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German Pages 352 Year 2023
Johannes Feichtinger, Heidemarie Uhl (Hg.) Das integrative Empire
Global- und Kolonialgeschichte Band 16
Editorial Seit klassische Nationalgeschichten in der Geschichtswissenschaft eher auf dem Rückzug sind, ist die Globalgeschichte auf dem Vormarsch. Globalgeschichte meint jedoch nicht einfach Geschichte »außerhalb Europas« oder »Geschichte weltweit«. Es geht dabei um eine Geschichtsschreibung, die versucht, eurozentrische Perspektiven zu überwinden und das Augenmerk verstärkt auf globale Verflechtungen und Verbindungen zu richten. Klassische Themen einer Globalgeschichte sind daher Kolonialismus, Migration, Handelsbeziehungen, internationale Kooperation, Sklaverei, Tourismus, Imperialismus, Globalisierung, Wissenstransfers u.v.m. Die Reihe Global- und Kolonialgeschichte bietet Forschungsbeiträgen zu diesen Themen ein gemeinsames Diskussionsforum. Die Kolonialgeschichte wird dabei als zentraler Teil der Globalgeschichte behandelt, da sie sich thematisch als Verflechtungsgeschichte wie auch methodisch als Machtverhältnisse (und hegemoniale Diskurse) hinterfragend in diese Historiografie einordnet.
Johannes Feichtinger, geb. 1967, ist Direktor des Instituts für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Wien) und lehrt als Dozent für Neuere Geschichte an der Universität Wien. Heidemarie Uhl, geb. 1956, ist Senior Research Associate am Institut für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Wien) und lehrt als Dozentin für Zeitgeschichte an der Universität Wien.
Johannes Feichtinger, Heidemarie Uhl (Hg.)
Das integrative Empire Wissensproduktion und kulturelle Praktiken in Habsburg-Zentraleuropa
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Inhalt
Das integrative Empire Einleitung Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl ................................................9 Habsburg kooperativ Die Zusammenarbeit der Kronländer in der (post)imperialen Herrschaftsordnung Jana Osterkamp ................................................................... 27 Das Imperium als Rechtsstaat Franz L. Fillafer .................................................................... 47 Imperiales Wissen: Zensus und Karte Landesvermessungen und Volkszählungen im Habsburgerreich in der Sattelzeit (1750–1850) Wolfgang Göderle .................................................................. 73 Performative Performance Räume des Politischen und Praktiken der Relevanz: Galizien, die Habsburgermonarchie, Europa und die Welt Dietlind Hüchtker .................................................................. 97 Hibridismus & Hybridität Istrien und die Genealogie eines post/habsburgischen Begriffs Reinhard Johler .................................................................... 117
Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden Kommunikationsraum Moritz Csáky ....................................................................... 141 »Volksordnung« gegen die drohende »Entdeutschung«? Historiografische Konstruktionen von »Ordnung« und »Differenz« in der Zwischenkriegszeit Alexander Pinwinkler ...............................................................169 Die Sprache(n) auf der Karte Die Konstruktion von Geschichtlichkeit in der Dialektkartografie des Deutschen zwischen Cisleithanien, Erster Republik und Zweiter Republik Jan David Zimmermann .......................................................... 189 »Deutsch bis auf die Knochen« Czernowitz als Sinnbild kakanischer Kontinuität in der deutschen Öffentlichkeit der 1930er Jahre Andrei Corbea-Hoişie ............................................................... 211 Kafka-Wissen als habsburgisch codiertes Wissen Autor und Werk zwischen Regionalität und Universalität Steffen Höhne..................................................................... 227 Die ambivalente Vielfalt Mitteleuropas Diskursiver und performativer Umgang mit Differenz im ostmitteleuropäischen Samizdat Gregor Feindt ..................................................................... 263 »Gespenster des alten Österreich« Der Kampf um die Deutungsmacht über die habsburgische Vergangenheit in der Ersten Republik Werner Suppanz....................................................................281 Pietas Austriaca? Vom habsburgischen Erbe zur Ersatzideologie Dieter A. Binder ................................................................... 303
Der diskrete Charme der Dekadenz und das posthume Fortleben Österreich-Ungarns Adam Kożuchowski.................................................................321 Abbildungsverzeichnis ........................................................... 339 Autor:innenverzeichnis ...........................................................341 Index ............................................................................. 343
Das integrative Empire Einleitung Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl
Die neue Habsburg-Forschung steht im Zeichen einer Trendwende. In den Fokus rückt, was den Staat zusammenhielt und wie er als Empire funktionierte. Dieses Buch behandelt das integrative Empire. Die Autor:innen untersuchen, wie Vielfalt und Differenz in Wissensproduktion und kulturellen Praktiken verarbeitet wurden und welche Resonanz sie in der Gedächtniskultur bis in die Gegenwart finden. Die Habsburgermonarchie war lange Zeit kein Fall für die internationale Empire-Forschung. Sie wurde nicht zu den Imperien gezählt, weil sie nicht der klassischen Typologie entsprach. Der Kaiserstaat betrieb keine koloniale Expansion in die außereuropäische Welt, führte keine gewaltsamen Eroberungskriege, verlieh mit dem Staatsgrundgesetz 1867 jedem seiner Bewohner:innen die Staatsbürgerschaft und stellte »vor dem Gesetze […] alle Staatsbürger gleich.«1 Die neuere historische Forschung geht davon aus, dass angesichts der vielfachen Unterschiede die typologische Definition von Imperien weiter gefasst werden muss. Jürgen Osterhammel hält fest, dass auch »der k.u.k. Staat zahlreiche Merkmale eines typischen Imperiums«2 aufwies: Die Habsburgermonarchie war ein Vielvölkerreich, das eine Vielzahl unterschiedlicher historischer Territorien vereinte und diese zentral regierte. Osterhammel stuft die Habsburgermonarchie sogar als das »›modernste‹ und ›zivilste‹ unter den Imperien« ein, weil »die Herrschaft des Gesetzes und die staatsbürgerliche Gleichstellung im Prinzip [in Österreich] überall galten.«3
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Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder (RGBl. Nr. 142/1867). Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 624. Ebd., S. 626.
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Durch die Neubewertung als Empire wurde das Habsburgerreich zu einem Gegenstand der Globalgeschichte,4 weil hier integrative Herrschaftspraktiken und Handlungsformen in heterogenen, plurikulturellen Gesellschaften, wie sie heute weltweit vorherrschend sind, erprobt wurden. Damit veränderte sich auch der historiografische Blick. Pieter M. Judson hat mit seinem Buch The Habsburg Empire. A New History (2016)5 einen wesentlichen Anstoß gegeben, dass sich die Habsburg-Forschung von mehreren bisherigen Leitperspektiven verabschiedete: vom zentralen Fokus auf den zerstörerischen Nationalitätenkonflikt, von der dem eurozentrischen Modernisierungsnarrativ geschuldeten Vorstellung von Rückständigkeit und von der Situierung in einem imaginierten Osten an der europäischen Peripherie. Die normative Setzung des homogenen »westlichen« Nationalstaats als Telos der Geschichte hatte zur Bewertung des Vielvölkerstaats als einem devianten Auslaufmodell geführt, geprägt von nationalistischen Konflikten, die – so die Überzeugung – unaufhaltsam zum Zerfall des Reiches geführt hatten. Die Genealogie der Vorstellung vom anachronistischen Vielvölkerstaat, der dem Untergang geweiht war, setzte in den historischen Darstellungen unmittelbar nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie im Jahr 1918 ein. Die überwiegende Mehrheit der österreichischen Historiker der Zwischenkriegszeit erlebten ihn als schweren Verlust. Sie würdigten die Leistungen der Monarchie, nahmen dabei aber unterschiedliche Positionen ein: Heinrich Srbik, Professor für Allgemeine Geschichte der Neuzeit in Wien, betrachtete als wichtigster Vertreter der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung die Geschichte der Habsburgermonarchie als Teil der deutschen Geschichte. Hugo Hantsch, vor 1938 Professor für österreichische Geschichte in Graz und nach 1945 Nachfolger Srbiks in Wien, würdigte als Vertreter einer katholisch-österreichischen Geschichtsauffassung das historische Verdienst der deutschsprachigen Bewohner der Monarchie als treibende Kräfte im Aufbau des österreichischen Staates. Beide sahen die Deutsch-Österreicher in der Tradition der österreichischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als 4
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Vgl. Ulrike von Hirschhausen/Jörn Leonhard, Empires. Eine globale Geschichte 1780–1920, München 2023; Ulrike von Hirschhausen, Die Habsburgermonarchie in globaler Perspektive? Zur Rekonzeptualisierung eines europäischen Empires, in: Geschichte und Region/Storia e regione 30 (2021) 1, S. 212–222; Pieter M. Judson, Seeing the Habsburg Monarchy as a Global Empire in an Era of Self-Styled Nation-States, in: ebd., S. 223–229. Pieter M. Judson, The Habsburg Empire. A New History, Cambridge, Mass./London 2016; ders., Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918, München 2017.
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die den anderen »Volksstämmen« überlegene Bevölkerungsgruppe im Habsburgerreich. Beide verband die Vorstellung einer erfolgreichen Kulturmission der deutschsprachigen Österreicher im östlichen und südöstlichen Europa.6 Andere österreichische Historikerstimmen waren nüchterner und betrachteten die Monarchie als überholtes Staatsgebilde.7 In anderen Nachfolgestaaten, insbesondere in der Tschechoslowakei, wurde 1918 als Gründungsmoment des siegreich errungenen Nationalstaats gefeiert. Nach 1945 änderten sich die Vorzeichen. Der Nationalismus war kompromittiert, neue übernationale staatliche Organisationsformen erschienen als Gebot der Stunde. Dafür wurden historische Vorbilder gesucht. Vor diesem Hintergrund erfolgte der Auftakt zur systematischen Erforschung der Habsburgermonarchie.8 In seinem zweibändigen Werk The Multinational Empire (1950, dt. 1964)9 analysierte der Historiker und Jurist Robert A. Kann nicht nur den »Nationalismus unter den Völkerschaften des Reiches«,10 sondern auch die »institutionellen Reformvorschläge« und Maßnahmen, die der Vielvölkerstaat zur Lösung seiner nationalen Probleme entwickelt hatte. Im Versuch,
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Vgl. Werner Suppanz, Supranationality and National Overlaps. The Habsburg Monarchy in Austrian Historiography after 1918, in: Tibor Frank/Frank Hadler (Hg.), Disputed Territories and Shared Pasts. Overlapping National Histories in Modern Europe (Writing the Nation Series 5), Basingstoke, Hampshire [u.a.] 2010, S. 66–91; ders., Die Bürde des ›österreichischen Menschen‹. Der (post-)koloniale Blick des autoritären ›Ständestaats‹ auf die zentraleuropäische Geschichte, in: Johannes Feichtinger/Ursula Prutsch/ Moritz Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 2), Innsbruck u.a. 2003, S. 303–314. Vgl. Alfred Francis Pribram, Austrian Foreign Policy, 1908–1918, London 1923, S. 128; Gusztáv Gratz/Richard Schüller, The Economic Policy of Austria-Hungary during the War in its External Relations, New Haven/CT 1928, S. xxiii, und der Beitrag von Adam Kożuchowski in diesem Band. In der Geschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit war der Begriff »habsburgische Monarchie« gebräuchlich. Als Buchtitel verwendete ihn als erster Josef Redlich in seiner zweibändigen Studie zum österreichischen Staats- und Reichsproblem (1920, 1926). Als Buchtitel in der heute üblichen Form gebrauchte den Begriff erstmals Otto Brunner in seiner Studie »Die Habsburgermonarchie und die politische Gestaltung des Südostens« (1943). Robert A. Kann, The Multinational Empire. Nationalism and National Reform in the Habsburg Monarchy 1848–1918. 2 Bde., New York 1950. Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches 1918. Bd. 1: Das Reich und die Völker, Graz/Köln 1964, S. 11.
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»eine solche übernationale Ordnung herzustellen«, sah der in Wien geborene und 1938 in die USA emigrierte Kann ein Zukunftsmodell von globaler Relevanz: »Unsere Gegenwart wird ja nicht nur von den raschen und kurzen Wellenstößen des Nationalismus beherrscht, die […] das alte Österreich zerstört haben, sondern von der weit mächtigeren und langsameren Woge einer übernationalen Zukunft als Rettung vor der Zerstörung unserer Welt.«11 Kanns The Multinational Empire bildete den Ausgangspunkt für ein bei der Rockefeller Foundation beantragtes, aber nicht bewilligtes Forschungsprogramm, in dem die Habsburgermonarchie als Modellfall für einen übernationalen Staat untersucht werden sollte. 1960 startete die Österreichische Akademie der Wissenschaften das langfristige Forschungsprojekt »Die Habsburgermonarchie 1848–1918« mit dem Ziel einer »Gesamtdarstellung der Geschichte und Kultur der österreichisch-ungarischen Monarchie«.12 1973 erschien Band 1 der Reihe Die Habsburgermonarchie 1848–1918, im Jahr 2018 der zwölfte und letzte Band.13 In der Tradition von Kann untersuchte der Wiener Historiker Gerald Stourzh die rechtliche Gleichstellung der Nationalitäten im österreichischen Staatsgrundgesetz von 1867, die es den Staatsbürger:innen erlaubte, die landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben zu verwenden. Er erkannte, dass »der Ruf nach gleichen Rechten dem Nationalitätenkonflikt im Habsburgerreich seinen Stempel auf[drückte]«,14 d.h. zu einer »Ethnisierung der Politik« führte.15 Die auf die Einzelperson bezogene Gleichberechti11 12
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Ebd., S. 13f. Johannes Feichtinger/Katja Geiger/Johannes Mattes, Neue Wege der ÖAW im Kalten Krieg. Politische Konkurrenz und wissenschaftliche Kooperation, in: Johannes Feichtinger/Brigitte Mazohl (Hg.), Die Österreichische Akademie der Wissenschaften 1847–2022. Eine neue Akademiegeschichte. Bd. 2 (Denkschriften der Gesamtakademie 88), Wien 2022, S. 319–364, hier S. 360–362; dies., Die ÖAW-Forschung in den letzten 50 Jahren, in: ebd., 449–595, hier S. 472f. 2021 erschien Band X »Das kulturelle Leben« in zwei Teilbänden, hg. von Andreas Gottsmann. Vgl. Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848–1918, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Völker des Reiches (Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. 3,1), Wien 1980, S. 875–1206; ders. Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985, S. 1. Vgl. Gerald Stourzh, The Ethnicizing of Politics and ›National Indifference‹ in Late Imperial Austria, in: ders., Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990–2010 (Studien zu Politik und Verwaltung 99), Wien/Köln/Graz 2011, S. 283–323.
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gung erzielte keine Befriedung, sondern verschärfte vielmehr den Konflikt. Im Widerspruch zu ihrem integrativen Geist eröffnete die Dezemberverfassung von 1867 nationalen Aktivist:innen Handlungsspielräume. Zwar war das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder für die Kategorie nationaler Gruppenrechte noch blind; Nationalist:innen leiteten aus der individuellen Gleichberechtigung jedoch die Gleichberechtigung ganzer Nationalitäten, also Gruppenrechte, ab: »Ethnic differences were therefore largely an effect«, wie Pieter M. Judson schreibt, »not a cause, of nationalist activism.«16 Die imperialen Institutionen griffen verschiedene Ansprüche nationaler Aktivist:innen auf und setzten sie durch Rechtssprechung, Gesetzgebung und Verwaltungshandeln um.17 Ergebnis war die von der Verfassung nicht beabsichtigte Anerkennung nationaler Gruppen als eigene Rechtspersönlichkeit. Die imperiale Strategie lautete ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in Mähren, der Bukowina und Galizien: Befriedung durch nationale Segregation über so genannte Ausgleiche, Trennungen und Teilungen. Universitäten, Schulen, Amtsstuben und Wahlkreise wurden national getrennt und geteilt, wie z.B. 1882 die Prager Universität in eine deutsche und in eine tschechische. Die Ausgleiche führten zur nationalen Trennung in der Schulverwaltung, den Landesverfassungen und Wahlordnungen. Der Mährische Ausgleich (1905) gab den Auftakt, 1910 und 1914 wurden Ausgleiche in der Bukowina und in Galizien ausverhandelt und zum Teil beschlossen. Die Zugehörigkeit zu einem jeweiligen »Volksstamm« wurde aufgrund der Abstammung der Staatsbürger:innen letztlich behördlich bestimmt. Eltern waren gezwungen, ihre Kinder in eine Schule zu schicken, deren Unterrichtssprache mit der Abstammung des Kindes übereinstimmte, und Wähler wurden in so genannten »nationalen Katastern« verzeichnet. Auf Landesebene gaben Staatsbürger 16
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Pieter M. Judson, Do Multiple Languages Mean a Multicultural Society? Nationalist »Frontiers« in Rural Austria, 1880–1918, in: Johannes Feichtinger/Gary B. Cohen (Hg.), Understanding Multiculturalism. Central Europe and the Habsburg Experience (Austrian and Habsburg Studies 17), New York/Oxford 2014, S. 61–82, hier S. 79. Vgl. Johannes Feichtinger, Kakanische Mischungen. Von der Identitäts- zur Ähnlichkeitswissenschaft, in: Anil Bhatti/Dorothee Kimmich (Hg.), Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, Konstanz 2015, S. 219–244, hier S. 228f.; ders., Polyglottes Habsburg. Mehrsprachigkeit im politischen, staatsrechtlichen und gesellschaftlichen Kontext, in: Karin Almasy/Heinrich Pfandl/Eva Tropper (Hg.), Bildspuren – Sprachspuren. Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie, Bielefeld 2020, S. 1–22.
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seither in Mähren als Deutsche oder als Tschechen und nicht als Bewohner des Kronlandes Mähren ihre Stimme ab. Die als »Meilenstein zu einer idealen Gesellschaftsordnung« vorgestellten nationalen Reformen erwiesen sich letztlich, so der österreichisch-amerikanische Historiker Robert A. Kann treffend, als die »genaue Antithese übernationalen Staatsdenkens im pluralistischen Sinne«.18 *** In den 1990er Jahren veränderte die kulturwissenschaftliche Wende die Sichtweise auf den Nationalismus. Noch vor Veröffentlichung der neuen Nationalismustheorien von Ernest Gellner und Benedikt Anderson19 zeigte Gary B. Cohen in seinem Buch The Politics of Ethnic Survival (1981)20 am Beispiel HabsburgZentraleuropa und mit Schwerpunkt auf die Prager Gesellschaft, dass nationale Identitäten nicht naturgegeben waren, sondern von nationalen Aktivist:innen konstruiert und propagiert wurden. Damit erklärte Cohen als erster die Nationalitäten der Habsburgermonarchie zu ›Erfindungen‹. Viele weitere Studien zur Habsburgermonarchie, vor allem von Seiten US-amerikanischer Historiker:innen, folgten diesem Ansatz.21 Zur Jahrtausendwende schärfte die Anwendung der postkolonialen Theorie den Blick auf vielschichtige Machtasymmetrien und Hegemonien in der späten Habsburgermonarchie.22 Analysiert wurden unter diskurstheoretischer Perspektive die Selbstermächtigung nationaler Gruppen, Binnenkolonialismen sowie die Konkurrenz nationaler Aktivist:innen um die Vormachtstellung im kollektiven Gedächtnis. Aus heutiger Sicht wird deutlich,
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Robert A. Kann, Die Habsburgermonarchie und das Problem des übernationalen Staates, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Verwaltung und Rechtswesen (Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. 2), Wien 1975, S. 1–56. Vgl. Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Ithaca/London 1983; Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/ New York 1986. Gary B. Cohen, The Politics of Ethnic Survival. Germans in Prague, 1861–1914, Princeton 1981 (West Lafayette 2 2006). Vgl. u.a. Jeremy King, Budweisers into Czechs and Germans. A Local History of Bohemian Politics, 1848–1948, Princeton 2002; Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge, Mass./London 2006. Feichtinger/Prutsch/Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial.
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dass der postkoloniale Zugang dichotomen Vorstellungen wie »eigen« und »fremd«, Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, Zentrum und Peripherie verpflichtet war. Wie in der Habsburg-Forschung seit 1945 standen auch in diesen neuen Zugängen die Konflikte zwischen nationalistischen Gruppen, nunmehr bezeichnet mit dem konstruktivistischen Begriff der ethnischen Differenz, im Vordergrund. Der postkoloniale Zugang wurde zuletzt zunehmend als reduktiv und simplifizierend erkannt und auf den Prüfstand gestellt.23 Neue Forschungen machen sichtbar, dass der einseitige Blick auf ethnische Differenz als Konfliktgenerator jene Lebens- und Handlungsformen ausblendete, die nicht von der behaupteten Differenz, sondern vielmehr von Interaktionen und Austausch bestimmt waren.24 Moritz Csáky hat für die Städte Zentraleuropas gezeigt, dass diese Region, charakterisiert durch Heterogenität, Pluralität und Mehrfachidentitäten, von »sich konkurrenzierenden und überlappenden entgrenzten Kommunikationsräumen« geprägt war.25 Diese Konstellation mündete nicht notwendig in Konflikte, vielfach war ein »gewisser Pragmatismus des Zusammenlebens« vorherrschend,26 ein handlungsleitender Pragmatismus,27 der Zentraleuropa zu einem »Laboratorium für lokale und globale kulturelle Prozesse« von gegenwärtiger Relevanz werden lässt.28 Mit der Lenkung des Blicks auf Differenz und Vielfalt in Zentraleuropa hat Csáky ab den 1990er Jahren zentrale Kategorien der neuen Empire-Forschung vorweggenommen.
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Vgl. Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl (Hg.), Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Stichworte, Wien/Köln/ Weimar 2016. Vgl. Johannes Feichtinger, Introduction: Interaction, Circulation and the Transgression of Cultural Differences in the History of Knowledge-Making, in: ders./Anil Bhatti/ Cornelia Hülmbauer (Hg.), How to write the Global History of Knowledge-Making. Interaction, Circulation and the Transgression of Cultural Difference (Studies in the History and Philosophy of Science 53), Cham 2020, S. 1–26. Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 20. Moritz Csáky, Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay zur österreichischen Identität, Wien/Köln/Weimar 1996, S. 169. Vgl. Moritz Csáky, Das kulturelle Gedächtnis der Wiener Operette. Regionale Vielfalt im urbanen Milieu, Wien 2021, S. 203. Vgl. Csáky, Das Gedächtnis der Städte, S. 364f.; ders., Das Gedächtnis Zentraleuropas. Kulturelle und literarische Projektionen auf eine Region, Wien/Köln/Weimar 2019, S. 319–350.
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Den Anstoß zur Erforschung der Habsburgermonarchie als Empire gab – wie eingangs erwähnt – Pieter M. Judson mit seinem Buch The Habsburg Empire. A New History.29 Judson definiert die Habsburgermonarchie als Normalfall eines Empires und rückt damit von ihrer gängigen Einstufung als rückständiger Sonderfall ab. Als erster stellte er »das Reich als Ganzes in den Mittelpunkt der Untersuchung […] und nicht seine einzelnen ›Bausteine‹, also die unterschiedlichen Sprachgemeinschaften oder die ethnisch voneinander abgegrenzten Völker.« Mit der Untersuchung jener gesellschaftlichen Prozesse, in denen »sprachliche, konfessionelle und regionale Trennlinien überbrückt wurden«,30 verabschiedete er sich auch vom Primat des Nationalitätenkonflikts in der Historiografie. Judson zeigt in seiner Monografie, dass sich Reich und Nation in der konkreten politischen Praxis »im Dialog miteinander und nicht in Opposition zueinander« entwickelten.31 Nationale Gruppen konnten sich in ihren Emanzipationsbestrebungen entfalten, ihre Autonomieforderungen wurden durch sogenannte Ausgleiche weitgehend erfüllt. Umgekehrt erhoben Nationalist:innen ihre Stimme für nationale Gruppenrechte innerhalb der Monarchie, nicht aber – zumindest vor dem Ersten Weltkrieg –, um das Reich zu Fall zu bringen. Judson unterstreicht, dass es für nationale Aktivist:innen schwere Arbeit war, einer weitgehend »national indifferenten« Bevölkerung eine nationale Identität einzuimpfen,32 und dass auch die Politik der Dynastie und staatlichen Administration »keinesfalls« von »regionalen, sprachlichen, religiösen oder ethnischen Unterschieden zwischen den Bevölkerungsgruppen« entscheidend bestimmt war; nationale Differenzen hätten »keineswegs« dazu geführt, dass das Reich unausweichlich dem Untergang geweiht gewesen sei.33 Auf Grundlage dieses Befunds unternimmt Judson eine neue »Annäherung«,34 »die das Habsburgerreich als Ganzes zum Gegenstand der Forschung« macht, »indem es die gemeinsamen Erfahrungen der Staatsbürger mit ihrem Reich in den Vordergrund rückt.« 29 30 31 32
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Judson, The Habsburg Empire. Judson, Habsburg. Geschichte eines Imperiums, S. 17f. Ebd., S. 24. Vgl. Pieter M. Judson, Nationalism and Indifference, in: Feichtinger/Uhl (Hg.), Habsburg neu denken, S. 148–155; Tara Zahra, Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands, 1900–1948, Ithaca/London 2008; dies., Imagined Noncommunities. National Indifference as a Category of Analysis, in: Slavic Review 69 (2010) 1, S. 93–119. Judson, Habsburg. Geschichte eines Imperiums, S. 18. Ebd., S. 17.
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Er untersucht, »wie Institutionen des Reiches, administrative Praktiken und kulturelle Programme, an denen alle Staatsbürger teilhatten, dazu beitrugen, die lokalen Gesellschaften in jedem Winkel des Staatsgebiets zu formen.«35 Mit diesem Zugang entwickelt Judson eine Alternative zu den »herkömmlichen Darstellungen […], die die unterschiedlichen Völker und ihre Differenzen in den Vordergrund rücken.«36 Damit plädiert er zugleich für eine »critical strategy to de-pathologize Central Europe«,37 die das Augenmerk nicht auf nationale Differenz, sondern auf integrative Praktiken lenkt. *** Dieses Buch steht im Zeichen der neuen Habsburg-Forschung und greift ebenso neue Tendenzen der Empire-Forschung auf, die sich der Frage widmen, »wie Imperien ›funktionieren‹ […], was Imperien zusammenhält (integriert) und in vielen Fällen sehr langlebig (resilient) gemacht hat.«38 Im Unterschied zum vielfach noch vorherrschenden Bild vom zerstörerischen Nationalitätenkampf werden integrative Strategien und Handlungsformen, d.h. die Erzeugung imperialer Kohärenz, in den Vordergrund gerückt, ohne dabei Ambivalenzen und Konflikte auszublenden. Gezeigt wird, wie Vielfalt und Differenz in Wissensproduktion, Symbolpolitik, Herrschafts- und kulturellen Praktiken verarbeitet wurden und welche Resonanz sie in den retrospektiven Deutungskonkurrenzen der Gedächtniskultur in den Nachfolgestaaten bis in die Gegenwart finden. Inwieweit erfüllt die Habsburgermonarchie die Kategorien eines Empires? Jana Osterkamp argumentiert, dass die Monarchie »durchaus als Imperium« zu definieren ist, insbesondere durch die »radiale politische Kommunikations- und Herrschaftsordnung«. Zu den charakteristischen Kategorien des Imperialen zählt sie weiters Großräumigkeit und Großmacht, Asymmetrie und Autorität, Differenz und Distinktion. Von anderen Großreichen unterscheidet sich das Habsburgerreich durch seine »sprichwörtliche Rechtsstaatlichkeit«. Die Monarchie war seit 1867 ein Rechtsstaat, der keine Bürger:innen zweiter Klasse mit unterschiedlichem Rechtsstatus kannte und weitgehend auf Zwang
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Ebd., S. 30. Ebd., S. 17. Judson, Nationalism and Indifference, S. 148. Jürgen Osterhammel, »Imperiologie«? Neues nach der New Imperial History, in: Neue Politische Literatur 67 (2022) 3, S. 229–248, hier S. 236.
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und Gewalt verzichtete. Die integrative Funktionsweise des Empires untersucht Osterkamp auf zwei Ebenen, jener des imperialen Herrschaftsanspruchs und jener der dazu teilweise im Widerspruch stehenden Herrschaftswirklichkeit. Der Herrschaftsanspruch »divide et impera« zeigt sich u.a. in dem in den Landesordnungen der Kronländer 1861 kodifizierten Verbot, untereinander in Verbindung zu treten. In der Herrschaftswirklichkeit wurde dieses Verbot allerdings durch Kooperationen über die Landesgrenzen hinweg umgangen. Anlässlich einer Krise der Landesfinanzen versammelten sich 1905 erstmals alle Landesausschüsse der österreichischen Länder auf Eigeninitiative trotz des Kommunikationsverbots. Kooperationen ergaben sich auch durch die seit 1850 bestehenden Handels- und Gewerbekammern, deren Mitglieder aufgrund ihrer Vertretung im Reichsrat bzw. in den Landtagen untereinander in Kontakt standen. Durch die Zusammenarbeit der Kronländer wurde ein Grundstein für die föderale Entwicklung der Republik Österreich nach 1918 gelegt. Franz L. Fillafer untersucht den Rechtsstaat als das, was »die habsburgische Welt bis 1918 im Innersten zusammenhielt«. Er zeigt, wie die von Franz von Zeiller redigierte einheitliche Privatrechtsordnung, das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (1811/12), zum Vorbild für die Entwicklung des öffentlichen Rechts wurde, folgend Zeillers Maxime: »Rechtsgesetze ruhen auf allgemeinen und unabänderlichen Grundsätzen und Vernunftprinzipien der Gerechtigkeit.« Ältere einheitsstiftende Faktoren – die katholische Religion und die Dynastie – wurden allmählich beiseitegedrängt. Fillafer verweist darauf, dass das Rechtssystem Österreich-Ungarns im Unterschied zu anderen Imperien keine rechtliche Diskriminierung bzw. keine Sonderrechtsstellung von Bevölkerungsgruppen kannte. Die Bürger:innen der österreichisch-habsburgischen Länder waren vor dem Gesetz gleich. Durch das Staatsgrundgesetz von 1867 wurde den Staatsbürgern auch das »unverletzliche Recht« auf »Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache« sowie die »Gleichberechtigung« der »im Lande üblichen verschiedenen Sprachen« gewährt.39 Dieses den einzelnen Staatsbürger:innen gewährte Recht wurde durch die Spruchpraxis der Judikatur und die Verwaltungspraxis zunehmend als Kollektivrecht ausgelegt. So erlangten nationale Gruppen allmählich einen Rechtsstatus, wodurch das nationale Prinzip von Staats wegen sanktioniert und somit die Nationalitäten zu einem legitimen Akteur gemacht wurden. Die Logik der Nationalisierung entgegen der ursprünglichen Intention hatte zur Folge, dass der mehr39
Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder (RGBl. Nr. 142/1867).
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sprachige Verfassungsstaat in einen Vielvölkerstaat verwandelt wurde. Fillafer weist darauf hin, dass der Wiener Jurist Hans Kelsen vor dem Hintergrund dieser Erfahrung die Reine Rechtslehre entwickelte. Er ging davon aus, dass Theorien, die Staat und Recht auf das Prinzip ethnischer Identität gründeten, sich als »Fiktionen« erwiesen haben und bezeichnete die Reine Rechtslehre als »eine spezifisch oesterreichische Theorie«.40 Wolfgang Göderle untersucht die Funktion von Wissenserzeugung als imperiale Herrschafts-, Steuerungs- und Integrationsressource. Ausgehend vom Aufbau einer dem Herrscher direkt unterstellten Zentralverwaltung durch Maria Theresia und Joseph II., legt Göderle anhand von Landesvermessungen und Volkszählungen dar, wie und von wem für den Staat nützliches Wissen erzeugt wurde, wie dieses den Staat integrierte und die imperiale Herrschaft stabilisierte. Diese Wissensproduktion betraf v.a. zwei Bereiche, die imperiales Handeln entscheidend bestimmten: Zählungen und Vermessungen, die für die Steuerverwaltung und den Bereich des Militärs notwendig waren. Die Landesaufnahmen dienten der Erzeugung militärisch nutzbarer Karten. Zwischen 1783 und 1914 wurden vier Landesaufnahmen (die Josephinische, die Franziszeische, die Franzisco-Josephinische und die Vierte Landesaufnahme) durchgeführt. Die Kataster kartografierten die Habsburgermonarchie zum Zweck der Besteuerung. Volkszählungen wurden zwischen 1754 und 1910 zur Erhebung des Bevölkerungsstandes durchgeführt. Eine das Imperium integrierende Zentralstaatlichkeit konnte durch den Aufbau einer neuen Staatsbürokratie erzielt werden. 1841 erreichte die Zahl der Beamten und öffentlichen Bediensteten einen Stand von knapp 130.000, das bedeutete eine Verdoppelung gegenüber dem Jahr 1828. Dietlind Hüchtker zeigt am Beispiel von Galizien, dass das Vereinsrecht der Habsburgermonarchie einen integrativen Faktor darstellte. Der Verfassungsstaat bildete die Grundlage, dass Aktivist:innen im Rahmen von Vereinen ihre Forderungen in politisches Handeln umsetzen konnten. 1867 wurde auch die Gründung politischer Vereine zugelassen. Anliegen richteten sich u.a. an den Reichsrat in Wien als gesetzgebende Instanz, etwa bezüglich des Zugangs von Frauen zum Universitätsstudium. Aktivist:innen verfochten die nationale Vereinigung des gesamten Judentums oder versuchten, die bäuerliche Bevölkerung entweder für das ruthenisch- oder das polnisch-nationale 40
Hans Kelsen, Autobiographie [1947], in: Hans Kelsen Werke. Bd. 1: Veröffentlichte Schriften 1905–1910 und Selbstzeugnisse, hg. v. Matthias Jestaedt, Tübingen 2007, S. 29–132, hier S. 59f.
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Projekt zu mobilisieren. Damit schuf das Empire über das Recht, Vereine zu gründen, Räume für bildungspolitische und sozialreformerische Initiativen wie z.B. Frauenbildung und Frauenwahlrecht, aber auch für nationalistischen Aktivismus. Reinhard Johler weist nach, dass der Begriff der Hybridität, ein Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften, bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Habsburgermonarchie, nämlich in Istrien, als »Hibridismus« nicht nur beschrieben, sondern auch ansatzweise theoretisch ausgearbeitet worden war. Dieser Begriff bezeichnete »vor Ort zu beobachtende und somit zu benennende ›Mischungen‹«. Sprachforscher und Ethnografen beschrieben die istrianische Bevölkerung als »undefinierbare Stämme in buntem Gemisch«, ein kaum zu entwirrendes »Knäuel ethnographisch-sprachlicher Mischungen«. Johler analysiert, wie Wissenschaftler versuchten, diese hybride soziale Wirklichkeit mit ihren Kategorien zu erfassen. Die österreichische Anthropologie bewertete – im Unterschied zur deutschen – die »Vermischung der Raçen« durchaus positiv. Die Vorstellung eines sprachlich-kulturell gemischten »National-Österreichers« (Josef Stradner, Schriftsteller und Journalist, 1893) war in Istrien entwickelt worden. Der Grazer Romanist Hugo Schuchardt ging 1884 in seiner positiven Bewertung der »Sprachmischung« davon aus, dass es keine »ungemischte Sprache«, sondern nur – von Schuchardt auch so bezeichnet – »hybride Formen« gebe. Die Sprachmischungen Istriens seien dafür beispielhaft. Der zeitgenössische Begriff des »ibridismo« wurde allerdings zunehmend von italienischer Seite nationalistisch vereinnahmt und negativ bewertet. Die kulturelle Hybridität Istriens blieb ein bis in die Gegenwart zu beobachtendes Strukturmerkmal der Region. Ausgehend von dem von Joseph Roth 1919 beschriebenen Grenzort BruckKirályhida zwischen (Nieder-)Österreich und Ungarn untersucht Moritz Csáky Grenzsituationen als Fallbeispiele für »hybride Kommunikationsräume«. Diese sind signifikant für die Habsburgermonarchie, sie stellen die gängige Vorstellung von Kultur als homogene Nationalkultur in Frage. Die Analyse »hybrider Kommunikationsräume« erfordert einen Kulturbegriff, der die für sie charakteristischen Pluralitäten, Heterogenitäten und Differenzen berücksichtigt und die Alltagskommunikation einschließt. Csáky analysiert »hybride Kommunikationsräume« nicht nur für einen exemplarischen Ort wie Bruck-Királyhida, sondern insgesamt für das mehrsprachige, plurikulturelle Habsburg Empire. Diese Räume sind nicht nur von »harmonischer Kohabitation« geprägt, sondern auch von »Krisen und Konflikten«. Csáky zeigt, wie zeitgenössische Wissenschaftler, Schriftsteller und Philosophen die der
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Monarchie inhärenten Differenzen würdigten, zugleich aber Strategien und Argumente entwickelten, um den »Staat der Contraste« in integrativer Form darzustellen. Wissenschaftler entwickelten zum einen integrative, die staatliche Kohäsion fördernde Vorstellungen, zum anderen gegenläufige nationalistische Konzepte, die durchwegs auch auf antisemitischen und antislawischen Haltungen beruhten. Alexander Pinwinkler zeigt, wie deutsche und österreichische Historiker, die sich mit Bevölkerungsgeschichte befassten, schon im ausgehenden 19. Jahrhundert ein »deutsches Volk« als hegemonialen Akteur im ost- und zentraleuropäischen Raum zu konstruieren versuchten. Zugrunde lag »die Vision der ethnischen Entmischung« und die Durchsetzung einer neuen, von deutscher Hegemonie bestimmten Ordnung. Die völkisch orientierte Geschichtsforschung in der späten Habsburgermonarchie, vertreten u.a. durch Raimund Friedrich Kaindl, und im Wilhelminischen Kaiserreich bildete die Grundlage für die deutsche »Volksgeschichte«, die sich aufgrund der Erfahrung von Territorialverlust und Abwehrkampf nach 1918 in Richtung einer »Volks- und Kulturbodenforschung« entwickelte und in nationalsozialistischer Zeit radikalisierte. Die Ergebnisse der »Volksforschung« von deutschen und österreichischen Historikern wurden schließlich durch nationalsozialistische »Umsiedlungskommandos« in Südosteuropa umgesetzt. Auch die Sprachwissenschaft leistete der Vorstellung von vorgeblich ethnisch homogenen Räumen Vorschub. Wesentlich trug dazu der Einsatz der Kartografie als neuer Methode bei. Jan David Zimmermann analysiert anhand der Dialektkartografie, wie österreichische und deutsche Sprachwissenschaftler einen homogenen deutschen Kultur- und Sprachraum konstruierten. Sein Untersuchungsgegenstand ist das von der Wiener und Münchner Akademie der Wissenschaften 1912 gestartete Langzeitprojekt des Bayerisch-Österreichischen Wörterbuches, das ab Mitte der 1920er Jahre den Ausgangspunkt für die Etablierung einer deutschen Dialektgeografie und -kartografie bildete. Schon in der Zeit der Monarchie wurde die gängige Praxis der Mehrsprachigkeit durch die Methodenwahl systematisch ausgeblendet. Der Fokus wurde auf die »Stammessprachen« des Deutschen gelegt, und für die Erhebungen wurden Sprechergruppen aus dem ländlich-bäuerlichen Milieu ausgewählt, die als Träger des »ursprünglichsten Dialekts« angesehen wurden. Stadtsprachen wie auch Sprachkontaktphänomene u.a. in Grenzregionen und »Sprachinseln«, wurden ausgeklammert. Vom Verlust gemischtsprachiger Gebiete, auf die Anspruch erhoben wurde, angeheizt, setzten deutschna-
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tionale Sprachwissenschaftler in der Ersten Republik die neue Methode der Sprachkartografie ein, um deutsche Sprach- und Kulturräume abzustecken. Wie Zimmermann darlegt, waren sich die Sprachwissenschaftler bewusst, dass ihre Dialektkarten Momentaufnahmen auf der Basis zeitgebundener Erhebungen waren. Die Suggestivität der Visualisierung lässt sie allerdings bis heute als zeitlose, ahistorische Übersicht der räumlichen Verteilung deutscher Dialekte erscheinen, die – so Zimmermann – wie »in einer Zeitkapsel, unberührt von der Dynamik gesprochener Sprache«, zu stecken scheinen. Andrei Corbea-Hoişie untersucht anhand des Spionageromans Bessy tanzt in Czernowitz (Berlin 1935) des deutschen Schriftstellers Otto Schwerin, welche Vorstellungen von der Hauptstadt des habsburgischen Kronlandes Bukowina vor und nach dem Zerfall der Monarchie sich in diesem populärliterarischen Werk manifestieren. Schauplatz des Romans ist Czernowitz. Die Stadt wurde 1918 dem Königreich Rumänien zugeschlagen, die Bevölkerung rumänisiert. Die wichtigste Botschaft dieses Trivialromans für seine Leser:innen war das »Durchhaltevermögen der Deutschsprachigkeit« in der Stadt nach 1918. Die habsburgische Vergangenheit wird als Zeit – nun verlorener – deutscher Hegemonie verklärt. Schwerin legt einer zentralen Romanfigur die Worte in den Mund, dass Czernowitz die »beinahe deutscheste Stadt der ganzen österreichischen Monarchie« gewesen sei, »deutsch bis auf die Knochen«. In der nördlichen Bukowina hätten »kaum einige Bauern und Analphabeten rumänisch gesprochen«. Die Vorstellung von deutscher Überlegenheit und antirumänische Ressentiments ziehen sich durch den Roman. Schwerins fiktionales Werk repräsentiert die auf Friedrich Naumann zurückgehende Idee eines deutsch beherrschten Mitteleuropa, verbunden mit der Zielvorstellung einer »deutschen Revanche« gegen die »aus der Erbmasse der Monarchie« neu entstandenen Nachfolgestaaten. Die »deutsche« Identität von Czernowitz wurde, wie auch dem Autor bewusst war, vom assimilierten jüdischen Bürgertum der Stadt geprägt. Schwerin umging diese Tatsache, indem er die Nennung des Wortes »Jude« in seinem Werk unterließ, als Juden erkennbare Figuren allerdings mit antisemitisch gefärbten Charakterzügen versah. Steffen Höhne überprüft, inwiefern die Kafka-Forschung in der Analyse und Interpretation des Werks auf die Kontexte Zentraleuropas rekurriert und Kafkas Schriften in ein »Habsburg-Wissen« einordnet. Höhne identifiziert zwei Auslegungsstränge: Kafka als universaler Schriftsteller und Kafka als Autor, dessen Werk auf spezifische habsburgische Lebenswelten verweist. Höhne zeigt, wie sich die frühe entkontextualisierte Kafka-Rezeption in den USA in den 1930er und 1940er Jahren zu einer verstärkt zentraleuropäische
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Kontexte einbeziehenden Kafka-Auslegung entwickelte und wie diese später auf Europa zurückwirkte. Diesem Wandel lag ein Transferprozess zugrunde, der schließlich zu einer »Bohemisierung und Austrifizierung Kafkas« und zugleich zu einer »›Kafkaisierung‹ Böhmens bzw. Österreichs« führte. Maßgeblich verantwortlich dafür waren ursprünglich aus Österreich und den ehemaligen Kronländern stammende Geisteswissenschaftler, die in den USA Zuflucht gefunden hatten, insbesondere Walter Sokel, Heinz Politzer und Peter Demetz. Sie waren aufgrund ihrer Herkunft mit den spezifischen Kontexten der multilingualen und soziokulturell heterogenen Verfasstheit der Region und den nationalen Konflikten vertraut; ihnen war auch der Antisemitismus nicht fremd. Anhand von Kafkas Texten aus dem sogenannten ChinaKomplex des Jahres 1917 zeigt Höhne, wie in Kafkas nachgelassenen Schriften und Fragmenten auf die Monarchie bezogene Integrations- und Desintegrationsnarrative Ausdruck finden. Kafka im Originalton: »Jede Landsmannschaft wollte das schönste Quartier haben«, wodurch sich »Streitigkeiten« ergaben, »die sich bis zu blutigen Kämpfen steigerten.« Doch »verbrachte man die Zeit nicht nur mit Kämpfen, in den Pausen verschönerte man die Stadt, wodurch man allerdings neuen Neid und neue Kämpfe hervorrief.« Ausgehend von der die Blockgrenzen überschreitenden intellektuellen Debatte der 1980er Jahre um ein »verlorenes Mitteleuropa« untersucht Gregor Feindt zwei unterschiedliche Umgangsformen mit Differenz in Zentraleuropa im ostmitteleuropäischen Samizdat: zum einen die »essentialistische Affirmation und Nutzung«, zum anderen die »liberale Wertschätzung« von Differenz. Gegenstand der Analyse sind zwei in viele Sprachen der Welt übersetzte Texte von Milan Kundera (»Un occident kidnappé oder Die Tragödie Zentraleuropas«, französisch 1983) und György Konrád (»Mein Traum von Europa«, deutsch 1985). Feindt zeigt, wie die unterschiedlichen Deutungen eines vergangenen Mitteleuropas den Oppositionellen im Ostblock politische Handlungsmacht eröffneten. Beide Autoren begriffen Mitteleuropa weniger als geografischen Raum, sondern vielmehr als kulturellen Erfahrungsraum. Kundera definierte Mitteleuropa allein ex negativo (nur in Abgrenzung zur kommunistischen Sowjetunion), Konrád positiv unter Rückgriff auf die integrierende Lebenswelt der Habsburgermonarchie: »Kakaniens größte Energie verbarg sich in seinem Gemischtsein.« Kundera bewertete die Vielfalt im Wesentlichen als »das Fundament der eigentlichen ›Tragödie Zentraleuropas‹«, dessen kleine Nationalstaaten in der Zeit des Kalten Krieges der kommunistischen Sowjetunion überlassen worden seien. Beide Texte wurden im Samizdat intensiv rezipiert. Kundera hatte die Vielfalt der Nationalstaaten im Auge, Konrád die
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Vielfalt innerhalb der Staaten. Im Widerspruch zu den »homogenisierenden und essentialistischen Konzeptionen« im Gefolge Kunderas und unter Berücksichtigung der »liberalen Wertschätzung« von Differenz durch Konrád »stieß das Konzept Zentraleuropa dabei eine kulturwissenschaftlich und post-kolonial informierte Betrachtung der Region an«, wie sie etwa von Moritz Csáky vertreten wird. *** Die folgenden Aufsätze befassen sich mit dem Nachleben der Habsburgermonarchie in Österreich. Dieter A. Binder untersucht die Longue durée der im österreichischen Barock-Zeitalter geprägten »Pietas Austriaca«, der habsburgischen Frömmigkeit. Mit dem Zerfall der Monarchie und dem Ende der Dynastie wechselte sie von der integrativen Staatsideologie zur Rahmenerzählung des politischen Katholizismus der Christlichsozialen Partei. In der Ständestaatdiktatur (1933/34-1938) setzten ihn Dollfuß und Schuschnigg zu einer »dramatischen Rekonfessionalisierung« ein. Der sogenannte Austrofaschismus positionierte das »neue Österreich« als »christliche Bastion gegen den heidnischen Nationalsozialismus und den atheistischen Austromarxismus«. 1945 nahm die neu gegründete Österreichische Volkspartei, Nachfolgerin der Christlichsozialen, nach außen hin zunächst Abstand vom Erbe des politischen Katholizismus. Im Werben um die Stimmen der ehemaligen Nationalsozialist:innen sowie im Kontext des frühen Kalten Krieges erlebte ein eher zurückhaltend agierender politischer Katholizismus jedoch eine Renaissance. Binder verweist auf einen »imperialen Überhang« nach dem Zerfall der Monarchie, der insbesondere in der Geschichtspolitik der DollfußSchuschnigg-Diktatur Ausdruck fand und nach 1945 v.a. in der militärischen Traditionspflege weiterwirkte. 1934 war das von der autoritären Regierung errichtete Österreichische Heldendenkmal im Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg eingeweiht worden. Dieser Ort sollte bis 2012 vom österreichischen Bundesheer für Kranzniederlegungen genutzt werden. Werner Suppanz untersucht die kontroversielle Bewertung der Habsburgermonarchie durch die führenden politischen Parteien der Ersten Republik, Sozialdemokraten und Christlichsoziale, in den Jahren 1918 bis 1933/34. Die Sozialdemokratische Partei bewertete den Zerfall des als veraltet, mittelalterlich und unreformierbar angesehenen Habsburgerreiches als historische Notwendigkeit und Aufbruch in moderne Zeiten. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte die übernationale Staatsform allerdings auch für führende Sozialdemokraten
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nicht zur Debatte gestanden. Die Haltung der Christlichsozialen war hingegen von Trauer und Schmerz über das Ende der Monarchie geprägt. Für sie war der Zerfall Östereich-Ungarns im Gegensatz zu den Sozialdemokraten kein unvermeidlicher Prozess, sondern ein plötzlicher Zusammenbruch infolge der Kriegsniederlage. Die Mehrheit der Bevölkerung einschließlich der sozialdemokratischen Führung habe noch bis Sommer 1918 das Reich nicht infrage gestellt. Anders als die politisch aufgeladene Rhetorik zeigen die Schulbücher der Ersten Republik, worauf sich beide Lager verständigen konnten: Das verblichene Habsburgerreich wurde nunmehr in einen rein deutschen Geschichtszusammenhang integriert. Adam Kożuchowski widmet sich dem »posthumen Fortleben ÖsterreichUngarns«. Er zeigt, wie Historiker und Schriftsteller das Image ÖsterreichUngarns von einer unzeitgemäßen und »dem Untergang geweihten« Monarchie – so unmittelbar nach ihrem Zerfall und in der Zwischenkriegszeit – zum Bild des »tolerantesten, liberalsten und übernationalsten aller Vielvölkerreiche« nach dem Zweiten Weltkrieg verwandelten. Der Anachronismus der Monarchie habe auf ihrem »nicht-nationalen Charakter« beruht, den Nationalstaaten gehörte die Zukunft, für dynastische Reiche sei in der modernen Welt kein Platz mehr. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Kożuchowski dem Bild Österreich-Ungarns in der fiktionalen Literatur. Schriftsteller wie Joseph Roth, Franz Werfel und Stefan Zweig verklärten die Monarchie, Robert Musil, Franz Kafka, Jaroslav Hašek und viele andere verarbeiteten ihre Erfahrungen in ihren Werken. Nach 1945 erschien Österreich-Ungarn in einem neuen Licht: Der Nationalismus war diskreditiert, westliche Historiker:innen richteten ihr Augenmerk zunehmend auf positive, integrative Aspekte wie kulturelle Pluralität, Stabilität und wirtschaftlichen Wohlstand. Die Habsburgermonarchie wurde »als leuchtendes Zentrum geistigen und künstlerischen Lebens wiederentdeckt, das nun faszinierend modern und originell wirkte.« *** Die Geschichte der Habsburg-Forschung, wie sie eingangs skizziert wurde, zeigt, dass historiografische Perspektiven und Erkenntnisinteressen vom Kontext der jeweiligen Gegenwart geprägt sind. Heute wirft die neue Empire-Forschung neues Licht auf Habsburg-Zentraleuropa: Das Augenmerk richtet sich auf das, was die Monarchie zusammenhielt und integrierte: Wissensproduktion, Herrschafts- und kulturelle Praktiken. Dieses Buch beleuchtet die Impulse, die die Habsburg-Forschung für den Umgang mit aktuellen Herausforderun-
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gen der Gegenwartsgesellschaften geben kann: Pluralität, Heterogenität und Differenz.
Habsburg kooperativ Die Zusammenarbeit der Kronländer in der (post)imperialen Herrschaftsordnung1 Jana Osterkamp
Die neuere Imperiengeschichte betont unter Schlagworten wie »nationalizing Empire«, »re-imagining Empire« und »imperial formations« die fließenden Übergänge zwischen Imperien, multinationalen Föderativstaaten und Nationalstaaten.2 Für die Habsburgermonarchie hat jüngst Pieter M. Judson auf die Verflechtung von »Empire« und »Nation« hingewiesen. Um die Jahrhundertwende stellten sich viele Nationalisten nicht nur in den Dienst ihrer Nation, sondern auch des Empires. Das Habsburgerreich schuf wiederum wichtige Institutionen für die Entwicklung der Nationalitäten, für einen Bildungs- und Kulturnationalismus und damit letztlich für die nachfolgenden
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Dieser Aufsatz ist 2017 entstanden und beruht auf meiner Veröffentlichung: Cooperative Empires. Provincial Initiatives in Imperial Austria, in: Austrian History Yearbook 47 (2016) 4, S. 128–146. Für weiterführende Hinweise vgl. auch Jana Osterkamp, Vielfalt ordnen. Das föderale Europa der Habsburgermonarchie (Vormärz bis 1918), Göttingen 2 2021. Stefan Berger/Alexey Miller, Nationalizing Empires, Budapest 2015; Jörn Leonhard/ Ulrike von Hirschhausen, Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2009; Mark von Hagen, Federalisms and Pan-Movements. Re-imagining Empire, in: ders./Jane Burbank/Anatolyi Remnev (Hg.), Russian Empire. Space, People, Power, 1700–1930, Bloomington 2007, S. 494–510; Alexey Miller, The Value and the Limits of a Comparative Approach to the History of Contiguous Empires on the European Periphery, in: Kimitaka Matsuzato (Hg.), Imperiology. From Empirical Knowledge to Discussing the Russian Empire, Sapporo 2007, S. 19–32; Ann Laura Stoler, Imperial Formations and the Opacities of Rule, in: Craig Calhoun/Frederick Cooper/Kevin W. Moore (Hg.), Lessons of Empire. Imperial Histories and American Power, New York 2006, S. 48–60.
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Nationalstaaten.3 Judsons provokative Bezeichnung der Nachfolgestaaten als »little Empires« stellt gegen manche lieb gewonnenen Gewissheiten klar, dass die Epochenschwelle des Jahres 1918 zwar einen politischen Bruch, in Hinblick auf manche Strukturen und Mentalitäten aber eher eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – die Gleichzeitigkeit von »Empire« und »Nationalstaat« – markierte. Der Widerstreit von Herrschaftsanspruch und Herrschaftswirklichkeit verbindet die Jahre vor und nach 1918 zu einer Phase des Übergangs, der Transition. Vor dem Ende des Habsburgerreiches war das imperiale Selbstverständnis eines Durchherrschens »von oben« fragwürdig und fragil geworden, weil Wien für das reibungslose Funktionieren der »Staatsmaschine« und in Hinblick auf eine expansive Leistungsverwaltung auf den Eigensinn, die Eigeninitiative sowie die politische, mehr als nur subalterne Kooperation der Kronländer angewiesen war. Nach dem imperialen Zerfall von 1918 blieben im »Post-Empire« frühere Distinktionskulturen abrufbar und wurden gegenüber nationalen oder konfessionellen Minderheiten auch abgerufen, allerdings teilweise unter umgekehrten Vorzeichen.4 Diese »imperiale« bzw. »postimperiale« Distinktion maß bestimmten Gemeinschaften einen besseren oder schlechteren politisch-gesellschaftlichen Status zu als anderen, mochten die jeweiligen Verfassungsordnungen auch Gleichberechtigung garantieren. Für die Tschechoslowakei betraf dies die deutsche Minderheit, aber auch die Slowaken als Teil des tschechoslowakischen Staatsvolks. In der Republik Österreich wurden viele dort nicht heimatberechtigte Juden in einem prekären staatsbürgerlichen Status belassen. Eine erstaunliche Schnittstelle zwischen »Empire« und »Nation« stellten im neuen Österreich die ehemaligen Kronländer der Habsburgermonarchie als Bundesländer der neubegründeten Republik dar.
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Pieter M. Judson, The Habsburg Empire. A New History, Cambridge, Mass./London 2016, S. 1–15, S. 442–452. Johannes Feichtinger, Habsburg (post)colonial. Anmerkungen zur Inneren Kolonisierung in Zentraleuropa, in: ders./Ursula Prutsch/Moritz Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 2), Innsbruck u.a. 2003.
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Imperialer Herrschaftsanspruch und Kategorien des Imperialen In der Imperiengeschichte ist der Habsburgermonarchie lange Zeit nur eine marginale Rolle im Konzert der europäischen Mächte zugestanden worden. Die klassischen Kategorien des Imperialen wie Großräumigkeit und Großmacht, Asymmetrie und Autorität, Differenz und Distinktion schienen dieses Reich nicht treffend zu beschreiben. Legt man in der historischen Betrachtung den Schwerpunkt auf die Disposition zum Imperialen, lässt sich die Habsburgermonarchie durchaus als Imperium5 erzählen. Größe. Imperien werden als »large scale states« beschrieben, die ihren Raum auf überseeische Territorien erstrecken oder als kontinentales Reich weite Landmassen umfassen. Als Überseeimperien werden das Spanische, Französische und Britische aber auch das Japanische Reich angesehen, zu den kontinentalen Reichen zählen das Habsburgische, Osmanische, das Russländische und das Chinesische Reich. In der Geopolitik und der Kulturgeschichte des Politischen wurde bisweilen ein kultureller Antagonismus zwischen Übersee- und Kontinentalimperien stilisiert.6 Ein solcher Antagonismus ist überholt. Auch überseeische Imperien verfolgten großangelegte Landerschließungsprojekte wie Großbritannien in Indien.7 Auch Kontinentalimperien engagierten sich in Übersee wie Russland in Alaska. Gemeinsam ist Land- und Seereichen dabei, Herrschaft auf mehreren Ebenen und politischen Mittelinstanzen zu ordnen, weil große Räume nicht nur infrastrukturell, sondern auch politisch erschlossen werden müssen. Großmacht. Eng verbunden mit der Großräumigkeit ist der imperiale Anspruch auf Großmacht. Dieser Großmachtanspruch ist zum einen nach innen gerichtet: In großräumigen Herrschaftsgebilden werden massive Anstrengungen unternommen, den imperialen Souveränitätsanspruch durchzusetzen
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Vgl. dazu und zum Folgenden die Überblickswerke: Jane Burbank/Frederick Cooper, Empires in World History. Power and the Politics of Difference, Princeton 2010; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2010; Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft, Berlin 2005; Michael W. Doyle, Empires, Ithaca/London 1986. Begriffsgeschichtlich steht dafür die Studie von Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Leipzig 1942. Vgl. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 617.
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und zu erhalten. Militär,8 Bürokratie9 und die Kontrolle über die öffentlichen Finanzströme10 haben in Imperien deshalb eine herausgehobene Bedeutung. Das imperiale Großmachtdenken richtet sich aber zuallererst nach außen – auf die internationale »hard power« in der Außenpolitik und Weltwirtschaft.11 Nach den verlorenen Kriegen der 1860er Jahre und nach der Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 unter der Hegemonie Preußens war die Großmachtstellung des Kaisertums Österreich in Europa und der Welt nicht mehr selbstverständlich.12 Auch schien sich das Reich mit gewaltsamer kolonialer und imperialistischer Expansion zurückzuhalten und forcierte zunächst die infrastrukturelle Erschließung des bestehenden Territoriums. Das imperiale Selbstverständnis blieb dennoch dasjenige einer Großmacht. Asymmetrie. Großräumigkeit und Großmachtstatus sind für die eindeutige Beschreibung von Imperien nicht hinreichend. Auch die USA haben eine territorial immense Ausdehnung und einen herausgehobenen Status in der Weltaußenpolitik und Weltwirtschaft erlangt, als Föderation bauen sie allerdings im Inneren auf Gleichheit und Gleichberechtigung ihrer Teilstaaten auf. Das unterscheidet föderale von imperialen Ordnungen. Als ein weiteres zentrales Kriterium des Imperialen gilt daher die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie. In der Geschichte der Imperien war mit der politischen Asymmetrie nicht selten eine kulturelle und wirtschaftliche Rückständigkeit der Peripherien im Vergleich zum Zentrum verbunden. Mit der wirtschaftlichen Ab8
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Vgl. Journal of Modern European History 5 (2007) 2, Schwerpunktheft: Multiethnic Empires and the Military. Conscription in Europe between Integration and Desintegration, 1860–1918; mit Beiträgen von Jörn Leonhard und Ulrike von Hirschhausen, Werner Benecke zu Russland, Christa Hämmerle zur Habsburgermonarchie, Mehmet Hacisalihoglu zum Osmanischen Reich sowie Jörn Leonhard zum Britischen Reich. Vgl. John Deak, Forging a Multinational State. State-making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War, Stanford 2015. Vgl. Alexander J. Motyl, Thinking About Empire, in: Karen Barkey/Mark von Hagen (Hg.), After Empire. Multiethnic Societies and Nation-Building. The Soviet Union and the Russian, Ottoman, and Habsburg Empires, Boulder 1997, S. 19–29, hier S. 21; Ekaterina A. Pravilova, Finansy imperii. Denʹgi i vlastʹ v politike Rossii na nacionalʹnych okrainach, 1801–1917, Moskau 2006. Dominic Lieven, Empire on Europe’s Periphery. Russian and Western Comparisons, in: Alexei Miller/Alfred J. Rieber (Hg.), Imperial Rule, Budapest/New York 2004, S. 133; ders., The Russian Empire and its Rivals, New Haven 2000; Linda Colley, What is Imperial History Now?, in: David Cannadine (Hg.), What is History Now?, Houndsmills 2002. Lieven, The Russian Empire and its Rivals, S. 158–170.
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hängigkeit ging verschiedentlich ein Wirtschaftsimperialismus einher.13 Dies galt nicht ohne Ausnahme: Das Kronland Böhmen in der Habsburgermonarchie oder Finnland und Polen im Russländischen Reich lagen wirtschaftlich und kulturell mit den imperialen Zentren gleichauf,14 dennoch bestand an ihrem Abhängigkeitsstatus von Wien oder Petersburg kein Zweifel. Die asymmetrische Zentrum-Peripherie-Beziehung taucht in vielen Werken als Herzstück der Beschreibung von Imperien auf, ungeachtet dessen, dass es auch in zentralisierten Nationalstaaten und selbst in Föderationen wirtschaftlich und politisch bedingte Zentrum-Peripherie-Strukturen gibt. Radiale Kommunikationsordnung. Mit der Zentrum-Peripherie-Struktur in Imperien korrespondiert eine besondere politische Kommunikation. Jürgen Osterhammel hat die imperiale Konstellation auf den Begriff der radialen Herrschaftsordnung gebracht: Die Peripherien seien politisch, rechtlich und wirtschaftlich fast ausschließlich auf das Zentrum bezogen und ständen zueinander nur in losem Kontakt. Das imperiale Zentrum sei »bestrebt, alle Informations- und Entscheidungsströme durch das imperiale Nadelöhr zu lenken«.15 Die Kontakte zwischen den einzelnen Provinzen seien marginal und »nicht dominant«.16 Aus diesem Grunde belegten imperiale Rechtsordnungen wie jene der Habsburgermonarchie institutionelle politische Kontakte der Provinzen untereinander mit einem Verbot. Das politische Schlagwort hierfür lautete: »divide et impera«. In den Landesordnungen der Kronländer fand sich seit 1861 ein ausdrückliches Kommunikationsverbot mit dem Passus: »Der 13 14
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Vgl. Sarah Stockwell (Hg.), The Rise and Fall of Modern Empires. Vol. 3: Economics and Politics, Farnham 2013. Zur Habsburgermonarchie vgl. Andrea Komlosy, Grenze und ungleiche regionale Entwicklung. Binnenmarkt und Migration in der Habsburgermonarchie, Wien 2003; Franz Baltzarek, Zentralistische und föderalistische Aspekte der Wirtschaftspolitik, in: Uwe Müller (Hg.), Ausgebeutet oder alimentiert? Regionale Wirtschaftspolitik und nationale Minderheiten in Ostmitteleuropa (1867–1939), Berlin 2006, S. 59–90, hier S. 65; zu Polen vgl. Alexey Miller/Mikhail Dolbilov, »The Damned Polish Question«. The Romanov Empire and the Polish Uprisings of 1830–1831 and 1863–1864, in: Jörn Leonhard/ Ulrike von Hirschhausen, Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Göttingen 2012, S. 425–452; zu Finnland vgl. Irina Novikova, The Provisional Government and Finland. Russian Democracy and Finnish Nationalism in Search of Peaceful Coexistence, in: Burbank/von Hagen/Remnev (Hg.), Russian Empire, S. 398–421, hier S. 398; zur Finanzkraft und zum Finanzabfluss von Finnland und Polen vgl. Pravilova, Finansy imperii, S. 165–244, S. 320–366. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 614. Ebd., S. 665.
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Landtag darf mit keiner Landesvertretung eines anderen Kronlandes in Verkehr treten«.17 Die Länderforen waren in Wien gefürchtet als Gegengewicht der Landeseliten zum imperialen Zentrum. Der historische Erfahrungshorizont für dieses rechtliche Kommunikationsverbot waren die Reformanstöße der Adelsopposition innerhalb der Habsburgermonarchie im Vormärz.18 Autorität und Gewalt. Eng verbunden mit der Herrschaftsasymmetrie in Imperien zwischen dem Zentrum und den Provinzen ist die latente Gewaltund Zwangsandrohung nach innen und außen. Der repressive Charakter von Imperien zeigt sich einmal daran, dass die imperialen Territorien häufig, wenn auch nicht ausschließlich durch militärische Gewalt erobert und über die Androhung militärischer Gewalt an das Zentrum gebunden wurden.19 Die Integration der Kronländer und der Kronlandbevölkerungen in das österreichische Empire erfolgte hingegen nicht allein durch Zwang und Gewalt, die Mittel einer Verrechtlichung und des Rechtsstaats spielten eine im Vergleich mit anderen Imperien große Rolle. Der Unterschied zum nicht-imperialen Staat ist allerdings nur graduell, auch Nationalstaaten führen gewaltsame Eroberungskriege und der »Schatten des Ausnahmezustands« charakterisiert viele nicht-demokratische Herrschaftssysteme nicht-imperialer Natur.20 Die sprichwörtliche Rechtsstaatlichkeit der Habsburgermonarchie ließ dennoch Raum für Ausnahmen: den ebenso sprichwörtlichen Notstandsparagrafen Art. 14. Auch in den fingierten Hochverratsprozessen gegen die kroatische nationale Elite in den 1910er Jahren und in den in Kroatien oder Böhmen noch vor dem Ersten Weltkrieg verhängten Ausnahmezuständen wird die
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§ 41 Landesordnung und Landeswahlordnung für das Königreich Böhmen vom 26.2.1861; vergleichbar in anderen Landesordnungen. Ausführlich Viktor Bibl, Die niederösterreichischen Stände im Vormärz. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Revolution des Jahres 1848, Wien 1911, S. 30–57. Charles Tilly, How Empires End, in: Barkey/von Hagen (Hg.), After Empire, S. 1–11, hier S. 3. Carl Schmitt verallgemeinerte die Herrschaft über den Ausnahmezustand zum Merkmal staatlicher Souveränität überhaupt: Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2004, S. 13.
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Disposition zu imperialer Autorität und Gewalt erkennbar.21 Die Kriegsjahre führten endgültig in eine imperiale Gewaltspirale auch nach innen.22 Expansion. Ein zusätzlicher Unterschied wird in der Legitimation gewaltsamer Expansion gesehen: Während der Nationalstaat darauf aus sei, die vorgestellten national-ethnischen Grenzlinien mit den staatlichen Grenzen (»boundaries«) in Übereinstimmung zu bringen, gehe es Imperien um eine maximale Erweiterung und Ausdehnung ihrer weniger trennscharfen Grenzen (»frontiers«) im Rahmen ihrer militärischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten.23 Imperiale »frontiers« hätten eine dynamisch-expansive Komponente, während nationalstaatliche »boundaries« auf Konsolidierung ausgerichtet seien.24 Kriegs- und Wirtschaftsimperialismus waren jedoch nicht zu jedem gegebenen historischen Zeitpunkt Teil imperialer Geschichte. Imperium ging nicht immer mit Imperialismus einher.25 Das Deutsche Kaiserreich und das Habsburgerreich waren aufgrund ihrer Lage weniger expansiv als das Britische, Französische oder Russische Imperium. In beiden Fällen bestand jedoch eine Disposition, jederzeit wieder auf den Weg einer expansiven Politik einzuschwenken. Expansionsbestrebungen und Expansionsgedanken erhielten in Wien beispielsweise nach der bosnischen Annexion und während der Balkankriege neue Nahrung. Bei einem Gespräch zwischen einem Sektionschef des Außenministeriums und einem führenden Liberalen im Jahr 1912 plädierte der eine für eine »Vereinigung aller Jugoslawen« und der »Gewinnung Salonikis« unter dem Zepter des Hauses Habsburg, der andere für eine Expansion nach Norden mit der Schaffung eines abhängigen polnischen Königreiches.26
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Mark Cornwall, Loyalty and Treason in Late Habsburg Croatia: A Violent Political Discourse before the First World War, in: Jana Osterkamp/Martin Schulze Wessel (Hg.), Exploring Loyalty, Göttingen 2017, S. 97–120. Maureen Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, Total War and Everyday Life in World War I, Cambridge 2004. Alfred J. Rieber, The Comparative Ecology of Complex Frontiers, in: Miller/Rieber (Hg.), Imperial Rule, S. 177–208, hier S. 199. Ebd., S. 178. So die kapitalismuskritische Sichtweise auf Imperien, dazu Alexander J. Motyl, Imperial Ends. The Decay, Collapse, and Revival of Empires, New York 2001, S. 2–3, S. 32; kritisch bereits Doyle, Empires, S. 19–49, S. 46. Josef Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches. Bd. 1, Leipzig 1920, S. 471.
