hören, auf das sie zugeschnitten war, nämlich in einem Raum mit geselligen Trinkern, wo das wahre Maß der Wirkung einer Band nicht der Applaus war, sondern die plötzliche Stille, wenn die Gespräche an den Tischen verstummten. San Francisco, damals noch nicht die »Gay Republic« oder das Hinterland von Silicon Valley, spielte dennoch eine nationale Rolle und fand auf der amerikanischen Bühne Beachtung, ganz abgesehen von der phantastischen Schönheit seiner Bucht. Es war eine liberale Stadt,

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wenn auch politisch weniger radikal, als ihre Nachbarstadt Berkeley in den sechziger Jahren wurde, und stolz auf ihre Dissidenten (nicht zuletzt Harry Bridges). Schon damals war der Umgang mit Drogen entspannt. Nach kalifornischen Maßstäben war sie von Geschichte völlig durchtränkt, es gab die (damals) so berühmte Chinatown, die Erinnerung an den Malteser Falken, und sie galt als das herausragendste Zentrum der Avantgardeliteratur der fünfziger Jahre, der »Beat«-Bewegung, so modern, daß Ken Tynan mir dazu gratulierte, daß ich dort hinging. »Dort«, das war die Gegend am Broadway, North Beach, eine Art pazifisches St.-Germain-des-Prés, wo ich Ralph kennenlernte und das dortige Flore und Enrico’s gegenüber dem City Lights Bookstore, wo man die vorbeischlendernden Größen der Stadt begrüßte und von ihnen gegrüßt wurde. Anders als auf dem New Yorker Broadway wurde auf diesem Broadway tatsächlich geschlendert. Und auf der anderen Seite der Bay Bridge lag Berkeley. Um die Mitte der sechziger Jahre machten es »die weißen Söhne des bürgerlichen Amerika« für kurze Zeit zur eigentlichen Szene der Hippiejugend und der »Flower power« und brachten nebenbei (wie Gleason schrieb) »die ersten amerikanischen Musiker außer den Vertretern der Country- und Westernmusik hervor, die nicht versuch[t]en, schwarz zu klingen«.5 Gleason machte sich zum Sprachrohr der Haight-Ashbury-Musik, Gruppen wie Jefferson Airplane und die Grateful Dead, auch wenn er von seinem Naturell her nicht zur Drogenszene gehörte. Er gab sogar das Marihuanarauchen auf. Er gehörte zu der Generation von Intellektuellen, die Pfeife rauchten, wie ich damals auch. Sein Gesundheitszustand war nie der beste, und er starb 1975 mit 58 Jahren. Aus drei Gründen war er mein Fenster zu Amerika. Da er in der Welt des Jazz lebte, einer Außenseitermusik, hatte er ein Gespür für die Schwingungen kommender Ereignisse, die anderen entgingen – den sich verändernden Ton der Klänge, die aus dem schwarzen Ghetto kamen, die Avantgarde der weißen Kids, die die Kraft des großstädtischen schwarzen Blues entdeckten, die Vorboten der Studentenrevolte in Berkeley, die sich nach 1964 auf die gesamten USA ausweitete und 1968 die ganze Welt erfaßte. Diese Dinge wurden im Sommer 1960 nirgends sonst bemerkt. Niemand vom Lehrkörper der Universität in Berkeley und noch weniger der renommierten, aber spießigen Stanford University machte mich auf das politische Wochenende aufmerksam, das in diesem Sommer von den Linken in Berkeley organisiert wurde, weil niemand davon wußte. Gleason dagegen schon, der zwar keine akademischen oder erkennbar politischen Beziehungen hatte, aber mit dem die Studenten redeten. Nicht daß er viel mit dem orga-

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nisierten politischen Radikalismus zu tun gehabt oder sich in den Kreisen der Linken in der Bay Area bewegt hätte. Die Symbionese Liberation Army war weit mehr nach seinem Geschmack, eine bizarre reductio ad absurdum des Millenarismus der Bay Area, die damals in die Schlagzeilen geriet, weil ihre Anhänger die Tochter von William Randolph Hearst Jr. zuerst kidnappten und dann bekehrten. Ihm gefielen die Berkeley Free Speech Rebels, die bei ihm ein und aus gingen; er bewunderte das Rednertalent und die planlose Aufrichtigkeit des ein wenig ungewandten Physikstudenten Mario Savio und schickte ihn nach dessen Relegation zusammen mit seiner Frau/Lebensgefährtin zu mir ans Birkbeck College – in der Hoffnung, wir könnten etwas Passendes für ihn finden. (J.D. Bernals Fakultät für Physik erhob keine Einwände, doch das akademische Leben und die wissenschaftliche Forschung waren offensichtlich nicht Marios Sache, und er kehrte zum Leben in den Cafés und den Läden der Drogenszene an der Telegraph Avenue in Berkeley zurück, wo er einst seine Triumphe gefeiert hatte.) Der zweite Grund, warum ich Gleason eine hervorragende Einführung in das Amerika der Nachsechziger verdankte, lag darin, daß er, da er selbst von außen in die kulturutopischste Ecke Kaliforniens zugewandert war, die Bestrebungen seiner jungen Menschen und ihre kulturelle Revolution verstehen konnte. Und obwohl er durchaus nichts Kindisches hatte, war Ralph nicht der Typ fürs Altwerden. Er verfügte über eine schier unerschöpfliche Begeisterung, die ich nicht teilen konnte, selbst für Rockgruppen. Auch dies machte ihn in besonderer Weise empfänglich für die Stimmungslage kommender Zeiten. Er war es, der einem seiner jungen Anhänger behilflich war, eine Rockzeitschrift zu gründen, er war es, der den Titel dafür einer Aufnahme des Chicagoer Bluessängers Muddy Waters entlieh, Rolling Stone, und ausgerechnet er, der mit Kommerz überhaupt nichts im Sinn hatte, verfügte dank dieser Zeitschrift und einem ursprünglich kleinen Plattenlabel für Jazz und Satire, »Fantasy Records«, plötzlich über so viel Geld, wie er nie in seinem Leben verdient hatte, und konnte alten Freunden Kisten mit Whisky und Zigarren schicken. Und schließlich trug Gleason, der nirgenwo anders vorstellbar gewesen wäre als in den USA, dank seines Stils und seines Naturells zu meinem Verständnis seines Landes bei, auch wenn dessen Kultur in mancher Hinsicht für Europäer fremdartiger war als für alle anderen Ausländer mit Ausnahme der Japaner. Er hatte die in den Augen von Außenstehenden charakteristische amerikanische Mischung aus plötzlichen Liebes- und Haßgefühlen, war sentimental im Gefühl (aber nicht im gesprochenen Wort). Andererseits schien er immun gegen die

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drei vorprogrammierten Gefahren des amerikanischen kulturellen Lebens: Selbstbezogenheit, ausführliches Grübeln über die Frage, was es bedeutet, Amerikaner zu sein, und intellektuelle Trägheit. Leerformeln wie »amerikanische Werte« und »der amerikanische Traum« kamen in seinem Vokabular nicht vor und fehlten damals überhaupt noch in privaten Unterhaltungen zwischen Amerikanern. Er nahm die Amerikaner, wie sie waren. Rhetorik gehörte nur zu ihrem öffentlichen Leben und zu den offiziell gebilligten Versionen der Liebe. Ich glaube, er hätte nicht einmal eine amerikanische Utopie vollständig gefunden ohne den einen oder anderen korrupten Chicagoer Alderman, ein bis zwei lüsterne, millionenschwere Radioevangelisten, mehrere Zentren einer leidenschaftlich dissidenten Gegenkultur gegen die Utopie selbst und Lokale wie das neben einem der Hauptcasinos in Reno, Nevada. Es trug die Aufschrift »Sierra Club, Horse Book and Kosher Delicatessen«. Da er jedoch in den großen Sündenstädten der Welt lebte, erwartete er vermutlich, daß Gott es nicht fertigbringen würde, dieses Sodom zu zerstören, da die zehn Gerechten, die es brauchte, um es zu retten, auf jeden Fall dort gefunden werden konnten. Einer von ihnen war er selbst. Ralph Gleason gehörte jenem einzigartigen Produkt der Vereinigten Staaten an, dem Korps von Beobachtern, zumeist Journalisten, die besten wohl aus der Generation der dreißiger bis fünfziger Jahre, zugleich die Glanzzeit der amerikanischen populären Lieddichtung und des Musicals, die über ihr Land mit Liebe, Verachtung und Staunen berichteten. Er machte mich mit anderen, ähnlichen Leuten bekannt. Niemand hätte mich besser in Chicago einführen können, eine Stadt, an der kein Liebhaber des Blues einfach vorbeigehen kann. Ich erreichte Chicago auf einer Fahrt vom Pazifik zur Ostküste, die von den Beatniks als Initationsritus des wahren amerikanischen Rebellen gefeiert worden war. Die Fahrtkosten teilte ich mit drei Studenten der Stanford University, die völlig unverdächtig waren, etwas mit Kerouac zu tun zu haben. Nach europäischen Maßstäben sind die weiten Räume der Berge und der Prärie zu wenig abwechslungsreich, um genießbar zu sein, zumindest für diejenigen, die ihren Kopf nicht ganz woanders haben. Einen Drogenrausch konnten sich aber vier Personen kaum leisten, die sich am Steuer reihum abwechselten. Ich wurde dabei so schläfrig, daß ich auf dem endlosen, schnurgeraden Highway irgendwo in der Nähe von Laramie, Wyoming, fast in einen entgegenkommenden Wagen gekracht wäre. Chicago selbst, vor allem wenn man es im August von einem kleinen Zimmer eines YMCA-Heims ohne Ventilator oder Klimaanlage aus erlebt, ist bis heute die heißeste

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Stadt geblieben, die ich je besucht habe. In der brüllenden Sommerhitze ebenso unerträglich wie im schneidend kalten Winterwind, symbolisiert es die für Amerikaner typische Überzeugung, daß natürliche Schranken dazu da sind, durch den Einsatz von Technik und Geld überwunden zu werden, sofern der Zweck – in diesem Fall Handel und Transport – den Aufwand rechtfertigt. Es gibt kaum eine Großstadt, die für das einfache Leben von Menschen ohne alle technischen Hilfsmittel weniger geeignet wäre. Doch dieser Aufwand reichte nicht aus, um aus Chicago mehr zu machen als die »Second City« der USA, sosehr sie sich auch bemühte. Selbst auf dem Gebiet des Jazz, wo sie den Startvorteil hatte, die besten Musiker und Sänger aus dem Mississippidelta anzuziehen, unterlag sie Big Apple, und im organisierten Verbrechen verlor sie nach Al Capone ihre Vorrangstellung, auch wenn die Mafia noch immer eine bedeutende Rolle spielte. Chicago blieb immerhin die Hauptstadt des City blues, doch anders als dessen weltweit bekanntes Kind, der Rock ’n’ Roll, gehörte der Chicagoblues wie der Gospelsound den endlosen, gleichförmigen, heruntergekommenen schwarzen Ghettos der South und der West Side an. Er war immer noch die Kunst armer Zuwanderer aus dem Süden, die in Kneipen an der Ecke, in improvisierten Kirchen und selbst auf dem Straßenmarkt geschaffen wurde. Sie hatte einen nationalen »Superlativ«, Bürgermeister Daley, der letzte und größte der Stadtbosse, der dafür garantierte, daß die Cook County ihre Stimmen jeweils dem demokratischen Kandidaten geben würde, was Jack Kennedy zugute kam, dessen Wahl dadurch entschieden wurde. Während ich dies hier schreibe, wird die Stadt noch immer von seinem Sohn regiert. Doch gerade das verlieh Chicago Züge einer Dorfgemeinde. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Karriere meines bewunderten Studs Terkel auch in einer anderen Großstadt möglich gewesen wäre. Bezeichnenderweise war das erste der wunderbaren Bücher, die seinen Weltruf als Chronist des Lebens gewöhnlicher Menschen begründeten, Division Street: America (deutsch: Bericht einer amerikanischen Stadt, Chicago)6, ein aus siebzig Stimmen der Oral history herrlich gewebter Wandteppich Chicagos, benannt nach einer Straße in der Near North Side der Stadt – 1960 ihr angenehmster Teil –, in Auftrag gegeben von meinem Freund, dem Verleger André Schiffrin im Rahmen einer Serie über »die Dörfer der Welt«. In mancher Hinsicht ziehe ich es seinen späteren, ehrgeizigeren und bekannteren vielstimmigen Kompositionen Hard Times: The Oral History of the Great Depression (deutsch: Der große Krach: Die Geschichte der amerikanischen Depression), Working, The Good

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War (deutsch: Der gute Krieg) und den übrigen vor. Als ich ihn kennenlernte, war er 48 Jahre alt und moderierte wie stets seine tägliche persönliche Radiosendung in einem lokalen Sender, Lesungen, Musikkommentare, alles, vor allem Interviews. Er hatte die einzigartige Begabung, die Menschen vergessen zu lassen, daß sie in ein Mikrophon sprachen und daß noch jemand ihre Stimme hörte außer einem kleinen clownesken Kerl mit einer Frackschleife, der zu hören schien, was sie sagen wollten, und der sich in guten wie in schlechten Zeiten auszukennen schien. Was tatsächlich stimmte, da seine Karriere als Schauspieler und Fernsehmoderator durch die antikommunistische Hexenjagd beendet wurde. Nachdem er eine Zeitlang die PR-Arbeit für schwarze Musiker aus Chicago gemacht hatte, die wußten, was Vorurteile waren, fand er einen kleinen Posten bei einem lokalen Sender, wo das große Geld nicht gebraucht wurde und deshalb auch nicht hineinreden konnte. Und dank des gegenseitigen Selbstverteidigungspakts der Chicagoer gegen die Schlagzeilenjäger von außerhalb drohte ihm niemand mit dem Gespenst des Kommunismus, als er zu einer Berühmtheit geworden war. Schließlich gehörte er jener kleinen Gemeinschaft an, die es in jeder Großstadt gibt – aus Reportern, Kommentatoren, städtischen Autobiographen und anderen Kneipenphilosophen und Beobachtern –, in der sich die Mitglieder gegenseitig achten. War das die beste Möglichkeit für einen Ausländer, die USA zu entdecken? Die Männer und Frauen, die ich durch Leute wie Ralph Gleason und Studs Terkel kennengelernt habe, waren nicht »middle America«. Es waren Menschen wie die majestätische Gospelsängerin Mahalia Jackson, eine der größten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, deren Presseagent Terkel gewesen war und die kaum einem Mann und noch weniger einem Weißen traute. Religion bei Afroamerikanern ist gleichzeitig inbrünstiger Glaube, eine öffentliche Plattform, eine konkurrenzbestimmte Kunst und eine gewinnorientierte Industrie. Mahalia Jackson, eine üppige Frau in ihrer großen bürgerlichen Wohnung, für den Augenblick befreit von der ständigen Notwendigkeit bei Bühnenstars, öffentlich aufzutreten, verband das ruhige Vertrauen einer mit Jesus verbundenen Seele mit dem Selbstbewußtsein einer erfolgreichen Berufssängerin. Es waren Menschen wie »Lord Buckley«, der damals nur noch wenige Monate zu leben hatte – mit seiner sonoren Stimme und seinem makellosen Argot eine Mischung aus viktorianischem Zirkusdirektor, Jazzmusiker und Bibel- und Shakespeare-Rezitator –, der jede Nacht um 2 Uhr im Gate of Horn auftrat. Es waren Leute wie Bill Randle aus Cleveland, der Elvis Presley einem Publikum im Norden bekannt gemacht hatte, Diskjockey von Beruf, Ama-

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teurexperte in Rundfunkgeschichte, Geschichte der Indianer und anderen Americana aus Berufung. (Warum Cleveland, dieses endlose Band entlang des Eriesees, für das Bekanntwerden des Rock ’n’ Roll eine so wichtige Rolle gespielt hat, ist mir bis heute ein Rätsel.) Das mindeste, was man sagen kann, ist, daß das Amerika, das ich durch solche Männer und Frauen kennengelernt habe, alles andere als langweilig war. Das universitäre Amerika, das über vierzig Jahre lang meine berufliche Erfahrung der USA bestimmt hat, war weit weniger geeignet, mich in das Land einzuführen, schon weil das Leben der Hochschullehrer – Dorfbewohner innerhalb ihrer kleinen nationalen und globalen Dörfer – in den meisten entwickelten Ländern recht ähnlich verläuft, und dasselbe gilt für das Leben der Studenten. Amerikanische Professoren haben keine Probleme, mit Neuankömmlingen Beziehungen anzuknüpfen, da ihre Laufbahn sehr viel geographische Mobilität einschließt, was überhaupt für den ganzen amerikanischen Lebensstil gilt. Die USA bleiben ein Land von Männer und Frauen, die weit häufiger als die Einwohner anderer Länder den Wohnort, die Arbeitsstelle und ihre Freunde und Bekannten wechseln. Außerdem waren die Universitäten mit ganz wenigen Ausnahmen eigenständige Gemeinden, angebunden an kleine und mittelgroße Städte, die sich wenig um akademische Angelegenheiten kümmerten, zumindest bis zum letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts, als man entdeckte, daß die Informationsrevolution aus den Universitäten bedeutende Erzeuger von wirtschaftlichem Reichtum und technischem Fortschritt gemacht hatte. Es waren Gemeinden, in die Zuwanderer, die an das Universitätsleben gewöhnt waren, mühelos, wenn auch nur oberflächlich integriert werden konnten, sofern sie gut genug Englisch sprachen, das spätestens in den siebziger Jahren die übliche internationale Zweitsprache geworden war. Ein indischer Physiker an der Cornell University, der Bruder einer meiner ehemaligen Studentinnen in Cambridge, sagte mir: »Wenn ich einen Lehrstuhl in England übernähme, wäre ich dort immer ein Fremder. Hier fühle ich mich nicht als Fremder, da hier in gewissem Sinne jeder ein Fremder ist.« Dauerhafte Gemeinden, die überwiegend aus Durchreisenden bestehen, entwickeln Muster einer spontanen Geselligkeit, gut nachbarschaftlicher Beziehungen und einer täglichen gegenseitigen Hilfe, aber als Gemeinschaftsform tragen sie wenig zur Erhellung dessen bei, was außerhalb geschieht. Wenn ich auf die vierzig Jahre meiner Besuche und Aufenthalte in den USA zurückblicke, habe ich das Gefühl, im ersten Sommer, den ich dort verbrachte, genausoviel über das Land erfahren zu haben wie wäh-