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Gesellschaftliche Differenz. Imperien sind gesellschaftlich hoch divers. Das Abgrenzungsmerkmal gesellschaftlicher Homogenität im Gegensatz zu »Multiethnizität« und »Multireligiosität« klingt insbesondere in Hinblick auf die Herrschaftslegitimation des Nationalstaats zunächst plausibel.27 War die Beschreibung von Imperien zunächst auf multiethnische Parameter fokussiert, gewannen jüngst Forschungen zur Multireligiosität an Bedeutung, weil, wie Paul Werth notiert, »in most cases imperial governments institutionalized diversity in their vast areas principally along religious lines«.28 Regelmäßig wurden für Religionen weit früher institutionelle Arrangements bereitgestellt als für nationale Gruppen.29 Wirft man einen Blick auf das heutige Frankreich, auf Deutschland, auf die Schweiz, auf die Vereinigten Staaten, kommt man allerdings nicht umhin, auch für den »Nationalstaat« gesellschaftliche Vielfalt mit nationalen Minderheiten, einer großen Sprachenvielfalt, verschiedenen Religionen und Menschen unterschiedlichster ethnischer Herkunft zu konstatieren. Loyalitäten. Ein weiterer Unterschied liegt in der Herrschaftslegitimation, so Doyle, wenn er schreibt, »certain states have […] a shared political loyalty«, andere Gesellschaften in den imperialen Peripherien verfügten hingegen über »highly divided political loyalties«.30 Im Zusammenspiel mit der Großräumigkeit von Imperien und der Stufung von Herrschaft auf mehreren politischen Ebenen gewinnen Loyalitäten daher eine andere Bedeutung für Zusammenhalt und Zerfall von Imperien.31 Nationale, konfessionelle, soziale und politi27 28
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Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 607–610. Paul W. Werth, Imperiology and Religion. Some Thoughts on a Recent Agenda, in: Matsuzato (Hg.), Towards Imperiology, S. 51–67, hier S. 52; vgl. ders., Changing Conceptions of Difference, Assimilation, and Faith in the Volga-Kama-Region, 1740–1870, in: Burbank/von Hagen/Remnev (Hg.), Russian Empire, S. 169–195; ders., The Tsar’s Foreign Faiths. Toleration and the Fate of Religious Freedom in Imperial Russia, Oxford 2014; Martin Schulze Wessel, Religion, Politics and the Limits of Imperial Integration. Comparing the Habsburg Monarchy and the Russian Empire, in: Leonhard/von Hirschhausen (Hg.), Comparing Empires, S. 337–357. Vgl. Benjamin Braude/Bernard Lewis (Hg.), Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of a Plural Society. 2 Bde., New York/London 1982; für Russland vgl. neben dem Artikel von Paul Werth auch Robert D. Crews, Empire and the Confessional State. Islam and Religious Politics in Nineteenth-Century Russia, in: American Historical Review 108 (2003) 1, S. 1–21. Doyle, Empires, S. 19. Vgl. Jana Osterkamp/Martin Schulze Wessel, Exploring Loyalty, in: dies. (Hg.), Exploring Loyalty, S. 1–16.
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sche Loyalitäten konkurrieren nicht lediglich auf der Ebene einer »Gesamtgesellschaft« oder eines Einheitsstaats miteinander, sondern vervielfältigen sich durch unterschiedliche imperiale, regionale und lokale Bezüge oder weisen gar über die imperialen »frontiers« und »boundaries« hinaus.32 Für die Habsburgermonarchie ist der fließende und veränderbare Charakter nationaler Zugehörigkeiten auf staatlicher, regionaler und lokaler Ebene immer wieder betont worden.33 Distinktion. Ein Merkmal der Imperien war nicht nur Differenz, sondern auch Distinktion. Die politische Kultur der feinen Unterschiede in Imperien wirkte tief in die mentale Ordnung und politische Haltung hinein. Es ist ein Verdienst der postkolonialen Theorien, die Aufmerksamkeit darauf gelenkt zu haben, dass das Wechselverhältnis von Zentrum und Peripherien nicht nur im ökonomischen und militärischen Bereich zu suchen ist. In Kultur und Mentalität wirkt es bis zum heutigen Tag nach. Für das Verständnis der imperialen Distinktionskultur ist es zunächst hilfreich, danach zu fragen, ob es tatsächlich eine kulturelle Differenz zwischen verschiedenen Regionen innerhalb des Imperiums gegeben hat. Pieter M. Judson und Robert Luft haben in ihren Beiträgen zu Böhmen und Mähren in der Habsburgermonarchie zu Recht betont, dass es diesen Abstand zu den österreichischen Kernlanden gerade nicht gab.34 Dahinter steht die berechtigte Absicht, Böhmen und die Tschechen nicht im Nachhinein durch die Geschichtsschreibung zu kolonialisieren und zu marginalisieren. Allerdings, und das macht die imperiale Distinktionskultur eben aus, wurden Böhmen und insbesondere die tschechische Volksgruppe von vielen führenden deutschösterreichischen Politikern und Teilen des Kaiserhofes 32
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Vgl. Pieter M. Judson, L’Autriche-Hongrie était-elle un empire?, in : Annales. Histoire, Sciences Sociales 63 (2008) 3, S. 563–596, hier S. 567; Mark von Hagen, The Russian Empire, in : Barkey/von Hagen (Hg.), After Empire, S. 58–72, hier S. 62–68; Werth, Imperiology and Religion, S. 59–63. Tara Zahra, Imagined Noncommunities. National Indifference as a Category of Analysis, in: Slavic Review 69 (2010), S. 93–119; Jeremy King, Budweisers into Czechs and Germans. A Local History of Bohemian Politics, 1848–1948, Princeton 2002; James Bjork, Neither German nor Pole. Catholicism and National Indifference in a Central European Borderland, Ann Arbor 2008; Gary B. Cohen, The Politics of Ethnic Survival. Germans in Prague 1861–1914, Princeton 1981; West Lafayette 2 2006. Judson, L’Autriche-Hongrie était-elle un empire?, S. 565; Robert Luft, Machtansprüche und kulturelle Muster nichtperipherer Regionen. Die Kernlande Böhmen, Mähren und Schlesien in der späten Habsburgermonarchie, in: Feichtinger/Csáky/Prutsch (Hg.), Habsburg Postcolonial, S. 165–188; Solomon Wank, The Habsburg Empire, in: Barkey/von Hagen (Hg.), After Empire, S. 45–57, hier S. 51.
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in Wien so behandelt, als gebe es einen kulturellen Abstand gegenüber der deutschen Bevölkerungsgruppe. Man muss nur das Grundlagenwerk von Josef Redlich über die österreichische Gesamtstaats- und Reichsidee lesen, um die deutschösterreichische Überzeugung von der eigenen kulturellen Sendung gegenüber »den Slawen« zu verstehen. Für die Zeitgenossen in der Habsburgermonarchie stand die mentale Rangordnung der Völkerschaften, angeführt von den Deutschen und Ungarn, gefolgt von Polen, Italienern, Kroaten usw. fest und konnte auch noch im Nachhinein übereinstimmend abgerufen werden.35 Strukturelles Verständnis. Im Folgenden wird ein kulturgeschichtlich sensibles und zugleich strukturelles Verständnis von Imperien zugrunde gelegt.36 In struktureller Hinsicht ist ein Imperium ein in sich hierarchisch gestuftes politisches Mehrebenensystem mit einer Zentrum-Peripherie-Struktur, die regelmäßig durch eine politische Distinktionskultur und eine besondere, radiale Kommunikationsordnung gekennzeichnet ist. Die genannten Kategorien des Imperialen – Großräumigkeit und Großmacht, Asymmetrie und Autorität, Differenz und Distinktion – sind offene Kategorien mit fließenden Übergängen zu nicht-imperialen Ordnungen wie Nationalstaaten oder Föderationen. Diese zeichnen sich mitunter ebenfalls durch große Räume, hohes Machtpotenzial, asymmetrische Verhältnisse, autoritäre Züge, gesellschaftliche Vielfalt und eine politische Kultur der feinen Unterschiede aus. Als Alleinstellungsmerkmal von Imperien galt in den bisherigen Theorien allerdings die radiale politische Kommunikations- und Herrschaftsordnung. Der imperiale Herrschaftsanspruch eines »divide et impera«, der die Theoriebildung zu Imperien entscheidend beeinflusst hat, stand mit der politischen Herrschaftswirklichkeit allerdings durchaus in einem Widerspruch.
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Vgl. auch Feichtinger, Habsburg (post)colonial, S. 13–31; Wank, The Habsburg Empire, S. 51. Insbesondere wird Imperium gegenüber dem Nationalstaat nicht als Verfallsform oder per se unmodern verstanden, vgl. dazu nur Burbank/Cooper, Empires in World History, S. 2.
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Jenseits des Imperialen, jenseits des Nationalen: die Frage politischer Kooperation Eine fruchtbare Forschungsperspektive, um den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit imperialer Herrschaft sichtbar zu machen, ist die Frage nach politischer Kooperation. Anders als der Herrschaftsanspruch einer radialen Ordnung impliziert und vermuten lässt, fördert die Analyse der Herrschaftswirklichkeit auch ein kooperatives Imperium zu Tage. Die Frage nach Kooperation bezieht sich dabei zum einen auf die vertikale Ebene, also die Kommunikationsströme zwischen Zentrum und Peripherien, und zum anderen auf die horizontale Ebene, also die Vernetzung der Provinzen untereinander. Eines der wichtigsten Politikfelder des Imperialen, für das sich kooperative Praktiken in der Habsburgermonarchie nachweisen lassen, waren die öffentlichen Finanzen und ihre Reform. Fiskalisches Sorgenkind war lange Zeit das imperiale Zentrum. Der Staat hatte bis zuletzt Schwierigkeiten, sich sein Imperium zu leisten. Die verlorenen Kriege der 1860er Jahre und die immensen Militärausgaben zur Zeit des Neoabsolutismus führten zu Finanzkrisen, Defiziten und Staatsbankrotten.37 Erst um die Jahrhundertwende konsolidierte Finanzminister Julian von Dunajewski das Staatsbudget.38 Die Annexion Bosniens und der Herzegowina führte erneut in die Finanzkrise. Im Gegensatz dazu galt die fiskalische Stabilität der Kronländer in Cisleithanien lange Zeit als gesichert. Bis 1880 hielt sich die Verschuldung der einzelnen Länder in Grenzen, obwohl sich die Länder zu einem bedeutenden Teil an den Folgen der Grundentlastung beteiligt hatten. Um die Jahrhundertwende kehrte sich die fiskalische Entwicklung im Imperium und den Provinzen vielmehr um. Während sich das Defizit des Imperiums konsolidierte, stieg die Schuldenlast der Kronländer rasant an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag das Defizit der Länder bereits deutlich über dem Staatsdefizit.39 Die gestiegenen Ausgaben der Kronländer in Cisleithanien um die Jahrhundertwende sind der vielleicht deutlichste und messbare Ausdruck dafür, dass sich das Verhältnis
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Harm-Hinrich Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860. Mit 71 Tabellen. 2 Bde., Göttingen 1978. Vgl. Ferdinand Schmid, Finanzreform in Österreich, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Erg.-H. 37, Tübingen 1911. Vgl. ebd., S. 129, S. 147.
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zwischen imperialem Zentrum und den Provinzen verändert hatte. Die Kronländer machten mehr Schulden, weil sie mehr politische Macht besaßen. Den Rahmen der mehrstufigen Herrschaftsordnung der Habsburgermonarchie, die in den Staatsgrundgesetzen von 1867 für die nicht-ungarischen Länder ihren Ausdruck fand, nutzten die Kronländer als Ausgangspunkt für regionalen Eigensinn. Langfristig entstand dadurch ein Verwaltungsföderalismus, der auch als »Verländerung« der Habsburgermonarchie bezeichnet worden ist. Die Kronländer bauten neue Straßen, Eisenbahnen und Elektrizitätswerke, schufen ein differenziertes Volks-, Berufs- und Landwirtschaftsschulwesen, richteten Landesbanken und Sparkassen, Arbeitsvermittlungen und Fürsorgestellen ein, bauten Landeskrankenhäuser und finanzierten Sozialeinrichtungen und Krankenkassen.40 Diese ambitionierten Modernisierungsprojekte wurden durch den nationalen Wettbewerb in Ländern wie Böhmen, Mähren und Schlesien oder durch einen weltanschaulichkonfessionellen Wettbewerb zwischen Christlichsozialen, Liberalen und Sozialdemokraten in Ländern wie Niederösterreich, Oberösterreich und Salzburg befeuert, aber auch verteuert. Bei der Bewältigung ihrer umfangreichen Aufgaben und selbst auferlegten Agenden kämpften die Kronländer mit fiskalischen Engpässen. Dem politischen Machtzuwachs, der aus vielen Kronländern Schrittmacher der Modernisierung machte, entsprach nicht in gleicher Weise ein fiskalischer Aufwuchs. Die Steuerhoheit lag beim imperialen Zentrum, Länder und Gemeinden konnten auf bestehende Reichssteuern lediglich Zuschläge erheben, die kaiserlicherseits genehmigt werden mussten. Infolgedessen klaffte die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen der Länder immer weiter auseinander. Manche Länder konnten dabei vom imperialen Zentrum finanzielle Hilfen für einzelne Verwaltungsbereiche erlangen, andere gingen leer aus.41 Hinzukam, dass die öffentliche Lastenverteilung auf Reich, Land und Gemeinden nur lückenhaft geregelt war: Während das Reichsbudget der parlamentarischen Kontrolle unterlag, waren eine effektive Kontrolle,
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Georg Schmitz, Organe und Arbeitsweise, Strukturen und Leistungen der Landesvertretungen, in: Helmut Rumpler/Adam Wandruszka (Hg.), Verfassung und Parlamentarismus. Teilbd. 2: Die regionalen Repräsentativkörperschaften (Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. 7), Wien 2000, S. 1353–1544. Memorandum des Landesausschusses vom 13.7.1910 an die k.k. Regierung zu deren Finanzplan, Moravský zemský archiv v Brně, A 9 Zemský výbor (im Folgenden MZA ZV) K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí«, o. fol.
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Schuldendeckelung oder Tilgungspläne für die Landes- und Gemeindehaushalte nicht vorgesehen.42 Im Jahr 1892 nahm sich das k.k. Finanzministerium des Länderschuldenproblems an, veranstaltete mit den Kronländern eine gemeinsame Konferenz und gewährte den Ländern nicht-zweckgebundene Überweisungen und Einnahmen aus der Personaleinkommens- und Branntweinsteuer, während diese im Gegenzug auf ihr Zuschlagsrecht zu diesen Steuern verzichteten.43 Eine langfristige Lösung der Länderfinanzkrise war damit noch nicht gefunden. Das Schuldenkarussel der Länder und Gemeinden in der Habsburgermonarchie drehte sich immer schneller. Diese Finanzkrise zwang die Länder zur Zusammenarbeit. Zu einem Paradigmenwechsel in Richtung kooperatives Imperium kam es im Jahr 1905. Zum ersten Mal in der Geschichte der Habsburgermonarchie, vom Zentralausschuss der Stände im April 1848 einmal abgesehen,44 versammelten sich alle Landesausschüsse Cisleithaniens zu gemeinsamen Beratungen, zunächst ohne formale Beteiligung der Regierung.45 Die Landesausschüsse waren die geschäftsführenden Organe der Landtage, erledigten laufende Landesangelegenheiten und erstellten insbesondere die Budgetpläne. Der nun einsetzende rege Austausch zwischen den Landesausschüssen Cisleithaniens verstieß nicht nur gegen das ausdrückliche Kommunikationsverbot in den Landesordnungen, »mit keiner Landesvertretung eines anderen Kronlandes in Verkehr« zu treten, sondern wurde öffentlich sichtbar institutionalisiert. Trotz eines entsprechenden Antrags von Seiten des Landesausschusses von Istrien konnten sich die Landesausschüsse jedoch aufgrund von »staatsrechtlichen Bedenken« in Hinblick auf das Kooperationsverbot 42
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Paul Kompert, Die Reform der Budgetierung in den österreichischen Landesfinanzwirtschaften, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 34 (1910), S. 139–150. Friedrich Kleinwächter, Die österreichische Enquete über die Landesfinanzen (März 1908), in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 38 (1909) 3, S. 43–63, hier S. 52. Karl Hugelmann, Der ständische Zentralausschuß in Österreich im April 1848, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 12 (1913), S. 170–260. Hans Peter Hye, Strukturen und Probleme der Landeshaushalte, in: Helmut Rumpler/Adam Wandruszka (Hg.), Verfassung und Parlamentarismus. Teilbd. 2: Die regionalen Repräsentativkörperschaften (Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. 7), Wien 2000, S. 1545–1592; ders., Föderalistische Reformprojekte in der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie: Eine gescheiterte Modernisierung, in: Wolfgang Kruse (Hg.), Andere Modernen. Beiträge zu einer Historisierung des ModerneBegriffs, Bielefeld 2015, S. 219–240.
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nicht auf regelmäßige, sondern nur auf anlassbezogene Zusammenkünfte einigen. Hugo Fux als Stellvertreter des mährischen Landeshauptmanns beschwichtigte seine Kollegen mit den Worten, auch »eine solche Kooperation von Fall zu Fall wird das gleiche Gewicht haben wie eine ständige Institution«.46 Von dem gemeinsamen Vorgehen aller Landesausschüsse versprachen sich die Kronländer eine bessere Durchsetzungskraft für ihre Anliegen im imperialen Zentrum. Die Kronländer waren sich ihres Engagements und ihrer Verdienste für die Modernisierung im Imperium wohl bewusst. Aurel von Onciul, später ein führender rumänischer Nationalpolitiker der Bukowina im Reichsrat, im Jahr 1905 aber noch in verschiedenen Funktionen in Brünn/Brno tätig, schrieb in einem Promemoria an die Regierung, dass das »Gesamterfordernis der Länder« nun jährlich 200 Millionen umfasse und so rasant angestiegen sei, weil »die moderne Entwicklung gerade die kulturellen und ökonomischen Interessen immer mehr in den Vordergrund rückt« und die Reichsverfassung den Ländern »die wichtigsten kulturellen und ökonomischen Interessen« anvertraut.47 Diese von der Verfassung gewährte, in der Praxis ausgebaute politische Gestaltungsmacht wollte von Länderseite niemand schmälern. Wie es ein Mitglied des Landesausschusses von Niederösterreich formulierte: »Ob Föderalisten oder Zentralisten, wir sind doch alle Autonomisten«.48 Das k.k. Finanzministerium reagierte zunächst mit Misstrauen auf die Zusammenkünfte, auch wenn es das Schulden- und Haushaltsproblem der Kronländer grundsätzlich anerkannte und eine eigene Abteilung zu dessen Lösung einrichtete.49 Alsbald versickerte die Angelegenheit jedoch wieder in den komplexen Abstimmungsprozessen verschiedener Fachressorts der
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Referat von Fux über den Antrag Istrien zu regelmäßigem Wirken der Landesausschüsse vom September 1905, MZA ZV K. 2772 »Konference sanace 1905 [Sanierungskonferenz 1905]«, o. fol. Promemoria von Aurel von Onciul an den Ministerpräsidenten, Innenminister und Finanzminister zur Sanierung der autonomen Finanzen, o.D. [1904/1905], MZA ZV K. 2772 »Konference sanace 1905 [Sanierungskonferenz 1905]«, o. fol. Stenographisches Protokoll über die am 16., 17. und 18. Februar 1905 im niederösterreichischen Landhause zu Wien abgehaltene Konferenz der Landesausschüsse der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder betreffend die Regelung der Landesfinanzen, Wien 1905, S. 72. Bericht des mährischen Landesausschusses betreffend die Regelung der Landesfinanzen, Drs. 97/1905, MZA ZV K. 2772 »Konference sanace 1905 [Sanierungskonferenz 1905]«, o. fol.
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zuständigen Zentralbehörden. Erst mit der Wahl des neuen Reichsrats im Jahr 1907 brachten die Ländervertreter ihr Anliegen wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zurück. Alle Mitglieder des Abgeordnetenhauses wurden mit gleichlautenden Memoranden der Landesausschüsse instruiert, in Sachen Länderfinanzen bei der Regierung zu urgieren. Schließlich sprach sich auch der Kaiser in seiner Thronrede von 1907 für finanzielle Unterstützung der Länder aus. Ein zunächst erzielter Kompromiss über einen neuen ReichsLänder-Finanzausgleich, der wie schon 1892 allgemeine Überweisungen aus Reichssteuereinnahmen mit zweckgebundenen Zuwendungen für die Personalkosten im Schulwesen verband, wurde von einer Minderheit der drei Länder Niederösterreich, Galizien und Tirol zurückgewiesen. Nach weiteren Verhandlungen wurde im Jahr 1914 schließlich in Gesetzesform ein neuer Reichs-Länder-Finanzausgleich verabschiedet, der allein auf allgemeinen Überweisungen aufbaute. Der Verteilungsschlüssel dieses Ausgleichs von fiskalischen Länderinteressen nahm auf den unterschiedlichen Bedarf der einzelnen Kronländer Rücksicht. Wirtschaftlich schwache Regionen wie die Bukowina und Galizien erhielten einen relativ höheren Anteil als andere Regionen und konnten bestehende Privilegien größtenteils bewahren.50 Sowohl in der Außenwahrnehmung als auch in der Binnensicht der Ländervertreter untereinander war daher oft die Rede von wechselseitiger Solidarität. Ein Zeitgenosse schrieb, die Finanztransfers werden zum »Solidaritätsbewusstsein zwischen reichen und armen Kronländern« beitragen.51 Diese Rhetorik darf jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass hinter der relativen Bevorzugung ärmerer Regionen auch das ökonomische Interesse der reicheren Länder stand, die eigenen Absatzmärkte zu stärken.52 Im Jahr 1914 resümierte der Landesausschuss der Bukowina: »Das geschlossene Vorgehen der Landesausschüsse hatte insoferne Erfolg, als die 50
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Vgl. »Exposé des k.k. Ministerialrates Dr. Reisch in der Frage der Sanierung der Landesfinanzen« und »Skizze eines Protokolls über die am 21.12.1905 und 4.1.1906 im Finanzministerium abgehaltenen Besprechungen über die Sanierung der Landesfinanzen«, Beilage; Österreichisches Staatsarchiv, Wien, Finanz- und Hofkammerarchiv (AT-OeStA/FHKA k.k. Finanzministerium), allgemeine Reihe, Zl. 12854/1906. Walter Loewenfeld, Die Finanzen der Österreichischen Kronländer, in: Finanzarchiv 25 (1908) 2, S. 176–181, hier S. 180. Andrea Komlosy, Innere Peripherien als Ersatz, in: Endre Hárs/Wolfgang Müller-Funk/ Ursula Reber/Clemens Ruthner (Hg.), Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn, Tübingen 2006, S. 55–78.
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Finanzverwaltung – wenn auch nach einigem Sträuben – die Erhöhung der Bierauflage […] und die Erhöhung der Branntweinsteuer anbahnte«. Der Reichsrat beschloss die Überweisung eines Teils der daraus resultierenden Mehreinnahmen vom Gesamtstaat an die Länder.53 Das gleiche galt für die erhöhte Personaleinkommenssteuer.54 Die Personaleinkommenssteuer war eine der wenigen dynamischen Steuerarten, sodass Überweisungen daraus den Ländern auch auf lange Sicht steigende Mehreinnahmen garantierten. Die Überweisungen aus den Verbrauchssteuern auf Bier und Branntwein zählten zu den höchsten Einnahmequellen der Länder.55 Aufgrund des österreichisch-ungarischen Ausgleichs von 1867 bzw. dessen Nebenbestimmungen zur Wirtschaftsunion zwischen beiden Reichshälften hing die Neuordnung von Finanzen und Steuern in Cisleithanien allerdings stets von der Zustimmung Ungarns ab. Der Erfolg der »Länderkonferenzen« in der Länderfinanzkrise gab den Anlass zu weiteren Reformvorstößen. Noch im März 1914 unterbreitete der Landesausschuss der Bukowina den anderen Landesausschüssen den Vorschlag für eine gemeinsame Länderkreditbank, eine Vergemeinschaftung der Schulden und eine gemeinsame Solidarhaftung aller Kronländer. Man wolle die »Herausgabe einer einheitlichen Schuldobligation, einer ›Länderrente‹ unter Solidarhaftung aller Länder«, weil dadurch »die Kreditfähigkeit der Länder bedeutend erhöht und das ausländische Kapital interessiert werden würde.«56 Nachdrücklich unterstrich der Landesausschuss der Bukowina, dass mit einer Solidarhaftung eine »dauernde Regelung des Verhältnisses zwischen Staatsund Landesfinanzen« gefunden werden könne.57 Positiv reagierte das Land Salzburg, das früher einen vergleichbaren Vorschlag gemacht hatte.58 Der Ruf
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Es handelte sich um insgesamt 35 Millionen Kronen, vgl. Gesetz vom 23.1.1914, betreffend die Neuregelung der Überweisungen aus Staatsmitteln an die Landesfonds der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder und die Herabsetzung des Ausmaßes der Realsteuern (RGBl. Nr. 14/1914). Vgl. ebd. Vgl. Erwin Steinitzer, Die jüngsten Reformen der veranlagten Steuern in Österreich. Eine historisch-kritische Studie, Leipzig 1905. Landesausschuss Bukowina an Landesausschuss Mähren, Schreiben vom 3.3.1914, Zl. 4291/1914, S. 6, Moravský zemský archiv A 9 Sanování (im Folgenden MZA S), K. 2639, fol. 225. Ebd., S. 3. Landesausschuss Salzburg an alle Landesausschüsse, Schreiben vom 18.5.1914, Zl. 3324/1914, MZA S, K. 2639, fol. 198.
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nach einer Schuldengemeinschaft und Solidarhaftung der Länder verhallte allerdings im ausbrechenden Lärm des Ersten Weltkriegs. Der Fall der »Länderkonferenzen zur Sanierung der Landesfinanzen« ist sicherlich der spektakulärste Fall einer politischen Kooperation in der Habsburgermonarchie, jedoch bei weitem nicht der einzige. In der leistenden Verwaltung waren es die sozialen Sicherungssysteme wie die Sozialversicherung, die erstmals eine Zusammenarbeit zwischen Behörden und der Arbeitnehmer- bzw. der Arbeitgeberschaft institutionell verankerten und von der »Vision einer benevolenten Kooperation« geleitet waren.59 In Industrieund Wirtschaftspolitik bestanden Organisationen wie der Österreichische Industriellenverband, der für Cisleithanien Gutachten und Empfehlungen zu überregionalen Fragen der Infrastruktur- und Verkehrspolitik, öffentlichen Auftragsvergabe und zum Submissionswesen, zu Industriepolitik und Exportförderung verfasste. Eine Rolle als kooperative Schnittstelle zwischen Empire und Wirtschaftsgesellschaft spielten auch die seit 1850 bestehenden Handelsund Gewerbekammern, denen ebenfalls die Kooperation über Landesgrenzen hinweg untersagt war, deren Mitglieder aufgrund von Mitspracherechten im Reichs- und den Landesparlamenten allerdings über persönliche Netzwerke in Kontakt standen und miteinander kooperierten. Zahlreiche Beiräte und Beratungsgremien im Bereich von Industrie- und Gewerbeförderung, Arbeits-, Zoll-, Staatseisenbahn- oder Wasserstraßenwesen legen von diesen kooperativen Verflechtungen Zeugnis ab. Im Schulwesen konnte sich die Gesellschaft über das Forum der Schulbeiräte einbringen und je nach Region eher nationalpolitische oder weltanschauliche Agenden verfolgen. Verlässt man die Landesebene und analysiert Infrastrukturprojekte in den Regionen, so wird die kooperative Vielfalt noch einmal größer. *** Die Spurensuche nach kooperativen Verflechtungen führt weg von der Geschichte zentraler politischer Steuerung, hin zu multiplen Handlungs- und Entscheidungsräumen. Geschichtliche Theorien über Imperien und Nationalstaaten sind oft normativ, Erkenntnisse über die alltägliche Erfahrungswelt
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Zum folgenden Absatz vgl. die instruktiven Beiträge von Peter Becker, Uwe Müller, Franz Adlgasser, Judit Pál und Vlad Popovici sowie Ségolène Plyer in: Jana Osterkamp (Hg.), Kooperatives Imperium. Politische Zusammenarbeit in der späten Habsburgermonarchie, Göttingen 2018.
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von Herrschen und Verwalten können sie in wichtigen Punkten modifizieren. Je detaillierter der Blick auf die politische Kooperation im Imperium, desto erklärungsbedürftiger erscheint das Paradigma der »radialen Herrschaftsordnung« oder »Wagenradthese«. Das imperiale Entscheidungsmonopol erweist sich eher als heuristischer Anspruch denn als politische Wirklichkeit. Was bedeuteten die kooperativen Verflechtungen für das Post Empire? Die Perspektive auf das kooperative Imperium spielt nicht von ungefähr auf den Begriff des »kooperativen Föderalismus« an. Österreichs Rolle als unitarischer Bundesstaat und die bis heute bestehenden Landeshauptleutekonferenzen weisen zum kooperativen Imperium Verwandtschaften auf. Mark von Hagen hat dazu angeregt, die Geschichte der Imperien mit einer föderalen Brille zu betrachten.60 Die Perspektive eines »kooperativen Imperiums« zeigt Entwicklungsmöglichkeiten auf, die in Richtung Gleichberechtigung, politische Symmetrie bzw. Föderalisierung, nicht jedoch notwendigerweise in Richtung Nationalstaatlichkeit weisen. Für die Erste Republik Österreich halfen die Erfahrungen politischer Zusammenarbeit vor 1918, den Staat zu konsolidieren: Die ersten Länderkonferenzen fanden bereits im Jahr 1920 statt. Die Vertreter der Länder behaupteten dabei nicht nur ihren Eigensinn als ehemalige Kron- und nun Bundesländer gegenüber »Wien«, betonten also ihre hergebrachte Autonomie, sondern suchten gemeinsam nach Lösungen für die Nachkriegsgesellschaft in den traditionellen Landesbereichen wie Schulwesen und Sozialfürsorge. Im kooperativen Imperium schwingt jedoch auch ein anderer Aspekt mit – der faktische Handlungsvorrang der Reichs- und Landesverwaltungen auf informeller Ebene gegenüber einem durch den Nationalitätenkonflikt oftmals paralysierten, formal ebenfalls zuständigen Reichs- und Landesgesetzgeber. Das kooperative Imperium verflocht Regionen und Akteure, seien es Kronländer und Gemeinden oder Vertreter sozialer Sicherungssysteme und wirtschaftlicher Interessenverbände. Diese Annäherung war jedoch nicht gleichbedeutend mit einer partizipativen Demokratisierung. Die Länderkonferenzen blieben Elitediskurs privilegierter Landesausschüsse. In der ausgewählten Privilegierung bestimmter Gruppen zeigt sich noch einmal das Signum des Imperiums. Trotz vielfacher Kooperationen blieb eine politische
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Dazu Mark von Hagen, Writing the History of Russia as Empire. The Perspective of Federalism, in: ders./Catherine Evtunov/Boris Gasparov/Alexander Ospovat (Hg.), Kazan, Moscow, St. Petersburg. Multiple Faces of the Russian Empire, Moscow 1997; ders., The Russian Empire.
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Kultur der Distinktion und Differenz bestehen, die in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg erst allmählich abgebaut und demokratisiert wurde.
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Das Imperium als Rechtsstaat Franz L. Fillafer
Was ist es, das die habsburgische Welt bis 1918 im Innersten zusammenhielt und den Zerfall des alten Staates überlebte? Meine Antwort auf diese Frage lautet: der Rechtsstaat.1 Er überdauerte seine Entstehungsbedingungen, die im Auslaufmodell Vielvölkermonarchie lagen. Diese Dimension wird greifbar, sobald man das eskalationslüsterne Durchspielen des sich zuspitzenden Nationalitätenkonflikts beiseitelässt, das die Historiografie des 20. Jahrhunderts prägte. Wenn man sich dann von einem weiteren liebgewordenen Klischee, der angeblich in Zentraleuropa besonders markanten Staatshörigkeit, ja Staatsidolatrie, verabschiedet und sich auf die Staatserwartungen konzentriert, also auf das, was die Bürger legitimerweise vom Gemeinwesen, in dem sie lebten, erwarten zu können glaubten, lässt sich die Geschichte der Rechtspflege und Rechtssicherheit freilegen. Im Folgenden möchte ich fünf Analyseschritte vornehmen, anhand welcher sich die rechtsstaatliche Konfiguration der Habsburgermonarchie erschließen lässt und darüber hinaus eine spezifische regionale Rechtskultur greifbar wird, deren Grundzüge und Funktionszusammenhang ich knapp vorstellen möchte. Ich beginne mit dem ersten Analyseschritt, der die Rechtsvereinheitlichung zum Gegenstand hat. 1
Das Manuskript des vorliegenden Aufsatzes wurde 2018 abgeschlossen. Seither publizierte Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden, ergänzend möchte ich auf folgende Beiträge verweisen, die ich in der Zwischenzeit andernorts zu dem hier behandelten Themenfeld veröffentlicht habe: Franz L. Fillafer, Böhmen interimperial. Die böhmische Jurisprudenz als Drehscheibe der zentraleuropäischen Wissenszirkulation, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 12 (2022), S. 163–180; ders., Imperial Diversity, Fractured Sovereignty, and Legal Universals: Hans Kelsen and Eugen Ehrlich in their Habsburg Context, in: Modern Intellectual History 19 (2022), S. 421–443; ders., Privatrechtsprimat und Verfassungspluralismus. Von der imperialen Integration durch das bürgerliche Recht zur Staatslehre ohne Staat, in: Brigitte Mazohl/Kurt Scharr (Hg.), Epochenbruch 1918/19? Die Habsburgermonarchie und die Pariser Friedensverträge – eine Neubewertung, Innsbruck 2021, S. 85–110.
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Die Privatrechtskodifikation als Vehikel der Staatsbildung Der juristische Liberalismus lehrt uns, Imperium und Rechtsstaat als asymmetrische Gegenbegriffe zu betrachten. Das Imperium erscheint so als schwach integriertes Konglomerat von ständisch abgestuften Personenverbänden und räumlich segregierten Körperschaften. Seine Untertanen entbehren subjektive öffentliche Rechte, es fehlt ihnen die Rechtsmacht erzwingbarer Ansprüche, das Empire integriert Differenzen, ohne sie zu beseitigen.2 Dem steht der moderne Rechtsstaat gegenüber, er besteht aus ebenbürtigen Normadressaten, die vor dem Gesetz gleich sind und deren Umgang miteinander allgemeinen und überpersönlichen Regeln unterworfen ist. Wie konnte letzterer aus ersterem hervorgehen? Um diesen Prozess zu verstehen, lohnt es, im Zeitalter der Kodifikation anzusetzen.3 1753, als das maria-theresianische Projekt der Kodifizierung des Zivilrechts der Erbländer begann, war das Recht ein kohäsionsstiftender Faktor unter anderen, der in eine tableauhafte Trias eingelassen war: Ein Glaube, ein Recht, ein Fürst hieß es 1753 in Anspielung auf die Formel des Edikts von Fontainebleau, mit dem Louis XIV. 1685 die Toleranz für die Hugenotten widerrufen hatte: une foi, une loi, un roi.4 Das Recht erscheint hier als subsidiäres Scharnier. Bemerkenswert ist nun, dass sich das Recht bis 1811,
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Vgl. Stephan Wendehorst, Altes Reich, »alte Reiche« und der »imperial turn« in der Geschichtswissenschaft, in: ders. (Hg.), Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien. Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation: Institutionen, Personal und Techniken, Berlin 2015, S. 17–60, hier S. 58; Lauren Benton/Richard J. Ross (Hg.), Legal Pluralism and Empires, 1500–1800, New York 2013; Sir Henry S. Maine unterschied zwischen den älteren steuereinhebenden Reichen (mit Ausnahme des römischen Reichs) und den modernen gesetzgebenden Imperien, vgl. Henry S. Maine, Lectures on the Early History of Institutions, London 1875, S. 384. Vgl. Philipp Harras von Harrasowsky, Geschichte der Codifikation des österreichischen Civilrechts, Wien 1868; ders., Der Codex Theresianus und seine Umarbeitungen. 5 Bde., Wien 1883–1886; vgl. auch die vorzügliche, analytisch angelegte Studie von Henry E. Strakosch, State Absolutism and the Rule of Law. The Struggle for the Codification of Civil Law in Austria 1753–1811, Sydney 1967. Zit. n. Anton Tautscher, Der Wandel im Eigentumsrecht und die Verpflichtungsstufen des Eigentums, in: ders., Die Wirtschaft als Schicksal und Aufgabe. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1965, S. 153–177, hier S. 155; vgl. weiters Werner Ogris, Rechtseinheit und Staatsidee in der Donaumonarchie, in: ders., Elemente europäischer Rechtskultur. Rechtshistorische Aufsätze aus den Jahren 1961–2003, hg. v. Thomas Olechowski, Wien 2003, S. 47–58, hier S. 47. Zum Edikt von Fontainebleau vgl. Élisabeth Labrousse, La révocation de l’Édit de Nantes. Une foi, une loi, un roi?, Paris 1990.
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als die Zivilrechtskodifikation mit dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch vollendet wurde, gegenüber den beiden anderen Koeffizienten, Monarch und Religion, durchsetzte. Dazu zwei illustrative Schlaglichter, die diesen Prozess gerafft fassbar machen: Zunächst möchte ich auf die emblematische Inschrift hinweisen, die an der Attika des Äußeren Burgtors in Wien angebracht ist. Den Zentralportikus des Burgtors von 1820, den Peter Nobile als Ersatz für das von den Franzosen 1809 gesprengte alte Tor entwarf, ziert die Inschrift JVSTITIA REGNORVM FUNDAMENTVM, das Regierungsmotto von Kaiser Franz I.5 Nicht weit davon entfernt, Am Hof, erhebt sich vor der Kirche Maria zu den neun Chören der Engel die von Ferdinand III. in Auftrag gegebene, in den 1630er Jahren errichtete Säule, welche die unbefleckte Empfängnis Mariens zelebriert. Hier möchte ich nur ein Detail herausgreifen, auf das Gijs Kruitzer aufmerksam gemacht hat: Einen geharnischten Putto, der einen Basilisken erlegt und auf seinem Schild eine Inschrift aus der Vulgataversion des Buchs Esther trägt (Esther 15,13), in dem die Fürbitte Esthers bei Xerxes erbsündenforensisch zur Interzession der unbefleckten Jungfrau Maria vor Gott umgedeutet wird. NON PRO TE LEX steht hier zu lesen.6 Warum nun ist dieses Motto – das Gesetz gilt nicht für dich – für unsere Zwecke interessant? Deshalb nämlich, weil die Mariensäule Fixpunkt eines alljährlichen Zeremonialgeschehens war, das die Koexistenz pluraler, gruppenspezifischer Rechtsordnungen innerhalb der Monarchie verdeutlicht. Bis 1782 bildete die Säule den Endpunkt der Prozession, welche die Würdenträger und Doktoren der Universität Wien nach dem Festgottesdienst zur Eröffnung des Studienjahres abhielten. Im Rahmen des Gottesdienstes leisteten die Angehörigen der Universität den Eid auf die
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Vgl. Stefan Malfèr, Kaiserjubiläum und Kreuzesfrömmigkeit. Habsburgische »Pietas Austriaca« in den Glasfenstern der Pfarrkirche zum heiligen Laurentius in Wien-Breitensee, Wien 2011, S. 39; Wolfgang Häusler, Das österreichische Kaisertum von 1804 und seine Bedeutung für das Staats- und Reichsproblem der Habsburgermonarchie, in: Jiří Pokorný/Luboš Velek/Alice Velková (Hg.), Nacionalismus, společnost a kultura ve střední Evropě 19. a 20. století. Pocta Jiřímu Kořalkovi k 75. narozeninám [Nationalismus, Gesellschaft und Kultur im Mitteleuropa des 19. und 20. Jahrhunderts. Festgabe für Jiří Kořalka zum 75. Geburtstag], Praha 2007, S. 121–154, hier S. 130. Vgl. Susan Tipton, »Super aspidem et basiliscum ambulabis«. Zur Entstehung der Mariensäulen im 17. Jahrhundert, in: Dieter Breuer (Hg.), Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Bd. 1, Wiesbaden 1995, S. 375–398; Gijs Kruijtzer, The Law is Not For You, http://allegralaboratory.net/the-law-is-not-for-you/(abgerufen am 15.1.2023).
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unbefleckte Empfängnis Mariens, der Nichtkatholiken von Promotion und Ämtern ausschloss.7 Joseph II. schaffte den Eid ab, damit wurde die Promotion von Juden und Protestanten möglich, aber die bürgerliche Gleichstellung der Nichtkatholiken blieb, was Eigentumserwerb und Berufsausübung anging, auch nach den berühmten Toleranzpatenten unvollständig und brüchig.8 Sie wurde lediglich dispensando erteilt, war also der Dispenspraxis der jeweiligen Landesregierung anheimgestellt. Somit gewährten die Toleranzpatente den Nichtkatholiken eine beantragbare Gleichheit auf Widerruf.9 Dagegen steht das Motto: JVSTITIA REGNORUM FUNDAMENTUM. Hier ist die Universalität des Rechts verkündet, welche jene ständischen, religiösen und provinziellen Spezialnormen überwölbt, die eben im NON PRO TE LEX zum Ausdruck kommen. Die JVSTITIA im Singular ist der Grundstein der REGNA, der Königreiche und Länder im Plural, sie verspricht ein gemeinschaftliches Recht, das sich an ebenbürtige und gleichberechtigte Normadressaten wendet: das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, das 1811 fertiggestellt werden sollte.
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Vgl. ebd. Die Eidesleistung wurde durch das Studienhofkommissionsdekret vom 3.6.1782 abgeschafft, vgl. Rudolf Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, im Auftrage des k.k. Ministers für Cultus und Unterricht, Leo Grafen von Thun. Bd. 2: Statutenbuch der Wiener Universität, Wien 1854, S. 590, Nr. 188; Alfred Francis Přibram, Einleitung, in: ders. (Hg.), Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien. Erste Abteilung, Allgemeiner Teil, 1526–1847 (1849). Bd. I, Wien 1918, S. CIV, Staatsratsgutachten Friedrich von Egers mit Plädoyer für die Zulassung der promotionsfähigen Juden zur Advokatur. Seit den Universitätsreformen Josephs II. stand jüdischen Untertanen der Weg zum Advokaturexamen und die Zulassung als Advokaten für alle Religionsangehörigen offen, obwohl Juden laut Josephinischem Gesetzbuch und ABGB nicht als Belastungszeugen gegen Christen auftreten und auch nicht als Vormünder nichtjüdischer Mündel fungieren durften. Vgl. Peter F. Barton, ›Das‹ Toleranzpatent von 1781. Edition der wichtigsten Fassungen, in: ders. (Hg.), Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Joseph II., ihren Voraussetzungen und ihren Folgen. Eine Festschrift, Wien 1982, S. 152–202; Carl F. von Hock/Hermann Ignaz Bidermann, Der österreichische Staatsrath (1760–1848). Eine geschichtliche Studie, Wien 1879, S. 335–394. Vgl. Karl W. Schwarz, Die Protestantenemanzipation im Spiegel eines Majestätsgesuchs der beiden Wiener Gemeinden (A.C. und H.C.) vom 5. April 1848, in: Wiener Geschichtsblätter 39 (1984), S. 1–12.
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Die antirevolutionäre Universalisierung und Entpolitisierung des Privatrechts Das führt mich zum zweiten Analyseschritt, der Kodifikation des ABGB.10 Die Fertigstellung des Privatrechtskodex war ein genialer postrevolutionärer Schachzug des Juristen Franz von Zeiller, der federführend die Endredaktion des ABGB leitete.11 Als Zeillers Schüler Joseph von Kudler den verstorbenen Lehrer im Jahr 1828 in einem Nachruf würdigte, hielt er fest, dass Zeillers wissenschaftliches Lebenswerk von zwei Zeitereignissen geprägt gewesen sei, von der »Entwicklung und Bildung der kritischen Philosophie« und der »französischen Staatsumwälzung«,12 also: von Kant und der Französischen Revolution. Zeiller behielt im Konflikt mit Joseph von Sonnenfels, der das Zivilrecht gerne zu einer Verfassungsordnung ausgebaut hätte, eben deshalb die Oberhand, weil er das Privatrecht in eine blütenweiß antirevolutionäre Weste kleidete. Zeiller machte sich die Sorge der Hofstellen über die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, über Verfassungsschöpfungen und Volkssouveränität zunutze, um die allgemeine Rechtsfähigkeit der Bürger zu verankern. Zeiller zog dem Naturrecht seinen Giftzahn, indem er es seines öffentlich-rechtlichen Charakters entledigte, ohne es seiner normativen Kraft als »allgemeines Recht« zu berauben. Zeiller säuberte das Privatrecht von sachfremden Normgehalten; Zeiller zufolge waren Bestimmungen über
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Profunde Arbeiten zur Gesetzgebungsgeschichte des ABGB finden sich in der Festschrift zur Jahrhundertfeier des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, 1. Juni 1911. 2 Bde., Wien 1911. Vgl. Walter Selb/Herbert Hofmeister (Hg.), Forschungsband Franz von Zeiller (1751−1828). Beiträge zur Gesetzgebungs- und Wissenschaftsgeschichte, Wien/Graz/ Köln 1980; Joseph F. Desput/Gernot Kocher (Hg.), Franz von Zeiller. Symposium der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz und der Steiermärkischen Landesbibliothek am 30. November 2001 aus Anlass der 250. Wiederkehr seines Geburtstages, Graz 2003; Christian Neschwara, Pratobevera – Zeiller – Jenull. Eine »herrliche Trias unserer Gesetzgebung«. Ein Beitrag zur Gesetzgebungsgeschichte des österreichischen Strafrechts im Vormärz, in: Ulrike Aichhorn/Alfred Rinnerthaler (Hg.), Scientia iuris et historica. Festschrift Peter Putzer zum 65. Geburtstag. Bd. II, Egling 2004, S. 579–612. Aus der älteren Literatur: Constantin von Wurzbach, Zeiller, Franz Alois Edler von, in: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, 59. Theil, Wien 1890, S. 283–287. Joseph von Kudler, Nekrolog Franz Edlen von Zeiller, in: Zeitschrift für österreichische Rechtsgelehrsamkeit und politische Gesetzeskunde 3 (1828), S. 443–456, hier S. 447f.
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Menschen- und Bürgerrechte, die öffentliche Wohlfahrt, das allgemeine Beste oder die sittliche Moral (Veredelung der Bürger), wie sie Sonnenfels und der Wolffianer Karl Anton von Martini gewünscht hatten, im bürgerlichen Gesetzbuch fehl am Platze. Ebenso hätten Ausführungen über die legislativen Motive des Gesetzgebers und die Geltungsgründe des Gesetzes zu unterbleiben.13 Diese vordergründige soziopolitische Deutungsabstinenz, der Orientierungsverzicht, den Zeiller versprach, gestattete ihm somit, das liberal getönte natürliche Privatrecht, das er kantianisch verstand – die Freiheit, nicht die Pflicht bildete den Rechtsgehalt, das Individuum war als Selbstzweck anzusehen, die Trennung von Recht und Moral galt als Richtschnur der Gesetzgebung –, als überpolitische Universalie darzustellen.14 Aus Zeillers eminent politischer Universalisierungsstrategie, die sich überpolitisch gerierte, ergaben sich folgende Konsequenzen: 1. Franz von Zeiller fasste das Privatrecht als rationales und kulturneutrales, nach immanenten Prinzipien gegliedertes System, das nicht mehr auf transzendentalen Legitimitätsressourcen (Gott oder Kaiser15 ) beruhte, 13
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Vgl. Sigmund Adler, Die politische Gesetzgebung in ihren geschichtlichen Beziehungen zum allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche, in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches. Bd. I, S. 83–125, hier S. 120. Zur Kenntlichmachung der leitenden Motive der Gesetzgebung in der Kodifikation vgl. Harrasowsky, Codex Theresianus. Bd. V, S. 3, Fn. 1. Vgl. Franz L. Fillafer, Franz von Zeiller und der Kantianismus in der Rechtswissenschaft, in: Violetta Waibel (Hg.), Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, Österreich und Osteuropa, Göttingen/Wien 2015, S. 83–94. In Zeillers Vortrag zur Einführung in das bürgerliche Gesetzbuch vom Dezember 1807 figuriert die Natur als requisitenhafter argumentativer Rückhalt: »Die allen Menschen, als vernünftigen Wesen zukommenden Rechte werden von dem Urheber der Natur, von dem höchst-vernünftigen Wesen jedem durch die Vernunft und das Rechtsgefühl verkündiget. Von dem Oberhaupte des Staates als dem, mittelst der Staatsverbindung gewählten sichtbaren Organe der Vernunft, werden diese Rechte in den Gesetzen genauer und deutlicher bestimmt, auf die mannigfaltigen Verhältnisse des bürgerlichen Lebens angewendet und durch die vereinte, unwiderstehliche Macht sicher gestellt.« Julius Ofner, Der Ur-Entwurf und die Berathungsprotokolle des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches. 2 Bde., Wien 1889. Bd. II, S. 468; ebda. Bd. I, S. 6, aus Zeillers Vortrag, den er am 1.12.1801 zur Eröffnung der k.k. Hofkommission in Gesetzessachen gehalten hat: »Das Recht ist kein Machwerk der Menschen und die Machthaber sind keine Rechtsschöpfer, keine Rechtgeber. Alles Recht gibt ursprünglich die Vernunft. Der Gesetzgeber ist das Organ, der anwendende Erklärer der rechtlichen Vernunft.«
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sondern auf der freien Verfolgung von Zwecken durch vernunftbegabte Wesen. Das Recht war eine autonome, von Menschen geschaffene Zwangsordnung, die Ermittlung seiner universalen Normen erfolgte nicht mehr aufgrund theologischer, sittlicher, wohlfahrtsmäßiger oder anderweitiger substanzmetaphysischer Grundlagen. 2. Praktisch ausgestaltet wurde diese Universalität durch eine Entstofflichung des Rechts, also durch das Aussieben kodifikationsfähiger Materien16 und durch das Statuieren abstrakter, untereinander vernetzter Begriffe im Sinne der Vorrangigkeit der allgemeinen Rechtsfähigkeit. Die unübersichtliche, weil hierarchisch strukturierte gesellschaftliche Welt wurde ausgeblendet (Fideikommiß, Erbpacht), indem die Gesetzgeber im Vorgriff auf eine künftige soziale Wirklichkeit die allgemeine, ständeübergreifende Zugänglichkeit der Institute ihres Kodex postulierten.17 Das leitet über zum dritten Ergebnis. 3. Das ABGB bestand als Privatrecht neben den »politischen Gesetzen«, auf die es verwies. Diese »politischen Gesetze« verhängten für jedes Land der 16
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Das Lehens- und das Gesinderecht wurden nicht von ungefähr aus der Regelungssphäre des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs ausgeschieden, vgl. Wolfgang Wagner, Die Privatisierung des Lehenrechts, in: Selb/Hofmeister (Hg.), Forschungsband, S. 226–247. Vgl. Pio Caroni, Grundanliegen bürgerlicher Privatrechtskodifikationen, in: Barbara Dölemeyer/Diethelm Klippel (Hg.), Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit, Berlin 1998, S. 249–273, hier S. 253–255. So wurde etwa die adelige Institution des Familienfideikommiß nicht standesspezifisch etikettiert, sondern schien jedermann zugänglich, die Erbpacht- und Bodenzinsverträge waren mit dem nicht ständisch limitierten Miet- bzw. Pachtvertrag in einem Hauptstück vereinigt; vgl. weiters Wilhelm Brauneder, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie von 1811, in: Gutenberg-Jahrbuch 62 (1987), S. 205–254, hier S. 241f., S. 244; ders., Die Dauerhaftigkeit einer Kodifikation. 200 Jahre österreichisches ABGB, in: Emlékkönyv Dr. Ruszoly József egyetemi tanár 70. születésnapjára [Gedenkbuch für Universitätsprofessor Dr. József Ruszoly zum 70. Geburtstag], Szeged 2010, S. 227–239. Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive ist anzumerken, dass die Vereinheitlichung, Säkularisierung und Verstaatlichung der Eherechtspflege seit dem josephinischen Ehepatent von 1783 eben keine Besserstellung der Ehefrauen bedeutete, weil Rekursinstanzen (die bischöflichen Konsistorien) wegfielen und weil das vom Gesetzgeber eingeführte Erfordernis der Einvernehmlichkeit bei der Trennung von Tisch und Bett häufig die Frauen nötigte, ihre Ehemänner durch Verzicht auf Vermögensansprüche, Eigentumstitel und in die Ehe mitgebrachte Gewerbelizenzen trennungswillig zu stimmen, vgl. die gehaltvollen Arbeiten von Andrea Griesebner/Georg Tschannett, Ehen vor Gericht (1776–1793). Ehestrei-
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Monarchie und innerhalb dieser Länder wiederum für jeden Stand und jede Religionsgemeinschaft spezifische Vorschriften. Die Pointe von Zeillers legislativer Arbeit lag nun darin, dass sie das Privatrecht zum Gültigkeitsfilter für das öffentliche Recht machte. Die »Rechtsgesetze«, stellte Zeiller 1807 fest, »ruhen auf allgemeinen und unabänderlichen Grundsätzen und Vernunftprinzipien der Gerechtigkeit«, während die politischen Gesetze von »zufälligen veränderlichen Umständen und mannigfaltigen Ansichten und Hypothesen« abhingen.18 So kam das zustande, was man als eine Deteleologisierung des Privatrechts und Teleologisierung des öffentlichen Rechts bezeichnen kann.19 Die »Vernünftigkeit« der Ordnung wurde damit vom Attribut der legitimierenden Natur zum Attribut des Rechtsgefüges selbst. Daraus folgten als beachtliche Resultate: die Autonomisierung der Rechtsordnung (Abbau von Verweisen auf transzendentale Begründungen), die Prämisse ihrer systeminhärenten Rationalität sowie ihre Universalisierung, ihre »Allgemeinheit« (JVSTITIA REGNORUM FUNDAMENTUM), die soziale und territoriale Differenzierungen innerhalb der Monarchie überwand. Das leitet über zum dritten Analyseschritt, der sich der praktischen Umsetzung dieser Konzeption widmet.
Normenorigami. Interregionale Rechtsvereinheitlichung im Vormärz Die Beamtenschaft der Zentralbehörden entwickelte im Vormärz eine Strategie, die man als Normenorigami bezeichnen könnte. Was den japanischen Papierkünstlern mit ihrem Material glückt, gelang auch den habsburgischen Beamten: Sie falteten aus Gesetzesbeständen, die für unterschiedliche Räume der Monarchie galten, kunstvolle neue Normgebilde. So wurden die Regelungsgehalte unterschiedlicher Spezialgesetze für die diversen Länder des Kaisertums miteinander abgeglichen. Dieser von Techniken der Bricolage
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tigkeiten vor dem Wiener Erzbischöflichen Konsistorium und dem Magistrat der Stadt Wien, in: Geschichte und Region/Storia e regione 20 (2011) 2, S. 40–72; Georg Tschannett, Unterhaltsstreitigkeiten und deren Regelungen vor dem Wiener Scheidungsgericht im ausgehenden 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Frühneuzeit-Info 26 (2015), S. 116–130. Ofner, Ur-Entwurf. Bd. II, S. 474. Vgl. Monica García-Salmones Rovira, The Project of Positivism in International Law, Oxford 2013, S. 277.
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und dem Nachweis der subsidiären interregionalen Gültigkeit von Normen geprägte modus operandi diente den Beamten dazu, die allmähliche Durchsetzung rechtsstaatlicher Garantien in der Monarchie zu gewährleisten. Daran ist beachtlich, dass die Beamtenschaft in den Hofstellen und Gubernien die Binnenpluralität des Kaisertums mit seinen verschiedenstufig integrierten Ländern häufig nicht als Hindernis, sondern geradezu als Chance begriff, die es ermöglichte, liberale Lösungen zu formulieren. Zwei Postulate waren hierbei zentral: das der Einheit des Willens des Gesetzgebers und jenes der interregionalen Rechtssicherheit.20 Diese Auslegungstechnik erlaubte es, die Gültigkeit von Dekreten und Verordnungen auch außerhalb des Landes, für das sie kundgemacht worden waren, zu erweisen, oder – ein aussagekräftiges Beispiel – autorisierte Übersetzungen des ABGB in andere Sprachen der Monarchie als »authentische Interpretationen« heranzuziehen, um dem deutschen Originaltext verborgene Nuancen abzugewinnen.21 Wie elastisch die Auslegung und Fortbildung der 20
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Vgl. Amelie Lanier, Das Kreditwesen Ungarns im Vormärz, Frankfurt a.M. 1995, S. 101f.; György Kerekes, A kassai kereskedők életéből harmadfélszázad 1687–1913 [Das Leben der Kaschauer Kaufmannschaft während dreieinhalb Jahrhunderten], Budapest 1913, S. 198. Die Rechtsgeschäfte zwischen Ungarn und den Erbländern wurden von zwei Problemen beeinträchtigt, vom Nichtvorhandensein einer einheitlichen Gerichtsorganisation mit transparentem Instanzenzug und vom Adelsprivileg auf das unveräußerliche Grundeigentum in Ungarn. Lanier und Kerekes analysieren die sich entwickelnde interregionale bzw. binnenimperiale lex mercatoria, die Akzeptkredite österreichischer Zwischenhändler für Schuldscheine ungarischer Geschäftsleute und die freiwillige, bonitätserhöhende Strategie ungarischer Handelsleute, sich erbländischen Wechselgerichten zu unterwerfen. Zur Kreditgenerierung des ungarischen Adels mittels der über erbländische Banken ausgegebenen Partialobligationen vgl. Béla Iványi-Grünwald, Bevezetés [Einleitung], in: Gróf Széchenyi István »Hitel«, valamint a Taglalat és a Hitellel foglalkozó kisebb iratok [Graf István Széchenyis »Kredit« sowie kleinere Dokumente zu »Erörterung« und zu »Kredit«], hg. v. dems., Budapest 1930. Vgl. Thomas Dolliner, Versuch einer 4. Auslegung des streitigen Satzes in § 1475 des Allg b. G. B. über den Einfluß der Abwesenheit auf die ordentliche Ersitzung von 30 Jahren, in: Zeitschrift für österreichische Rechtsgelehrsamkeit und politische Gesetzeskunde 2 (1838), S. 333–343; Wilhelm Brauneder, Die Übersetzungen von Gesetzen in der Habsburgermonarchie, Donau-Institut Working Paper 7, Budapest 2013, S. 8–11; Iulia Zup, Die Übersetzungen des Habsburger Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches ins Rumänische, in: Contributii Germanistice (Universitatea »Lucian Blaga« din Sibiu) 36 (2015), S. 240–258 und die ausführliche Monografie ders., Traducerile legislaţiei austriece în Bucovina habsburgică (1775–1918) [Die Übersetzungen österreichischer Gesetze in der habsburgischen Bukowina (1775–1918)], Iaşi 2015.
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vorgefundenen Normen durch die Beamtenschaft waren, verdeutlichen einige Konfliktfälle aus der Geschichte des interkonfessionellen Zusammenlebens im Vormärz: In religiös gemischten Ländern wie Galizien und der Bukowina, wo ältere Verträge und Kapitulationen die Gleichheit aller Religionen verbrieften, behauptete man die völlige Parität der Konfessionen.22 Als sich die lokale Kirchenobrigkeit auf das ABGB berief, das die Funktion des katholischen Pfarrers als notarieller Offiziant bei Mischehen vorsah, drehten die Behörden den Spieß um: Die Hofkanzlei erinnerte die Landesregierung daran, dass das Toleranzpatent für die Bukowina ja nicht gelte, deshalb sei es dort auch protestantischen Pfarrern gestattet, rechtsgültige Mischehen zu schließen.23 Auch für andere, nach 1815 erstmals erworbene Länder wie Venetien und Dalmatien waren keine Toleranzpatente ergangen. Daraus folgerten Kirchenfürsten wie der Patriarch von Venedig und der Bischof von Zadar, dass Nichtkatholiken in ihren Königreichen keine staatlich verbriefte Duldung genossen, dass ihnen also die Ausübung ihres Kults eigentlich untersagt werden müsse, was die jeweiligen Gubernien und die Hofkanzlei sofort widerlegten: Wo keine Toleranzgesetzgebung bestehe, müsse die größtmögliche bürgerliche Freiheit angenommen werden;24 hier hielt sich die Beamtenschaft an § 17 des ABGB, der ja besagte: »Was den angebornen natürlichen Rechten angemessen ist, dieses wird so lange als bestehend angenommen, als die gesetzmäßige Beschränkung dieser Rechte nicht bewiesen wird.«
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Vgl. Scott Berg, Empire of Faith. Toleration, Confessionalism, and the Politics of Religious Pluralism in the Habsburg Empire, 1792–1867, ungedr. Dissertation, Louisiana State University at Baton Rouge 2015, S. 177; Georg Loesche, Eine Denkschrift über die beabsichtigte Beschränkung der Freiheit der galizischen Protestanten (1825), in: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 25 (1904), S. 347–363; Johann R. Kutschker, Die österreichische Gesetzgebung über die kirchlichen und staatsbürgerlichen Rechtsverhältnisse der Dissidenten während der Herrschaft des Concordats, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 21 (1869), S. 466–469, hier S. 467. Vgl. Bruno Primetshofer, Rechtsgeschichte der gemischten Ehen in Österreich und Ungarn (1781–1841). Ein Beitrag zur Geschichte der Beziehungen zwischen Kirche und Staat, Wien 1967, S. 53–57. Vgl. Bericht der Hofkanzlei über die Konversion einer katholischen Kaufmannstochter zum griechisch-orthodoxen Ritus bei Verehelichung mit ihrem orthodoxen Verlobten, 25.11.1845, ÖStA, AVA, AK, Orthodoxer, 19 (Übertritte)/11038.
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Vom vielsprachigen Staatsvolk zum Vielvölkerstaat25 Die Jahre 1848/49 und 1867 mit ihren Verfassungsschöpfungen bildeten die wichtigsten Wasserscheiden im Rechtsleben der Monarchie vor 1914. Die Revolution von 1848 fegte das vormärzliche Regime hinweg, ohne jedoch einen einschneidenden Elitenaustausch zu verursachen. Die juristisch geschulte Beamtenschaft der 1840er Jahre wirkte im Neoabsolutismus weiter, die liberalen Exrevolutionäre waren vielfach Beamte und bildeten das Rückgrat der neu gruppierten Ministerialbürokratie. Der Rechtsstaat war keine Kopfgeburt der Achtundvierziger.26 Wie war dieser Rechtsstaat nach 1848 beschaffen, welche Erbstücke vermachte er dem postimperialen Zentraleuropa? Zwei Dimensionen möchte ich auf den folgenden Seiten behandeln: Zum einen jene, die im Titel dieses Unterkapitels anklingt, die Entwicklung vom mehrsprachigen Verfassungsstaat zum Vielvölkerstaat, die imperiale Logik der Nationalisierung also. Zum anderen soll hier der Denkstil der österreichischen Jurisprudenz skizziert werden, der wiederum die Kernauffassungen der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens und seiner Schule prägte. Dem zweiten Problemkreis widmet sich der abschließende, fünfte Abschnitt meines Aufsatzes. Zunächst gilt es aber, die allmähliche Etablierung der »Volksstämme« als sprachnational definierte Rechtsträger zu untersuchen. Bei der vorberatenden Sitzung des konstituierenden Reichstags, die im Juli 1848 in der Winterreitschule der Wiener Hofburg stattfand, begrüßte der zum Alterspräsidenten gewählte Staatswissenschaftler Joseph von Kudler die Deputierten als Angehörige eines »edlen und großen Volkes«, das »aus
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Im Folgenden greife ich auf einige Passagen eines Essays zurück, der unter dem Titel »Die imperiale Dialektik von Staatsbildung und Nationsgenese. Eine Glosse über Nutzen und Nachteil der Empireforschung für die Habsburgermonarchie« im Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts schienen ist, in: Thomas Wallnig/Tobias Heinrich (Hg.), Vergnügen/Pleasure/Plaisir (Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 33), Bochum 2018, S. 179–194. Vgl. James Shedel, To be a Rechtsstaat: Theory and Reality in Austria, 1848–1865, in: Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der christlichen Demokratie in Österreich 3 (1999), S. 183–196; Fredrik Lindström, Imperial Heimat. Biographies of the »Austrian State Elite« in the Late Habsburg Empire, in: Tim Buchen/Malte Rolf (Hg.), Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850–1918), Berlin 2015, S. 368–392.
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verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzt«27 sei. Der Entwurf des Grundrechtskatalogs, den der Reichstag in Wien und Kremsier/Kroměřiž erarbeitete, proklamierte die Gleichberechtigung aller »Volksstämme«, die im Gerichts-, Behörden- und Schulalltag ihre Sprache gebrauchen dürfen sollten, sofern sie im jeweiligen Kronland »landesüblich« war.28 In der Dezemberverfassung von 1867 wurde diese Lösung abermals aufgegriffen. Nun verband sie sich aber mit einer von deutschböhmischen Abgeordneten urgierten Schutzvorkehrung, welche die ihnen verhasste Verpflichtung zur Erlernung der zweiten Landessprache, des Tschechischen, kippte. Artikel 19, Abs. 3 verankerte das sogenannte »Sprachenzwangsverbot«.29 Auf dieser Grundlage gedieh die politische Anspruchs- und Mobilisierungslogik der Verfassungsära, welche die Überformung älterer ständischer und religiöser Differenzen durch sprachnationale Identitätsmerkmale forcierte. Um zu verstehen, wie aus dem gesetzgebenden »Volk«, an das Kudler 1848 appelliert hatte, ein Verband von Völkern werden konnte, die eigene Rechtspersönlichkeit genossen, muss man die Umsetzung der Dezemberverfassung von 1867 analysieren. Die sprachnationale Versäulung, die in der Monarchie stattfand, war das unbeabsichtigte Ergebnis der Verfassungsordnung von 1867, die zwei Bauelemente kannte: die subjektiven öffentlichen Rechte und die Rechte der historisch-politischen Länder. Die allmählich etablierte Rechtssubjektfähigkeit ethnisch-nationaler Gruppen ergab sich als Konsequenz aus der Judikatur und der Verwaltungspraxis, die beide innerhalb der ursprünglich individualrechtlich angelegten Matrix der Gleichberechtigung der Nationalitäten operierten.30 Dank der Spruchpraxis des Reichsgerichts zu Artikel 19 27 28
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Verhandlungen des österreichischen Reichstages nach der stenographischen Aufnahme. Bd. I, Wien 1870, S. 1. Vgl. den Entwurf der Grundrechte des österreichischen Volkes nach den Beschlüssen der zweiten Lesung im Konstitutionsausschusse, § 21: »Jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität überhaupt und seiner Sprache besonders. Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schulen, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staat gewährleistet.« Zit. n. Wiener Zeitung, 23.12.1848, Extra-Blatt der Abend-Beilage. Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985, S. 54, S. 56f. Vgl. ebd.; Johannes Feichtinger, Polyglottes Habsburg. Mehrsprachigkeit im politischen, staatsrechtlichen und gesellschaftlichen Kontext, in: Karin Almasy/Heinrich Pf andl/Eva Tropper (Hg.), Bildspuren – Sprachspuren. Postkarten als Quellen zur Mehrsprachigkeit in der späten Habsburger Monarchie, Bielefeld 2020, S. 1–22; ders., Kakanische Mischungen. Von der Identitäts- zur Ähnlichkeitswissenschaft, in: Anil Bhat-
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der Dezemberverfassung und den Strategien behördlicher Bevölkerungserfassung (Volkszählungen mit Angabe der Umgangssprache seit den 1880er Jahren) konnten sich die Nationen als legitime Akteure etablieren.31 Nun war das Bekenntnis der cisleithanischen Bürger zu ethnisch-nationalen Gruppen nicht mehr der freien Entscheidung und selbständigen Deklaration des Einzelnen anheimgestellt, sie wurde zu einem Erhebungstatbestand, der anhand »sachlicher« Kriterien behördlich feststellbar sein sollte und einem Stringenzgebot unterlag: So bekam jeder Bürger eine nationale Option auferlegt, die er im Vereins- und Freizeitleben ebenso wie in der Schulwahl für seine Kinder konsequent als Sinnganzes gestalten musste. Mehrfachidentitäten wurden damit empfindlich eingeschränkt. Diese Modi der Zugehörigkeitsfeststellung gipfelten in einem System der Befriedung durch Segregation: Die gesamte Gesellschaft jedes Kronlandes sollte unter dem Gesichtspunkt des Ethnoproporzes in sprachgemeinschaftliche Personenverbände aufgespalten werden, die sich wiederum in eigenen Parallelorganisationen – vom Stadtschulrat über die Universitäten bis zu den Wählerkurien – organisierten. Das war das Bauprinzip der »Ausgleiche«, die in rascher Folge für mehrere Länder und Städte der Monarchie geschaffen wurden. Die allmähliche Etablierung rechtssubjektfähiger Nationalitäten kam, obwohl ursprünglich nicht beabsichtigt, dank den staatlichen Institutionen der Monarchie zustande, deren Handlungslogik sie zusehends bestimmte. Die späte Habsburgermonarchie war kein Relikt der Frühen Neuzeit, kein Sammelsurium lose verbundener Länder, sie entwickelte sich zum voll ausgebildeten Verfassungs- und Verwaltungsstaat mit Binnenimperialismen. Entgegen dem larmoyanten Völkerkerker-Narrativ, das nach 1918 in den Nachfolgestaaten den »Freiheitskampf« unterdrückter Nationen in den Vordergrund rückte, muss betont werden, dass nationale Ansprüche von den imperialen Institutionen durchgesetzt wurden, ja, dass Zentralgewalt und nationale Aktivisten bei der Durchsetzung der Binnenimperialismen der
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ti/Dorothee Kimmich (Hg.), Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, Konstanz 2015, S. 219–244, S. 228f.; Robert A. Kann, Die Habsburgermonarchie und das Problem des übernationalen Staates, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Verwaltung und Rechtswesen (Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. 2), Wien 1975, S. 1–56, hier S. 51–53. Vgl. Wolfgang Göderle, Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen 2016, S. 288.
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Nationen Hand in Hand arbeiteten.32 Mit dem Grundrechtskatalog von 1867 verbriefte der Staat ja das erwähnte »Sprachenzwangsverbot«, niemand solle genötigt werden dürfen, neben seiner Muttersprache eine andere landesübliche Sprache zu lernen.33 Über diese »Landesüblichkeit« entschieden aber Organe, deren Zusammensetzung wiederum von sozialen Zugangsschranken, von Besitz und Bildung, abhing: die Landtage. Somit war die Regulierungsinstanz, welche die Gleichberechtigung der »Volksstämme« praktisch umsetzte, vom Besitz- und Bildungszensus geprägt, dementsprechend favorisierte sie die Sprachen der höheren Stände. Das Verfassungsleben Cisleithaniens zeitigte somit zwei unbeabsichtigte Folgen: Die Zerstörung der althergebrachten Mehrfachidentitäten und Mehrsprachigkeiten im Alltagsleben und das Unvermögen, der neuen Mehrsprachigkeit, die durch die Mobilität innerhalb der Monarchie entstand, Rechnung zu tragen. Während das Wahlrecht für den cisleithanischen Reichsrat allmählich ausgebaut wurde – die Schaffung der fünften Wählerkurie im Jahr 1896 32
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Die Polonisierung Galiziens seit 1867 stellt das bekannteste Beispiel dar, während sich in Ungarn die magyarische Titularnation in geschickter Selbstaufstufung zum privilegierten Souveränitätsträger machte, das französische und preußische Staatsbürgerschaftsrecht rezipierte, ein ethnizistisches Zensuswahlrecht einführte und rurale anderssprachige Gruppen dazu anhielt, sich der überlegenen ungarischen Leitkultur zu assimilieren, vgl. Johannes Feichtinger, Modernisierung, Zivilisierung, Kolonisierung als Argument. Konkurrierende Selbstermächtigungsdiskurse in der späten Habsburgermonarchie, in: Christof Dejung/Martin Lengwiler (Hg.), Ränder der Moderne. Neue Perspektiven auf die europäische Geschichte (1800–1930) (Peripherien. Neue Beiträge zur Europäischen Geschichte 1), Köln/Weimar/Wien 2016, S. 147–181; László Révész, Nationalitätenfrage und Wahlrecht in Ungarn 1848–1918, in: Ungarn-Jahrbuch 3 (1971), S. 88–122. Artikel 19: »Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache. Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt. In den Ländern, in welchen mehrere Volksstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, daß ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält.« Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder (RGBl. Nr. 142/1867), im konsolidierten Verzeichnis des österreichischen Bundesrechts wird zu Artikel 19 des mehrheitlich in den Rechtsbestand der Republik überführten Grundrechtskatalogs vermerkt: »Geltung fraglich; vgl. Art. 66, 67 und 68 des Staatsvertrages von St. Germain iVm Art. 8 B-VG.«
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und die von Erwin Puchinger allegorisch verherrlichte Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts im Jahr 1907 (Abb. 1) belegen diesen Prozess –, blieb auf Landesebene alles beim Alten. Hier lebte das extrem hierarchische, Grundbesitzer und Kapitaleigentümer bevorzugende Zensus- und Kurienwahlrecht fort. Mit einem Begriff Hans Peter Hyes kann man geradezu von einer »Verkronlandung« Cisleithaniens sprechen:34 Die Ausgleiche führten dazu, dass kleine »Minoritäten« – etwa jüdische, deutschsprachige und armenische Bewohner Galiziens im Falle des dortigen Ausgleichs von 1914 – einer der beiden verhandlungsführenden Hauptnationen zugeschlagen wurden.35 Wie erwähnt entschieden bis zum Ende der Monarchie die zensusbasierten Landtage über die »Landesüblichkeit« der Sprachen: Das führte zum einen dazu, dass sich die historische Zweisprachigkeit – etwa in Kärnten – nicht in der Rechtsordnung abbildete; zum anderen hatte es zur Folge, dass mit der Binnenmigration innerhalb der Monarchie entrechtete Subproletariate von Zuwanderern aus anderen Kronländern entstanden. Eben das geschah etwa im Fall der tschechischsprachigen Arbeiterschaft des Wiener Beckens, deren Sprache im Wiener Verfassungsleben keinerlei Berücksichtigung fand.36
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Hans Peter Hye, Die Länder im Gefüge der Habsburgermonarchie, in: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hg.), Verfassung und Parlamentarismus. Teilbd. 2: Die regionalen Repräsentativkörperschaften (Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. 7), Wien 2000, S. 2427–2464. Vgl. Börries Kuzmany, Der galizische Ausgleich als Beispiel moderner Nationalitätenpolitik?, in: Elisabeth Haid/Stephanie Weismann/Burkhard Wöller (Hg.), Galizien. Peripherie der Moderne – Moderne der Peripherie, Marburg 2013, S. 123–141, hier S. 128. Vgl. Hye, Die Länder.
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Abb. 1: Erwin Puchingers Allegorie auf das allgemeine Männerwahlrecht für die Kaiser-Festnummer von Österreichs Illustrierter Zeitung, 1908.
Bildete das Ende der Monarchie eine Zäsur in der Geschichte des zentraleuropäischen Rechtsstaates? Der Zerfall der Monarchie war nicht unausweichlich. Ausgelöst wurde er durch das Militärregiment des Weltkriegs, das den Rechtsstaat suspendierte, durch Hunger und Versorgungskrisen. Endgültig herbeigeführt hat den Untergang die geopolitische Strategie der
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Westmächte.37 Als die Habsburgermonarchie 1918 in Trümmer fiel, setzten sich an ihre Stelle Vielvölkerstaaten en miniature, in denen sich die skizzierten Binnenimperialismen vielfach fortsetzten.38 Mit dem proklamierten, aber uneinlösbaren Anspruch der Versailler Ordnung, mononationale, »selbstbestimmte« Staaten zu schaffen, entstand der Nährboden für Genozid und Vertreibung, die das 20. Jahrhundert prägen sollten. Was die Nachfolgeregimes von der Habsburgermonarchie erbten, waren das Staatswesen und die Staatserwartungen,39 also das Recht, die Verwaltung und die hohen Anforderungen, welche die Bevölkerung an das behördliche Handeln und die Rechtsstaatlichkeit der neuen Gebilde stellte. Zu diesem Erbe zählten aber auch das imperiale Nationalitätenrecht, das in den Nachfolgestaaten der Zwischenkriegszeit die rassistisch-exklusive Konstruktion wesensmäßig unterschiedlicher »Volksgruppen« ermöglichte.40 Mit dem Sicherheitsabstand eines Jahrhunderts lässt sich eine sachliche Gesamteinschätzung der Monarchie formulieren, ohne über die Verfassungsstaatlichkeit die autoritären Elemente zu vergessen41
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Vgl. John Deak/Jonathan E. Gumz, How to Break a State. The Habsburg Monarchy’s Internal War, in: American Historical Review 122 (2017), S. 1105–1136; weiters Marina Cattaruzza, Das Ende Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg. Akteure, Öffentlichkeiten, Kontingenzen, in: Historische Zeitschrift 308 (2019) 1, S. 81–107; Arnold Suppan, Weltpolitische Aspekte der Auflösung der Habsburger-Monarchie 1918, in: Zbornik Nikše Stančića [Festschrift für Nikša Stančić], hg. v. Iskra Iveljić, Zagreb 2011, S. 277–288; ders., Imperialist Peace Order. St. Germain and Trianon 1919–1920, Wien 2019 und die klassische Darstellung von Joseph Redlich, Österreichs Regierung und Verwaltung im Weltkriege. Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Weltkrieges, Wien 1925. Vgl. Rudolf Kučera, Exploiting Victory, Sinking to Defeat. Uniformed Violence in the Creation of the New Order in Czechoslovakia and Austria, in: Journal of Modern History 88 (2016), S. 827–855. Vgl. Pieter M. Judson, »Where our Commonality is necessary…«. Rethinking the End of the Habsburg Monarchy, in: Austrian History Yearbook 48 (2017), S. 1–21, hier S. 19. Vgl. Oskar Besenböck, Die Frage der jüdischen Option in Österreich 1918–1921, ungedr. Disseration, Universität Wien 1992; Karl G. Hugelmann, Das Nationalitätenrecht des alten Österreich, Wien/Leipzig 1934, S. 79–286, hier S. 281, zur Einordnung vgl. Feichtinger, Kakanische Mischungen, S. 231. Vgl. Zdeněk Šamberger, Správní předzvěst rozpadu Habsburské monarchie. (Ke zrušení ústavnosti země České tzv. Anenskými patenty z 26. července 1913 – komentář k rukopisu K. Kazbundy) [Verwaltungsvorzeichen des Zerfalls der Habsburgermonarchie. (Zur Aufhebung des Verfassungswesens des Landes Böhmen durch die sogen. St. Anna-Patente vom 26. Juli 1913 – ein Kommentar zum Manuskript Karel Kazbundas)], in: Sborník archivních prací 39 (1989), S. 221–254.
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und ohne die vom Staat forcierte Nationalisierungslogik als wesensfremden Makel eines liberalen Empire kleinzureden.
Das Habsburgerreich als Werkstatt des Weltrechts: Die Reine Rechtslehre und die Episteme der habsburgischen Verwaltungsjurisprudenz Dieser Abschnitt ist dem Denkrahmen der österreichischen Verwaltungsjurisprudenz gewidmet und erörtert seine Bedeutung für die Reine Rechtslehre Hans Kelsens. Dabei steht weniger das allgemeine rechtsstaatliche Ethos der österreichischen Beamtenschaft im Mittelpunkt42 als vielmehr ihr begriffliches Rüstzeug juristischer Wirklichkeitsinterpretation, ihre »outillage mental«.43 Als Ausgangspunkt bietet sich Erich Voegelins Kampfschrift Der autoritäre Staat aus dem Jahr 1936 an. Hier hat der politische Philosoph und Jurist Voegelin seinen Lehrer Hans Kelsen eines formalistischen, »administrativen Stils« bezichtigt und diesen aus der Verwaltungspraxis der späten Monarchie hergeleitet: Österreich, so Voegelin, sei bis zur Machtübernahme durch Engelbert Dollfuß kein Staat mit konkretem volksgemäßen Verfassungssystem geworden, es sei ein »Reich« geblieben.44 Voegelins Buch war eine Apologie des austrofaschistischen Ständestaates, ein akademischer Vatermord an Kelsen. Ohne nun Voegelins negative Wertung übernehmen zu müssen, kann man die analytische Anregung aufgreifen, die im Begriff des »administrativen Stils« liegt. Dabei orientiere ich mich auch an Johannes Feichtingers geglücktem Versuch, Moritz Csákys Überlegungen zur zentraleuropäischen Pluralität45 auf die Wissensgeschichte anzuwenden: So lässt sich diese von Pluralität geprägte Ausgangslage als Laboratorium für Episteme verstehen, die entweder
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Vgl. Gerald Stourzh, Vier Fallstudien im Dienst einer Spurensuche, in: Emil Brix/ Wolfgang Mantl (Hg.), Liberalismus. Interpretationen und Perspektiven, Wien/Köln/ Graz 1996, S. 53–59. Abel Rey/Lucien Febvre, L’outillage mental. Pensée, langage, mathématique (Encyclopédie française 1), Paris 1937. Erich Voegelin, Der autoritäre Staat. Ein Versuch über das österreichische Staatsproblem [1936], hg. v. Günter Winkler, Wien/New York 1996, S. 6. Vgl. Moritz Csáky, Pluralistische Gemeinschaften. Ihre Spannungen und Qualitäten am Beispiel Zentraleuropas, in: Eve Blau/Monika Platzer (Hg.), Mythos Großstadt. Architektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa 1890–1937, München/London/New York 1999, S. 44–56.
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den Narzissmus kleiner Differenzen forcierten oder denselben reflexiv-kritisch hinterfragten und substanzbehaftete Auffassungen von Abstammungsund Kulturgemeinschaften aus ihrer Kategorienbildung verbannten.46 Ich stütze mich bei meiner Skizze auf die Arbeiten Leo Strisowers, Ernst Radnitzkys, František Weyrs und Hans Kelsens. Ohne hier die Zusammenhänge in extenso referieren zu können, möchte ich fünf tragende Charakteristika herausarbeiten: Erstens: Die Vermeidung substanzmetaphysischer Begriffe von Kultur, Religion und Volk – die Rechtsordnung, von der die habsburgische Jurisprudenz ausging, sollte ohne solche Scheingrößen auskommen.47 Zweitens: Die Identität von Staat und Rechtsordnung. Der Staatsbegriff wird von voluntaristischen und anthropomorphen Zuschreibungen gesäubert, an die Stelle des »Staatswillens« und der »Staatsräson« tritt die systemhaft zu erfassende Rechtsordnung, deren Legitimität sich aus ihr selbst speist. Die Ursprünge und den politischen Subtext dieser Denkweise in den Jahren um
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Vgl. Johannes Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848–1938, Wien 2010, S. 280f., S. 61f.; ders., Intellectual Affinities: Ernst Mach, Sigmund Freud, Hans Kelsen and the Austrian Anti-Essentialist Approach to Science and Scholarship, in: Ian Bryan/Peter Langford/John McGarry (Hg.), The Foundation of the Juridico-Political. Concept Formation in Hans Kelsen and Max Weber, New York 2016, S. 117–139. Auf dem Sockel der universalistisch-objektivistischen, formalistischen und wertabsolutistischen Philosopheme der Leibniz-Wolffschen und herbartianischen Lehren konnte so eine Positivierung der Erkenntnisform und eine Autonomisierung der Wissenschaft gelingen, in der die Forschung die politische Legitimationsfunktionen des von ihr generierten Wissens hinterfragte, statt sie zum Zweck der Selbstaufwertung der Forschenden zu affirmieren. Die zentraleuropäische Aneignung des Millschen Positivismus, die diese Transformation vom Objektivismus zur Reflexivität ermöglichte, analysiert der Beitrag von Franz L. Fillafer/Johannes Feichtinger, Habsburg Positivism. The Politics of Positive Knowledge in Imperial and Post-Imperial Austria, 1804–1938, in: Johannes Feichtinger/Franz L. Fillafer/Jan Surman (Hg.), The Worlds of Positivism. A Global Intellectual History, New York 2018, S. 191–238. Ergänzend zur Diagnose der Autonomisierung der Reinen Rechtslehre ist freilich auf die Affinität von Kelsens »Projekt« zum Liberalismus des Fin de Siècle, zu Machs Denkökonomie und zur österreichischen Schule der Nationalökonomie hinzuweisen, vgl. Gárcia-Salmones Rovira, The Project of Positivism in International Law, S. 268–273, S. 334–340. Vgl. Manfred Baldus, Hapsburgian Multiethnicity and the »Unity of the State«. On the Structural Setting of Kelsen’s Legal Thought, in: Dan Diner/Michael Stolleis (Hg.), Hans Kelsen and Carl Schmitt. A Juxtaposition, Gerlingen 1999, S. 9–12.
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1800 habe ich schon anhand der Kodifikationstätigkeit Franz von Zeillers aufgezeigt.48 Drittens: Mónica García–Salmones Rovira hat in ihrem Buch über den Rechtspositivismus feinsinnig die Deteleologisierung des Privatrechts und die Teleologisierung des öffentlichen Rechts beschrieben, die in Kelsens Lehre gipfelte. Das öffentliche Recht wird als interessenbehaftet beschrieben, während das Privatrecht als begründungsimmanente, weltrechtsfähige Universalie erscheint. Auch hier geschah die Weichenstellung schon um 1800 im Zuge der ABGB–Kodifizierung.49 Viertens: Die Deterritorialisierung von Souveränität. Der Souveränitätsbegriff wird seines gebietshoheitlichen Realsubstrats entkleidet, Souveränität wird zu einem Begriff der Jurisdiktionsordnung. Sein Kerngehalt ist nicht mehr die Territorialhoheit, sondern die amtliche und judikative Zuständigkeit, die »Kompetenz« – auf solche Weise lassen sich Umfang und Zusammensetzung eines Rechtsraums elastisch gestalten.50 Damit löste sich 48
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Siehe oben u. weiters Hans Kelsen, Gott und Staat [1922], in: Ernst Topitsch (Hg.), Staat und Naturrecht. Aufsätze zur Ideologiekritik, Neuwied 1964, S. 29–55, hier S. 54: »Sind es stets die nach der jeweiligen Staatsordnung Herrschenden gewesen, die jedem Versuch einer Änderung dieser Ordnung mit Argumenten aus dem Wesen des Staates entgegentraten, den zufällig historisch gegebenen Inhalt der Staatsordnung für absolut erklärten, weil er ihren Interessen entsprach, so beseitigt die Lehre, die den Staat als die jeweiligen ihrem Inhalte nach veränderliche und stets veränderbare Rechtsordnung erklärt und so dem Staat kein anderes Kriterium beläßt als das formale einer höchsten Zwangsordnung, eines der politisch wirksamsten Hindernisse, die einer Staatsreform im Interesse der Beherrschten zu allen Zeiten in den Weg gelegt wurden.« Vgl. František Weyr, Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems, in: Archiv für öffentliches Recht 23 (1908), S. 529–580, hier S. 558: »Eine Privatschuld zahle ich im alleinigen Interesse meines Gläubigers, eine öffentliche Abgabe im ›allgemeinen‹ Interesse. Da es aber keine einem Gegenstande oder einem Verhältnisse (sc. transzendental) immanenten Zwecke und noch weniger Interessen gibt, so ist diese Unterscheidung die labilste, die man sich denken kann. Ob etwas in meinem Interesse ist oder geschieht, kann authentisch nur ich selbst behaupten, und da die ›Allgemeinheit‹, das ›Gemeinwesen‹ trotz der organischen Staatslehre sich nie selbst über seine Zwecke und Interessen äußern kann, so bleibt es der Entscheidung der einzelnen Beobachter anheimgestellt, ob sie etwas als im ›allgemeinen‹ Interesse bestehend ansehen wollen oder nicht.« Vgl. Kelsen, Gott und Staat, S. 46f. und Gárcia-Salmones Rovira, The Project of Positivism, S. 321–355 (»Cosmopolitanism of Contents as Administration«). Dazu die anregende Analyse von Mónica García-Salmones Rovira, Early Twentieth-Century Positivism Revisisted, in: Anne Orford/Florian Hoffmann/Martin Clark
Das Imperium als Rechtsstaat
die Unterscheidung zwischen dem nationalen Rechtssystem, zwischen dem Staat und der Weltrechtsordnung auf, wie der Wiener Verwaltungsjurist Ernst Radnitzky, Sektionschef im Finanzministerium, im Jahr 1906 festhielt: »Der Mikrokosmos, der dem Makrokosmos ›Staat‹ entspricht, ist dann weder das einzelne menschliche Individuum, noch die Person des Privatrechts, sondern das für einen gewissen Sprengel mit imperium ausgestattete Amt.«51 Der Autor, den Kelsens Mentor Leo Strisower als »unseren trefflichen Radnitzky«52 bezeichnete, benützte die Habsburgermonarchie als Modell für eine globale Völkerrechtsordnung: »Der innerstaatliche Vorgang, der der Begründung und Auflösung von Staaten entspricht, ist demnach die Errichtung und Aufhebung von Aemtern (und Behörden) mit örtlicher Kompetenz. Dies zeigt sich nirgends deutlicher, als in einem polyglotten Staate, in dessen Inneren derselbe Nationalitätsgedanke, der die Haupttriebfeder der modernen Staatenbildungen ist, das Streben nach nationaler Autonomie und einer entsprechenden Gestaltung des Behördensystems erzeugt. Wenn Böhmen und Tirol jemals in ein deutsches und ein czechisches resp. italienisches Verwaltungsgebiet zerlegt werden sollten, so würden diese innerstaatlichen Vorgänge die vollkommenste Analogie zur Loslösung Belgiens von den Niederlanden und ähnlichen Erscheinungen der Staatengeschichte darbieten.«53 Fünftens: Über die Legalität des geschöpften Rechtes geben Verfahren zur Prüfung der Normerzeugung Auskunft, deren auf Formalkriterien gegründetes Fehlerkalkül sich wesentlich am Vorbild des korrekt ergangenen Verwaltungsaktes orientiert.54
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(Hg.), The Oxford Handbook of the Theory of International Law, Oxford 2016, S. 173–191, hier besonders den Abschnitt »The Immanent Universalism of the Austrians«, S. 184–190. Ernst Radnitzky, Die rechtliche Natur des Staatsgebietes, in: Archiv für öffentliches Recht 20 (1906), S. 313–355, hier S. 352. Radnitzky (1862–1939), ein Gymnasialfreund Arthur Schnitzlers, war Ministerialsekretär im Finanzministerium. Zu seiner Kritik am organizistischen Staatsdenken Rudolf Kjelléns vgl. Rainer Sprengel, Kritik der Geopolitik. Ein deutscher Diskurs 1914–1944, Berlin 1996, S. 29. Leo Strisower, Die vermögensrechtlichen Maßregeln gegen Österreicher in den feindlichen Staaten. Ihre internationalrechtliche Wirkung und Zurückweisung, Wien 1915, S. 29. Radnitzky, Die rechtliche Natur des Staatsgebietes, S. 352. Vgl. Gerhart Wielinger, Mutmaßungen über einen Zusammenhang zwischen der Denkweise der österreichischen Verwaltung und der Wiener Schule der Rechtstheo-
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In einem autobiografischen Essay aus dem Jahr 1947 hat Hans Kelsen die lokale Bedingtheit der Basisepisteme der Reinen Rechtslehre hervorgehoben. Indem er die Verwurzelung dieser Denkform im habsburgischen Kontext betonte, hat Kelsen auch angedeutet, worin ihre Funktion als Keimzelle einer Weltrechtsordnung liegt: »Angesichts des oesterreichischen Staates, der sich aus so vielen nach Rasse, Sprache, Religion und Geschichte verschiedenen Gruppen zusammensetzte, erwiesen sich Theorien, die die Einheit des Staates auf irgendeinen sozial-psychologischen oder sozial-biologischen Zusammenhang der juristisch zum Staat gehörigen Menschen zu gruenden versuchten, ganz offenbar als Fiktionen. Insofern diese Staatstheorie ein wesentlicher Bestandteil der Reinen Rechtslehre ist, kann die Reine Rechtslehre als eine spezifisch oesterreichische Theorie gelten.«55
Fazit Was waren die spezifischen Merkmale der Habsburgermonarchie als Rechtsraum, welches Erbe hinterließ der Orbis Juris Austriacus? Die Monarchie besaß eine allgemeingültige Privatrechtsordnung, die im 18. Jahrhundert entstand und zwei ältere einheitsstiftende Faktoren – die katholische Religion und die Integration durch die Dynastie – allmählich beiseitedrängte. An der Etablierung dieser einheitlichen Privatrechtsordnung ist zweierlei bemerkenswert: Erstens der Kontext der Revolutionsabwehr, in dem das liberale Privatrecht des ABGB mit seiner Prämisse der allgemeinen Rechtsfähigkeit entstand. Die Autonomisierung des Rechts von Gott und vom Monarchen, die zu einem begründungsimmanenten und intrasystematisch fortbildbaren
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rie, in: Erhard Mock/Csaba Varga (Hg.), Rechtskultur – Denkkultur. Ergebnisse des ungarisch-österreichischen Symposiums der internationalen Vereinigung für Rechtsund Sozialphilosophie 1987, Stuttgart 1989, S. 165–175; Ota Weinberger/Vladimír Kubeš (Hg.), Brněnská škola právní teorie (Die Brünner rechtstheoretische Schule), Praha 2003 [dt. Auswahl Wien 1980]; Franz L. Fillafer, Joseph von Sonnenfels, in: Die Soziologie und ihre Nachbardisziplinen im Habsburgerreich. Ein internationales Handbuch zur Geschichte der Kulturwissenschaften in Zentraleuropa, hg. v. Karl Acham unter Mitarbeit von Georg Witrisal, Wien 2019, S. 90–96. Hans Kelsen, Autobiographie [1947], in: Hans Kelsen Werke. Bd. 1: Veröffentlichte Schriften 1905–1910 und Selbstzeugnisse, hg. v. Matthias Jestaedt, Tübingen 2007, S. 29–132, hier S. 59f.
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Normsystem führte, glückte den Kodifikatoren rund um Franz von Zeiller eben deshalb, weil sie das natürliche Privatrecht von Staatszweckbestimmungen ebenso wie von Vorgaben über die Glückseligkeit und die Bürgerrechte befreiten. Zweitens fällt auf, dass das Rechtssystem der Habsburgermonarchie – anders als jenes seiner Rivalen, der Großreiche der Neuzeit – keine rechtliche Diskriminierung kolonisierter Bevölkerungsteile kannte. Im Unterschied zum Britischen Empire und zum Romanov-Reich, die Spezialgerichtsbarkeiten und Spezialkodifikationen für ihre subalternen Untertanen etabliert hatten, waren die Bürger Cisleithaniens vor dem Gesetz gleich.56 Cisleithanien vermachte der Nachwelt eine zwiespältige Hinterlassenschaft. Zugespitzt kann man festhalten, dass die Monarchie als plurikultureller Verfassungsraum zwei Erbstücke hervorbrachte: eine nationalisierte Rechtsordnung und eine supranationale Rechtslehre. Zunächst zur Rechtsordnung: Die Verfassungsordnung Cisleithaniens von 1867 war individualrechtlich orientiert, als Rechtsträger erkannte sie die Individuen und historischen Länder an. Die Rechtssubjektsfähigkeit der gleichberechtigten, sprachnational definierten »Volksstämme« ergab sich erst aus der Judikatur des Reichsgerichts und der Praxis staatlicher Bevölkerungserfassung. So wurde der Staat zum Agenten einer Nationalisierungslogik, die in eine Befriedung durch Segregation mündete. Durch den Ethnoproporz der »Ausgleiche« wurden die Bevölkerungen der Kronländer in Sprachgruppen aufgeteilt und dabei kleinere und nicht »landesübliche« Gruppen den Ausgleich schließenden Titularnationen zugeschlagen. Daran zeigt sich: Die strategische Selbstviktimisierung der Vertreter der verschiedenen Nationalbewegungen in der Spätphase der Monarchie hat in Vergessenheit geraten lassen, dass sie ihre Binnenimperialismen dank der staatlichen Strukturen und Institutionen durchsetzen konnten. Zudem überlebte das imperiale Nationalitätenrecht vielfach das Ende der Monarchie, in der Zwischenkriegszeit ermöglichte es den Nachfolgestaaten, ethnonationale Minderheiten zu konstruieren und zu diskriminieren.
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Vgl. John W. Slocum, Who, and When, Were the Inorodtsy? The Evolution of the Category of »Aliens« in Imperial Russia, in: The Russian Review 57 (1998), S. 173–190; Edwin Hirschmann, »White Mutiny.« The Ilbert Bill Crisis and the Genesis of Indian National Consciousness, New Delhi 1980; Benno Gammerl, Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867–1918, Göttingen 2010.
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So ergaben sich aus der Plurikulturalität des Rechtsraums differenzbetonende Bewältigungsstrategien, die in eine Logik der Nationalisierung mündeten. Zugleich, und das leitet über zur Rechtslehre, ermöglichte die imperiale Diversität Zentraleuropas aber auch das Entstehen einer alternativen Rechts- und Staatsauffassung, die eben anti-kulturalistisch war, also kulturneutrale Begriffe, Kategorien und Verfahrensformen entwickelte. Die fünf Elemente dieses habsburgischen juristischen Denkstils, der sich im Jahrhundert zwischen Zeiller und Kelsen herausbildete, habe ich skizziert. Zu nennen sind hier: der Primat der Funktion gegenüber der Substanz, also die Ablehnung von Legitimationsweisen des Staates, die sich auf Religion, Kultur und die Abstammungsgemeinschaft gründeten; die Identität von Staat und Rechtsordnung; die angenommene Universalität und Allgemeinheit des Privatrechts sowie Partikularität und Interessengebundenheit des öffentlichen Rechts; die Deterritorialisierung von Souveränität, also die Ablösung des Souveränitätsbegriffs von seinem Territorialsubstrat und seine Herleitung aus der Jurisdiktionskompetenz; sowie, zuletzt, die Formalisierung der Normprüfung; das heißt: die Feststellung der Gültigkeit einer Norm orientierte sich an äußerlichen Merkmalen, sie war den Prüfverfahren für einen ordnungsgemäß ergangenen Verwaltungsakt nachgebildet. Abschließend noch einige Bemerkungen zu einem Aspekt, der sich angesichts des Themas »Imperium und Rechtsstaat« aufdrängt: zur Vergleichbarkeit des Habsburgerreiches mit der gegenwärtigen Europäischen Union.57 Der Bezug zur Habsburgermonarchie wurde unmittelbar nach 1989 mit Vorliebe hergestellt, als die Vision der EU-Osterweiterung ein neues »Mitteleuropa« zu verheißen schien. Heute findet er sich negativ in den Abwehrdiskursen polnischer und ungarischer Provenienz gespiegelt, die sich gegen das verordnete Weltbürgertum und die angeblich von den EU-Behörden ausgehende rechts-
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Vgl. Matthias Weber, Ein Modell für Europa? Nationalitätenpolitik in der Habsburgermonarchie – Österreich und Ungarn 1867–1914 im Vergleich, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), S. 651–672; Jan Zielonka, Europe as Empire. The Nature of the Enlarged European Union, Oxford 2007 und die anschließende Debatte: Hartmut Behr/Yannis A. Stivachtis (Hg.), Revisiting the European Union as an Empire, London 2016; Risto Heiskala/Jari Aro (Hg.), Policy Design in the European Union. An Empire of Shopkeepers in the Making?, Basingstoke, Hampshire [u.a.] 2018; Warwick Armstrong/James Anderson (Hg.), Geopolitics of European Union Enlargement. The Fortress Empire, Abingdon/New York 2007.
Das Imperium als Rechtsstaat
politische Fremdbestimmung richten.58 Aus dem Mitteleuropa der 1980er und 1990er Jahre ist Viségrad geworden.59 Der Vergleich der Habsburgermonarchie mit der Europäischen Union ist in mancher Hinsicht gerechtfertigt und ergiebig: Er sensibilisiert für die Mehrschichtigkeit von Rechtsordnungen und den Pluralismus von Normsystemen in heterogenen Staatsgebilden. Der Rekurs auf historische Großreiche wirft aber das hochaktuelle Problem auf, welche repräsentativen Organe ein intensiv verflochtenes, vielstufig integriertes Gemeinwesen benötigt, um sich über gesellschaftliche und politische Leitlinien verständigen und diese gestalten zu können. Die heutige EU ist eher von einer technokratisch gelenkten ökonomischen Integration auf Autopilot geprägt, die dafür sorgt, dass sich die eigentlich akuten Fragen nach einer Verfassungsordnung supranationaler Volkssouveränität und nach dem Zusammenhang von Sozialstaatlichkeit und Demokratie in der Währungsunion gar nicht erst stellen.60 Durch den lässig-oberflächlichen Vergleich der EU mit der Habsburgermonarchie läuft man demnach eher Gefahr, spezifisch modernen Formen der
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Vgl. Ivan Krastev, Europadämmerung. Ein Essay, Frankfurt a.M. 2017. Über die antiimperial-ethnonationalistische »Kuruzen«-Rhetorik der Orbán-Regierung vgl. Péter Techet, Az imperializmus dicsérete [Lob des Imperialismus], in: Maygar Nemzet, 22.8.2015, https://magyarnemzet.hu/velemeny-archivum/2015/08/az-imperializmusdicserete. In der Antrittsrede, die der ungarische Präsident János Áder zu Beginn seiner zweiten Amtszeit im Mai 2017 hielt, zitierte er Ferenc Deáks Verteidigung des Ausgleichs von 1867, um Ungarns Verhältnis zur EU zu beschreiben: Mehr von den verfassungsmäßigen Rechten und Freiheiten Ungarns zu opfern, als die Festigung des Gesamtreiches unbedingt erfordere, sei weder zweckmäßig noch gerecht, vgl. Áder esküje: ha Deák kiállt a Habsburg Birodalom mellett, mi is kiegyezhetünk az EU-val [Áders Eid: Wenn Deák für die Habsburgermonarchie eintrat, können wir uns auch mit der EU einigen], 8.5.2017, https://nemzeti.net/ader-eskuje-ha-deak-kiallt-a-habsburg -birodalom-mellett-mi-is-kiegyezhetunk-az-eu-val-9069436.html; Az EU és a Habsburg monarchia [Die EU und die Habsburgermonarchie], Független Hírügynökség, 31.8.2019, https://fuhu.hu/az-eu-es-a-habsburg-monarchia (abgerufen am 15.1.2023). Vgl. Tibor Fischer, Look behind you, Brussels. The old Habsburg nations want change and they’re not going anywhere, in: The Telegraph, 19.12.2017, https://www.telegraph.co.uk/news/2017/12/19/look-behind-brussels-old-habsburg-empire-wants-chan ge (abgerufen am 15.1.2023). Vgl. Jürgen Habermas, Die Spieler treten ab. Kerneuropa als Rettung: Ein Gespräch mit Jürgen Habermas über den Brexit und die EU-Krise, Interview mit Thomas Assheuer, in: Die Zeit, 17.7.2016.
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Machtausübung den Anschein des Althergebrachten zu verleihen.61 Die späte Habsburgermonarchie war ein Verfassungsstaat mit einem weitgehend funktionierenden parlamentarischen System. Hier lässt die EU noch viele Wünsche offen. Das leichtfertige Vergleichen von Äpfeln und Birnen im Feuilleton, das der EU als multinationalem Empire gerne die Lektionen von 1918 vorrechnet, verschleiert aber eine andere, strukturell »imperiale« Dimension der Union – jene Tendenz nämlich, die der Wiener Jurist Alexander Somek als »Generalisierung der Fremdheit«62 bezeichnet hat: Die Volkssouveränität der Bürger tritt gegenüber der wünschenswerten Gleichberechtigung aller niedergelassenen Bewohner, die vor Diskriminierung geschützt werden, zurück. Niemand darf aufgrund seiner Religion, Herkunft oder Hautfarbe diskriminiert werden. Zugleich schafft die Personenfreizügigkeit aber eine Dispositionsmasse politisch entmündigter Arbeitsnomaden und Subproletarier aus anderen EU-Ländern. Es ist nicht beabsichtigt, diese niedergelassenen Bewohner zweiter Klasse zu Staatsbürgern aufzuwerten – sie genießen das Recht auf Selbstvermarktung; jenes auf Mitbestimmung des Gemeinwesens, in dem sie leben, bleibt ihnen freilich versagt.
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Vgl. die Bemerkungen der amerikanischen Historikerin Pamela Kyle Crossley, in: AHR Conversation: Explaining Historical Change; or The Lost History of Causes, in: American Historical Review 120 (2015), S. 1369–1432, S. 1404: »Continuity and change can also be comforting constructs, and again I see this in relation to ›empire‹. Since the invasion of Iraq, it has been fashionable to refer to the United States as an ›empire‹, or as exercising ›imperial‹ power in the fashion of Pax Americana (which surely by now can be read only as bitter irony). Indeed, there has sprung up a cottage industry of empire-enablers (some of them historians) who invoke ›empire‹ as a way of suggesting that there is something traditional and familiar (and thereby legitimate) about dismantling foreign governments and constraining dissent at home. In fact, there is little in current patterns of decision-making and benefit calculation that resembles what happened under the historical empires, and the sense of geographical rootedness of empires – including the archetype of spatial center and periphery – has little to do with patterns of power in the contemporary world. The use of ›empire‹ to characterize these behaviors falsly domesticates practices that are novel and probably far more determinative of our individual fates than any historical empire ever was. ›Continuity‹ and ›discontinuity‹ have been turned on their heads – because of the power of ›continuity‹ to console and of ›discontinuity‹ to intimidate.« Alexander Somek, The Cosmopolitan Constitution, Oxford 2014.
Imperiales Wissen: Zensus und Karte Landesvermessungen und Volkszählungen im Habsburgerreich in der Sattelzeit (1750–1850) Wolfgang Göderle
Der vorliegende Beitrag skizziert eine Wissensgeschichte zu den grundlegenden Formationen von Verwaltungswissen im Habsburgerreich zwischen dem späten 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts.1 Ausgehend von vorliegenden Arbeiten zu den Landesaufnahmen und Volkszählungen soll eine Annäherung an die Erzeugung, Speicherung und Nutzung von Wissen als imperialer Herrschafts-, Steuerungs- und Integrationsressource erfolgen.2 Einschränkend muss an dieser Stelle ergänzt werden, dass sich die Erkenntnisinteressen dieses Beitrags in einem Terrain bewegen, das für den untersuchten Zeitraum nach wie vor viele Forschungsdesiderata aufweist.3 1
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Zum Begriff Wissensgeschichte vgl. Daniel Speich Chassé/David Gugerli, Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung, in: Traverse 1 (2012), S. 85–100; Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011) 1, S. 159–172; Jakob Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der »Wissensgesellschaft«, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004) 4, S. 639–660. Umsetzungen wissenshistorischer Forschungsprogramme finden sich etwa bei Daniel Speich Chassé, Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie, Göttingen 2013 sowie Jakob Vogel, Ein schillerndes Kristall. Eine Wissensgeschichte des Salzes zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Köln/Wien/Weimar 2007. Für die Frühneuzeit hat sich dabei der Informationsbegriff etabliert, für das 19. Jahrhundert jener des Datums im Plural als Daten, vgl. Arndt Brendecke/Markus Friedrich/ Susanne Friedrich, Einleitung, in: dies. (Hg.), Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, Berlin 2008, S. 11–45; Christine von Oertze, Die Historizität der Verdatung: Konzepte, Werkzeuge und Praktiken im 19. Jahrhundert, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 25 (2017) 4, S. 407–434. Deutlich wird das etwa bei Harm-Hinrich Brandt, Verwaltung als Verfassung – Verwaltung und Verfassung? Zum historischen Ort des ›Neoabsolutismus‹ in der Geschichte
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In den letzten zehn Jahren hat die Forschung zu Zentraleuropa grundlegende Impulse aus mehreren makrohistorischen Feldern erhalten – zu denen die Globalgeschichte und die New Imperial History zu zählen wären –, auch aus Bereichen, die traditionell nicht zu den Innovationsreservoirs des Gebietes zu zählen sind.4 Dazu gehören insbesondere an Praktiken und Materialität interessierte Zugänge, die sich sowohl in den angrenzenden Feldern einer Neuen Verwaltungsgeschichte wie auch einer zuletzt stärker profilierten Wissensgeschichte etabliert haben.5 Dabei hat besonders die Nutzbarmachung eines analytischen Empire-Begriffs Zugang zu neuen Forschungsarchitekturen,
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Österreichs, in: ders. (Hg.), Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff, Wien/Köln/ Weimar 2014, S. 11–34. Vgl. dazu grundlegend Pieter M. Judson, The Habsburg Empire. A New History, Cambridge, Mass./London 2016; Benno Gammerl, Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867–1918 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 189), Göttingen 2010; Jörn Leonhard/Ulrike von Hirschhausen, Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert (FRIAS Rote Reihe 1), Göttingen 2 2011; vgl. auch die kritische Perspektive bei Franz Leander Fillafer, Imperium oder Kulturstaat? Die Habsburgermonarchie und die Historisierung der Nationalkulturen im 19. Jahrhundert, in: Philipp Ther (Hg.), Kulturpolitik und Theater. Die kontinentalen Imperien in Europa im Vergleich, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 23–54, hier S. 25ff. bzw. den erschöpfenden Gesamtüberblick bei Stefan Nellen/Thomas Stockinger, Staat, Verwaltung und Raum im langen 19. Jahrhundert, in: Administory. Journal for the History of Public Administration/Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte 2 (2017), S. 3–34 und Jürgen Osterhammel, »Imperiologie«? Neues nach der New Imperial History, in: Neue Politische Literatur 67 (2022) 3, S. 229–248. Deborah R. Coen, Vienna in the Age of Uncertainty. Science, Liberalism, and Private Life, Chicago 2007; John Deak, Forging a Multinational State. State Making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War, Stanford 2015; Johannes Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848–1938, Bielefeld 2010; Wolfgang Göderle, Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen 2016; Jason D. Hansen, Mapping the Germans. Statistical Science, Cartography, & the Visualization of the German Nation, 1848–1914, Oxford 2015; Thomas Stockinger, Dörfer und Deputierte. Die Wahlen zu den konstituierenden Parlamenten von 1848 in Niederösterreich und im Pariser Umland (Seine-et-Oise) (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 57), Wien/München 2012; Anton Tantner, Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie, Innsbruck 2007.
Imperiales Wissen: Zensus und Karte
Fragestellungen und Modellierungen eröffnet, die zunächst auf breiterer Ebene zu einer Neubewertung von Teilaspekten zentraleuropäischer Geschichte im 19. Jahrhundert geführt haben.6 Dies ist insbesondere der New Imperial History mit der ihr immanenten Abkehr von der Konzentration auf territoriale Festlegungen von Forschungsschwerpunkten zu verdanken, was eine Überwindung nationalgeschichtlicher Perspektiven erlaubt und zu überraschenden und weitreichenden Fragestellungen zu historischen Kontingenzen ermuntert hat.7 Darüber hinaus laden vor allem die großen makrohistorischen Interpretationsangebote dazu ein, etablierte Epochengrenzen in den Hintergrund treten zu lassen und gezielt nach Kontinuitätslinien, Narrativen und Prozessen zu suchen, die über diese hinweglaufen.8 Von diesem Gesichtspunkt aus ist insbesondere nach den Bedingungen und Verhältnissen zu fragen, die maßgeblich dazu beigetragen haben, etablierte und langlebige Narrative hervorzubringen und zu stabilisieren, die imperiale Geschichten inner- und außerhalb Zentraleuropas vornehmlich als nationale Erzählungen inszeniert und tradiert haben.9
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Ein solcher findet sich bereits bei Dominic Lieven, Empire. The Russian Empire and its Rivals, New Haven 2001, S. 158–198. Als zentrale Texte einer New Imperial History gelten insb. Jane Burbank/Frederick Cooper, Imperien der Weltgeschichte. Das Repertoire der Macht vom Alten Rom und China bis heute, Frankfurt a.M./New York 2012; John Darwin, Der imperiale Traum. Die Globalgeschichte großer Reiche 1400–2000, Frankfurt a.M./New York 2010. Für einen Überblick vgl. auch Durba Ghosh, Another Set of Imperial Turns?, in: American Historical Review 117 (2012) 3, S. 772–793. Für den deutschsprachigen Raum vgl. Ulrike von Hirschhausen, A New Imperial History? Programm, Potenzial, Perspektiven, in: Geschichte und Gesellschaft 41 (2015) 4, S. 718–757. Vgl. Darwin, Der imperiale Traum. Zu dieser Diskussion vgl. auch Thomas Winkelbauer, Einleitung: Was heißt »Österreich« und »österreichische Geschichte«?, in: ders. (Hg.), Geschichte Österreichs, Stuttgart 2015, S. 15–31; Gerald Stourzh, Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990–2010, Wien 2011; Erich Zöllner, Der Österreichbegriff. Formen und Wandlungen in der Geschichte, Wien/München 1988. Sehr luzide dazu Franz Leander Fillafer/Thomas Wallnig (Hg.), Josephinismus zwischen den Regimen. Eduard Winter, Fritz Valjavec und die zentraleuropäischen Historiographien im 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2016, Einleitung u. der erste Beitrag von Fillafer; Bálint Varga, Writing imperial history in the age of high nationalism. Imperial historians on the fringes of the Habsburg monarchy, in: European Review of History/Revue européenne d’histoire 24 (2017) 1, S. 80–95.
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Normative Staatlichkeit als Meistererzählung Das Paradigma der Nationalstaatlichkeit lässt sich für Zentraleuropa an Forschungslücken und -desiderata festmachen, die im diffusen Übergang zwischen dem frühneuzeitlichen Alten Reich und dem Kaiserstaat besonders deutlich zu Tage treten.10 Zugleich können vorherrschende analytische Entwürfe von Imperialität, die – wie Stephan Wendehorst bemerkt – häufig der definitorischen Schärfe entbehren, die Entwicklungen in der zentraleuropäischen Sattelzeit nicht umfassend erklären.11 Ältere Konzepte wie jenes des Fiscal-Military State oder des aus unterschiedlichen politischen Entitäten zusammengefügten Kompositstaates vermögen hier in einzelnen Feldern für begrenzte Zeiträume erheblich mehr Erklärungspotenzial zu entfalten.12 Für die Sattelzeit und insbesondere deren zweite Hälfte lässt sich in Bezug auf das Habsburgerreich beobachten, dass jeder Versuch, State-BuildingProzesse analytisch auf einen Begriff zu bringen, zum Scheitern verurteilt ist: Vom Alten Reich zum Kaiserstaat, von den Zentralstellen zu den bürokratischen Strukturen des Vormärz und der 1850er Jahre lassen sich umfassende Veränderungen und Verschiebungen beobachten, auf politischer, administrativer, sozialer und kultureller Ebene. Diesem Eindruck stellt die jüngere Forschung den Befund entgegen, dass insgesamt überraschend starke Kontinuitätslinien die Entwicklung neuer Instrumentarien staatlichen respektive imperialen Handelns prägen.13 Ein defensives State-Building würde sich somit hintergründig vollziehen, über den sukzessiven Ausbau von Institutionen.14 Dabei wäre insbesondere die Frage nach den inneren Dynamiken von solchen 10 11
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Exemplarisch arbeitet dieses Paradigma etwa Barbara Stollberg-Rillinger, Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit, München 2017, S. XIIIff. heraus. Vgl. Stephan Wendehorst, Altes Reich, »Alte Reiche« und der imperial turn in der Geschichtswissenschaft, in: ders. (Hg.), Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien. Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation, Berlin/München/Boston 2015, S. 12–26, hier S. 14ff. Vgl. William Godsey, The Sinews of Habsburg Power. Lower Austria in a Fiscal-Military State 1650–1820, Oxford 2018. Sehr luzide dazu Brigitte Mazohl, Vom Tod Karls VI. bis zum Wiener Kongress (1740–1815), in: Winkelbauer (Hg.), Geschichte Österreichs, S. 290–358, hier S. 290ff. Vgl. Brandt, Verwaltung als Verfassung – Verwaltung und Verfassung?; Waltraud Heindl, Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich, Wien/Köln/ Weimar 2013; Deak, Forging a Multinational State; Judson, The Habsburg Empire. Der Begriff eines »defensiven State-Building« entstammt einem Gespräch mit Klemens Kaps.
Imperiales Wissen: Zensus und Karte
Institutionen aufzuwerfen, nach deren Eigenlogiken und autopoietischen Potenzialen.15 Der vorliegende Beitrag geht dieser Hypothese anhand der Beobachtung nach, wonach staatliches bzw. imperiales Wissen als Legitimitätsquelle und als Fundament für wesentliche Repräsentationen des Staates und dessen Identitätsstiftung – besonders nach 1867 – bedeutend war.16 Er setzt zeitlich deutlich früher an, um aufzuzeigen, welche langfristigen Kontinuitätslinien und Abläufe daran beteiligt waren, dabei werden zwei wesentliche Prozesse imperialer bzw. staatlicher Wissenserzeugung im Habsburgerreich in den Fokus gerückt und über ein knappes Jahrhundert zwischen 1750 und 1850 verfolgt: die Landesvermessung und die Volkszählungen.17 Mit den Großoperationen Landesaufnahmen und Zensus ist zunächst der Rahmen abgesteckt, in dem sich imperiale Wissenserzeugung, -verwaltung und -dissemination in einem sattelzeitlichen Kontext zutrug.18 Außerdem verdeutlichen diese beiden Maßnahmen im Verwaltungszusammenhang, mit welchen neuartigen logistischen, personellen und organisatorischen Zumutungen imperiale Herrschaft verknüpft war. Zugleich soll in diesem Kontext die Akteursebene im Auge behalten werden, ebenso die Veränderung in der sozialen Stellung der an diesen Aktivitäten beteiligten Personen, die als Konsequenz aus der imperialen Praxis resultierte.
Administration und Wissenschaft Das Begriffspaar »Administration und Wissenschaft«, das im administrativstatistischen Diskurs der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine
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Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984. Vgl. Hansen, Mapping the Germans, Kapitel I und IV; Deborah R. Coen, Climate in Motion. Science, Empire, and the Problem of Scale, Chicago 2018, S. 44–62. Diese Festlegung verdankt sich nicht zuletzt Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York 1983 (2 2006), S. 163–186. Andersons Beobachtungen wären für imperiale Staatlichkeit auf ihre Relevanz hin zu überprüfen. Zur Sattelzeit vgl. Reinhart Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: Werner Conze (Hg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, S. 10–28.
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nach drei Seiten hin – zur Öffentlichkeit, in die Verwaltung und in eine wachsende wissenschaftliche Community hinein – wirkende Stabilisierungs- und Verankerungsleistung entfaltete, verdient eine stärkere Historisierung als ihm häufig zuteil wird, zumal seine erfolgreiche Anwendung zur Legitimation immer weiter reichender statistischer Erhebungen und Auswertungen den Kontext der Veränderung von imperialer Herrschaft über das Jahrhundert zwischen ca. 1750 und 1850 sehr gut widerspiegelt.19 Mit »Administration und Wissenschaft« wurden zwei aufeinander bezogene und voneinander abhängige Sphären begrifflich genau umrissen und bezeichnet, gemeinsam bildeten die beiden Begriffe aber auch ein scharfes und zweischneidiges Messer, mit dem geschickte Akteure je nach Bedarf den jeweils einen oder anderen Bereich auf Distanz zu halten vermochten.20 Diese Fähigkeit war angesichts der Prekarität und Instabilität der beteiligten Felder dringend nötig.21 Im Kontext der Verwaltungsstatistik war Wissenschaft im Habsburgerreich um 1850 nicht nur eine essentielle Voraussetzung zur Umsetzung des avisierten Verwaltungshandelns, die ihr inhärente Autonomie und die Unmöglichkeit, sie vollständig durch die Administration zu kontrollieren, machte sie zugleich zu einer permanenten Bedrohung für die geltende politische – aber auch religiöse – Ordnung.22 Ihre Repräsentanten in der staatlichen Zen-
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Die Phrase »für Administration und Wissenschaft« zieht sich markant durch einschlägige zentraleuropäische Verwaltungsdiskurse der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – etwa die Protokolle der k.k. statistischen Zentralkommission – und wurde hauptsächlich durch Angehörige der statistischen Institutionen bemüht, um Erhebungsinteressen und -maßnahmen gegenüber Zentralstellen (also Ministerien) zu legitimieren, die durch reine Verwaltungsinteressen womöglich nicht gänzlich gerechtfertigt werden konnten, vgl. Göderle, Zensus und Ethnizität, S. 113ff. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Bürgertum vgl. u.a. die Studie von Coen, Vienna in the Age of Uncertainty, S. 5ff. Zur Frage der Stabilisierung vgl. Bruno Latour, Von der Fabrikation zur Realität. Pasteur und sein Milchsäureferment, in: ders., Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a.M. 2002, S. 137–174. Zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen Herrscher und Statistikern im Habsburgerreich vgl. Denkschrift der k.k. statistischen Zentralkommission zur Feier ihres fünfzigjährigen Bestandes, Wien 1913, S. 11ff. Im Detail aufgearbeitet findet sich die Situation für Preußen bei Michael C. Schneider, Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt a.M./New York 2013. Die Quellenlage für das Habsburgerreich ist wesentlich schlechter als für Preußen, aus den vorliegenden Fragmenten lässt sich aber schließen, dass zentrale Konfliktlinien zwischen den Beamten und dem Herrscher analog verliefen.
Imperiales Wissen: Zensus und Karte
tralverwaltung, die bürgerlichen Beamten, waren stets zu einem behutsamen Abwägen genötigt, sie waren Diener zweier Herren; zwischen den internationalen statistischen Kongressen und kaiserlichen Wünschen hatten sie ein durchaus heikles Vermittlungswerk zu betreiben.23 Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Durch die Sattelzeit hindurch vollzog sich im Habsburgerreich ein langsamer, aber sehr umfassender sozialer Wandel.24 Beginnend mit den Österreichischen Erbfolgekriegen und den Schlesischen Kriegen ab den frühen 1740er Jahren sah sich Maria Theresia mit dem Problem konfrontiert, dass sie keinen direkten Zugriff auf die enormen Wissensformationen hatte, über die die habsburgischen Erbländer kontrolliert und verwaltet wurden.25 Wenngleich große Teile der Verwaltung im Hintergrund – weitestgehend geräuschlos – durch Grundherrschaften und Stände besorgt wurden, hatte die imperiale Herrscherin keinen direkten Zugriff auf basale Informationen, etwa über topografische Beschaffenheiten, geografische Details und natürliche und humane Ressourcen.26 Das betraf vor allem zwei Bereiche, die herrschaftliche Handlungsspielräume entscheidend bestimmten: die Besteuerung und das Militär.27 Der von Maria Theresia in der Folge eingeleitete und von ihrem Sohn Joseph II. konsequent fortgeführte Kurs der Schaffung und des Ausbaus einer Zentralverwaltung für das Habsburgerimperium erwies sich als langwierig und überaus steinig. Neben der Errichtung und der Konsolidierung einer staatlichen Infrastruktur, die neben die etablierten Stände trat, waren es 23 24
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Vgl. Wolfgang Göderle, Administration, Science, and the State: The 1869 Population Census in Austria-Hungary, in: Austrian History Yearbook 47 (2016), S. 61–88. Vgl. Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien 2001, S. 196ff.; zur Entwicklung des Bürgertums vgl. die mehrbändige Reihe »Bürgertum in der Habsburgermonarchie«, die sich in den weiteren Kontext der Bürgertumsgeschichte einschreibt, vgl. dazu die Arbeiten von Lothar Gall bzw. Jürgen Kocka und Ute Frevert; insbesondere Hannes Stekl/Peter Urbanitsch/Ernst Bruckmüller/Hans Heiss (Hg.), »Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit« (Bürgertum in der Habsburgermonarchie II), Wien/ Köln/Weimar 1992; Robert Hoffmann (Hg.), Bürger zwischen Tradition und Modernität (Bürgertum in der Habsburgermonarchie VI), Wien/Köln/Weimar 1997. Vgl. Mazohl, Vom Tod Karls VI. bis zum Wiener Kongress (1740–1815), S. 290–358, hier S. 325ff., und die Debatten um Information in der Frühneuzeit bei Brendecke/Friedrich/ Friedrich (Hg.), Information in der Frühen Neuzeit. Vgl. Tantner, Ordnung der Häuser, S. 22ff. Vgl. dazu maßgeblich James C. Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998.
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insbesondere Prozesse, die die Sammlung, Weiterverarbeitung und Evidenthaltung von grundlegenden Wissensformationen sicherstellen sollten: Einerseits wurden ab den 1750er Jahren die davor auf Jüdinnen und Juden beschränkten Zählungsmaßnahmen im Rahmen einer allgemeinen Seelenbeschreibung auf sämtliche Untertanen ausgedehnt, andererseits wurden ab den frühen 1760er Jahren systematische Landesvermessungen, sogenannte Landesaufnahmen, durchgeführt, die ein einheitliches und konsistentes räumliches Anschauungsmedium für das habsburgische Imperium hervorbringen sollten.28 Während die Landesaufnahmen und die Konskriptionen erst mit jahrzehntelanger Latenz eine Wirkung entfalteten, hatte die Einrichtung von Verwaltungszentralstellen sofort einen tiefen und mit massivem Widerstand der traditionellen Eliten konfrontierten Einschnitt zur Folge, den man mit dem analytischen Instrumentarium der New Imperial History als einen Umbau der imperialen Mittelsmänner bzw. Repräsentanten beschreiben könnte.29 Denn die Installation einer neuen, der Herrscherin direkt unterstellten Verwaltung brachte Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten für Angehörige von sozialen Gruppen, die davor abseits der imperialen Hierarchie gestanden waren. Über diese – wie sich herausstellen sollte – langfristige Stärkung eines sich langsam stärker ausdifferenzierenden Bürgertums hinaus wurde der imperiale Heeres- und Administrativdienst zu einem Arbeitgeber von wachsender Bedeutung, an den sich nachgelagert neue soziale Strukturen anlagerten, die in weiterer Folge als wichtige Innovationsreservoirs für staatliche und soziale Modernisierung dienen sollten.30
Wissenserzeugung in großem Maßstab Sowohl die Landesaufnahmen als auch die Konskriptionen wurden sehr bald als imperiale Operationen einer völlig neuen Qualität erkannt. Beide – insbesondere aber die Landesaufnahmen – verlangten nach zuvor nicht gekannten Logistiken, sie stellten völlig neue Herausforderungen im Hinblick auf die
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Für einen Überblick vgl. Wolfgang Göderle, Modernisierung durch Vermessung? Das Wissen des modernen Staats in Zentraleuropa, circa 1760–1890, in: Archiv für Sozialgeschichte 57 (2017), S. 155–186. Vgl. Burbank/Cooper, Imperien der Weltgeschichte, S. 31f. Vgl. Göderle, Modernisierung durch Vermessung, S. 169ff.
Imperiales Wissen: Zensus und Karte
Speicherung der erzeugten Wissensträger dar und formulierten grundlegende Voraussetzungen hinsichtlich der Erzeugung normalisierter Massendaten.31 Zudem wurde Personal in großer Zahl benötigt, das für die Landesaufnahmen weiters über spezielle Qualifikationen zu verfügen hatte.32 Der Umstand, dass beide Maßnahmen mit begrenzten Kostenrahmen versehen waren, sorgte für zusätzlichen Druck. Dessen ungeachtet – und trotz der entmutigenden Qualität und der unter den Erwartungen verlaufenden Weiterverwertbarkeit der in den beiden Erhebungsprozessen hervorgebrachten Wissensformationen – wurden sowohl die Zählungen als auch die Landesvermessungen zu wesentlichen Bestandteilen des imperialen Handlungsrepertoires in Zentraleuropa.33 Diese Resilienz von verhältnismäßig teuren und zugleich auf kurze und mittlere Sicht wenig rentierenden Prozessen ist bemerkenswert und erklärungsbedürftig. Landesaufnahmen verliefen seit ihrem Beginn durch Joseph II. im Jahr 1763 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beinahe ununterbrochen durch, an die Josephinische Landesaufnahme, die 1785 endete, knüpfte 1807 die Franziszeische Landesaufnahme an, deren Ziel primär eine Verbesserung der Aufnahmequalität und eine Vereinheitlichung der Perspektive war.34 Ab 1817 wurde parallel zur weiterlaufenden Landesaufnahme die Arbeit am Franziszeischen Kataster begonnen, der 1861 erfolgreich abgeschlossen wurde, während die Landesaufnahme 1869 unvollständig beendet wurde, um sofort durch eine weitere Aufnahme, die Dritte oder Franzisco-Josephinische Landesaufnahme, ersetzt zu werden, die 1887 fertiggestellt werden konnte. Daran knüpfte wiederum ab 1896 die Vierte Landesaufnahme oder Präzisi-
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Die umfassendste einschlägige Annäherung findet sich nach wie vor bei David Gugerli/Daniel Speich, Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002 bzw. David Gugerli (Hg.), Vermessene Landschaften. Kulturgeschichte und technische Praxis im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1999. Vgl. Petra Svatek, Die Josephinische Landesaufnahme. Anlass – Ziele – Durchführung – Nachläufer, in: 250 Jahre Landesaufnahme, hg. v. Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport, Wien 2014, S. 25–30, hier S. 27. Vgl. Göderle, Modernisierung durch Vermessung, S. 175ff. Vgl. Johannes Dörflinger, Vom Aufstieg der Militärkartographie bis zum Wiener Kongress (1684 bis 1815), in: Wiener Schriften zur Geographie und Kartographie 15 (2004), S. 75–167.
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onsaufnahme an, die mit Unterbrechungen bis in das Jahr 1987 fortgeführt wurde.35 Eine ähnliche Intensität lässt sich auch im Hinblick auf die Zählungsaktivitäten ausmachen: 1753/54 (je nach Erbland) wurde die Vornahme zweifacher Seelen-Consignationen vorgeschrieben und 1754 durchgeführt. Diese wurden in den frühen 1760er Jahren erstmals wiederholt, ehe 1770 eine SeelenBeschreibung verfügt und vorgenommen wurde. Noch in den 1770er Jahren wurde die Maßnahme mehrfach wiederholt, wobei es zu neuerlichen Veränderungen des Verfahrens kam.36 Ab den 1780er Jahren versuchte Joseph II., eine Bevölkerungsevidenz aufzubauen und aktuell zu halten, was nicht funktionierte und zu erneuten Zählungen 1784 und 1785 führte. Für den Rest des 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Situation endgültig unübersichtlich, da zumindest vier unterschiedliche Zählungsregimes in vier unterschiedlichen Teilen des Habsburgerreiches zur Anwendung kamen: Neben den sogenannten alt-conscribirten Ländern – Österreich unter und ob der Enns, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Krain, Görz-Gradisca, Istrien, Böhmen, Mähren, Schlesien, Galizien und Bukowina – waren dies Provinzen mit rein politischer Volkszählung – Stadt und Umland von Triest, Tirol und Vorarlberg, Dalmatien, das lombardisch-venetianische Königreich –, dann weiters Ungarn mit Nebenländern und Siebenbürgen und schließlich die Militärgrenze. In diesen vier Gruppen fanden wiederholt und zum Teil unregelmäßig Zählungen nach unterschiedlichen Vorgaben statt.37 Erst 1850 kam es zu einer allgemeinen Zählung, 1857 wurde diese nach überarbeiteten Vorgaben wiederholt – mit wenig zufriedenstellenden Resultaten – und ab 1869 wurde die »moderne« Volkszählung installiert, die in der Folge 1880, 1890, 1900 und 1910 wiederholt wurde.38 Die Ergebnisse, die Landesvermessungen und Zählungen lieferten, blieben insgesamt gesehen bis lange nach der Jahrhundertmitte einerseits weit unter den Erwartungen, andererseits aber versorgten sie Herrscher und Verwaltungsinstanzen mit wertvollen Wissensfragmenten.39 Diese Wider-
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Vgl. Ingrid Kretschmer, Von der Zweiten Landesaufnahme (1806) bis zur Gegenwart (2004), in: Wiener Schriften zur Geographie und Kartographie 15 (2004), S. 168–289. Vgl. Tantner, Ordnung der Häuser, S. 34–48. Vgl. Adolf Ficker, Vorträge über die Vornahme der Volkszählung in Österreich, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 17 (1870) II, S. 1–126, hier S. 4–25. Vgl. Göderle, Zensus und Ethnizität, S. 207ff. Vgl. Göderle, Modernisierung durch Vermessung, S. 174f.
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sprüchlichkeit der Situation verdient Aufmerksamkeit: Sowohl in den Franziszeischen Landesaufnahmen als auch nach den Volkszählungen der Jahrhundertmitte resultierten viele maßgebliche Probleme aus dem Umstand, dass es nicht gelang, einheitliche Standards und Normen der Datenerhebung umzusetzen, und dass sich, wo dies doch gelang, diese zum Teil als wenig geeignet oder untauglich erwiesen. So scheiterte etwa die Volkszählung des Jahres 1857 daran, dass man die rechtliche anstelle der tatsächlichen Bevölkerung gezählt hatte, d.h. man hatte die Zählung darauf angelegt, dass vornehmlich Personen mit Heimatrecht in dem Ort ihres Aufenthaltes zu zählen waren, was nicht der Fall war, und dazu führte, dass in einer Vielzahl der Fälle eine Situation eintrat, die durch das Zählungsformular als Messinstrument sozialer Wirklichkeiten nicht antizipiert worden war, dass nämlich Menschen aufzunehmen waren, die im Ort ihres Aufenthalts nicht heimatberechtigt waren.40 Dadurch konnte ein Großteil der relevanten Daten nicht erfasst werden – im Vorfeld als Sonderfälle identifizierte Konstellationen wie die beschriebene sahen nämlich nur eine rudimentäre Datenaufnahme vor. Noch schwieriger gestaltete sich der Ablauf der Franziszeischen Landesaufnahme, die angesichts ihrer langen Dauer sukzessive vom technologischen Fortschritt überholt wurde.41 Die Landesaufnahme diente vornehmlich der Erzeugung militärisch nutzbarer Präzisionskarten; man versuchte also, eine detailgetreue Geländedarstellung zu realisieren, bei verhältnismäßig kleinem Maßstab, d.h. die Darstellung des Geländes wurde für die Karte stark verkleinert. Topografie und Überblick standen im Vordergrund. Im Unterschied dazu hatte der Kataster ein Kartenabbild des Habsburgerreiches für die Besteuerung zu erzeugen. Anders als die Landesaufnahmen verwendete der Kataster einen sehr großen Maßstab; er nahm also die Details bis hin zur Bodennutzung auf und vernachlässigte das Gelände, er entwarf folglich das Habsburgerreich als eine weitestgehend plane Oberfläche. Während der Josephinischen Landesaufnahme waren ökonomische (Kataster) und militärische (Gelände) Aufnahmen noch gemischt vorgenommen worden, was zu entsprechenden Resultaten und massiven Folgen für die Qualität der Ergebnisse geführt hatte.42 Ab dem frühen 19. Jahrhundert begründete der Kataster aber eine eigene Operation,
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Vgl. Adolf Ficker, Ein weiterer Beitrag zur Organisirung der nächsten Volkszählung in Oesterreich, in: Statistische Monatsschrift 4 (1878), S. 253–264, hier S. 254. Vgl. Ernst Hofstätter, Beiträge zur Geschichte der österreichischen Landesaufnahmen, Wien 1989, S. 79ff. Vgl. ebd., S. 42ff.
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und die Landesaufnahme ebenso. Besonders die Geländeaufnahmen stellten in jeder Beziehung eine enorme Herausforderung dar. Aber während zumindest die Landesaufnahmen und die Zählungen zunächst kontinuierlich auf einer übergeordneten Ebene scheiterten – für die Katasteraufnahmen galt das nicht in demselben Umfang –, spielten sie zumindest ab den 1840er Jahren auf einer niedrigeren Ebene viel Wissen in die Verwaltung, an den Herrscher und an verwaltungsnahe Milieus zurück.43
Betriebssysteme moderner Staatlichkeit: imperiale Mindsets Bevor an dieser Stelle auf die Träger und die Katalysatoren eingegangen wird, die das Habsburgerreich in der Sattelzeit von einem Kompositstaat zu einem modernen Staat umbauten, oder – in der Begrifflichkeit der New Imperial History – die das Imperium einer umfassenden und weitreichenden Modernisierung unterzogen, soll zunächst eine kurze Exploration jener Denksysteme stattfinden, die die Wahl des Modernisierungspfades entscheidend mitbeeinflussten. Im Zuge dieses Kapitels soll auch aufgezeigt werden, warum es Sinn macht, eine analytische Auffassung vom Imperium nicht zwangsläufig als dichotomen Gegensatz zum Nationalstaat zu konzipieren, sondern Imperialiät und Staatlichkeit als strukturierende Merkmalskomplexe aufzufassen, die durchaus komplementär zur Beschreibung vielschichtiger längerfristiger Prozesse herangezogen werden können.44 Im imperialen Kontext des neuzeitlichen Zentraleuropa wurde der enormen sozialen, kulturellen und politischen Diversität der unterschiedlichen Entitäten – also der höchst unterschiedlichen durch die Habsburger regierten Herrschaftsgefüge wie Länder, Grafschaften, Erzherzogtümer etc. – primär durch ein mehrstufiges System von Mittelsleuten und Repräsentanten begegnet, über das unterschiedlichste historisch gewachsene Verwaltungskonstellationen flexibel in den größeren Reichsverband integriert werden konnten. Ins43
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Zum Kataster vgl. Werner Drobesch, Bodenerfassung und Bodenbewertung als Teil einer Staatsmodernisierung. Theresianische Steuerrektifikation, Josephinischer Kataster und Franziszeischer Kataster, in: Reto Furter/Anne-Lise Head-König/Luigi Lorenzetti (Hg.), Les migrations de retour. Rückwanderungen, Zürich 2009, S. 165–185. Zu einer konzeptuellen Trias von Imperium, moderner und nationalisierter Staatlichkeit vgl. Gammerl, Untertanen, Staatsbürger und Andere; Wolfgang Göderle, Materializing Imperial Rule? Nature, Environment, and the Middle Class in Habsburg Central Europe, in: Hungarian Historical Review 11 (2022) 2, S. 445–476.
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besondere das Habsburgerreich profitierte von der enormen Flexibilität, die diese Konfiguration mit sich brachte, und die Lösung der schweren Krise, in die es mit der Thronbesteigung von Maria Theresia 1740 geriet, belegt erneut die Vorzüge, die eine solche imperiale Pragmatik unzweifelhaft hatte. Innerhalb von weniger als einem Jahrzehnt hatte sich der physische Raum, über den sich die imperiale Herrschaft der Habsburger erstreckte, ganz maßgeblich verändert, ohne dass diese an sich in existenzielle Bedrohung geriet.45 Von Nachteil war diese maximal flexible Auslegung von Imperium dort, wo es galt, zunehmend knappe Ressourcen an Land und Menschen optimal zu nützen. In solchen Situationen erwiesen sich bereits seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert im Alten Reich Klein- und Kleinststaaten als überlegene Akteure, die mit ausgefeilten Verwaltungstechnologien und beispiellosem Ressourceneinsatz ihre räumlichen und humanen Potenziale bestmöglich auszuschöpfen vermochten.46 Durch konsequente Landesvermessungen einerseits, Zählungen und Inventarisierungen anderseits gelang es insbesondere in mitteldeutschen Kleinststaaten verhältnismäßig früh, strukturiertes Wissen über einen territorial gedachten Herrschaftsraum und dessen Inhalte zu erzeugen und für die weitere Optimierung nach bestimmten Gesichtspunkten aufzubereiten.47 Die Voraussetzung dafür lag in der Entwicklung einer Raumvorstellung, die Raum als Container konzeptualisierte und als solchen auch in Einheiten aufteil- und verwaltbar imaginierte.48 Je kleiner die solcherart zu operationalisierende Einheit war, desto vielversprechender gestaltete sich die Realisierung. Das einschlägige Wissen zur Umsetzung dieses Programmes wurde insbesondere unter dem Schlagwort der Policeywissenschaft im Alten Reich gesammelt und ab den 1720er Jahren auch an Universitäten im deutschsprachigen Raum institutionalisiert.49 Im Kern polizeiwissenschaftlicher Skripte lag 45 46
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Vgl. den konzisen Problemaufriss bei Mazohl, Vom Tod Karls VI. bis zum Wiener Kongress (1740–1815), S. 294ff. Vgl. sehr anschaulich für das 17. Jahrhundert: Reiner Prass, Die Etablierung der Linie. Grenzbestimmungen und Definition eines Territoriums. Sachsen-Gotha 1640–1665, in: Historical Social Research 38 (2013), S. 129–149. Vgl. Susanne Friedrich, »Zu nothdürftiger information«. Herrschaftlich veranlasste Landeserfassungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Alten Reich, in: Brendecke/ Friedrich/Friedrich (Hg.), Information in der Frühen Neuzeit, S. 301–334. Zum Containerraum Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2006, S. 24ff. Vgl. Andrea Iseli, Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der frühen Neuzeit, Stuttgart 2009, S. 28f.