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rend der Jahrzehnte danach. Mit einer einzigen Ausnahme: Um New York oder auch nur Manhattan kennenzulernen, muß man dort leben. Wie lange? Bei mir waren es von 1984 bis 1997 jedes Jahr vier Monate, doch obwohl Marlene nur dreimal während des ganzen Semesters mit dabei war, reichte das vollkommen aus, damit wir uns beide eher als Einheimische und weniger als Besucher gefühlt haben. Ich habe viel Zeit in den USA verbracht, habe gelehrt, in seinen wunderbaren Bibliotheken gelesen, geschrieben oder einfach eine schöne Zeit verlebt, manchmal auch alles zusammen wie seinerzeit im Getty Center, als es sich noch in Santa Monica befand, doch was ich aus persönlicher Erfahrung über Amerika gelernt habe, das lernte ich in wenigen Wochen oder Monaten. Wäre ich ein de Tocqueville, wäre das auch genug gewesen. Schließlich beruhte sein Buch Über die Demokratie in Amerika, das Beste, was je über dieses Land geschrieben wurde, auf einer einzigen Reise von nicht mehr als neun Monaten. Doch ich bin nicht de Tocqueville, und mein Interesse an den USA ist ein anderes als seines. III Wäre es heute geschrieben worden, würde de Tocquevilles Buch sicher »Antiamerikanismus« vorgeworfen: Vieles von dem, was er über Amerika sagte, war kritisch. Seit ihrer Gründung waren die Vereinigten Staaten für die übrige Welt ein Gegenstand der Bewunderung und der Faszination, aber auch der Herabsetzung und des Mißfallens. Doch erst seit dem Beginn des Kalten Kriegs wurde die Haltung von Außenstehenden gegenüber den USA im wesentlichen danach beurteilt, ob darin Zustimmung oder Ablehnung zum Ausdruck kommt, und zwar nicht nur von der Seite von Einwohnern, die bei ihren Mitbürgern gerne ein »unamerikanisches Verhalten« aufspüren, sondern international. Die Frage »Was halten Sie von den USA?« wurde durch die Frage ersetzt: »Sind Sie für die USA?« Kein anderes Land erwartet oder stellt eine solche Frage über sich selbst. Da Amerika, nachdem es den Kalten Krieg gegen die UdSSR gewonnen hatte, am 11. September 2001 unplausiblerweise beschlossen hat, daß die Sache der Freiheit in einem erneuten Kampf auf Leben und Tod gegen einen weiteren bösen, diesmal jedoch eklatant ungenau definierten Feind steht, werden alle skeptischen Bemerkungen über die USA und ihre Politik sehr wahrscheinlich erneute Empörung auslösen. Aber wie unangemessen, ja geradezu absurd ist dieses Beharren auf Zustimmung! Im internationalen Maßstab verbuchen die USA unter

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den Staaten des 20. Jahrhunderts in jeder Hinsicht die Erfolgsgeschichte. Ihre Wirtschaft erreichte weltweit den Spitzenplatz und gab anderen Wirtschaften das Tempo des Wachstums und dessen Muster vor, ihre Fähigkeit zu technischen Leistungen war einzigartig, ihre Forschung in den Natur- und den Sozialwissenschaften, selbst ihre Philosophen erlangten zunehmend eine Vorrangstellung, und ihre Hegemonie als globale Verbraucherkultur schien unangefochten. Sie beendeten das 20. Jahrhundert als einzige überlebende Weltmacht und als einziges Weltimperium. Und mehr noch, »in vieler Hinsicht [stellten] sie das Beste des 20. Jahrhunderts dar«.7 Wenn (statt allgemeiner Meinungsumfragen) Migranten gefragt würden, dann wäre Amerika höchstwahrscheinlich das bevorzugte Ziel der meisten Menschen, die gezwungen sind oder sich entschlossen haben, in ein anderes Land zu ziehen, vor allem wenn sie ein wenig Englisch können. Da ich einer von denen bin, die sich entschieden, in den USA zu arbeiten, kann mein Fall das Argument verdeutlichen. Zweifellos bedeutet das Arbeiten in den USA oder der Wunsch, in den Staaten – und vor allem in New York – zu leben, nicht von vornherein auch den Wunsch, Amerikaner zu werden, auch wenn das für viele Bewohner der Vereinigten Staaten immer noch schwer zu verstehen ist. Es bedeutet für die meisten Menschen nicht mehr eine endgültige Entscheidung zwischen dem eigenen Land und einem anderen, wie vor dem Zweiten Weltkrieg oder bis zur Revolution des Luftverkehrs in den sechziger Jahren, ganz zu schweigen von der Revolution der Telefon- und E-MailKommunikation in den neunziger Jahren. Das Arbeiten in zwei oder mehr Staaten und selbst das Leben in zwei oder mehr Kulturen ist heute nichts Ungewöhnliches mehr. Und Geld ist auch nicht der einzige Magnet. Die USA verheißen eine größere Offenheit gegenüber Talenten, Tatkraft und Neuerungen als andere Welten. Sie verkörpern zugleich die Erinnerung an eine ältere, wenngleich im Niedergang begriffene Tradition des freien und egalitären Strebens nach Wissen, wie sie in der großen New York Public Library noch besteht, deren Schätze anders als in den übrigen großen Bibliotheken der Welt noch immer jedem offenstehen, der ihre Räume von der 5. Avenue oder der 42. Straße aus betritt. Andererseits lagen die menschlichen Kosten des Systems für diejenigen, die außerhalb stehen oder es »nicht schaffen«, in New York ebenfalls klar zutage, zumindest bis man sie den Augen der bürgerlichen Schicht entzogen hat – sie von der Straße vertrieb oder in das unsägliche univers concentrationnaire der gemessen an der Gesamtbevölkerung größten Gefängnispopulation der Welt steckte. Als ich zum ersten Mal nach New

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York kam, war die Bowery noch eine ausgedehnte menschliche Müllhalde. In den achtziger Jahren verteilte sie sich gleichmäßiger in den Straßen von Manhattan. Hinter den beiläufig auf der Straße geführten Handygesprächen von heute höre ich immer noch die Selbstgespräche der Unerwünschten und Verrückten auf den Gehwegen New Yorks, die in einem der schlimmen Jahrzehnte der Unmenschlichkeit und Brutalität zu hören waren. Menschlicher Müll (wastage) ist das andere Gesicht des amerikanischen Kapitalismus; in einem Land, in dem das Verb to waste ein gängiger Gangsterausdruck für »töten« ist. Doch im Unterschied zu anderen Nationen sind die Vereinigten Staaten in ihrer nationalen Ideologie nicht einfach da. Sie leisten etwas. Die kollektive Identität der USA liegt allein darin, »das Beste« zu sein: das großartigste Land, allen anderen überlegen, und das anerkannte Vorbild für die Welt. In den Worten eines Footballtrainers: »Gewinnen ist nicht nur das Wichtigste, es gibt gar nichts anderes.« Das ist eines der Dinge, die Amerika für einen Ausländer zu einem äußerst fremden Land machen. Ich werde nie vergessen, wie wir auf der Rückreise nach einem Semester in New England mit der Familie für ein paar Tage Zwischenstation in einer kleinen, armen Stadt an der protugiesischen Atlantikküste machten, wo wir uns fast nicht verständigen konnten und dennoch das Gefühl hatten, wieder in der eigenen Kultur gelandet zu sein. Die Geographie hatte damit nichts zu tun. Als wir einige Jahre später wieder ein paar Tage Urlaub in Portugal einschoben, diesmal auf dem Rückweg von Südamerika, hatten wir nicht dieses Gefühl, aus der Fremde heimgekehrt zu sein. Es ist nicht die unwichtigste unter den kulturellen Eigenarten der USA, daß ihre Einwohner selbst ihre Fremdheit registrieren (»Nur in Amerika . . .«) oder zumindest ihr seltsam schwankendes Selbstgefühl. Die Frage, die so viele US-Historiker im Hinblick auf ihr Land beschäftigt: »Was bedeutet es, Amerikaner zu sein?«, hat kaum einen Historiker meiner Generation in einem europäischen Land gekümmert. Weder die nationale noch die individuelle Identität erschien Engländern auf Besuch in den Staaten, jedenfalls in den sechziger Jahren, oder auch Besuchern mit komplexem mitteleuropäischem kulturellem Hintergrund so problematisch wie in amerikanischen akademischen Diskussionen. »Was soll denn diese Identitätskrise sein, über die sie alle reden?« fragte mich Marlene nach einem solchen Gespräch. Sie hatte diesen Begriff nie gehört, bevor wir 1967 im amerikanischen Cambridge ankamen. Akademikern aus dem Ausland, die in den sechziger Jahren die USA entdeckten, fielen deren Eigentümlichkeiten wahrscheinlich schneller auf als heute, weil so viele von ihnen noch nicht in die allgegenwärtige

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Sprache der globalisierten Konsumgesellschaft integriert waren, die sehr gut zum tief eingewurzelten Egozentrismus, ja Solipsismus der US-Kultur paßt. Denn wie immer die Dinge zur Zeit de Tocquevilles liegen mochten, nicht die Leidenschaft für den Egalitarismus, sondern ein individualistischer, sprich antiautoritärer, antinomischer, wenngleich seltsam legalistischer Anarchismus ist zum Kern des Wertesystems in den USA geworden. Was vom Egalitarismus blieb, ist in der Hauptsache die Weigerung einer freiwilligen Unterwerfung gegenüber hierarchisch Höherstehenden, was möglicherweise die nach unseren Maßstäben alltägliche Roheit oder gar Brutalität erklärt, mit der in den USA und durch die Regierung der USA Macht dafür eingesetzt wird festzulegen, wer wem befehlen darf. Anscheinend waren die Amerikaner mit sich und ihrem Land in einer Weise beschäftigt, wie sie den Einwohnern anderer gutsituierter Staaten fremd war. Die amerikanische Wirklichkeit war und ist das übermächtige Thema der schöpferischen Künste in den USA. Ihre Schöpfer sind von dem Traum besessen, irgendwie das ganze Amerika zu erfassen. Niemand in Europa hat sich je vorgenommen, »den großen englischen Roman« oder »den großen französischen Roman« zu schreiben, doch die Autoren in den USA versuchen sich immer noch (inzwischen in mehreren Bänden) an »dem großen amerikanischen Roman«, auch wenn sie diese Wendung nicht mehr gebrauchen. Tatsächlich war der Mann, der der Verwirklichung dieses Ziels am nächsten kam, kein Schriftsteller, sondern ein scheinbar oberflächlicher Hersteller von Bildern von erstaunlich dauerhafter Aussagekraft, von dessen Bedeutung mich der britische Kunstkritiker David Sylvester im New York der siebziger Jahre überzeugt hat. Wo sonst außer in Amerika hätte ein Œuvre wie das von Andy Warhol entstehen können, eine überaus ehrgeizige und spezifische, endlose Serie von Variationen über das Thema, in den USA zu leben, von ihren Suppendosen und Coca-Cola-Flaschen bis zu ihren Mythologien, Träumen, Alpträumen, Heroen und Heroinen? In der Tradition der visuellen Künste der Alten Welt findet sich nichts Vergleichbares. Doch ebenso wie die anderen Versuche der schöpferischen Geister der USA, die Totalität ihres Landes zum Ausdruck zu bringen, ist die Vision Warhols nicht die des erfolgreichen Strebens nach Glück, »der amerikanische Traum« des amerikanischen Politjargons und Psychogebrabbels. Wie sehr haben sich die USA zu meinen Lebzeiten oder in den gut vierzig Jahren, seit ich sie zum ersten Mal besuchte, verändert? New York, wie man uns immer wieder beteuert, ist nicht Amerika, und wie Auden gesagt hat, können sich selbst diejenigen, die niemals Amerika-

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ner sein könnten, als New Yorker betrachten. Was tatsächlich jeder tut, der Jahr für Jahr dieselbe Wohnung bezieht, in einem von einer langen Reihe von Wohntürmen mit Ausblick auf die allmähliche Sanierung des Union Square, der von stets demselben albanischen Portier erkannt wird und wie in den vergangenen Jahren mit stets derselben Spanierin über Hilfe im Haushalt verhandelt, die es in den zwölf Jahren, seit sie in der Stadt lebt, nie für nötig befunden hat, Englisch zu lernen. Ebenso wie andere New Yorker gaben Marlene und ich Besuchern von auswärts Tips dazu, was sich geändert hatte, seit sie das letzte Mal auf dem JFK-Airport gelandet waren, und wo man in diesem Jahr essen ging, nur daß wir selbst (abgesehen von ein oder zwei Partys), anders als die dauerhaft hier wohnenden Freunde – die Schiffrins, die Kaufmans, die Katznelsons, die Tillys und die Kramers –, die Leute nicht bei uns zu Hause bewirteten. Wie ein echter New Yorker empfand ich den Verlust eines liebgewordenen Lokals wie den eines Verwandten, ich tauschte Klatschgeschichten bei den regelmäßigen Essen des Institute of the Humanities mit der lokalen intellektuellen Szene aus, jener Mischung aus Vertretern der schreibenden Zunft, Verlegern, Leuten aus dem Showbiz, Professoren und UN-Mitarbeitern – denn eine der Hauptattraktionen New Yorks besteht darin, daß das Geistesleben nicht ausschließlich von der Universität beherrscht wird. Kurzum, es gibt auf der ganzen Erde keinen zweiten Big Apple. Trotzdem könnte New York, auch wenn es für die USA völlig untypisch ist, nirgendwo anders existieren als hier. Selbst seine kosmopolitischsten Einwohner sind unverkennbar amerikanisch, wie unser Freund, der verstorbene John Lindenbaum, Hämatologe in einem Krankenhaus in Harlem und Jazzliebhaber, der vor Antritt seiner Reise nach Bangladesh, wo er an einem medizinischen Forschungsprojekt mitarbeiten sollte, in seinen Koffer auch eine Sammlung Jazzplatten und einen Eiscremeportionierer einpackte. Es gibt in New York weit mehr Juden als anderswo, und im Unterschied zu weiten Teilen Amerikas haben hier viele Menschen ein Bewußtsein davon, daß es den Rest der Welt auch gibt, doch was ich als New Yorker gelernt habe, steht zu dem wenigen, was ich über den mittleren Westen und Kalifornien weiß, in keinem fundamentalen Widerspruch. Merkwürdigerweise hat sich die Atmosphäre in den USA – was man in den sechziger Jahren »the vibes« genannt hat – weniger verändert als die anderer Länder, die ich während des letzten halben Jahrhunderts kennengelernt habe. Im Jahr 2002 in Paris, Berlin oder London zu leben ist etwas völlig anderes, als es in meiner Jugend war; das gilt selbst für Wien, das seine soziale und politische Veränderung bewußt verbirgt,

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indem es aus sich einen Themenpark einer glorreichen Vergangenheit gemacht hat. Schon rein äußerlich hat sich die Skyline von London, wie man sie von den Hängen von Parliament Hill aus sieht, wo ich wohne, verändert – das Parlament ist jetzt kaum noch sichtbar –, und Paris ist auch nicht mehr das, was es einmal war, seit die Herren Pompidou und Mitterrand dort ihre Spuren hinterlassen haben. Doch während New York dieselben sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche erlebt hat wie andere Großstädte – Entindustrialisierung, Sanierung ganzer Viertel, ein massiver Zustrom von Migranten aus der Dritten Welt –, ist davon nichts zu spüren oder gar zu sehen. Das ist um so überraschender, als die Stadt, wie jeder New Yorker weiß, sich Jahr für Jahr verändert. Ich selbst habe im Leben New Yorks so fundamentale Neuerungen erlebt wie das koreanische Obst- und Gemüsegeschäft, das Ende so fundamentaler Einrichtungen für die untere Mittelschicht wie die Gimbel-Kaufhäuser und die Umwandlung von Brighton Beach in Little Russia. Und trotzdem hat New York in weit höherem Maße seinen Charakter bewahrt als London. Selbst die Skyline von Manhattan ist im wesentlichen noch die der dreißiger Jahre, zumal die ehrgeizigste Neuerung nach dem Krieg, das Welthandelszentrum, inzwischen wieder verschwunden ist. Ist diese äußerliche Stabilität trügerisch? Schließlich sind die Vereinigten Staaten Teil der gesamten Erdbevölkerung, deren Lage sich seit 1945 tiefgreifender denn je in ihrer bisherigen überlieferten Geschichte geändert hat. Diese Änderungen schienen in den USA weniger dramatisch, weil die wirtschaftlich blühende, hochtechnisierte Gesellschaft des Massenkonsums, die sich in Westeuropa erst in den fünfziger Jahren entwickelte, dort nichts Neues war. Während ich schon 1960 wußte, daß die Lebensweise der Briten vor 1955 eine völlig andere war als danach, waren oder schienen die fünfziger Jahre für die USA lediglich eine größere und bessere Version jener Art des 20. Jahrhunderts, die ihre wohlhabenderen weißen Mitbürger seit zwei Generationen kannten und deren Glaubwürdigkeit sich nach dem Schock der Großen Depression wieder erholt hatte. Von außen gesehen machten die USA weiter wie bisher, auch wenn bestimmte Gruppen ihrer Bürger – vor allem diejenigen mit Collegebildung – sie allmählich mit anderen Augen sahen; mit zunehmender Modernisierung der Länder der Europäischen Union begann das Inventar des Lebens, mit dem europäische Touristen hier in Berührung kamen, weniger »modern« und sogar ein wenig angestaubt zu wirken. Als ich in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren durch Kalifornien fuhr, empfand ich keinen großen Unterschied gegenüber den sechziger Jahren, Spanien und Sizilien dagegen waren nicht wiederzuerkennen. New York war zeit meines Le-

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bens eine kosmopolitische Einwandererstadt gewesen; London wurde dies nach den fünfziger Jahren. Die Details im großen Teppich der USA haben sich geändert und ändern sich immer wieder, doch sein Grundmuster bleibt bemerkenswert stabil. Als Historiker weiß ich, daß hinter dieser äußerlichen Stabilität umfassende, langfristige und möglicherweise grundlegende Veränderungen vor sich gehen. Dennoch werden sie verdeckt: durch den entschlossenen Widerstand gegen jede Veränderung amerikanischer Institutionen und Verfahren und durch die Gewohnheiten des amerikanischen Alltagslebens sowie durch das, was Pierre Bourdieu allgemeiner als »Habitus« bezeichnet hat, die Art und Weise, wie man die Dinge dort angeht. In der Zwangsjacke einer Verfassung aus dem 18. Jahrhundert, die zwei Jahrhunderte talmudischer Exegese durch die Rechtsanwälte, die Theologen der Republik, noch enger werden ließen, sind die Institutionen der USA zu viel größerer Unbeweglichkeit erstarrt als in fast allen übrigen Staaten im Jahr 2002. Sie haben bislang schon so geringfügige Änderungen wie die Wahl eines Italoamerikaners oder eines amerikanischen Juden, geschweige denn einer Frau zum Staatsoberhaupt verhindert. Aber sie haben die Regierung des Landes auch geradezu verbarrikadiert: gegen große Männer und Frauen und überhaupt gegen jeden, der große Entscheidungen treffen könnte, denn offiziell sind schnelle und wirksame nationale Entscheidungen nahezu unmöglich. Das Regierungssystem der Vereinigten Staaten ist darauf angelegt, mit mittelmäßigen Persönlichkeiten zu arbeiten, und die USA waren im 20. Jahrhundert reich und mächtig genug, um sich das leisten zu können. Amerika ist das einzige Land zu meinen politischen Lebzeiten, in dem drei fähige Präsidenten (FDR, Kennedy und Nixon) von einem Tag auf den anderen durch Männer ersetzt wurden, die für das Amt nicht qualifiziert waren und von denen man eine kompetente Wahrnehmung ihrer Amtspflichten auch gar nicht erwartet hat, ohne daß die Geschichte der USA oder die Weltgeschichte dadurch einen erkennbar anderen Verlauf genommen hätte. (Historiker, die von der Relevanz hoher Politik und bedeutender Persönlichkeiten an der Spitze eines Staates überzeugt sind, kommen im Fall der USA nicht weit.) Das hat die schwer durchschaubaren Mechanismen der realen Regierung in Washington hervorgebracht, die noch undurchsichtiger gemacht werden durch die schier unerschöpflichen Ressourcen der Großkonzerne und Pressure-groups und das Unvermögen des Wahlverfahrens, zwischen dem eigentlichen und dem zunehmend restriktiven politischen Land zu unterscheiden. So haben sich die USA seit dem Ende der Sowjetunion in aller Ruhe darauf vorbereitet, die Rolle der einzigen

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Supermacht der Welt zu spielen. Das Problem dabei besteht darin, daß es für diese Rolle keinen historischen Präzedenzfall gibt, daß das politische System der USA auf die Ambitionen und Reaktionen der Vorwahlen in New Hampshire und auf Provinzprotektionismus ausgerichtet ist, daß die USA keine Vorstellung davon haben, wie sie ihre Macht einsetzen sollen, und daß die Welt ziemlich sicher zu groß und zu kompliziert ist, um auf längere Sicht von einer einzigen Supermacht beherrscht zu werden, und seien deren wirtschaftliche und militärische Ressourcen noch so groß. Größenwahn ist die Berufskrankheit globaler Sieger, wenn sie nicht durch Furcht in Schach gehalten wird. Niemand kontrolliert heute die USA. Das ist der Grund, warum heute, da ich dies schreibe, im April 2002, ihre gewaltige Macht die Welt destabilisieren kann und dies offensichtlich auch tut.* Unser Problem ist nicht, daß wir amerikanisiert werden. Trotz der massiven Auswirkungen einer kulturellen und wirtschaftlichen Amerikanisierung hat sich die übrige und selbst die kapitalistische Welt bislang als auffallend resistent dagegen erwiesen, dem Vorbild der Politik und Gesellschaft der USA zu folgen. Das dürfte daran liegen, daß Amerika längst nicht das kohärente und somit übertragbare gesellschaftliche und politische Modell einer kapitalistischen liberalen Demokratie auf der Grundlage universeller individueller Freiheitsrechte ist, wie das seine patriotische Ideologie und Verfassung nahelegt. Und solange dies so ist, bleiben die USA trotz all ihrer Macht und ihres Einflusses ein – durch das große Geld und öffentliche Emotionen entstellter – unaufhörlicher Prozeß des Herumbastelns an öffentlichen und privaten Institutionen, um diese an Realitäten anzupassen, die der unveränderliche Text der Verfassung von 1787 nicht voraussah. Dieser Prozeß kann gar nicht kopiert werden. Die meisten von uns würden ihn auch gar nicht kopieren wollen. Seit meiner Pubertät habe ich außerhalb Englands mehr Zeit in den USA verbracht als in irgendeinem anderen Land. Trotzdem bin ich froh, daß meine Kinder nicht dort aufgewachsen sind und daß ich einer anderen Kultur als der amerikanischen angehöre. Und dennoch ist es auch meine. Unser Problem liegt eher darin, daß das US-Imperium nicht weiß, was es mit seiner Macht oder deren Grenzen anfangen soll oder kann. Es besteht lediglich darauf, daß diejenigen, die nicht für Amerika sind, dagegen sind. Das ist das Problem aller, die auf dem Gipfelpunkt des »amerikanischen Jahrhunderts« leben. Da ich 85 Jahre alt bin, werde ich seine Lösung wohl nicht mehr erleben. * Dieser Satz gilt auch nach dem Krieg gegen den Irak. [Mai 2003]

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I Biographien enden mit dem Tod ihres Protagonisten. Autobiographien haben keinen solchen natürlichen Abschluß. Diese hier hat immerhin den Vorzug, zum Zeitpunkt einer unbestreitbaren und dramatischen Zäsur in der Weltgeschichte zu enden, zu der es in Folge des Attentats vom 11. September 2001 auf das Welthandelszentrum und das Pentagon gekommen ist. Es gibt vermutlich kein anderes unerwartetes Ereignis in der Weltgeschichte, das von mehr Menschen unmittelbar miterlebt worden wäre. Ich habe es zufällig auf dem Bildschirm eines Fernsehers in einem Londoner Krankenhaus verfolgt, während es geschah. Für einen ergrauten und skeptischen Historiker, der im Jahr der Russischen Revolution geboren wurde, hatte es alles, was am 20. Jahrhundert schlecht ist: Massaker, eine hochentwickelte, aber unzuverlässige Technik, Verlautbarungen, daß erneut ein weltweiter Kampf auf Leben und Tod zwischen der Welt Gottes und der Welt Satans entbrannt sei, denn das wirkliche Leben imitierte die Katastrophenfilme Hollywoods. Regierungssprecher schwallten der westlichen Welt die Ohren zu, während bezahlte Schreiber nach Worten für das Unsagbare suchten und sie leider auch fanden. Vergrößert durch die weltweiten Bilder und Phrasen des amerikanischen Zeitalters der Medien und der Politik, tat sich eine plötzliche Kluft auf zwischen der Weise, in der Amerika und in der die übrige Welt zu verstehen suchten, was sich an diesem furchtbaren Tag ereignet hatte. Die übrige Welt sah nur einen besonders dramatischen Terroranschlag mit einer enorm hohen Zahl von Opfern und einer momentanen öffentlichen Demütigung der USA. Im übrigen war die Lage nicht anders, als sie seit dem Ende des Kalten Kriegs gewesen war, und auf keinen Fall gab sie Anlaß zur Beunruhigung für die einzige Supermacht der Erde.1 Die US-Regierung gab bekannt, der 11. September habe alles verändert, und indem sie das tat, hat sie wirklich alles verändert, da sie sich und die USA zum alleinigen Beschützer einer Weltordnung ausrief und das Deutungsmonopol darüber beanspruchte,

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wann diese Ordnung bedroht war. Wer diesen Anspruch bestritt, war für die US-Regierung ein potentieller oder tatsächlicher Feind. Das kam nicht unerwartet, da die Strategien des US-amerikanischen militärischen Weltreichs seit den späten achtziger Jahren vorbereitet worden waren, und das von denselben Leuten, von denen sie heute angewendet werden. Wie auch immer, der 11. September hat gezeigt, daß wir alle in einer Welt mit einer einzigen globalen Supermacht leben, die schließlich zu dem Schluß gelangt ist, daß es seit dem Ende der UdSSR auf absehbare Zeit keine Grenzen ihrer Stärke und keine Grenzen ihrer Bereitschaft gab, davon Gebrauch zu machen, auch wenn die Zwecke, denen dieser Gebrauch dienen soll – abgesehen von einer sichtbaren Demonstration der US-Hegemonie – ziemlich unklar sind. Das 20. Jahrhundert liegt hinter uns. Das 21. Jahrhundert gibt den Blick frei auf Zwielicht und Dunkelheit. Es gibt kaum einen besseren Ort als ein Krankenhausbett, an das man hilflos »gefesselt« ist, um über die außergewöhnliche Flut orwellscher Wörter und Bilder nachzudenken, die zu einer solchen Zeit über die Bild- und Druckmedien über uns hereinbricht, allesamt dazu gedacht, zu täuschen, zu verbergen und irrezuführen, selbst noch diejenigen, von denen sie produziert werden. Sie reichten von schlichten Lügen bis zu jener dynamischen Schwammigkeit, mit der Diplomaten, Politiker und Generäle – und überhaupt wir alle heutzutage – öffentliche Fragen abwehren, die wir nicht ernsthaft beantworten wollen oder vor deren Beantwortung wir uns fürchten. Sie reichten vom offensichtlich Unaufrichtigen, etwa dem Vorwand, Saddam Hussein (zugegebenermaßen ein einladendes Ziel) müsse wegen der »Massenvernichtungswaffen« des Iraks gestürzt werden, von denen die Welt bedroht sei, bis zur Rechtfertigung der US-Politik durch Leute, die es besser wissen müßten: Sie habe nämlich in der Vergangenheit den Stalinismus besiegt. Daß die politischen Entscheidungsträger und Strategen in Washington heute selbst öffentlich in Kategorien reinster Machtpolitik reden, unterstreicht nur noch die Dreistigkeit, mit der sie die Errichtung des USWeltreichs als die defensive Reaktion einer Zivilisation ausgeben, die kurz davor stehe, von namenlosen barbarischen Schrecken heimgesucht zu werden, wenn sie den »internationalen Terrorismus« nicht vernichte. Aber in einer Welt, in der die Grenzen zwischen ENRON und der US-Regierung verschwommen sind, bewirkt natürlich der Glaube an die eigenen Lügen, zumindest während man sie ausspricht, daß sie auf andere überzeugender wirken. Während ich in meinem Bett lag und Nachrichten hörte oder Zeitungen las, gelangte ich zu dem Schluß, daß die Welt des Jahres 2002

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mehr denn je Historiker braucht, und zwar vor allem skeptische Historiker. Vielleicht kann die Lektüre der Streifzüge eines alten Mitglieds dieser Zunft durch sein Leben den Jungen behilflich sein, sich den düster werdenden Aussichten des 21. Jahrhunderts nicht nur mit dem nötigen Pessimismus zu stellen, sondern auch mit einem klareren Auge, mit Sinn für die historische Erinnerung und der Fähigkeit, zu den Leidenschaften und Werbesprüchen des Tages auf Distanz zu gehen. Hier ist ein hohes Alter hilfreich. Allein das macht mich schon zu einer statistischen Rarität, da 1998 die Zahl der Menschen auf der Welt, die achtzig Jahre und älter waren, auf 66 Millionen geschätzt wurde, etwa 1 Prozent der Weltbevölkerung. Rein aufgrund ihres langen Lebens ist die Geschichte, die andere nur aus Büchern kennen, ein Teil des Lebens und der Erinnerung dieser winzigen Minderheit. Für einen potentiellen Leser, der zwischen 1980 und 1985 geboren wurde, gehört der größte Teil des 20. Jahrhunderts einer fernen Vergangenheit an, von der im heutigen Bewußtsein kaum etwas erhalten geblieben ist außer historischen Kostümfilmen im Kino und auf Videobändern und inneren Bildern von einzelnen Bruchstücken des Jahrhunderts. Sie wurden aus dem einen oder anderen Grund zu einem Bestandteil des kollektiven Mythos, wie in England bestimmte Episoden aus dem Zweiten Weltkrieg. Das meiste davon hat nichts mit dem eigenen Leben, sondern mit der Vorbereitung auf Schulprüfungen zu tun. Der kalte Wintertag, an dem Adolf Hitler in Berlin an die Macht kam und an den ich mich lebhaft erinnern kann, ist für die heute Zwanzigjährigen unendlich weit weg. Die kubanische Raketenkrise von 1962, während der ich geheiratet habe, kann in ihrem Leben keine persönliche Bedeutung haben, ja nicht einmal in dem vieler ihrer Eltern. Diese Dinge sind für junge Menschen nicht das, was sie für die Angehörigen meiner Generation sind, nämlich Teil einer zeitlichen Abfolge von Ereignissen, die die Gestalt unseres privaten Lebens in einer öffentlichen Welt festlegen, sondern im besten Fall ein Gegenstand für eine intellektuelle Aneignung und im schlechtesten Fall Teil einer ungeordneten Menge von Dingen, die »vor meiner Zeit waren«. Historiker meines Alters sind Führer zu einem entscheidenden Abschnitt in der Vergangenheit, zu jenem anderen Land, wo man die Dinge anders getan hat, denn sie haben selbst dort gelebt. Möglicherweise wissen wir über die Geschichte jener Periode nicht mehr als jüngere Kollegen, die über unsere Lebenszeit auf der Grundlage von Quellen schreiben, die damals nicht zugänglich waren, weder uns noch praktisch sonst jemandem. Am allerwenigsten können wir uns

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auf unsere Erinnerung verlassen, selbst wenn das Alter sie nicht beeinträchtigt hat. Ohne Unterstützung durch schriftliche Aufzeichnungen kann man sicher sein, daß sie sich täuscht. Andererseits, wir waren dort und wissen, was für Gefühle wir dabei hatten: Das verleiht uns eine natürliche Immunität gegenüber den Anachronismen derer, die es nicht waren. Über achtzig Jahre lang im 20. Jahrhundert zu leben war eine natürliche Lektion in der Veränderlichkeit von politischer Macht, von Imperien und Institutionen. Ich habe das völlige Verschwinden der europäischen Kolonialreiche gesehen, nicht zuletzt des größten von allen, des britischen Empires, das nie größer und mächtiger war als in meiner Kindheit, als es die Strategie einführte, in Regionen wie Kurdistan oder Afghanistan durch Bombenabwürfe für Ordnung zu sorgen. Ich habe gesehen, wie große Weltmächte in die unteren Ränge verwiesen wurden, und auch das Ende eines Deutschen Reiches, das tausend Jahre, und einer revolutionären Macht, die ewig währen sollte. Ich werde das Ende des »amerikanischen Jahrhunderts« wohl nicht mehr erleben, aber man kann ganz sicher sein, daß einige der Leser dieses Buchs es erleben werden. Mehr noch, wer alt ist, hat Moden kommen und gehen sehen. Seit dem Ende der UdSSR ist es eine unumstößliche politische Wahrheit und herrschende allgemeine Meinung, es gebe keine Alternative zur Gesellschaft des individualistischen Kapitalismus, und das politische System der liberalen Demokratie, von dem man annimmt, es sei damit organisch verbunden, ist als Regierungsform fast überall die Norm geworden. Vor 1914 gab es diesen Glauben ebenfalls, wenn er auch nicht so weit verbreitet war wie heute. Während des größten Teils des 20. Jahrhunderts erschienen solche Annahmen allerdings wenig plausibel. Der Kapitalismus selbst schien am Rande des Abgrunds zu stehen. So abwegig es heute klingen mag, zwischen 1930 und 1960 nahmen vernünftige Beobachter an, das staatlich gelenkte Wirtschaftssystem der Sowjetunion unter dem Fünfjahresplan, den noch die wohlwollendsten Besucher primitiv und ineffizient finden mußten, stelle ein globales Alternativmodell zum westlichen »freien Unternehmertum« dar. Damals wurde in das Wort »Kapitalismus« ebensowenig Zustimmung gelegt wie heute in das Wort »Kommunismus«. Nüchterne Beobachter waren der Meinung, dieses System werde auf die Dauer den Kapitalismus in seiner Produktionsleistung überflügeln. Ich bin gar nicht überrascht, mich wieder einmal in einer Generation zu befinden, die dem Kapitalismus skeptisch gegenübersteht, obwohl sie an unsere Alternative auch nicht glaubt.