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die strukturierte Gewinnung von Informationen und deren Weiterverarbeitung in Herrschaftswissen.50 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden Verfahren und Darstellungsweisen entwickelt, die es erlaubten, sehr große Informationsmengen anschaulich aufzubereiten, insbesondere im Rahmen der Göttinger Universitätsstatistik, die dazu auf das Medium von großen, eigens für diesen Zweck entwickelten Tabellen zurückgriff.51 Policeywissenschaft war nicht das einzige Verfahren, das dazu herangezogen wurde, Fragen der öffentlichen Verwaltung angesichts enger werdender finanzieller Spielräume von Herrschern zu bearbeiten und zu systematisieren. Ebenfalls im 18. Jahrhundert entstand – maßgeblich im Gebiet des Habsburgerreiches – das Feld der Kameralwissenschaft, das weitreichende Überlappungen mit den polizeiwissenschaftlichen Grundannahmen aufwies.52 Für die Nutzung außerhalb des kleinstaatlichen Kontextes, in dem die Handlungsskripte polizeiwissenschaftlicher Maßnahmen entstanden waren, erwies es sich als notwendig, den Anwendungsfall sukzessive nach oben zu skalieren, was für Preußen im frühen 18. Jahrhundert weitgehend gelungen war. Wenngleich das Habsburgerreich fundamental andere Voraussetzungen für einen solchen Umbau aufwies, wurden in der Jahrhundertmitte die bereits angesprochenen einschlägigen Reformschritte eingeleitet, die einerseits in der Schaffung neuer Zentralstellen bestanden, andererseits in der Einleitung der Operationen zur Wissenserzeugung.53 In der Legitimation insbesondere letzterer Maßnahmen griff man dabei bis spät in das 19. Jahrhundert auf Johann Heinrich Gottlob von Justi zurück, der so zu einem häufig gebrauchten Referenzpunkt wurde, ergänzt um eine »Vaterfigur« moderner, als wissenschaftlich verstandener Administrativstatistik, Adolphe Quetelet.54 Die mittel- und langfristigen Folgen der von Maria Theresia und Joseph II. eingeleiteten Reformen gilt es auch im Hinblick auf die Auswirkungen auf das 50 51
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André Holenstein, Gute Policey und die Information des Staates im Ancien Régime, in: Brendecke/Friedrich/Friedrich (Hg.), Information in der Frühen Neuzeit, S. 201–214. Lars Behrisch, Die Berechnung der Glückseligkeit: Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im späten Ancien Régime, Ostfildern 2016, S. 24–55; Alain Desrosières, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin/ Heidelberg 2005, S. 22–26. Vgl. Marcus Sandl, Ökonomie des Raumes. Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18. Jahrhundert, Köln/Wien/Weimar 1997. Vgl. Deak, Forging a Multinational State, S. 21ff. Vgl. etwa Ficker, Vorträge, S. 1.
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Imperium im Auge zu behalten, das durch den sukzessiven Aufbau eines neuen Vermittlungsapparates alte imperiale Eliten langsam aus deren traditioneller Partizipation drängte, bis hin zur Verwirklichung des Zentralstaates nach den Revolutionen des Jahres 1848. Auf einer symbolischen Ebene waren freilich schon früher einschneidende Ansprüche formuliert worden, nicht zuletzt durch die Begründung des Kaiserthums Oesterreich durch Franz I. (II.), der damit den im Verwaltungsdiskurs sehr präsenten Kaiserstaat ins Leben rief, eine politische Struktur also, die sich diskursiv selbst als Staat verstand. Die Resilienz der beiden großen Programme zur staatlichen Wissenserzeugung, der fortgesetzten Zählungen (die sich durchaus – dieser Befund wird auch durch den Verwaltungsdiskurs in der Tendenz gestützt – als Inventarisierungen der mobilen und immobilen Ressourcen des Imperiums bzw. Kaiserstaates interpretieren lassen) und der Landesaufnahmen, wird insbesondere vor dem Hintergrund des Versprechens erklärlich, das zunächst durch polizeiwissenschaftliche und kameralistische Mindsets evoziert wurde und später vor den Verheißungen, die die moderne Wissenschaft den beteiligten Akteuren – einschließlich des Herrschers – machte. Die Vervollständigung der großen Tabellen der Landesbeschreibungen bzw. der ökonomischen und militärischen Aufnahmen verhieß dabei zunächst die Freilegung verborgener Wirkungsbeziehungen und damit die Möglichkeit zur Identifikation von Eingriffspotenzialen durch Verwaltung und Herrscher und ein damit verbundenes Sanierungsversprechen. Mit dem Aufkommen einer wissenschaftlichen Verwaltungsstatistik durch Quetelet trat eine weitere Komponente hinzu: Quetelets Arbeiten legten die Möglichkeit nahe, soziale Entwicklungen und Prozesse zu antizipieren, und so, zumindest in der Theorie, ein frühzeitiges lenkendes Eingreifen der Verwaltungen zu ermöglichen.
Das Bürgertum als imperiale Innovationsreserve? Mit dem Beginn von Zählungen in den 1750er Jahren, besonders aber mit dem Einsetzen der Landesaufnahmen ein knappes Jahrzehnt später, wurden in der imperialen Verwaltung Fähigkeiten und Kenntnisse nachgefragt, die aus dem Kreis traditioneller Eliten nicht mehr bedient werden konnten. Zwar konnten für die Josephinischen Landesaufnahmen vorerst noch Militärangehörige herangezogen werden, und für die Seelen-Consignationen wurden auch Geist-
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liche eingesetzt.55 Auf mittlere Sicht zeichnete sich aber ein enormer Bedarf qualifizierten Personals ab, um zumindest die mittelfristig avisierten Aufnahme- und Erhebungsziele realistisch bedienen zu können.56 Was die Kartografie betraf, so existierte ein – wenngleich überschaubarer – privater Markt. Abseits der offiziellen und der militärischen Kartografie wurden verschiedene Kartenwerke zum Habsburgerreich oder von Teilen davon erzeugt und gehandelt.57 Diese Arbeiten wurden teils durchaus als so brauchbar erachtet, dass sie bis zu einem gewissen Grad die Landesaufnahmen für die betreffenden Gebiete vorläufig vorwegnahmen, so etwa der Atlas Tyrolensis von Peter Anich und Blasius Hueber.58 Wenngleich seit 1717 in Wien eine Militär-Ingenieur-Akademie existierte, die auch Zivilisten zugänglich war und die in einer dreijährigen Ausbildung unter anderem Vermessungswesen und Kartografie auf höchstem zeitgenössischen Niveau unterrichtete, gab es zu Beginn der Josephinischen Aufnahme einen drückenden Personalmangel, der 1779 zunächst dadurch behoben werden konnte, dass zusätzliches Militärpersonal mit entsprechender Qualifikation herangezogen wurde.59 Ähnlich gestaltete sich die Situation bei der Konskription des Jahres 1770, für die Tantner für die böhmischen und österreichischen Länder einen Personalbedarf von knapp 1.800 Personen errechnete, bei insgesamt rund 7.500 landesfürstlichen Beamten zu dieser Zeit.60 Insgesamt wurde es schwierig, ausreichend geeignetes Personal zu finden und vorübergehend einzustellen; wie bei der Volkszählung des Jahres 1869 wurde ein Gutteil des temporären Personalbedarfs über zeitlich befristete Anstellungen von qualifizierten Personen bewältigt.61 Obwohl die erforderliche Qualifikation weitaus weniger speziell 55 56
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Letztere unter entsprechendem Protest, vgl. Tantner, Ordnung der Häuser, S. 37ff. Vgl. den Widerspruch dazu bei Waltraud Heindl, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780–1848 (Studien zu Politik und Verwaltung 36), Wien/Köln/ Graz 1990, S. 93. Vgl. Dörflinger, Vom Aufstieg der Militärkartographie, S. 84ff. Vgl. Svatek, Die Josephinische Landesaufnahme, S. 27. Ob Tirol und Vorarlberg – wie bislang angenommen – in der Josephinischen Landesaufnahme tatsächlich auf Grund des Atlas Tyrolensis unberücksichtigt blieben, wurde zuletzt infolge neuer Forschungsergebnisse bezweifelt, vgl. ebd. Vgl. Jan Mokre, Militärkartographie in der Österreichischen Monarchie bis zur Ersten Landesaufnahme, in: Landesaufnahme 2014, S. 13–23, hier S. 16; Svatek, Die Josephinische Landesaufnahme, S. 27. Vgl. Tantner, Ordnung der Häuser, S. 109. Vgl. ebd. Zur Volkszählung 1869 vgl. Wolfgang Göderle, Volkszählung und moderner Staat: Die Praxis des Zensus im späten Habsburgerreich am Beispiel der Zählung
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war als im Falle des Personals für die Landesaufnahmen, erwies sich die Rekrutierung geeigneter Schreiber als Herausforderung. Neben Schreib- wurden etwa in Böhmen Sprachkenntnisse des Tschechischen und eine robuste körperliche Konstitution vorausgesetzt.62 Zudem war die Bezahlung des zivilen Personals (es wurden auch Militärschreiber herangezogen) verhältnismäßig schlecht, so dass es Schwierigkeiten gab, gutqualifizierte Mitarbeiter zu halten.63 Auch wenn man den Blick von der engen Perspektive auf Landesaufnahmen und Konskriptionen weg erweitert und versucht, eine globalere Sicht auf habsburgische Beamte des ausgehenden 18. Jahrhunderts einzunehmen, entsteht der Eindruck einer wechselseitigen Abhängigkeit: Zum einen war das Imperium zum Erreichen seiner Reformziele auf die wachsende Gruppe von Beamten angewiesen, besonders auf deren Fähigkeiten und Spezialwissen, aber auch auf deren Leistungsfähigkeit und Loyalität. Zum anderen führte vor allem Joseph II. ein sehr strenges Regiment, verbunden mit einer zurückhaltenden Bezahlung.64 Nicht nur war er bereit, materielle Härten im Beamtenmilieu zu akzeptieren, Kaiser Joseph zielte nachgerade darauf ab, vornehmlich Personal einzustellen, das infolge völliger materieller Abhängigkeit von der Stelle sowohl ein Maximum an Arbeitseifer als auch an Loyalität zu erbringen gezwungen war.65 Nichtsdestoweniger entwickelte sich die soziale Gruppe der öffentlich Bediensteten quantitativ zügig. Für das Jahr 1828 wurden für das Kaisertum Österreich etwa 47.000 Beamte und öffentliche Bedienstete ausgewiesen, einschließlich 2.433 unbesoldeter Praktikanten, 14.319 Beamten und 40.117 Dienern.66 Bis 1841 war die Gruppe auf knapp 130.000 angewachsen, das
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des Jahres 1869, in: Nicolas Bilo/Stefan Haas/Michael C. Schneider (Hg.), Die Zählung der Welt. Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018, S. 95–118. Vgl. Tantner, Ordnung der Häuser, S. 109–110. Vgl. ebd. Natürlich drängt sich hier die Frage auf, welche Beschäftigungsalternativen jenen Schreibern zur Verfügung standen, die für die angebotene karge Bezahlung nicht arbeiten wollten. Vgl. Heindl, Gehorsame Rebellen, S. 30f. Vgl. ebd. Vgl. Karl Megner, Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte des k.k. Beamtentums, Wien 1985, S. 344. Waltraud Heindl, die auf die Tafeln zur Statistik zurückgreift, gibt wesentlich höhere Zahlen an, für 1828 rund 70.000 Personen. Für einen aktuellen Forschungsüberblick zur quantitativen Entwicklung der Personalsituation in der Verwaltung des habsburgischen Zentraleuropa im langen 19. Jahrhundert vgl. Wolf-
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entsprach einer Verdoppelung, darunter knapp 6.000 Praktikanten.67 Insbesondere für letztere, eine Gruppe, die speziell in den 1830er Jahren stark angewachsen war, gestaltete sich die Situation häufig schwierig, zumal der unbesoldete Dienst mitunter Jahre dauern konnte und mit keinerlei Rechtsansprüchen auf Aufnahme in den Beamtenapparat verbunden war.68 Daraus ergaben sich soziale Härten, zumindest in jenem Teil des gewachsenen bürgerlichen Milieus, der auf ein Einkommen angewiesen war.69 Zwar ist die Forschungslage zu diesem Komplex insgesamt nach wie vor lückenhaft, es zeichnet sich aber ab, dass besagtes bürgerliches Milieu einer beträchtlichen Binnendifferenzierung unterlag, zwischen jenem Teil, der durch eigenes Vermögen eine gewisse Unabhängigkeit in Anspruch nehmen konnte, und dem viel größeren Teil jener, die auf Lohneinkünfte angewiesen waren.70 Insgesamt muss festgehalten werden, dass sich aufgrund der stabilen und kontinuierlich wachsenden Nachfrage durch die neue imperiale Bürokratie ein
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gang Göderle, De l’empire des Habsbourg à l’État des fonctionnaires, Beamtenstaat (1815–1914). From the Habsburg Empire to the Bureaucratic State, Beamtenstaat (1815–1914), in: Histoire & Mesure 25 (2020) 2, S. 73–104. Vgl. Heindl, Gehorsame Rebellen, S. 140f. Die beiden angegebenen Zahlen sind nicht völlig vergleichbar, da in beiden Fällen das Zustandekommen etwas unklar ist, für die Einschätzung der Größenordnung erscheint die Angabe aber valid. Vgl. Deak, Forging a Multinational State, S. 58, dort wird der Fall eines siebzehn Jahre lang unbezahlt tätigen Praktikanten beschrieben. Vgl. ebd. Die 1820er und 1830er Jahre bedürften dabei einer genauen Beforschung: Ab spätestens den mittleren 1820er Jahren scheint es Angehörigen solider bürgerlicher Milieus schon möglich gewesen zu sein, gegebenenfalls aus den Erträgen eines bescheidenen Vermögens zufriedenstellend, wenn auch mitunter anspruchslos zu leben. Als Beispiele siehe etwa für das Militär den Fall des Freiherrn Carl Alexander von Hügel, der sich 1825 aus dem Dienst zurückzog und seine Villa in Hietzing, einem Vorort von Wien, errichtete, in der er bis in die späten 1840er Jahre als Privatier lebte, ehe er in den militärischen und später diplomatischen Dienst zurückkehrte. Belege für eine überdurchschnittliche Kapitalausstattung bzw. für ein sehr hohes Erbe lassen sich soweit nicht finden. Für den zivilen öffentlichen Dienst vgl. den Fall von Freiherr von Andrian-Werburg Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg. »Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste«. Tagebücher 1839–1858, hg. von Franz Adlgasser. Bd. 1, Wien/Köln/Weimar 2011, S. 28f. Adlgasser weist im Detail auf die Widersprüchlichkeit hin, die zwischen Andrian-Werburgs Klagen über seine finanzielle Situation und seinem Lebensstil auftraten, er illustriert dabei die Bandbreite an unterschiedlichen beruflichen Optionen, die sich für Angehörige dieses Milieus in den 1830er und 1840er Jahren eröffneten.
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Arbeitsmarkt entwickelte, der, den vorliegenden Zahlen zufolge, zumindest ab den 1830er Jahren den Bedarf an gutqualifiziertem Personal gut abdecken konnte.71 Über das zwischen etwa 1780 und 1830 gestiegene Ausbildungsangebot waren grundlegende Wissensbestände, die insgesamt das Fundament moderner Verwaltung konstituieren sollten – diese bestanden aus den Curricula der rechts- und staatswissenschaftlichen Studien, die allerdings eine beträchtliche Anreicherung in jenen Randbereichen erfahren hatten, die auf einer breiten Ebene als für eine Modernisierung fundamental erachtet wurden, und das betraf insbesondere den Bereich der Universitätsstatistik –, in eine breite und schnell wachsende Gruppe der Bevölkerung diffundiert, deren Vertreter ihrerseits einen bedeutenden Beitrag zur Konturierung und Definition dieses Kanons geleistet hatten.72
Knowledge in action? Imperiales Wissen als Kristallisationskeim sozialer Strukturen Die entstehende bürgerliche Mittelklasse, die keineswegs ausschließlich aus Beamten und deren Familien bestand, durch diese aber entscheidende Wachstumsimpulse erhalten hatte, bewirkte einerseits einen Umbau im Verhältnis zwischen dem Imperium und seinen Untertanen, wenngleich das Wissen der Letzteren über die Struktur, in der sie lebten, noch um 1840 überschaubar war. Während der 1840er und beschleunigt in den 1850er Jahren veränderte sich das allerdings rapide. Viele der strukturierten und systematischen Wissensformationen, an denen über Jahrzehnte – wenngleich mehrheitlich mit geringer Intensität – gearbeitet worden war, wurden sukzessive einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht und entfalteten dort auch eine Wirkung.73 Als Paradebeispiele dafür können etwa Czoernigs Ethnographische Karte oder die Tafeln zur Statistik der oesterreichischen Monarchie74 herangezogen werden. Während die Ethnographische Karte primär die Folie eines zusammenhängenden und in seiner sprachlichen Heterogenität vereinheitlichten Staates vorlegte, sollten die Tafeln zur Statistik der oesterreichischen Monarchie Angehörigen des Wirtschaftsbürgertums und Industriellen neues und vor allem Sachkriterien entsprechen-
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Vgl. Deak, Forging a Multinational State, S. 58ff. Vgl. Heindl, Gehorsame Rebellen, S. 96ff. Vgl. Denkschrift 1913, S. 24ff. Vgl. Coen, Climate in Motion, S. 44–62.
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des (und von Herrschaftsinteressen unabhängiges) Wissen als Grundlage für Geschäftsentscheidungen zur Verfügung stellen.75 Die Herausgabe der Tafeln zur Statistik der oesterreichischen Monarchie konnte nur gegen massive Widerstände des Herrschers durchgesetzt werden und stellte ein bemerkenswertes Novum im Habsburgerimperium dar.76 Zugleich belegten sie den Grad, zu dem die neue Ebene imperialer Mittelsleute eigene Vorstellungen und Interessen durchzusetzen vermochte. Die Ethnographische Karte repräsentiert hingegen den ebenso interessanten wie repräsentativen Fall einer Public-Private-Partnership: Karl Freiherr von Czoernig hatte zwar das gesamte umfassende Werk – eine Beschreibung der sprachlichen und sozialen Verhältnisse im Habsburgerreich – als private Arbeit verfasst, war für deren Fertigstellung aber auf umfassende dienstliche Ressourcen angewiesen, so etwa auf Beamte und Militärangehörige, die für ihn Teile der Feldforschung übernahmen, besonders aber auf die Karte, die ein Offizier – Joseph von Scheda – ihm zur Verfügung stellte und für ihn anpasste, auf der Grundlage der im Rahmen der zugleich laufenden Franziszeischen Landesaufnahme erhobenen Daten.77 Spätestens ab den 1850er Jahren geschah es mit einer gewissen Regelmäßigkeit, dass die Verbreitung von bestimmten Wissensformationen und Repräsentationen durch Autoren, zumeist aus dem öffentlichen Dienst, durch den Herrscher genehmigt wurde, was man durchaus als Hinweis auf ein neues Verhältnis zwischen diesem und den bürgerlichen Publizisten interpretieren könnte. John Deak konstatiert, dass sowohl Kaiser Franz I. (II.) als auch Kaiser Ferdinand I. für die Besorgung ihrer Regierungsgeschäfte grundlegend auf die von Joseph II. konzipierte und in ihren Grundzügen eingerichtete Bürokratie angewiesen waren und sich nicht zuletzt in einer gewissen Abhängigkeit von dieser wiederfanden.78 Dieser Befund deckt sich mit der jüngeren Literatur, wobei an dieser Stelle aufgezeigt werden soll, worauf sich eine bürokratische Machtstellung stützte und wie diese in der Folge kapitalisiert werden konnte.79 Die kaiserliche Abhängigkeit beruhte hauptsächlich darauf, 75
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Zum Kontext vgl. etwa die Forderungen in Ueber Förderung der Statistik durch Privatpersonen, in: Journal des Oesterreichischen Lloyd (Centralorgan für Handel, Industrie, Schiffahrt und Volkswirthschaft) 11 (1846) 147, S. 1. Vgl. Denkschrift 1913, S. 26ff. Vgl. Kretschmer, Von der Zweiten Landesaufnahme (1806) bis zur Gegenwart (2004), S. 174; S. 256. Vgl. Deak, Forging a Multinational State, S. 57. Vgl. Brandt, Verwaltung als Verfassung – Verwaltung und Verfassung?, S. 14ff.
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dass bürgerliche Beamte den Aufbau, die Kompression und die Auswertung von Wissensformationen besorgten, die essentiell für die Wahrnehmung von Herrschaftsinteressen waren, einerseits im Hinblick auf die Steuerverwaltung, andererseits im Bereich des Militärs. Sowohl die Masse als auch die Beschaffenheit einerseits der Rohdaten, andererseits des Verwaltungswissens erforderten einen hohen Grad an Spezialisierung und vielschichtigem Expertenwissen.80 Insbesondere die Komplexitätszunahme, die sich ab den 1830er Jahren manifestierte und die sich gut an den Landesaufnahmen beobachten lässt, könnte die Machtposition der Bürokratie nochmals entscheidend verbessert haben. Durch die Übernahme und sukzessive Integration internationaler wissenschaftlicher Standards wurde eine Instanz etabliert, die außerhalb des kaiserlichen Gewaltmonopols situiert war und die nach der Jahrhundertmitte schnell zu einer primären Quelle von Legitimität wurde.81
Imperiales oder staatliches Wissen? Eine neue Perspektive auf das habsburgische Zentraleuropa Die konsequente Umsetzung eines wissensgeschichtlichen Forschungsprogramms im Hinblick auf die Erzeugung, Nutzung und Dissemination jener Wissensformationen, die für die Aufrechterhaltung und Stabilisierung imperialer Herrschaft zentral waren, erscheint aus mehreren Gründen vielversprechend. Zum einen öffnet sich der Blick auf jene langfristigen Prozesse innerhalb der imperialen Vermittlung zwischen Herrschaft und Untertanen, die den etablierten politikzentrierten Ansätzen zumeist entgehen oder aber nur für bestimmte, klar abgegrenzte Untersuchungszeiträume hervortreten. Zum anderen bietet diese Annäherung eine angemessene Distanz zu laufenden Debatten um Imperialität und Staatlichkeit. Der vorliegende Problemaufriss legt nahe, hier vorschnelle konzeptuelle Festlegungen zu vermeiden und die Erarbeitung eines analytischen Vokabulars voranzutreiben, das es erlaubt, eine präzise Beschreibung von Herrschaftsphänomenen in ihrem zeitlichen Kontext vorzunehmen.
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Vgl. Hofstätter, Beiträge zur Geschichte der österreichischen Landesaufnahmen, S. 111ff. Zur Rolle, die besonders internationale wissenschaftliche Kongresse spielten, vgl. Nico Randeraad, States and statistics in the nineteenth century. Europe by numbers, Manchester 2010.
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Die imperialgeschichtliche Analyse nahe an der Terminologie von Burbank und Cooper ermöglicht zwar eine radikal andere Perspektive auf das Zentraleuropa der Sattelzeit, sie stößt aber in der konzisen Bewertung der Entwicklungen im späten 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Grenzen: Effektiv antizipiert die Rede vom Kaiserstaat nach 1804/1806 eine Zentralstaatlichkeit, die institutionell erst in den 1850er Jahren annähernd eingelöst werden kann, nach 1867 erweist sich eine Analyse entlang der großen Linien der Imperialgeschichte wieder als fruchtbarer.82 Zu Recht wird in diesem Zusammenhang die mangelnde analytische Tragfähigkeit einer dichotomen Auffassung von Nationalstaat und Imperium kritisiert.83 Ein breiter angelegtes analytisches Instrumentarium, das nationalstaatlichen und imperialen Logiken eine offenere Konzeption moderner Staatlichkeit zur Seite stellt, erscheint angemessener.84 Bereits für das frühe 19. Jahrhundert ist es lohnenswert, die Hybridität von Herrschaftspraxis anzuerkennen, in der, je nach Konstellation, durchaus Elemente des Imperiums und solche moderner Staatlichkeit aufeinandertreffen: Dies tritt etwa in der enormen Divergenz zutage, die sich häufig zwischen normativen Anforderungen, etwa rechtlicher Natur, und deren bestenfalls unzureichender Umsetzung in der Praxis der Verwaltung eröffnet.85 Konkreter werdende Auffassungen und Vorstellungen von moderner Staatlichkeit konfligieren besonders in der Zeit von Franz I. (II.) wiederholt mit dessen traditionellen Auffassungen imperialer Herrschaftsausübung. Viele bürokratische Institutionen legten in diesem wechselhaften Umfeld eine bemerkenswerte Resilienz an den Tag oder expandierten gar. Das Beispiel 82
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Vgl. dazu exemplarisch Josef Löffler, Grundherrschaft, Gerichtsbarkeit und Regionalverwaltung bis 1848, in: Oliver Kühschelm/Elisabeth Loinig/Stefan Eminger/Willibald Rosner (Hg.), Niederösterreich im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Herrschaft und Wirtschaft. Eine Regionalgeschichte sozialer Macht, St. Pölten 2021, S. 175–202. Thomas Stockinger, Bezirke als neue Räume der Verwaltung. Die Einrichtung der staatlichen Bezirksverwaltung in den Kernländern der Habsburgermonarchie nach 1848. Ein Problemaufriss, in: Administory. Journal for the History of Public Administration/ Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte 2 (2017), S. 256–284, hier S. 257. Vgl. Gammerl, Untertanen, Staatsbürger und Andere. Gammerl unterscheidet nationalstaatliche, etatistische und imperialistische (sic!) Logiken, die ansonsten bemerkenswerte Arbeit kann wenig Bezug zu den jüngeren imperialgeschichtlichen Auseinandersetzungen geltend machen. Vgl. Konrad Clewing (Hg.), Roher Diamant Dalmatien. Die habsburgische Verwaltung, ihre Probleme und das Land, wie beschrieben von seinem Gouverneur Lilienberg für Kaiser Franz I. (1834), München/Berlin/Leipzig/Washington 2015.
Imperiales Wissen: Zensus und Karte
des Statistischen Bureaus, das nach seiner Gründung 1829 kontinuierlich expandierte, kann durchaus im Kontext einer autopoietischen Dynamik interpretiert werden.86 Über seine Funktion – den Herrscher (Franz I.) bzw. später den Staat mit einschlägigem Wissen zu versorgen – hinaus diente es bürgerlichen Beamten als Bühne zur Erreichung von persönlichen Karrierezielen, aber auch als Werkzeug für politische Ziele.87 Gerade das Beispiel der Volkszählungen nach 1869 ist anschaulich im Hinblick auf die Anschlussfähigkeit der großen Wissensformationen, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgebaut wurden, und belegt, wie vielschichtig imperiale Herrschaft und moderne Staatlichkeit in diesem Zeitraum phasenweise verflochten waren. Die Zensusaufnahme antizipierte einerseits Staatshandeln, weil an ihr frühzeitig deutlich wurde, mit welchen Standardisierungs- und Homogenisierungsansprüchen Modernisierung insgesamt verknüpft war. Insofern muss die Frage aufgeworfen werden, ob imperiale Herrschaft über einen bestimmten Punkt hinaus noch modernisierbar war? Andererseits konnte das im Zensus erzeugte Wissen sowohl entsprechend imperialer als auch staatlicher Logiken gewinnbringend verwertet werden, mit einer wichtigen Einschränkung, die aber erst spät im 19. Jahrhundert zutage trat: Wissen, das erfolgreich als öffentliche Ressource etabliert worden war und als solche eine soziale Wirksamkeit entfaltete, entwickelte eine hohe Stabilisierungswirkung. Das trat nicht nur in Auseinandersetzungen um Nationalität hervor, die durch Volkszählungen endgültig zu einer harten Tatsache im politischen Diskurs und der sozialen Wirklichkeit geworden war. Auch im Hinblick auf die Kartografie ist das zu beobachten, beispielsweise durch die Vorstellung ethnisch homogener und abgegrenzter Territorien, wie sie im späteren Umgang mit der zum Standard avancierten Ethnographischen Karte der oesterreichischen Monarchie von Czoernig zu beobachten ist.
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Vgl. Wolfgang Göderle, Das Wissen des modernen Staates. Standardisierung und Internationalisierung als externe Einflussfaktoren in der staatlichen Wissenserzeugung, in: ders./Manfred Pfaffenthaler (Hg.), Dynamiken der Wissensproduktion, Bielefeld 2018, S. 175–206, hier S. 186ff. Vgl. Göderle, Administration, Science, and the State, S. 66ff.
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Performative Performance Räume des Politischen und Praktiken der Relevanz: Galizien, die Habsburgermonarchie, Europa und die Welt Dietlind Hüchtker
Mit dem Ziel, nationalgeschichtliche Narrative infrage zu stellen, haben Forschungen zur Habsburgermonarchie seit längerem politische Räume jenseits des Nationalen fokussiert. Die Kronländer, allen voran Galizien, sind als Laboratorien des Heterogenen und Multikulturellen diskutiert worden,1 auch die imperiale Ebene ist mit »imperialen Loyalitäten« und »imperialen Biografien« in den Blick gekommen.2 Tara Zahras Konzept der Indifferenz gegenüber dem Nationalen will den Blick für die Anstrengungen öffnen, die die Akteure und Akteurinnen unternahmen, um sich mit der Habsburgermonarchie und ihren Institutionen zu identifizieren.3 Pieter M. Judsons 2017 auf Deutsch erschienenes Buch Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918 verfolgt das Ziel, den »politischen Nationalismus in Mitteleuropa als Produkt imperialer Strukturen
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Vgl. Johannes Feichtinger/Gary B. Cohen (Hg.), Understanding Multiculturalism. Central Europe and the Habsburg Experience (Austrian and Habsburg Studies 17), New York/Oxford 2014; Wolfgang Müller-Funk/Peter Plener/Clemens Ruthner (Hg.), Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen 2001. Tim Buchen/Malte Rolf, Eliten und ihre imperialen Biographien. Zur Einführung, in: dies. (Hg.), Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850–1918), Berlin/Boston 2015, S. 3–35. Vgl. Tara Zahra, Imagined Non-Communities. National Indifference as a Category of Analysis, in: Slavic Review 69 (Spring 2010), S. 93–119; Pieter M. Judson/Tara Zahra, Introduction to Sites of Indifference to Nationhood, in: Austrian History Yearbook 43 (2012), S. 21–27; Pieter M. Judson, Nationalism and Indifference, in: Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl (Hg.), Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Stichworte, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 148–155.
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und regionaler Traditionen« zu verstehen, mithin »die Konzepte von Reich und nationaler Eigenständigkeit in eine produktive Beziehung zueinander zu bringen«.4 Politische Bewegungen gehören nicht zu den bevorzugten Gegenständen dieser Ansätze, sind sie doch vor allem im Kontext von nationaler Konkurrenz, nationalen Gegensätzen und zunehmenden nationalen Konflikten in den Blick gekommen. Das heißt, sie werden hauptsächlich als nationale und eindeutige, von anderen Bewegungen abgegrenzte Strukturen erforscht, die gegebenenfalls in internationalen Zusammenschlüssen auftraten, kurz als essentialistische historische Akteure. In der Praxis jedoch überschnitten sich die Aktivitäten, waren die Aktivist:innen in verschiedenen Feldern aktiv, konkurrierte man um dieselbe Basis und schöpfte aus einem breiten Pool von Diskursen, Ideen und Debatten.5 Wie überall in Europa entstanden in Galizien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfältige Initiativen, die sich der Gesellschaftsmodernisierung und Interessenvertretung widmeten und zu Bewegungen formten. Die Aktivist:innen verstanden sich als Teil eines vorgestellten Kollektivs – Bauern/Bäuerinnen, Arbeiter:innen, Frauen, Nationen; sie konstruierten deren Geschichte der Benachteiligung oder Unterdrückung und versprachen bei entsprechendem Engagement eine bessere Zukunft, vielfach für die gesamte Gesellschaft.6 Sie konkurrierten um politische Vorstellungen, Deutungshoheit und Einfluss wie auch um den sogenannten Hauptwiderspruch, die Frage also, welche Identitäten und Identifizierungen als grundlegend galten, nicht nur im Hinblick auf Nation, sondern auch auf Geschlecht und Klasse. Die Bewegungen agierten in derselben Region (Galizien) und stellten Forderungen in einem politischen Raum, an das Kronland und den Sejm in Lemberg oder an die Habsburgermonarchie und den Reichsrat in Wien. Ihre Aktivist:innen trafen sich nicht selten an denselben Orten, in Gymnasien wie in
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Pieter M. Judson, Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918, München 2017, S. 17, S. 24. Vgl. Dietlind Hüchtker, Politische und soziale Bewegungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Michael G. Müller/Igor Kąkolewski/Karsten Holste/Robert Traba (Hg.), Die polnisch-litauischen Länder unter der Herrschaft der Teilungsmächte 1772/17951914 (Polen in der europäischen Geschichte. Ein Handbuch in vier Bänden. Bd. 3), Stuttgart 2020, S. 421–450. Vgl. Dietlind Hüchtker, Geschichte als Performance. Politische Bewegungen in Galizien um 1900, Frankfurt a.M./New York 2014, S. 311–315.
Performative Performance
Zeitungsredaktionen.7 Die Aktivitäten, Projekte und Forderungen fanden sich hingegen überall in Europa wieder. Dennoch verstanden sich die Bewegungen als Vertreterinnen nationaler Kollektive, deren Räume überlappten, aber nicht identisch waren, die im Fall Galiziens das geteilte Polen-Litauen, eine großrussische Option oder eine ukrainische Nation, die Gebiete Russlands und Ostgaliziens umfassen sollten, die zionistische Vision einer grenzüberschreitenden gesamtjüdischen Nation usw.8 Nicht nur eine Neuorganisation von Zeitlichkeit, »das Auseinanderbrechen von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont«, um Reinhart Koselleck zu zitieren,9 charakterisierte mithin die Politik, auch Handlungsräume waren nicht einfach gegeben, sondern wurden im Rahmen der vorgestellten Gemeinschaften als konkrete Projekte, geteilte Ideen und vernetzte Personen immer wieder neu hergestellt. Der Beitrag versteht Verräumlichung als situative, relationale und mobile Praktiken10 und analysiert sie als Teil einer performativen Politik. Dies geschieht anhand von ausgewählten galizischen Bewegungszusammenhängen, die jeweils besondere Aspekte der komplexen Raumkonstruktionen vorstellen: Am Beispiel zionistischer Aktivitäten wird gezeigt, wie transnationale Vorstellungen und regionale Initiativen ein nationales Kollektiv bildeten und lokale
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Vgl. Maciej Janowski, Galizien auf dem Weg zur Zivilgesellschaft, in: Helmut Rumpler/ Peter Urbanitsch (Hg.), Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft. Teilbd. 1: Vereine, Parteien und Interessenverbände als Träger der politischen Partizipation (Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. 8), Wien 2006, S. 805–858, hier S. 843. Ukrainisch als Sprach- und Nationalitätsbezeichnung setzte sich in Galizien erst Ende des 19. Jahrhunderts allmählich durch. Bis dahin stritten unterschiedliche Fraktionen um die Bildung eines Kollektivs, als Rutheninnen und Ruthenen, als Teil der russischen (Hoch-)Kultur oder eben als eine die ukrainischsprachige Bevölkerung Russlands und Galiziens zu einer ukrainischen Nation vereinigende Bewegung, vgl. John-Paul Himka, The Construction of Nationality in Galician Rus’. Icarian Flights in Almost All Directions, in: Ronald Grigor Suny/Michael D. Kennedy (Hg.), Intellectuals and the Articulation of the Nation, Ann Arbor 1999, S. 109–164; Anna Veronika Wendland, Die Russophilen in Galizien. Ukrainische Konservative zwischen Österreich und Rußland, 1848–1915, Wien 2001; Michael Stanislawski, Zionism and the Fin de Siècle. Cosmopolitanism and Nationalism from Nordau to Jabotinsky, Berkeley/Los Angeles 2001. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, S. 349–375. Vgl. Steffi Marung/Katja Naumann, Einleitung, in: dies. (Hg.), Vergessene Vielfalt. Territorialität und Internationalisierung in Ostmitteleuropa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2014, S. 9–44, hier S. 13.
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Bezüge einen imaginierten transnationalen Raum mit nationaler Bedeutung. Das Engagement für akademische Frauenbildung und Frauenwahlrecht konstituierte gleichzeitig national differenzierte Bewegungen und einen universalen Kontext der Legitimation. Die Mobilisierung der Bauern und Bäuerinnen für eine moderne polnische Nation war nicht nur mit dem Problem eines geteilten Staates und damit eines geteilten nationalen Raums konfrontiert, sondern vor allem mit der Frage nach dem Wie sozialer Integration. Die Imagination eines gemeinsamen Raums vom Rand her eröffnete eine Möglichkeit, die Ungleichheit der Gleichen politisch zu gestalten. Ausgegangen wird von der These, dass die Raumpraktiken Differenz und Gleichheit in einem wirklichkeitsschaffenden Sinn aufführten und das jeweilige Kollektiv in die europäische Landschaft einer Bewegungspraxis einordneten. Die Beispiele zeigen, wie Raumgestaltung nutzbar gemacht wurde, um spezifische Konstellationen in den Kontext der Identity Politics zu übersetzen.
Das Lokale und die Welt Wie gewinnt ein imaginiertes Kollektiv Wirklichkeitsrelevanz? Zu den zentralen Strategien der Bewegungspraxis gehörten Vereine mit einer Adresse, oft einem Raum oder einem Haus, in jedem Fall mit konkreten Orten, an denen Mitglieder und Interessierte oder Unterstützer:innen zusammentrafen. Solche Orte konnten Bewegungszentren sein, die in größeren Städten gegründet wurden und an denen sich die Aktivitäten konzentrierten.11 Diese waren beispielsweise die Verabschiedung von Resolutionen, die Organisation von Kundgebungen und Vorträgen zu aktuellen politischen Themen wie Wahlrecht, Universitätszugang für Frauen, nationale Gedenktage oder die Geschichte des jüdischen Volks. Jedoch erschöpften sie sich nicht in den Zielsetzungen der jeweiligen politischen Richtung, sondern umfassten auch Vorträge zu allen möglichen zeitgenössischen Themen aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft, von Darwinismus über Kunstdünger bis zu Ethik, gehalten von Experten, manchmal auch Expertinnen aus der akademisch gebildeten Inteligencja. Viele Vereine boten Ausleihmöglichkeiten für
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Für die Frauenbewegungen vgl. Angelique Leszczawski-Schwerk, »Die umkämpften Tore zur Gleichberechtigung«. Frauenbewegungen in Galizien (1867–1918), Wien/Zürich 2015, S. 126–168.
Performative Performance
Bücher, Broschüren, Zeitschriften und Zeitungen an. Darüber hinaus organisierten sie sozialreformerische Projekte wie Übernachtungsmöglichkeiten für Lehrlinge, Ausbildungskurse für junge Frauen, Kindergärten, Kinderlandverschickung, Gymnasien für Mädchen, Schulen mit hebräischer oder ukrainischer Unterrichtssprache usw. Die Vereine dienten der Agitation, sie inszenierten aber vor allem bildungspolitische und sozialreformerische Initiativen, um ihre politischen Ziele sichtbar und nachvollziehbar zu gestalten. An konkreten Orten wurde mithin die von den Bewegungen avisierte bessere Zukunft visualisiert und Reformen wurden performativ vor- und aufgeführt.12 Neben einer repräsentativen Konzentration der Angebote in Bewegungszentren war die räumliche Ausdehnung von Belang, um Relevanz, Legitimität und Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Es wurden lokale Initiativen und Projekte gefördert, die einzelnen Orte wurden durch Vereine verbunden, organisatorisch und virtuell vernetzt. Sie bildeten einen vorgestellten Raum, der aus den Initiativen Bewegungen machte. Schon vor Theodor Herzls Initiative zur Begründung eines politischen Zionismus, der sich um eine jüdische »Heimstatt« bemühte, erstarkten in Wien, Galizien und Böhmen zionistische Aktivitäten, eine Reihe von bildungspolitischen und sozialreformerischen Initiativen und Vereinen. Der Zionismus verfolgte das Ziel, die jüdische Bevölkerung zu einer nationalen zu machen und richtete sich ebenso gegen die traditionelle Orthodoxie, gegen den Chassidismus wie gegen eine Assimilation an die nichtjüdische Welt.13 Er verstand sich als Vertreter des gesamten Judentums, begründete seine Existenz aber gleichzeitig mit der besonders elenden Lage in Russland und in Galizien. Diese oft Kulturzionismus genannte Strömung ging davon aus, dass eine soziale und kulturelle »Hebung« der jüdischen Bevölkerung Voraussetzung für die Herausbildung einer jüdischen Nation sei und stieß immer wieder mit dem politischen Zionismus um Herzl zusammen – was die Vorstellung einer dichotomen Trennung zwischen einem emanzipierten West- und einem traditionellen, verelendeten Ostjudentum noch verstärkte.14 12 13
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Vgl. Hüchtker, Geschichte als Performance, S. 249f. Vgl. Joshua Shanes, Diaspora Nationalism and Jewish Identity in Habsburg Galicia, New York 2012, S. 178–180; zum Folgenden vgl. auch Hüchtker, Geschichte als Performance, S. 238–244. Vgl. Antony Polonsky, The Jews in Poland and Russia. 1881 to 1914, Oxford/Portland 2010, S. 113–146; Heiko Haumann, Zionismus und die Krise des jüdischen Selbstverständnisses. Tradition und Veränderung im Judentum, in: ders. (Hg.), Der Traum von Israel. Die Ursprünge des modernen Zionismus, Weinheim 1998, S. 9–65; Adolf Gais-
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In Galizien bauten die zionistischen Aktivist:innen ein flächendeckendes Netz von Vereinen in fast allen kleinen und größeren Städten auf.15 Sie reisten von Ort zu Ort, um für Studenten- oder Frauenvereine zu agitieren, Makkabäer-Abende16 und Veranstaltungen zu jüdischer Geschichte und Kultur, aber auch zu tagesaktuellen und bildungspolitischen Themen anzubieten, hebräischsprachige Kindergärten oder entsprechende Sprachkurse für Erwachsene zu organisieren. Manche Zentren boten Ausbildungskurse und andere konkrete soziale Maßnahmen an. Die Reise- und Vortragstätigkeit wurde in den Organen der Bewegung, in Die Welt, in Przyszłość (Die Zukunft) und Wschód (Der Osten) dokumentiert. Auftritte, Reden und Berichterstattung erzeugten auf diese Weise eine lokal verankerte, verbundene Bewegung.17 Die Netze an Vereinen und Vorträgen bedurften einer Vertiefung, einer performativen Performance, die die Stärke der Bewegung, den umfassenden Anspruch auf das gesamte Judentum und die reformerische Praxis verbinden würde. Zu diesen Vertiefungen gehörten die sogenannten Toynbee Halls, die seit der Jahrhundertwende zuerst in Wien, dann in einer Reihe von galizischen Städten entstanden. Die erste Toynbee Hall wurde 1884 von Samuel und Henrietta Barnett in den Slums des Londoner East End gegründet. Dieses Settlement-Projekt hatte zum Ziel, durch Anwesenheit vor Ort Gebildete (Studenten) und Unterschichten zusammenzubringen, um die als soziale Kluft diagnostizierte soziale Ungleichheit abzumildern. Dazu wurde ein umfassendes Programm sozialreformerischer und bildungspolitischer Initiativen angeboten, von Alphabetisierungskursen über Handelslehre, Buchführung und Sprachen, Erste Hilfe und Hygiene bis zu Kunst- und Literaturzirkeln. Benannt war die Londoner Toynbee Hall nach Arnold Toynbee, einem britischen Philanthropen und Nationalökonomen. Die Initiative fand Nachahmer:innen u.a. die amerikanische Feministin und Sozialreformerin Jane Addams, die zusammen mit zunächst acht Frauen 1894 ein ähnliches Settlement in Chicago grün-
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bauer, Davidstern und Doppeladler. Zionismus und jüdischer Nationalismus in Österreich 1882–1918, Wien/Köln/Graz 1988, S. 39–81. Vgl. ebd., S. 194–243. Makkabäer-Feiern erinnerten an den Makkabäer-Aufstand 168 v. Chr. als Beispiel nationaler Stärke des jüdischen Volks und sollten in den sich von der Orthodoxie distanzierenden zionistischen Kreisen die Chanukka-Feiern ersetzen, vgl. François Guesnet, Chanukah and its Function in the Invention of a Jewish-Heroic Tradition in Early Zionism, 1880–1900, in: Michael Berkowitz (Hg.), Nationalism, Zionism and Ethnic Mobilization of the Jews in 1900 and Beyond, Leiden/Boston 2004, S. 227–245. Vgl. Hüchtker, Geschichte als Performance, S. 124–129, S. 234–249.
Performative Performance
dete, das berühmt gewordene Hull House, das neben Hygiene-, Sprach- und Ausbildungskursen ebenfalls ein kulturelles Programm, eine Abendschule und einen Kindergarten betrieb. Hull House war eng mit der amerikanischen Frauenbewegung verbunden, während das Londoner Settlement zum Milieu religiös motivierter Reformbestrebungen gehörte.18 Die im zionistischen Umfeld gegründeten Toynbee Halls boten Vorträge und Kurse zu vielfältigen Themen der Zeit an, zu jüdischer Geschichte, Ethik und Kultur, Literaturabende und -zirkel, gelegentlich auch Rechtsberatung. Obwohl das Vorbild, die Londoner Toynbee Hall, seine Besonderheit gerade aus seiner Lage im Elendsviertel schöpfte, war von einer solchen Lokalisierung in der galizischen Berichterstattung nicht die Rede. Auch wurde nicht mit sozialreformerischen Projekten geworben, Kindergärten und Ausbildungskurse fanden keine Erwähnung, stattdessen das Programm einer auf die Mittelschicht ausgerichteten Allgemeinbildung. Manche der Toynbee Halls hatten nicht einmal ein eigenes Gebäude, sondern mieteten sich einen Saal, um Vorträge oder Kulturabende zu veranstalten. Was genau versprachen sich die zionistischen Aktivist:innen von der Übernahme des Projekts, man könnte sagen, des klingenden Namens, da die Grundstruktur der zionistischen Toynbee Halls dem Original nur wenig entsprochen zu haben scheint? Warum nannten sie dieses Bildungsprogramm »Toynbee Hall«? Um zu verstehen, wie die zionistischen Toynbee Halls funktionierten, welche Bedeutung sie transportierten, ist es aufschlussreich, die Vorstellung der Projekte in den zionistischen Organen heranzuziehen, insbesondere die Verwendung des Begriffs »Volk«. Volk wurde einmal als Synonym für Nation benutzt, das andere Mal für »untere Schichten«. So wurden einige Toynbee Halls als Einrichtungen für »das jüdische Volk«, für »verschiedene Sphären der jüdischen Bevölkerung« vorgestellt.19 Geradezu im Gegensatz zum Konzept der Barnetts wurde betont: »[U]nd nicht der Gebildete belehrt den Ungebildeten, sondern der Freund erzählt dem Freunde, der Volksgenosse dem Volksgenossen.«20
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Vgl. Einleitung, in: Rolf Lindner (Hg.), »Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land«. Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Berlin 1997, S. 9–14. »rozmaitych sfer żydowskiej ludności«, »dla ludu żydowskiego«, Kronika: Kolomyja, in: Wschód 1 (1901) 59, S. 9. Die Fragen der körperlichen, geistigen und wirtschaftlichen Hebung der Juden, in: Die Welt 5 (1901) 4, S. 8f., hier S. 8 (Autorenkürzel Dr. K.).
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Andere Gründungen wurden hingegen durchaus auf eine Bildungsstätte für Unterschichten bezogen, so beispielsweise die Lemberger Toynbee Hall, von der es hieß: »In hellen Scharen strömten sie herbei, die doppelt Elenden, die jüdischen Proletarier, Männer und Frauen, um sich an Samstag- und Sonntag-Abenden (den einzigen freien in der Woche) geistig zu zerstreuen.«21 Auch die Wiener Toynbee Hall wurde vorgestellt als »ein Tempel des Wissens für die graue Masse. Dort schöpft man dieses durch populäre Bearbeitungen, darunter Vorträge, Musikprodukte, Gesang, Deklamationen und ähnliche Vergnügungen, die den Verstand veredeln. Dieses Denkmal englischer Kultur kopierte Prof. Kellner und gründete im gegenwärtig bitteren Wien eine Oase für jüdische Hausierer, Trödelhändler und Handwerker«.22 Beide Toynbee Halls, die Wiener und die Lemberger, richteten sich an die unteren Schichten. Beide präsentierten populär aufbereitetes Wissen, das der geistigen Beschäftigung und ganz offensichtlich einer kulturellen Bildung der avisierten Besucher:innen diente. Zwar könnte man die »Oase« im Sinne eines Settlements deuten – angesichts der zentralen Bedeutung, die dieser Aspekt für das eigentliche Projekt hatte, käme sie in dieser Vorstellung allerdings etwas kurz. Vor allem boten beide keine praktischen Kurse an, die für die sozial benachteiligte Bevölkerung konkretes soziales Kapital hätten bedeuten können. Wie die anderen zionistischen Vereine verbreiteten sich die Toynbee Halls in kleineren und größeren Städten und unterstützten das bildungspolitische Programm der zionistischen Bewegung. Sie trugen mithin zur räumlichen Ausdehnung bei. Der organisatorische Raum der zionistischen Vernetzungen war zunächst regional, ein galizischer oder ostmitteleuropäischer. Im Unterschied zu den Settlement-Projekten lag das Spezifische der zionistischen Toynbee Halls im Oszillieren des Volksbegriffs zwischen einer nationalen und
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Lemberger Toynbee-Hall, in: Die Welt 7 (1903) 6, S. 7 (Autorenkürzel E. F. Wz.). »przybytkiem wiedzy dla szarej masy. Czerpie się jej tam w popularnem opracowaniu, wsród odczytów, produkcyi muzycznych, śpiewu, deklamacyi i t. p. rozrywek, uszlachetniających umysł. Ten pomnik angielskiej kultury skopiował prof. Kellner i na gorzkim obecnie gruncie wiedeńskim stworzył oazę dla żydowskich domokrążców, tandeciarzy i rzemieślników«. Żydowska Toynbeehala, in: Wschód 1 (1901) 50, S. 4 (Autorenkürzel S-m).
Performative Performance
einer sozialen Bedeutung. Dadurch verbanden sie rhetorisch die Diagnose von Verelendung in Galizien bzw. Ostmitteleuropa mit einer nationalen Vereinigung des gesamten Judentums. Statt eine tiefe soziale Kluft zu konstatieren, deklarierten sie soziale Unterschiede als »verschiedene Sphären« eines Volkes. Auf diese Weise führten sie das Ziel des Zionismus, die Einung des jüdischen Volks, performativ vor. Die Toynbee Halls waren gewissermaßen eine Übungsstätte oder Prognose für eine bessere, nämlich soziale Unterschiede überwindende Zukunft eines geeinten jüdischen Volks. Umgekehrt benannten sie die Differenzen innerhalb der jüdischen Bevölkerung als soziale, sie implizierten unausgesprochen (lesbar im zionistischen Kontext der Berichtsorgane) die Überwindung der diversen Landesgrenzen. Die Toynbee Halls können als Metapher für ein über den Ost-West-Gegensatz hinweg geeintes nationales Judentum gelesen werden. Das produktive Missverständnis des Projekts »Toynbee Hall« macht allerdings auch die Notwendigkeit deutlich, die Konstruktion eines geeinten nationalen Judentums aktiv zu betreiben. Die Einheit als jüdisches Volk stellte keine Normalität dar, sie war eine historische Anstrengung, die der Zionismus unternahm und die er als zukunftsorientierte performative Performance anbot. In diesem Sinne lag gerade in der lokalen Praxis eine transimperiale Perspektive, die die zionistische Bewegung in Galizien und ihre Stärke auf dem Zionistischen Weltkongress begründete. Die Territorialisierung der Praxis diente einer De-Territorialisierung des Kollektivs.
Die Produktivität des Universalen Die Querelle des femmes ist alt, sie wurde schon im Mittelalter geführt, war Thema in Reformdebatten des 17., des 18. Jahrhunderts und wurde in der Französischen Revolution neu aufgelegt – von Männern wie auch von einigen Frauen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts bildeten sich überall in Europa Frauenbewegungen heraus, die in die Debatten eingriffen und Vereine zur Umsetzung ihrer Forderungen und Ziele ins Leben riefen. Eines der ersten zentralen Felder waren Initiativen zur akademischen Bildung und Berufstätigkeit von Frauen, gefolgt von Aktivitäten zur Reform des Zivil- und Wahlrechts.23 In Galizien
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Vgl. Sylvia Paletschek/Bianka Pietrow-Ennker, Women’s Emancipation Movements in Europe in the Long Nineteenth Century. Conclusions, in: dies. (Hg.), Women’s
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wurden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erste Vereine und Initiativen gegründet, die sich zu einer polnischen und einer ukrainischen Frauenbewegung formten. 1890 trug der ruthenische Abgeordnete Ivan Ozarkevyč im Wiener Reichsrat eine »Petition der ruthenischen Frauen aus Galizien und der Bukowina um Zulassung der Frauen zu den Universitätsstudien und Creirung wenigstens eines weiblichen Gymnasiums in Galizien«24 vor. Ozarkevyč war Priester einer griechisch-katholischen Gemeinde in Galizien und Abgeordneter im Reichsrat, wo er eine nationale ukrainophile Politik vertrat. Verfasst hatte die Petition seine Tochter Natalja Kobryns’ka, die sich für feministische Politik unter den ruthenischsprachigen Frauen einsetzte und 266 Frauen für die Unterzeichnung der Petition hatte gewinnen können.25 Kobryns’ka war zu ihrer Eingabe durch eine von tschechischen Abgeordneten eingereichte ähnliche Petition angeregt worden.26 Die Petition richtete sich an die imperiale Institution Reichsrat als gesetzgebende Instanz; der Titel weist die Petitierenden als regionale Gruppe aus, als ruthenische Frauen aus Galizien. Die Frauen nutzten den Handlungsraum »Reichsrat«, um ihren Forderungen Gewicht zu verleihen: »Ein hoher Reichsrath geruhe dahin zu wirken, damit den Frauen der legale Zutritt zu den Universitätsstudien gestattet […] werde«. Die Petition begründete das Begehren damit, dass Frauen »in allen größeren Staaten Europas« zum Studium zugelassen seien, ausgenommen in Österreich, »was als Anomalie bei
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Emancipation Movements in Europe in the Long Nineteenth Century. A European Perspective, Stanford 2014, S. 301–333, hier S. 319f. [Natalja Kobryns’ka], Petition der ruthenischen Frauen aus Galizien und Bukowina um Zulassung der Frauen zu den Universitätsstudien und Creirung wenigstes eines weiblichen Gymnasiums in Galizien, in: Stenographische Protokolle. Haus der Abgeordneten, 405. Sitzung der X. Session am 8. Mai 1890, S. 15269–15270, https://alex.on b.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=spa&datum=00100003&zoom=2&seite=00015 269&x=13&y=14 (abgerufen am 15.1.2023). Zu Kobryns’ka vgl. Hüchtker, Geschichte als Performance, bes. S. 83–118; Irena Knyš, Smoloskyp u temrjavi. Natalija Kobryns’ka j ukraïns’kyj žinočyj ruch, Winnipeg 1957, S. 164; Martha Bohachevsky-Chomiak, Natalia Kobrnys’ka. A Formulator of Feminism, in: Andrei Markovits/Frank E. Sysyn (Hg.), Nationbuilding and the Politics of Nationalism. Essays on Austrian Galicia, Cambridge, Mass. 1982, S. 196–219. Vgl. Jitka Malečková, The Emancipation of Women for the Benefit of the Nation. The Czech Women’s Movement, in: Paletschek/Pietrow-Ennker (Hg.), Women’s Emancipation Movements in Europe in the Long Nineteenth Century, S. 167–188, hier S. 175.
Performative Performance
dessen constitutioneller Verfassung sich darstellt«.27 In der Tat konnten zu dem Zeitpunkt Frauen in der Schweiz und in Frankreich regulär studieren, nicht allerdings in der Habsburgermonarchie oder in Preußen, das erst ab 1908 seine Tore für ein reguläres Studium allmählich öffnete.28 Viel interessanter ist jedoch die einleitende Begründung für diese zwischenstaatliche Konkurrenz. Die »Frauenfrage« galt der Autorin der Petition als eine universelle, »die ganze Hälfte des Menschheitsgeschlechts«29 betreffend. Sie kritisierte die »staatliche Einrichtung«, die nicht allen Mitgliedern gleiche Rechte zugestehe und daher die existenzielle Abhängigkeit der Frauen von den Männern begründe. Kobryns’ka forderte gleiche Rechte der Bildung insbesondere für Mittelschichtsfrauen mit dem von allen europäischen Frauenbewegungen gleichermaßen vorgebrachten Argument, dass es für diese an geeigneten Berufen fehle. Die Begründung war explizit universal formuliert, die folgende Aufzählung einer Reihe von Staaten verankerte die Forderung in einem europäischen Kontext und machte deutlich, dass der Staat als Gesetzgeber gefragt war. Dennoch stammte die Petition explizit von ruthenischen Frauen – so wie die Vorgängerin von tschechischen Frauen gestellt worden war. Kobryns’ka konstruierte auf diese Weise eine nationale Gruppe, die wie andere europäische Frauenbewegungen eine universal begründete Forderung an den (National- oder Imperial-)Staat richtete. Die Petition war also weit mehr als eine Forderung an den Reichsrat, sie schrieb die Initiative einiger weniger ruthenischer Frauen in einen Raum feministischer Politik ein. Gleichzeitig inszenierte Kobryns’ka – auch dies spricht aus der Petition – nationale Konkurrenz zwischen den verschiedenen in Galizien aktiven Frauenvereinen. Sie konstituierte so eine explizit ukrainische Frauenbewegung, die sie mit den anderen europäischen Frauenbewegungen gleichstellte. Der Initiative Kobryns’kas folgten eine Reihe weiterer Petitionen, nicht nur an den Reichstag, auch an den galizischen Sejm. Gelegentlich gelang es, Sprecherinnen bzw. Organisationen unterschiedlicher politischer und nationaler
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[Kobryns’ka], Petition der ruthenischen Frauen aus Galizien und Bukowina, S. 15270. Vgl. Kristine von Soden, Auf dem Weg in die Tempel der Wissenschaft. Zur Durchsetzung des Frauenstudiums im Wilhelminischen Deutschland, in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 617–632. Insgesamt erfolgte die formelle Zulassung überall in Europa langsam und schrittweise. [Kobryns’ka], Petition der ruthenischen Frauen aus Galizien und Bukowina, S. 15269.
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Herkunft zu einer Petition oder zu einer Kundgebung zusammenzubringen; solche gemeinsamen Aktivitäten hielten allerdings nicht lange an.30 1893 wurde eine Petition zur Einrichtung von Mädchengymnasien, d.h. für die Möglichkeit, die Allgemeine Hochschulreife zu erwerben, von Teofil’ Okunevs’kyj, einem Verwandten von Kobryns’ka, im galizischen Sejm vorgetragen. Die Rede war, wie üblich, von Erwerbsnotstand, aber auch von der Bedeutung von Frauenbildung für die Entwicklung von Zivilisation und Nation. Abgedruckt ist die Petition im Przedświt (Morgengrauen), einer polnischsprachigen, im Ausland erscheinenden sozialistischen Zeitschrift, die sie mehreren polnischen Frauenvereinen zuordnete.31 Kobryns’ka verschwieg in ihrem Bericht diese Frauenvereine, hob stattdessen Okunevs’kyjs Engagement und die aus allen Teilen Galiziens eintreffenden Unterstützungslisten hervor.32 Die Petition eröffnete einen Möglichkeitsraum Galizien, in dem universale geschlechtsbezogene Gleichheit und nationale Spezifik miteinander verwoben werden konnten. Die als universal formulierte Forderung wurde mit unterschiedlichen Praktiken nationaler Dominanzerzeugung in Verbindung gebracht. 1897 wurden die ersten Frauen zum regulären Studium an der philosophischen und medizinischen Fakultät der Universitäten in Krakau und Lemberg zugelassen.33 Ähnliche Territorialisierungspraktiken lassen sich im Hinblick auf das Wahlrecht konstatieren. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde im Kontext der Forderungen nach gleichem und geheimem Männerwahlrecht ein allgemeines, gleiches und geheimes Wahlrecht unabhängig vom Geschlecht zu einem zentralen Thema in den europäischen Frauenbewegungen.34 In den
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Vgl. Martha Bohachevsky-Chomiak, How Real were Nationalism and Feminism in 19th Century Galicia, in: Sophia Kemlein (Hg.), Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa 1848–1918, Osnabrück 2000, S. 143–152, hier S. 150f. Petycja kobiet do Sejmu, in: Przedświt (1893) 10. Natalija [Natalja] Kobryns’ka, Žinoča sprava v Halyčyni, in: Naša dolja. Zbirnyk prac’ rižnych avtoriv, Stryj 1893, S. 1–35, hier S. 17; Knyš, Smoloskyp u temrjavi, S. 188; Jan Hulewicz, Sprawa wyższego wykształcenia kobiet w Polsce w XIX wieku, Kraków 1939, S. 247–249. Vgl. Jan Hulewicz, Walka kobiet o dostęp na uniwersytetu, Warszawa 1936, S. 52; Hulewicz, Sprawa wyższego wykształcenia kobiet w Polsce w XIX wieku, S. 247f. Von den früheren Petitionen ist allerdings keine Rede mehr. Vgl. Paletschek/Pietrow-Ennker, Women’s Emancipation Movements in Europe in the Long Nineteenth Century, S. 321–323; Leszczawski-Schwerk, »Die umkämpften Tore zur Gleichberechtigung«, S. 265–291.
Performative Performance
größeren galizischen Städten wurden Initiativen gegründet, die Wahlrechtspetitionen verfassten und sie in öffentlichen Demonstrationen zum Sejm oder zur Stadtregierung brachten. Die Frauendelegationen wurden oftmals vom Statthalter oder einem Landtagsabgeordneten empfangen, wandten sich an Stadtverordnete und an den Vizepräsidenten von Lemberg.35 Wie die Petitionen um Zulassung zu akademischer Bildung waren die Initiativen national organisiert, verbanden sich gelegentlich zu transnationalen Gruppen, um die Dringlichkeit ihrer Anliegen zu verdeutlichen. Die Wahlrechtsforderungen selbst wurden ebenso wie die Notwendigkeit akademischer Bildung mit universaler Gültigkeit begründet: »Wir fordern im Namen der Gerechtigkeit: gleiches, allgemeines, direktes, geheimes Wahlrecht unabhängig vom Geschlecht«. Gerechtigkeit sei eine »allgemeinmenschliche« Angelegenheit.36 Durch diese Begründung wurden die Petitionen zu so etwas wie einem nationsneutralen Raum, der die »Frauenfrage« für einen Moment zu einer universalen machte. All diese Petitionen können als performative Sprechakte gelesen werden, die eine produktive Beziehung imperialer und nationaler Räume herstellten, denn erst aus dem imperialen Kontext heraus wurden sie zu einem internationalen Zusammenschluss und stärkten damit die nationale Komponente als zukünftige Option einer zivilisierten (besseren) Gesellschaft, in der Frauen Gleichheit mit Männern gebühren würde. Sie verbanden Ver- und Enträumlichung: das national konnotierte Kollektiv, die Petition und deren Transport zu einem konkreten Gebäude in Lemberg, sei es der Sejm, sei es die Stadtregierung, der institutionelle Rechtsraum, Kronland oder Gesamtstaat, die Inanspruchnahme universaler Geltungsräume. Diese Verräumlichungen machten aus den Worten und Taten eine Bewegung im Kontext mit anderen Bewegungen. Während die Handlungsräume lokal begrenzt waren, stand die jeweilige Gruppe für einen vorgestellten nationalen Raum, konstituierten die avisierten Rechtsräume komplexe, sich überlappende Geltung. Aus der Parallelisierung dieser Räume resultierte die Legitimation durch die Forderung nach »Gerechtigkeit«. In der performativen Performance lokaler
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Vgl. ebd., S. 171–181. »Żądamy w imię sprawiedliwości: równego, powszechnego, bezpośredniego, tajnego prawa głosu, bez różnicy płci«; »ogólno-ludzka«. Jadwiga Petrażycka-Tomicka, Związek Równouprawnienia Kobiet we Lwowie. Przyczynek do historii równouprawnienia kobiet w Polsce, Kraków 1931, S. 28.
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Initiativen, nationaler Ordnungen, universaler Gültigkeit und internationaler Zusammenschlüsse erwies sich die Wirkmächtigkeit der Initiativen als konstituierender Moment der Frauenbewegungen in Galizien – wie in Europa.
Exterritorialisierung und Vereinnahmung Auf den ersten Blick scheint kaum eine Bewegung eindeutiger in einem nationalen Raum agiert zu haben als die Bauernbewegung. Die Mobilisierung der Bauern für das nationale Projekt war seit der Romantik ideologisch aufgeladen – das bäuerliche Leben wurde als Basis der Nation stilisiert und Nationalisierung galt als wichtigstes Modernisierungsprojekt. In Galizien entstanden mehr oder minder parallel sowohl ruthenische als auch polnische Bildungsinitiativen auf dem Land, Lesesäle und Zeitschriften, die nationales Bewusstsein mit kultureller und politischer Bildung verbanden und so die Bauern und Bäuerinnen für eine nationale Bewegung zu gewinnen trachteten.37 Zum Repertoire der Praktiken, mit denen Nation zu einer gleichermaßen vorausgesetzten und durch politische Arbeit zu erwerbenden oder zu erlernenden Option wurde, gehörten wie in den vorherigen Beispielen komplexe Verräumlichungen. Um dies zu zeigen, wird die Rhetorik Maria Wysłouchowas herangezogen, die eine Vielzahl von populären Schriften verfasste, mit denen sie in einer blumigen, romantischen Sprache der ländlichen Bevölkerung die nationale Kultur nahezubringen trachtete.38 Wysłouchowa gehörte zu den führenden Köpfen einer auf die ländliche Bevölkerung ausgerichteten nationalen Politik, die sich sozialistischen und demokratischen Ideen verpflichtet und in Opposition zur konservativen und klerikalen polnischen Elite Galiziens sah. Sie kam aus einer polnischen Grundbesitzerfamilie mit mehreren Landgütern (Ziemiaństwo) in Polnisch-Livland, das mit der ersten 37
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Vgl. Jan Molenda, Chłopi, Naród, Niepodległość. Kształtowanie się postaw narodowych i obywatelskich chłopów w Galicji i Królestwie Polskim w przededniu odrodzenia Polski, Warszawa 1999; Keely Stauter-Halsted, The Nation in the Village. The Genesis of Peasant National Identity in Austrian Poland, 1848–1914, Ithaca/ London 2001; Kai Struve, Bauern und Nation in Galizien. Über Zugehörigkeit und soziale Emanzipation im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005. Zu den wichtigsten biografischen Daten vgl. Irena Bryll, Maria Wysłouchowa. Pisarstwo dla ludu i zainteresowania ludoznawcze, Opole 1984; Hüchtker, Geschichte als Performance, S. 50–83.
Performative Performance
Teilung Polens als Gouvernement Witebsk in das Russische Reich eingegliedert worden war, und lebte mit ihrem Ehemann aufgrund der Repressionen im Königreich Polen im Exil in Galizien. Die Publikationen wurden über die Grenze ins russische Teilungsgebiet und nach Russland geschmuggelt, fanden ihren Weg in das preußische Teilungsgebiet, zur Polonia im Deutschen Reich und in die USA. Wysłouchowa schrieb sich in eine grenzüberschreitende polnische Nationalpolitik ein und suchte die Teilungen durch ein kulturelles Nationalbewusstsein zu überwinden. Wie diese transimperialen Konstruktionen funktionierten, kann man an ihren Deutungen der polnischen Bauernwelt analysieren. Sie reiste oft in die Bergdörfer der westlichen Beskiden im Grenzgebiet zwischen Galizien und Österreichisch-Schlesien. Das ehemalige Herzogtum Teschen hatte zum Herrschaftsgebiet des Piasten-Geschlechts gehört und war im 17. Jahrhundert an die böhmische Krone gefallen. 1849 wurde es dem Kronland ÖsterreichischSchlesien einverleibt und entwickelte sich vor allem um die Stadt Teschen herum im 19. Jahrhundert zu einem bedeutenden Zentrum des österreichischen Steinkohlebergbaus; ein großer Teil der dort lebenden polnischen Bevölkerung waren Migrant:innen aus Galizien. Wysłouchowa schrieb viel über die Region.39 In Reiseberichten und Erzählungen schilderte sie Sitten und Gebräuche, Lebensweisheiten, Legenden und Geschichten.40 Die Gegend stellte für sie so etwas wie einen mythischen Ursprung dar. »Nur dort, im Westen glänzte für Augenblicke das Licht triumphal: […] drei Kreuze, und ringsherum auf der Wiese Regentropfen, die abwechselnd wie rote Brillanten funkelten. Grau, niedrig, sich mit ihren schmalen Schultern fast gegenseitig berührend, ähnelten sie [die Kreuze] eher den Kreuzen, die auf Armengräbern aufgestellt werden, als denen am Straßenrand, die – wie der Bergbauer erklärte – die Grenze zwischen Polen und Schlesien markieren. Die seltsamsten Grenzpfähle überhaupt! Oder auch nicht! oder auch
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Maria Wysłouchowa, Ze Śląska, in: Przyjaciel ludu (1896) 1–2; dies., Z Wisły do Izdebnego, in: Tydzień 6 (1898) 41, S. 322–324; 42, S. 330–334; dies., Matka Boska Zielna na Wiśle, in: Tydzień 6 (1898) 35, S. 275–277. Maria Wysłouchowa, Ze śląskiej ziemi, in: Tydzień 4 (1896) 47, S. 48, S. 50–52, S. 376, S. 383f., S. 399f., S. 406–408, S. 415f; 5 (1897) 4, S. 5f., S. 10–17, S. 31f., S. 39f., S. 47f., S. 78f., S. 86f., S. 93f., S. 103f., S. 112, S. 119f., S. 127f., S. 135f.; dies., Z ziemi śląskiej, in: Zorza II (1901) 7, S. 106–109; 8, S. 118–122; 9, S. 132–134; 10, S. 154–157; 11, S. 168–171; 12, S. 187f.; dies., Z pobratymczej ziemi, in: Kurjer Lwowski IX (1891), S. 2f.; 193, S. 1f.; 194, S. 2f.; 195, S. 2f.