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Für einen Menschen meines Alters, der das 20. Jahrhundert durchlebt hat, war das eine absolut einmalige Lektion über die Wirkung echter historischer Kräfte. In den dreißig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg änderten sich die Welt und die Art und Weise, in ihr zu leben, schneller und tiefgreifender als in jeder anderen Periode vergleichbarer Dauer in der menschlichen Geschichte. Die Menschen, die in einigen wenigen Ländern der nördlichen Hemisphäre so alt sind wie ich, sind die erste Generation von Menschen, die bereits erwachsen waren, als das Raumschiff der gesamten Menschheit in Umlaufbahnen jener beispiellosen sozialen und kulturellen Umwälzungen katapultiert wurde, die wir alle heute erleben. Wir sind die erste Generation, die den historischen Augenblick durchlebt hat, als die Regeln und Konventionen, die Menschen bislang als Familien, Gemeinden und Gesellschaften zusammengebunden haben, ihre Geltung verloren. Wer wissen will, wie es davor war, kann es nur von uns erfahren. Wer glaubt, er könne in die alte Welt zurückkehren, dem können wir sagen: Das geht nicht. II Das Alter bringt einen bestimmten historischen Blickwinkel mit sich, aber ich hoffe, mein Leben hat mir noch zu einem weiteren verholfen: zu Distanz. Der entscheidende Unterschied zwischen der Historiographie des Kalten Kriegs – und erst recht der Scharlatane des »Kriegs gegen den Terrorismus« – und der des Dreißigjährigen Kriegs aus dem 17. Jahrhundert besteht darin, daß man bei uns (ausgenommen in Belfast) nicht mehr damit rechnet, daß wir als Katholiken oder Protestanten Position beziehen oder auch nur deren Ideen so ernst nehmen, wie sie es taten. Aber Geschichte braucht Distanz, nicht nur zu den Leidenschaften, Emotionen, Ideologien und Ängsten unserer eigenen Religionskriege, sondern auch zu den noch gefährlicheren Versuchungen der »Identität«. Geschichte braucht Beweglichkeit und die Fähigkeit, ein ausgedehntes Gelände zu vermessen und zu erkunden, mit anderen Worten die Fähigkeit, sich jenseits der eigenen Wurzeln zu bewegen. Das ist der Grund, warum wir nicht wie Pflanzen sein dürfen – unfähig, unser Habitat und den heimischen Boden zu verlassen, weil kein einzelnes Habitat oder eine Umweltnische unseren Gegenstand erschöpfen kann. Unser Ideal ist nicht der Eichbaum oder der Mammutbaum, und sei er noch so majestätisch, sondern kann nur der Zugvogel sein, der in der Arktis ebenso zu Hause ist wie in den Tropen und über den halben Globus fliegt. Anachronismus und Provinzialismus sind zwei der

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Todsünden der Geschichtswissenschaft, die beide ihren Grund in der reinen Unkenntnis dessen haben, wie die Dinge anderswo aussehen, und die läßt sich selbst durch unaufhörliche Lektüren und die Macht der Phantasie kaum je überwinden. Die Vergangenheit bleibt ein anderes Land. Ihre Grenzen können nur von Reisenden überschritten werden. Doch sind Reisende (abgesehen von denen, die eine nomadische Lebensweise pflegen) per definitionem Menschen, die in einer Entfernung zu ihrer Gemeinschaft leben. Wie Leser, die mir bis hierher gefolgt sind, inzwischen wissen, habe ich glücklicherweise mein Leben lang untypischen Minderheiten angehört, angefangen mit dem enormen Vorteil einer Kindheit im alten Habsburgerreich. Von allen großen multilingualen und multiterritorialen Imperien, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts untergingen, hat der Verfall und das Ende der k.u.k. Monarchie unter Franz Joseph, seit langem von gebildeten Köpfen erwartet und aufmerksam verfolgt, uns die bei weitem gehaltvollste literarische oder narrative Chronik der Ereignisse hinterlassen. Österreichische Denker hatten Zeit genug, Betrachtungen über den Tod und den Zerfall ihres Reiches anzustellen, während dieser alle anderen Reiche ganz plötzlich traf – zumindest gemessen in den Zeiteinheiten der historischen Uhr –, sogar die, mit deren Gesundheit es schon seit längerem bergab ging, wie die Sowjetunion. Doch vielleicht waren die wahrgenommene und akzeptierte Vielsprachigkeit, die Multikonfessionalität und Multikulturalität der Monarchie einer komplexeren historischen Perspektive förderlich. Ihre Untertanen lebten gleichzeitig in verschiedenen sozialen Welten und unterschiedlichen historischen Epochen. Mähren am Ende des 19. Jahrhunderts war das Milieu, in dem Gregor Mendels Vererbungslehre, Sigmund Freuds Traumdeutung und Leosˇ Janácˇeks Jenufa entstanden. Ich erinnere mich noch an eine Situation irgendwann in den siebziger Jahren, als ich in Mexiko an einem internationalen Podiumsgespräch über lateinamerikanische Bauernbewegungen teilnahm und mir plötzlich die Tatsache zu Bewußtsein kam, daß vier der insgesamt fünf Experten am Tisch in Wien geboren waren. Doch selbst unabhängig davon erkenne ich mich in einer Äußerung E.M. Forsters über Konstantinos Petrou Kavafis wieder, den anglophonen griechischen Dichter aus meinem Geburtsort Alexandria, der »leicht schräg zum Universum stand«. Der Historiker tut (wie der Fotograf) gut daran, so zu stehen. Während des größten Teils meines Lebens war dies meine Situation: festgelegt durch eine Geburt in Ägypten, was für meine Lebensgeschichte ohne jede Bedeutung ist, als jemand von außerhalb. Ich fühlte

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mich mehreren Ländern verbunden, fühlte mich dort zu Hause, und von vielen anderen Ländern habe ich manches gesehen. Doch in all diesen Ländern, auch dem, mit dessen Staatsbürgerschaft ich geboren wurde, war ich zwar nicht unbedingt ein Außenseiter, aber doch jemand, der nicht ganz dorthin gehört, wo er sich befindet, ob als Engländer unter Mitteleuropäern, als Einwanderer vom Kontinent in England, als Jude überall – selbst und sogar besonders in Israel: ein Antispezialist in einer Welt voller Spezialisten, ein polyglotter Kosmopolit, ein Intellektueller, dessen politische Einstellung und akademische Arbeit sich den Nichtintellektuellen widmete, und sogar – für den größten Teil meines Lebens – unter Kommunisten eine Anomalie, die in den Ländern, die ich bereist habe, ihrerseits eine Minderheit der politischen Menschheit bildeten. Das hat mein privates Leben schwerer gemacht, aber für den Historiker war es ein Pfund, mit dem sich wuchern ließ. Auf diese Weise ist es mir leichtgefallen, der »Vernunft des Herzens« zu widerstehen, von der, wie Pascal gesagt hat, »der Verstand nichts weiß« (Pensées, 277), nämlich der Versuchung, sich emotional mit einer klar abgegrenzten oder auserwählten Gruppe zu identifizieren. Da eine Identität gegen jemand anders definiert ist, bedeutet sie eine Nichtidentifikation mit dem anderen. Sie führt in die Katastrophe. Das ist der eigentliche Grund, warum eine Geschichtsschreibung nur für die jeweilige Ingroup (»Identitätsgeschichte«) – schwarze Geschichte für Schwarze, schwule Geschichte für Homosexuelle, feministische Geschichte für Frauen oder überhaupt jede Art einer ethnischen oder nationalistischen Geschichte für Ingroups – als Geschichte unbefriedigend bleiben muß, auch wenn sie mehr ist als die politisch tendenziöse Version der einen oder anderen ideologischen Untergruppe einer umfassenderen Identitätsgruppe. Keine noch so große Identitätsgemeinschaft ist alleine auf der Welt; die Welt kann nicht so verändert werden, daß sie ihr allein gerecht wird, und die Vergangenheit ebensowenig. Das ist besonders wichtig zu Beginn des neuen Jahrhunderts, während der Nachwehen des Endes des kurzen 20. Jahrhunderts. Wenn alte Regimes zerfallen, alte politische Formen sich auflösen und die Zahl der neuen Staaten sich vermehrt, wird die Produktion neuer Historien, die auf neue Regimes, Staaten, ethnische Bewegungen und Identitätsgruppen zugeschnitten sind, zum globalen Industriezweig. Da die menschliche Sehnsucht nach Kontinuität in einem Zeitalter, das als kontinuierlicher Bruch mit der Vergangenheit angelegt ist, immer größer wird, reagiert die Mediengesellschaft, indem sie ihre Versionen einer eingängigen Nationalgeschichte, ein »Erbe« oder eine »Heimat« erfindet. Und selbst in Demokratien, wo keine autoritäre Macht mehr

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darüber bestimmt, was über die Vergangenheit und Gegenwart gesagt werden darf, nötigen die geballte Macht der Meinungsorganisatoren, die Drohung von Schlagzeilen, mißgünstiger Presse oder gar einer öffentlichen Hysterie zu Ausreden, Stillschweigen und zur öffentlichen Selbstzensur in Form der »political correctness«. Noch heute (2002) wird es als Schock empfunden, wenn ein deutscher Schriftsteller mit bemerkenswertem moralischem Mut wie Günter Grass, der keiner Sympathien mit dem NS-Regime verdächtig ist, als Gegenstand eines Romans die Tragödie eines sinkenden Schiffs voll mit deutschen Flüchtlingen wählt, die in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs vor einer vorrückenden Roten Armee fliehen. III Die Probe auf das Leben eines Historikers besteht darin, ob er zu den Dingen, die für ihn selbst und die Welt von drängendster Bedeutung sind, in einer ganz bestimmten Art und Weise Fragen stellen und beantworten kann. Es sind vor allem Fragen von der Art: »Was wäre, wenn?«, und er muß sie beantworten, als wäre er ein Journalist, der über längst vergangenes Geschehen berichtet – jedoch nicht als distanzierter Fremder, sondern als jemand, der an den Ereignissen mit jeder Faser seines Herzens selbst Anteil genommen hat. Es sind keine Fragen über die wirkliche Geschichte, die nicht von dem handelt, was wir uns gewünscht hätten, sondern von dem, was tatsächlich geschehen ist und sich zwar möglicherweise auch hätte anders abspielen können, es aber nicht getan hat. Es sind Fragen über die Gegenwart und nicht über die Vergangenheit, und deshalb sind sie für diejenigen von Bedeutung, die am Beginn des neuen Jahrhunderts leben, Alte und Junge. Der Erste Weltkrieg wurde nicht vermieden, weshalb die Frage, ob er hätte vermieden werden können, rein akademisch ist. Wenn ich sage, seine Verluste seien unerträglich hoch gewesen (worin die meisten Beobachter übereinstimmen) oder daß das deutsche Europa, das nach einem Sieg des Kaisers entstanden wäre, möglicherweise eine bessere Lösung gewesen wäre als die Welt von Versailles (meine persönliche Meinung), dann will ich damit nicht behaupten, es hätte auch anders kommen können. Doch wenn man mir dieselbe Frage über den Zweiten Weltkrieg stellen wollte, würde ich die Probe nicht bestehen. Ich könnte mir zwar mit größter Anstrengung gerade noch vorstellen, daß es Spanien besser ergangen wäre, wenn Francos Putsch 1936 geglückt und der Bürgerkrieg vermieden worden wäre. Ich bin bereit, wenngleich

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mit Bedauern, zuzugeben, daß Lenins Komintern keine gute Idee war, und ganz ohne Bauchschmerzen – weil ich nie Zionist war – würde ich dasselbe von Theodor Herzls Projekt eines jüdischen Nationalstaats behaupten. Es wäre besser gewesen, wäre er beim Feuilleton der Neuen Freien Presse geblieben. Aber wenn ich der Behauptung zustimmen sollte, die Niederlage des Nationalsozialismus sei die 50 Millionen Toten und die ungezählten Schrecken des Zweiten Weltkriegs nicht wert gewesen, so wäre mir das einfach nicht möglich. Ich sehe einem amerikanischen Weltreich, dessen langfristige Chancen gering sind, mit größeren Befürchtungen und geringerem Enthusiasmus entgegen, als wenn ich auf die Geschichte des alten britischen Weltreichs zurückblicke, das von einem Land gelenkt wurde, dessen bescheidene Größe es vor jedem Größenwahn bewahrt hat. Wie viele Punkte habe ich bei dieser Prüfung erreicht? Wenn es zu wenige sind, wird es den Lesern keine große Hilfe sein, wenn sie in das neue Jahrhundert gehen, die meisten mit einer beträchtlich höheren Lebenserwartung als der Autor. Doch wir wollen nicht die Hände in den Schoß legen, auch nicht in unbefriedigenden Zeiten. Soziale Ungerechtigkeit muß immer noch angeprangert und bekämpft werden. Von selbst wird die Welt nicht besser.

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Anmerkungen

1. Einleitung 1 Dieser und die folgenden Absätze stützen sich auf die Briefe meiner Mutter an ihre Schwester im Mai 1915.

2. Ein Kind in Wien 1 Ich benutze bewußt die deutschen Namen dieser Orte, da wir diese Namen benutzten, obwohl alle Städte gleich welcher Größe fast überall im Habsburgerreich zwei oder drei Namen hatten. 2 Nelly Hobsbawm an ihre Schwester Gretl, Brief vom 23. März 1925. 3 Nelly Hobsbawm an ihre Schwester Gretl, Brief vom 3. Dezember 1928.

4. Berlin: Weimar geht unter 1 James V. Bryson, My Life with Laemmle, London 1980, S. 56 f. Drinkwater hatte von den Verhältnissen in Hollywood so wenig Ahnung, daß er den Auftrag für weniger als die Hälfte des Betrags übernahm, den Laemmles Agent ihm anbieten sollte. 2 Die meisten Informationen über die Schule auf den folgenden Seiten stützen sich auf Heinz Stallmann (Hg.), Das Prinz-Heinrichs-Gymnasium zu Schöneberg, 1890-1945. Geschichte einer Schule, Berlin 1965 (?), Privatdruck, meine eigenen Erinnerungen und die von Fritz Lustig. 3 1929 hatte die Schule 388 protestantische, 48 katholische, 35 jüdische und 6 Schüler, die einer sonstigen Religion angehörten. Stallmann, Das Prinz-HeinrichsGymnasium, S. 47. 4 Mimi Brown an Ernestine Grün, Brief vom 3. Dezember 1931, in dem sie ihre Pläne ankündigt, England zu verlassen – um nach Ragusa (Dubrovnik) zu fahren? Oder nach Berlin?

5. Berlin: Braun und Rot 1 Stephan Hermlin, Abendlicht, Leipzig 1979, S. 32, 35 und 52. 2 Karl Corino, »Dichtung in eigener Sache«, Die Zeit, 4. Oktober 1996, S. 9-11. 3 Heinz Stallmann (Hg.), Das Prinz-Heinrichs-Gymnasium zu Schöneberg, 1890-1945.

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Geschichte einer Schule, Berlin 1965 (?), Privatdruck, enthält keine Information außer einer einzigen Erwähnung von »Leder« in einer Liste von Mitschülern der Jahre 1925-1936, die ein ehemaliger Schüler und Abiturient (1935) angefertigt hatte. 4 Meine Information verdanke ich Felix Krolokowski, »Erinnerungen: Kommunistische Schülerbewegung in der Weimarer Republik«, ein Text, den ich während eines Besuchs in Leipzig 1996 möglicherweise vom Autor erhalten habe. 5 Kommunistische Pennäler Fraktion. 6 Tagebuch, 17. März 1935.

6. Auf der Insel 1 Tagebuch, 8.-11. November 1934. Ein Großteil dieses Kapitels stützt sich auf das Material in diesem Tagebuch, das ich vom 10. April 1934 bis 9. Januar 1936 geführt habe. 2 Ebd., 16. Juni und 17. August 1935. 3 Siehe die soziale Analyse der britischen Jazzliebhaber in: Hobsbawm, The Jazz Scene, New York 1993 (zuerst London 1959). 4 Josef Skvorecky, The Bass Saxophone, London 1978. 5 Zum Glück für sie war mein erster Versuch, mit einer Parteigruppe Kontakt aufzunehmen, irgendwo an den Ausläufern von Croydon, auf die ich durch Anzeigen im Daily Worker gestoßen war, fruchtlos. Ich landete bei einer kleinen Gruppe kritischer Genossen, die interessiert meiner Schilderung der letzten Parteikundgebung in Berlin lauschten, ließen sich jedoch nicht davon abbringen, daß der Triumph Hitlers ein Zeichen für Fehler der KPD oder sogar der Komintern war. Ich konnte darauf nichts erwidern, war jedoch der Meinung, daß die Aufnahme in eine Einheit, in der die Generäle kritisiert wurden, vielleicht nicht der beste Weg war, sich der Armee der Weltrevolution anzuschließen. Nicht daß die vielleicht 5000 britischen Kommunisten eine großartige Armee abgegeben hätten, verglichen mit der KPD 1932. 6 Tagebuch, 4. Juni 1935: »Heute sehe ich zufällig in Mamas Briefe an mich, 1929. Sie ruft mich ›darling‹. Ich denke mit Staunen und leider Unruhe, daß mich seit langem niemand so genannt hat, und versuche mir vorzustellen, wie es heute wäre.« 7 Ebd., 12. Juli 1935. 8 Louise London, Whitehall and the Jews 1933-1948: British Immigration Policy and the Holocaust, Cambridge 2001, zit. in Neil Ascherson, »The Remains of der Tag«, New York Review of Books, 29. März 2001, S. 44.

7. Cambridge 1 Michael Straight, After Long Silence, London 1983. 2 E. Hobsbawm und T.H. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. Das Buch wurde seitdem bis heute immer wieder neu aufgelegt.

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3 Ich zitiere das, was ich 1937 über den berühmten englischen Don George (»Dadie«) Rylands geschrieben habe; Granta, 10. November 1937. 4 T.E.B. Howarth, Cambridge Between the Wars, London 1978, S. 172. 5 Financial Times, The Business Weekend Magazine, 4. März 2000, S. 18. 6 Diese Zahl in: E.J.H. und J.H.D. (mein Freund Jack Dodd), »Cambridge Cameo: Ties with the Past: Ryder and Amies«, Granta, 26. Mai 1937. 7 Meine Schilderung einer Vorlesung von Sheppard ist zit. in: Howarth, Cambridge, S. 162. 8 E.J.H., »Professor Trevelyan Lectures«, Granta, 27. Oktober 1937. 9 H.S. Ferns, Reading from Left to Right: One Man’s Political History, Vorwort von Malcolm Muggeridge, Toronto 1983, S. 114.

8. Gegen Faschismus und Krieg 1 Cambridge University Club Bulletin, 18. Oktober 1938. 2 »The membership of the CUSC is still not much over 450«, Weekly Bulletin of the Cambridge University Socialist Club No. 2, Herbsttrimester 1938 (vervielfältigt). 3 Spain Week Bulletin no. 1, o.J. (Oktober 1938). 4 H.S. Ferns, Reading from Left to Right: One Man’s Political History, Vorwort von Malcolm Muggeridge, Toronto 1983, S. 116. 5 CUSC Weekly Bulletin, 25. Mai 1937. 6 CUSC Faculty and Study Groups Bulletin, Frühjahrstrimester 1939. 7 E. Hobsbawm, »In Defence of the Thirties«, in: Jim Philip, John Simpson und Nicholas Snowman (Hg.), The Best of Granta 1889-1966, London 1967, S. 119. 8 H.S. Ferns, Reading, S. 113. 9 Yuri Modin, My Five Cambridge Friends, London 1994, S. 100 f.

9. Kommunist sein 1 Alessandro Bellassai, »Il caffè dell’Unità. Pubblico e Privato nella Famiglia Comunista degli Anni 50«, Società e Storia, XXII, No. 84 (1999), S. 327 f. 2 Anthony Read und David Fisher, Operation Lucy: Most Secret Spy Ring of the Second World War, London 1980, S. 204 f. 3 Theodor Prager, Zwischen London und Moskau: Bekenntnisse eines Revisionisten, Wien 1975, S. 56 f. 4 E.J. Hobsbawm, Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, Neuwied/Köln 1962, S. 87 ff. 5 Julius Braunthal, Auf der Suche nach dem Millenium, Regensburg 1948, Bd. 1, S. 34. 6 Agnes Heller, Der Affe auf dem Fahrrad, Berlin/Wien 1999, S. 91 f. 7 Wie spärlich echte Informationen auf diesem Gebiet vor dem Kalten Krieg waren und wie skeptisch sie von dem renommierten Numismatiker des Mittelalters aufgenommen wurden, der sie zusammentrug, läßt sich dem Buch von Philip

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Grierson entnehmen: Books on Soviet Russia 1917-1942: A Bibliography and Guide to Reading, London 1943. 8 Zit. in P. Malvezzi und G. Pirelli (Hg.), Lettere di Condannati a Morte della Resistenza Europea, Turin 1954, S. 250. Schreibweise des Namens nach dem Buch. Statt »Feuerlich« muß es wahrscheinlich »Feuerlicht« heißen. 9 Zdenek Mlynarˇ, Nachwort zu Leopold Spira, Kommunismus Adieu: Eine ideologische Autobiographie, Wien 1992, S. 158. 10 Fritz Klein, Drinnen und draußen: Ein Historiker in der DDR. Erinnerungen, Frankfurt/M. 2000, S. 169 und 213. 11 Charles S. Maier, Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt/M. 1999, S. 61. 12 Ebd., S. 73 und 75.

10. Krieg 1 Ian Kershaw, Hitler, Stuttgart 2000, Bd. 2, S. 409. 2 Ebd., S. 404. 3 Theodor Prager, Zwischen London und Moskau: Bekenntnisse eines Revisionisten, Wien 1975, S. 59. 4 Joseph R. Starobin, American Communism in Crisis, 1943-1957, Cambridge, Mass. 1972, S. 55.

11. Kalter Krieg 1 Peter Hennessy, The Secret State: Whitehall and the Cold War, London 2002, Kap. 1. 2 Soweit diese Reibungen sich unmittelbar auf die britische Politik auswirkten, war es jedenfalls nicht das sowjetische, sondern das amerikanische Verhalten, nämlich die unbarmherzigen Bedingungen, von deren Erfüllung Washington die Gewährung des Kredits 1946 an England abhängig machte. Siehe hierzu R. Skidelsky, Keynes, Bd. III. 3 Zu ihm gehörte Bernard Floud, der später als mutmaßlicher Spion oder Anwerber sowjetischer Spione durch die Geheimdienste in den Selbstmord getrieben wurde. (Sein Sohn, der Wirtschaftshistoriker Roderick Floud, fand ihn tot auf. Er wurde später mein Kollege am Birkbeck College und ist heute Rektor der Londoner Guildhall University.) Wie Bernard Floud mir sagte, hatte ironischerweise der KPFunktionär David Springhall einmal versucht, ihn als Agenten anzuwerben, und er hatte erwidert, dieser sei dazu gar nicht befugt. Jedenfalls ist es unwahrscheinlich, daß ein Mann, der nach dem Krieg an Versammlungen von Zellen teilnahm, jener Art von Tätigkeit nachging, die in aller Regel verlangte, daß der Kontakt mit der Partei abgebrochen wurde. 4 An dem Tag im August 1947, an dem ich dort war, schätzte ich die Zahl der Reisenden zur »grünen Grenze« auf rund 500 und die Zahl der Rückreisenden auf rund 700-800. Damals verkehrten täglich drei Züge.

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5 Aussage eines britischen Kriegsgefangenen, der aus einem Lager in Polen geflohen war und sich mit der vorrückenden Roten Armee den Rückweg erkämpft hatte. Dieses Zitat verdanke ich George Barnsby von Wolverhampton. 6 Es handelt sich um Professor Reinhart Koselleck. 7 Siehe E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995, S. 241. 8 Sein Titel For a Lasting Peace and a People’s Democracy [sic] wurde gewöhnlich abgekürzt zu »Forfor«. 1956 verschwand es von der Bildfläche. 9 R.W. Johnson, »Do they eat people much still? Rarement. Très rarement«, London Review of Books, 14. Dezember 2000, S. 30 f. Hodgkin, dessen Herz für die Dritte Welt schlug, verließ die Delegation während seiner Reisen in Afrika, wohin er gegangen war, um sein Tätigkeitsfeld zu erweitern. In den sechziger Jahren kehrte er nach Oxford als Fellow des Balliol College zurück, das auch den Nestor der marxistischen Historiker, Christopher Hill, zu seinem Direktor gewählt hatte. Seine Witwe, die Nobelpreisträgerin (Chemie) Dorothy Hodgkin, setzte die Familientradition fort, denn 1984 befand ich mich mit ihr auf einem Solidaritätsbesuch an der Bir-Zeit-Universität in der von den Israelis besetzten Westbank Palästinas. 10 »Academic Freedom«, University Newsletter, Cambridge, November 1953, S.2. Ich habe die meisten der zehn Nummern dieses Mitteilungsblatts redigiert und geschrieben, das »im Namen einer Gruppe von kommunistischen Graduierten von der Kommunistischen Partei Cambridge« (d.h. der Graduiertenzelle der KP) veröffentlicht wurde und zwischen Oktober 1951 und November 1954 erschien. 11 Ich danke Nina Fishman für die entsprechenden Dokumente aus dem BBCArchiv, Controller, Gespräche mit D.S.W., 20. September 1950, und G.22/48, in Umlauf gegeben am 13. März 1948, THE TREATMENT OF COMMUNISM AND COMMUNIST SPEAKERS, NOTE BY THE DIRECTOR OF THE SPOKEN WORD. Der Direktor hielt anscheinend den berühmten Physiker und späteren Nobelpreisträger und Präsidenten der Royal Society, P.M. Blackett, für einen Kommunisten, vermutlich wegen dessen ablehnender Haltung gegenüber einer nuklearen Kriegführung. 12 Die Guinee, eine Recheneinheit im Wert von 1 Pfund 1 Schilling, stellte eine bequeme Möglichkeit für Ladeninhaber dar, einen höheren Preis als üblich zu verlangen. Sie verschwand 1971 mit der Einführung des Dezimalsystems in die britische Währung. 13 W.C. Lubenow, The Cambridge Apostles 1820-1914: Imagination and Friendship in British Intellectual and Professional Life, Cambridge 1998. 14 Alan Ryan, »The Voice from the Hearth-Rug«, London Review of Books, 28. Oktober 1999, S. 19. 15 Hans-Ulrich Wehler, Historisches Denken am Ende des 20. Jahrhunderts (1945-2000), Göttingen 2001, S. 29 f. 16 Robert Conquests bahnbrechende Untersuchung The Great Terror (deutsch: Am Anfang starb Genosse Kirow: Säuberungen unter Stalin, München 1970) wurde erst 1968 publiziert. 17 Siehe Hennessy, The Secret State, S. 30.

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12. Stalin und danach 1 Ken Coates, »How not to Reappraise the New Left«, in: Ralph Miliband und John Saville (Hg.), The Socialist Register, London 1970, S. 112. 2 So wurde in der Satzung der britischen KP das Recht der Mitglieder, an der »Gestaltung der Politik« mitzuwirken, in das bloße Recht auf »Diskussion« abgeändert. 3 Aldo Agosti, Palmiro Togliatti, Mailand 1996; Felix Tchouev, Conversations avec Molotov; 140 Entretiens avec le bras droit de Staline, Paris 1995; Robert Levy, Anna Pauker; The Rise and Fall of a Jewish Communist, Berkeley 2000; K. Morgan, Harry Pollitt, Manchester 1993. 4 Leserbrief von E.J. Hobsbawm, World News, 26. Januar 1957, S. 62. 5 Siehe E. Hobsbawm, »The Historian’s Group of the Communist Party«, in: M. Cornforth (Hg.), Rebels and Their Causes: Essays in Honour of A.L. Morton, London 1978, S. 42. 6 Francis Becket, Enemy Within: The Rise and Fall of the British Communist Party, London 1995, S. 139. 7 Es ist vielleicht angebracht, den Hauptteil dieses Dokuments zu zitieren: »Wir alle haben jahrelang marxistisches Gedankengut in unseren Spezialdisziplinen und bei politischen Diskussionen in der Arbeiterbewegung vertreten. Deshalb sind wir der Meinung, daß wir eine Verpflichtung haben, in der gegenwärtigen Krise des Sozialismus unsere Ansichten als Marxisten zum Ausdruck zu bringen. Wir sind der Überzeugung, daß die unkritische Unterstützung des sowjetischen Vorgehens in Ungarn durch das Exekutivkomitee der Kommunistischen Partei der unliebsame Höhepunkt einer jahrelangen Entstellung von Fakten und des Unvermögens britischer Kommunisten ist, sich zu politischen Problemen selbst eine Meinung zu bilden. Wir hatten gehofft, daß die Enthüllungen auf dem XX. Parteitag der KPdSU unsere Führung und Presse zu der Erkenntnis gebracht hätten, daß marxistische Vorstellungen in der britischen Arbeiterbewegung nur dann akzeptabel sind, wenn sie ihren Grund in der Wahrheit über die Welt haben, in der wir leben. Die Enthüllung schwerer Verbrechen und Mißbräuche in der UdSSR und der jüngste Aufstand von Arbeitern und Intellektuellen gegen die pseudokommunistischen Bürokratien und Polizeisysteme in Polen und Ungarn haben gezeigt, daß wir während der letzten zwölf Jahre unseren politischen Analysen eine falsche Darstellung der Fakten zugrunde gelegt haben – keine überholte Theorie, denn wir halten die marxistische Methode immer noch für richtig. Wenn die linke und marxistische Richtung in unserer Arbeiterbewegung weitere Anhänger gewinnen soll, und anders ist der Sozialismus nicht zu verwirklichen, muß diese Vergangenheit mit aller Kraft zurückgewiesen werden. Dazu gehört die Ablehnung des jüngsten Ergebnisses dieser schlimmen Vergangenheit, die Billigung der gegenwärtigen Fehler der sowjetischen Politik durch das Exekutivkomitee.« Abgeschickt an den Daily Worker am 18. November 1956; abgedruckt im New Statesman and Nation und in der Tribune am 1. Dezember 1956.

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Anmerkungen

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8 E. Hobsbawm, »The Historian’s Group of the Communist Party«, S. 41. 9 Andrew Thorpe, The British Communist Party and Moscow 1920-1943, Manchester 2000, S. 238-241. 10 Henry Pelling, The British Communist Party: A Historical Profile, London 1958. 11 Siehe Kap. 1, »Problems of Communist History«, in: Hobsbawm, Revolutionaries: Contemporary Essays, London 1973. 12 Siehe meine Erinnerung an ihn in: Proceedings of the British Academy, 90 (1995), S. 524 f. 13 Ebd., S. 539. 14 So zuletzt in meinem Buch Das Gesicht des 21. Jahrhunderts. Ein Gespräch mit Antonio Polito, München 2000, S. 214-217.

13. Wasserscheide 1 Tony Gould, Insider Outsider: The Life and Times of Colin MacInnes, London 1983, S. 183. 2 Chambers Biographic Dictionary, London 1974, Eintrag »Darwin«. 3 Francis Newton, The Jazz Scene, London 1959, S. 1. 4 In den Vereinigten Staaten erschien es 1960 in einem kleinen linken Verlag und 1961 bei Penguin Books in einer auf den neuesten Stand gebrachten Fassung; danach wurde es für eine von Fernand Braudel herausgegebene Reihe ins Französische übersetzt. Es folgten noch eine italienische und eine tschechische Übersetzung.

14. Am Fuß des Cnicht 1 Richard Haslam in Country Life, 21. Juli 1983, S. 131. 2 Während ich an diesem Kapitel schreibe, erzählt mir mein Sohn Andy zum ersten Mal von einer Situation, vermutlich in den siebziger Jahren, als zwei Jungen aus Croesor sich von ihm und einem Freund verabschiedet hatten und dieser zu ihm entschuldigend sagte: »Die beiden haben mir gesagt, ich solle dich verhauen, aber das will ich nicht. Könntest du vielleicht so tun, als hättest du von mir Prügel gekriegt, wenn du sie wiedersiehst?« Trotzdem ging die Freundschaft nach und nach in die Brüche, da die Mutter ihm zunehmend zu verstehen gab, daß er auf dem Bauernhof nicht gern gesehen sei.

15. Die sechziger Jahre 1 Zu meiner damaligen Einschätzung der Maiereignisse siehe »May 1968«, das später im selben Jahr geschrieben wurde, in: E.J. Hobsbawm, Revolutionaries: Contemporary Essays, London 1999 (und frühere Ausgaben), Kap. 24. 2 Magnum Photos – 1968, ein Jahr, das die Welt bewegt, Texte von Eric Hobsbawm und Marc Weitzmann, Heidelberg 1998.

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3 Mir ist das damals nicht bewußt aufgefallen, doch wurde dieser Punkt gut von Yves Pagès herausgearbeitet, der die vollständig erfaßten Graffiti in der Sorbonne herausgegeben hat, die damals von fünf Universitätsangestellten gesammelt und aufbewahrt wurden; No copyright. Sorbonne 1968: Graffiti, Paris 1998, S.11. 4 Zit. in: H. Stuart Hughes, Sophisticated Rebels, Cambridge, Mass./London 1988, S. 6. 5 Alain Touraine, Le Mouvement de mai ou le communisme utopique, Paris 1968. 6 Eric J. Hobsbawm, Les Primitifs de la révolte dans l’Europe moderne, Paris 1966. 7 Dieser Aufsatz ist abgedruckt in: E.J. Hobsbawm, Revolutionaries: Contemporary Essays, London 1973, Kap. 22. 8 Sheila Rowbotham, Promise of a Dream, London 2000, S. 118, 203 f. und 208. 9 Ebd., S. 203. 10 Ebd., S. 196. 11 Carlo Feltrinelli, Senior Service, Mailand 1999, S. 314. 12 Rowbotham, Promise of a Dream, S. 196. 13 New Left Review 1977.

16. Ein politischer Beobachter 1 Martin Jacques und Francis Mulhern (Hg.), The Forward March of Labour Halted?, London 1981; E.J. Hobsbawm, Politics for a Rational Left, London 1989. 2 »Labour’s Lost Millions«, geschrieben nach den allgemeinen Wahlen in England 1983, in: Politics for a Rational Left, S. 63. 3 Ebd., S. 65. 4 »Out of the Wilderness« (Oktober 1987), ebd., S. 207. 5 Marxism Today, April 1985, S. 21-36 und Umschlag. 6 Geoff Mulgan in Marxism Today, November/Dezember 1998 (Sonderheft), S. 15 f. 7 Leitartikel in Marxism Today, September 1991, S. 3. 8 E.J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995, S. 599 f. 9 »After the Fall«, in: R. Blackburn (Hg.), After the Fall: The Failure of Communism and the Future of Socialism, London 1991, S. 122 f.

17. Unter den Historikern 1 Zum wesentlichen Inhalt der folgenden Absätze siehe auch E.J. Hobsbawm, »75 Years of the Economic History Society: Some Reflections«, in: Pat Hudson (Hg.), Living Economic and Social History: Essays to Mark the 75th Anniversary of the Economic History Society, Glasgow 2001, S. 136-140. 2 Mitteilung von Professor Zvi Razi, dem Biographen von M. Postan, dem ich ebenso wie dem verstorbenen Isaiah Berlin und Chimen Abramsky die Angaben über seine frühe Zeit verdanke.