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nicht! Es gibt eigentlich kein angemesseneres Zeichen für die heutige polnische Grenze als das Kreuz, Symbol des Martyriums. Sowohl die Gestalt als auch die Zahl dieser stummen Säulen senden eine erschreckende Botschaft, und im Herzen der vorüberziehenden Polin regt sich ein Ach, welch bittere, schmerzhafte und blutige Erinnerungswelten!«41 Wysłouchowa reiste von Milówka in Galizien nach Istebna in ÖsterreichischSchlesien – die Grenzpfähle markierten eine innerhabsburgische Grenze zwischen zwei Kronländern. Worauf die Autorin anspielte, war die piastische Vergangenheit Österreichisch-Schlesiens, die jedoch schon im 17. Jahrhundert geendet hatte. Die drei Kreuze stehen für diesen Verlust, sie legen aber auch eine Assoziation mit den drei Teilungsgebieten nahe, mit denen diese Grenze eigentlich nicht zusammenhing. Die Sprache Wysłouchowas verdeutlicht bildhaft und emotional die Geschichte der Gebietsverluste des historischen PolenLitauens und die Aufteilung des Staates, die zu einem einzigen Martyrium verschwammen und einerseits die Habsburgermonarchie als eine der drei Teilungsmächte in eine historische Kontinuität des Unrechts stellte, andererseits mit der unkonkreten Bezeichnung »Schlesien« implizit auch Preußen als weitere Teilungsmacht aufrief. Wysłouchowa war keine Randfigur der polnischen Bauernbewegung, ihre Texte hatten Einfluss. Wenn man sich also vor Augen führt, dass eine um die Nationalisierung der Bauern und Bäuerinnen bemühte, in Galizien publizierende Aktivistin aus den nordöstlichen Gebieten Polen-Litauens ausgerechnet den Verlust von Österreichisch-Schlesien zur Metonymie der polnischen Geschichte machte, reicht ein einfacher Hinweis auf die piastische Vergangenheit nicht aus. Die für Wysłouchowa typische romantische und symbolische Aufladung der Geschichte erschuf ein geeintes Polen von seinen Randgebieten her, dessen Geschichte in einem Zeitraffer verschwamm.
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»Tylko tam, na zachodzie światło chwilowe święci trjumfy: […] trzy krzyże, a lśniące dokoła na trawie krople deszczu w czerwone zamienia brylanty. Szare, niskie, dotykające się wzajemnie wąskiemi ramiony, podobne raczej do tych, któremi zdobią groby nędzarzy, niż do przydrożnych, krzyże te – jak objaśnia góral – znaczą granicę między ›Polską a Śląskiem‹. Osobliwsze słupy graniczne! Albo i nie! albo i nie! Jest-źe owszem co właściwszego do oznaczenia dzisiejszych granic Polski, jak krzyż, symbol męczeństwa? I kształt i liczba tych niemych słupów wstrząsającą posiadają wymowę, a w sercu przechodnia-Polaka budzą ach, jakie światy wspomnień gorzkich, bolesnych, krwawych!« Wysłouchowa, Ze śląskiej ziemi, in: Tydzień 4 (1896) 47, S. 376.
Performative Performance
Die Bedeutung Schlesiens erschöpfte sich jedoch nicht in der Vision eines geeinten Polens; die dortige bäuerliche Gesellschaft hatte ebenfalls eine spezifische Bedeutung. Wysłouchowa präsentierte sie als Vorbild, als nachahmenswertes Ideal. So beschrieb sie beispielsweise ihre Unterbringung in Istebna: »Nach einer herzlichen Begrüßung der Gäste betraten wir die Hütte […]. Hohe Decken, soeben gereinigter Boden, frisch geweißte Wände, an denen Fotografien und in geschmackvollen, dunklen Rahmen Bilder mit religiösen Motiven hingen, an den Wänden standen die Betten, auf denen sich Daunendecken türmten, Schränke, ein Waschbecken, die Mitte des Tisches bedeckte eine rot gemusterte Tischdecke, darauf ein riesiger Blumenstrauß mit weißem, duftenden Knabenkraut«.42 Wysłouchowa schilderte eine gut situierte Bäuerlichkeit, einen gewissen Wohlstand, mit den Fotografien und dem Waschbecken betonte sie moderne Errungenschaften, der Blumenstrauß verweist auf einen Sinn für Schmuck und Ästhetik. Ähnlich belehrende Schilderungen wiederholte sie mehrfach, beispielsweise in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift für Bäuerinnen Zorza (Morgenröte), in der sie das schlesische Bauernhaus als Hort der Bildung vorstellte. Nachdem sie ausführlich die Qualität des schlesischen Bauernfrühstücks gelobt und den galizischen Leserinnen ans Herz gelegt hatte, fuhr sie fort: »Ich muss, wenn ich schon über diesen Besuch schreibe, auch das erwähnen, was tausend Mal besser ist als ein Frühstück. Und zwar: Sobald die Gastgeberin die großen Schüsseln weggeräumt hatte, legte der Bergbauer Bücher und Zeitungen aus dem Wandschrank auf den Tisch, um über kluge Dinge zu plaudern. Man muss wissen, dass das Volk in Schlesien der Bildung außerordentlich zugeneigt ist und sehr gerne liest.«43
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»Na serdezcne zaproszenie gazdów przestępujemy chaty […] Wysoki sufit, świecąca czystością podłoga, świeżo wybielony ściany, na nich fotografje i obrazy religijnej treści w gustownych ciemnych oprawach, pod ścianami łóźka, piętrzące się puchową pościelą, szafy, umywalka, pośrodku stół zasłany czerwoną w deseń serwetą, na stole olbrzymi bukiet białych, wonnych storczyków.« Wysłouchowa, Ze śląskiej ziemi, in: Tydzień 4 (1896) 48, S. 384. »Muszę, kiedy już piszę o tej gościnie, nadmienić i o tem co było tysiąc razy lepsze od najlepszego śniadania. Oto jak tylko gosposia uprzątnęła misy, gazda wydostał ze ściennej szafki nad stołem książki i gazetki, aby o mądrych rzeczach pogwarzyć. Trzeba wiedzieć bowiem, że lud na Ṡląsku ogromnie garnie się do óswiaty i bardzo
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Die schlesischen Bauern und Bäuerinnen repräsentierten für Wysłouchowa das wahre Polentum, rational wirtschaftend und kulturell gebildet, mit intakten Sozialstrukturen. Eine Interpretation im Sinne der Geschlechterideologie des 19. Jahrhunderts würde jedoch zu kurz greifen, berücksichtigt man den Kontext der Publikation, die an die Bäuerinnen gerichtete, um nationale Bildung bemühte Zeitschrift. Die schlesische Bäuerin (als Vorsteherin der bäuerlichen Wirtschaft) stellte einen Schlüssel zu sozialer Reform und Bildung – zu Modernität dar. Beide Figuren, der Mann und die Frau, ergänzten sich zum Entwurf eines harmonischen Zusammenspiels von Geschlecht und Nation. Damit war sich Wysłouchowa einig mit anderen Nationskonstruktionen und national orientierten Bewegungen in Europa.44 »Schlesien« diente der Vision eines kulturell gebildeten, arbeitsamen und wirtschaftsstarken Bauerntums. Warum Schlesien, warum nicht die Wysłouchowas alltäglicher Politik näherliegenden Bauern und Bäuerinnen Galiziens? Möglicherweise war die Romantisierung der Fremde einfacher als eine Auseinandersetzung mit alltäglicher Gleichgültigkeit und Verweigerung unter der galizischen Landbevölkerung. Man könnte die Idealisierung der Region als Vereinnahmung in das Nationsprojekt deuten, wie es das Bild der drei Kreuze nahelegt. Wichtiger scheint mir als Erklärung jedoch der Partizipationsanspruch, den Wysłouchowa und ihre politischen Mitstreiter:innen propagierten. Gerade in der Exterritorialisierung lag eine Möglichkeit, das Versprechen der Partizipation mit neuen sozialen Hierarchien zu verbinden, aus der Utopie ein konkretes Projekt werden zu lassen – eine Bewegung mit einer neuen intellektuellen Elite und der von ihr zu leitenden und formenden Basis.45
Schlussfolgerungen Die Bewegungszusammenhänge mit ihren imaginierten Kollektiven, geteilten Ideen und verbreiteten Projekten agierten nicht einfach in einem gegebenen
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lubi czytać.« M. [Maria Wysłouchowa], Rady gospodarskie, in: Zorza I (1900) 1, S. 15–16, hier S. 16. Vgl. Malečková, The Emancipation of Women for the Benefit of the Nation. Vgl. Dietlind Hüchtker, Die Bäuerin als Trope. Sprache und Politik in der polnischen Frauen- und Bauernbewegung der Jahrhundertwende, in: WerkstattGeschichte 13 (2004) 37, S. 49–63.
Performative Performance
nationalen Rahmen, sondern konstituierten immer wieder neue Räume. Diese Räume mit festen und fluiden Grenzen, konkreten Orten und imaginierten Regionen mussten gestaltet werden – sie erforderten performative Praktiken. Die Praktiken konnten die Grenzen des Imperiums überschreiten, regionale oder lokale Räume projektieren. Sie machten die Bewegungen überhaupt erst aus. Die Performativität des politischen Sprechakts bezieht sich nicht nur auf die Erfindung einer historischen Vorstellung von Unterdrückung oder Benachteiligung und auf zeitgenössische Praktiken ihrer Reformierung, sondern auch auf eine räumliche Vorstellung von Geschichte und Politik. Was aber bedeutet das? In der Forschung werden die Beständigkeit von kultureller Pluralität in lokalen und regionalen Zusammenhängen oder der Umgang mit imperialen Raumordnungen als Charakteristika der Habsburgermonarchie hervorgehoben, also Territorialisierungspraktiken jenseits des Nationalen. Demgegenüber hat der Beitrag die Nuancen der Interpretation leicht verschoben und eine etwas andere Perspektive eingenommen: Er hat nach der Verflechtung von Raumordnungen und politischer Performance, also der Inszenierung der Forderungen und Projekte gefragt, die politische Bewegungen zu essentialisierten Kollektiven machten. Die sich überlagernden, sich teilweise widersprechenden Raumordnungen brachten neue politische Praktiken der Partizipation hervor, nämlich Bewegungen, die gleichzeitig mobilisierbar waren und vorausgesetzt wurden. Diese erforderten eine vielfältige Praxis der Territorialisierung, des Anspruchs auf nationale Räume und öffentliche Präsenz, der Adressierung an imperiale und regionale Institutionen, der Vision universaler (transimperialer und transnationaler) Gültigkeit. Wenn das Lokale mit Alltag und Interessen, das Nationale mit kollektiven Identifikationen und vorgestellten Gemeinschaften verbunden wird, so wird das Imperiale mit übergeordneten Strukturen und Institutionen sowie mit einem Raum für transnationale/multikulturelle Praktiken verknüpft. Dagegen haben die hier diskutierten Beispiele vor allem die Verschränkungen der Raumordnungen gezeigt. Allerdings hat der forschende Blick auf das Imperium diese sichtbar gemacht, gerade deshalb stellt es keine essentialisierte übergeordnete Struktur dar, sondern ebenso das Ergebnis performativer Performances wie die imaginierte Nation – ein Bahnhof macht noch kein Imperium und doch strukturiert er Mobilität, Institution und Imagination.
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Hibridismus & Hybridität Istrien und die Genealogie eines post/habsburgischen Begriffs1 Reinhard Johler
Der in den internationalen Kulturwissenschaften seit langem feststellbare »Hype«2 lässt leicht vergessen, dass kulturelle Hybridität im ausgehenden 19. Jahrhundert zuerst in Europa – genauer: in Istrien – nicht nur empirisch beschrieben, sondern von Sprachwissenschaftlern, Historikern und Volkskundlern als »Hibridismus« auch ansatzweise theoretisch ausgearbeitet worden ist.3 Diesen »Hibridismus« gilt es daher als originären und frühen Beitrag in die aktuelle Hybriditätsdebatte einzubringen. Denn der Begriff »hybrid« hatte zunächst biologische und botanische Ursprünge und ist bis ins 19. Jahrhundert hinein kaum verwendet worden. Erstmals auf Menschen angewandt wurde er, wie Robert J. C. Young nachgewiesen hat, im Jahr 1813. 1861 nahm Hybridität dann im Kontext des Kolonialismus die stark negativ konnotierte Bedeutung von Kreuzung von Menschen unterschiedlicher »Rassen« an.4 Der istrianische »Hibridismus« dagegen hat eine deutlich andere Geschichte: Er ist fast zeitgleich im binnen-kolonialen ZentrumPeripherie-Kontext der Habsburgermonarchie entstanden und umfasste 1
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Dieser Aufsatz ist im Rahmen des von mir geleiteten Teilprojekts G03 »Istrien als ›Versuchsstation‹ des Kulturellen. Hybridität als ›bedrohte Ordnung‹« im Rahmen des Tübinger SFB 923 »Bedrohte Ordnungen« entstanden. Mitgearbeitet haben Daniela Simon und Francesco Toncich (2015–2019) sowie Luka Babić und Lorena Popović (2019–2023). Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005. Reinhard Johler, »Hibridismus«. Istrien, die Volkskunde und die Kulturtheorie, in: Zeitschrift für Volkskunde 108 (2012) 1, S. 1–21. Robert J. C. Young, Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture and Race, London/ New York 1995.
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in kultureller Deutung vor Ort zu beobachtende und somit zu benennende »Mischungen«. Diese – also zeitgenössisch: »Mischvolk«, »Völkergemisch« oder »Völkermischung« – gehören an vorderer Stelle in die von Robert Musil angeregte »Bestandsaufnahme des mitteleuropäischen« – sprich: des habsburgisch-pluralen – »Ideenvorrats«5 aufgenommen. »Mischung« ist dort ein im 19. Jahrhundert noch durchaus positiv konnotierter, im 20. (und nun wohl auch im 21.) Jahrhundert aber vielfach (in der politischen anders als in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit) als in Verruf geratener »Schlüsselbegriff« zu archivieren.6 Solche »Mischungen« – und zwar gleich, ob im ausgehenden 19. Jahrhundert bei »Rassen«, Völkern, Sprachen oder Kulturen vermutet – haben die gesamte Habsburgermonarchie, aber auch viele ihrer Teile zu wahren »Laboratorien für ethnische und kulturelle Vielfalt« werden lassen. Denn die ständig gegebene »Präsenz von Differenz«7 hat, so argumentiert Johannes Feichtinger, »Hybridität« zum Normalfall für die »Kulturen in Zentraleuropa« gemacht.8 Dass aber gerade in Istrien mit »Hibridismus« das Wort dafür gefunden wurde – und dadurch der »mitteleuropäische Ideenvorrat« um einen neuen wissenschaftlichen Begriff erweitert wurde –, war von zwei Voraussetzungen bestimmt: Zum einen musste, wie Pieter M. Judson überzeugend aufgezeigt hat, dafür kulturelle Vielfalt zuerst staatlich und politisch mobilisiert bzw. wissenschaftlich ausgedeutet werden.9 Erst dadurch wurde nämlich nach Andre Gingrich der »akademischen Welt« in der Habsburgermonarchie ein direkter Weg in das Feld heimischer Multikulturalität gewiesen und ein »eigenständiges Suchen« in der Peripherie des Habsburgerstaates ermöglicht.10 5 6
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Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, Reinbek b. Hamburg 1987, S. 373. Pierre-André Taguieff spricht deswegen etwa von einer vielfach zu beobachtenden »Mixophobie«, vgl. ders., Die Macht des Vorurteils. Der Rassismus und sein Double, Hamburg 2000, S. 289–298. Moritz Csáky, Die Vielfalt der Habsburgermonarchie und die nationale Frage, in: Urs Altermatt (Hg.), Nation, Ethnizität und Staat in Mitteleuropa, Wien/Köln/Weimar 1996, S. 44–64, hier S. 55ff. Johannes Feichtinger, Habsburg (post-)colonial. Anmerkungen zur Inneren Kolonialisierung in Zentraleuropa, in: ders./Ursula Prutsch/Moritz Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 2), Innsbruck u.a. 2003, S. 13–31. Vgl. Pieter M. Judson, Habsburg. Geschichte eines Imperiums, München 2017, S. 349ff. Andre Gingrich, Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus. Zur Diskussion des »frontier orientalism« in der Spätzeit der k.u.k. Monarchie, in: Johannes Feichtinger u.a. (Hg.), Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen, Inns-
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Zum anderen aber war der in Istrien erstmals mit kulturellem Zungenschlag verwendete »Hibridismus« als Begriff nur vor dem Hintergrund einer großen »imperial scientific landscape« und – wie später noch gezeigt wird – einer vor Ort über-national und auch interdisziplinär funktionierenden »circulation of scientific knowledge« möglich geworden.11
»Rassenmischungen« – Die Anthropologische Gesellschaft in Wien Bei der 1869 in Innsbruck abgehaltenen 43. Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte ist – nach westeuropäischem wissenschaftlichem Vorbild – der Aufruf zur Gründung einer Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte erfolgt, in die auch die deutschsprachigen Forscher der Habsburgermonarchie eingebunden werden sollten. Allerdings führten mehrere gewichtige Gründe zu einer getrennten Institutionalisierung der Anthropologie: Die politische Entfremdung zwischen Österreich-Ungarn und Preußen war vorangeschritten, noch mehr aber sahen sich deutsche und österreichische Anthropologen mit unterschiedlichen Voraussetzungen konfrontiert. Dies hat – bei aller wechselseitigen akademischen Verbundenheit – zu einer unterschiedlichen Organisation des Faches, aber auch zu einem divergenten Fachverständnis geführt: Die 1870 gegründete und maßgeblich von ihrem Berliner Zweigverein getragene Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte war von Medizinern (wie etwa Rudolf Virchow) dominiert und stark an der Weiterentwicklung der physischen Anthropologie interessiert. Bei der gleichzeitig gegründeten Anthropologischen Gesellschaft in Wien war der Einfluss der Geisteswissenschaftler – von Prähistorikern, Linguisten und Ethnografen – dagegen deutlich stärker. Und gerade der mit dem Ausgleich 1867 neu ausbalancierte Vielvölkerstaat gab, wie bei der am
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bruck/Wien/Bozen 2006, S. 279–288; vgl. Andre Gingrich, The Nearby Frontier. Structural Analyses of Myths of Orientalism, in: Diogenes 60 (2015) 2, S. 60–66. Jan Surman, The Circulation of Scientific Knowledge in the Late Habsburg Monarchy: Multicultural Perspectives on Imperial Scholarship, in: Austrian History Yearbook 46 (2015), S. 162–182; vgl. Johannes Feichtinger, Introduction: Interaction, Circulation and the Transgression of Cultural Differences in the History of KnowledgeMaking, in: ders./Anil Bhatti/Cornelia Hülmbauer (Hg.), How to write the Global H istory of Knowledge-Making. Interaction, Circulation and the Transgression of Cultur al Difference (Studies in the History and Philosophy of Science 53), Cham 2020, S. 1–26.
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13. Februar 1870 abgehaltenen »constituirenden Versammlung der anthropologischen Gesellschaft in Wien« offensichtlich wurde, einen eigenständigen – über-nationalen – Weg vor.12 Bei dieser Versammlung hielt der prominente und in zahlreichen hohen Ämtern vielseitig tätige Mediziner und Pathologe Carl von Rokitansky – er wurde zugleich zum ersten Präsidenten der Anthropologischen Gesellschaft in Wien gewählt – eine programmatische »Eröffnungsrede«. In dieser umriss Rokitansky in ausführlicher und spürbar an Fortschritt und Evolution orientierter Weise die Ziele, die Aufgaben und die Methoden der Anthropologie. Diese war für ihn die »Naturgeschichte des Menschen«. Er stellte daher die empirische Untersuchung der Entstehung und Entwicklung von »Raçen« in deren Zentrum. Sie bestand mit physischer Anthropologie, Urgeschichte und der eigene und fremde Völker in ihr Visier nehmenden Ethnografie aus drei eng aufeinander angewiesenen und sich inhaltlich vielfältig ergänzenden Subdisziplinen. Doch die »Förderung anthropologischer Aufklärung in Oesterreich« war, das betonte Rokitansky mit großem Nachdruck ebenso, erheblich vom staatlichen Umfeld bestimmt. Denn das »gemeinsame Vaterland« mit seinen »verschiedensprachigen Stämmen« würde der Forschung zwar ein »reichliches anthropologisches Material jeder Art« bieten, doch sei »Oesterreich von der Lebendigkeit« der »Raçen« – und der mit ihnen verbundenen politischen »Sympathien und Antipathien« – überrascht worden. Als Antwort darauf verordnete Rokitansky seiner neuen Wissenschaft eine »neutrale, unvoreingenommene Gesinnung«, sei diese »östereichische Raçenlehre« doch neben der »Culturgeschichte der österreichischen Nationalitäten« in der Lage, »vieles aufzuhellen«. Aber das letztlich »einzige Mittel, welches die Kämpfe dereinst gründlich zu beheben im Stande« sei, könne »die Anthropologie nur in der Anbahnung einer ausgiebigen Vermischung der Raçen erblicken.«13 Diese ausgesprochen positive Einschätzung einer »Vermischung der Raçen« muss vor deren unausgesprochen gebliebener Zielrichtung – der Hebung der weniger »zivilisierten« Völker der Monarchie – gesehen werden. Aber sie
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Vgl. dazu ausführlich Irene Ranzmaier, Die Anthropologische Gesellschaft in Wien und die akademische Etablierung anthropologischer Disziplinen an der Universität Wien 1870–1930, Wien/Köln/Weimar 2013, S. 23–45. Carl Rokitansky, Eröffnungsrede, gehalten in der constituirenden Versammlung der anthropologischen Gesellschaft in Wien am 13. Februar 1870, in: Mittheilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 2 (1870), S. 1–10.
Hibridismus & Hybridität
unterschied sich trotzdem erheblich von der gängigen – und etwa vom prominenten französischen Anthropologen Paul Broca vertretenen – Lehrmeinung, die bei der Vermischung von »Rassen« Unfruchtbarkeit prognostizierte. Wahrscheinlich machte Rokitansky daher, wie Irene Ranzmaier zu Recht vermutet, einen klaren Unterschied zwischen dem behaupteten zivilisatorischen Gefälle der Bewohner der Monarchie und der unaufhebbaren Differenz zwischen »entwickelten« europäischen und »primitiven« aussereuropäischen Völkern.14 Es ist auffallend, dass die von Carl von Rokitansky so positiv bewertete »Vermischung der Raçen« in der Monarchie im Rahmen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien zunehmend zurück genommen wurde und bald auch in der Erinnerung an die Gründung keine Erwähnung mehr fand.15 Die Idee eines (»rassisch«/sprachlich/kulturell gemischten) »National-Oesterreichers« aber wurde – wie wir noch sehen werden – im ausgehenden 19. Jahrhundert trotzdem in einem disziplinären Umfeld propagiert, das Brigitte Fuchs – personifiziert durch den Statistiker Karl Freiherr von Czoernig – zu Recht als »österreichische Ethnographie der ›Mischung‹« bezeichnet hat.16 Zu dessen am 3. Oktober 1889 erfolgtem Ableben erinnerte der Vorsitzende der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, Ferdinand Leopold Freiherr von Andrian-Werburg, daran, dass Czoernig als ihr Ehrenmitglied nicht nur an der im selben Jahr abgehaltenen Jahrestagung noch hatte teilnehmen können, sondern dort als »Vorkämpfer für den österreichischen Staatsgedanken« bei der vom Berliner Anthropologen Rudolf Virchow gehaltenen Eröffnungsrede auch den »wissenschaftlichen Ausdruck jener Ideen erblicken« konnte, »welche er zeitlebens vertreten hatte.«17 Virchow hatte im Namen der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte in einem Überblick die Entwicklung der »Anthropologie in den letzten 20 Jahren« skizziert und war dabei auf die Gründung der beiden anthropologischen Gesellschaften in Berlin und Wien zu sprechen gekommen. Aber sein Punkt war ein anderer: »Nationalität« sei nie »Rasse«, sondern, wie auch »Mischrassen«, doch immer 14 15
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Ranzmaier, Die Anthropologische Gesellschaft in Wien und die akademische Etablierung anthropologischer Disziplinen an der Universität Wien 1870–1930, S. 29. Vgl. dazu etwa: Gedenksitzung aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestandes der Gesellschaft am 15. Februar 1920, in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 50 (1920), S. [13]–[20]. Brigitte Fuchs, »Rasse«, »Volk«, Geschlecht. Anthropologische Diskurse in Österreich 1850–1960, Frankfurt a.M./New York 2003, S. 153–164. Monats-Versammlung am 12. November 1889, in: Mittheilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 29 (1889), S. [189]–[190].
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»zusammengesetzter Natur«: »Eine Mischrasse ist eine Rasse, deren Elemente aus verschiedenem Blute stammen, nicht aus einem Blute, die sich also nicht berufen kann auf gemeinsame Herkunft, sondern die im Laufe der Zeit zusammengesetzt worden ist aus Elementen verschiedener Grundrassen.«18 Zwei Jahre später, 1891, hatten die beiden Anthropologen Karl Vipauz und Emil Zuckerkandl – Zuckerkandl war 1872 an der pathologisch-anatomischen Anstalt in Wien Assistent von Carl von Rokitansky gewesen – im Band Küstenland des von Kronprinz Rudolf initiierten Sammelwerks Die österreichischungarische Monarchie in Wort und Bild die »physische Beschaffenheit der Bevölkerung« beschrieben. Dabei erschien ihnen gerade Istrien vom kleinräumigen Aufeinandertreffen der »Hauptvölker Europas« geprägt zu sein, das zu einem nur schwer überblickbaren »Nationalitätenmosaik« geführt habe und dessen Bevölkerung daher – wie von den Wiener Anthropologen für die ganze Monarchie vorgedacht – von einer kaum vergleichbaren »Blutvermischung zwischen den Nationalitäten« bestimmt sei. Im selben Band schrieben – nur um an dieser Stelle bereits das dichte, wenngleich von unterschiedlichen nationalen Positionen geprägte Autorennetz im Küstenland zu benennen – der (inzwischen verstorbene) Statistiker Karl Freiherr von Czoernig, der am Triester Stadtgymnasium lehrende, italienischsprachige Professor Bernhard (Bernardo) Benussi (Zur Landesgeschichte Istriens) oder der an der Lehrerinnen-Bildungsanstalt in Görz unterrichtende, kroatischsprachige Professor Alois (Vjekoslav) Spinčić (Volksleben der Slawen in Istrien).19
Österreich und Istrien Im Jahre 1849 wurde Istrien mit Triest sowie mit Görz und Gradiska zum Kronland »Österreichisches Küstenland« vereinigt und somit bis 1918 zum festen Teil der Habsburgermonarchie. Damit fand – nach einer ersten kurzen napoleonischen Vereinigung – die für die Halbinsel ökonomisch, sozial und kulturell so bedeutsame Zweiteilung ihr vorläufiges Ende: Während die
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Rudolf Virchow, Die Anthropologie in den letzten 20 Jahren, in: Mittheilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 29 (1889), S. [57]–[68]. Vgl. Emil Zuckerkandl/Karl Vipauz, Zur physischen Beschaffenheit der Bevölkerung des Küstenlandes, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Das Küstenland (Görz, Gradiska, Triest und Istrien), Wien 1891, S. 153–160.
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Habsburger mit der Grafschaft Mitterburg seit dem Mittelalter im Landesinneren herrschten, war die Küstenregion venezianisch dominiert. Gerade die venezianischen Verwalter siedelten, begründet durch Kriege und unzählige Epidemien, in Istrien mit den Morlaken, Rumunen, Aromumen, Albanern und vielen anderen ständig neue Kolonisatoren an. Ab dem 16. Jahrhundert begann sich die ethnische Zusammensetzung in Istrien zu festigen, die mit zahlreichen und vielfältigen ethnischen Einsprengseln – grob gesprochen und selbst Teil einer problematischen Geschichtsdeutung20 – aus einem romanisierten, städtisch geprägten Küstenstreifen und einem von Slawen besiedelten, dörflich strukturierten Landesinneren bestand. Mit der Vereinigung der Halbinsel unter der habsburgischen Herrschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts stand Istrien daher nicht nur unter gemeinsamer Verwaltung, sondern wurde zunehmend zu einem politisch wichtigen Aktions- und Handlungsraum, der – wie sich habsburgische Administration und zeitgenössische Beobachter der im ausgehenden 19. Jahrhundert stattfindenden touristischen Erschließung der Terra incognita des Landesinneren wechselseitig bestätigten – von einer enormen sprachlichen, ethnischen und kulturellen Vielfalt bestimmt war.21 So gelang es gerade ethnografisch motivierten Reisenden und Forschern, wie etwa Moritz Alois von Becker 1877 in den Mittheilungen der k.k. geographischen Gesellschaft schreibt, nur schwer, »die ethnographischen Verhältnisse Istriens« zu verstehen, sahen sie doch primär »undefinierbare Stämme in buntem Gemisch« und gelangten so zu der abschließenden Meinung: »Wenn ein Politiker Istrien studirt, er Oesterreich verstehen lernt.«22 Dieser Gedanke war nicht wenigen Beobachtern in dieser Zeit auch gekommen: Istrien stand in der Tat in Vielem – und so wurde die Region von den Zeitgenossen auch wahrgenommen – für die Habsburgermonarchie als Ganzes.23 Denn die Halbinsel schien mit ihren unklar abgegrenzten Siedlungsverhältnissen, mit ihrer enormen ethnischen Pluralität und den gleichfalls beobachteten zahllosen kulturellen »Mischungen« ein getreues Abbild des Vielvöl20 21 22 23
Vgl. Marta Verginella, Stadt und Land. Paradigma einer ethnozentristischen Lesart, in: Jahrbücher zur Kultur und Geschichte Südosteuropas 5 (2006), S. 45–60. Als Überblick vgl. Egidio Ivetic, La Popolazione dell’Istria nell’età moderna, Rovigno 1997. M. A. v. Becker, Ein Wort für Istrien, in: Mittheilungen der k.k. geographischen Gesellschaft in Wien 20 (1877), S. 417–425. Vgl. Emil Brix, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910, Wien u.a. 1982, S. 210.
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kerstaates zu sein – und wurde so zum wichtigen Thema der österreichischen Statistik. Diese hatte, initiiert vom bereits genannten Karl Freiherr von Czoernig,24 ab der Jahrhundertmitte systematisch begonnen, das Kaiserreich zu erforschen, dessen Bevölkerung zu beschreiben und kartografisch darzustellen. Dabei definierte sich diese österreichische Statistik – und sie wurde daher auch zu einem bedeutenden Vorläufer der österreichischen Volkskunde – als eine ethnografisch-historische Disziplin, die nationale Zugehörigkeit nicht, wie in den Nationalstaaten Europas sonst üblich, in individuellem Sprachenbekenntnis identifizierte, sondern durch eine aufwändige »Ethnographie im Raume und in der Zeit« rekonstruierte (und daher oft mit ihrem dominanten Interesse an »Mischterritorien« und »Nationalitätenmischung«25 auch zu anderen, den Bestand der Monarchie stützenden Ergebnissen gelangte.26 ) Der »österreichischer Kaiserstaat«, schrieb Karl Freiherr von Czoernig in der »Vorrede« des ersten Bandes seiner 1857 erschienenen Ethnographie der Oesterreichischen Monarchie, werde durch die »charakteristische Zusammensetzung der Bevölkerung« geprägt – und so ursächlich zusammengehalten. Denn die »Hauptstämme der Bevölkerung Europa’s« würden im Habsburgerreich zwar »compacte Massen« bilden, aber ebenso – und wiederum mit Zivilisationsunterschieden der Bewohner begründet – zu »buntester Mischung« beitragen und derart die »Eigenthümlichkeit des Völkerbestandes von Oesterreich« bilden.27 Gerade Istrien mit seinen »Mischvölkern« – man erinnere sich daran, dass die Halbinsel im Werk Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild 1891 nahezu wortgleich beschrieben worden ist – stellte Czoernig vor erhebliche, aber exemplarisch für die Monarchie zu lösende Probleme in der ethnografischen Darstellung:
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Vgl. Karl Freiherr von Czoernig, Über die Ethnographie Österreichs, in: Sitzungsberichte der phil.-hist. Classe der kais. Akademie der Wissenschaften 25 (1857), S. 277–307. Morgane Labbé, Die »Ethnographische Karte der Oesterreichischen Monarchie«. Ein Abbild der Monarchie, in: Christine Lebeau/Wolfgang Schmale (Hg.), Images en capitale: Vienne, fin XVIIe – début XIXe siècles/A capital city and its images: Vienna in an 18th-century perspective/Bilder der Stadt: Wien – das lange 18. Jahrhundert (Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des Achtzehnten Jahrhunderts. Das Achtzehnte Jahrhundert und Österreich. Bd. 25), Bochum 2011, S. 151–161. Wolfgang Göderle spricht dabei zu Recht von »Vielfalt als Herrschaftstechnik«, vgl. ders., Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen 2016, S. 193ff. Karl Freiherr v. Czoernig, Ethnographie der Oesterreichischen Monarchie. I. Bd., Erste Abtheilung, Wien 1857.
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»In keinem Gebietstheile der Monarchie haben sich im Verhältnisse zu dem Umfange so viele Reste verschiedener Nationalitäten und von Abstufungen derselben noch mehr als in der Sprache, in der Kleidung und Sitte erkennbar erhalten, als in der kleinen Halbinsel von Istrien, dem Lande, wo sich die früheste Cultur unseres Welttheiles (Pola ist mit Adria vielleicht die älteste bekannte Ansiedlung in demselben) mit dem auf unsre Zeit gekommenen niedrigsten Stande der Civilisation innerhalb des Reiches die Hand bietet. Aber nicht allein die dreizehn ethnographischen Nuancen, welche der Unterzeichnete daselbst festzustellen vermochte – Italiener (directe Nachkommen der römischen Ansiedler und Venezianer), Romanen (Walachen), Albanesen, Slovenen (Savriner, Berschaner und Verchiner), Kroaten (Berg-, Ufer- und Inselbewohner, Beziaken und Fučky), Serben (Usoken, Morlaken und Montengegriner) und die räthselhaften Tschitschen – sind es, welche der ethnographischen Darstellung Verlegenheit bereiten, sondern insbesondere die Verschmelzungen verschiedener Abtheilungen einander nahe stehender, ja selbst der entgegengesetztesten Volksstämme, welche keine Schriftsprache haben, und deren gesprochene Mundart aus den verschiedensten kaum zu entwirrenden Elementen besteht, so dass es oft den wenigen Gebildeten dieser Stämme schwer fällt, zu bestimmen, welcher Schriftsprache ihre Mundart am nächsten kömmt. Man begegnet daselbst nicht nur kroatisirten, auch serbisirten Slovenen und slovenisirten Kroaten, sondern auch kroatisirten Walachen, ferner italienisierten Kroaten, welche zum Theile selbst ihre Muttersprache vergessen haben (an der Westküste), dann kroatisirten Italienern, bei denen dieses ebenso der Fall ist (im Innern), endlich einem Mischvolke, dessen Tracht italienisch, dessen Sitte slavisch, dessen Sprache ein Gemisch von serbischen und italienischen Worten ist.«28 Dass erst – und dies war wohl auch ein Stück weit die Intention – weitere »Nachforschungen diesen Knäuel ethnographisch-sprachlicher Mischungen entwirren« würden, war Karl Freiherr von Czoernig bewusst. Kein Wunder daher, dass sich in der Folge zuerst prominente Sprachforscher, wie etwa der Slawist Franz Xaver Ritter von Miklosich29 oder der Romanist Anton Ive,30 mit den in Istrien gesprochenen Sprachen und Dialekten zu beschäftigen 28 29 30
Ebd., S. VIII. Franz Miklosich, Über die Wanderung der Rumunen in den dalmatinischen Alpen und Karpaten, Wien 1879. Anton Ive, Ueber die istrianischen Mundarten, Wien 1893.
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begannen. Aber ebenso klar war auch, dass die durch Czoernig um Sprache, Kleidung und Verhalten – im weitesten Sinne also um Kultur – erweiterten »Mischungen« die Suche nach einem neuen Begriff förderten. Dass dieser mit »Hibridismus« in Istrien gefunden wurde, war aber kein Zufall.
Begriffe und bedrohte Ordnungen Neue »Begriffe«, so hat Zygmunt Bauman einmal festgehalten, können entweder »Erfahrungen der beginnenden Moderne entstammen und die bis dorthin unbenannten Praktiken kennzeichnen« oder aber sie schärften die »zeitgenössische Wahrnehmung für vorher nicht bemerkte Aspekte vergangener Zeiten und Orte.«31 Für den mit neuem kulturellen Gehalt aufgeladenen »Hibridismus« trifft jedenfalls beides zu. Der neue Begriff ist aber vor allem das diskursive Ergebnis einer außergewöhnlichen Bedrohung – oder genauer: einer »bedrohten Ordnung«32 –, wie diese im ausgehenden 19. Jahrhundert in Istrien zu beobachten und mit von Bauman genannten Prozessen der staatlichen Kategorisierung – der Trennung von »Ordnung und Chaos«, der Unterscheidung von »Reinem und Unreinem«, dem begonnenen »Krieg gegen die Ambivalenz« und schließlich der versuchten »Ausmerzung des Nichterfassbaren«33 – zu begründen ist. Dies aber führt zu Karl Freiherr von Czoernig zurück. Czoernig hatte, wie beschrieben, 1857 in seiner Ethnographie der Oesterreichischen Monarchie für Istrien ein kaum darstellbares »Völkergemisch« mit »dreizehn ethnographischen Nuancen« – also mit »Verschmelzungen« aller Art – beschrieben.34 Die ab 1880 regelmäßig im österreichischen Teil der Monarchie durchgeführten Umgangssprachenerhebungen dagegen beruhten auf Zählungen und waren –
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Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz, in: Uli Bielefeld (Hg.), Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der alten Welt, Hamburg 1991, S. 23–49, S. 36. Vgl. dazu in theoretischer Perspektivierung Ewald Frie/Mischa Meier, Bedrohte Ordnungen. Gesellschaften unter Stress im Vergleich, in: dies. (Hg.), Aufruhr – Katastrophe – Konkurrenz – Zerfall. Bedrohte Ordnungen als Thema der Kulturwissenschaften, Tübingen 2014, S. 1–25; Ewald Frie/Boris Nieswand, Zwölf Thesen zur Begründung eines Forschungsbereichs, in: Journal of Modern European History 15 (2017), S. 5–15. Vgl. Bauman, Moderne und Ambivalenz, S. 24–31. Czoernig, Ethnographie der Oesterreichischen Monarchie.
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gestützt auf die Verfassung von 186735 – von einer staatlich formulierten und von der Verwaltung, der Rechtssprechung, aber auch der Statistik durchgesetzten »Multikulturalitätspolitik«36 geprägt, die ihrerseits die Bevölkerung einer neuen – einer imperialen Logik folgenden37 – Klassifikationspraxis38 unterwarf. Damit wurden – mit vielfältigen Folgen für die in der Monarchie Gezählten – Differenzen klarer festgelegt, Grenzen schärfer gezogen, Zugehörigkeiten deutlicher veranschaulicht und auf ethnografischen Karten festgehalten.39 Dies zeitigte gerade für Istrien besondere Folgen, wurde doch die Halbinsel von der Administrativstatistik als besonders problematische Region gesehen.40 So reichten etwa die gezählten neun »landesüblichen Sprachen« bei weitem nicht aus, um die regionale Sprachenvielfalt – einschließlich der gesprochenen Dialekte, der geläufigen »Mischsprachen« und der vielfach praktizierten Mehrsprachigkeit – abzudecken. Aufmerksame Beobachter hatten zur Jahrhundertwende zudem beobachtet, dass das ehemalige »Völkermosaik« bereits weitgehend aufgelöst und »sich sprachlich die meisten kleinen Fraktionen assimiliert und überwiegend den Kroaten angeschlossen« hätten.41 Trotzdem mag es überraschen, dass die Sprachzählungen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs – sieht man von der Abnahme der italienisch- und der Zunahme der kroatischsprachigen Bevöl-
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Vgl. dazu grundlegend Gerald Stourzh, The Ethnicizing of Politics and ›National Indifference‹ in: ders., Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1999–2010, Wien 2011, S. 283–323. Johannes Feichtinger/Gary B. Cohen, Introduction. Understanding Multiculturalism. The Habsburg Central European Experience, in: dies. (Hg.), Understanding Multiculturalism. The Habsburg Central European Experience (Austrian and Habsburg Studies 17), New York/Oxford 2014, S. 1–14. Vgl. Benno Gammerl, Staatsbürger, Untertanen und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich, Göttingen 2010, S. 21ff. Vgl. Stefan Hirschauer, Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeit, in: Zeitschrift für Soziologie 43 (2014) 3, S. 170–192. Vgl. Reinhard Johler, Die Karten der Ethnographen. Volkskunden, ethnographische Karten, volkskundliche Atlanten (1850–1980), in: ders./Josef Wolf (Hg.), Beschreiben und Vermessen. Raumwissen in der östlichen Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 2020, S. 583–626. Vgl. Göderle, Zensus und Ethnizität, S. 147f. Norbert Krebs, Die Halbinsel Istrien. Landeskundliche Studie, Leipzig 1907, S. 123–125.
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kerung ab –, nur geringfügige Verschiebungen zeigten.42 Umso erstaunlicher sind daher die heftigen Konflikte, die die Umgangssprachenerhebungen auslösten. Dies betraf die Kategorien der Zählung, die konkrete Durchführung der Erhebung und auch die Veröffentlichung der erzielten Ergebnisse. Denn geschürt wurden vor dem Hintergrund schnell zunehmender nationaler Auseinandersetzungen hochgradig emotionalisierte (italienische) Majorisierungsträume bzw. (kroatische und slowenische) Assimilationsängste. Die Sprachenerhebung rückte damit »in den Bereich einer politischen Entscheidung«, bei der, so Emil Brix, »jedes Mittel der nationalen Agitation vorstellbar war«.43 Die Umgangssprachenerhebungen, so die Kurzfassung, haben in Istrien regelmäßig zur Massenmobilisierung geführt und dadurch den ohnehin schon schwelenden Nationalitätenstreit weiter angeheizt. Dies hat mit Sicherheit eine nachhaltige »Politisierung von Differenz« befördert, zumal durch den Erhebungsmodus von den Gezählten – gerade auch in Istrien – Eindeutigkeit und Klarheit der Zugehörigkeit erzwungen wurde. Dort aber war laut Tara Zahra im ausgehenden 19. Jahrhundert die Zahl jener Menschen überdurchschnittlich hoch gewesen, »who were not easily swallowed up by forces of nationalization«. »Side switchers« seien nämlich im Alltagsleben vielfach zu beobachten gewesen und hätten dazu geführt, dass »national indifference«, nach Pieter M. Judson »national flexibility«,44 dort »historically significant« gewesen sei.45 Diese Situation hat die Klassifizierer inhaltlich und begrifflich besonders herausgefordert: Das neue Wort »Hibridismus« war daher im Sinne von Zygmunt Bauman eine Möglichkeit, die Welt weiterhin »lesbar« zu erhalten und dadurch Verhaltenssicherheit zu erzeugen.46
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Vgl. Carl Freiherr von Czoernig, Die ethnologischen Verhältnisse des österreichischen Küstenlandes nach den richtiggestellten Ergebnissen der Volkszählung vom 31. Dezember 1880, Triest 1885. Brix, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge, Mass./London 2006. Tara Zahra, Imagined Non-Communities: National Indifference as a Category of Analysis, in: Slavic Review 69 (2010), S. 93–119. Bauman, Moderne und Ambivalenz, S. 23.
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»Hibridismus« Dem bereits genannten Franz von Miklosich gewidmet, veröffentlichte 1884 der Grazer Romanist Hugo Schuchardt seine grundlegende Studie über SlawoDeutsches und Slawo-Italienisches. Der 1842 in Gotha geborene und 1927 in Graz verstorbene Romanist verdient dabei selber Beachtung: Schuchardt war 1876 an die Universität Graz berufen worden und pflegte dort einen direkten – und für die Neudeutung von »Hibridismus zentralen – Zugang zur italienischen Literatur und Wissenschaft. Nach der Jahrhundertwende sollte er zum großen Gegenspieler von Rudolf Meringer werden, versuchte er doch eine eigene »Sachen und Wörter«-Schule zu etablieren. Schon lange vorher aber hatte Schuchardt – er war zeitlebens ein national denkender Reichsdeutscher – mit der »Kreolistik« die Wissenschaft der Mischsprachen gegründet. Dabei ging er beharrlich, wie sein Schüler Leo Spitzer gemeint hat, vom »Ewig-Gemischten unserer Rassen, Kulturen, Sprachen«47 und der Existenz von naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten in der Sprachentwicklung aus. Schuchardt setzte »Blutmischung« in direkte Beziehung zur »Sprachmischung«, empfahl aber wegen vieler ungelöster methodischer Probleme dann doch der Linguistik und der (ihm recht gut vertrauten) Anthropologie, »getrennt« zu »marschieren«.48 Von diesen Überlegungen war das Buch Slawo-Deutsches und Slawo-Italienisches in besonderer Weise geprägt, hatte es doch zwei grundsätzliche Annahmen: Die erste besagte, dass es keine »ungemischte Sprache«, sondern nur – von Schuchardt auch so bezeichnet – »hybride Formen« gebe, die die Regel bilden würden. Und in einer zweiten Annahme sah er gerade in der Monarchie einen günstigen »Boden für Sprachmischung«. Dieser zeigte sich ihm etwa im sog. »Kucheldeutsch« oder eben in den vielfältigen »Sprachmischungen« Istriens. Beide Behauptungen waren in dem zu dieser Zeit bereits heftig entflammten Nationalitäten- und Sprachenkampf aber äußerst umstritten und mussten daher näher begründet werden: Schuchardt widersprach dabei vor allem mit istrianischen Beispielen – diese waren ihm wegen der geografischen Nähe
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Hugo-Schuchardt-Brevier. Ein Vademecum der allgemeinen Sprachwissenschaft. Zusammengestellt und eingeleitet von Leo Spitzer, 2. erw. Aufl., Halle/Saale 1918, S. 7. Ebd., S. 344–346.
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besonders gut zugänglich – jenen national gesonnenen Kollegen,49 die an der »theoretisch unbegründeten und praktisch widerlegten Unfruchtbarkeit der sprachlichen Hybridität« festhielten und sich dabei in Übereinstimmung mit vielen Naturwissenschaftlern sahen, die Formen von »thierischer Hybridität« ablehnten.50 »Hybridität« hatte für Schuchardt stattdessen eine sprachlich notwendige, kulturell ausgesprochen produktive und – und dies war das eigentlich Neue – politisch höchst zukunftsweisende Dimension. Denn die »Verschmelzung der verschiedenen nationalen Elemente«, so wie beispielhaft in Istrien geschehen, könnte auch in der »grossartigen Versuchsstation« der Monarchie – als ein »frohes Symbol der Zukunft« – zur Schaffung eines »ganz neue[n] Volkes« führen.51 An diese Überlegungen schloss zur Jahrhundertwende Josef Stradner mit mehreren u.a. in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde erschienenen Veröffentlichungen zur Ethnographie Istriens an.52 Stradner war dabei durchaus für seine Zeit wie auch für die österreichische Volkskunde typisch: 1845 in Graz geboren, arbeitete er dort ab den 1870er Jahren als Redakteur der deutschnationalen Tagespost. Als Schriftsteller war er darüber hinaus im schnell wachsenden Tourismus der österreichischen Adria-Küste tätig. Von 1908 bis 1915 lebte Stradner mit seiner Frau in Triest. In dieser Zeit gab er die Zeitschrift Adria – diese sollte schnell zu einem populärwissenschaftlichen Organ mit prominenter Beteiligung werden – heraus. Deren Untertitel Illustrierte Monatsschrift für Landes- und Volkskunde, Volkswirtschaft und Touristik der adriatischen Küstenländer zeigt nicht nur eine zeitgenössisch typische Interessensverbindung, sondern belegt auch, wofür Volkskunde für Stradner zu stehen hatte: Sie war eine zentrale, weil die Monarchie in ihrer sprachlichen, nationalen und kulturellen Vielfalt aufzeigende und diese damit auch sichernde Disziplin. Er selbst war monarchietreu, fühlte sich, wie viele Deutschsprachige in Triest auch,53 eng mit der italienischen Kultur verbun49
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Hugo Schuchardt ist in mehreren Veröffentlichungen auf die z.T. heftige Kritik eingegangen: Zu meiner Schrift »Slawo-Deutsches und Slawo-Italienisches«, in: Zeitschrift für das österreichische Gymnasium 35 (1884), S. 900f.; 37 (1886), S. 321–352. Hugo Schuchardt, Slawo-Deutsches und Slawo-Italienisches. Dem Herrn Franz von Miklosich zum 25. November 1883, Graz 1884, S. 3–35. Ebd., S. 132. Josef Stradner, Zur Ethnographie Istriens, in: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 3 (1897), S. 97–111. Vgl. dazu Angelo Ara/Claudio Magris, Triest. Eine literarische Hauptstadt in Mitteleuropa, München/Wien 1987, S. 42f.
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den und sah daher im Nationalitätenkampf die politische Vereinigung der Südslawen mit großer Skepsis. Istrien war für Josef Stradner ein »von Dorf zu Dorf sich veränderndes Gemisch«, wobei die Bewohner keiner »einheitlichen Rasse« angehörten, sondern ein »Mischvolk« bildeten.54 Mit dieser im ersten Heft seiner Zeitschrift Adria veröffentlichten Beschreibung wiederholte er gängige, auch von ihm bereits publizierte Darstellungen. So hatte er schon in seinem 1893 erschienenen Skizzenbuch Rund um die Adria – ganz in der Tradition der von ihm konsultierten Vorlage Ethnographie der Oesterreichischen Monarchie von Karl Freiherr von Czoernig – von einem Istrien geschrieben, das wie »in keinem andern Theile Europas« auf so kleinem Raum »so vielerlei Nationalitäten« aufweisen könne. Gerade deswegen sei die Antwort eines kroatischen Gastwirts auf die in Italienisch gestellte Frage nach dessen Nationalität auch nur allzu verständlich: »er sei Istrianer«. Die Rede war damit – und nun bezog sich Stradner auf Schuchardt – von dem »theils zweisprachigen, theils mischsprachigen Volke der Istrianer«.55 Diese »Istrianer« aber seien, so argumentiert Stradner mit Schuchardt weiter, das Ergebnis einer »durch die politische Chemie früherer Zeiten« möglich gewesenen »Verschmelzung der verschiedenen nationalen Elemente« und so gleichzeitig »Probestück« für die Utopie eines aus den Nationalitäten der Monarchie zusammen gesetzten, gleichfalls gemischten »NationalÖsterreichers«.56 Dieser »National-Österreicher« muss in die Liste ganz anders gearteter Österreich-Begriffe erst noch eingetragen werden. Doch seine Nennung führt zu einer weiteren Beobachtung von Josef Stradner. Stradner hatte sein 1903 erschienenes Buch Neue Skizzen von der Adria mit dem üblichen Istrien-Repertoire einbegleitet: Er hob für die Halbinsel ein »vielfältiges und ungeordnetes Conglomerat verschiedener Racen und Stämme« hervor, zählte neben den an der Küste wohnhaften Italienern die in Dörfern siedelnden Rumunen, Morlaken, Usoken, Albaner, Montenegriner und Tschitschen auf, betonte ethnische »Verschmelzungen« und vielfältige sprachliche Assimilationsprozesse und kam dann auf einen neuen Punkt: Die dadurch weiterhin herrschende Vielfalt sei – beobachtet etwa in der Region südlich des Flusses Quieto (Mirna) – von einem derartigen »Hibridismus« geprägt, dass dieser in der amtlichen Volkszählung von 1880 mit dem Namen »Serbocroaten« bezeichnet worden 54 55 56
Josef Stradner, Das Volkstum in Istrien, in: Adria 1 (1909), Sp. 379–384. Josef Stradner, Rund um die Adria. Ein Skizzenbuch, Graz 1893, S. 44–53. Ebd., S. 53.
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sei. Und dies obwohl der »Antagonismus der beiden grossen südslavischen Stämme« erheblich sei und deren sich abzeichnende politische Verbindung von Stradner mit Sorge betrachtet wurde.57 Diesen »Hibridismus«-Begriff hatte Josef Stradner wiederum von dem am Triestiner Stadtgymnasium lehrenden italienischsprachigen Professor Bernardo Benussi ausgeliehen. Benussi war italienisch-national gesonnen und 1884 maßgeblich an der Gründung der Società istriana di archeologia e storia patria beteiligt gewesen. Benussi war trotz seiner irredentistischen Orientierung renommierter Mitarbeiter beim Kronprinzenwerk58 und hatte mehrere Standardwerke zur istrianischen Geschichte verfasst. Ihn zu zitieren, machte aus der Sicht der deutschsprachigen Österreicher im Küstenland durchaus Sinn, teilten sie doch neben ihrer pro-italienischen Haltung eine weitgehend positive – freilich immer auf behaupteten Zivilisationsunterschieden der Monarchievölker basierende – Einschätzung von kultureller Mischung. Für Benussi sah die Sache allerdings etwas anders aus: Ihm war für die Begriffsfindung zunächst der italienische Wortschatz behilflich gewesen, der im Kontext der Republik Ragusa etwa vergleichsweise früh schon mit dem Wort »hibrido« auf »gente di due nazioni diverse«59 verwies, gleichzeitig aber auch einen begrifflichen Transfer einer dalmatinischen »flourishing culture of national ambiguity«60 in das Küstenland – und dabei besonders nach Triest und Istrien – signalisierte. Aber viel bedeutender war für Benussi sowieso etwas anderes: sein grundsätzliches Verständnis der Geografie61 und der
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Josef Stradner, Neue Skizzen von der Adria, Graz 1903, S. 1–26. Vgl. Bernardo Benussi, Zur Landesgeschichte Istriens, in: Die ö sterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Das Kü stenland (Gö rz, Gradiska, Triest und Istrien), Wien 1891, S. 137–152. Nicoló Tommaseo/Bernardo Bellini, Dizionario della lingua Italiana, Vol. II, Parte 2, Torino/Napoli 1869, S. 1263–1264; zum Vorbild Dalmatien vgl. Larry Wolff, Venice and the Slavs. The Discovery of Dalmatia in the Age of Enlightenment, Stanford 2001. Domique Reill, A Mission of Mediation. Dalmatia’s Multi-National Regionalism from the 1830s–60s, in: Laurence Cole (Hg.), Different Paths of the Nation State: Regional and National Identities in Central Europe and Italy, 1830–1870, New York 2007, S. 16–32. Vgl. Bernardo Benussi, Manuale di Geografia dell’Istria, Trieste 1877.
Hibridismus & Hybridität
Geschichte62 Istriens und, damit direkt verbunden, der politischen Selbstsicht der dortigen italienischsprachigen Elite.63
L’ibridismo 1894 hatte Bernardo Benussi in einem in den Atti e memorie della società istriana di archeologia e storia patria veröffentlichten Aufsatz auf eine vom kroatischsprachigen Abgeordneten und Priester Monsignore Volarich im istrianischen Landtag gehaltene Rede geantwortet. Er versuchte dabei mit einer weitschweifigen historischen Argumentation der für Istrien geforderten Verwendung der kroatischen Sprache in der kirchlichen Liturgie entgegenzutreten. Während nämlich die italienische Bevölkerung auf eine ununterbrochene römische Besiedlung in den Städten und größeren Dörfern zurückgehe, seien die Slawen ab dem 8. Jahrhundert – und insbesondere dann in vielen kleineren Gruppen im 15., 16. und 17. Jahrhundert – als »Immigranten« (slavi immigranti) auf die Halbinsel gekommen und hätten im Inneren Istriens ein mit keiner anderen Region vergleichbares, vielfärbiges ethnografisches Bild geschaffen. Denn in den kleineren Dörfern und auf dem Land seien alle »südslawischen Rassen« (razze slave meridionale) untereinander, aber auch mit italienischen Familien »verflechtet, vermischt und gekreuzt« (sovraposti, amisti, incrociati). Das dadurch entstandene Konglomerat von unterschiedlichen »Rassen« sei so ungeordnet und vielfältig, dass man in der Volkszählung 1880 mit »Serbo-Kroaten« eine inhaltlich absurde und politisch gefährliche Bezeichnung gewählt habe, um die in Istrien vorhandene ethnografische Hybridität (ibridismo etnografico) begrifflich überhaupt fassen zu können.64 Mit dieser Darstellung – ihr konkretes Ziel war die Ablehnung der kroatischen Kirchensprache – folgte Benussi65 aber einer weit allgemeiner angelegten und auf Carlo Combi zurückgehenden (irredentischen) Argumentation 62 63
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Vgl. Bernardo Benussi, L’Istria sino ad Augusto, Trieste 1883. In seiner ausgezeichneten Dissertation ist es Francesco Toncich gelungen, den Begriff »ibridismo di popolo« bis zu einer kontroversen Sitzung des Stadtrats von Pirano im Jahr 1848 zurückzuverfolgen, vgl. ders., Istrien 1840–1914. Eine kulturelle Versuchsstation des Habsburgerreiches (Bedrohte Ordnungen 15), Tübingen 2021. Bernardo Benussi, La liturgia slava nell’Istria, in: Atti e memorie della società istriana di archeologia e storia patria 9 (1894), S. 151–218. Vgl. Bernardo Benussi, Saggio d’una Geografia dell’Istria compilata ad uso della Studiosa Gioventú, Trieste 1874, S. 34.
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dieser Zeit: Istrien war nach Combi zuerst von Italienern und später von Slawen besiedelt worden. Erstere lebten in den Städten und bildeten eine in sich kompakte, zivilisierte, eine Hochsprache sprechende und daher die politische und kulturelle Führung beanspruchende Gruppe. Dagegen waren die Slawen in den Dörfern des Hinterlandes verstreut und in viele unterschiedliche, geschichts- und kulturlose Stämme aufgeteilt. Ihre Bräuche und Trachten waren vielfältig, ihre Sprache von einer großen Varietät von lokalen Dialekten geprägt, die Combi insgesamt aber »verkommen« (corrotta) erschienen. Derart bildeten die Slawen zwar die Bevölkerungsmehrheit in Istrien, doch waren sie aufgrund ihrer inneren Zerrissenheit für ihn nicht in der Lage, eine eigene gemeinsame Identität auszubilden und daher seit Jahrhunderten auch gezwungen, sich an die venezianische Italianità zu assimilieren.66 Die damit direkt angesprochene »assimilazione spontanea« war ein dauerhafter, geräuschlos verlaufender und als ›natürlich‹ erachteter Prozess der Italianisierung der slawischen Bevölkerung in Istrien. Er wurde von der italienisch-liberalen Suprematie getragen, ging von der Überlegenheit der italienischen Sprache und Kultur aus, wurde aber Anfang der 1880er Jahre vom politisch-nationalen Erstarken von Kroaten und Slowenen – und dem Bewusstsein ihrer zahlenmäßigen Dominanz – in Istrien zunehmend in Frage gestellt.67 Damit aber erhielt der Begriff »ibridismo« eine zusätzliche Bedeutung: Er war zuerst für Vermischungsprozesse innerhalb der verschiedenen slawischen Bevölkerungsgruppen reserviert – aber stark antislawisch ausgerichtet. Doch bald bezeichnete »ibridismo« – in hierarchischer ebenso wie in egalitär gedachter Form – auch im Gang befindliche und daher beobachtbare italienisch-slawische Mischungen. Einen ersten Anlauf dafür hat 1909 der Schriftsteller Scipio Slataper unternommen. Slataper hatte in seinem in der Zeitung La Voce am 11. Februar 1909 erschienenen berühmten Aufsatz »Trieste non ha tradizioni di cultura« eine Öffnung seiner in einer »hybriden Entwicklung« (questo suo ibrido sviluoppo) befindlichen Stadt gegenüber
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C. A. Combi, Etnografia dell’Istria, in: Rivista Contemporanea 8 (1860), S. 388–398. Vgl. dazu Frank Wiggermann, K.u.k. Kriegsmarine und Politik. Ein Beitrag zur Geschichte der italienischen Nationalbewegung in Istrien, Wien 2004; Rolf Wörsdörfer, Krisenherd Adria 1915–1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum, Paderborn u.a. 2004.
Hibridismus & Hybridität
der slawischen Welt – und damit die Vermittlung zwischen lateinischer, slawischer und germanischer Kultur – gefordert.68 Diesem Ziel ist auch der Triestiner Sozialist Angelo Vivante gefolgt. Vivante hatte 1912 in Florenz sein Buch Irredentismo Adriatico veröffentlicht. Doch anders als dessen Untertitel Contributo alla discussione sui rapporti austro-italiani verspricht, handelt er schnell auch von dem ihm in Wahrheit einzig relevant erscheinenden Konflikt des »Küstenlandes« – vom italienisch-slawischen. Denn in diesem würden seit längerem die italienische Lega Nazionale und der slawische Družba sv. Cirila i Metoda za Istru ein lebhaftes Duell »pro e contro l’assimilazione« austragen. Dabei macht Vivante auf ein neues Phänomen aufmerksam: den »ibridismo rustico«. Anders als der »ibridismo urbano« führe dieser nämlich in absehbarer Zeit zu keiner »italianificazione definitiva«. Der »ibrido« sei nämlich in der Regel ein Bauer slawischer Herkunft und Sprache, der in der Lage sei, schnell italienisch zu verstehen und daher verschiedene Dienstleistungen oder kleinere Geschäfte auzuüben. Ein solcher »ibridismo« präge aber in bizarrer Weise auch das häusliche Leben, denn man spreche mit den Alten slawisch, mit den Kindern italienisch und mit den Neffen beides. Dies ergäbe »una forme di assopimento«, also eine Art von unentschiedenem Latenzzustand in der ethnischen Zugehörigkeit der Menschen, der in komplexer Weise auch das Familienleben prägte. Vivante hatte daher versucht, Regelhaftigkeiten in sprachlich und kulturell gemischten Familien auszumachen, musste aber letztlich erkennen, dass immer Machtfragen entscheidend waren. Es falle daher auch schwer zu klären, ob es sich bei dem im Alltagsleben vielfach zu beobachtenden »ibridismo« um slawisch-italianisierte oder um italienisch-slawisierte Menschen handle, sei doch sowieso in vielen italienischen Regionen die bäuerliche Schicht eine »anazionale« (also eine national indifferente).69 1915 hat mit dem Dichter und Journalisten Giulio Caprin ein dritter Triestiner in seinem Buch Paesaggi e Spiriti di confine zu »ibridismo« geschrieben. Dieser trete, wie im österreichischen Teil der Monarchie, in Zonen mit gemischten Bevölkerungen auf. Es gebe in Österreich daher auch eine »glottologia austriaca«, aber keine österreichische Sprache, denn diese sei in der Monarchie – so schreibt der für deren Untergang in den Krieg gezogene Caprin mit deutlich
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Vgl. Scipio Slapater, Lettere Triestine. Col seguito di altri scrittori vociani di polemica Trieste, Trieste 1988, S. 9–14. Angelo Vivante, Irredentismo Adriatico. Contributo alla discussione sui rapporti austro-italiani, Firenze 1912.
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sprachlich-puristischer nationaler Abneigung – ausschließlich in einer »glottologia degli ibridismi« enthalten.70
Das Ende des Empires Istrien, wie überhaupt die ganze Monarchie, erschienen Josef Stradner, Hugo Schuchardt und vielen anderen im ausgehenden 19. Jahrhundert eine »grossartige Versuchsstation«71 zu sein. Aber die Genannten wussten auch, was schon Karl Freiherr von Czoernig Mitte des 19. Jahrhunderts angedeutet hatte: Der sich schnell im Vielvölkerstaat ausbreitende »Racenkampf«72 hatte einen »chemischen Zersetzungsprozess«73 in Gang gesetzt, der nicht nur die Monarchie und ihre Teile bedrohte, sondern auch den hybriden »Istrianer« – in dessen Folge aber auch den hybriden »National-Oesterreicher« – schnell »wieder in seine nationalen Bestandteile« auflösen würde. Denn habe sich, so Josef Stradner 1893, »einmal eine nationale Bewegung […] unter den zahlreichen ›Völkern und Stämmen‹ Istriens zu ihrer vollen Kraft und Intensität entwickelt«, dann werde die »Tragödie des stattlichen [sic!] Existenzkampfes«74 auch in diesem Kronland ihr schnelles Ende finden. Die verwendete Sprache der Naturwissenschaften wies zurück ins 19. Jahrhundert und somit in eine Zeit, in der »Hibridismus« – wie von den Wiener Anthropologen anfänglich vermutet – durchaus als ein erfolgversprechendes Experiment im »Laboratorium« der Monarchie gesehen werden konnte. Die reale Entwicklung dagegen verlief vollkommen anders und angesichts zunehmend radikaler werdender Nationalitätenkämpfe war weder in der größeren deutschsprachigen Öffentlichkeit noch in den Wissenschaften – wie etwa der österreichischen Volkskunde – im (deutschsprachigen) Zentrum der Monarchie weiter Bedarf an diesem Wort. Soweit mir bekannt, ist bei Deutschsprachigen von »Hibridismus« nach der Jahrhundertwende auch in Istrien nur mehr selten die Rede. Dies war allerdings bei den italienischsprachigen Bewohnern des »Küstenlandes« vollkommen anders. Dort wurde –
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Giulio Caprin, Paesaggi e spiriti di confine, Milano 1915. Schuchardt, Slawo-Deutsches und Slawo-Italienisches, S. 131. Czoernig, Ethnographie der Oesterreichischen Monarchie, S. XV. Schuchardt, Slawo-Deutsches und Slawo-Italienisches, S. 132. Stradner, Rund um die Adria, S. 53.
Hibridismus & Hybridität
wiederum vor dem Hintergrund der eigenen Bedrohung angesichts der zahlenmäßigen Dominanz der Slawen ab den 1880er Jahren – der im Italienischen schon länger gebräuchliche Begriff »ibridismo«75 bis zum Ersten Weltkrieg inhaltlich zunehmend erweitert und auch ein Stück weit inhaltlich verändert. Die konkrete Begriffsbildung aber war von Anfang an eng mit der Habsburgermonarchie verbunden. Denn diese galt – von Ethnografen immer wieder beschworen – in ihrer Zusammensetzung als Vergrößerung Istriens und gleichzeitig als Verkleinerung Europas. Es war daher kein Zufall, dass eben dort im ausgehenden 19. Jahrhundert »Hibridismus« kulturell aufgeladen wurde, dabei höchst komplexe, in sich widersprüchliche und in unterschiedliche Richtungen verlaufende Prozesse der »rassischen«, sprachlichen und kulturellen Vermischung begrifflich fasste. »Hibridismus« war dabei ein Begriff der Beobachtung, keiner der Theorie. Er stammte aus der Sprache der wissenschaftlichen Zentren des Vielvölkerstaates, erhielt seinen konkreten Gehalt allerdings erst in Istrien und dies im doppelten Sinn: »Hibridismus« war zum einen das begriffliche Ergebnis einer außergewöhnlichen – durch staatliche Kategorisierung hervorgerufenen – Bedrohung der regionalen Ordnung. Zum anderen war »Hibridismus« gerade durch eine imperiale und unterschiedliche – gerade neue – Disziplinen einschließende Wissenszirkulation – v.a. aber durch die Verbindung zum älteren, freilich bis zum Ersten Weltkrieg weiter diskutierten italienischen »ibridismo«76 – kulturell ausformuliert worden. Zusammengenommen können »Hibridismus«/»ibridismo« aber durchaus als Vorgeschichte für ein gegenwärtiges Hybriditätsverständnis genommen werden. In Istrien selbst aber endet mit dem Ersten Weltkrieg die produktive Nutzung des Begriffs. Es gibt jedenfalls keine Hinweise dafür, dass dort vor dem Hintergrund der veränderten politischen Verhältnisse – der durch den Vertrag von Rapallo 1920 erfolgten Zuschlagung Istriens zu Italien – noch weiterhin von »ibridismo« die Rede war. Und auch in den südslawischen Sprachen
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Der Begriff »ibridismo« ist nach dem Grande Dizionariio della Lingua Italiana (Bd. 7, Torino 1972, S. 196–197) bereits 1845 vom englischen »hybridism« bzw. 1866 vom französischen »hybridisme« in die botanische und zoologische Wissenschaftssprache in Italien übernommen worden. Francesco Toncich, Istria between Purity and Hybridity: The Creation of the Istrian Region through scientific Research in the 19th Century, in: Acta Histriae 28 (2020), S. 541–576.
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hat sich der Begriff »Hybriditität« – möglicherweise wegen seines antislawischen Gehalts77 – nie wirklich eingebürgert.78 Trotzdem war, wie Daniela Simon eindrucksvoll dargestellt hat, bei den katholisch-kroatischen Eliten in Istrien ein parallel geführter, national motivierter Abwehrkampf gegen ethnische Vermischung in Istrien zu beobachten. Initiiert vom einflussreichen Bischof Juraj Dobrila und propagandistisch mit allen Mitteln von der von ihm 1870 bewusst für die kroatische Landbevölkerung gegründeten Zeitung Naša Sloga ausgefochten, wurden national sich nicht eindeutig bekennende Kroaten als »Maštrunci« (Bastarde), »Potalijančenjaci« (Italianisierte) oder »Šarenjaci« (Bunte) denunziert. Ein durch den aus Dalmatien stammenden Rechtsanwalt und Weinhändler Ivan Kristić zur Jahrhundertwende gestarteter Versuch, diese »Šarenjaci« politisch gegen die kroatischen Nationalisten zu organisieren, war daher auch zu einem schnellen Scheitern verurteilt.79 Aber: Auch die staatliche Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg hat – dies ist durch die New Imperial History vielfach belegt80 – zu keinen klaren Zäsuren geführt, sondern vielfältige Kontinuitäten begründet. Zu diesem Erbe gehört es etwa, dass Italien und – noch stärker – Jugoslawien zu Vielvölkerstaaten geworden sind. Aber genauso wichtig ist es, dass dadurch Deutungsmuster (wie etwa Hybridität in Istrien) und eingeübtes Konflikthandeln (ethnische Ent-Mischungen) über alle zeitgeschichtlichen Brüche hinweg weitergeführt worden sind. Denn Istrien, so hat die amerikanische Kulturanthropologin Pamela Ballinger argumentiert, ist von einer ausgesprochen wirksamen – und daher bis in die Gegenwart verlängerten – »long standing purity-hybridity-dialectic« geprägt.81
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Vgl. dazu etwa Lidija Nikočević, Iz »etnološkog mraka«: Austrijski etnografski tekstovi o Istri s kraja 19. i početka 20. stoljeća, Pula 2008; dies., State Culture and the Laboratory of Peoples. Istrian Ethnography during the Austrian-Hungarian Monarchy, in: Narodna Umjetnost 43 (2006) 1, S. 45–57. Vgl. Bojan Baskar, A Mixture Without Mixing: Fears of Linguistic and Cultural Hybridity in the Slovenian-Italian Borderland, in: Acta Histriae 28 (2020) 4, S. 605–622. Daniela Simon, The »hybrids« and the Re-ordering of Istria, 1870–1914, in: Acta Histriae 28 (2020) 4, S. 577–604. Vgl. Ulrike von Hirschhausen, A New Imperial History? Programm, Potenzial, Perspektiven, in: Geschichte und Gesellschaft 41 (2015) 4, S. 718–757. Pamela Ballinger, History in Exile: Memory and Identity at the Borders of the Balkans, Princeton 2003, S. 28.
Hibridismus & Hybridität
Istrien: »il nostro essere ibrido« Südosteuropa als Ganzes und Istrien im Besonderen scheinen aufgrund der dort über Jahrhunderte hinweg präsenten – durch Wanderungsbewegungen, religiöse Konversionen und ethnische Mischungen hergestellten – ethnischkonfessionellen Gemengelage ein gemeinsames, fast zeitloses Strukturmerkmal zu haben: kulturelle Hybridität.82 Historisiert man, wie in diesem Beitrag, dagegen kulturelle Hybridität, dann wird gerade im Kontext »bedrohter Ordnungen« eine »Genealogie«83 des Begriffs erkennbar. Dessen erstes (begriffliches) Auftreten als »Hibridismus«/»ibridismo« geschah im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Eine für Istrien als Realität behauptete »hybride Kultur« dagegen macht einen fast hundertjährigen Zeitsprung notwendig und nimmt das Ende des 20. und das beginnende 21. Jahrhundert ins Visier. Denn vor dem Hintergrund des langsam zerfallenden Jugoslawien und des folgenden kroatischen Nationalismus hat sich ab den 1970er Jahren zuerst ein kultureller (istrijanstvo/istrianità), dann ab Anfang der 1990er Jahre ein politischer Regionalismus (organisiert in der Istarski demokratski sabor/Dieta democratica italiana) in Istrien formiert, der – mit direkter Anlehnung an die Habsburgermonarchie – eine sprachlich und kulturell »gemischte« Identität zu seinem Inhalt machte. Der Schriftsteller Guido Miglia hat 1994 in seinem Buch Istria un querica dann – soweit mir bekannt ist – erstmals wieder davon geschrieben, dass das Wesen der Istrianer:innen eben »ibrido« sei.84 Er hat damit aber nicht nur, wie die istrianische Politik schnell zeigen sollte,85 einen schwierigen und auch nicht unproblematischen Begriff verwendet, sondern ein Stück weit auch dessen Herkunft verkehrt: War »ibridismo« nämlich im ausgehenden 19. Jahrhundert aus einer italienischen Dominanz (gegenüber den Slawen) in Istrien heraus erschrieben worden, stellte der Begriff ein Jahrhundert später – nach dem esodo, also der zwischen 1943 und 1953 erfolgten Auswanderung von (je nach Schätzung) 200.000-350.000 Italiener:in-
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Vgl. Marie-Janine Calic, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 21. Vgl. dazu ähnlich Pamela Ballinger, Multiculturalism against the State. Lessons from Istria, in: Feichtinger/Cohen (Hg.), Understanding Multiculturalism, S. 101–121, hier S. 104. Guido Miglia, Istria una querica, Trieste 1994, S. 64. Vgl. Pamela Ballinger, »Authentic Hybrids« in the Balkan Borderlands, in: Current Anthropology 45 (2004) 1, S. 31–60.
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nen86 – die Hoffnung der von der Assimilation bedrohten und von Untergangsängsten geplagten, noch ca. 15.000 in Istrien verbliebenen rimasti auf eine gemeinsame Zukunft in Istrien dar.87 Die Habsburgermonarchie war im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in ihrer ethnografischen Selbstbeschreibung höchst produktiv – oder in der Terminologie dieses Buches: ausgesprochen integrativ. Die Erfindung von »Hibridismus«/»ibridismo« ist dafür ein gutes Beispiel. Aber dieselben Begriffe konnten in aller nationalen Wucht und ohne größere Schwierigkeiten auch gegen sie als multikulturelles Empire eingesetzt werden.
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Vgl. Marina Cattaruzza/Orietta Moscarda, Der »Exodus« aus Istrien in der Geschichtsschreibung und im öffentlichen Diskurs Italiens, Sloweniens und Kroatiens, in: Peter Haslinger/K. Erik Franzen/Martin Schulze Wessel (Hg.), Diskurse über Zwangsmigration in Europa, Oldenburg 2008, S. 217–235. Vgl. Angelo Ara, La minoranza italiana in Istria dopo la dissoluzione dello stato jugoslavo, in: Antonio Giuffrè (Hg.), À l’Europe du troisième millénaire. Mélanges offerts à Giuseppe Gandolfi à l’occasion du dixième anniversaire de la fondation de l’Académie. Vol. 3., Milano 2004, S. 1219–1232.
Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden Kommunikationsraum Moritz Csáky
I. Hybride Kommunikationsräume sind Grenzbereiche, offene Orte, an denen unterschiedliche Kulturen, unterschiedliche Zeichen oder kulturelle Codes aufeinandertreffen, konkurrieren, sich austauschen, verflüchtigen und zuweilen neue Konfigurationen eingehen. Grenzbereiche oder Orte, in einem wörtlichen und in einem übertragenen Sinne, sind von Heterogenitäten und Differenzen bestimmt, was zur Folge hat, dass auch das Bewusstsein der Menschen, die sich in solchen Grenzbereichen vorfinden, nicht von eindeutigen, sondern von mehrdeutigen, das heißt von multipolaren Orientierungsangeboten beeinflusst wird. Im Gegensatz zu der Vorstellung von einer homogenen Kultur, in der es, wie man meint, eindeutige Identifikatoren gibt beziehungsweise geben soll, steht in Grenzbereichen eine Vielzahl von Identifikatoren zur Verfügung, die die Bildung eindeutiger, stabiler Identitäten erschwert beziehungsweise unmöglich macht. Man kann daher davon ausgehen, dass auch Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden Kommunikationsraum nicht eindeutig, sondern vielfältig und prinzipiell mehrdeutig sind. Joseph Roth, der in seinen Werken der Peripherie, der Provinz, Grenzbereichen also eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, unter anderem in seiner letzten großen Erzählung Das falsche Gewicht, in der er die hybride »UnOrdnung« als das kennzeichnende Kriterium der peripheren Grenze namhaft machte, war zu Beginn seiner journalistischen Laufbahn mit einem ganz konkreten Grenzbereich konfrontiert, dem er damals mit einem gewissen skeptischen Unverständnis begegnete. In einer Reihe von Feuilletons, die 1919 in der Wiener Tageszeitung Der Neue Tag erschienen waren, versuchte er, die Stimmung unter den Bewohnern »Deutschwestungarns« einzufangen, das
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die Pariser Friedensverträge der neuen Republik Österreich, »Deutschösterreich«, zusprechen sollten und wo zwar mehrheitlich deutsch, daneben aber auch kroatisch, ungarisch und slowakisch gesprochen wurde: »Der Glaube: Extra Hungariam non est vita, hält jeden ungarischen Bürger ohne Unterschied der Nationalität in seinem starken Bann. […] Denn der westungarische Bauer hat kein Nationalgefühl. Es ist höchstens ein Stammesgefühl und nicht einmal das ganz. Er verachtet den Fremden. Ob dieser ein Budapester oder ein Wiener ist. […] Das Schicksal des großen Deutschen Reiches kränkt ihn nicht. Was ist ihm Berlin?! Einen Norddeutschen haßt er, weil er ihn nicht versteht. Er weiß nicht einmal, ob er selbst Deutscher ist. Ich habe etwa fünfzig Bauern gefragt: ›Sie sind Deutsche?‹ Zwanzig von ihnen sagten: ›Na, mir san Ungarn.‹ Die anderen dachten angestrengt nach, um schließlich zaghaft zu stottern in der Angst, vielleicht doch nicht richtig verstanden zu haben: ›Ja, mir reden deutsch!‹ Das ist es: Sie sprechen mehr deutsch, als sie es sind…«.1 In diesem konkreten Grenzbereich »Deutschwestungarns« ließen sich die Menschen nicht auf eine eindeutige nationale, zum Beispiel auf eine deutsche Identität festlegen, sie fühlten sich mehreren Traditionen verpflichtet, die sich als vielfältige, heterogene Erinnerungen in ihrem komplexen Bewusstsein bündelten. Die gesprochene Sprache war für sie zwar das eine, jedoch keineswegs das eindeutig-konstitutive Kriterium ihrer »nationalen« Zugehörigkeit: »Sie sprechen mehr deutsch, als sie es sind«. Weder das ferne magyarische Budapest noch das deutsche Wien oder Berlin, wie Roth feststellt, war für ihr Selbstbewusstsein ausschließlich bestimmend, sondern die Erinnerung an die jahrhundertelange Zugehörigkeit zu einem mehrsprachigen Königreich Ungarn, wo sie sich aufgehoben fühlten und wo sie anscheinend auch fortan leben wollten. Roth beschreibt gleichsam zufällig eine jener typischen Situationen, nämlich einen hybriden Grenzbereich, in welchem die Menschen von vielfältigen, zuweilen widersprüchlichen Erinnerungen bestimmt werden, die sich in ihren komplexen Identitäten widerspiegeln. Zu diesen zählt Roth explizit auch die jüdischen Bewohner »Deutschwestungarns«, des heutigen Burgenlands, die in »sieben Gemeinden« lebten, in »lauter deutsche[n] Gemeinden«, wie er anerkennend hinzufügt: »Die Juden sprechen ein reines, 1
Joseph Roth, Der Anschluss Deutsch-Westungarns (Der Neue Tag, 8.8.1919), in: Joseph Roth Werke. Bd. 1: Das journalistische Werk 1915–1923, hg. v. Klaus Westermann, Köln 1989, S. 104–106, hier S. 105f. (Kursivsetzungen im Original).
Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden Kommunikationsraum
fehlerloses, etwas hartes Deutsch und vertragen sich ausgezeichnet mit der Bevölkerung.« Doch auch hier ein Hinweis auf die autochthone Situation dieses mehrdeutigen Grenzbereichs, denn: »Die deutschen Bauern machen einen strengen Unterschied zwischen ›Budapester‹ und ›unseren‹ Juden.«2 Roth ist sich, die Argumentation Jurij M. Lotmans vorwegnehmend, der zumindest doppelten Funktion von Grenze bewusst, die einerseits trennt, andererseits aber auch verbindet. Er verdeutlicht diese ambigue Funktion gleichfalls an einem Beispiel aus »Deutschwestungarn«. Bruck an der Leitha war zur Zeit der Monarchie ein Grenzort zwischen (Nieder-)Österreich und Ungarn und hatte bezeichnender Weise einen deutsch-ungarischen Doppelnamen: BruckKirályhida.3 Nun jedoch wurde durch die neue politische Grenzziehung die größere, westliche Hälfte der Stadt der neuen Republik Österreich, der östliche Teil Ungarn zugesprochen, und der Fluss beziehungsweise die Brücke über den Fluss, die Leitha, markierte nicht mehr eine Grenze, die verband, sondern eine Grenze, die trennte, eine Grenze zwischen zwei unabhängigen neuen Staaten, zwischen zwei verschiedenen Sprachen und Kulturen. Der repräsentative Bindestrich in Bruck-Királyhida hatte somit seine verbindende, vermittelnde Funktion verloren: »Der Bindestrich war in Wirklichkeit eine Brücke, die, über die Leitha geschlagen, Diesseits und Jenseits miteinander verband. Der Verkehr über die Brücke war ein vollkommen unbehinderter. Diesseits sprachen die Leute Deutsch und Ungarisch, jenseits sprachen sie Ungarisch und Deutsch. Diesseits prunkten sie schwarz-gelb, jenseits schillerten sie in grün-weiß-rot. […] Wenn man eigentlich genauer hinsieht, ist der Bindestrich noch da. Er heißt nur anders. Er ist ein Scheidestrich geworden. Statt zu binden, trennt er. Um
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Joseph Roth, Die Juden von Deutsch-Kreuz und die Schweh-Khilles (Der Neue Tag, 9.8.1919), in: ebd., S. 115f., hier S. 115. Királyhida war die ungarische Bezeichnung von Bruckneudorf, des östlich der Leitha im damaligen Ungarn gelegenen Ortsteils von Bruck an der Leitha. Vor 1919 gehörte Bruck-Királyhida (Roth schreibt den Namen ohne den nötigen Akzent: Kiralyhida) zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie, der Bindestrich hatte also eine verbindende Funktion zwischen den beiden Reichshälften. Roth bezieht sich auf die Situation 1919, als die neue Staatsgrenze zwischen den Staaten Deutschösterreich und Ungarn mitten durch den Ort verlief, noch bevor 1921 auch der östliche Teil, Királyhida (Bruckneudorf), an Österreich angegliedert wurde.
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es mit einem Wort zu sagen: Es ist eine Grenze. Der Bindestrich ist besetzt. […] Grenze der Vernunft. Oder der Unvernunft?«4 Das Verbindende der Grenze ist durch die politisch verordnete Teilung des Ortes verloren gegangen, denn: »Die Grenze hätte in der Hauptsache den Zweck haben können, überschritten zu werden. Jetzt hat sie den, eingehalten zu werden.«5 Daher schließt Roth seinen Beitrag »Bruck und Kiralyhida«: »Nie mehr gehe ich nach Bruck an der Leitha. Seitdem es nicht mehr BruckKiralyhida heißt, ist es ungemütlich. Und das nur wegen des Bindestrichs. Es ist sehr schade um den Bindestrich…«.6 Der Bindestrich symbolisierte also ein mehrfaches Gedächtnis, die Koinzidenz unterschiedlicher Erinnerungen, die für Grenzbereiche charakteristisch sind. Diese Symbiose mehrfacher Erinnerungsweisen wurde nun durch die Vorgabe eines nationalstaatlich definierten, präskriptiven, von der Politik gelehrten und von der Bevölkerung erst zu erlernenden Gedächtnisses unterbunden, die Grenze war nicht mehr Verbindung, nicht mehr ein Ort von Translationen, sie war hier im Konkreten ausschließlich zu einem Symbol der Trennung geworden. Die von Roth beschriebene Grenze, die den Blick auf Heterogenitäten und Differenzen insinuiert, denen unterschiedliche Erinnerungen entsprechen, ist ein Phänomen, das immer wieder Gegenstand von kulturwissenschaftlichen beziehungsweise kulturtheoretischen Überlegungen geworden ist. Um der spezifischen Funktion von der Grenze inhärenten Pluralitäten, Heterogenitäten und Differenzen gerecht zu werden und diese von einer kulturwissenschaftlichen Perspektive aus zu analysieren und einzuordnen, bedarf es vor allem einer differenztheoretischen Hermeneutik, die es erfordert, sich Klarheit darüber zu verschaffen, erstens, was unter Kultur zu verstehen sei und zweitens, dass kulturelle Prozesse ganz wesentlich von Differenzen und Heterogenitäten bestimmt werden. Während einerseits die bislang gängige Vorstellung von Nationalkultur, vor allem unter Bezugnahme auf die jeweilige Nationalsprache, einen homogenen, holistischen Kulturbegriff konstituierte und andererseits die Zweiteilung von Kultur zwischen Hoch- und Populärkultur vor allem die soziale Differenzierung einer Gesellschaft zum Ausgang unterschiedlicher kultureller Konfigurationen erklärte – zuweilen mit einem 4
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Joseph Roth, Bruck und Kiralyhida (Der Neue Tag, 20.7.1919), in: Joseph Roth Werke. Bd. 1: Das journalistische Werk 1915–1923, S. 87–89, hier S. 87 (Kursivsetzungen im Original). Joseph Roth, Kugel am Bein (Der Neue Tag, 28.9.1919), in: ebd., S. 145–148, hier S. 146. Roth, Bruck und Kiralyhida, S. 89.
Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden Kommunikationsraum
wertenden Aspekt –, vermag ein der Kulturanthropologie und Kultursemiotik entlehnter umfassender Kulturbegriff sowohl das Postulat nach einer geschlossenen, homogenen Nationalkultur, die, wie Herder es sich vorgestellt hatte, wie eine geschlossene Kugel, die ihren Mittelpunkt in sich hat, sich jeweils der Konkurrenz anderer Kugeln (d.h. Kulturen) zu erwehren hat,7 als auch die Sicht von sozial bedingten oppositionellen kulturellen Dichotomien, die beispielsweise in der zuweilen immer noch vertretenen binären Opposition von E- und U-Musik zum Ausdruck kommt, in Frage zu stellen. Beide Konzepte insinuieren einen mehr oder weniger statischen und homogenen Kulturbegriff, auch wenn innerhalb eines solchen prozesshafte Abläufe nicht ausgeschlossen werden. Dem gegenüber erlaubt ein der Kulturanthropologie entlehnter offener Kulturbegriff, der, nach Bronislaw Malinowski, »jenes umfassende Ganze« beinhaltet, »das sich zusammensetzt aus Gebrauchsund Verbrauchsgütern, den konstitutionellen Rechten und Pflichten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, aus menschlichen Ideen und Fertigkeiten, aus Glaubenssätzen und Bräuchen«,8 unter Kultur alle Handlungen von Menschen zu verstehen, den »umfassende[n] Zusammenhang menschlichen Verhaltens«.9 Kultur ist folglich insofern ein kontinuierlicher, handlungsorientierter und vor allem performativer Prozess, als die Menschen sowohl schöpferische Produkteure von kulturellen Inszenierungen sind als auch in diese (kulturellen) Inszenierungen beziehungsweise Handlungen als Akteure derart involviert sind, dass sie sich auch selbst mit diesen Inszenierungen ständig prozesshaft wandeln und verändern.10 7
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»[…] jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt! […] das Zeitalter fremder Wunschwanderungen, und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Fülle, Ahndung des Todes!« Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts, in: Johann Gottfried Herder Werke. Bd. I., hg. v. Wolfgang Pross, Darmstadt 1984, S. 588–683, hier S. 617f. (Kursivsetzungen im Original). Bronislaw Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (1941), in: ders., Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur. Übersetzt von Fritz Levi. Mit einer Einleitung von Paul Reiwald, Frankfurt a.M. 1975, S. 45–172, hier S. 74f. Ebd., S. 46. Vgl. dazu eine prägnante Charakteristik von Inszenierung: »Als ästhetische und zugleich anthropologische Kategorie zielt der Begriff der Inszenierung auf schöpferische Prozesse, in denen etwas entworfen und zur Erscheinung gebracht wird – auf Prozesse, welche in spezifischer Weise Imaginäres, Fiktives und Reales (Empirisches) zueinander in Beziehung setzen.« Erika Fischer-Lichte, Theatralität und Inszenierung, in:
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Diese Perspektive auf Kultur wird auch von kultursemiotischen Überlegungen unterstützt, die den »Text« der Kultur als einen Prozess von heterogenen Zeichen und Codes begreifen, die sich in andauernder Bewegung und Veränderung befinden. Nach Jurij M. Lotman ist das typische Kennzeichen einer solchen kulturellen Semiosphäre in der Tat ihre Heterogenität, ihre »Asymmetrie«: »Die Sprachen innerhalb eines semiotischen Raumes sind ihrer Natur nach verschieden, und ihr Verhältnis zueinander reicht von vollständiger wechselseitiger Übersetzbarkeit bis zu ebenso vollständiger Unübersetzbarkeit. […] sämtliche Elemente der Semiosphäre [stehen] nicht in einem statischen, sondern dynamischen Verhältnis zueinander […]. Die Struktur der Semiosphäre ist asymmetrisch.«11 Aus der Tatsache, dass die Heterogenitäten oder Differenzen, die in einem dynamischen Verhältnis zueinander stehen, sich voneinander abgrenzen, folgt naturgemäß, dass einerseits Differenzen innerhalb der Semiosphäre nicht eliminiert werden und dass andererseits die Semiosphäre folglich nach außen und im Inneren von Grenzen durchzogen ist, die in Bezug auf ihre Funktion, die ihnen in diesem kulturellen System zukommt, mehrdeutig bleiben: »Der Begriff der Grenze ist ambivalent. Einerseits trennt sie, andererseits verbindet sie. Eine Grenze grenzt immer an etwas und gehört folglich gleichzeitig zu beiden benachbarten Kulturen, zu beiden aneinandergrenzenden Semiosphären. Die Grenze ist immer zwei- oder mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus, der Texte aus einer fremden Semiotik in die Sprache ›unserer eigenen‹ Semiotik überträgt; sie ist der Ort, wo das ›Äußere‹ zum ›Inneren‹ wird, eine filternde Membran, die die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die interne Semiotik der Semiosphäre einfügen, ohne doch ihre Fremdartigkeit zu verlieren. […] Faktisch ist der
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dies./Christian Horn/Isabel Pflug/Matthias Warstat (Hg.), Inszenierung und Authentizität, Tübingen/Basel ²2007, S. 9–28, hier S. 21. Zu der spezifischen Funktion von Performativität vgl. Erika Fischer-Lichte, Performativität und Ereignis, in: dies./Christian Horn/Sandra Umathum/Matthias Warstat (Hg.), Performativität und Ereignis, Tübingen/Basel 2003, S. 11–37. Jurij M. Lotman, Der semiotische Raum, in: ders., Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold und Olga Radetzkaja, hg. und mit einem Nachwort von Susi K. Frank, Cornelia Ruhr und Alexander Schmitz, Frankfurt a.M. 2010, S. 163–173, hier S. 166, S. 168f.
Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden Kommunikationsraum
gesamte Raum der Semiosphäre von Grenzen unterschiedlicher Niveaus durchzogen […].«12 Vor Lotman hatte schon Michail M. Bachtin auf diese Funktion der Grenze innerhalb der Kultur aufmerksam gemacht und gemeint: »Im Bereich der Kultur gibt es kein inneres Territorium: er ist vollständig an Grenzen gelegen, überall, durch jedes seiner Momente verlaufen Grenzen; die systematische Einheit der Kultur zieht sich zurück in die Atome des kulturellen Lebens, wie die Sonne sich in jedem Wassertropfen spiegelt. Jeder kulturelle Akt lebt wesentlich an Grenzen […].«13 Indem ich mir diese kulturanthropologischen und kultursemiotischen Überlegungen zunutze, mache möchte ich einen Schritt weitergehen und vorschlagen, unter Kultur das gesamte Ensemble von Elementen, das heißt von Zeichen, Symbolen und Codes zu verstehen, mittels derer Individuen innerhalb eines sozialen Kontextes beziehungsweise Rahmens verbal und nonverbal, kontinuierlich und performativ handeln und kommunizieren. In einem übertragenen Sinne stellt sich unter einem solchen Aspekt daher Kultur als ein hybrider Kommunikationsraum dar, der sich in einer ständigen Aushandlung von Differenzen befindet, aus welcher dynamische Gemengelagen entstehen, in denen die einzelnen differenten Elemente zwar neue Konfigurationen eingehen, jedoch keineswegs völlig eliminiert werden. Dabei handelt es sich letztlich um krisenhafte und konfliktreiche Vorgänge, insofern nämlich, als es dabei stets um die Konkurrenz von differenten Elementen, oder mit anderen Worten: um die Konstruktion von potenziellen Machtpositionen in einem kontinuierlichen Prozess von Translationen geht, einem Prozess, der naturgemäß nicht nur Sieger, sondern stets auch Verlierer aufzuweisen hat. Die von Bachtin oder Lotman betonte Bedeutung beziehungsweise Funktion der Grenze, an welcher unterschiedliche Elemente, Zeichen und Symbole aufeinandertreffen und Übersetzungsprozesse stattfinden, greift Michel de Certeau insofern auf, als er in diesem Zusammenhang auf eine kontinuierliche Produktion neuer Räume aufmerksam macht, das heißt nach meinem Verständnis auf die Produktion neuer (kultureller) Kommunikationsräume:
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Jurij M. Lotman, Der Begriff der Grenze, in: ebd., S. 174–190, hier S. 182, S. 184. Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. und eingeleitet von Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt a.M. 1979, S. 111.
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»Die Grenzen werden durch die Berührungspunkte zwischen den zunehmenden Aneignungen […] und den aufeinanderfolgenden Ortsveränderungen (innere oder äußere Bewegungen) der Handelnden gezogen. Sie laufen auf eine dynamische Aufteilung der Güter und möglicher Funktionen hinaus, um ein immer komplexeres Netz von Differenzierungen und eine komplexere Kombination von Räumen zu bilden. […] Das Paradox der Grenze: da sie durch Kontakte geschaffen werden, sind die Differenzpunkte zwischen zwei Körpern auch ihre Berührungspunkte. Verbindendes und Trennendes ist hier eins. Zu welchem von den Körpern, die Kontakt miteinander haben, gehört die Grenze? Weder dem einen noch dem anderen. Heißt das: niemandem? Das theoretische und praktische Problem der Grenze lautet: zu wem gehört sie?«14 Die Überlegungen Bachtins, Lotmans und de Certeaus implizieren in einem gewissem Sinne eine Vorwegnahme jener postkolonialen Perspektive, die bei Homi K. Bhabha mit der Metapher des »Third Space«, eines »Dritten Raumes« umschrieben wird, in welchem die einzelnen Elemente ihre vermeintliche Authentizität zwar nicht verlieren, jedoch zu einer hybriden Gemengelage gerinnen, die gerade das Gegenteil von kultureller Homogenität beziehungsweise von kultureller »Reinheit« darstellt: »Die Einführung dieses Raumes stellt unsere Auffassung von der historischen Identität von Kultur als einer homogenisierenden, vereinheitlichenden Kraft, die aus der originären Vergangenheit ihre Authentizität bezieht und in der nationalen Tradition des Volkes am Leben gehalten wurde, sehr zu Recht in Frage. […] Erst wenn wir verstehen, daß sämtliche kulturellen Aussagen und Systeme in diesem widersprüchlichen und ambivalenten Äußerungsraum konstruiert werden, begreifen wir allmählich, weshalb hierarchische Ansprüche auf die inhärente Ursprünglichkeit oder ›Reinheit‹ von Kulturen unhaltbar sind, und zwar schon bevor wir auf empirisch-historische Beispiele zurückgegriffen haben, die ihre Hybridität demonstrieren.«15
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Michel de Certeau, Kunst des Handelns. Aus dem Französischen übersetzt von Ronald Voullié, Berlin 1988, S. 233. Homi K. Bhabha, Die Verortung von Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen 2011 [2000], S. 56–57.
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Folglich ist »Third Space«, wie zuweilen insinuiert wird, kein »Zustandsbegriff«,16 sondern ein Handlungsbegriff, der eine fluide Aktion, ein kontinuierliches dynamisches Aushandeln von Überlappungen, Interaktionen und Translationen beinhaltet. Der »Third Space« ist ein »Knotenpunkt« (Peter Zajac), der in ständiger Bewegung ist,17 oder, um wiederum auf Michel de Certeau zurückzukommen, »ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren.«18 Ein solcher Raum ist gleichermaßen der Ort jenes »kolonialen Diskurses«, den Homi K. Bhabha mit »Mimikry« als der »Repräsentation von Differenz« umschreibt, die »für ›normalisierte‹ Arten des Wissens und disziplinäre Mächte eine immanente Bedrohung darstellt.« Mimikry sei daher »Ähnlichkeit und Bedrohung in einem«.19
II. Die eingangs zitierte konkrete Grenzsituation bei Joseph Roth könnte als ein Paradigma verstanden werden, das in einem übertragenen Sinne auch für die Semiosphäre eines plurikulturellen, mehrsprachigen Empire wie die ehemalige Habsburgermonarchie kennzeichnend ist. Nach dem Verständnis von Lotman ist dieser Vielvölkerstaat eine Semiosphäre, die »real-territoriale Züge hat«, in welcher der Grenze »eine wörtlich zu verstehende räumliche Bedeutung« zukommt.20 Die Grenzen als Abgrenzungen nach außen sind freilich ebenso durchlässig wie die Grenzen, die sich im Innern der Semiosphäre befinden. Schon Hugo von Hofmannsthal hatte diese Bedeutung der Grenze erkannt und gemeint, die Geschichte der Monarchie wäre nur schwer 16 17
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Anil Bhatti/Dorothee Kimmich, Einleitung, in: Anil Bhatti/Dorothee Kimmich (Hg.), Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, Konstanz 2015, S. 7–31, hier S. 18. Vgl. Peter Zajac, Nationalliteratur und mitteleuropäische Literatur als Bestandteile des kulturellen Gedächtnisses, in: Moritz Csáky/Elisabeth Großegger (Hg.), Jenseits von Grenzen. Transnationales, translokales Gedächtnis, Wien 2007, S. 129–142, hier S. 136–140. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 218. Bhabha, Die Verortung von Kultur, S. 126f. Lotman, Der Begriff der Grenze, S. 187.
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zu verstehen, »weil sie eine Geschichte der fließenden Grenzen ist.«21 »Diese alte Universalmonarchie«, schrieb Hofmannsthal später, »kannte nur fließende Grenzen. Sie übte ihr Prestige und gab ihren Kultureinfluß in ein weites Gebiet, dessen Grenzen nie zum Bewußtsein kamen. […] Sich abzugrenzen, sich gegen fremde Eigenart in seine Grenzen zu verschließen, nichts lag der Geistesart, in der zwanzig Generationen auf österreichischem Boden aufgewachsen sind, ferner.«22 Grenzen sind in der Tat »Schwellensituationen«, an denen kontinuierlich »Interferenzialitäten« wahrgenommen werden; sie sind, so Peter Zajac, nicht nur für die Monarchie, sondern für Zentraleuropa insgesamt charakteristisch und von Bedeutung.23 Aus der Perspektive von Kultur als einem Kommunikationsraum stellt sich Habsburg Central Europe als ein ambivalenter kommunikativer Handlungsraum dar: Einerseits als ein übergreifender Kommunikationsraum, als ein Metaraum mit zwar unterschiedlichen, jedoch ähnlichen verbalen und nonverbalen Praktiken; andererseits, vor allem aufgrund verbaler, konkreter sprachlich-kommunikativer Differenzen, als eine Semiosphäre mit einer Vielzahl von unterschiedlichen kulturellen Sub-Kommunikationsräumen. Der Wiener Geograf Friedrich Umlauft hatte bereits 1876 vor allem auf den ersten dieser Aspekte Gewicht gelegt, sollte doch sein statistisches Handbuch der Monarchie das Staatsnarrativ stärken, das die Einheit des heterogenen Reiches betonte. Seine kurze, prägnante Charakteristik des Vielvölkerimperiums, die er seinen empirisch-statistischen Erhebungen gleichsam als Arbeitshypothese vorausschickt, ist auch insofern bemerkenswert, als sie manche kulturwissenschaftlichen Diskursansätze vorwegnimmt, die erst viel später zu Leitfiguren einer kulturtheoretischen Argumentation werden sollten. Was lässt sich den Überlegungen Umlaufts entnehmen? Erstens betont er, dass Heterogenitäten und Differenzen die hervorstechenden Merkmale der Monarchie wären: »Wie unser Vaterland den Uebergang vom gegliederten und gebirgigen Westen des europäischen Continents
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Hugo von Hofmannsthal, Die österreichische Idee [1917], in: Hugo von Hofmannsthal Gesammelte Werke, hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Reden und Aufsätze. Bd. II. 1914–1924, Frankfurt a.M. 1979, S. 454–458, hier S. 456. Hugo von Hofmannsthal, Bemerkungen [1921], in: ebd., S. 471–477, hier S. 474. Vgl. Peter Zajac, Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma, in: Moritz Csáky/Christoph Leitgeb (Hg.), Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn«, Bielefeld 2009, S. 133–147, hier besonders S. 144f.
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zu dessen ungegliedertem und ebenen Osten bildet, so schließt es in Folge seiner bedeutenden Längen- und Breitenausdehnung auch die grellsten Gegensätze in Beziehung auf physische Verhältnisse, Bevölkerung und geistige Cultur in sich, weshalb man die Monarchie auch einen Staat der Contraste zu nennen berechtigt ist.«24 Es ist auffallend, dass Umlaufts Text, im Gegensatz zu manchen anderen Monarchiedarstellungen, keineswegs einseitig auf eine harmonische Kohabitation von Pluralitäten rekurriert, sondern dass er Differenzen als im Staat vorhandene und diesen konstituierende physisch-geografische, soziale, kulturelle und religiöse »Kontraste« benennt. Wenige Jahre später betonte auch Kronprinz Rudolf in der programmatischen Einführung in das enzyklopädische Unternehmen Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild die landschaftlichen, klimatischen und vor allem die ethnografischen »Gegensätze« des Reiches.25 Zweitens erblickt Umlauft in den »Kontrasten« der Völkervielfalt der Monarchie, in der sich »alle Haupt-Völkergruppen Europas« vorfinden, ein Spiegelbild Europas: »Germanen im Westen, Romanen im Süden, Slaven im Norden und Süden; dazu kommen noch die Gesammtheit der Magyaren zwischen vielen Hauptvölkern«.26 Wie lässt sich aber aufgrund einer solchen Vielfalt von Völkern, deren Wortführer zunehmend auf nationale Separationen hinarbeiteten, die Geschichte der Monarchie als eine einheitliche Geschichte darstellen? Nur so, indem man den Geschichten dieser Völker gebührend Rechnung trägt und zugleich darauf achtet, die rhizomhaften Verflechtungen der heterogenen historischen Erinnerungen als eine Gesamtgeschichte der Reiches zu verstehen: »Daher fließt auch«, meint Umlauft, »Oesterreichs Geschichte aus der Deutschlands, Ungarns und Polens zusammen, ähnlich der früheren oder späteren Vereinigung verschiedener Zuflüsse in einem großen Strombette, das dann die aufgenommenen Wassermassen gemeinschaftlich weiterführt.«27 Es ist dies in der Tat eine Perspektive, die heute von Vertretern einer »shared history« oder der »histoire croisée« betont
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Friedrich Umlauft, Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie. Geographisch-statistisches Handbuch mit besonderer Rücksicht auf politische und Cultur-Geschichte für Leser aller Stände, Wien/Pest 1876, S. 1 (Kursivsetzungen M. Cs.). Vgl. Brigitte Hamann (Hg.), Kronprinz Rudolf. »Majestät ich warne Sie…«. Geheime und private Schriften, München/Zürich 1979, S. 327–334, hier S. 328. Umlauft, Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie, S. 2. Ebd.
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wird.28 Sie nimmt auch Aspekte einer neuen, raumorientierten literaturwissenschaftlichen Komparatistik vorweg, die weniger auf die konkreten sprachlich-literarischen Differenzen und deren Vergleich als vielmehr auf die Verflechtungen, auf die knotenhaften Kristallisationspunkte achtet, an welchen sich die unterschiedlichen sprachlichen und literarischen Felder eines Raumes wie auf einer »synoptischen Karte« synchron darstellen.29 Drittens macht Umlauft, fast im Sinne Lotmans, auf die Bedeutung von Grenzsituationen innerhalb des sozial-kulturellen Systems der Monarchie aufmerksam, wo Vermischungen stattfinden, konkret: wo es zu Begegnungen von Angehörigen der sprachlich-kulturell differenten Nationalitäten und daher zu neuen sozial-kulturellen Konfigurationen kommt: »Da jedoch die genannten Völker nicht durchweg scharf abgegrenzte, abgeschlossene Gebiete bewohnen, so ist in solchen Grenzbezirken häufig eine eigenthümlich gemischte Bevölkerung zu finden. Ja die Vermischung der verschiedensten Nationalitäten läßt sich nirgends in Europa in so augenfälliger Weise beobachten, wie eben in unserem Vaterlande.«30 Viertens verweist Umlauft im Vergleich zu einer anscheinend homogenen »nationalen« Situation in anderen europäischen Ländern explizit darauf, dass solche symbiotischen sozialen Verschränkungen, die »das bunteste Völkergemisch« zur Folge hätten, »das Europa aufzuweisen hat«, die »Kontraste« nicht zu eliminieren vermögen, dass vielmehr solche prozesshaften Verschränkungen gerade deshalb mit Krisen und Konflikten einhergehen. Doch »trotz aller äußeren Kämpfe und inneren Krisen« hätte die Monarchie dennoch eine »maßgebende Stellung« innerhalb der europäischen Völkerfamilie zu behaupten vermocht.31 Damit weist Umlauft auf einen Umstand hin, der kulturellen und sozialen Prozessen stets inhärent ist, denn die Aushandlung von Differenzen und Heterogenitäten ist auch eine Aushandlung über die Aneignung eines symbolischen Kapitals, die mit Machtkonstruktionen einhergeht und keineswegs friedlich beziehungsweise harmonisch abläuft. In die Lotman’sche Semiotik übertragen sind dies Prozesse, die »die prinzipielle
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Michael Werner/Bénédicte Zimmermann, Penser l’histoire croisée: entre empirie et réflexivité, in: dies. (Hg.), De la comparaison à l’histoire croisée, Paris 2004, S. 15–49 und etwas verändert dies., Beyond Comparison: Histoire Croisée and the Challenge of Reflexivity, in: History and Theory 45 (2006), S. 30–50. Vgl. Zajac, Nationalliteratur und mitteleuropäische Literatur, S. 130–133. Umlauft, Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie, S. 2 (Kursivsetzungen M. Cs.). Ebd.
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semiotische Vielsprachigkeit […] zum Schauplatz vielfacher, unter anderen Umständen möglicher semiotischer Kollisionen« machen.32 Umlaufts kurze, treffsichere Analyse des komplexen habsburgischen Vielvölkerimperiums, das eine Semiosphäre »mit real-territorialen Zügen« ist (Jurij M. Lotman), die sich als ein Konglomerat von Differenzen, Gegensätzen beziehungsweise von »Kontrasten« darstellt, ließe sich in einer analogen Weise als ein Analyseparadigma auch auf andere, vergleichbare Imperien übertragen, da diese ja gleichfalls von sprachlichen, kulturellen, religiösen und »ethnischen« Heterogenitäten und Differenzen, von »Kontrasten« also, durchwachsen sind. Umlaufts Kennzeichnung der Monarchie ist daher eine Analyse von ganz allgemeiner Relevanz.
III. Angesichts der Komplexität der zentraleuropäischen beziehungsweise der habsburgischen Semiosphäre könnte man zwischen zwei Modi eines kollektiven Gedächtnisses unterscheiden. Einerseits begegnet uns aufgrund der Heterogenität der Region, die sich vor allem in den unterschiedlichen verbalen Kommunikationen äußerte, eine Vielzahl von Gedächtnissen, an denen sich die Bewohner unterschiedlicher »nationeller« Loyalitäten jeweils unterschiedlich ausrichteten und orientierten. Andererseits bildet sich jenseits der sprachlich-kulturellen Differenzen jedoch auch ein übergeordneter, stets aufs Neue auszuhandelnder relationaler Gedächtnisraum, der sich der Tatsache verdankt, dass vor allem die nonverbale Kommunikation sich gleicher oder ähnlicher, allen verständlicher Zeichen und Codes bedient, unabhängig von den differenten konkreten gesprochenen Sprachen. Ein gutes Beispiel dafür bietet die nonverbale musikalische Kommunikation der bäuerlichen Volksmusik. Béla Bartók, der zeit seines Lebens sich mit der Volksliedforschung beschäftigt hatte, konnte feststellen, dass slowakische, rumänische oder ungarische Melodien sich gegenseitig derart beeinflussen, dass »sich eine gewaltige Mannigfaltigkeit und ein riesiger Reichtum an Melodien und Melodietypen« daraus ergibt und in vielen Fällen die authentische Herkunft
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Jurij M. Lotman, Die Symbolik Petersburgs, in: ders., Die Innenwelt des Denkens, S. 269–288, hier S. 276; ders., Kultur und Explosion. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg, hg. und mit einem Nachwort von Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz, Frankfurt a.M. 2010.
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einer Melodie gar nicht mehr festgestellt werden kann. Von einer »race purity in music« könne daher nicht gesprochen werden, ganz im Gegenteil: »Die ›rassische Unreinheit‹, die sich letztlich herausbildet, ist definitiv von Vorteil.«33 Ein solches kollektives kulturelles musikalisches Bewusstsein verdanke sich, wie Bartók weiter ausführt, vor allem der Tatsache, dass »das Gros der Bevölkerung, die Bauern der verschiedenen Nationalitäten […] in größter Eintracht« miteinander lebten.34 Dies hätte, wie Bartók in einem Interview Karel Čapek gegenüber festhielt, konsequenter Weise zur Folge, dass die Musik einer Volksgruppe ohne die Kenntnis der Musik der Nachbarn nicht ausreichend analysiert werden könne.35 Diese Beobachtung stimmt mit der Feststellung von Eric Hobsbawm überein, der ganz allgemein gemeint hatte, dass die »traditionsbewußteste Klasse von allen, die der Bauern […], sich am Nationalismus […] nur schwach interessiert« gezeigt hätte.36 Das heißt, während das Gedächtnis, das sich aus der nonverbalen, hier: der musikalischen Kommunikation speiste, Erinnerungsweisen ermöglichte, die auf das Gemeinsame, auf das Ähnliche der Gesamtregion ausgerichtet waren, begünstigten die differenten Erinnerungen in den unterschiedlichen verbalen Kommunikationen der Völker und Kulturen vor allem das Unterscheidende und das Trennende. In Analogie zur Raumtheorie von Henri Lefebvre, der zwischen drei Raumkonzepten unterschieden hat,37 könnte man auch zwischen drei Arten von Erinnerungen unterscheiden: Einer gelebten Erinnerung (mémoire vécue), einer erzählten beziehungsweise tradierten und als solcher erfahrbaren Erinnerung (mémoire perçue) und einer konzipierten beziehungsweise konstruierten 33
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Béla Bartók, Faji tisztaság a zenében [Rassenreinheit in der Musik], in: Zoltán Kenyeres (Hg.), Esszépanoráma 1900–1944 [Essaypanorama 1900–1944]. Bd. 1, Budapest 1978, S. 935–939, hier S. 938. Englisches Original (»The ›racial impurity‹ finally attained is definitly beneficial«) in: Béla Bartók, On Race Purity in Music [1942], in: Benjamin Suchoff (Hg.), Béla Bartók Essays, London 1976, S. 29–31. Zit. n. einem unveröffentlichten Bartók-Manuskript, in: Tibor Tallián, Béla Bartók. Sein Leben und Werk, Budapest 1988, S. 140. Dobossy László, Két haza között. Esszék, tanulmányok (Zwischen zwei Heimaten. Essays, Abhandlungen), Budapest 1981, S. 331. Eric Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter 1875–1914. Aus dem Englischen von Udo Rennert, Frankfurt a.M./New York 1989, S. 198. Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 4 2001; vgl. auch Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. In Zusammenarbeit mit Hermann Doetsch und Roger Lüdeke, Frankfurt a.M. 2006, S. 330–342.
Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden Kommunikationsraum
Erinnerung (mémoire conçue). Während die gelebte Erinnerung in der Region von der Ambivalenz der auf Ähnlichkeiten beruhenden gemeinsamen und der infolge von Heterogenitäten geteilten Erinnerung geprägt war, stützten sich vor allem die Wortführer nationaler Separationen einseitig auf Elemente der geteilten Erinnerung und auf ein konstruiertes (conçue), nach Paul Ricœur auf ein »manipuliertes« Gedächtnis,38 nicht nur indem vorhandene beziehungsweise tradierte Erinnerungsinhalte, im Verständnis einer mémoire perçue, instrumentalisiert wurden, sondern indem im Sinne einer »invention of tradition« ein kollektives Gedächtnis mit Hilfe einer ideologischen Narration konstruiert beziehungsweise manipuliert und medial implementiert wurde, »zum Zweck des Verlangens oder der Einforderung einer Identität.«39 In diesem Falle handelt es sich um ein präskriptives, gelehrtes und erlerntes Gedächtnis, das heißt um eine vorgeschriebene, verbindliche Erinnerung, die nicht ein ungewolltes, unwillkürliches, sondern ein manipuliertes, implementiertes Vergessen als »Selektionsleistung der Erinnerung« inkludiert,40 das für nationale Mythen konstitutiv ist. Dahinter stand ein subterritorial beziehungsweise »ethnisch« begrenztes Interesse, das unter Ausschluss, das heißt unter einer verfügten Amnesie der »Anderen«, die als »Fremde« deklariert wurden, auf die jeweils separate Bildung einer autochthonen, homogenen Nation ausgerichtet war. Im Prinzip war ein solches »nation building« insbesondere eine Kampfansage an ein vorhandenes übergeordnetes Meta-, oder hier im konkreten Falle an ein Gesamtstaatsgedächtnis, das vor allem auf gleichen oder ähnlichen nonverbalen kommunikativen Praktiken beruhte. Dem gegenüber stützte sich der Nationsbildungsprozess auf die Instrumentalisierung der jeweils konkreten verbalen Kommunikationsweisen, die nun als »Nationalsprachen« zu den eindeutig differenzierenden Merkmalen avancierten. Es sei nur nebenbei bemerkt, dass unter solchen Umständen es durchaus logisch erscheint, wenn nationale Auseinandersetzungen während der letzten Jahrzehnte des habsburgischen Empire meistens in Sprachenstreitigkeiten mündeten, das heißt auf die Ebene der unterschiedlichen, konkurrierenden
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Vgl. dazu u.a. Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek, Heinz Jatho und Markus Sedlaczek, München 2004, S. 130–139, S. 683–696. Ebd., S. 131. Heinz Dieter Kittsteiner, Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens für die Geschichte, in: Gary Smith/Hinderk M. Emrich (Hg.), Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996, S. 133–174, hier S. 133.
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verbalen Kommunikationsformen projiziert wurden. Jaroslav Střitecký, der sich mehrfach mit Zentraleuropa auseinandergesetzt hat, leugnet zwar nicht die verbindenden übergreifenden Momente, betont jedoch vor allem die Differenzen, die hier neben den asymmetrischen Modernisierungsprozessen insbesondere auf der sprachlich-kulturellen und sozial-politischen Ebene hervortraten. Er meint, dass vor allem infolge des Mangels »an gemeinsamen ethnischen, religiösen, real sprachlichen und sogar politischen Identifikatoren […] die Wahnvorstellungen der nationalen Kultursprache, des Nationalstaates und schließlich sogar der Rasse jenseits von allem Erklärbaren an Kraft und Bedeutung gewinnen« konnten: »Deshalb gediehen in dieser Brutstätte paranoide Nationalismen und Rassismen, scheußlich wie überall, niederträchtiger als sonstwo. Sie wurden vom Mechanismus getragen, den Sigmund Freud als Narzissmus kleiner Unterschiede charakterisierte: ihre besonders starke Aggressivität wurzelte in der Angst, sich im Anderen verlieren zu können.«41 Unabhängig von der Erkenntnis, dass die konkreten verbalen Sprachen Symbole der Differenzierung und der nationalen Trennung sind, sollte man einen zweiten Aspekt nicht aus den Augen verlieren: Auch Sprachen sind in einem gewissen Sinne insofern transnational, als sie, wenn sie sich nahe sind, dieselbe Lebenswelt beziehungsweise das Metagedächtnis der Gesamtregion reflektieren und somit einander ähnlich sind. Joseph Roth nennt dies im Unterschied zur »klanglichen« die »geistige Herkunft der Sprache«. Die deutschsprechenden Österreicher würden zu Unrecht als Deutsche apostrophiert, denn die Verortung ihrer Sprache sei eine andere als jene der Deutschen: »Nicht umsonst haben deutschsprechende Menschen jahrhundertelang – geistig, moralisch, physisch – sich mit Orientalen, Slaven, Italienern vermischt. Sie konnten nicht mehr anders als ihre nationale Eigenschaft einer übernationalen, universalen Schickung unterordnen.«42 Was Fritz Mauthner von der Sprache im Allgemeinen behauptet, gilt natürlich auch für die einzelnen konkreten Idiome: Dass die Sprache nichts anderes wäre »als die Gesamtheit der menschlichen Entwicklung, als die ererbte und erworbene Erinnerung des Menschengeistes«, und dass selbst »die Worte reicher an Assoziationen als die Töne der Musik oder als die Farben der
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Jaroslav Střitecký, Zur Kulturtypologie Mitteleuropas, in: Moritz Csáky/Richard Reichensperger (Hg.), Literatur als Text der Kultur, Wien 1999, S. 109–118, hier S. 113f. Joseph Roth, Das alte Österreich, in: Joseph Roth, Berliner Saisonbericht. Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920–39, hg. und mit einem Vorwort von Klaus Westermann, Köln 1984, S. 425–431, hier S. 427.
Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden Kommunikationsraum
Malerei« wären,43 und dass die Sprache folglich »das bequeme Gedächtnis des Menschengeschlechtes« sei, und »das sogenannte Wissen nichts ist als dieses selbe Gedächtnis«.44 »In Wirklichkeit«, meint Mauthner folgerichtig, »ist auch der Begriff der Einzelsprache nur ein Abstraktum für die Fülle von Ähnlichkeiten, von allerdings sehr großen Ähnlichkeiten, welche die Individualsprachen einer Menschengruppe bieten, eines sogenannten Volkes.«45 Während Mauthner aus einer sprachhistorischen Perspektive Ähnlichkeiten zu beschreiben versucht, ist die Herangehensweise Ludwig Wittgensteins, gerade »nicht im Sinne Mauthners«,46 der Sprachkritik beziehungsweise der reinen Sprachanalyse verpflichtet und konzentriert sich, um Ähnlichkeiten zu erklären, auf »Sprachspiele« beziehungsweise auf »Familienähnlichkeiten«.47 Aus einer sprachsemiotischen Perspektive kommt Walter Benjamin zu einem ähnlichen Ergebnis: Wörter unterschiedlicher Sprachen, die dasselbe bezeichnen, sind sich insofern ähnlich, als sie Signifikanten darstellen, die sich auf dasselbe gemeinsam Bezeichnete, auf dasselbe Signifikat beziehen: »Ordnet man Wörter der verschiedenen Sprachen, die ein gleiches bedeuten, um jenes Bedeutete als ihren Mittelpunkt, so wäre zu erforschen, wie sie alle – die miteinander oft nicht die geringste Ähnlichkeit besitzen – ähnlich jenem Bedeuteten in ihrer Mitte sind.«48 Der Unterschied zwischen den konkreten Sprachen erweist sich somit als relativ und ihre Unterschiedlichkeit verliert an Schärfe. Darauf hatte auch schon Bernard Bolzano hingewiesen, als er für eine 43 44
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Fritz Mauthner, Prager Jugendjahre. Erinnerungen, Frankfurt a.M. 1969 [München 1918], S. 206. Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und Psychologie, in: Fritz Mauthner. Das philosophische Werk. Nach den Ausgaben letzter Hand, hg. v. Ludger Lütkehaus. Bd. II/1, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 31. Ebd., S. 6. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe. Bd. 1, Frankfurt a.M. 4 1988, S. 26 (= 4.0031). Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus, u.a. S. 240 (= 7), S. 250 (= 23), S. 278 (= 67). Walter Benjamin, Lehre vom Ähnlichen [1933], in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Bd. II/1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. ²1989, S. 204–210, hier S. 207; vgl. Walter Benjamin, Über das mimetische Vermögen, in: ebd., S. 210–213. Eine ähnliche Argumentation findet sich bei Benjamin bereits zehn Jahre zuvor: vgl. Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers [1923], in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Bd. IV/1, hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt a.M. 1991, S. 9–21, hier S. 12–14.
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»Verähnlichung« der zwei Volksgruppen, der Tschechen und der Deutschen, in Böhmen plädierte: »Das erste ist, daß wir den noch ganz ungebildeten Teil unseres Volkes, die Böhmischen sowohl als die Deutschen, über den Unterschied der Sprache gehörig aufklären. Wir müssen es diesen Unwissenden erklären, woher der Unterschied der Sprache auf unserem Erdenrunde komme: wir müssen ihnen zeigen, daß es ganz willkürlich sei, ob man die Dinge so oder anders bezeichne, daß man aus Mangel der Verabredung bei den verschiedenen Völkern der Erde notwendig auch auf verschiedene Bezeichnungen der Begriffe habe verfallen müssen; daß der auf diese Art entsprungene Unterschied der Sprache der allerunwesentlichste sei, der unter den Menschen wo immer stattfinden mag; daß es daher die größte Torheit sei, einen Menschen schon darum, weil er in einer anderen Sprache sich ausdrückt als wir, für etwas Besseres oder für etwas Schlechteres als uns selbst zu halten […].«49 Trotz eines solchen Plädoyers für die Ähnlichkeit, die zwischen zwei Sprachen besteht, ist sich Bolzano jedoch sehr wohl auch eines doch noch verbleibenden Unterschieds bewusst: »Der Unterschied in der Sprache, mag der Vernünftige ihn auch für noch so unwesentlich erklären, ein Unterschied bleibt er doch immer, und zwar ein solcher, der sich gar nicht bergen läßt. Und bei unwissenden Menschen gilt dieser Unterschied sehr viel.«50 All diese Hinweise mögen ein Beleg dafür sein, dass Ähnlichkeit nicht ein Identisch- beziehungsweise Gleich-Sein (idem esse) bedeutet, das heißt, dass Ähnlichkeit Differenz nicht ausschließt oder gar eliminiert, sondern dass Ähnlichkeit im Grunde genommen das Vorhandensein von Differenz voraussetzt und bestätigt.51
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Bernard Bolzano, Über das Zusammenleben mehrerer Völker in einem Land [Erbauungsrede 7., 8. und 9. So. n. Pfingsten 1816], in: Eduard Winter, Die Sozial- und Ethnoethik Bernard Bolzanos, Wien 1977, S. 80–89, hier S. 87 (Kursivsetzungen im Original). Ebd., S. 82. Vgl. Moritz Csáky, Das Gedächtnis Zentraleuropas. Kulturelle und literarische Projektionen auf eine Region, Wien/Köln/Weimar 2019, u.a. S. 104–109, S. 235–237.
Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden Kommunikationsraum
IV. Diese Einsichten sind mutatis mutandis sowohl auf Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen als auch auf Unterschiede und Differenzen von Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden Kommunikationsraum übertragbar. Es kann vorausgesetzt werden, dass es in Zentraleuropa und im Gesamtstaat der Habsburger so etwas wie ein übergreifendes, gemeinsames Gedächtnis gibt, das sich in Korrespondenz mit dem bereits angedeuteten Metaraum befindet. Im Konkreten ist beispielsweise in der Monarchie, jenseits zunehmender zentrifugaler nationalistischer Tendenzen, die gemeinsame Dynastie und die mythische Verklärung der Person des Herrschers zu so einem Bezugspunkt eines gemeinsamen, verbindenden Gedächtnisses geworden, ohne freilich leugnen zu können, dass ein solcher »habsburgischer Mythos« (Claudio Magris)52 nicht unwidersprochen geblieben ist, vor allem während der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Ein äußeres, allgemein verständliches Symbol für diesen Herrschermythos war das Bild des Kaisers, das in allen öffentlichen und halböffentlichen Räumen anzutreffen war. »Die Zahl der Bilder, die man von ihm sah, war fast ebenso groß wie die Einwohnerzahl seiner Reiche«, bemerkt Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften.53 Das Bild des Kaisers, das als Repräsentation der Macht demonstrativ »hunderttausendmal verstreut im ganzen weiten Reich« im öffentlichen wie auch im privaten Bereich zu finden war, »allgegenwärtig unter seinen Untertanen wie Gott in der Welt«,54 war freilich, wie Roth ironisch hinzufügt, bereits »von zahllosen Fliegenspuren 52 53 54
Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Übersetzt aus dem Italienischen von Madeleine von Pásztory, Salzburg 1966. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Bd. 1, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 83. Joseph Roth, Radetzkymarsch, in: Joseph Roth Werke. Bd. 5: Romane und Erzählungen 1930–1936, hg. v. Fritz Hackert, Köln 1989, S. 203. Das Porträt des Kaisers befand sich bezeichnenderweise auch in jedem Bordell, wie der Regimentsarzt Trotta gegenüber andeutet: »Hast Du nicht jenen dort – er zeigte auf das Bild des Kaisers – aus dem Bordell gerettet?« Ebd., S. 237–238. Auch in Jaroslav Hašeks Schwejk verliert das Bild des Kaisers seine ursprüngliche Funktion: »Brettschneider verstummte und blickte enttäuscht in der leeren Gaststube umher. ›Da ist mal ein Bild vom Kaiser gehangen‹, ließ er sich nach einer Weile von neuem vernehmen. ›Gerade dort, wo jetzt der Spiegel hängt.‹ ›Ja, da ham Sie recht‹, antwortete Herr Palivec. ›Er ist dort gehangen, und die Fliegen ham auf ihn geschissen, so hab ich ihn auf den Boden gegeben. Sie wissen ja, jemand könnt sich irgendeine Bemerkung erlauben, und man könnt davon noch Unannehmlichkeiten haben. Hab ich das nötig?‹«, in: Jaroslav Hašek, Die Abenteuer
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betupft, wie von winzigen Schrotkügelchen durchsiebt und die Augen Franz Joseph des Ersten, sicher auch auf diesem Porträt im selbstverständlichen Porzellanblau gemalt, waren im Schatten des Lampenschirms erloschen.«55 Dieses Porträt, das ein Symbol der Einheit und Sicherheit des heterogenen Reiches darstellen sollte, hatte unvermittelt seine ursprüngliche Funktion verloren: »Und Carl Joseph fror es unter dem blauen Blick seines Kaisers«, heißt es. Und: »Je länger der Leutnant Trotta es betrachtete, desto ferner wurde ihm der Kaiser.«56 Doch ein solches gemeinsames Gedächtnis war auf der anderen Seite im Nachhinein auch durch eine »Vereinfachung« zustande gekommen, wie Danilo Kiš in seinen Mitteleuropäischen Variationen anmerkt. Denn »wenn Musil dieses k. u. k. Gebilde schon während seiner Existenz ein ›Gespenst‹ nannte, wie es ebenso Broch und Karl Kraus und Joseph Roth und Krleža taten, so scheint es mir die Folge einer gewissen Vereinfachung, wollte man heute in diesem weiten und heterogenen Raum mit seinen vielen nationalen Kulturen und Sprachen eine Einheit erblicken: man [übersah] die Unterschiede und betonte die Ähnlichkeiten (so wie umgekehrt die Nationalisten die Ähnlichkeiten übersehen und die Unterschiede betonen).«57 Freilich traten diese Unterschiede ebenfalls nicht nur aufgrund von »Vereinfachungen« zutage, die von nationalen Diskursen favorisiert wurden. Denn diese Diskurse instrumentalisierten ja bloß jene Unterschiede, jene unterschiedlichen Erinnerungsweisen, die in einer von sprachlich-kulturellen Heterogenitäten und Differenzen bestimmten Region von Natur aus vorhanden waren. Vielmehr sollte man eher von einem mehrfachcodierten, mehrdeutigen Gedächtnis sprechen, das mehrere Erinnerungen und Erinnerungsweisen zulässt. Freilich kann die Vielfalt von Erinnerungen letztendlich auch die Ursache von Verunsicherungen, im Extremfall von Krisen und Konflikten werden, zumal dann, wenn eine von diesen Erinnerungsweisen hypertroph als die allein gültige, zum Beispiel für die individuelle und kollektive nationale Identität als die einzig verbindliche erklärt wird und die anderen verdrängt. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Erkenntnis,
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des braven Soldaten Schwejk. Roman. Aus dem Tschechischen von Grete Reiner, Berlin ²2011, S. 11. Roth, Radetzkymarsch, S. 233. Ebd., S. 203. Danilo Kiš, Mitteleuropäische Variationen, in: ders., Homo poeticus. Gespräche und Essays, hg. v. Ilma Rakusa, München 1994, S. 56–78, hier S. 59f.
Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden Kommunikationsraum
dass mehrere und unterschiedliche Erinnerungsweisen vorhanden und zulässig sind, sollte sich von einer differenztheoretischen Hermeneutik leiten lassen. Diese bewahrt nämlich davor, sich nur mit einer Erinnerungsweise zu beschäftigen, zum Beispiel mit jener, die national motiviert und medial konstruiert beziehungsweise implementiert wurde. Das heißt, es gilt auf die Synchronizität unterschiedlicher Erinnerungen beziehungsweise Erinnerungspuren zu achten, auch wenn diese nicht sofort erkennbar sein mögen und womöglich erst aus jenen »zones de silence« erhoben werden müssen, in die sie ein dominanter historischer Diskurs verdrängt hat.58 Und es gilt unter einem solchen Aspekt gleichermaßen sich vor einem methodologischen Nationalismus zu hüten, der darin besteht, dass man sich einerseits einer Semantik bedient, die dem Vokabular der nationalen Ideologie entlehnt ist und daher, ohne sich dessen bewusst zu sein, das nationale Narrativ auf die Ebene der beobachtenden Beschreibung versetzt und unreflektiert fortschreibt. Und dass man andererseits Vorstellungen einer gesetzmäßigen, linearen Fortschrittsteleologie, auf die sich die nationalen Narrative stützen, unhinterfragt bestehen lässt. Ludwig Wittgenstein paraphrasierend könnte man über eine solche unwillentliche nationalideologische Sicht sagen: »Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unserer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen.«59 Erinnerungen sind konstitutiv für ein reflektiertes Bewusstsein, die erinnerten Inhalte erweisen sich als Anhalts- und Orientierungspunkte, die für Prozesse der jeweiligen individuellen und kollektiven sinnstiftenden Identitätsbildungen von Bedeutung sind. An diese identitätsbildende Funktion von Erinnerung dachte wohl auch Hugo von Hofmannsthal, als er sich kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit dem Plan eines illustrierten Sammelbandes beschäftigte, der unter dem Titel Ehrenstätten Österreichs erscheinen und topografische und metaphorische Gedächtnisorte, an denen sich die Erinnerungen der Bewohner der Monarchie ausrichten konnten, vorstellen sollte. Da das habsburgische Empire erst im Laufe von Jahrhunderten zusammengewachsen war, wären daher auch
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Vgl. dazu vor allem Michel de Certeau, Das Machen von Geschichte, in: ders., Das Schreiben der Geschichte. Aus dem Französischen von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Mit einem Nachwort von Roger Chartier, Frankfurt a.M./New York 1991, S. 31–70. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus, S. 296 (= 103).
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»solche Erinnerungen wichtiger und zur Phantasie sprechender Art, die in die Zeit zurückweisen, welche vor der Vereinigung des betreffenden Landes mit Oesterreich liegt (so etwa die böhmischen Erinnerungen an die Zeit der Přemysliden, an Prokop und Žižka) […] nicht auszuschließen; hat doch jedes seiner Länder in die untrennbare Vereinigung mit dem Gesamtreich seine Individualität und den Schatz seiner eigenen Vorzeit mitgebracht.«60 Damit deutet Hofmannsthal an, dass es innerhalb der Monarchie durchaus unterschiedliche Erinnerungen geben kann, dass diese jedoch, nach den Ländervereinigungen, in das Reservoir eines gemeinsamen Gedächtnisses eingegangen wären. Freilich sollte erst der bekannte tschechische Regisseur und Schriftsteller Jaroslav Kvapil, den er durch die Vermittlung von Hermann Bahr zur Mitarbeit eingeladen hatte, Hofmannsthal darauf aufmerksam machen, dass Erinnerungen nicht nur unterschiedlich, sondern auch widersprüchlich sein können und sich gegenseitig ausschließen, zumal dann, wenn sie zu Bausteinen unterschiedlicher Nationsbildungsprozesse instrumentalisiert werden. »Es sind da eben grundsätzliche Unterschiede«, bemerkte Jaroslav Kvapil: »Was für uns Böhmen in unserer Geschichte ruhmvoll und teuer erscheint, passt manchmal sehr wenig in einen gut österreichischen Rahmen, und Österreich möchte sich wieder mit manchen Sachen aus unserer Geschichte rühmen, die uns bedauernswert und plagvoll erscheinen. Am Prager altstädter Ringplatz steht eine Siegessäule, von Österreich als ein Wahrzeichen des Sieges am Weissen Berge (1620) erbaut: an diesem ehrwürdigen Platze schlachtete Österreich (1621) die Blüten unserer Nation und unterdrückte unsere politische Selbständigkeit Hand in Hand mit der katholischen Kirche: das ist wahrlich eine ›Ehrenstätte Österreichs‹ – aber für uns das Qualvollste, was wir in unserer Vergangenheit haben. […] Wir wollen uns nicht täuschen: Österreichs Erfolge waren sehr selten unser Glück, und unser Ruhm hat selten Österreich erfreut.«61
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Aufruf von Hofmannsthal, Ferdinand Graf Colloredo und Hanns Schlitter zur Mitarbeit am Projekt vom 11. November 1914, in: Hugo und Gerty von Hofmannsthal – Hermann Bahr. Briefwechsel 1891–1934. Bd. 1, hg. und kommentiert von Elsbeth Dangel-Palloquin, Göttingen 2013, S. 325–327, hier S. 326. Brief Jaroslav Kvapils an Hermann Bahr vom 16.11.1914, zit. n. Kurt Ifkovits, »Nur noch Deutsche!« oder »slawisches West-Reich«. Hermann Bahrs Kriegspublizistik in den Jahren 1914/15, in: Johannes Feichtinger/Peter Stachel (Hg.), Das Gewebe der Kultur.
Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden Kommunikationsraum
Nicht zuletzt angesichts solcher Einwände, die sich zweifelsohne einer »Fiktion« verdanken, die jeder Historie innewohnt, hier einer national gefärbten tschechischen historischen »Fiktion«, war das Unternehmen Hofmannsthals, das der »Fiktion« eines österreichischen Gesamtstaatsbewusstseins dienen sollte, gescheitert, die Ehrenstätten Österreichs sind nie erschienen.62 Die positive Wahrnehmung, das heißt die Akzeptanz von widersprüchlichen, konkurrierenden und sich anscheinend ausschließenden Erinnerungsinhalten und Erinnerungsweisen, entspricht in der Tat einer Position, die, ins Positive gewendet, Chantal Mouffe für einen »agonistischen« politischen Diskurs einfordert, bei dem es gilt, das fremde »Andere« nicht im Sinne von Carl Schmitt zu vernichten,63 sondern mit ihm in einen agonistischen, das heißt in einen kämpferisch-wetteifernden Streitdialog einzutreten: »Liberale, demokratische Politik setzt voraus, die ›Anderen‹ nicht als Feinde wahrzunehmen, die es zu vernichten gilt, sondern als Kontrahenten, […] deren Recht, für diese Ideen einzutreten, aber nicht infrage gestellt werden darf. Anders ausgedrückt: Wichtig ist, dass Konflikte nicht die Form eines ›Antagonismus‹ annehmen (eines Kampfes zwischen Feinden), sondern die eines ›Agonismus‹ (einer Auseinandersetzung zwischen Kontrahenten).«64
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Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck/Wien/München 2001, S. 209–231, hier S. 231. Zum Problem von Fiktion in der »objektiven« Geschichtsschreibung (Historie) hat bereits Friedrich Nietzsche ausführlich und kritisch Stellung genommen; vgl. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Unzeitgemässe Betrachtungen II, in: Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli und Mario Montinari, München/Berlin/New York 1980, S. 243–334, hier v.a. S. 285–295 (= 6); vgl. dazu Hans Robert Jauß, Zur Genese der Scheidung von Fiktion und Realität, in: ders., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1984, S. 294–303; Paul Ricœur, Die Überkreuzung von Historie und Fiktion, in: ders., Zeit und Erzählung. Bd. III: Die erzählte Zeit, München 1991, S. 294–311; vgl. dazu auch exemplarisch Hayden White, Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, in: ders., Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Aus dem Amerikanischen von Margit Smuda, Frankfurt a.M. 1990, S. 40–77. Carl Schmitt, Über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind (1938), in: Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939, Berlin 4 2014, S. 278–285, hier bes. S. 279. Chantal Mouffe, Agonistik. Die Welt politisch denken. Aus dem Englischen von Richard Barth, Frankfurt a.M. 2014, S. 28.
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Die Aufforderung, mit unterschiedlichen, widersprüchlichen Erinnerungen »agonistisch« umzugehen, betrifft in erster Linie die Situation einer von Heterogenitäten und Differenzen bestimmten Lebenswelt. Eine solche Position bezieht sich, aus dem Blickwinkel einer Rezeptionshermeneutik, freilich nicht nur auf ein heterogenes kollektives Gedächtnis, sondern vor allem auf die unterschiedlichen Erinnerungsweisen, die sich diesem Gedächtnis verdanken. Denn aus einer rezeptionsästhetischen (Hans Robert Jauß) beziehungsweise wirkungsästhetischen Perspektive (Wolfang Iser) deuten und bewerten die »produktiven Leser« eines solchen »Gedächtnistextes«, die erinnernden Rezipienten solcher Gedächtnisvorgaben, diese Vorgaben unterschiedlich, zum Beispiel entsprechend ihrer unterschiedlichen lebensweltlichen Situiertheit oder des unterschiedlichen kulturellen Kommunikationsraums, dem sie angehören, das heißt der »Interpretationsgemeinschaft«, in der sie sich befinden.65 Wie zwischen einem geschriebenen Text und seinen Rezipienten eine kreative Interaktion stattfindet und der Leser »der erweiterte Autor« (Novalis) ist,66 sind auch Gedächtnisinhalte nicht an einem »Gedächtnisort« gespeichert, um durch den Akt der Erinnerung einfach nur abgerufen zu werden, sondern jene, die solche Inhalte aktiv erinnern, die Rezipienten, die »Leser« eines solchen an einem »Ort« vorhandenen Gedächtnistextes sind es, die seinen Inhalten durch den Akt eines produktiven Erinnerns erst unterschiedliche Bedeutungen und Sinnzusammenhänge einschreiben. Die Rezipienten werden so gleichsam zu aktiven Gestaltern und Konstrukteuren eines fluiden, veränderlichen Gedächtnisses beziehungsweise eines Gedächtnisortes. Aus einer postkolonialen Perspektive ist vor allem auch das individuelle Gedächtnis aufgrund seiner Diachronizität davon betroffen, zum Beispiel ganz konkret im Kontext eines zum Scheitern verurteilten jüdischen Assimilationsprozesses. Franz Kafka hat zu dieser widersprüchlich-diachronen Position nicht nur in einem Brief an Max Brod Stellung bezogen, in dem er sich ausführlich über das zwiespältige beziehungsweise zum Scheitern verurteilte 65 66
Vgl. dazu u.a. Paul Ricœur, Phänomenologie und Ästhetik der Lektüre, in: ders., Zeit und Erzählung. Bd. III, S. 270–293. »Der wahre Leser muß der erweiterte Autor seyn. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niedern Instanz schon vorgearbeitet erhält. […] und wenn der Leser das Buch nach seiner Idee bearbeiten würde, so würde ein 2ter Leser noch mehr läutern […].« Novalis, Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub, in: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, hg. v. Hans-Joachim Mähl, München/ Wien 1978, S. 227–285, hier S. 282.
Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden Kommunikationsraum
Ergebnis der Assimilation (Mimikry) Rechenschaft zu geben versuchte, um daraus zumindest einen positiven Schluss zu ziehen, nämlich jenen, dass die »Verzweiflung« darüber, keinen neuen Boden gefunden zu haben, zur kreativen »Inspiration« des assimilierten jüdischen Schriftstellers beigetragen hätte.67 Auch in seinen Tagebucheintragungen nimmt Kafka immer wieder Stellung zu seiner derart existentiell verunsicherten und konfliktreichen Mehrfachidentität, die das Ergebnis beziehungsweise die konsequente Folge konkurrierender Erinnerungen wäre, die durch assimilatorische Bemühungen nicht in Einklang gebracht werden könnten: »Die jüdische Mutter ist keine ›Mutter‹, die Mutterbezeichnung macht sie ein wenig komisch (nicht sich selbst, weil wir in Deutschland sind); wir geben einer jüdischen Frau den Namen deutsche Mutter, vergessen aber den Widerspruch, der desto schwerer sich ins Gefühl einsenkt, ›Mutter‹ ist für den Juden besonders deutsch, es enthält unbewußt neben dem christlichen Glanz auch christliche Kälte, die mit Mutter benannte jüdische Frau wird daher nicht nur komisch sondern auch fremd. Mama wäre ein besserer Name, wenn man nur hinter ihm nicht ›Mutter‹ sich vorstellte. Ich glaube, daß nur noch Erinnerungen an das Ghetto die jüdische Familie erhalten, denn auch das Wort Vater meint bei weitem den jüdischen Vater nicht.«68 Diese postkoloniale Situation konnte sich in jenem »Unsichersein« manifestieren, das Rainer Maria Rilke auch Franz Werfel, seinem und Kafkas Prager Zeitgenossen und Schriftstellerkollegen, attestiert und zugleich zum Vorwurf gemacht hatte: »Auf der anderen Seite hat, in der Tat, sein Judentum eine Art Mitschuld, daß dieses frühzeitig erfahrene Unsichersein zu einer Konstanten werden konnte, denn das in einem prager Milieu Geschaute und Eingesehene war niemals ganz identisch mit den Wirklichkeiten seines Blutes: daher dieses Mitmachenkönnen des nicht immer Eigenen und Eigentlichen, diese Fingierung und Tingierung des nur eben Wahrgenommenen oder Erratenen als eines Erlebten und, bis ins Erlebnis hinein, dieses Zuviel an Beteiligung und Beteue-
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Franz Kafka Briefe 1902–1924. Franz Kafka Gesammelte Werke, hg. v. Max Brod, Frankfurt a.M. 1966, S. 337f. (Brief an Max Brod, Juni 1921). Franz Kafka, Tagebücher. Bd. 1: 1909–1912, in der Fassung der Handschrift. Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 9. Nach der Kritischen Ausgabe, hg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a.M. 1996, S. 82 (Eintragung 24. Oktober 1911).
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rung, dieser acte de présence, wo ein bloßes Drinnensein unendlich gültiger wäre.«69 Aus all diesen Erfahrungen und Erkenntnissen folgt, dass Gedächtnis und Erinnerung von einer die Gesellschaft und den einzelnen Menschen betreffenden »existentialen« Bedeutung sind. Wann, wo, was und wie erinnert wird, hängt vom jeweiligen Umfeld beziehungsweise vom konkreten wissenssoziologischen, lebensweltlichen Kontext ab. Dieses Umfeld, dieser Kontext, kann nicht nur vielfältig sein, er verändert sich auch jeweils und ist einem kontinuierlichen Wandel unterworfen. Dementsprechend erweitern, verändern oder verschieben sich auch die Inhalte, die erinnert werden, das heißt, was und wie erinnert wird, und mit der Veränderung der Inhalte ändert sich auch das Reservoir, in dem die Inhalte sich in einer ständigen fluiden Interdependenz vorfinden: Es verändert sich also auch das Gedächtnis, das sich gerade dadurch nicht einfach als ein »semantischer Container« erweist. Diese Einsicht entspricht nicht so sehr einem primitiven Relativismus als einem Perspektivismus, für den nicht erst Nietzsche eingetreten war, der die Wahrheit als ein »bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen« bezeichnet hat,70 sondern den schon die griechischen Sophisten vertreten hatten. So meinte zum Beispiel Protagoras, »die Sinnesempfindungen würden umgewandelt und veränderten sich je nach den Lebensaltern und den sonstigen Verfassungen der menschlichen Körper«, das heißt: die Menschen würden »bald das eine, bald das andere« erfassen, »entsprechend ihren eigenen verschiedenen Zuständen.«71 Auch empirisch gesicherte geschichtliche Ereignisse beziehungsweise Traditionen werden immer wieder aufs Neue re-konstruiert und interpretiert, aufgrund konkreter Erfahrungen neu bewertet und für die jeweilige Gegenwart sinnstiftend nutzbar gemacht. »Vergangenes historisch zu artikulieren«, 69
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Brief Rainer Maria Rilkes an Hans Reinhart, 26.7.1923, in: Rainer Maria Rilke. Briefe in zwei Bänden. Zweiter Band 1919 bis 1926, hg. v. Horst Nalewski, Frankfurt a.M. 1991, S. 308–312, hier S. 310f. Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne 1, in: Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli und Mario Montinari, München/Berlin/New York 1980, S. 874–890, hier S. 880; vgl. Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2000, S. 299–301 (Perspektivismus). Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte. Übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle, Stuttgart 1968, S. 330–331; zum Perspektivismus vgl. Csáky, Das Gedächtnis Zentraleuropas, S. 323–330.
Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden Kommunikationsraum
meint Walter Benjamin, »heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.«72 Gedächtnis und Erinnerung sind folglich keine statischen Größen, sie beschreiben nicht einen Zustand, sie bilden vielmehr einen dynamischen Prozess. Dies gilt ganz allgemein, es gilt aber im Konkreten erst recht für einen von Heterogenitäten und Differenzen konstituierten, hybriden Kommunikationsraum wie Zentraleuropa, in welchem entsprechend der Differenziertheit der kulturellen Semiosphäre, differente, konkurrierende und zuweilen widersprüchliche Erinnerungen angeboten werden, in welchem aber auch gemeinsame Inhalte, die an den Schwellen, in Grenzbereichen ausgehandelt werden, zur Verfügung stehen. Dabei gilt es, nicht nur die widersprüchlichen Erinnerungen anzuerkennen, sondern, was bereits Friedrich Nietzsche eingemahnt hatte, weil »die Kenntniss der Vergangenheit zu allen Zeiten nur im Dienste der Zukunft und Gegenwart begehrt ist«, sich zugleich auch den traumatischen Erinnerungen zu stellen: »Denn da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurtheilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Thatsache nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen.«73 Diese Mahnung, mit der Akzeptanz der traumatischen Erinnerungen sich der Verantwortung für die Verbrechen der Vergangenheit zu stellen, kann unter anderem auch auf die »Abstiegserfahrungen« des 20. Jahrhunderts bezogen werden.74 Und unter diesen »Abstiegserfahrungen« befindet sich vor allem jener traumatische Gedächtnisort, der sich in der Folge von einem lokal-regionalen zu einem globalkosmopolitischen erweitert hat: der Holocaust.75 Er sollte, »nach Auschwitz«, auch bei der Reflexion über die Mehrfachcodierung von Gedächtnis und Erinnerung in einem hybriden zentraleuropäischen Kommunikationsraum, als
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Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Bd. I/2, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 3 1990, S. 691–704, hier S. 695. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, S. 271, S. 270. Jacques Derrida/Jürgen Habermas, Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.5.2003, S. 33f. Vgl. dazu v.a. Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust (Edition Zweite Moderne, hg. v. Ulrich Beck), Frankfurt a.M. 2001.
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ein realer, der Region inhärenter traumatischer kultureller Code76 nicht außer Acht gelassen, sondern immer wieder mitbedacht werden.
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Vgl. Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, in: dies., Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München ²2000, S. 13–36.
»Volksordnung« gegen die drohende »Entdeutschung«? Historiografische Konstruktionen von »Ordnung« und »Differenz« in der Zwischenkriegszeit Alexander Pinwinkler
Der vorliegende Artikel analysiert exemplarisch wissenschaftliche Konstruktionen von »Ordnung« und »Differenz«. Ich konzentriere mich dabei im Folgenden auf historisch argumentierende Bevölkerungs- und Migrationsforschungen in Österreich und Deutschland der 1920er bis 1940er Jahre.1 Als grundlegend für den Aufstieg dieser Forschungen gelten völkische Paradigmen wie das Theorem vom deutschen »Volks- und Kulturboden« sowie die Konstrukte des »Landvolks« von Gunther Ipsen und des »eigenständigen Volks« von Max Hildebert Boehm, die in der Zwischenkriegszeit entwickelt wurden.2 Diese wissenschaftlichen Konstrukte einte nicht nur das Bewusstsein einer »Gefährdung« des deutschen »Volkskörpers«, sondern auch der Gedanke, dass dem angeblich drohenden Niedergang des deutschen »Volks« völkische und organizistische Ordnungskonzepte entgegengesetzt werden sollten. Sowohl in der Weimarer Republik wie in der österreichischen Ersten Republik förderten die genannten Metaphern und wissenschaftlich-politi-
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Die nachstehenden Ausführungen beruhen auf meiner Monografie Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014. Vgl. Michael Fahlbusch, »Wo der Deutsche … ist, ist Deutschland!« Die Stiftung für Deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920–1933, Bochum 1994; David Hamann, Gunther Ipsen in Leipzig. Die wissenschaftliche Biografie eines »Deutschen Soziologen« 1919–1933 (Zivilisationen und Geschichte/Civilizations and History/ Civilisations et Histoire 19), Frankfurt a.M. 2013; Ulrich Prehn, Max Hildebert Boehm. Radikales Ordnungsdenken vom Ersten Weltkrieg bis in die Bundesrepublik (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte), Göttingen 2013.
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schen Leitvorstellungen maßgeblich den auch von Historikern vertretenen Gedanken einer Revision der »blutenden Grenzen«. Die vielfach heftig kritisierten Bestimmungen des Versailler Vertrags lösten nach 1919 eine Welle von ethnohistorischen und bevölkerungsgeschichtlichen Forschungen und Publikationen aus. Für die österreichische Historiografie bildeten der Zerfall der Habsburgermonarchie, die 1919 im Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye vorgeschriebenen Gebietsabtretungen und das Verbot des »Anschlusses« an Deutschland den wesentlichen Hintergrund für die seit den 1920er Jahren intensivierte historiografische Auseinandersetzung mit völkischen Themen und Wertvorstellungen. Diese erfolgte besonders an den historischen Instituten der Universitäten Graz und Innsbruck, aber auch an verschiedenen Stadt- und Landesarchiven. Kärnten, Steiermark und Tirol hatten 1918/19 Gebiete an Italien und Jugoslawien verloren, so dass sich gerade in diesen Bundesländern in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft starke revisionistische Kräfte bildeten.3 Der Aufstieg einer von »Abwehrkampf« und »Heimatforschung« geprägten Forschungsrichtung hing mit den vielfach als traumatisch erfahrenen politischen Ereignissen nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie zusammen. In Österreich überwog eine regionale Ausrichtung derartiger Forschungen. Ein auf »Neu-Österreich« sich beziehendes republikanisches Staatsbewusstsein entwickelte sich hingegen seit den 1920er Jahren nur schwach und verblieb bis 1945 im Schatten der einflussreichen »gesamtdeutschen Geschichtsauffassung«, als deren Hauptvertreter der Wiener Historiker Heinrich Srbik galt.4 Nicht nur in Österreich, sondern auch in der Weimarer Republik vollzogen maßgebliche Teile der Geschichtswissenschaft im Verlauf der 1920er
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Vgl. u.a. Michael Wedekind, Ethnisch-soziale Neuordnungskonzepte im besetzten Europa (1939–1945) – Forschungsperspektiven zu Fallstudien zum Alpen-Adria-Raum, in: Rainer Mackensen/Jürgen Reulecke (Hg.), Das Konstrukt »Bevölkerung« vor, im und nach dem »Dritten Reich«, Wiesbaden 2005, S. 371–385. Vgl. Eduard Stepan (Hg.), Neu-Österreich. Das Werk des Friedens von St. Germain, Amsterdam/Wien 1923. Schon im Vorwort dieses Sammelwerks wies der Herausgeber programmatisch darauf hin, dass »Neu-Österreich« ein Staat sei, »der kein Ergebnis des Volkswillens und Selbstbestimmungsrechtes« sei; zu Srbik vgl. Martina Pesditschek, Heinrich (Ritter von) Srbik (1878–1951). »Meine Liebe gehört bis zu meinem Tod meiner Familie, dem deutschen Volk, meiner österreichischen Heimat und meinen Schülern«, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 263–328.
»Volksordnung« gegen die drohende »Entdeutschung«?
Jahre die Wende zur deutschen »Volksgeschichte«. Deutschnational und völkisch orientierte Historiker schufen damit entscheidende Grundlagen für die nach 1933 neuerlich radikalisierte transdisziplinäre »Volksforschung«. Diese verfügte in den Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (VFG) über eine dezentral organisierte Forschungsplattform, die sich konkret in den Planungen für die »Neuordnung« Europas im »Dritten Reich« engagierte.5 Die Ergebnisse der von den VFG durchgeführten Forschungen zur – von Willi Oberkrome so bezeichneten – »Strukturgeschichte des Volkskörpers« wurden seit 1933 im dreibändigen Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums veröffentlicht.6 Statistiken und Volkstumskarten, welche in den VFG organisierte Wissenschaftler entworfen hatten, verwerteten im Zweiten Weltkrieg die Umsiedlungskommandos der Volksdeutschen Mittelstelle (VOMI), aber auch die NS-Kriegsführung und Besatzungspolitik als Informationsquellen über die ethnisch-sprachliche Verteilung der Bevölkerung in den eroberten Gebieten Ost- und Südosteuropas.7
Sozio-kulturelle Differenz und »Umvolkung« als historiografische Konstrukte Deutschsprachige Historiker interessierten sich allerdings nicht erst seit der Zwischenkriegszeit, sondern spätestens bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für zahlenmäßige Relationen und Verschiebungen zwischen Gruppen, die als ethnisch voneinander distinkt betrachtet wurden. Sie neigten
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Vgl. zu den Kooperationspraktiken von Akteuren aus Wissenschaft, Verwaltung und Politik, die im Bereich der deutschen Historiografie vor allem die P[ublikations]Stellen der VFG und die mit diesen vernetzten Stellen als institutionelle Brennpunkte vorantrieben, eingehend Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der »Volkstumskampf« im Osten, Göttingen 2000 (2 2002), S. 319–359. Willi Oberkrome, Geschichte, Volk und Theorie. Das »Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums«, in: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 104–127, hier S. 111. Vgl. hierzu auch Petra Svatek, Geisteswissenschaftliche Südostforschung in Wien während des Nationalsozialismus. Interdisziplinarität und politischer Konnex, in: Ingrid Böhler/Eva Pfanzelter/Thomas Spielbüchler/Rolf Steininger (Hg.), 7. Österreichischer Zeitgeschichtetag 2008, Innsbruck u.a. 2010, S. 396–402.
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dazu, politische und soziale Konflikte, wie sie damals besonders in den preußischen Ostprovinzen und in der Habsburgermonarchie erkennbar waren, in ethnisierter Form darzustellen. Die Geschichtswissenschaftler erzielten allerdings keine Einigkeit darüber, entlang welcher sozialer Kategorien Grenzen zwischen vermeintlich ethnisch determinierten Gruppen schlüssig gezogen werden könnten. Eine ihrer fortgesetzt anvisierten Zielsetzungen bildete dennoch der Versuch, derartige Differenzen normativ festzulegen und sie auch historisch zu legitimieren. Sie verknüpften quantifizierende Zuschreibungen von ethnischen Gruppen in vielfältiger, mehrfach abgestufter Weise mit deren qualifizierender Wertung: »Abstammung«, »Sprache«, »Siedlungsweise«, aber auch »Begabung«, »Leistung«, »Rasse« und »Blut« traten dabei als Zuschreibungskategorien sozialer Differenz in jeweils unterschiedlichen begrifflichen Kombinationen und semantischen Gewichtungen auf.8 Bereits die von (Friedrich) Julius Neumann seit den 1880er Jahren herausgegebene erste bevölkerungsgeschichtliche Buchreihe in Deutschland lieferte für diese Annahmen Beispiele.9 »Bevölkerungsgeschichte« war hier verwoben mit der Darstellung von »Germanisierung« und »Polonisierung« als konkurrierende Tendenzen in den als »deutsch« betrachteten Ostgebieten.10 In seiner Monografie »Volk und Nation«, die parallel zu der Buchreihe erschien, ging Neumann davon aus, dass der Germanisierungsprozess dort seit den 1860er Jahren ins Stocken geraten sei. In den preußischen Ostprovinzen drohe daher eine Repolonisierung. In diesem Zusammenhang gewann auch die Frage an Gewicht, ob die preußischen Juden als Polen oder als Deutsche zu zählen seien oder ob sie vielmehr eine eigene Nationalität darstellten. Diese Frage sei von den führenden Staatswissenschaftlern noch nicht ausreichend geklärt worden. Neumann stellte jedoch fest, »dass angesehene deutsche Statistiker
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Vgl. hierzu ausführlich Alexander Pinwinkler, »Grenze« als soziales Konzept: Historisch-demographische Konstrukte des »Eigenen« und des »Fremden«, in: Comparativ 13 (2003), S. 31–48 (Themenheft Volks-[An]Ordnung. Einschließen, ausschließen, einteilen, aufteilen!). Vgl. Julius Neumann (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Bevölkerung in Deutschland seit dem Anfange dieses Jahrhunderts. 7 Bde., Tübingen 1883–1903. Vgl. u.a. Wilhelm Vallentin, Westpreußen seit den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Entwickelung des allgemeinen Wohlstandes dieser Provinz und ihrer einzelnen Teile (Beiträge zur Geschichte der Bevölkerung in Deutschland seit dem Anfange dieses Jahrhunderts 4), Tübingen 1893.
»Volksordnung« gegen die drohende »Entdeutschung«?
auch die Juden Posens nicht als Deutsche, sondern eher als besondere Nationalität neben Slaven und Deutschen angesehen haben […].«11 In teils sogar noch schärfer akzentuierter Ausprägung beeinflussten Praktiken deutschnationaler »Schutzarbeit« historiografische »Grenzlandforschungen« in der Habsburgermonarchie und in der österreichischen Ersten Republik.12 Gerade in der »Siedlungs-« und »Bevölkerungsgeschichte« lassen sich in Österreich, vor allem hinsichtlich der Erörterung der Geschichte ethnischer Minderheiten, teils deutliche Kontinuitäten in der fortwährend unhinterfragten Verwendung von Begriffen wie »Entdeutschung« und »Umvolkung« beobachten.13 Konstruktionen des »Eigenen« und des »Fremden« und ähnliche argumentative Muster beruhten durchwegs auf antisemitischen und antislawischen Denkrichtungen. Diese reichten im Kern speziell in der Habsburgermonarchie weit in das 19. Jahrhundert zurück. Spätestens im Zuge kollektiver Front- und Besatzungserfahrungen des Ersten Weltkriegs gewannen derartige Denkmuster und Konstrukte neuerlich an Bedeutung. Die Okkupation weiter Teile des russischen Zarenreiches durch die Truppen der verbündeten Mächte Deutschland und Österreich-Ungarn hatte bereits damals völkisch eingestellte Politiker und Gelehrte dazu angeregt, bevölkerungspolitische Konzepte zu entwickeln. In der deutschen Reichsleitung und in Gelehrtenkreisen zirkulierten während des Ersten Weltkriegs zahlreiche Denkschriften, die durch Umsiedlungsmaßnahmen eine Bereinigung der »polnischen Frage« zu erzielen hofften.14 11 12
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Julius Neumann, Volk und Nation, Leipzig 1888, S. X. Vgl. Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 1), Göttingen 1993, hier bes. S. 41–55 sowie die Beiträge im Band von Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien/Köln/Weimar 2008. Vgl. beispielsweise Othmar Pickl, Glaubenskampf und Türkenkriege in ihren Auswirkungen auf das Siedlungswesen und die Bevölkerungsstruktur der österreichischen Länder, in: Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte Österreichs, hg. v. Institut für Österreichkunde, Wien 1974, S. 97–113, hier S. 109 in Bezug auf die »Eindeutschung« und »Umvolkung« der Kroaten in Niederösterreich im 18. Jahrhundert. So legte z.B. Erich Ludendorff, der Erste Generalquartiermeister der deutschen Armee, am 5. Juli 1918 dem deutschen Reichskanzler eine Denkschrift vor, in der er vorschlug, in Polen eine deutschbesiedelte »Volksbrücke« zu schaffen. Ludendorff erhoffte sich dadurch, »Restpolen« vom Deutschen Reich isolieren zu können, vgl. Wolf-
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In der Habsburgermonarchie war Raimund Friedrich Kaindl einer von jenen Historikern, die damals die Chance sahen, die komplexe ethnische und sprachliche Durchmischung weiter Teile Ostmittel- und Osteuropas zugunsten einer neuen, deutsch bestimmten hegemonialen Ordnung aufzulösen. Seine dreibändige Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern (1907/11) stellte den ersten Versuch dar, die deutsche »Siedlung« in Südosteuropa historiografisch umfassend darzustellen.15 Im Mittelpunkt seines Interesses stand allerdings nicht »Bevölkerung« als statistisches Konstrukt, sondern »Volk« als Ausdruck ethnografisch anscheinend fassbarer Wesenheiten.16 Erwähnt sei ferner auch seine Schrift Deutsche Siedlung im Osten – eine Denkschrift über unsere künftige Wirtschaftspolitik, die im Jahr 1915 im Druck erschien. Kaindl ließ in dieser Veröffentlichung seinen Phantasien einer bevölkerungspolitischen Nutzbarmachung demografischen »Überschusses« freien Lauf: Der »Überschuß deutscher Volkskraft«, der seit der Entdeckung Amerikas nach Übersee abgeflossen und dem deutschen »Volkstum« verloren gegangen sei, könnte nunmehr endlich in den Raum zwischen Westkarpaten und Donaumündung gelenkt werden. Es handelte sich dabei um eine Vision der ethnischen Entmischung, die Kaindl bereits damals mit der Idee eines deutschen Siedlerwalls verknüpfte, der an den Grenzen der beiden verbündeten Monarchien errichtet werden sollte. Kaindl trat ferner dafür ein, einerseits politisch »unzuverlässige Elemente« umzusiedeln und andererseits die aus Südrussland abwandernden Deutschen »in unsere Grenzgebiete« zu verpflanzen.17 Einer Verwirklichung dieser Pläne stand allerdings sowohl die abwartende Strategie der Zivilbehörden als auch
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gang J. Mommsen, Anfänge des ethnic cleansing und der Umsiedlungspolitik im Ersten Weltkrieg, in: Eduard Mühle (Hg.), Mentalitäten – Nationen – Spannungsfelder. Studien zu Mittel- und Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert, Marburg 2001, S. 147–162, hier S. 159f. Vgl. Raimund Friedrich Kaindl, Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern (Allgemeine Staatengeschichte. Dritte Abt.: Deutsche Landesgeschichten 8), 1: Geschichte der Deutschen in Galizien bis 1772, Gotha 1907; 2: Geschichte der Deutschen in Ungarn und Siebenbürgen bis 1763, in der Walachei und Moldau bis 1774, Gotha 1907; 3: Geschichte der Deutschen in Galizien, Ungarn, der Bukowina und Rumänien seit etwa 1770 bis zur Gegenwart, Gotha 1911. Vgl. zu Kaindls Biografie und Wirkung Alexander Pinwinkler, Raimund Friedrich Kaindl. Geschichte und Volkskunde im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik, in: Hruza (Hg.), Österreichische Historiker, 2008, S. 125–154. Raimund Friedrich Kaindl, Deutsche Siedlung im Osten, Stuttgart/Berlin 1915 (Der Deutsche Krieg. Politische Flugschriften 34), bes. S. 9f., S. 15, S. 22, S. 34, S. 36f.
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die im Verlauf des Krieges sich verschlechternde militärische Lage der Mittelmächte entgegen. Der Gedanke, dass Einzelne oder ganze Gruppen ihre Zugehörigkeit zu einer Nation etwa durch Sprachwechsel aufkündigen und zu einer anderen ethnischen Gemeinschaft überwechseln könnten, bildete für Historiker ebenfalls einen wichtigen Gegenstand ihrer Überlegungen zu den Beziehungen zwischen »Völkern« und »Nationen«. Begriffe wie »Entnationalisierung« und »Renationalisierung« dürften ihnen in diesem Zusammenhang bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bekannt gewesen seien. Wissenschaftlichpolitische Ideologeme, die sich um diese Thematik rankten, lassen sich auch in populären Geschichtsdarstellungen der damaligen Zeit aufspüren. So bedeutete »Eindeutschung« in der Deutschen Geschichte von Einhart des langjährigen Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß, die 1909 erstmals erschienen war, die Weitergabe von Sprache und Kultur an das Gastvolk, das sich an die Einwanderer assimilieren soll.18 Die historiografisch orientierte Richtung der »Volks- und Kulturbodenforschung« in der Weimarer Republik war hingegen überwiegend siedlungs- und sprachgeschichtlich, volks- und landeskundlich orientiert.19 In derartigen Forschungen spielten »Assimilation« und »Dissimilation« mit wechselnden begrifflichen Zuschreibungen eine Rolle, wenn es darum ging, Entwicklung und Ausdehnung des deutschen »Volksbodens« darzustellen, jedoch wurden sie nicht systematisch als soziale und kulturelle Prozesse untersucht. Ab Mitte der 1930er Jahre wurde die Problematik unter dem Einfluss der NS-Volkstumspolitik mehr und mehr Gegenstand von Historikerdebatten. Bislang weniger beachtete Aspekte der »Umvolkung« kamen etwa im August 1934 im ostpreußischen Kahlberg zur Sprache, als Historiker, Bevölkerungswissenschaftler, Archivare und Minderheitenpolitiker dort zusammenkamen, um diese Fragen zu besprechen. Die Experten der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) verbanden in Kahlberg den in den europäischen Staatenbeziehungen seit langem tradierten Gedanken eines territorialen Revisionismus mit bevölkerungspolitischen Planungen zur »Neuordnung Europas«. Die Historiker schrieben sich dabei die Aufgabe
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[Heinrich Claß], Deutsche Geschichte von Einhart, 3., verb. u. vermehrte Aufl., Leipzig 1910, S. 58. Vgl. hierzu u.a. Fahlbusch, »Wo der Deutsche … ist, ist Deutschland!«, S. 272–276.
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zu, »die Spuren des versunkenen deutschen Volksbodens im ehemaligen deutschen Siedlungsgebiet« aufzudecken.20 In der Praxis derartiger Forschungen konnten sich Zuschreibungen einer Jahrhunderte überdauernden Kontinuität »rassischer« Eigenschaften widerspruchsvoll mit Wandlungen von Siedlungs- und Bevölkerungsstrukturen verknüpfen. Einer der in Kahlberg anwesenden Wissenschaftler, der »Sprachinselforscher« Walter Kuhn, suchte etwa die Reste mittelalterlicher deutscher Siedlungen in Galizien aufzudecken, die im 15. und 16. Jahrhundert untergegangen und seither weitgehend an das »Polentum« assimiliert worden waren. Kuhn beschrieb die »Entdeutschung« in Galizien wesentlich als Folge einer biologischen Krise »im ganzen deutschen Volke«, dessen bäuerliche »Lebens- und Siedlungskraft« am Ende des Mittelalters versagt habe, so dass die Verbindung zwischen den Siedlern und ihrem Mutterland abgerissen sei. Gleichwohl seien außer deutsch codierten Tugenden wie »Reinlichkeit, Ordnung, Wirtschaftstüchtigkeit« und ebenfalls als spezifisch deutsch bewerteten Agrarstrukturen »nordisch-rassische« Merkmale selbst noch in jenen Dorfbewohnern erkennbar, deren Vorfahren damals sprachlich entdeutscht worden seien.21 Als einflussreicher Multiplikator des Theorems der »Umvolkung« spielte der Historiker Hans Joachim Beyer, der in Danzig (Gdańsk), Berlin und Prag als Hochschullehrer tätig war, im »Dritten Reich« eine Schlüsselrolle.22 Als Vertrauensmann des Sicherheitsdiensts des Reichsführers SS (SD), dank seiner führenden Rolle in der Reinhard-Heydrich-Stiftung in Prag und aufgrund seiner Funktion als Herausgeber der Vierteljahrsschrift Auslandsdeutsche Volksforschung,23 des Organs der Arbeitsstelle für auslandsdeutsche Volksforschung, verfügte Beyer über ein hohes Maß an institutionellem Rückhalt, der es ihm 20 21
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Haar, Historiker im Nationalsozialismus, S. 212–214. Walter Kuhn, Art. Galizien. Werden und Wesen des deutschen Volkstums, in: Carl Petersen/Otto Scheel/Paul Hermann Ruth/Hans Schwalm (Hg.), Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums. Bd. 3, Breslau 1938, S. 17–39, hier S. 25f. Zu Beyer und dessen Umvolkungsbegriff vgl. Andreas Wiedemann, Die ReinhardHeydrich-Stiftung in Prag (1942–1945), Dresden 2000, S. 55–61, sowie Karl Heinz Roth, Heydrichs Professor. Historiographie des »Volkstums« und der Massenvernichtungen: Der Fall Hans Joachim Beyer, in: Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, S. 262–342. Diese Zeitschrift war 1936 auf Betreiben der Deutschen Akademie München (DA) und des Stuttgarter Deutschen Ausland-Instituts (DAI) gegründet worden. Beyer schied
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erlaubte, die methodische Ausrichtung dieses Diskurses federführend mitzugestalten. Die von Beyer geleitete Arbeitsstelle für auslandsdeutsche Volksforschung sollte bei ihrer ersten Tagung im August 1937 in Stuttgart »den Umfang und die Art der Umvolkungsvorgänge im deutschen Raum«24 thematisieren. Außer Beyer und dem Bundesleiter des Verbands für das Deutschtum im Ausland (VDA), Hans Steinacher, nahmen an den Beratungen u.a. die Historiker Hans Koch und Harold Steinacker sowie der Psychologe Oswald Kroh teil. Letzterer vertrat den Ansatz einer »biologischen Psychologie«, die danach fragen sollte, wie der »Einzelmensch und Volksgruppen in der Spannung, in der sie leben, ihr Volkstum erhalten und sichern«. Um der »Umvolkung« entgegen zu wirken, sollten alle jene Faktoren, darunter die Sprache, »die gegenüber den werbenden und zwingenden Kräften der fremden Volkswelt Halt verleihen«, gestärkt werden. Beyers und Steinackers Wortmeldungen standen dagegen im Zeichen der Propagierung eines »gesamtdeutschen Geschichtsbewußtseins«, das die »Auslanddeutschen« mit einbeziehen sollte. Da ein derartiges Bewusstsein in Deutschland bislang weithin gefehlt habe, seien die »Begabungen« des deutschen »Volkes« ins Ausland abgeflossen, wodurch die »Entvolkung« erst möglich gemacht worden sei.25 Die heuristische Isolierung »rassisch« wertvoller Bestandteile des »Grenzund Auslanddeutschtums« aus dem fremden »Umvolk« wurde erst gegen Ende der 1930er Jahre Bestandteil historiografischer Forschungsprogramme, womit die »Volkstumsforschung« einen weiteren Radikalisierungsschritt setzte. Unter Beyers Regie wurde die »Umvolkung« im Gefolge der Stuttgarter Tagung der Arbeitsstelle erstmals in einem interdisziplinären Rahmen erörtert. Meist jüngere Forscher wie etwa der Prager Siedlungshistoriker Herbert Weinelt suchten dieses Phänomen anhand von Einzelstudien abzuhandeln, wo-
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aus der Schriftleitung der in Volksforschung umbenannten Vierteljahresschrift 1939/40 wieder aus, vgl. Mitteilung an die Bezieher!, in: Volksforschung 3 (1939/40), Vorsatzblatt. Hans Joachim Beyer, Zur Frage der Umvolkung, in: Auslandsdeutsche Volksforschung 1 (1937), S. 361–397. L. Melching, Umvolkung und gesamtdeutsches Geschichtsbewusstsein, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik 7 (1937), S. 302–304 und in: Geographischer Anzeiger 38 (1937), S. 449f.
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bei neben historischen und soziologischen vor allem psychologische Gesichtspunkte in den Blick genommen wurden.26 In der wissenschaftlichen Debatte über »Umvolkung« war Beyer trotz seiner prominenten Rolle allerdings nur eine von mehreren Stimmen, und er war auch nicht der erste Historiker, der diese Thematik untersuchte. Die Beschäftigung mit dem vermeintlichen Wechsel von Volkszugehörigkeiten reichte innerhalb der Geschichtswissenschaft, wie oben angedeutet wurde, bereits länger zurück.27 Ob allgemein als »Umvolkung« oder hinsichtlich sozialer, politischer oder kultureller Prozesse als »Germanisierung«, »Entdeutschung« oder auch »Polonisierung« bezeichnet, war diesen Begriffen vor allem gemeinsam, dass sie meist nationalistisch aufgeladen wurden und politisch gegen als feindlich deklarierte ethnisch-soziale Gruppen instrumentalisierbar waren. Hermann Aubin, Adolf Helbok und Harold Steinacker, die damaligen Ordinarien der deutschen Volkstumshistorie, interessierten sich speziell für den »Volkstumskampf« des »Grenz- und Auslanddeutschtums«, den sie als andauerndes Ringen um seinen biologischen Bestand deuteten. Aber auch weiter zurückliegende Gegenstände der Geschichtsforschung eigneten sich als Projektionsfläche für teilweise phantasmagorische Spekulationen, deren sozialdarwinistische und eugenische, »Auslese« und »Blut« beschwörende semantische Färbung ebenso wenig zu übersehen war wie ihre mangelnde empirische Fundierung. Dass »Völker« sich infolge von Wanderungen und Eroberungszügen vermischt hätten, dass aufgrund interethnischen Konnubiums und Elitenwechsels ihr soziales Gefüge neu strukturiert worden sei und dass derartigen Prozessen meist eine ausgeprägte kulturelle und politische Bedeutung innegewohnt habe, war bereits in der traditionellen, staatsbezogenen Historiografie nahezu ein Gemeinplatz gewesen. Insbesondere die vielfältigen, auch zahlenmäßig umfangreichen Wanderungsbewegungen, wie sie sich beispielsweise in der sogenannten germanischen Völkerwanderung28 abspielten, zogen in 26
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Vgl. u.a. Hans Joachim Beyer, Zur Einführung, in: Auslandsdeutsche Volksforschung 1 (1937), S. 1–16; Georg Schmidt-Rohr, Methodisches und Logisches zum Problem der Umvolkung, in: Auslandsdeutsche Volksforschung 2 (1938), S. 373–381; Herbert Weinelt, Volkstumsverschiebungen in Mähren und Sudetenschlesien, in: Auslandsdeutsche Volksforschung 2 (1938), S. 321–343. Vgl. exemplarisch Eduard Otto Schulze, Die Kolonisierung und Germanisierung der Gebiete zwischen Saale und Elbe (Fürstlich-Jablonowskische Gesellschaft der Wissenschaften/Historisch-Nationalökonomische Sektion: Preisschriften 20), Leipzig 1896. Kritisch zu Begriff und Forschungstraditionen vgl. Walter Pohl, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration, Stuttgart 2 2005, S. 13–39.
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Verbindung mit oft kurzlebigen germanischen Staatsbildungen das Interesse gerade der staats- und volksgeschichtlich orientierten Geschichtsschreibung auf sich. Beide Prozesse – sozialer Wandel infolge von Migration, Akkulturation und (früher) Staatenbildung – verließen in der Historiografie aber kaum jemals die Ebene einer überwiegend deskriptiven Darstellungsweise.
Von der »Bevölkerungsstatistik« zur deutschen »Bevölkerungsgeschichte«? In den 1920er Jahren debattierten speziell Bevölkerungswissenschaftler und Soziologen nicht nur in Deutschland und Österreich, sondern international vor allem über Ursachen und Folgen des Geburtenrückgangs. Für politischen Zündstoff sorgten dabei nicht nur quantitative Aspekte des Bevölkerungswandels, die bevölkerungsstatistisch erhoben wurden, sondern vor allem dessen qualitative Komponenten: Es ging nämlich um die angeblich drohende Verschlechterung des biologischen Substrats der Bevölkerungen.29 Auch die Geschichtswissenschaftler beteiligten sich an dieser Debatte: So wurde 1930 eine Commission de démographie historique comparée im Rahmen der internationalen Historikerkongresse eingerichtet. Deren Initiatorin war die polnische Bevölkerungsforscherin Sophie Daszyńska-Golińska, die eine Hauptaufgabe der Kommission darin sah, den körperlichen und geistigen »Wert« (la valeur physique et mentale) der Bevölkerung zu untersuchen. Nicht einzelne Individuen, sondern »Völker« sollten demnach im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Betrachtung stehen. Die Brüder Alexander und Eugen Kulischer waren ebenfalls Mitglieder der genannten Kommission. Sie waren studierte Juristen mit deutsch-jüdischem Hintergrund und hätten sich selbst wohl eher als Soziologen denn als Bevölkerungswissenschaftler bezeichnet. Die Kulischers sahen die Bevölkerungsentwicklung vor allem unter dem Gesichtspunkt der von ihnen so bezeichneten »Völkerbewegung«. Der Circulus vitiosus von »Not-Krieg-Not« stand dabei
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Zur Kritik derartiger demografischer Deutungsmuster vgl. Josef Ehmer, Eine »deutsche« Bevölkerungsgeschichte? Gunther Ipsens historisch-soziologische Bevölkerungstheorie, in: Demographische Informationen (1992), S. 60–70.
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als Erklärungsmodell im Zentrum.30 Die »Richtungen der Völkerbewegungen« beschrieben sie als von mechanisch wirkenden Regelmäßigkeiten abhängig. Eine Art Gegenpol zu den beiden Kulischers bildeten der Danziger Historiker Erich Keyser sowie sein einflussreicher Kollege Hermann Aubin, der 1929 bis 1945 in Breslau und ab 1946 in Hamburg lehrte.31 Keyser hatte keine Soziologie der »Völkerbewegungen« im Auge, sondern er beschränkte sich räumlich auf eine »Bevölkerungsgeschichte Deutschlands«. »Aufstieg« und »Niedergang« folgten nach Keyser aufeinander in zyklischem Wechsel: An Expansionsphasen schlossen sich daher regelmäßig Zeiten des demografischen Niedergangs an, z.B.: Im Späten Mittelalter dehnte sich der deutsche »Bevölkerungsraum« in einer zuvor unbekannten Weise aus: »Seine Ostgrenze wurde gesprengt. Deutsches Volkstum ergoss sich bis zum finnischen Meerbusen, über ganz Polen und Ungarn«. Auf diese »Kräfte-Anspannung des deutschen Volkskörpers« folgte demnach unweigerlich »eine Zeit der Erschlaffung«. Die letzte Phase des Niedergangs reichte für Keyser übrigens bis an die unmittelbare Gegenwart heran: Jetzt – 1933 – zeichne sich endlich eine neue Ordnung des Bevölkerungsgeschehens ab: Das »fast regellose Durcheinanderfluten der Bevölkerung«, welches das »liberalistische« 19. Jahrhundert charakterisiert habe, werde durch die neue »Ordnung« des »Dritten Reiches« abgelöst.32 Keyser fasste die Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im spezifischen Zusammenwirken der »Bevölkerungszahl« mit der »Bevölkerungsart« und dem »Bevölkerungsraum«. Im »Dritten Reich« zählte er zu den Vorkämpfern einer rassenanthropologisch fundierten Geschichtswissenschaft.33 Seine Frage nach den rassenbiologischen Folgeerscheinungen des Eindringens fremder Bestandteile in den deutschen »Volkskörper« sollte dazu beitragen, nicht nur die fernere Vergangenheit zu erkunden, sondern »Wesen« und »Wert« des
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Alexandre M. Koulicher, Les guerres et les migrations, in: VIe Congrès international des sciences historiques. Résumés des communications présentées au congrès, Oslo 1928, S. 29f. Vgl. u.a. Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005. Erich Keyser, Entwicklung und Aufgaben der bevölkerungsgeschichtlichen Forschung in Deutschland, in: VIe Congrès international des sciences historiques, S. 26–28. Vgl. u.a. Erich Keyser, Rassenforschung und Geschichtswissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 27 (1934), S. 165–169; ders., Bevölkerungswissenschaft und Geschichtsforschung, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik 5 (1935), S. 145–161; Erich Keyser, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands, Leipzig 1938 (²1941; ³1943).
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gegenwärtigen »Deutschtums« zu erfassen. Keyser wollte damit der »Bevölkerungsgeschichte« im Bereich der regional orientierten »Landesgeschichte«, aber auch auf der Darstellungsebene der deutschen »Volksgeschichte« zum Durchbruch verhelfen. Wenn man diese beiden Konzeptionalisierungen von »Bevölkerungsgeschichte« miteinander vergleicht, fällt Folgendes auf: Alexander und Eugen Kulischer beabsichtigten eine universale Soziologie der Völkerbewegung zu entwickeln. Keysers Erkenntnisziel galt jedoch einzig dem »Werden und Wesen« des deutschen »Volks« und seinen vermeintlichen biologischen und »rassischen« Kräften. Die Kulischers wollten die »Mechanik« der Bevölkerungsbewegung ergründen. Dies war ein durchaus zeittypischer Versuch, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften eine Brücke zu schlagen, womit sie international damals Anerkennung zu erzielen vermochten. Keysers weithin irrationale Volkshistorie hingegen stieß bei den internationalen Historikerkongressen der Zwischenkriegszeit auf deutliche Ablehnung; französische und angelsächsische Historiografen bewahrten sich im Allgemeinen ihre Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion. Die deutsche Geschichtswissenschaft beraubte sich – etwa durch die rassistisch motivierte Vertreibung von Forschern wie den Brüdern Kulischer – hingegen eines pluralistischen Zugangs zum Wissenschaftsdiskurs. Dieser stellt aber bekanntlich eine wesentliche Vorbedingung fachlicher Weiterentwicklung dar.
»Deutsche Ostbewegung« und das »Eigene« und das »Fremde« Seit den 1920er Jahren konzentrierte sich das Interesse von Historikern an Migrationen zunehmend auf die Geschichte der deutschen Ostwanderungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Die volksgeschichtliche Forschung der Zwischenkriegszeit fand im »Deutschtum« ihren bevorzugten Gegenstand. Als historiografische Leitmetaphern verwendete diese Forschungsrichtung Begriffe wie »ostdeutsche Kolonisation«34 oder »deutsche Ostkolonisation« meist synonym nebeneinander. Migrationen erschienen in volksgeschichtlich orientierten Studien häufig als Ausdruck naturgeschichtlicher Gesetzmäßigkeiten, die einen autoregulativen Ausgleich zwischen demografischen
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Rudolf Kötzschke/Wolfgang Ebert, Geschichte der ostdeutschen Kolonisation, Leipzig 1937.
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»Unterdruck-« und »Überdruckgebieten« bewirkten. Die Arbeiten von Hermann Aubin sind ein Beispiel für dieses diskursiv verbreitete Denkmuster. Der Breslauer Historiker behauptete, dass die zahlenmäßige Überlegenheit der Deutschen gegenüber slawischen Bevölkerungsgruppen eine entscheidende Antriebskraft für deren massenhafte mittelalterliche »Ostbewegung« gewesen sei. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts habe sich allerdings dieses quantitative »Menschengefälle« »geradewegs umgekehrt«. Die Ursache für diesen Wandel sah Aubin in der polnischen Westwanderung des ausgehenden 19. Jahrhunderts.35 Deutsche und österreichische »Volkshistoriker« nahmen häufig ein Spannungsverhältnis zwischen demografischen »Unterdruck-« und »Überdruckgebieten« an, das naturnotwendig Wanderungsbewegungen auslösen würde. Die Volkshistoriker verknüpften dieses Konstrukt darüberhinaus mit der Vorstellung eines überzeitlich wirksamen »Kulturgefälles« zwischen West und Ost. Der Volkskundler und Historiker Walter Kuhn, der in der Sprachinsel Bielitz (poln. Bielsko-Biała) im ehemaligen Kronland Österreichisch-Schlesien geboren und dort politisch sozialisiert worden war, ist hierfür ein Beispiel. Kuhn war einer der eifrigsten Vertreter des Konstrukts eines unterschiedlichen »Reifegrades« zwischen den »Völkern«: Für ihn setzte die »Kolonisation eines Volkes im Gebiet eines anderen« voraus, dass »beide auf verschiedenen Reifestufen stehen.« Kuhn veröffentlichte 1926 eine erste programmatische Schrift zu diesem Thema, in welcher er zwischen »echten Sprachinseln«, die auf eine »geschlossene« Kolonisation zurückgingen, und »unechten Sprachinseln« unterschied, die sich aufgrund individueller Wanderungen entwickelt hatten. Letztere seien im 19. und 20. Jahrhundert entstanden. Sie bildeten keinen Gegenstand seiner Untersuchungen, da sie auf den »Menschenaustausch zweier Völker mit gleicher Entwicklungsreife« zurückzuführen seien.36 Aubin sah den wesentlichen Auslöser für Wanderungen hingegen nicht vorrangig in den verschiedenen »Reifestufen« von Germanen und Slawen, sondern in der unterschiedlichen Bevölkerungsdichte der einzelnen Länder, die Migrationsbewegungen herbeiführten bzw. hemmten. Frankreich und Italien hatten nämlich im Hochmittelalter ihre Binnenkolonisation so weit
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Hermann Aubin, Die historisch-geographischen Grundlagen der deutsch-polnischen Beziehungen, in: Albert Brackmann (Hg.), Deutschland und Polen. Beiträge zu ihren geschichtlichen Beziehungen, München/Berlin 1933, S. 13–25, hier S. 20f., S. 25. Walter Kuhn, Versuch einer Naturgeschichte der deutschen Sprachinsel, in: Deutsche Blätter in Polen 3 (1926), S. 65–140, S. 629–634, hier S. 71f.
»Volksordnung« gegen die drohende »Entdeutschung«?
vorangetrieben, dass der dadurch entstandene »Damm« deutsche »Siedler« davon abgehalten habe, »die Wanderung zwecks Landgewinnung in der alten Richtung wieder aufzunehmen.« So sei den Deutschen nur »der Osten« als Zielgebiet ihres »Bevölkerungsüberschusses« geblieben.37 Aubin konstruierte Migrationen auf der Grundlage der Vorstellung von autoregulativen demografischen Ausgleichsbeziehungen zwischen »Deutschen« und »Slawen«. Er kombinierte diese Denkfigur mit dem Anspruch, dass die slawischen Nachbarn mittels »deutscher Arbeit« zu beherrschen und zu missionieren seien. Indem die Deutschen am Rande ihres Siedlungsgebiets eine »umfassende Grenzwacht« errichteten, sicherten sie zugleich den Bestand des christlichen »Abendlandes«.38 Elementarer Bestandteil des Aubinschen Denkansatzes war das Konzept eines deutsch-polnischen »Menschengefälles«, das die Vorstellung beinhaltete, die Slawen seien in Mittelalter und Früher Neuzeit aufgrund ihrer spezifischen kulturell-biologischen Disposition unfähig gewesen, den ihnen zugefallenen Raum auszufüllen und sich dort staatlich zu organisieren. Der sozio-kulturelle Aufstieg der Polen und anderer slawischer »Völker« im 19. Jahrhundert schien die deutsche Vormachtstellung in Ostmitteleuropa zu bedrohen. Dieses Bild war in der Zwischenkriegszeit an sich nicht neu. Bemerkenswert ist aber die semantische Aufladung und quasi-naturwissenschaftliche Absicherung derartiger Konstrukte mit Hilfe von demografischen Denkmustern, wie sie anhand der Schriften von Aubin und Kuhn deutlich gezeigt werden kann. Aubin setzte sich seit den 1930er Jahren vehement dafür ein, an die Stelle von »Ostsiedlung« oder »Ostkolonisation« den Begriff der »Ostbewegung« zu setzen. Der Breslauer Historiker verknüpfte damit eine historiografische Neukonzeption, die vor allem auf eine »ganzheitliche« Betrachtungsweise der »Ostsiedlung« abzielte. Was Aubin darunter verstand, erläuterte er in zugespitzter Form in einer Miszelle, die er 1941 zu dem von Keyser herausgegebenen Deutschen Städtebuch (1939–1974) veröffentlichte. Das Vorwort im ersten Band dieses historiografischen Großprojekts, in dem Keyser für die Städtegeschichte sein Konzept einer arbeitsteilig organisierten »Gemeinschaftsarbeit« vorstellte, bildete für Aubin die gelungene Umsetzung der erkenntnistheoretischen Forderung, dass »heute Ganzheitsforschung angestrebt« werde. In ihren unterschiedlichen Disziplinen der »Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte« sei die historische Forschung noch immer einer »indivi37 38
Aubin, Die historisch-geographischen Grundlagen, S. 14f. Ebd., S. 14.
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dualistischen Betrachtungsweise« verpflichtet. Um diese zu überwinden, gelte es, »mit dem Grundprinzip des Stoffes und der Methodik, die diesen Fächern eigen sind, mit der Massenerscheinung und ihrer Bearbeitung, kompromißlos Ernst [zu] machen« und dadurch »erst zu einer im vollen Sinne sozialgeschichtlichen Auffassung« zu gelangen.39 Aubins Plädoyer für eine »ganzheitliche« Forschungspraxis entsprach der Versuch, an die Stelle der gesellschaftliche Massenerscheinungen vermeintlich isolierenden historischen Bevölkerungsstatistik deutsche »Volksforschungen« zu setzen, die von einer angenommenen Totalität des »Volkstums« ausgingen. Auch Aubin ging es um die Erkenntnis der historischen »Massenerscheinung«, wobei er in seinen Schriften anstelle von »Masse« zunehmend von »Volk« sprach. Die anvisierte »Massenerscheinung« meinte er in der deutschen »Ostbewegung« und im Transfer von »Kulturformen« gefunden zu haben. Allerdings sollten nicht etwa Verfahrensweisen der »Bevölkerungsgeschichte«, sondern der »Kulturmorphologie« entsprechende methodische Instrumentarien bereitstellen. Der von Aubin vertretene historiografische Zugang zielte darauf ab, Bausteine für die Identifizierung der »deutschen Eigenart« bereit zu stellen.40 Indem Aubin mit dem kulturmorphologischen Ansatz »kompromißlos Ernst [zu] machen« versprach, brachte er in einer für den 1941 in Deutschland herrschenden Zeitgeist nicht untypischen rhetorischen Wendung zum Ausdruck, dass der proklamierten »Ganzheitsforschung« ein »radikales Ordnungsdenken« im Sinne von Lutz Raphael zugrunde lag. Indem er sich hierbei auf eine »im vollen Sinne sozialgeschichtliche Auffassung« bezog, unterstrich er seine Erwartungshaltung, dass die »Volksgeschichte« künftig um eine theoretisch und methodisch ausgebaute »Sozialgeschichte« bereichert werden würde. Als richtungweisende Wegmarke galt ihm dabei die Studie Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter (1939; ² 1942; 3 1943) des Wiener Historikers Otto Brunner.41 39 40
41
Hermann Aubin, Das deutsche Städtebuch, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 34 (1941), S. 324–335, hier S. 329. Zit. n. Henning Trüper, Die Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und ihr Herausgeber Hermann Aubin im Nationalsozialismus, Wiesbaden 2005, S. 51 sowie S. 52 zur Frage der Konsistenz der von Aubin entwickelten methodischen Verfahrensweisen. Zu den Zusammenhängen von »radikalem Ordnungsdenken« und entgrenzten Planungsphantasien im »Dritten Reich« vgl. Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwis-
»Volksordnung« gegen die drohende »Entdeutschung«?
»Volksordnung«, staatliche Politik und »radikales Ordnungsdenken« Die Verflechtungen zwischen Geschichtswissenschaften und angewandten Politikfeldern sind in der wissenschafts- und zeitgeschichtlichen Forschung seit langem ein breit diskutiertes Themenfeld. Es wird dabei allgemein davon ausgegangen, dass Wissenschaftler als Akteure in einem breiten Überschneidungsbereich von Wissenschaften, Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit verortet werden müssen. Hierzu sei exemplarisch die deutsche Historikerin und Soziologin Elisabeth Pfeil genannt, die das Interaktionsverhältnis von Wissenschaften und Politik 1937 in einem im Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik veröffentlichten Artikel selbst diskutierte. Pfeil beschäftigte sich mit den Beziehungen zwischen »Geopolitik« und den »Bevölkerungswissenschaften« und betonte den Status dieser beiden Disziplinen als »Planungswissenschaften«. Beide fragten nach dem »Gefüge von Rasse, Staat, Volk und Raum« und dienten der »Raumordnung«.42 »Planung« und »Ordnung« waren integrale Bestandteile des »radikalen Ordnungsdenkens« von deutschen Volksforschern im »Dritten Reich«.43 Kategorien und Begriffe wie »Volk«, »Umvolkung« oder »Lebensraum« bildeten einflussreiche Leitmetaphern dieses »radikalen Ordnungsdenkens«. Sie waren semantisch darauf ausgerichtet, völkische Utopien in eine imaginierte Vergangenheit zu projizieren. Sie weckten aber auch Zukunftsvorstellungen, die im spezifisch völkischen Gemeinschaftskult kulminierten: Der affektive Bezug auf »Volk« oder »Lebensraum« sollte so die vermeintlich schädlichen Auswirkungen der industriellen Moderne überwinden und zur Begründung einer idealen »Volksgemeinschaft« beitragen.44 »Radikales Ordnungsdenken«, völkische Heilserwartung und aktivistische Selbstmobilisierung gingen bei vielen Wissenschaftlern in den 1930er Jahren
42
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senschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 5–40; vgl. Trüper, Die Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 125f. Vgl. Elisabeth Pfeil, Bevölkerung und Raum, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik 7 (1937), S. 111–129 [unter demselben Titel in identischer Fassung neuerlich erschienen: Bevölkerung und Raum (Schriften zur Geopolitik 14), Heidelberg/Berlin/Magdeburg 1939]. Vgl. Raphael, Radikales Ordnungsdenken. Zur Ideengeschichte deutscher Gemeinschaftsvorstellungen vgl. Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001, hier bes. das Kap. »Bevölkerung und Familie«, S. 234–262.
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eine bis dahin nie erreichte Symbiose ein. Der deutsche Genealoge Erich Wentscher ist hierfür ein weiteres Beispiel unter vielen anderen: Wentscher sah bevölkerungspolitische Maßnahmen als notwendig an, um die »völkischen Gegenwartsprobleme« zu überwinden, welche bei der deutschen Volkszählung vom 16. Juni 1933 zutage getreten seien: »Das weltanschauliche und politische Fundament des neuen deutschen Staates« sei »durchaus geeignet, um unbedingte, zielbewußte Bevölkerungspolitik zu tragen.« Die Historiker sollten dem Staatszweck »willig dienen« und die politischen Entscheidungsträger mit ihrer Expertise unterstützen: »Bei der Feststellung und Festsetzung alles Notwendigen wollen wir gewissenhafte Helfer sein. Und nirgendwo werden wir dem Staate williger dienen als auf dem Wege zu gesünderen Ziffern der [Volks-]Zählung.«45 Die Bevölkerungsstatistik ließ in dieser Sichtweise die »Volksgemeinschaft« als rationales politisches Nahziel erscheinen, das sich in Form von Zahlenmaterial repräsentieren ließ. Die historische Forschung hat vielfach dargelegt, dass neben anderen Fachrichtungen und Disziplinen auch die Historiografie dem NS-Regime ihr methodisches Instrumentarium zur Verfügung stellte, um einen von vermeintlich fremden Bestandteilen freien, »rassisch« homogenen Staat zu schaffen. Allgemein wird betont, dass Bevölkerungswissenschaften, Staat und Politik bereits seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zunehmend interagierten.46 Bevölkerungswissenschaftler, Statistiker, Raumforscher und Historiker entwickelten indes vor allem in den 1920er und 1930er Jahren Sozialtechniken des Eingliederns und Ausgrenzens bestimmter Personen- und Bevölkerungsgruppen. Ihren Handlungsraum bildeten oftmals Kommunen, in welchen im Rahmen der Gesundheits- und Fürsorgepolitik bereits vor 1933 eugenische Praktiken angewandt wurden.47
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Erich Wentscher, Das Ergebnis der Volkszählung vom 16. Juni 1933, in: Archiv für Sippenforschung 10 (1933), S. 277–281, hier S. 280f. Vgl. u.a. Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193; Josef Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1800–2000, München 2004, S. 63. So bereits Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991; vgl. hierzu auch Isabel Heinemann, »Rasse, Siedlung, deutsches Blut«. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003.
»Volksordnung« gegen die drohende »Entdeutschung«?
Schlussbemerkung Historiker wie Hermann Aubin, Hans Joachim Beyer und Erich Keyser und Siedlungshistoriker und Volkskundler wie Walter Kuhn beteiligten sich nach 1933/39 aktiv an politikberatenden Aktivitäten der Umsiedlung und ethnischen Homogenisierung von Grenzräumen. Dafür konstruierten sie argumentative Strategien der Legitimation deutscher Hegemonieansprüche in Osteuropa sowie Instrumentarien zur hierarchisierenden Segregation von »Völkern« und »Volksgruppen«. Viele ihrer Annahmen und Vorschläge, die sie seit den 1920er Jahren im Kontext der deutschen »Volksforschung« entwickelt hatten und die ihrerseits bereits in völkisch orientierten Kreisen der Geschichtsforschung der ausgehenden Habsburgermonarchie und des Wilhelminischen Kaiserreiches in nuce erörtert worden waren, wurden allerdings durch die Radikalisierung des deutschen Vernichtungskriegs im Osten noch übertroffen. Wissenschaftler wie die hier exemplarisch Genannten trugen bereits früh dazu bei, dass die Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik zusehends verschwammen: So bildete etwa für den Agrarwissenschaftler und »Ostforscher« Theodor Oberländer die deutsche »Ostforschung« im Jahr 1936 eine unabdingbare Voraussetzung für den politischen Kampf, die »Universität ihre Munitionsfabrik, die verschiedenen Institute und Propagandastellen die Artillerie«.48 Die 1920er und 1930er Jahre erscheinen damit sowohl in Deutschland als auch in Österreich als ein Labor der Möglichkeiten, als ein Experimentierfeld, in welchem die seit dem späten 19. Jahrhundert sich anlagernden Diskurse um die Konstruktion von »Ordnung« und »Differenz« erprobt wurden, ehe sie ab 1933/39 zunehmend in die soziale Praxis einer »kämpferischen Wissenschaft« übergeleitet wurden.
48
Zit. n. Markus Krzoska, Ostforschung, in: Michael Fahlbusch/Ingo Haar/Alexander Pinwinkler (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme. Bd. 2, 2., aktual. Aufl., Berlin 2017, S. 1090–1102, hier S. 1094.
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Die Sprache(n) auf der Karte Die Konstruktion von Geschichtlichkeit in der Dialektkartografie des Deutschen zwischen Cisleithanien, Erster Republik und Zweiter Republik Jan David Zimmermann
Einleitung Der Zusammenhang von Sprache und Raum ist eine Verbindung, die bis heute immer wieder diskutiert wird, und – oftmals (sprach-)politisch instrumentalisiert – zu kontroversen Debatten in der Gesellschaft führt(e). Mit dieser Beziehung werden gleichsam Fragen um (nationale) Herkunft, Identität und Zugehörigkeit mitverhandelt und insbesondere (Sprach-)Einstellungen, Stereotype und Vorurteile gefestigt, verworfen oder neu angeordnet. Mit diesen Konzepten einher gehen vielfach auch Fragestellungen, die sich mit Herrschaftsräumen und der Wirkmacht von politischen Territorien und ihren Grenzen befassen und die Frage nach dem Zusammenhang (d.i. die Konvergenz oder Differenz) von politischen Räumen, Sprachräumen und Kulturräumen stellen. Eben diese Themen spielten im Kontext der Plurikulturalität und Multilingualität im Zentraleuropa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine große Rolle. Richtet man den Blick auf die Geschichte der deutschsprachigen Linguistik, insbesondere auf die Dialektologie des Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so kann man feststellen, dass auch in den unterschiedlichsten Kontexten der Sprachwissenschaft das Verhältnis von Raum und Sprache ein vieldiskutiertes Forschungsobjekt darstellte. Mit allerlei politischen Bedeutungen aufgeladen, spiegelt sich darin sowohl die individuelle als auch die wissenschaftlich-paradigmatische (sprich: sozial-habituelle akademische) Sozialisierung der Dialektologen im Gefüge des akademischen Feldes der Geisteswissenschaften wider. Das bedeutet auf einer ganz allgemeinen Ebene, dass die politisch-historischen und sozialen Umstände,
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in denen Wissenschaft und wissenschaftliches Wissen produziert und perpetuiert werden, auf je spezifische Weise (und gerade im Hinblick auf die dialektologische Forschung) in den hergestellten wissenschaftlichen Artefakten und Dingen und durch sie sichtbar werden. Diese »Erkenntnis« der je spezifischen Historizität und Situiertheit wissenschaftlichen Wissens stellt zwar aus kulturwissenschaftlicher und wissenschaftshistorischer Sicht gewissermaßen eine Banalität oder Binsenweisheit dar, wird allerdings gerade in vielen linguistischen Disziplinen nicht in ihrer tiefen Dimension begriffen, falls Historizität überhaupt reflektiert wird. Im Hinblick auf die dialektologische Beschäftigung mit dem Verhältnis von Sprache und Raum ist dabei eine Praktik besonders schillernd: die Visualisierung des sprachwissenschaftlichen Wissens mithilfe von Sprachkarten, welche bis in die Gegenwart maßgeblich die Bereiche der Variationslinguistik, Soziolinguistik, Dialektologie und Areallinguistik dominieren. Sprachkarten der angegebenen Disziplinen möchten dabei die Verbreitung und Variation natürlicher Sprache/der deutschen Dialekte im Raum darstellen. Die Visualisierung von Sprache im Raum durch Kartografie bedeutet(e) in diesem Zusammenhang aber nicht nur bloße Veranschaulichung, sondern prägt(e) wesentlich das dialektologische Wissen und Denken als eine kartografische Sicht auf Sprache und Raum von oben. Bis heute sind solche Karten in reger Verwendung, wobei die prinzipielle Suggestivität und potenzielle Politizität von Karten an sich und die Historizität verwendeter historischer Karten selten mitreflektiert werden. Ein gutes Beispiel für die fehlende Reflexion ist die innerlinguistische Rezeption einer Karte im Aufsatz »Die Einteilung der deutschen Dialekte« von Peter Wiesinger,1 die, aus dem Jahr 1983 stammend, die deutschen Dialekte der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts (bis 1945) darstellt. Wiesinger erläutert zwar in der Abbildungsbeschriftung der Karte, dass es sich dabei um die Darstellung eines bloßen Zeitabschnitts handelt, in modifizierter Weise jedoch wurde die Karte später innerhalb der Dialektologie dieser spezifischen Historizität des dargestellten Zeitpunkts (sowie des Zeitpunkts der Darstellung) entrissen und wird bis heute in der Dialektologie des Deutschen, auch etwa im Kontext dialektologischer Lehrbücher, immer wieder als zeitlos-allgemeine Übersicht
1
Vgl. Peter Wiesinger, Die Einteilung der deutschen Dialekte, in: Werner Besch (Hg.), Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. 2. Halbbd., Berlin/New York 1983, S. 831.
Die Sprache(n) auf der Karte
der deutschen Dialekte verwendet.2 Es handelt sich dabei um ein Beispiel der Fehlrezeption historischer Aspekte in der Karte Wiesingers, die – sich auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beziehend – noch das Nieder- und Hochpreußische visualisiert, mit der disziplinären Projektion auf die Gegenwart aber zu einer atemporalen Kumulationskarte diverser Zeitebenen mutiert, gleichzeitig aber ihrer spezifischen Geschichtlichkeit beraubt wird. Wiesingers Karte spielt bis heute für die Dialektologie und angrenzende linguistische Disziplinen eine wesentliche Rolle. Die dialektologische Kartierung der Sprache wurde auch in Bereichen eingesetzt, die auf den ersten Blick nicht direkt in Verbindung zu stehen scheinen; etwa in der Lexikologie bzw. genauer: in der Dialekt-Lexikologie und Dialekt-Lexikografie. Die Wörterbuch-Praxis der sogenannten großlandschaftlichen Dialektwörterbücher im späten 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellte dabei eine sehr spezifische kartografisch-spatiale Sichtweise auf die Sprache dar und implizierte gewissermaßen eine Regionalpolitisierung des Wortschatzes, die sich hin zu einer Kartografie des Wortschatzes transformierte. Die gleichsam nationalen wie regionalen Langzeit-Projekte stellten sich in ihrer Argumentation in den Dienst von Ländern, Regionen und eben Nationen und ‒ dabei entscheidend – sind ab 1921 im Kontext des sogenannten Kartells der deutschen Akademien wirksam.3 Im vorliegenden Aufsatz geht es daher im Wesentlichen um die Frage, wie die Zusammenhänge von Sprach- und Dialektkartografie die österreichischen und deutschen Wörterbuchvorhaben mehr und mehr prägten und wie sich schließlich nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches und der Neuordnung Europas die großdeutsch bzw. deutsch-national ausgerichtete Sprachkarte in der Dialektologie des Deutschen als epistemische Basis in der Visualisierung des disziplinären Wissens etablierte. Dies soll anhand des 2
3
Vgl. etwa Hermann Niebaum/Jürgen Macha, Einführung in die Dialektologie des Deutschen, Berlin 2006, S. 88. Dieses Beispiel ist besonders erstaunlich, weil es sich um ein dialektologisches Lehrbuch handelt, das schon mehrfach aufgelegt wurde. Ein weiteres Beispiel einer, gelinde gesagt, abenteuerlichen Verwendung von Wiesingers Karte ist jene, die im Sprach-GIS als Grundkarte verwendet und eingeblendet werden kann, vgl. https://www.regionalsprache.de/SprachGIS/Map.aspx?shortUrl=Ud0JfNT0 (abgerufen am 15.1.2023). Vgl. Ernst Bremer/Walter Hoffmann, Wissenschaftsorganisation und Forschungsrichtungen der Dialektologie im deutschen Sprachgebiet, in: Werner Besch (Hg.), Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. 1. Halbbd., Berlin/New York 1982, S. 202–231.
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Beispiels der vom Bayerisch-Österreichischen Wörterbuch projektierten Dialektgeografie und ihrer Entwicklung hin zu einer Dialektkartografie erläutert werden.4 Besonderes Augenmerk soll dabei auf die beginnende Etablierung des Karten-Zeichnens gelegt werden,5 weswegen die 1920er Jahre stark im Fokus stehen. Wenngleich Wörterbuchunternehmen oft über territorial-herrschaftliche Grenzen hinausgingen, wurde die Erstellung solcher Dialektlexika vielfach von außeruniversitären länderspezifischen Institutionen eingeleitet. Ein gutes Beispiel wäre etwa das 1911 gegründete Hessen-Nassauische Wörterbuch, das von der Preußischen Akademie der Wissenschaften gegründet und erstellt wurde.6 Ein anderes Beispiel solcher großlandschaftlichen Wörterbücher und Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes ist das Bayerisch-Österreichische Wörterbuch. In Wien wurde vor dem Ersten Weltkrieg, in den Jahren 1911–1913, an der Akademie der Wissenschaften die Kanzlei zur Schaffung eines Bayerisch-Österreichischen Wörterbuches als außeruniversitäre dialektologische Institution eingerichtet. Ziel war es, mit dem Schwesterunternehmen an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München den gesamten bairischen Sprachraum zu erfassen und den Wortschatz der entsprechenden Mundarten in einem Lexikon zu sammeln. Gleichzeitig steht im Arbeitsplan von 1912 bereits an erster Stelle, dass als Vorarbeit zum Wörterbuch eine Dialektgeografie zu erstellen sei.7 Allerdings wird im Arbeitsplan nicht ausformuliert, ob sie zwangsweise mit einer Dialektkartografie in Verbindung stehen müsse. Anfangs noch zurückhaltend, wurde jedenfalls ab den 1920er 4
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Zur Entwicklung der Dialektgeografie und -kartografie vgl. Johannes Feichtinger/Katja Geiger/Stefan Sienell, Die Akademie der Wissenschaften in Wien im Nationalsozialismus und im Kontext der Akademien im »Altreich«, in: Johannes Feichtinger/Brigitte Mazohl (Hg.), Die Österreichische Akademie der Wissenschaften 1847–2022. Eine neue Akademiegeschichte. Bd. 2, Wien 2022, S. 11–141, hier S. 81–85. Die Frage der Verwendung von Karten zum Zeichnen weiterer Karten mit sprachlicher Information bezieht sich primär auf die geografische(n) Grundkarte(n). Vgl. Hessen-Nassauisches Wörterbuch, https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/intr o/sn/hnwb (abgerufen am 15.1.2023). Vgl. Arbeitsplan und Geschäftsordnung für das bayerisch-österreichische Wörterbuch 1912 (Digitalisat, Forschungsabteilung »Variation und Wandel des Deutschen in Österreich«, ACDH-CH/ÖAW); Johannes Mattes/Doris A. Corradini/Sandra Klos/Brigitte Mazohl, Umbrüche und Kontinuitäten. Die Akademie in der Zwischenkriegszeit, in: Johannes Feichtinger/Brigitte Mazohl (Hg.), Die Österreichische Akademie der Wissenschaften 1847–2022. Eine neue Akademiegeschichte. Bd. 1, Wien 2022, S. 521–608, hier S. 567f.