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Anmerkungen

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3 IX Congrès international des sciences historiques: Paris, 26 aôut-3 septembre 1950, vol. II, ACTES, Paris 1951, S. v. 4 Professor Van Dillen aus Amsterdam, ebd., S. 142. 5 Jacques Le Goff in Past & Present, August 1983, S. 15. 6 Hans-Ulrich Wehler, Historisches Denken am Ende des 20. Jahrhunderts: 1945-2000, Göttingen 2001, S. 29 f. 7 Daedalus, Winter 1971, »Historical Studies Today«. Die französischen Autoren, allesamt Braudel und seiner Schule verbunden, waren Jacques Le Goff, François Furet und Pierre Goubert, die Briten – davon zwei Mitarbeiter von Past & Present – waren Lawrence Stone, Moses Finley und ich, während die Amerikaner hauptsächlich von der Princeton University kamen, darunter Robert Darnton und der einzige Spezialist für eine nichtwestliche Region, Benjamin Schwarz von der Harvard University. 8 Ebd., S. 24. 9 Zu Braudel: sein Nachruf in den Annales, 1986, H. 1; meine Antrittsvorlesung am Birkbeck College ist abgedruckt als »Gibt es einen Fortschritt in der Geschichtswissenschaft?« in: E.J. Hobsbawm, Wieviel Geschichte braucht die Zukunft?, München/Wien 1998, S. 82-99. 10 Clifford Geertz, »›Deep Play‹: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf«, in: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1987, S. 202-260. 11 Lawrence Stone, »The Revival of Narrative«, Past & Present, November 1979, S. 9 und 21. 12 Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt/M. 1983. Merkwürdigerweise hatte damals seine meiner Meinung nach interessantere Untersuchung eines Falls von wohltätigen Hexen, Die Benandanti. Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1980 (zuerst Turin 1976), damals noch keine Aufmerksamkeit erregt, obwohl es zehn Jahre zuvor (von mir) im Times Literary Supplement besprochen worden war. 13 »Identitätsgeschichte ist nicht genug«, in: Wieviel Geschichte braucht die Zukunft?, S. 333-346. Erstabdruck unter dem Titel »The Historian Between the Quest for the Universal and the Quest for Identity«, Diogenes 4 (1992). 14 Pierre Bourdieu, Choses Dites, Paris 1987, S. 38. Deutsch: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992.

18. Im globalen Dorf 1 Noel Annan, Our Age, London 1990, S. 267 f. 2 Der Estado, das lokale Pendant zur Times, schrieb von einem »dichtgedrängten Auditorium . . ., [die Veranstaltung] endete mit einem begeisterten und anhaltenden Applaus«; Estado de São Paulo, 28. Mai 1975. 3 Julio Caro Baroja, zit. in: E.J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München/Wien 1995, S. 15.

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19. Marseillaise 1 Siehe die Biographie dieser bemerkenswerten Figur von Annie Kriegel und S. Courtois, Eugen Fried: Le Grand secret du PCF, Paris 1997. Die jeweiligen Rollen von Moskau und Paris beim Zustandekommen der Volksfront sind Gegenstand ausführlicher Diskussionen, doch heute scheint klar, daß das eigentlich Neue daran, die Bereitschaft von Kommunisten, die sogenannte »Einheitsfront« von anderen Sozialisten auf offen nichtsozialistische Liberale auszudehnen und schließlich auf alle Antifaschisten, wie stark ihre Ablehnung des Kommunismus auch sein mochte, ihren Ursprung in Frankreich hatte. 2 Hervé Hamon und Patrick Rotman, Les Intellocrates: expédition en haute intelligentsia, Paris 1981, S. 330. 3 Zur Französischen Revolution siehe E.J. Hobsbawm, Echoes of the Marseillaise: Two Centuries Look Back on the French Revolution, Rutgers 1990, und ders., »Histoire et Illusion«, Le Débat, März/April 1996, S. 128-138.

20. Von Franco bis Berlusconi 1 Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, Neuwied/Köln 1962. 2 E.J. Hobsbawm, »Reflections on Anarchism«, in: Revolutionaries: Contemporary Essays, London 1973, S. 84. 3 Gerald Brenan, The Spanish Labyrinth: an Account of the Social and Political Background of the Spanish Civil War, Cambridge 1943, Preface. Aus naheliegenden Gründen blieb das 1943 erschienene Buch weithin unbeachtet. In der deutschen Übersetzung: Spanische Revolution, Berlin 1973, ist das Vorwort nicht enthalten. 4 Die Ergebnisse in Kap. 5 der Sozialrebellen und Kap. 8 von Die Banditen, Frankfurt/M. 1972. 5 Diese bilden die Basis der vorliegenden Schilderung meines ersten Besuchs. 6 »Franco in Retreat«, New Statesman and Nation, 14. April 1951, S. 415. Dieser Artikel, den ich nach meiner Rückkehr schrieb, wurde als »einige Auszüge aus dem Notizbuch eines Engländers in Barcelona« beschrieben. 7 E.J. Hobsbawm, Sozialrebellen, S. 9. 8 Zu einer Biographie dieses lebenslangen Kämpfers (1900-1973), »stets einer der am meisten geachteten Führer der kommunistischen Federazione Palermos«, siehe den Eintrag »Sala, Michele«, in: Franco Andreucci und Tommaso Detti (Hg.), Il movimento operaio italiano: dizionnario biografico, Bd. 4, Rom 1978. 9 »Die große Masse der wissenschaftlich brauchbaren Literatur über die Maffia (!) erschien zwischen 1880 und 1900, der vergleichsweise Mangel moderner Analysen ist sehr zu beklagen.« Sozialrebellen, S. 52, Fn. 1. 10 Giorgio Napolitano und Eric Hobsbawm, Intervista sul PCI, Bari 1975.

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Anmerkungen

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21. Dritte Welt 1 E.J. Hobsbawm, »The Revolutionary Situation in Colombia«, The World Today (Royal Institute of International Affairs), Juni 1963, S. 248. 2 Andres Villaveces, »A Comparative Statistical Note on Homicide Rates in Colombia«, in: Charles Bergquist, Ricardo Peñaranda und Gonzalo Sanchez G. (Hg.), Violence in Colombia 1990-2000: Waging War and Negotiating Peace, Wilmington, Delaware 2001, S. 275-280. 3 Monsignor G. Guzman, Orlando Fals Borda und E. Umana Luna, La Violencia en Colombia, 2 Bde., Bogotà 1962-1964. 4 Eduardo Pizarro Leongomez, Las FARC (1949-1966): De la Autodefensa a la Combinación de Todas las Formas de Lucha, Bogotà 1991, S. 57. 5 E.J. Hobsbawm, Rebeldes Primitivos, Barcelona 1968, S. 226. 6 E.J. Hobsbawm, »Guerrillas in Latin America«, in: R. Miliband und J. Saville (Hg.), The Socialist Register, London 1970, S. 51-63; E.J. Hobsbawm, »Guerrillas«, in: Colin Harding und Christopher Roper (Hg.), Latin American Review of Books I, London 1973, S. 79-88. 7 E.J. Hobsbawm, »What’s New in Peru?« und »Peru: The Peculiar ›Revolution‹«, New York Review of Books, 21. Mai 1970 und 16. Dezember 1971. 8 E.J. Hobsbawm, »Chile: Year One«, New York Review of Books, 23. September 1971. 9 International Herald Tribune, 20. Dezember 2001, S. 6.

22. Von FDR zu Bush 1 Das kam zwar der Wahrheit recht nahe, war aber im strengen Wortsinn nicht korrekt. Ich bin ziemlich sicher, daß einige der Lehrer in der Graduiertenfakultät der New School for Social Research in New York, an der ich später lehren sollte, ihren Marxismus auch weiterhin nicht verhehlt haben. 2 P.A. Baran und E.J. Hobsbawm, »The Stages of Economic Growth«, KYKLOS, XIV (1961), H. 2, S. 234-242. 3 Siehe F. Ianni und E. Reuss-Ianni, A Family Business: Kinships and Social Control in Organized Crime, New York 1972. 4 E.J. Hobsbawm, »The Economics of the Gangster«, The Quarterly Review, April 1955, S. 243-256. 5 Zit. in: S. Chapple und R. Garofalo, Rock ’n’ Roll is Here to Pay: The History and Politics of the Music Industry, Chicago 1977, S. 251. 6 Studs Terkel, Division Street: America, New York 1967; deutsche Ausgabe: Bericht einer amerikanischen Stadt, Chicago, München 1967. 7 Eric J. Hobsbawm, Das Gesicht des 21. Jahrhunderts. Ein Gespräch mit Antonio Polito, München/Wien 2000, S. 220.

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23. Schluß 1 Siehe meine Zusammenfassung der Weltlage in Das Zeitalter der Extreme, das zuerst 1994 in England erschien, im 19. Kapitel: »Ein Jahrtausend geht zur Neige«, vor allem S. 688-693.

Verzeichnis der Abbildungen (Nachweise der Fotografien in Klammern) 1. Mimi, Nelly und Gretl Grün 2. Percy, Ernest und Sidney Hobsbaum 3. Nelly und Percy Hobsbaum 4. Tante Gretl 5. Mutter, Nancy, Cousin Peter und E.H. 6. Zelten mit Ronnie Hobsbaum 7. Foto der Abiturklasse am Prinz-Heinrichs-Gymnasium 8. Die Volksfrontregierung feiert den Tag der Bastille 9. Weltkongreß der Studenten, Paris 1937 10. James Klugmann und Delegierte auf dem Weltkongreß der Studenten, Paris 1939 11. John Cornford 12. Delegation der britischen kommunistischen Historiker in Moskau 1954 13. Britische Historiker in Sagorsk 14. E.H. in Rom 1958 15. Geburstagstorte zum 80. Geburtstag, Genua 1997 16. Italien 2000: Bei der Lektüre von Il Manifesto (Vincenzo Cottinelli) 17. Trafalgar Square 1961: Titelseite des Daily Herald (Daily Herald) 18. Trafalgar Square 1961: E.H. zwischen Polizisten (Daily Herald) 19. Marlene und E.H. (Enzo Crea) 20. E.H. vor der Computerära 21. Georg Eisler 22. Pierre Bourdieu 23. Ralph Gleason 24. Clemens Heller 25. E.H. mit Präsident Cardoso 26. Hortensia Allende 27. E.H. bei einem Vortrag in Mexiko 28. Blick auf Llyn Arddy, Wales 29. In Gwenddwr, Powys 30. E.H. und Markus Wolf 31. Ein alter Historiker (Giuliano Ben Vegnú)

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Adam, György 358 Adam Smith, Janet 261 Adcock, F. E. 132, 135 Adler, Friedrich 159 Agnelli, Gianni 404 Ägypten 18-20, 31, 45, 47, 113 Albanien, Albanier 150, 352, 394, 459 Albornoz, Nicolás Sanchez 388 Alexandria (Geburtsort H.s) 18-20, 57f. Algerien 264, 374f., 412, 415f. Ali, Tariq 291 Allende, Hortensia 430 Allende, Salvador 425, 430, 434 Alter, Vorteile des Alters 465-467 Althusser, Louis 250 Altneuschul (Prag) 209 Alvarado, Velasco, Gen. Juan 428f. Amendola, Giorgio 156, 398 Amis, Kingsley 172, 260f. amnesty international 264 Anderson, Perry 121, 245 Angola 319 Angry Brigade 299 Annales 323, 326-329, 334, 336, 371, 376 Annan, Noel 130, 142 »Apostel« (Cambridge University) 125, 147, 151, 219-222 Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT; Brasilien) 432 Argentinien 255, 333, 351f., 410, 418, 426f. Arguedas, José Maria 419 Armstrong, Louis 103 Army Bureau of Current Affairs (ABCA) 195, 203

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Army Education Corps (AEC) 185, 195f. Aron, Raymond 287, 353 Ascherson, Neal 219 Association of University Teachers 168, 213 Atomwaffen, Antiatomwaffenbewegung 227f., 246, 250, 264, 269, 278 siehe auch Campaign for Nuclear Disarmament Auschwitz 163, 209 Azcarate, Pablo 152 Baader-Meinhof-Bande (Rote Armee Fraktion) 292 Baran, Paul 294, 440, 442, 446 Barbato, Nicola 393 Barber, Chris 265 Barcelona 80, 98f., 109, 328, 386, 388f. Barker, Paul 302 Barnard, George 142 Barthes, Roland 373 Bauernbewegungen Italien 392f., 403 Südamerika 420-425, 429 BBC (British Broadcasting Corporation) 207 Beatles 290 Belcher, Muriel 263 Belgien, Belgier 113, 157, 300, 357, 381 Benario, Olga 86f. Benn, Tony 306-308, 311f. Benstead, Mrs. 187 Berend, Ivan 174 Berghauer, Hélène 373-375

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Berlin 23, 63-84, 87-98, 110, 205 Aufstieg des Nationalsozialismus 78-70 Berliner Mauer 64, 176, 178, 264, 320 Dialekt 66f. nach 1945 63f. Reichstagsbrand 97 Streik bei der Verkehrs-Gesellschaft 81, 93 während der Weimarer Republik 64-80 Berlin, Sir Isaiah 59, 125, 157, 243, 480 Berlinguer, Enrico 398, 406 Berlusconi, Silvio 402f., 407f. Bernal, J. D. 149, 213f., 224, 450 Berti, Giuseppe 393 Besançon, Alain 373 Betancur, Belisario 431 Bevan, Aneurin 242, 310 Beveridge, William 141 Beves, Donald 134, 204 Bevin, Ernest 215 Biermann, Wolf 179 Birkbeck College (London) 208, 212-214, 218, 223, 254f., 257, 282, 424, 431 Birnbaum, Professor »Sally« 73f. Black Dwarf, The 291 Black Panthers 299 Blackett, Patrick 275, 477 Blair, Tony 300, 307, 309, 312, 316f. Bletchley 130, 135, 183 Bloch, Marc 322f., 326, 328 Blum, Léon 368, 370 Blunkett, David 308, 312 Blunt, Anthony 125f., 134, 221 Bodsch, Willi 75 Bolivien 292, 296, 410, 417, 421, 426 Bologna 394, 398 Borda, Orlando Fals 422 Bose, Arun 152 Bourdieu, Pierre 302, 338, 376, 416, 461 Boxer, Charles 333 Boxer, Mark 219 Bradley’s (New York) 343

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Brasilien 87, 343, 349f., 379, 410, 417-420, 425-427, 432, 434 Bratt, Peter siehe Einsiedel, Wolfgang von Braudel, Fernand 325, 327-330, 334-336, 353, 370-372, 376f., 416, 479, 481 Braun, Otto 87 Braunthal, Julius 165 Brecht, Bertolt 70, 75, 92, 94, 163, 166, 176f., 366 Brenan, Gerald 387 Briefmarkensammeln als Einführung in die Geschichte 26 Bridges, Harry 442, 449 Broda, Hilde 218 Brogan, Denis 438 Browder, Earl 200 Brown, Gordon 307, 312 Brown, Mimi (geb. Grün; Tante H.s) 34f., 53, 57, 80-82, 100-102, 282 Brown, Wilfred 34 Browning, Robert 228f. Bruce, Lenny 222, 448 Bubrik, Gennadi (»Goda«) 89 Buchenwald 209f. Buckley, »Lord« 453 Bulgarien 225, 244 Bünger, Siegfried 176 Burgess, Guy 125, 151, 217 Burns, Emile 200 Busch, Ernst 70 Calvino, Italo 345, 402, 408f. Cambridge Scientists’ Antiwar Group 142 Cambridge Union 137f., 144 Cambridge University 124-152, 182-185, 206f., 217-222, 274f., 322, 333, 413 »Apostel« 125, 147, 151, 219-222 Homosexualität 147, 219 Naturwissenschaft 124, 128, 133, 142, 224 Spione 124-126, 134, 221 Studentenjahre H.s 124-139

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Cambridge University Socialist Club (CUSC) 136, 140-147 Camden Town 206f. Campaign for Nuclear Disarmament (CND) 246, 264 siehe auch Atomwaffen, Antiatomwaffenbewegung Canard Enchaîné 361f., 379 Cantimori, Delio 396 Capone, Al 452 Carr, Edward H. 215 Cartier-Bresson, Henri 284-286 Cäsar, Julius 339 Castro, Fidel 255, 266, 292-297, 334, 410, 416, 425, 428, 445 Chakravarty, Renu Roy 414 Chamberlain, Arthur Neville 115, 133, 140, 189 Champernowne, David 183 Cherry, Don 445 Chesterton, Gilbert Keith 345 Chevallier, Gabriel 361 Chicago 451-453 Chile 101, 113, 151, 410, 417f., 425, 427f., 430 Chin Peng 165f. China 77, 87, 94, 166, 236, 244, 319 Chomsky, Noam 302 Chruschtschow, Nikita 171, 227f., 234, 236-238, 241, 256, 278 Churchill, Winston 190-192, 195, 200, 258 Clapham, John H. 132 Clark, Colin 327 Clément (Eugen Fried) 366, 482 Cobb, Richard 360 Cohen, Jack 145, 151 Coleman, Ornette 445 Colletti, Lucio 407 Collins, Henry 254 Colorni, Eva 307 Communist Party of Britain 168 Companys, Luis 109 Cook, Robin 308, 312 Cooke, Alistair 437

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Corino, Karl 85f. Cornford, F. M. 128 Cornford, John 137, 142, 145, 149f., 221, 386 Costa Rica 426 Craxi, Bettino 407 Crea, Enzo 395 Croesortal (Nordwales) 271-283 Croissant, Madame Humbline 362 Daedalus 331 Daily Worker (Morning Star) 223, 238, 240, 474 Dakin, Douglas 213 Daley, Richard 452 Dankworth, John 265 Darlington, R. R. 326 Darwin, Charles 124, 220, 257, 322, 426 Davidson, Basil 225f. Davis, Miles 446 Debray, Régis 292 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 63f., 84f., 92, 173, 175-180 Deutscher, Isaac 43, 235 Deutschland 30, 63-99, 299 nach 1945 205, 208-210 siehe auch Berlin Dimitroff, Georgi 94, 168-170, 242 Djilas, Milovan 164 Dobb, Maurice 119, 219, 240, 395 Donegan, Lonnie 262 Donini, Ambrogio 392 Drinkwater, John 71, 473 Dutt, Rajni Palme 151, 241f. Dylan, Bob 290, 292, 447 Eban, Aubrey (Abba Eban) 143 École des Hautes Études en Sciences Sociales (Paris) 346, 371, 376 Economic History Review 325 Economic History Society 223, 353 Ecuador 346, 433 Eden, Anthony 190, 239 Effenberger, Mrs. 55, 61

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Einaudi, Giorgio (und Verlag) 171, 347, 398, 400-402 Einsiedel, Wolfgang von (»Peter Bratt«) 198 Eisler, Georg 30, 176, 179, 199, 319 Eisler, Gerhart 30, 176f. Eisler, Hanns 30, 95, 176f. Elias, Norbert 147f. Ellington, Duke 103, 448 Elliott, John 267 Engels, Friedrich 65, 121, 163, 328, 417 England in den 30er Jahren 109-116, 121, 124, 147 Entkolonialisierung 264, 413, 416 Enzensberger, Hans Magnus 296 Enzensberger, Mascha 296 Erdös, Paul 175 Erster Weltkrieg siehe Großer Krieg Estenssoro, Victor Paz 410 Étoile (Restaurant) 345 Fadejew, Aleksandr 296 Fainlight, Ruth 256 FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarios de Colombia) 423f., 431 Fawks, Wally 263 Febvre, Lucien 326 Feltrinelli, Giangiacomo (und Verlag) 296, 401 Ferns, Henry (Harry) 143, 147, 333 Feuerlicht, Ephraim (Franz Marek) 169f. Finley, Moses 267, 481 Finnland, Finnen 183, 318, 320, 343 Fischer, Ernst 176 Fischer, Joschka 300 Fischer, Ruth 30, 176 Flanigan, Mick 189 Flohr, Salo 101 Floud, Bernard 476 Fogel, Robert W. 330 Foot, Michael 307-309 Foote, Alexander 159

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Forster, Edward Morgan 19, 220, 222, 468 Fox, Charles 200 Franco, Francisco 109, 229, 388-391, 471 Franklin, Rosalind 214 Frankreich 357-361 Besetzung des Ruhrgebiets (1923) 21 Förmlichkeit im Umgang 369f. französische Sprache 357, 381f. in den 30er Jahren 362-369 Kommunistische Partei 149, 166, 169, 182, 195, 285f., 365f., 372-375, 379 Niederlage (1940) 190f. siehe auch Paris Franz Joseph I. (Kaiser von Österreich) 18, 20, 40, 468 Freddie (Genossin) 161 Free Austrian Movement (FAM) 197, 199 Fried, Erich 199 Friedmann, Herta (Cousine H.s) 55 Friedmann, Otto (Cousin H.s) 55, 67 Friedmann, Richard und Julie (Großonkel und Großtante H.s) 209 Friedmann, Viktor und Elsa (Großonkel und Großtante H.s) 55 Fuentes, Carlos 425 Furet, François 373, 380, 481 Gaitán, Jorge Eliezer 420, 423 Gallagher, Jack 333 Gandy, Robin 269, 275 García Márquez, Gabriel 422, 426 Garner, Erroll 446 Gasparian (Familie) 425 Gaster, Jack 216 Gaulle, General Charles de 264, 284, 361, 377-379 Geertz, Clifford 335 Gegenkultur (60er Jahre) 263, 278, 284-291, 300f. Geheimdienste 64, 125f., 130, 134f., 151, 159, 183-185, 226, 476 Gellner, Ernest 416

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Genovese, Gene 330 George, Bridget (Tante H.s) 429 Geschichte der KPdSU (b): Kurzer Lehrgang (Stalin) 120, 224f. Getty Center (Santa Monica) 342 Gewerkschaften, britische 168, 187, 213, 303-306, 308, 315 Gewerkschaften, USA 442-444 Gibbon, Edward 322 Gide, André 359 Gilhodès, Pierre 424 Gill, Ken 303, 305 Gillespie, John Birks (Dizzy) 448 Ginzburg, Carlo 335, 481 Giono, Jean 359 Giraudoux, Jean 359f. Gleason, Ralph 448-453 Gloucester (Zweiter Weltkrieg) 196, 201f. Gluckman, Max 393 Gold (Familie) 20-23, 29 Gold, Melitta (Litta) 17, 22f. Goldberg, Millie (Tante H.s) 113 »Goldenes Zeitalter« 258-260, 304f. Goldmann, Lucien 373 Goldstücker, Eduard 174 Gombrich, Ernst 28 Gomulka, Wladyslaw 244 Goodwin, Clive 266 Gorbatschow, Michail 180, 318-320 Gordon, Hugh 137 Goubert, Pierre 481 Gramsci, Antonio 393, 395, 399f. Granta 131, 139, 144, 147, 151, 182, 188, 437 Grass, Günter 470 Gray, Thomas 423 Greene, Graham 417, 427 Griechenland, Griechisch 74f., 350 Große Depression, Weltwirtschaftskrise 23, 67f., 80 Große Inflation 34, 68 Großer Krieg (Erster Weltkrieg) 18, 29, 56, 85, 109, 113, 134f., 159, 183f., 206, 470

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Grove, Marmaduke 429 Grün (Familie) 20f., 32-36 Grün, Ernestine (Großmutter H.s) 62 Grün, Mimi (Tante H.s) siehe Brown, Mimi Grün, Nelly siehe Hobsbawm, Nelly Guevara, Ernesto »Che« 286, 291-293, 295f., 425, 429 Gupta, Indrajit (»Sonny«) 138, 414 Gutman, Herb 330 Guyot, Raymond 149 Habsburgerreich 20f., 25-29, 40, 159, 468, 473 Haksar, P. N. 152, 413 Haldane, J. B. S. 224 Halder, General Franz 191 Hall, Stuart 245, 313f., 317, 348 Haller, Peter 30 Hammond Jr., John 103, 447 Hanak, Peter 175 Hase, Günther von 69f. Haskell, Francis 126, 354, 395 Haskell, Larissa 354 Haupt, Georges 14, 209 Hay, Lorna 153 Hayek, Friedrich von 148, 331 Hazlitt, William 117, 201, 310 Healey, Denis 307-309 Heath, Edward 312 Hegedüs, Andras 174 Hein, Christoph 180 Heinemann, Margot 149 Heller, Agnes 12, 165 Heller, Clemens 371f. Hermlin, Stephan siehe Leder, Rudolf Herrnstadt, Rudolf 64f. Herzl, Theodor 41, 43, 471 Heseltine, Michael 312 Hexenjagd auf Kommunisten 148, 205, 212-215, 224, 255, 265, 344, 372, 439-441, 446, 453 Higham, David 345 Hill, Christopher 121, 228f., 240, 477 Hill, Elizabeth 137

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Hindenburg, Feldmarschall Paul von 79, 92 Hines, Earl 448 Historiker, ihre Notwendigkeit 337, 465f. Historiographie 75, 120-122, 132f., 198f., 215, 223f., 248-250, 266f., 322-338 »History Workshop«-Bewegung 336f. History Workshop Journal 247, 335 Hitler, Adolf Aufstieg zur Macht 41f., 79f., 89f., 92-97, 465 und Österreich 25 wird Reichskanzler 96f. Zweiter Weltkrieg 189, 191-193 Ho Chi Minh 165, 293 Hobsbaum (Familie) 31-34, 39, 44, 113f. Hobsbaum, Bella (Tante H.s) 53 Hobsbaum, Berkwood (Ike; Onkel H.s) 108, 113, 429 Hobsbaum, Cissie (Sarah) siehe Prechner, Cissie Hobsbaum, Ernest (Aron; Onkel H.s) 19, 113 Hobsbaum, Gretl (geb. Grün; Tante H.s) 29, 46, 50, 55f., 67, 69, 71, 80f., 99, 101, 105 Hobsbaum, Harry (Onkel H.s) 53, 104, 113-115, 181 Hobsbaum, Leopold Percy (Vater H.s) 18, 33f., 44-50, 62 Hobsbaum, Lou (Onkel H.s) 113 Hobsbaum, Nancy (Schwester H.s) 17f., 23, 52, 55f., 69, 80-82, 99, 101f., 104-106, 151 Hobsbaum, Nelly (geb. Grün; Mutter H.s) 18f., 22, 44-46, 50-53, 55-62 Hobsbaum, Peter (Cousin H.s) 55f., 69, 80, 99, 101f., 151 Hobsbaum, Phil (Onkel H.s) 113f. Hobsbaum, Ronnie (Cousin H.s) 53, 112, 114-117 Hobsbaum, Ruben siehe Osborn, Reuben

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Hobsbaum, Sidney (Onkel H.s) 32, 39, 46, 55f., 67, 80f., 98-101, 106-109, 151, 184, 383f. in der Filmindustrie 50, 70-72, 108f. nimmt H. zu sich 69f., 98f., 101 Parisbesuch mit H. (1933) 357f. Hobsbawm, Andy (Sohn H.s) 170, 256, 290, 479 Hobsbawm, Eric bürgerlicher Lebensstil 256-260 Erfahrungen im Kalten Krieg 214-217, 263-267 Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg 183-204 erste Reise nach England (1929) 53 erstes Geschenk zum Valentinstag 149 Ferien in Wales 269-283 Geburt in Alexandria 18 gesellschaftliches und häusliches Leben 354f. Hochzeit mit Marlene (1962) 119, 255 Hochzeit mit Muriel (1943-1950) 196, 217f. in Frankreich (30er Jahre) 152, 357-368 in Frankreich (50er Jahre) 371-375 in Frankreich (60er bis 90er Jahre) 375-380 in Italien 392-409 in Lateinamerika 342, 410-412, 417-435 in den Vereinigten Staaten 342f., 439-455 Jazzliebhaber 103f., 174, 200, 260-263, 265, 289f., 343, 437f., 442, 445, 448, 452 Jugendjahre in Berlin 67, 69-82 Kinder 256, 270, 282 Kindheit in Wien 17f., 20-22, 25-47, 54f. King’s College, Fellowship (1949-1955) 218f., 222

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kommunistische Aktivität in Berlin 83-98 kommunistische Ansichten 75-79, 154 Lehrer am Birkbeck College 208, 212-214, 218, 223, 254f., 257, 282, 340 Lehrer an der New School for Social Research (New York) 340 marxistische Anfänge 75, 83, 120-122 Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei 137-139, 154, 162-164, 182, 184, 226-228, 251-253, 474 politische Aktivität 302-304, 307f. Reisen als Akademiker 342f., 346f., 354f. Reisen in die Sowjetunion 228-234 Reisen nach Kuba 293-296 Reisen nach Spanien 383-391 Schulzeit in Berlin 69, 72-81 Schulzeit in London 116-120 Schulzeit in Wien 32f., 36-39, 54f. Student an der Cambridge University (1936-39) 124-152, 322f. Umzug nach England (1933) 100-104, 109-116 Veröffentlichungen 216f., 289, 303, 312, 345-351, 445 Das Zeitalter der Extreme 258, 347f., 352, 380f., 408 Die Banditen 299, 346 Europäische Revolutionen von 1789 bis 1848 217, 255, 345, 351 Nationen und Nationalismus 347, 352 Die Sozialrebellen (Primitive Rebels) 288, 299, 345, 383, 392, 410, 418, 425 The Invention of Tradition 347 The Jazz Scene (unter dem Pseudonym Francis Newton) 174, 233, 262f. Revolutionaries 479 The Rise of the Wage Worker 216 Hobsbawm, Julie (Tochter H.s) 256, 283, 290

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Hobsbawm, Marlene (zweite Frau H.s) 17, 21, 119, 143, 173, 207, 218, 250, 266, 337, 354 in Frankreich 375-377 in Italien 395, 405 in Lateinamerika 342, 346f. in den Vereinigten Staaten 289f., 455, 457, 459 in Vietnam 293 in Wales 270, 279, 282f. und Kubakrise 255f. Hochschullehrer als Beruf 341f. Hodgart, Matthew 221 Hodgkin, Dorothy 477 Hodgkin, Thomas 214, 477 Hoffa, Jimmy 443 Holiday, Billie 261, 439, 447 Homosexualität an der Cambridge University 147, 219 Honecker, Erich 85, 95 Hovell-Thurlow-Cumming-Bruce, A. R. 142 Hugo, Victor; Les Misérables (als Lektüre zur politischen Bildung) 423 Hunter, Bruce 345 Hussein, Saddam 464 Indien 138, 152f., 244f., 321, 413f. Institute of Historical Research (London) 267, 342 International Longshore and Warehousemen’s Union (ILWU; Vereinigte Staaten) 442-444 Internationale Brigaden 86, 146, 169, 386 Internationaler Kongreß der historischen Wissenschaften (Paris, 1937) 326-328, 371 Indonesien 94, 152 Iran 23, 351 Israel 41, 113, 143, 243, 255, 321, 414f., 469 siehe auch Zionismus Italien 89, 104, 160, 300, 321, 327, 392-409

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Jackson, Mahalia 453 Jacques, Martin 303, 312 Jagger, Mick 291 Jazz 103f., 174, 200, 260-263, 265, 289f., 343, 437f., 442, 445-448, 452 Jeans und die Geschichte 301 Jefferys, James B. 148 Jenkins, Roy 307 Johnson, Harry 221 Johnson, Paul 264 Jones, A. H. M. 266f. Jones, Claudia 265 Jones, Jack 305 Jones, Nellie 274 Jospin, Lionel 300, 381 Juden 19, 27f., 32, 39-42, 59, 72, 107, 143, 165f., 169, 203, 208f., 248, 324, 374, 376, 411, 414f., 446, 459, 469, 471 Jugendkultur 110, 260f., 289-292, 297f. Jugoslawien, Kommunismus 150, 200, 225f., 284, 366 Julião, Francisco 420 Kafka, Franz (Rehabilitierung) 174 Kallin, Anna (»Njuta«) 207 Kalter Krieg 63, 148, 158, 178, 205-229, 236, 239, 244, 256, 263-266, 294, 321, 323, 328, 331, 336, 343f., 402-404, 439, 455, 463f., 467 Kanada 197, 297, 333, 343, 348 Kennedy, John Fitzgerald 256, 334, 443, 445, 461 Keppel, Lady Cynthia 275, 325 Keunemann, Pieter 137f., 152 Keynes, John Maynard 10, 129, 131-133, 142, 220, 322 Kiernan, V. G. (Victor) 121, 333, 414 King’s College (Cambridge) 118f., 126-128, 131-135, 147, 183, 218f., 221 Kinnock, Neil 308 Kinsey, Tom 278 Klein, Fritz 175, 177 Klugmann, James 137, 149-152, 221, 225, 241, 243f., 366

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Koestler, Arthur 239 Kogon, Eugen 210 Kolumbien 410, 420-426, 431 Kominform (Kommunistisches Informationsbüro) 212 Komintern (Kommunistische Internationale) 87, 89-91, 93, 116, 147, 155, 162, 165-168, 176, 200, 242, 386, 471 Kommunismus 154-180, 211-215, 226-228, 234-239 Kommunisten, Leben von 154-180 Kommunistische Hochschulgruppe Cambridge 137f., 141-147 Kommunistische Jugend-Internationale 149 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 67-69, 88-98, 163, 175f., 474 Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) 149, 166, 169, 182, 285f., 365f., 372-375, 379 MOI (main d’œuvre immigrée) 169, 365 Kommunistische Partei Großbritanniens 1956er Krise 224 Geschichte 243, 239-253 Historikergruppe 223f., 230, 238, 240-245, 305, 329, 332, 335, 372, 441 Kommunistische Hochschulgruppe Cambridge 137f., 141-147 Mitglieder im Staatsdienst 207f., 212f. Mitgliedschaft H.s 137-139, 154, 162-164, 182, 226-228, 251-253. 474 Zusammenbruch 312f. Zweiter Weltkrieg 182f., 193, 195, 200 Kommunistische Parteien Indiens 138, 244, 414 Kommunistische Partei Italiens (KPI) 89, 155, 171, 251, 295, 392, 396-399, 402-406, 408 Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU), XX. Parteitag (1956) 170, 234, 236f., 244

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Kommunistische Partei der Tschechoslowakei 174, 226, 234, 372 Kommunistisches Informationsbüro siehe Kominform Kongreß der Gramsci-Studien (1958) 399 Königliche Pioniere, 560. Feldkompanie 186-194 Konservative Partei, Regierung Thatcher 304, 312f. Korea, Koreakrieg 217, 227, 327, 350f., 354f., 460 Kornai, Janos 179 Korner, Alexis 291 Koselleck, Reinhart 477 Kosminskij, E. A. 229 Kostov, Traicho 225 KPD siehe Kommunistische Partei Deutschlands Kraus, Karl 29, 41, 58, 60, 74 Kriegel, Annie 373 Kuba Besuche von Ausländern 293-296, 418, 428 Inspiration für Guerillas 292f., 420, 423, 425, 427-429 Invasion in der Schweinebucht (1961) 265f., 411 Revolution 292f. Kubakrise (1962) 255f., 264, 278, 465 Kube, Wilhelm 73 Kubitschek, Juscelino de Oliveira 417 Kuczynski, Jürgen 66 Kuczynski, Ruth 65 »Kulturbolschewismus« 92 Kulturrevolution (60er Jahre) 300, 336 siehe auch Gegenkultur Kumaramangalam, Surendra Mohan 138, 153, 413 Labour Party in den 30er Jahren 112-115, 141, 143, 194, 196 in den 70er und 80er Jahren 302-316 New Labour 316f.

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Labrousse, Ernest 329, 353, 370 Laemmle, Carl 52, 70f., 473 Laine, Cleo 265 Lania, Leo 30 Laski, Harold 141 Laslett, Peter 207 Lateinamerika 410-435 Historiographie 333f. H.s Reisen 342, 410-412, 417-435 Politik 416-435 und komparative Geschichte 426f. Laterza, Vito (Verleger) 401 Le Goff, Jacques 329, 481 Lehre an Universitäten 342 vor dem Krieg 128f. Kalter Krieg 212-214 Le Roy Ladurie, Emmanuel 354, 373, 377, 380 Leavis, F. R. 118, 121 Leder, Rudolf (Rolf; eigentlich Stephan Hermlin) 83-86 Lefebvre, Henri 373 Lenin, Wladimir Iljitsch 75, 84, 154f., 166, 176, 228, 234, 286, 471 León, Argeliers 295 León, Vicente Girbau 254, 388 Leuillot, Paul 328 Levi, Primo 209 Lewis, Wyndham 153 Leys, Simon 157 Lichtenstern, Hedwig (Tante H.s) 209 Liebling, A. J. 363 Liehm, Antonin 174, 372 Lindenbaum, John 459 Llangoed Hall 271 Llewellyn-Smith, Harold 118 Lodge, Henry Cabot 291 London 100, 102f., 109f., 196f., 200, 206 London, Artur 169 London School of Economics (LSE) 115, 141, 147f., 291, 322, 324, 413 Londoño, Rocío 424 Losey, Joseph 439

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Lukács, Georg 121, 173 Lula (Luis Inácio da Silva) 432 Lyttelton, Humphrey 261, 265 Macera, Pablo 425 MacInnes, Colin 261-263, 265 Mackenzie, Norman 261 Maclean, Mr. 119 Maddox, John 275 Mafia 394, 403, 407, 443-445, 452 Magris, Claudio 20 Maier, Charles 178 Maison des Sciences de l’Homme (Paris) 371 Manet, Édouard; Olympia 359 Mao Zedong, Maoismus 87, 157, 180, 244, 286, 319, 429, 431 siehe auch China Marchais, Georges 379 Marchesi, Victor 101 Marcuse, Herbert 351 Marienstras, Elise 375f. Marienstras, Richard 43,375f. Marín, Pedro Antonio 424 Marks, Louis 254 Mars, Forrest B. 112 Martin, Kingsley 261 Marty, André 167, 240 Marulanda, Manuel siehe Marín, Pedro Antonio Matisse, Henri 363 Marx Brothers 129, 407 Marx, Karl 12, 35, 65, 83, 112, 121f., 155, 163, 165, 248, 284-286, 323, 328f., 403, 407 Marxism Today 244, 250, 303f., 308, 311-317 Marxismus 54, 139, 155, 162, 238, 250f., 284, 293, 298, 302, 347-349, 379f. historische Gewißheit des Sieges 94, 164f., 315 Interesse an, Niedergang des 296f., 398 Monopol Moskaus 235, 245 nicht nationalistisch 299

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vorherrschende Ideologie bei Intellektuellen der Dritten Welt 349 und Geschichte 120-122, 223f., 228f., 240-242, 266, 326-329, 333, 336, 344 Massachusetts Institute of Technology (MIT) 342, 440f. Matisse, Henri 363 Mattiolo, Raffaele 402 May, Alan Nunn 218 McGibbon and Kee (Verlag) 261 Meacher, Michael 312 Mediävistik, Studium der 325f. Melly, George 263 Meuvret, Jean 328 Mexiko 309, 311, 410, 420, 425-427, 432-434 »Michael X« 294f. Mikes, George 110 Miliband, Ralph 307, 314 Militärregimes 349f., 417, 427-430 Miller, Jonathan 221 Mitterrand, François 377-379, 381 Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch 236f. Momigliano, Arnaldo 354 Monk, Thelonius 446 Morazé, Charles 327 Morgenstern, Christian 78, 82 Morin, Edgar 373 Moro, Aldo 406 Morris, Christopher 132 Morton, Leslie (A. L.) 121, 230 Münchener Krise (1938) 140, 145 Mussolini, Benito 150, 365f., 401 Mynatt, Margaret 163 Nahum, Ephraim Alfred (»Ram«) 137f., 143 Namier, L. B. 325 Napolitano, Giorgio 398f., 406 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) Aufstieg zur Macht 68, 79f., 90, 94f. Needham, Joseph 275

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Neoliberalismus, ökonomischer 316-318 siehe auch Thatcher, Margaret Neruda, Pablo 434 »Neue Linke« 245-248, 251, 337 New Left Review 245, 291, 315 New Reasoner, The 240, 245 New School for Social Research (New York) 340, 354, 483 New Statesman and Nation 226, 261, 478, 482 New York 157, 320, 340, 343, 347, 442-447, 455f. New York Review of Books 425, 483 Newton, Francis (Pseudonym H.s) 261 Newton, Frankie 261 Niemeyer, Oscar 417 Nobelpreis für Ökonomie 317, 330 Nordafrika 58, 145, 147, 149, 182, 196f., 375f., 415 Norman, E. H. 333 Oktoberrevolution (Rußland) 29, 75, 77, 84, 92, 154, 166, 234, 252f. Osborn, Reuben (Cousin H.s) 114 Österreich 21, 25, 28f., 104, 148, 170, 176, 199, 211 Free Austrian Movement (FAM) 197, 199 siehe auch Wien; Habsburgerreich Owen, Bob 281 Owen, David 307 Pagnol, Marcel 361f. Palästina 83, 86, 99, 203, 215, 299, 324, 374 Palme, Olof 242 Palme, Sven Ulric 243 Papen, Franz von 70, 79, 94 Paraguay 417 Parc Farm 274, 277, 282 Paris 71, 106, 110, 149, 152f., 219, 284-286, 295, 346, 357-380 Parti Socialiste Unitaire (PSU) 375 Partisan Coffee House 246-248

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Pascal, Roy 137 Pasionaria, La (Dolores Ibarruri Gómez) 161 Past & Present 224, 266, 329, 335, 347, 376 Patten, Christopher 312 Pauker, Anna 237 Pauly-Dreesen, Rose 108 Pazifismus 140 Peacock, Thomas Love 272 Pearce, Brian 241 Pearson, Gabriel 245 Peru 296, 298, 311, 343, 346, 410, 419-421, 425, 428-431 »Leuchtender Pfad« 298, 430 Pevsner, Nikolaus 207 Pfadfinder 54 PHG siehe Prinz Heinrichs-Gymnasium Picasso, Pablo 213, 363, 366 Pigou, Arthur Cecil 134 Pjatnitskij, Ossip 242 Plumb, Jack (Sir John) 348 Polanyi, Karl 148 Polen 27, 40, 43, 72, 80, 150, 152, 175, 180, 200, 238, 244, 284 Polito, Antonio 154 Pollard, Sidney 214 Pollitt, Harry 182, 241f. Pontón, Gonzalo 352 Portmeirion 271, 275, 278, 282 Portugal, Portugiesen 390, 457 Postan, M. M. (Mounia) 136, 142, 197, 216, 275, 322-328, 330, 348 »Postmoderne«, Frankreich 335f., 379, 382 Pottle, Pat 278 Power, Eileen 325 Prager Frühling 170, 174, 209, 312, 320 siehe auch Tschechoslowakei; Kommunistische Partei der Tschechoslowakei Prager, Teddy 148, 161, 197, 199 Prechner, Cissie (Sarah; Tante H.s) 113f.

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Preßburg (Bratislava) 27 Prestes, Luis Carlos 87 Preston (Prechner), Denis (Cousin H.s) 102f., 114, 197, 200, 262, 437 Preston, Rosalie (Cousine H.s) 114 Prinz Heinrichs-Gymnasium (PHG) 69, 72-81, 86, 116 Procacci, Giuliano 398 Pronteau, Jean 285 Proust, Marcel 362 Quarterly Review, The 445 Quebec, Québécois 297, 299 Radfahren, Freude am 112 Rado, Alexander 159f. Rajk, Laszlo 225f. Ramelson, Bert 305 Ramelson, Marian 305 Randle, Bill 453f. Ranki, Georg 174 Rassemblement Mondial des Étudiants (RME) 149-152 Kongresse 149f., 152 Rassismus 264f., 412, 414f. Raymond, Henri 373-375 Renn, Ludwig 74 Renner, Karl 199 Renoir, Jean 109, 363, 366 revolutionäre Bewegungen Grenzen der Sympathie 298f., 431 in den 60er Jahren 286-289, 292, 297-300 Lateinamerika 419-425 siehe auch Kommunismus Ribar, Ivo (Lolo) 151 RME siehe Rassemblement Mondial des Étudiants Robles, Miggy 152 Robson, R. W. (»Robbie«) 185 Rockmusik 260, 289-291, 449f., 452, 454 Rodriguez, Carlos Rafael 294 Rogers, Bill 307 Rolling Stones 290f.

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Roosevelt, Franklin D. 192, 195, 200, 438, 461 Rote Brigaden 300, 406 Rothstein, Andrew 168 Rowbotham, Sheila 291, 297f., 337 Rubensohn, »Tönnchen« 76 Rudé, George 346 Runciman, Steven 335 Russell, Bertrand 220, 227, 269, 275, 278 Russell, Ralph 143 Sabaté, Francisco 387 Saint Marylebone Grammar School 116-120 Sala, Michele 393f. Saltmarsh, John 132 Samuel, Howard 261 Samuel, Raphael 245-248, 335 San Francisco 289f., 446-449 Sarabhai (Familie) 413 Sartre, Jean-Paul 370 Saunders, Constance 148 Saville, John 148, 240, 245 Savio, Mario 450 Scanlon, Hugh 305 Scargill, Arthur 305f. Schiffrin, André 452f. Schilfert, Gerhard 176 Schleicher, General Kurt von 70, 95 Schlesinger Jr., Arthur 139, 323, 439 Schoenman, Ralph 278 Schönbrunn, Walter 73-75 Schroeder, Hans-Heinz 78 Schulkampf, Der 86, 88, 92, 97 Schwarz, Walter 275, 277, 282 Schweden 243 Sczwarcz, Luis 350 Seaman, Muriel (erste Frau H.s) 196f., 217 Searle, Ronald 188, 207 Sen, Amartya 219, 307, 317 11. September 2001, Attentat 463f. Sereni, Emilio 398 Seutter-Villa (Wien) 17f., 20

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Register

Shelest, Alla 231 Sheppard, J. T. 132f. Silkin, Sammy 141 Sillitoe, Alan 256 Simon, Emil 75f. Simon, Hedi 138 Siqueiros, David Alfaro 295 Sizilien 31, 393f., 403 Sling, Otto 226 Slowakei 26f. siehe auch Tschechoslowakei Smith, Adam 322 Smith, Bessie 103 Smyth, Dame Ethel 108 Soboul, Albert (»Marius«) 285 Soegono, Satjadjit 152 Sonabend, Yolanda 354 Soros, George 352 Sowjetunion (UdSSR) 77, 83f., 94, 154, 161f., 166, 172, 182, 193, 195, 200, 205, 211, 224-235, 244, 248, 438, 466 Entstalinisierung 230, 236-238, 24 Geheimdienst 64, 125f., 134, 159 Historiker 229, 331f. Kommunistische Partei 170, 234, 236f., 244 nach 1945 211f., 230-234 Orthodoxien 224f., 331, 380 und Kalter Krieg 226-229, 256, 264 Zusammenbruch 318-321 Zweiter Weltkrieg 154, 193f. siehe auch Kalter Krieg; Oktoberrevolution; Stalin, Jossif Wissarionowitsch Sozialismus, Zusammenbruch 318-321 Sozialistischer Schülerbund (SSB) 84, 86-88, 94f., 97 Spanien 102, 229, 297, 299f., 350, 367, 383-391 Spanischer Bürgerkrieg 84-86, 109, 140, 142, 145, 149, 161, 221, 366, 383-387, 389 Spencer, David 137

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Sprachen Deutsch 183, 198, 208 Französisch 357, 381f. Guaraní 418 Italienisch 394 lokale 411 Multilingualismus 352-354, 385, 468 Quechua 419 Spanisch 387f. Walisisch 279 Springhall, David 476 Sraffa, Piero 219, 395f., 399, 402 SSB siehe Sozialistischer Schülerbund Stalin, Jossif Wissarionowitsch 150f., 161f., 166f., 171, 178, 193, 200, 224-226, 228f., 236-238, 241f., 366 »Standard-of-Living«-Debate 331 Stanford University 342, 440, 449 Stars Campaign for International Friendship (SCIF) 265 Stiglitz, Joseph 317 Stone, Lawrence 267, 481 Storia del Marxismo 171, 347, 398 Strachey, John 276 Straight, Michael Whitney 125, 137 Strasser, Gregor 95 Studenten 128-136, 140-149, 284-288, 292, 295, 339-342 Suezkrise (1956) 239 Sweezy, Paul 293f. Sylvester, David 458 Symbionese Liberation Army 450 Szamuely, Tibor 172 Szana, Alexander 26, 60 Talmon, J. L. 217 Tawney, R. H. 141 Taylor, Charles 245 Terkel, Studs 453 Terroristengruppen 292, 298-300, 319, 374, 406, 463f. Thälmann, Ernst 79, 94 Thatcher, Margaret 304, 306f., 312-314, 316 Thirtle, Bert 187

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Thomas, Hugh 388 Thomas, R. S. 273, 280f. Thompson, Dorothy 275 Thompson, Edward (E. P.) 121, 225, 240, 245f., 248-252, 275, 282, 302, 348f. Tito, Josip 150f., 225, 235f. Tocqueville, Charles Alexis de 287, 455f. Togliatti, Palmiro 89, 155, 236, 392, 395, 399, 402 Torres, Camilo 422f. Touraine, Alain 287f. Trampfahrten 368, 384 Trentin, Bruno 395, 398 Triest 20 Trotzkij, Leon D., Trotzkismus 29, 235, 245, 295, 300, 305, 308, 315 Tschechoslowakei 26, 30, 104, 170-174, 180, 209, 226, 234, 244, 284, 319, 372 Turing, Alan 135 Türkei 28, 302, 341, 350 Tynan, Ken 263, 265f., 449 Udet, Ernst 71 UdSSR siehe Sowjetunion Uhlman, Fred 78 Ungarn 110, 172-175, 180, 225f., 238f., 244, 358 Unger, Wolfgang 73 Universal Pictures Company 70f. Universities and Left Review 245, 247 University Newsletter (Cambridge) 477 USA siehe Vereinigte Staaten von Amerika Vailland, Roger 373, 375 Varela, Juan de la Cruz 423 Vereinigte Staaten von Amerika 104, 157, 200, 205, 214f., 227f., 256, 260, 264f., 287-289, 292f., 321, 327, 350, 372, 402f., 411, 428, 430, 432f., 436-465 Historiographie 329f., 333f. innere Vorstellungen von den USA 436-438, 444

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lateinamerikanische Ansichten über die USA 433 Reisen H.s 342, 439-455 und Italien 403 siehe auch Kalter Krieg; Jazz Veliz, Claudio 429 Vernant, J. P. 235 Vickers, J. O. N. (»Mouse«) 183 Vietnam 160, 165, 288f., 291-293, 298f., 428 Vilar, Pierre 328 Villari, Rosario und Anna Rosa 399, 406 Villaroel, Gualberto 410 Vives, J. Vicens 328 Volksfront 109, 253, 326-328, 384, 482 Wales 249, 269-283, 337, 346 Wallich, Walter 220 Warhol, Andy 458 Watt, Ian 188 Wayne, Philip 117 Webb, Kaye 188, 207 Webb, Sidney und Beatrice 141 Wedderburn, Dorothy 142, 277, 282 Wegener, Alfred 71 Wehler, Hans-Ulrich 329, 481 Weidenfeld, George 217, 345 Weimarer Republik 64-80, 92f., 252 Kultur 70, 92 Weltausstellung Paris (1937) 149, 366 Weltwirtschaftskrise 23, 67f., 80 Wesker, Arnold 239 West, Alick 254 White, Archie 194 Widerstandsbewegungen 150f., 165f., 169f., 225f., 365, 398, 400, 463f. Wiemer, Ernst 78 Wien 17-47, 57 Wilbraham, Marion 226 Wilkinson, Patrick 135 Williams, Gwyn Alf 337 Williams, Raymond 121, 183, 249, 251f., 314 Williams, Rupert Crawshay 275

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Register

Williams, Shirley 307 Williams-Ellis, Amabel 275-283 Williams-Ellis, Clough 270-283 Wilson, Harold 303, 305, 310 Wintour, Charles 139 Wittenberg, Gerhard 83, 99 Wittkower, Rudolf 266 Wohlfahrtsstaat 259, 268 Wolf, Markus 179 Women’s Liberation Conference 337

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Zangheri, Renato 398 Zeitung, Die 198 Zionismus 40-42, 83, 143, 165, 170, 185, 324, 376, 471 siehe auch Israel Zweiter Weltkrieg Beginn 181f. Erinnerung 413 in Erwartung des Krieges 145, 152 persönliche Erfahrungen H.s 183-204

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Wissen verbindet uns Die wbg ist eine Gemeinschaft für Entdeckungsreisen in die Welt des Wissens. Wir fördern und publizieren Wissenschaft und Bildung im Bereich der Geisteswissenschaften. So bringen wir Gleichgesinnte zusammen und bieten unseren Mitgliedern ein Forum, um sich an wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten zu beteiligen. Als Verein erlaubt uns unser gemeinnütziger Fokus, Themen sichtbar zu machen, die Wissenschaft und Gesellschaft bereichern. In unseren Verlagen erscheinen jährlich über 120 Bücher. Als Vereinsmitglied fördern Sie wichtige Publikationen sowie den Austausch unter Akademikern, Journalisten, Professoren, Wissenschaftlern und Künstlern. Jetzt Mitglied werden und ein Buch aus unserem Sortiment im Wert von 25,- € auswählen Mehr Info unter www.wbg-wissenverbindet.de oder rufen Sie uns an unter 06151/3308-330

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