Die Sprache(n) auf der Karte
Jahren neben der Wörterbucharbeit sukzessive das sprachkartografische Vorgehen der sogenannten Marburger Dialektologischen Schule (gemeint ist Marburg an der Lahn in Deutschland) und des dort gegründeten »Sprachatlas des Deutschen Reiches«8 eine wichtige Aufgabe der dialektologischen Sprachwissenschaftler an der Wiener Kanzlei. Dies bedeutete, dass die räumliche Verbreitung linguistischer Phänomene auf Transparentpapier eingezeichnet wurde, welches man auf eine geografische Grundkarte gelegt hatte. So erhielt man in einem weiteren Schritt, in welchem beide Karten drucktechnisch miteinander verschmolzen wurden, Kartenwerke, in denen sprachliche Informationen visualisiert wurden. Diese kartografische Sichtbarmachung der Sprachräume stellte eine Praktik dar, die in der sogenannten Wiener Dialektologischen Schule angewandt wurde: von Primus Lessiak (1878–1937) und Joseph Seemüller (1855–1920) sowie ihrem Schüler Anton Pfalz (1885–1958) nicht regelmäßig bzw. vorrangig, wohl aber durch Pfalz’ und Lessiaks Schüler Eberhard Kranzmayer (1897–1975), der sie in Wien erst wirklich etablierte. Bis heute ist das Erstellen von Dialektkarten ein epistemischer Grundpfeiler in der Visualisierung dialektologischen Wissens und hat durch die Möglichkeiten des Internets und durch den Einsatz von Geoinformationssystemen9 nichts an Attraktivität für die Forschenden eingebüßt. Auch im Kontext zeitgenössischer Sprachwahrnehmungs- und Spracheinstellungsforschung des Deutschen wird mithin der – provokant ausgedrückt – dialektologische Kartenfetisch auf die zu untersuchenden Sprecher:innen projiziert, indem man die kartografische Sicht auf Sprachvariation als entscheidendes Orientierungsmerkmal menschlicher Raumperzeption annimmt und die Probanden sogenannte Mental Maps10 zeichnen lässt. Vereinfacht
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Dieser vom Bibliothekar Georg Wenker initiierte Sprachatlas existiert noch heute unter dem Namen »Deutscher Sprachatlas« (DSA). Am Beginn war die Atlasunternehmung in den 1870er Jahren zwar als allgemein gefasster deutscher Sprachatlas konzipiert, allerdings, bedingt durch den zeitlichen Zusammenfall mit der Gründung des Deutschen Reiches, wurde Wenker von den Geldgebern (Regierungsseite bzw. Preußische Akademie der Wissenschaften) nahegelegt, nur das Deutsche Reich zu erfassen, um also ausschließlich einen Sprachatlas des Deutschen Reiches zu erstellen, vgl. Stefan Wilking, Der Deutsche Sprachatlas im Nationalsozialismus. Studien zur Dialektologie und Sprachwissenschaft zwischen 1933 und 1945, Hildesheim 2003, S. 5–14. Vgl. z.B. Sprach-GIS wie etwa auf der vom Marburger DSA betriebenen Homepage www.regionalsprache.de (abgerufen am 15.1.2023). Vgl. etwa Christina Anders/Helmut Spiekermann, Wahrnehmungs-/Ethnodialektologie im deutschen Sprachraum. Bericht vom 1. Arbeitstreffen an der Albert-
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gesagt: Linguisten, die sprachkartografisch arbeiten und sprachkartografisch sozialisiert sind, nehmen an, dass linguistische Laien so wie sie selbst Sprachkarten regelrecht »im Kopf« haben und übertragen damit die geschulte (disziplinäre) Konzeptualisierung auf die untersuchten Personen. Die Ursprünge dieser bis in die Gegenwart vorhandenen disziplinären Fixierung auf (die Produktion von) Sprachkarten liegen, wie bereits skizziert, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Nun bewirken politische Umbrüche und territoriale Neuordnungen, wie sie nach und während beider Weltkriege auftraten, dass die Kartierung dieser Räume neu verhandelt, gedacht, konzipiert werden musste, oder aber, dass politische Zäsuren aus unterschiedlichen Gründen ignoriert und nicht in die Kartenwerke implementiert wurden. Die Dialektologie des Deutschen hatte (und hat) jedoch eine sehr spezifische Art, mit der Aktualität der tatsächlichen politischen Räume umzugehen und den Zusammenhang von Kultur-, Herrschafts- und Sprachraum zu definieren, indem sie – wie bereits oben anhand Wiesingers Karte geschildert – oftmals mehrere Zeitebenen in solche Sprachkarten packt(e). Die Dialektologie wird mithin auch dort besonders interessant, wo sie sich mit sogenannten Grenzlandsprachen und den Sprachinseln in Ost-, Süd- und Südosteuropa beschäftigte und die politisch relevanten Themen von Sprachund Kulturnation auszuloten versuchte. Gleichzeitig wurden aber natürlich auch von anderen Disziplinen und von staatlicher Seite Sprachenkarten erstellt und verwendet, in denen es nicht nur um dezidiert politisch umkämpfte Territorien, sondern auch ganz allgemein um die Frage der Visualisierung der sprachlichen Situation im europäischen Raum und damit gleichzeitig um das Verhältnis von (Sprach-)Wissenschaft und (Sprach-)Politik im Gefüge des europäischen Multilingualismus11 und der Plurikulturalität12 der Habsburgermonarchie ging. Insbesondere der Kärntner Eberhard Kranzmayer, langjähriger Wörterbuchmitarbeiter, dessen Wirken im »Dritten Reich« schon mehrfach Gegen-
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Ludwigs-Universität in Freiburg vom 27.–28. Januar 2007, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 36 (2008) 2, S. 288–291. Vgl. Elena Mannová/Jozef Tancer, Mehrsprachigkeit, in: Johannes Feichtinger/ Heidemarie Uhl (Hg.), Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 Kulturwissenschaftliche Stichworte, Wien 2016, S. 134–139. Zu einer genauen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Plurikulturalität im Gefüge der Monarchie vgl. Anil Bhatti, Plurikulturalität, in: ebd., S. 171–180.
Die Sprache(n) auf der Karte
stand wissenschaftshistorischer Untersuchungen war,13 soll im Zusammenhang mit seiner Arbeit an der Dialektgeografie des Wörterbuches verstärkte Aufmerksamkeit bekommen. Aus Platzgründen kann ein Thema im vorliegenden Aufsatz leider nicht behandelt werden, das aber ein zentrales Element in der wissenschaftspolitischen Positionierung der Wörterbuch-Arbeiten darstellt: die Verbindung des 1921 gegründeten Kartells der großlandschaftlichen Dialektwörterbücher (Wörterbuch-Kartell) mit dem Verband wissenschaftlicher Körperschaften, auch Kartell der deutschen Akademien genannt.
Das Bayerisch-Österreichische Wörterbuch als »Dienst [an] der Heimat und der Nation«14 – aber welche Nation war gemeint? Gab es in Deutschland schon Ende des 19. Jahrhunderts durch Andreas Schmeller das »Bayerische Wörterbuch«, so wurde um 1900 geplant, ein Wörterbuch für den gesamten bairischen Sprachraum, also nicht nur Bayern, sondern auch die österreichischen Dialekte inkludierend, zu etablieren. Die Wiener Wörterbuchkanzlei wurde so bereits 1910 projektiert, ab 1911 wurden dann Kommissionen in den Akademien in Wien und München für ein Wörterbuch eingesetzt. Initiatoren waren der Indogermanist Ernst Kuhn, Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, und der Germanist Joseph Seemüller (1855–1920)15 in Wien. 1913 wurden die Kanzleien dann
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Vgl. Feichtinger/Geiger/Sienell, Die Akademie der Wissenschaften in Wien im Nationalsozialismus, S. 81–88; Michael Wedekind, Institut für Kärntner Landesforschung, in: Michael Fahlbusch/Ingo Haar/Alexander Pinwinkler (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Bd. 2: Forschungskonzepte – Institutionen – Organisationen – Zeitschriften, Berlin/Boston 2 2017, S. 1433–1444. Joseph Seemüller/Rudolf Much, Geleitwort zu einem Sprachschatz der österreichischbayerischen Mundart, Wien 1911 (Digitalisat, Forschungsabteilung »Variation und Wandels des Deutschen in Österreich«, ACDH-CH/ÖAW). Das Digitalisat ist frei verfügbar auch zu finden auf: https://fedora.phaidra.univie.ac.at/fedora/objects/o:9025 41/methods/bdef:Book/view (abgerufen am 15.1.2023). Joseph Seemüller war ein wesentlicher Protagonist der Wiener Dialektologischen Schule, die sich, primär phonetisch-phonologisch ausgerichtet, an dem junggrammatischen Diktum der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze orientierte, vgl. Irene Ranzmaier, Germanistik an der Universität Wien zur Zeit des Nationalsozialismus. Karrieren, Konflikte und die Wissenschaft, Wien 2005, S. 132.
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offiziell eingerichtet.16 Im ersten Arbeitsplan der Kanzlei in Wien von 1912 wird das Wörterbuch schließlich als Bayerisch-Österreichisches Wörterbuch bezeichnet.17 Die Dialektologen Anton Pfalz (1885–1958) und Walter Steinhauser (1885–1980) waren seit der Gründung an der Wörterbuchkanzlei beschäftigt. Joseph Seemüller, der als Begründer der Wiener Dialektologischen Schule gilt, war sowohl der Doktorvater von Pfalz als auch von Steinhauser und leitete seit 1913 mit Unterbrechungen die Kanzlei bis zu seinem Ableben 1920.18 Die Vorarbeiten des Wörterbuches in Form von Mundarterhebungen19 direkter (mit Aufnahmegeräten) und zuvorderst indirekter Art (mit Fragebögen an Lehrer und Pfarrer) in ganz Österreich wurden bereits seit dem Jahr 1912/13 durchgeführt. Ziel war, nach angemessener Datensammlung in dem dialektologischen Langzeitprojekt, einerseits die Produktion eines Wörterbuches und andererseits die Klärung dialektgeografischer Fragestellungen. Von 1913 bis 1932 wurden im Rahmen des Wörterbuchprojekts 109 Fragebögen mit ungefähr 20.000 Einzelfragen in indirekter Erhebung ausgesendet, in den 16
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Vgl. Ingo Reiffenstein, Die Geschichte des Wörterbuches der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ). Wörter und Sachen im Lichte der Kulturgeschichte, in: Isolde Hausner/Peter Wiesinger/Katharina Korecky-Kröll (Hg.), Deutsche Wortforschung als Kulturgeschichte, Wien 2005, S. 1–2. An dieser Stelle muss gesagt werden, dass Reiffensteins Geschichte des Wörterbuches eigentlich nur als Geschichte unter Anführungszeichen bezeichnet werden kann, da weder die gesellschaftspolitischen Kontexte und unterschiedlichen Staatsformen, unter denen die Wörterbuchkanzlei seit ihrer Gründung existierte, berücksichtigt werden, noch die personellen, epistemischen und institutionellen Verstrickungen der Wissenschaftler mit der Wissenschaftspolitik im Allgemeinen oder im späteren Fall mit der NS-Wissenschaftspolitik im Speziellen angesprochen werden. Das Beispiel von Reiffensteins »Geschichte« ist symptomatisch für jene Art von Geschichtsschreibung der Wiener Wörterbuchkanzlei vonseiten der Disziplin selbst, die zwischen Apologie, positivistischer Naivität und internalistischer Wissenschaftsgeschichtsschreibung changiert. Vgl. Arbeitsplan und Geschäftsordnung für das bayerisch-österreichische Wörterbuch 1912 (Digitalisat, Forschungsabteilung »Variation und Wandel des Deutschen in Österreich«, ACDH-CH/ÖAW). Vgl. Christoph König (Hg.), Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, Berlin 2003, S. 1701. Diese Vorarbeiten zur sogenannten lexikalischen Sammlung erfolgten laut Arbeitsplan durch die Ausfertigung von Fragebögen, durch Kundfahrten und durch die Verwertung von handschriftlichen lexikalischen Sammlungen, vgl. Arbeitsplan und Geschäftsordnung für das bayerisch-österreichische Wörterbuch 1912 (Digitalisat, Forschungsabteilung »Variation und Wandel des Deutschen in Österreich«, ACDH-CH/ ÖAW).
Die Sprache(n) auf der Karte
folgenden Jahrzehnten fanden weitere, teilweise auch direkte Erhebungen statt, bis im Jahr 1963 schließlich der erste Band des nunmehr Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich bezeichneten Langzeitprojekts publiziert wurde.20 Im 1911 verfassten und gedruckten »Geleitwort zu einem Sprachschatz der österreichisch-bayrischen Mundart« wurde das Ziel des Wörterbuchvorhabens folgendermaßen erläutert: »Zu seiner wissenschaftlichen Bedeutung gesellen sich heimatliche und nationale Triebkräfte. Es gilt ein Werk [sic!], das wertvolle, viel zu wenig gewürdigte Schätze stammheitlicher Besonderheiten der Verborgenheit und Vergessenheit entrückt, kräftigend auf das Stammesbewusstsein zurückwirkt, überall den Zusammenhang des Stammes mit der Nation aufweist und ihr damit dient.«21 Die Konzeption der Stammesdialekte ist es auch, die die gesamte Dialektologie des Deutschen lange prägen sollte und deren Begrifflichkeit letztlich bis heute Bestand hat. In einem Aufruf zum Sammeln bairischer Dialektworte in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde aus dem Jahr 1912 wurden nun die zu untersuchenden Gebiete dieses Wörterbuches der österreichisch-bayrischen Mundart aufgelistet: »Ein wissenschaftlich wie vaterländisch bedeutsamer Plan steht vor seiner Verwirklichung. Der Wortschatz der deutschen Mundart, die in Nieder- und Oberösterreich, in Steiermark, Kärnten, Tirol, Salzburg, im südlichen und südwestlichen Böhmen, im südlichen Mähren, in einem Teile Westungarns und in Sprachinseln gesprochen wird, soll gesammelt und bearbeitet werden. Die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien steht an der Spit20
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Vgl. Ingeborg Geyer, Institutsgeschichte WBÖ, in: Interdisziplinäre Tagung zur historischen Lexikographie, Berlin 2002 (Digitalisat, Forschungsabteilung »Variation und Wandel des Deutschen in Österreich«, ACDH-CH/ÖAW); dies., Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich: Rückblick auf 105 Jahre Erheben, Aufbereiten und Auswerten im institutionellen Rahmen der ÖAW, in: Sebastian Kürschner/Mechthild Habermann/Peter O. Müller (Hg.), Methodik moderner Dialektforschung. Erhebung, Aufarbeitung und Auswertung von Daten am Beispiel des Oberdeutschen, Hildesheim/ Zürich/New York 2019, S. 471–488. Joseph Seemüller/Rudolf Much, Geleitwort zu einem Sprachschatz der österreichischbayrischen Mundart, Wien 1911 (Digitalisat, Forschungsabteilung »Variation und Wandel des Deutschen in Österreich«, ACDH-CH/ÖAW).
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ze des Unternehmens und organisiert es durch eine aus ihren Mitgliedern gewählte Kommission.«22 Die Begriffe »Vaterland« oder »vaterländisch« tauchen auch zu späteren Zeitpunkten im Zusammenhang mit dem Wörterbuchprojekt immer wieder auf.23 Bereits an oben genannter Stelle bleibt allerdings unklar, welches Vaterland im Speziellen gemeint war. Auch wird deutlich, dass nicht alle Teile Cisleithaniens, in denen (Varianten des) Deutsch(en) gesprochen wurde(n), zum Untersuchungsgegenstand zählten.24 Dies spiegelt das Bild von Dialekt wider, das die Linguisten hatten: als bairischer Dialekt galt diejenige Mundart, die auf »den gesamtbairischen Stammesdialekt« zurückzuführen war, um das Bayerische ging es, »wenn es sich um den Staatsbegriff Bayern handelt[e], und zwar vorwiegend um Altbayern […]«25 , wie Eberhard Kranzmayer im ersten gedruckten Band des Wörterbuches zu verstehen gibt. Kranzmayer präzisiert in diesem Band, der erst in der Zweiten österreichischen Republik veröffentlicht wurde, dass die Wiener Kanzlei mit ihren Mundartsammlungen jenen Raum abdeckte, der »die jetzige Republik Österreich (ohne das alemannische Bundesland Vorarlberg) und darüber hinaus jene Teile von Böhmen, Mähren, der Slowakei, von Ungarn, Jugoslawien, Italien und der Schweiz, in denen der bairische Dialekt herrscht, ferner die ins Fremdland vorgelagerten Außenorte und unter ihnen mit besonderer Sorgfalt die alten Bauernsprachinseln, soweit sie bereits im Mittelalter mit Kolonisten aus dem bairischen Raum besiedelt worden waren«,26 beinhaltet. Dazu brauchten die Wissenschaftler beider Akademien »Sammler, die mit der Liebe zur Heimat Sinn und Verständnis für das Volkstümliche verbinden, die Mundart selbst sprechen oder mindestens kennen.«27 Was sich an den oben genannten Zitaten zeigt, ist die sehr spezifische Art, mit der Frage der Mehrsprachigkeit (zur Zeit der Monarchie) linguistisch umzugehen: nämlich sie aus der dialektologischen Karte weitgehend zu verbannen. Durch den besonderen Fokus auf die »Stammessprachen« des Deutschen
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Joseph Seemüller, Ein Wörterbuch der bayrisch-österreichischen Mundart. Aufruf, in: Zeitschrift für österreichische Volkskunde (1912), S. 188. Etwa im ersten Band des WBÖ, vgl. Eberhard Kranzmayer (Hg.), Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich. Bd. 1, Wien 1970, S. V. Vgl. ebd., S. VII. Ebd., S. V. Ebd., S. VII. Seemüller, Ein Wörterbuch der bayrisch-österreichischen Mundart, S. 188.
Die Sprache(n) auf der Karte
und durch die Konzeption konservativer Sprechergruppen als Lieferanten des ursprünglichsten Dialekts wurden sowohl Stadtsprachenphänomene ausgeblendet als auch Sprachkontaktphänomene zwischen Deutsch und anderen Sprachen in anderen deutschsprachigen Gebieten (etwa in Galizien), die nicht zweifelsfrei von einer deutschsprachigen Hegemonie zeugen konnten oder eine solche Interpretation leicht ermöglichten. Die Fixierung auf den Stamm ermöglichte es später auch, an das kulturgeografische Paradigma der Volksund Kulturbodentheorie anzuschließen, wie sich aufgrund späterer Beschäftigungszusammenhänge der Protagonisten der Wiener Wörterbuchkanzlei zeigen sollte.28 Dass Much und Seemüller sich auch schon in ihrem Geleitwort auf den Begriff des Stammes beziehen, ist daher an dieser Stelle keine terminologische Trivialität: der Begriff verweist einerseits auf die dialektologische Disziplin selbst, die bis heute gewisse Dialektgebiete nach den germanischen Stämmen bezeichnet, andererseits verweist der Stammesbegriff auf institutionelle wie auch epistemische Verwebungen mit anderen geisteswissenschaftlichen und der Dialektologie nahe stehenden (Hilfs-)Wissenschaften. Damit einher gehen auch Konzepte von Grenzen und Grenzräumen, wie sie in der Praxis der Kulturgeografie vorkommen, wodurch sich eindeutige konzeptuelle Überlappungen der dialektologischen Stammesideen und Stammeskontinuität mit den Begriffen und Ideen von »Volksboden« und »Kulturboden«29 ergeben, wo28
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Insbesondere die Arbeiten zum Burgenlandatlas oder die geisteswissenschaftlich-dialektologischen Netzwerke im Rahmen der späteren Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften stechen dabei ins Auge, vgl. Petra Svatek, »Der Burgenlandatlas«. Ein interdisziplinäres Atlasprojekt zwischen Erster Republik und NS-Zeit. Interdisziplinarität – Methodik – Politischer Konnex, in: Burgenländische Heimatblätter 71 (2009), S. 120–133. Diese Begriffe wurden vom Geografen Albrecht Penck geprägt. Penck schreibt 1925: »Wo deutsches Volk siedelt, ist deutscher Volksboden, da hört man deutsche Sprache und sieht man deutsche Arbeit. […] Man hat das deutsche Sprachgebiet mit dem deutschen Volksboden gleichgestellt und hat aus der Sprachenkarte die Ausdehnung und Lage unseres Volksbodens ersehen. Er dehnt sich von den Alpen bis zur Nord-Ostsee.« Was bei Penck folgt, ist eine Aufzählung des deutschen Volksbodengebietes in ganz Mitteleuropa, bis zum Memelland im Osten, wobei die »böhmische Gebirgsumrahmung« von Tschechen bewohnt sei. Des Weiteren: »Polen drängen sich zwischen Sudeten und dem ihnen vorlagernden Schlesien auf der einen und den Deutschen Preußens an der Ostsee auf der anderen Seite im Warte-und Neißegebiet […].« Penck schlussfolgert: »Ineinandergeteilt [sic!] sind entsprechend dem Laufe der Geschichte Deutsche und Slawen auf der Ostseite des deutschen Volksbodens und hat dieser schon
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bei die Fragen von Sprachraum und Sprachgrenze in einer sehr spezifischen Weise linguistisch behandelt werden. Auf den Punkt gebracht kann man sagen: Die kulturgeografische Perspektivierung des Volks- und Kulturboden-Paradigmas hat sowohl die dialektologische Frage nach dem dialektologischen Untersuchungsgegenstand beantwortet als auch die Relevanz der Produktion von Karten in der Dialektologie verschärft.30 In Bezug auf den Nationsbegriff wird deutlich, dass auch die Dialektologen im Wien der Zwischenkriegszeit »Nation« nicht im staatsrechtlichen Sinne interpretierten, sondern sich in einem weiteren Sinne auf eine Kulturnation des Deutschen oder des Deutschtums bezogen.
Die Wörterbuchkanzlei und die Kartenproduktion nach dem Marburger Vorbild Wie schon erwähnt, spielte Marburg für die Entwicklung dialektgeografischer Methoden im deutschsprachigen Raum eine zentrale Rolle: Die indirekten Fragebogenerhebungen, wie sie Georg Wenker und dessen Nachfolger Ferdinand Wrede in seinem Sprachatlas vollzogen, wurden auch von der Kanzlei in Wien übernommen. Die sprachgeografische Expertise etablierte sich in Wien jedoch erst nach und nach, wurde besonders von Anton Pfalz’ Schüler Kranzmayer
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im Westen zahlreiche offene Grenzstrecken, so wird dies im Osten zur Regel. Hierin liegt die große Schwierigkeit der Begrenzung eines rein nationalen Deutschlands.« Albrecht Penck, Deutscher Volks- und Kulturboden, in: Karl C. von Loesch/Arnold Hillen Ziegfeld (Hg.), Volk unter Völkern, Bücher des Deutschtums. Bd. 1, Breslau 1925, S. 64f. Der Begriff des Kulturbodens wird bei Penck nicht eindeutig definiert. Der Wissenschaftshistoriker Norman Henniges sieht den Begriff des Kulturbodens »einerseits als Bezeichnung für das agronomische Potential des Bodens für die landwirtschaftliche Nutzung, andererseits als Synonym für ›Kulturlandschaft‹ und schließlich darauf aufbauend auch im Zusammenhang mit den nationalen Konflikten innerhalb der Habsburgermonarchie als Schlagwort bzw. Kampfbegriff […]«. Norman Henniges, »Naturgesetze der Kultur«. Die Wiener Geographen und die Ursprünge der »Volks- und Kulturbodentheorie«, in: ACME. An International E-Journal for Critical Geographies 14 (2015) 4, S. 1314. Vgl. Jan David Braun, Mapping Language: linguistic cartography as a topic for the history of science, 3.11.2016, Abschnitt 2, https://hiphilangsci.net/2016/11/03/mapp ing-language (abgerufen am 15.1.2023).
Die Sprache(n) auf der Karte
extensiv genutzt und wiederum an dessen Schülergeneration31 weitergegeben. Die anfangs zögerliche Haltung der Wiener Dialektologischen Schule ergab sich nicht zuletzt aufgrund der junggrammatisch-phonologischen (und sprachhistorischen) Ausrichtung, die den stärker kulturwissenschaftlich ausgerichteten Marburgern die naturwissenschaftlich perspektivierte Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze32 im Schlaglicht der Sprachgeschichte entgegenstellte. Dennoch darf man sich von diesen vermeintlichen Unterschieden nicht täuschen lassen: Im Arbeitsplan des Wörterbuches aus dem Jahr 1912 ist eine Erstellung der Dialektgeografie unter dem Punkt »Vorarbeiten« aufgelistet.33 Die dialektologische Ausrichtung der Wiener war des Weiteren sehr wohl von kulturwissenschaftlich ausgerichteter Sprachforschung, etwa von der Wörter-und-Sachen-Forschung, die die volkskundliche und kulturgeschichtliche Sachdimension mit sprachlichen Ausdrücken verband und Sprachwandel mit Sachwandel zu erklären versuchte,34 mitgeprägt. Außerdem war die Sammlung dialektaler Ausdrücke, die von Laiensammlern durchgeführt worden war,35 einst in Form sogenannter Idiotika auch in den Wortsammlungen der Wörterbucharbeiter in Wien eine gängige Praxis, die nichts mit naturwissenschaftlicher »Genauigkeit« zu tun hatte, sondern intuitive und theoretisch unreflektierte Mundartforschung perpetuierte.36 31
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Einer dieser Schüler ist etwa Peter Wiesinger (vgl. Einleitung), der in Marburg promovierte und die Lehrstuhl-Nachfolge Kranzmayers am Institut für Germanistik der Universität Wien antrat. Vgl. Hadumod Bußmann/Claudia Gerstner-Link/Hartmut Lauffer (Hg.), Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart 2008, S. 390. Vgl. Arbeitsplan und Geschäftsordnung für das bayerisch-österreichische Wörterbuch, 1912 (Digitalisat, Forschungsabteilung »Variation und Wandel des Deutschen in Österreich«, ACDH-CH/ÖAW). Vgl. Dorothee Heller, Wörter und Sachen. Grundlagen einer Historiographie der Fachsprachenforschung, Tübingen 1998. Dies betraf regionale Varietäten ebenso wie Soziolekte verschiedener Art wie etwa die Soldatensprache. Gerade Letztere spielte inmitten des Ersten Weltkriegs eine nicht unwesentliche Rolle, die Wörterbuchkanzlei hatte offenkundig direkt im Feld einen Hauptmann, der der Kanzlei Sammlungen zuschickte und Fragebögen an die Soldaten zu verteilen gedachte. Wie aus einem Schreiben (vermutlich von Seemüller) hervorgeht, wurden die an der Universität Wien und an der Akademie wirkenden Germanisten Dietrich von Kralik, Walter Steinhauser und Anton Pfalz (alle bereits promoviert) im Jahr 1916 zum Kriegsdienst eingezogen, vgl. AÖAW, FE-Akten, Wörterbuchkommission, Kt. 4, Schreiben vom 31.3.1916. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die Dialektologen bisweilen genauso mit theoretisch nicht fundierten Konzepten hantierten wie die Laien, auf deren Sammlungen
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Kurzum: Wenngleich die Untersuchung des Materials junggrammatisch und phonologisch ausgerichtet war, so waren dennoch die Akkumulation des Sprachmaterials sowie der Gegenstand der Forschung selbst von einer naturwissenschaftlichen Expertise weit entfernt. In einem Bericht der Wörterbuchkanzlei von 1925 äußerte man Vorbehalte gegenüber der sprachgeografischen Methode aus Marburg und wollte diese diversen Prüfungen unterziehen: »Die Kommission hat ihre beiden Assistenten Dr. Pfalz und Dr. Steinhauser beauftragt, diese Fragen zu studieren, durch praktische Versuche Erfahrungen zu sammeln und Proben herzustellen, die ein Urteil über die wissenschaftliche Zulänglichkeit und die technische Durchführbarkeit der Dialektgeografie ermöglichen sollen.«37 Allerdings war man in den Folgejahren bereit, sich auf die Dialektgeografie einzulassen. Walter Steinhauser gibt nur ein Jahr später an, dass zwar aus technischen Gründen keine große Anzahl von Karten dem Bericht der Kanzlei beigefügt werden konnte, man allerdings Entwürfe zu vier größeren Ölblättern [gemeint sind damit Karten auf transparentem Ölpapier, Anm. J. D. Zimmermann] gemacht habe.38 So begann man also auch in der Wiener Wörterbuchkanzlei Karten zu produzieren, wie man 1929 erklärte: »Dabei wird das beim Sprachatlas des Deutschen Reiches erprobte und von der Wörterbuchkommission in Wien seit Jahren geübte Verfahren angewendet, das darin besteht, dass für die geografische Veranschaulichung sprachlicher Erscheinungen Pausblätter verwendet
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sie sich bezogen. Zum Problem der linguistischen Nicht-Theoretisierung von Konzepten von Sprache und Dialekt in der Wissenschaft selbst und für eine kritische Betrachtung der gemeinhin als qualitativ höherstehend angenommenen Konzeptionen von Sprache (bzw. Sprach-Wissen) vonseiten der Linguisten vgl. Manfred Glauninger, Zur Bedeutung von Sprache als Zeichen. Aspekte einer Soziologie des linguistischen (Sprach-)Wissens, in: Ioan Lăzărescu/Doris Sava (Hg.), Konstanz und Variation. Die deutsche Sprache in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Festschrift für Hermann Scheuringer, Berlin 2017, S. 145–153. Anton Pfalz, XII. Bericht der von der Akademie der Wissenschaften in Wien bestellten Kommission für das Bayerisch-Österreichische Wörterbuch für das Jahr 1924, Wien 1925, S. 1 (Digitalisat, Forschungsabteilung »Variation und Wandel des Deutschen in Österreich«, ACDH-CH/ÖAW). Vgl. Walter Steinhauser, XIII. Bericht der von der Akademie der Wissenschaften in Wien bestellten Kommission für das Bayerisch-Österreichische Wörterbuch für das Jahr 1925, Wien 1926, S. 3 (Digitalisat, Forschungsabteilung »Variation und Wandel des Deutschen in Österreich«, ACDH-CH/ÖAW).
Die Sprache(n) auf der Karte
werden, die über eine Grundkarte zu legen sind.«39 Diese Vorgehensweise sollte der langjährige Wörterbuchkanzleimitarbeiter Kranzmayer bis weit in die 1950er Jahre beibehalten, wobei erste Versuche von Pfalz in den frühen 1920er Jahren durchgeführt wurden, wie man u.a. an der Unterschrift auf einer der ersten gezeichneten Dialektkarten der Kanzlei erkennen kann.40 Des Weiteren spricht Pfalz im 14. Bericht der Wörterbuchkommission aus dem Jahr 1926 von der Publikation einer umfassenden Grundkarte41 des gesamten deutschen Sprachgebietes, die vom stellvertretenden Leiter des Deutschen Sprachatlas in Marburg, Bernhard Martin, erstellt worden war und Pfalz als wichtige Grundlage seiner Forschung diente.42 Man sieht daran, wie wichtig die Marburger Technik für das Wörterbuchprojekt wurde. Ganz allgemein kann man feststellen, dass die Dialektgeografie ihren Höhepunkt mit der linguistischen Kulturraumforschung nach dem der Marburger Forschung nahe stehenden Linguisten und germanistischen Mediävisten Theodor Frings hatte und dass der Nachfolger von Georg Wenker, Ferdinand Wrede, auf die fundamentale Bedeutung der historischen Geografie für das linguistische Karten-Zeichnen hinwies.43 In der Kulturraumforschung von Theodor Frings 39
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Schreiben vom 1. Juni 1929 an das Bundesministerium für Kultus und Unterricht (Ansuchen der Wörterbuchkommission der Akademie der Wissenschaften in Wien um Gewährung eines Druckkostenbeitrages für die Veröffentlichung von Arbeiten zur bayer.österr. Dialektgeographie). Im selben Schreiben ist davon die Rede, dass diese Bücher mit 10 Pausblättern und einer Grundkarte im Buchhandel erhältlich sein sollen. Die Transparentkarten sollten also auch von den Rezipient/inn/en über die (geografische!) Grundkarte gelegt werden. Besonders für den schulisch-pädagogischen Einsatz sollte diese Buchform Verwendung finden. AÖAW, FE-Akten, Wörterbuchkommission, Kt. 4. Solche Karten wurden nach dem derzeitigen Forschungsstand an der Kanzlei ab 1924 gezeichnet. Dies deckt sich mit den Angaben im Vorwort des ersten Wörterbuch-Bandes, vgl. Kranzmayer, Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich, S. 9. Grundkarten sind in der Dialektologie von unterschiedlicher Art. In der Regel ging es dabei aber um Karten mit geografischen Informationen, die unter Einhaltung kartografischer Standards produziert wurden und von professionellen Druckanstalten hergestellt wurden. Vgl. Anton Pfalz, XIV. Bericht der von der Akademie der Wissenschaften in Wien bestellten Kommission für das Bayerisch-Österreichische Wörterbuch für das Jahr 1926, Wien 1927, S. 66 (Digitalisat, Forschungsabteilung »Variation und Wandel des Deutschen in Österreich«, ACDH-CH/ÖAW). Die Grundkarte von Bernhard Martin, auf die Pfalz Bezug nimmt, findet sich in der dialektologischen Zeitschrift Teuthonista, vgl. Bernhard Martin, Deutsche Wortgeographie IV. Die Grieben, in: Teuthonista 3 (1927), S. 63f. Vgl. Wilking, Der Deutsche Sprachatlas im Nationalsozialismus, S. 66–70.
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erkennt man zudem einen Aspekt, der auch für die großlandschaftlichen Wörterbücher von großer Bedeutung sein sollte: dass man einen Zusammenhang zwischen den sprachlichen und den territorialen (historischen) Landschaften herstellte.44 Die Arbeit an der Dialektgeografie des Bairischen, die für das Wörterbuch gemacht wurde, bestand darin, dass man »verschiedene sprach- und siedlungsgeschichtlich belangreiche Erscheinungen der mundartlichen Lautgebung und des Wortschatzes kartografisch veranschaulicht«.45 Wie in einem Ansuchen an den Gemeinderat der Stadt Wien zur finanziellen Unterstützung der Arbeiten zu lesen ist, waren im Jahr 1929 bereits 200 solcher Karten gezeichnet, wobei diese noch im selben Jahr veröffentlicht werden sollten. Ziel der Dialektgeografie war es, so der Wortlaut in dem Ansuchen, dass sie »ausgehend von der lebendigen Volkssprache der Gegenwart die Geschichte der bairischen Stammesmundart und der in ihr sich spiegelnden Stammeskultur vor Augen führen wird.«46 Der Kontakt zu Marburg war nach späteren Aussagen Kranzmayers in den 1920er Jahren etwas getrübt durch fachliche Auseinandersetzungen bezüglich der detaillierten phonetischen Untersuchungen, die für die Marburger sekundär waren. Laut einer späteren Aussage Kranzmayers war in Bezug auf lautphysiologische Fragestellungen der Atlas linguistique de la France besser geeignet.47 Kranzmayer erklärte dabei in seinem Vorwort zum ungedruckten Dialektatlas Österreichs und seiner Nachbarländer 48 zu seinen spezifischen Ideen einer Dialektgeografie, dass insbesondere seine Studienzeit in Innsbruck bei dem Romanisten Ernst Gamillscheg und die Beschäftigung mit dem französischen Sprachatlas in ihm den Wunsch erweckte, »auch für meine Heimat eine ähnliche wissenschaftliche Grundlage zu schaffen«, wobei seine Anregungen
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Vgl. folgende, Ferdinand Wrede gewidmete Publikation: Theodor Frings, Rheinische Sprachgeschichte, Essen an der Ruhr 1924, S. 7–17. Schreiben vom 1. Juni 1929 an den Gemeinderat der Stadt Wien (Subventionsgesuch der Wörterbuchkommission der Akademie der Wissenschaften). AÖAW, FE-Akten, Wörterbuchkommission, Kt. 4. Ebd. Vgl. Vorwort von Eberhard Kranzmayer zum DAÖ, S. 3. ACDH-CH/ÖAW DINAMLEX, Sammlungen und Nachlässe Nr. 161, Kt. 3. Vgl. den darauffolgenden Abschnitt zu Kranzmayers Dialektatlas.
Die Sprache(n) auf der Karte
bei den Leitern der Wörterbuchkanzlei in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg noch kein Gehör gefunden hätten.49 Dies hatte wohl auch finanzielle Gründe, wie man an der Korrespondenz der Wiener Kanzlei und der Münchner Kanzlei aus den frühen 1920er Jahren erkennen kann. Auch die Rheinlandbesetzung im Jahr 1923 durch belgischfranzösische Truppen wird dabei wiederholt thematisiert. So schrieb Friedrich Lüers (1892–1963), der Kanzleileiter in München, an die Wörterbuchkanzlei in Wien (an wen genau adressiert ist unklar): »Über die Not unseres Volkes brauche ich Ihnen wohl nicht zu schreiben, darüber werden Sie durch die Presse ohnehin Unterrichtet [sic!] sein. Seit gestern ist für ganz Bayern der Ausnahmezustand verhängt und es sind dadurch und durch die Besetzung des Ruhrgebietes Verhältnisse und Stimmungen geschaffen, die nichts weniger als die Arbeitsstimmung und Freudigkeit erhöhen.«50 Nicht selten kommt in den Korrespondenzen auch das Thema der Inflation in Deutschland auf. Diese hatte natürlich einige Auswirkungen auf die gemeinsame Wörterbuchunternehmung, so musste man etwa, wie Lüers im Februar 1923 angibt, »bei der Opalograph-Vervielfältigung […] bleiben […], den Druck können wir uns nicht leisten.«51 Im selben Schreiben nimmt Lüers abermals auf die politische Situation im Ruhrgebiet Bezug: »Der Politische [sic!] Druck von außen wird immer stärker, Frankreich besetzt einen Ort nach dem andern, ein Vorgehen, das mich trotz aller damit verbundenen Schwere und Last freut, und zwar deshalb freut, weil, je bunter die Schweinehunde die Sache treiben, diese umso schneller so oder so zu einem Ende führt; und je schneller dieses Ende kommt umso besser ist es für uns.«52 In Bezug auf die Mundartgeografie schrieb Lüers an den Leiter der Wiener Kanzlei Anton Pfalz: »Ich möchte […] den dringenden Vorschlag machen, bei der Beschaffung der GRUNDKARTE [sic!] unter allen Umständen den bereits für den Deutschen Sprachatlas festgelegten Maßstab 1:1 Million die große
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Vorwort von Eberhard Kranzmayer zum DAÖ, S. 5. ACDH-CH/ÖAW DINAMLEX, Sammlungen und Nachlässe Nr. 161, Kt. 3. Schreiben von Friedrich Lüers an die Wiener Wörterbuchkanzlei, 27.1.1923. AÖAW, FE-Akten, Wörterbuchkommission, Kt. 4. Schreiben von Friedrich Lüers an die Wiener Wörterbuchkanzlei, 14.2.1923. AÖAW, FE-Akten, Wörterbuchkommission, Kt. 4. Schreiben von Friedrich Lüers an die Wiener Wörterbuchkanzlei von 14.2.1923. AÖAW, FE-Akten, Wörterbuchkommission, Kt. 4.
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und 1:5 Millionen die kleine Karte zugrundezulegen, damit wir nicht zweierlei Maßstäbe bekommen […].«53
Die Karten des Dialektatlas Österreichs und seiner Nachbarländer (DAÖ) und die Mundartgeografie des Wörterbuches Eberhard Kranzmayer, der ab 1926, dem Jahr seiner Promotion, abwechselnd an den Kanzleien in Wien und München arbeitete, sich in der NS-Zeit beim SS-Ahnenerbe und der völkischen Kärntner Wissenschaft engagierte54 und ab 1949 an der Wiener Akademie wieder Fuß fassen konnte,55 war also, wie wir feststellen konnten, regelmäßig damit beschäftigt, an Werken zur Dialektgeografie zu arbeiten. Seine Entwürfe zu einem Atlaswerk sind unter dem Arbeitstitel Dialektatlas Österreichs und seiner Nachbarländer, kurz DAÖ genannt, am geläufigsten, jedoch besaß der Atlas – zum Teil je nach politischer Situation – unterschiedliche Arbeitstitel.56 Dieser Dialektatlas wurde nie als gesammeltes Kartenwerk publiziert, obwohl seine Karten für die Arbeit am Wörterbuch immer wieder herangezogen wurden und die Drucklegung mehrmals, auch kurz vor Kranzmayers Ableben 1975, in Angriff genommen wurde. Bemerkenswert ist, dass diese Karten in einem Zeitraum von 40 Jahren entstanden und »einen h i s t o r i s c h e n (sic!) Atlas der Sprache unserer konservativsten österreichischen Bauernbevölkerung vor ein bis zwei Menschenaltern« darstellten, wie Kranzmayer in einer 1974 veröffentlichten Allgemeinen Einführung in
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Schreiben von Friedrich Lüers an die Wiener Wörterbuchkanzlei, 20.9.1923. AÖAW, FE-Akten, Wörterbuchkommission, Kt. 4. Vgl. Martin Fritzl, Die »Kärntner Wissenschaft« im Dienste des Nationalsozialismus und die Slowenen. Dienste der Wissenschaft für das NS-Regime am Beispiel Martin Wuttes und des »Instituts für Kärntner Landesforschung«, phil. Diss., Wien 1991; vgl. auch Wedekind, Institut für Kärntner Landesforschung. Vgl. Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1949, Wien 1950, S. 44. Die verschiedenen Namen, die man anhand der unterschiedlichen Kartenbilder ausmachen kann, lauteten: Bayerisch-Österreichischer Mundartatlas, Ostoberdeutscher Sprachatlas, Südostdeutscher Mundartatlas, Dialektatlas Österreichs und seiner Nachbarländer sowie Atlas der Dialekträume in und um Österreich bezogen auf die Bauernmundarten um 1930; zum Atlasprojekt in der NS-Zeit vgl. Feichtinger/Geiger/ Sienell, Die Akademie der Wissenschaften in Wien im Nationalsozialismus, S. 81–85.
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den Atlas der Dialekträume in und um Österreich bezogen auf die Bauernmundarten um 1930 angibt.57 Aber welches Österreich war gemeint? Schließlich ging es um den Dialektraum des Jahres 1930, nicht aber um die politischen Grenzen der Ersten Republik, denn »[s]chon seit 1918 hat unser Atlas (gemeint ist die Mundartgeografie des Wörterbuchs, Anm. J. D. Zimmermann) die Verpflichtung übernommen, unsere neuen Staatsgrenzen auf langen Strecken zu überschreiten und den Großraum des bairischen Dialekts möglichst zur Gänze einzubeziehen. Das gesamtbairische Gebiet erstreckt sich heute über nicht weniger als acht Staaten, nämlich mit seinem Kern über den Großteil Österreichs und Bayerns, weiters an den Rändern über Teile der Schweiz, Italiens, Jugoslawiens, Ungarns, der ČSSR und der DDR.«58 Kranzmayer präzisiert hinsichtlich der Problematik langer Zeitspannen folgendermaßen: »Die Wahl des Jahres 1930 als Durchschnittsdatum, auf das die Grundkarte und somit alle Dialektkarten unseres Atlas festgelegt sind, stützt sich hauptsächlich auf Ereignisse, die unserem Bestreben, auch die Situation der Mundarten der Randgebiete Österreichs zu erfassen, sehr entgegenkamen. In dieser Zeit wurden vom Innenministerium der Ersten Republik Volkszählungen in ganz Österreich durchgeführt. In Zusammenhang damit wollte man vor allem in den südlichen und östlichen ethnischen Mischzonen des Landes die Gebiete deutscher Haussprache erfassen.«59 Eberhard Kranzmayer gibt zudem an: »Das neue Werk wurde nach einigen vorausgegangenen Versuchen anderer Forscher von mir im Jahre 1926, dreizehn Jahre nach Gründung der Kanzlei, planmäßig in Angriff genommen. Fast 57
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Eberhard Kranzmayer, Allgemeine Einführung in den Atlas der Dialekträume in und um Österreich bezogen auf die Bauernmundarten um 1930 (Veröffentlichung der Kommission für Mundartkunde und Namenforschung), Wien 1974, S. 10. Ebd., S. 10; zur Verösterreicherung nationalsozialistischer Forschung u.a. am Beispiel von Kranzmayers Lautgeografie und Dialektatlas vgl. Johannes Feichtinger/Katja Geiger, Transformierte Kontinuitäten. Akademieforschung nach 1945 im Schatten des Nationalsozialismus, in: Feichtinger/Mazohl (Hg.), Die Österreichische Akademie der Wissenschaften 1847–2022. Bd. 2, S. 212–217. Kranzmayer, Allgemeine Einführung in den Atlas der Dialekträume in und um Österreich bezogen auf die Bauernmundarten um 1930, S. 9.
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die gesamte Arbeit am Dialektatlas, angefangen von der Auswahl der zuständigen Fragen bis zu den druckfertigen Karten und Skizzen, liegt seither in meinen Händen.«60 Kranzmayer fertigte in den vier Jahrzehnten ca. 1.400 Karten auf Transparentpapier an, wobei er zusätzlich noch hunderte kleinformatige Karten und hunderte Probedrucke produzierte. Für die großformatigen Transparentkarten verwendete er offenkundig bis in die 1950er Jahre eine geografische Grundkarte, die auf Grundlage von Josef/Joseph von Schedas61 Karte der Monarchie62 bearbeitet worden war, und zwar von Karl Peucker63 im Maßstab eins zu einer Million.
Zusammenfassung Wir haben es bei Sprachkarten dialektologischer Façon nicht einfach mit Karten zu tun, die auf politische Grenzverschiebungen und territoriale Umbrüche geradlinig reagierten, sondern die in sehr eigentümlicher Weise mit dem historischen Zusammenhang und den Konzeptionen von Sprache, Kultur und Nation umgingen. In Bezug auf das in den Fokus gestellte Wörterbuchprojekt an der Akademie der Wissenschaften in Wien zeigt sich, dass der Dialektologe Eberhard Kranzmayer der federführende Protagonisten war und die treibende Kraft in der Kartenproduktion darstellte und in einem großen Zeitraum die Karten seines Dialektatlasses anfertigte, wobei der Beginn der regelmäßigen Kartenproduktion in der Mitte der 1920er Jahre liegt. Kranzmayers Arbeiten an diesem Dialektatlas Österreichs und seiner Nachbarländer hängen dabei aber untrennbar mit der projektierten Mundartgeografie des Wörterbuches zusammen, jener Mundartgeografie, die bereits im Arbeitsplan von 1912 angesprochen wird und an der also von der Zeit der Monarchie bis zur Ersten Republik,
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Ebd., S. 1. Josef/Joseph von Scheda (1815–1888), Generalmajor, Geograph und Kartograph des k.u.k. militärgeographischen Instituts, vgl. Peter Broucek/F. Hillbrand-Grill, Scheda, Josef von, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950. Bd. 10, Wien 1994, S. 56f., https://www.biographien.ac.at/oebl_10/56.pdf (abgerufen am 15.1.2023). Welche Karte von Scheda hier gemeint ist, ist allerdings ebenfalls wieder unklar. Zwei Karten stehen zur Auswahl, nämlich die Generalkarte von Centraleuropa (1871) oder aber die Generalkarte des Österreichischen (1870). Karl Peucker (1859–1940), österreichischer Geograf und Kartograf, vgl. Ingrid Kretschmer, Peucker, Karl, in: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), S. 280f., https://www .deutsche-biographie.de/gnd116138777.html (abgerufen am 15.1.2023).
Die Sprache(n) auf der Karte
von der Zeit des Ständestaates bis zum Nationalsozialismus und schließlich bis in die Zweite Republik weitgehend ungebrochen gearbeitet wurde. Am Beispiel der Dialektwörterbücher und der damit verbundenen Sprachkartografie sehen wir Folgendes: Erstens haben wir es mit einer spezifischen regional-territorialen Konzeption der sprachlichen (dialektalen) Verbreitung der Varianten des Deutschen zu tun. In der Wörterbucharbeit spiegelt sich dabei die Konzeptualisierung der Bedeutung territorialer Landesentwicklung, wie sie Gegenstand historischer Geografie, Kulturgeografie, Volkskunde und Siedlungsgeschichte war, wider. Zweitens werden die verschiedensten historischen Ebenen sowohl in der Wörterbucharbeit als auch in der Produktion von dialektologischen Sprachkarten miteinander verschmolzen. Wenngleich Kranzmayer auf die Historizität seines Atlasses und seiner Karten hinweist, antizipiert er mit der Melange an unterschiedlichen Zeitebenen, in denen die Mundartgeografie des Bairischen projektiert und produziert wurde, durchaus Vorgänge wie die Fehlrezeption der Historizität der Wiesinger-Karte. Bemerkenswert ist auch, dass Kranzmayers historischer Atlas in seinem Selbstverständnis als linguistischer Atlas nicht die großflächigen Bevölkerungsverschiebungen im Mitteleuropa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts reflektiert; man könnte meinen, das Bairische steckt(e) in einer Zeitkapsel, unberührt von der Dynamik gesprochener Sprache, Flüchtlingsbewegungen oder dem Kontakt mit anderen natürlichen Sprachen. Der Dialekt, auf der Karte fixiert wie ein entomologisches Präparat, wurde so zu einem Konzept, das für die Dialektologen untrennbar mit dem kartografischen Blick auf Raum und Sprache verbunden war und dessen Befreiung aus der Statik des Kartenbildes bis heute nicht erfolgreich abgeschlossen ist.
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»Deutsch bis auf die Knochen« Czernowitz als Sinnbild kakanischer Kontinuität in der deutschen Öffentlichkeit der 1930er Jahre Andrei Corbea-Hoişie In den Katalogen der Leipziger Deutschen Bücherei1 und der Staatsbibliothek zu Berlin2 taucht unter dem Stichwort »Czernowitz« ein Titel auf, der überhaupt nicht dem üblichen dokumentarisch-wissenschaftlichen Profil der Publikationen zur ehemaligen Bukowiner Metropole entspricht: Es handelt sich um einen Kriminalroman von Otto Schwerin, der 1935 im Berliner Eden-Verlag als 37. Band der Reihe »Moderne Bücherei« erschienen ist und den zu dem Genre gut passenden Titel Bessy tanzt in Czernowitz trägt. Über den Autor, der wahrscheinlich ein verbürgerlichter Spross der alten adeligen Familie der Schweriner war, weiß man heute nicht viel: Laut den Einträgen in Kürschners Deutschem Literatur-Kalender, wo der Name zum ersten Mal im 40. (1922) und zum letzten Mal im 47. Jahrgang (1934) verzeichnet ist,3 war der am 22. März 1890 in Frankfurt a.M. geborene Otto Schwerin als Redakteur in der Filmfachpresse tätig; er starb am 13. Dezember 1936.4 Es gibt keine klaren Hinweise, ob das Schwellenjahr 1933 schwerwiegende Auswirkungen auf die Publikationsmöglichkeiten
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Signatur SA 7400–37. Signatur Yt 747/860-37. Vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1922, 40 (1922), S. 806; idem, 41 (1924), S. 853; idem, 42 (1925), S. 782; idem, 43 (1926), S. 926; idem, 44 (1928), S. 1075; idem, 45 (1930), S. 1158; idem, 46 (1932), S. 1317; idem, 47 (1934), S. 778. Zwischen 1920 und 1935 soll Otto Schwerin (auch unter dem Pseudonym Guido Haller) 25 Kriminaloder Kolportageromane und -erzählungen veröffentlicht haben; nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein Manuskript aus seinem Nachlass aufgetaucht und wurde ebenfalls veröffentlicht. Information aus der Webseite der Deutschen Nationalbibliothek http://d-nb.info/gnd /139570357 (abgerufen am 15.1.2023).
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von Schwerin gehabt hatte; nachdem er 1933 und 1934 keinen Titel veröffentlicht hatte, konnte er während des Jahres 1935 nicht weniger als vier Romane, darunter auch den oben erwähnten Bessy tanzt in Czernowitz, veröffentlichen.5 *** Zweifellos gehört Otto Schwerins Bessy tanzt in Czernowitz nicht zu den glänzendsten Leistungen der Gattung im Deutschland der 1930er Jahre. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine Tänzerin, die im Auftrag des polnischen Geheimdienstes ins nach 1918 rumänisch gewordene Czernowitz geschickt wird, um die Entwurfszeichnungen einer neuen, von der rumänischen Armee geplanten Schnellfeuerkanone zu ergattern. Die hübsche Bessy, die eigentlich Edna Gravenkamp heißt und als Deutsche aus Böhmen einen tschechoslowakischen Pass besitzt, war zunächst mit einem Hochstapler namens Kirschenkuchen liiert, der in Ungarn für Rumänien spionierte; als man in Bukarest feststellte, dass die beiden keinen Nutzen bringen, werden sie nach Polen abgeschoben, wo Ednas Partner im Gefängnis landet, während sie als Spionin rekrutiert wird. In Czernowitz wird sie in einem Varieté für einen Monat beschäftigt; ihre Aufgabe ist, sich bei jenem rumänischen Offizier anzubiedern, der unmittelbar an den Plänen der neuen Kanone arbeitet: Zufällig ist er deutscher Abstammung, heißt Delius, hatte im Ersten Weltkrieg in der k.u.k. Armee gedient und wurde dann von der rumänischen Armee übernommen. Ihr Mittelsmann hier, ein älterer Herr namens Simon Reisch, ist Besitzer eines kleinen Bankgeschäfts; dieser soll sie betreuen und möglichst auch beschützen. Es gelingt ihr, Delius zu begegnen, aber sie verlieben sich ineinander, was dazu führt, dass ihr die Erfüllung des Auftrags unmöglich wird. Sie gesteht dem verblüfften Delius ihre Agententätigkeit und kehrt nach Warschau zurück. Mittlerweile werden während einer Abendgesellschaft im Hause eines hohen Bukarester Militärs gerade die besagten Unterlagen über die neue Kanone von einer unbekannten Dame gestohlen. Der Chef der rumänischen Gegenspionage, ein gewisser Orghidan, der sehr genau zu wissen scheint, was sich zwischen der Tänzerin Bessy und dem Hauptmann in Czernowitz abgespielt hatte, behauptet, dass es Edna selbst war, die die Dokumente in Bukarest
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Alle weiteren Romane erschienen ebenfalls im Berliner Eden-Verlag: Flammen über Sachsen, Mordsache Feldmarschalleutnant P., Musette macht Weltgeschichte.
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entwendete, und besteht darauf, dass Delius verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt wird. In Warschau gelingt es Edna jedoch, die Bukarester »poste restante«-Adresse desjenigen herauszubekommen, der tatsächlich für Polen spionierte; die Spur wird von ihrem Vertrauten Simon Reisch und dem Bukarester Polizei-Kommissar Fuchs bis zur Entlarvung des Spions weiter verfolgt, der kein anderer als der besagte Chef der rumänischen Gegenspionage ist. Delius wird befreit, heiratet Edna und verlässt die rumänische Armee, um eine Stelle als Direktor in einer französischen Autofabrik einzunehmen, während sein Gegenspieler in Bolivien diesmal im Dienste der Amerikaner stirbt. *** Jenseits der Routine, eine für den Thriller typische Handlung aufzubauen, in deren Mittelpunkt nicht das »Rätsel«, sondern das »Ereignis« steht6 und die Spannungskurve »im ständigen Wechsel ansteigt und abfällt«, damit die Neugierde der Leser wach gehalten wird,7 spürt man besonders in der Figurenkonzeption den Hang zur klischeehaften Vereinfachung. Otto Schwerins routinierte Technik erscheint in Sachen »Wahrscheinlichkeit« ziemlich nachlässig, und überhaupt zeugt der Handlungsaufbau von einer sichtlichen Einfallslosigkeit, wenn nicht vom narrativen Leichtsinn im Umgang mit den für einen Thriller immerhin unvermeidlichen Stereotypen.8 Als Spionageroman9 unterliegt Bessy tanzt in Czernowitz jedoch auch gattungsmäßigen Zwängen anderer Sorte. Die Verlegung der kriminalistischen Intrige in eine Konstellation, wo der Kampf gegen das »Böse« im Namen staatlicher Interessen geführt wird, bestimmt nolens volens das Verhalten und die Motivationen der Figuren in politischer Hinsicht. Diese Art von Abenteuerroman, dessen Quellen in der parallelen, an die Öffentlichkeit angepassten propagandistischen Kriegsführung des Ersten Weltkriegs liegen, wird automatisch zum »Polit-Thriller« und dadurch ebenso »Zeitkritik und
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Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart/Weimar 3 2003, S. 49. Ebd., S. 53. Man kann mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass Otto Schwerins Roman Bessy tanzt in Czernowitz von Gregor von Rezzori (vielleicht noch in den 1930er Jahren) gelesen wurde, der eine ganze Reihe von Elementen daraus in seinen Erfolgsroman Der Hermelin in Tschernopol (Hamburg 1958) übernommen und bearbeitet hatte. Für Nusser stellt der Spionageroman ein Untergenre des Thrillers dar, vgl. Nusser, Kriminalroman, S. 110.
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littérature engagée«.10 Die Negativ-Bilder sind auf diesem thematischen Feld ideologisch aufgeladen, während die Voreingenommenheit der Autoren, die mit den kollektiven Ängsten des Zielpublikums spielen, um Affekte gegen einen vermeintlichen Feind zu schüren,11 als selbstverständlich betrachtet wird. Im Falle unseres Textes wirft seine Zugehörigkeit zu dieser Kategorie von Kriminalromanen Fragen auf, die sich unmittelbar auf die Zeit von dessen Erscheinen beziehen. Die Tatsache, dass der sonst sehr fleißige Autor nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und den radikalen Säuberungen auf dem deutschen Kulturfeld zwei Jahre keinen neuen Titel veröffentlichte, kann immerhin zu der Vermutung führen, dass er gewisse Schwierigkeiten hatte, sei es mit der neu eingeführten Zensur, sei es mit den Behörden wegen mutmaßlicher vergangener »Lasten« politischer oder literarischer Natur. Eine Lektüre des Romans im Lichte solcher Voraussetzungen ruft interessante, wenn auch widersprüchliche Überlegungen hervor. Man kann z.B. von der Gewissheit ausgehen, dass die Verortung des Romans in Osteuropa, einschließlich der Erwähnung von Czernowitz im Titel, in erster Linie ein Signal für das im Verhältnis zu Deutschland geografischhistorisch Unbekannte und sogar Exotische darstellt – ein übliches Verfahren, das das Interesse des Krimi-Lesers durch »die Vergnügen bereitende Abweichung vom Normalen«12 erwecken sollte und (zumindest was die Auswahl solcher aufsehenerregender Buchtitel betrifft) von Otto Schwerin ständig angewendet wurde.13 Andererseits kann diese »Flucht« auch eine vorsichtige Distanzierung von allzu nahen politischen Vorkommnissen und Umständen bedeuten, die in einem Spionageroman politische Aspekte und Solidarisierungen impliziert hätten, von denen sich der Autor aus verschiedenen Gründen fernhalten wollte. Man kann mit einer gewissen Berechtigung in solchem Verhalten eine Bemühung mancher Autoren erkennen, sich aus der alltäglichen Realität des »Dritten Reiches« und seiner bevormundeten offiziellen Literatur zurückzuziehen: Wenn die Kriminalromane gewöhnlich nicht in Deutschland
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Hans-Peter Schwarz, Phantastische Wirklichkeit. Das 20. Jahrhundert im Spiegel des Polit-Thrillers, München 2006, S. 11 Vgl. Nusser, Kriminalroman, S. 163ff. Ebd., S. 161. Vgl. den Fall seines Romans Venus vulgivaga (Der letzte Schuß), Leipzig 1923, dem er auch eine einführende Erklärung zum Titel »für eine gewisse Sorte von Sittlichkeitsschnüfflern, deren durch konkave Brillengläser halbverdeckte Augen entsetzt auf dem Buchumschlag ruhen werden usw.« (S. 5) hinzufügen musste.
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spielten, denn Mord und Verbrechen hätten nur in einem dekadent-extravaganten Umfeld stattfinden können,14 so durfte auch das Treiben der Geheimdienste (der deutschen inklusive) nicht ins öffentliche Gerede kommen, was andererseits Autoren von Spionageromanen wie Otto Schwerin auch vor schallenden Treuebekenntnissen zum Regime bewahrte. Die Tatsache, dass in manchen Stellen in Bessy tanzt in Czernowitz auch Formulierungen der politischen Vulgata seiner Entstehungszeit in Kommentaren des Autors oder Äußerungen verschiedener Figuren hervortreten, muss andererseits nicht unbedingt als ein deutlicher Hinweis auf den Druck der Zensur aufgefasst werden. Otto Schwerin kannte vermutlich die Regel der Populärliteratur gut, in der der lesende »kleine Mann« sich in der Kombination zwischen Gemeinplätzen aus dem Volksmund und den in der Öffentlichkeit kommunizierten Pressefloskeln »bestätigt« fühlen mag. Bemerkungen wie jene über die »Grenzverhältnisse auf dem Balkan, über die noch lange das letzte Wort nicht gesprochen wurde« (S. 30), über die »hinterhältige« Politik Rumäniens (S. 76) oder dass Rumänien »für den Krieg rüstet«, obwohl ein Krieg für dasselbe Rumänien »das größte Unglück« wäre (S. 104), hatten jedoch beim deutschen Publikum Mitte der 1930er Jahre nicht nur die Funktion, den »an die Gegenstände gebundenen ›Naturalismus des Details‹«15 hervorzuheben, sondern auch die nach 1933 signifikante Verschiebung politischer Interessen Deutschlands, das jetzt als alleiniger Träger der imperialen Mitteleuropa-Idee fungierte, Richtung Osten und Südosten Europas. Eine augenfällige Überheblichkeit gegenüber dem osteuropäischen und besonders dem rumänischen Offizierskorps lässt sich aus dem ganzen Text entnehmen: Die Szenen, in denen ranghohe rumänische Generäle die Rüstungsfragen des Heeres und die Spionageaffären zwischen verschiedenen Tafelrunden lösen, nehmen groteske Züge an; sie entsprechen somit von vornherein einem in der deutschen Öffentlichkeit geläufigen Urteil über die institutionelle Lässigkeit in den Führungskreisen und auch bei den Geheimdiensten der infolge des von Deutschland und Österreich-Ungarn verlorenen Ersten Weltkriegs 14
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Vgl. Vincent Platini, Lire, s’évader, résister. Essai sur la culture de masse sous le IIIe Reich, Paris 2014, S. 233ff. In der Einführung zum Band Krimi. Une anthologie du récit policier sous le Troisième Reich (Toulouse 2014) beschreibt der Herausgeber Vincent Platini die Mechanismen der spezifischen Zensur für die nach 1933 in Deutschland – trotz des offenen Missfallens seitens der offiziellen Propagandastellen – erschienenen Krimis, von der »Reichsschrifttumskammer« bis zur »Beratungsstelle für Unterhaltungsliteratur«, S. 13–17. Nusser, Kriminalroman, S. 65.
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neu entstandenen Staatsstrukturen. Solche in Warschau oder in Bukarest platzierte Figuren vermitteln etwas Operettenhaftes, wobei als ihr Pendant ehrenfeste und ernsthafte Gestalten wie der ehemalige österreichische Offizier Delius oder in gewisser Hinsicht auch der polnische Major Sembratowicz (der Deutsch akzentfrei sprach, da er im Großen Krieg in einem preußischen Infanterieregiment gegen die Russen gekämpft hatte) auftreten. Vielleicht ist es gar nicht zufällig, dass dieser Delius zum Sprachrohr von Standpunkten gemacht wird, die für die deutschen Verhältnisse der 1930er Jahre und überhaupt für den kleinbürgerlichen Erwartungshorizont politisch und moralisch äußerst kompatibel klingen: Spione nennt er »Lumpen« und »Schurken«, ihr Handwerk »dreckig« und »verächtlich« (S. 105f.). Symptomatisch ist dabei der alleinige Hinweis auf Spionageepisoden aus den letzten Jahren der k.u.k. Monarchie – als Verfallszeichen der Habsburgermacht – und das Meiden jeglicher deutscher Beispiele derselben Kategorie. *** Gerade aus dieser Perspektive darf man sich die Frage stellen, inwiefern die Platzierung der Romanhandlung in Czernowitz, der Hauptstadt des ehemaligen k.u.k. Kronlandes Bukowina, ganz zufällig ist oder nicht – und dies umso mehr angesichts deutlicher Indizien, dass der Autor nie dort gewesen ist.16 Einen Grund dafür hat der Autor selbst in einem Abschnitt des Romans suggeriert, wo er sich bemühte, die Leserschaft in den allgemeinen politischen Rahmen des Plots einzuführen: Es handle sich hier um die »Grenzverhältnisse Neurumäniens und seine dadurch bedingten militärischen Aufwendungen und Anstrengungen« und um die vermutliche Existenz von »Zentren der
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Entsprechend jener »Sorge« des Spionageromans, »informativ« und »authentisch« zu sein, so dass er »den Leser um die ganze Welt« schleppt, das Lokalkolorit kultiviert und »die Genauigkeit des Details gewissenhaft« respektiert (vgl. Pierre Boileau/Thomas Narcejac, Der Detektivroman, Neuwied 1967, S. 175), scheint Schwerin seine Grundinformationen über Czernowitz aus einem Lexikonartikel oder bestenfalls aus einem älteren, aus der österreichischen Zeit stammenden Stadtführer entnommen zu haben. Die Bukarester Referenzen sind allerdings im Vergleich dazu viel präziser und verlässlicher – man kann nicht ausschließen, dass Otto Schwerin die Hauptstadt Rumäniens besucht hatte, zumal er schon in den 1920er Jahren mindestens noch einen Roman mit dem berüchtigten Orghidan als Hauptfigur veröffentlichte, vgl. Otto Schwerin, Rittmeister Orghidan, der Diplomat, Berlin 1924.
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Balkan-Spionage« in »Kischinew, Jassy, Czernowitz und natürlich auch Bukarest« (S. 30). Unter den genannten Städten lag aber keine in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg so nah an einer Grenze wie Czernowitz – eine Grenze (zu Polen und der Sowjetunion), die nach 1918 von vielen Bukowinern als ein symbolisch-schmerzlicher Einschnitt ihres direkten Zugangs zu Mitteleuropa empfunden wurde.17 Sie wurde sehr rasch zu einem mythischen, das damalige Imaginäre der Bevölkerung beflügelnden Limes, an dem sich einerseits unglaubliche Abenteuer kühner Schmuggler abgespielt haben sollen, während er andererseits eine gefährliche Begegnungs- und Trennungszone beiderseitiger politisch-militärischer Subversion zwischen Rumänien und Sowjetrussland darstellte.18 Eine erhöhte Reichweite sollte jedoch beim deutschen Publikum der 1930er Jahre – auch wenn es sich nur um Krimi-Leser handelte – ein anderes Element bewirken. Die wichtigste Auskunft über Czernowitz, die Otto Schwerin hier nur als Bestätigung des Bekannten übermitteln zu müssen meinte, war diejenige, die das Durchhaltevermögen der Deutschsprachigkeit in der an Rumänien angeschlossenen Hauptstadt des ehemaligen k.u.k. Kronlandes betraf.19 »Czernowitz war bis zum Friedensschluß beinahe die deutscheste Stadt der ganzen österreichischen Monarchie. […] wir waren eine Oase in der
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Vor dem Ersten Weltkrieg soll in Czernowitz – damals wegen seiner Nähe zur rumänischen Grenze – ein österreichisches Spionagebüro bestanden haben, das die Aufgabe hatte, die rumänischen Angelegenheiten auszuforschen. Dieses habe sogar diversionistische Aufgaben während des großen Bauernaufstandes in Rumänien 1907 übernommen, vgl. Eduard Fischer, Krieg ohne Heer. Meine Verteidigung der Bukowina gegen die Russen, Wien 1935. In der Zeitspanne, in der Otto Schwerin seinen Roman niederschrieb, waren die militärischen Kreise Rumäniens eher über die potenzielle Bedrohung besorgt, die von der Demarkationslinie zur Sowjetunion herrührte und die man ebenso mit der gerade in Czernowitz eifrig betriebenen kommunistischen Agitation verknüpfte; wahrscheinlich um den in diesem Kontext absehbaren Komplikationen mit der Buchzensur auszuweichen, hatte Otto Schwerin den weitaus bequemeren Einfall, eine Spionagegeschichte ohne ideologische Verflechtungen und Risiken zu spinnen, in der die (in Wirklichkeit unwahrscheinlichen) Kontrahenten an der Czernowitz naheliegenden Grenze die eigentlich verbündeten Geheimdienste Polens und Rumäniens spielten. Auch ein auf Rumänisch erschienener Roman von Ury Benador (Final grotesc, București 1940), der am Ende der 1930er Jahre spielt, enthält eine ähnliche Beobachtung über den Czernowitzer Alltag: »Se vorbește numai nemțește. E ceva de Viena aici, fie și o Vienă de operetă« [»Man spricht nur deutsch. Es riecht hier nach Wien, wenn auch nach einem Operetten-Wien«], S. 185.
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Wüste, waren deutsch, deutsch bis auf die Knochen. Deutsche Universität, deutsche Straßenbezeichnungen, deutsche Schule, deutsches Theater. […] wir waren stolz darauf, Deutsche zu sein« – klärt Simon Reisch in pathetischzornigem Ton seine neue Protegée Bessy auf. Und er fährt fort in seiner dem Wienerischen ähnlichen Tonart: »Und heute?! – Diese rumänischen Zigeuner sind uns hier, in der nördlichen Bukowina, vollkommen fremd. Hier haben kaum einige Bauern und Analphabeten rumänisch gesprochen, – heute saan wir Rumänen […]. Heute wohnen wir statt in Czernowitz in Cernauti« (S. 84f). Diese für Simon Reisch angeblich schmerzliche Lage wird von ihm auch als Grund für seine Agententätigkeit zugunsten der polnischen Spionage angegeben: »Aber diesen Rumänen zu schaden, wo ich nur schaden kann, das ist heute meine Passion« (S. 85). Der Czernowitzer Bankier will damit auf seine eigene Weise Rache an den Folgen der von vielen deutschen Lesern als ungerecht empfundenen Friedensverträge von Versailles und Saint Germain nehmen – was dem Propagandaministerium im Berlin des Jahres 1935 nur genehm sein konnte! Jenseits aller historisch-ethnografischer Unstimmigkeiten betreffs Bukowina, die gerade in derartig vereinfachenden Diskursen gedeihen,20 sieht dennoch die gerade in diesem Roman geschilderte Welt Mittel- und Osteuropas vom Standpunkt des Status der deutschen Sprache gar nicht so verheerend aus, wie es die Leser des Romans aufgrund der Lamentatio von Simon Reisch vorausgesetzt hätten. In Budapest z.B. soll die Verständigung mancher Leute auf Deutsch »nichts Auffallendes« darstellen, und ebenso »in Lemberg versteht alles Deutsch« (S. 173). In Czernowitz braucht die Tänzerin Bessy überhaupt nicht Rumänisch zu können, sie findet es selbstverständlich, hier das deutschsprachige Czernowitzer Morgenblatt lesen zu dürfen und von einem Dr. Friedemann behandelt zu werden. Dass in Bukarest ein PolizeiKommissar, der Fuchs heißt, »ein korrektes, ungarisch gefärbtes Deutsch spricht« und sich dann in Deutsch mit Leuten in Czernowitz – wo auch ein Bettler Deutsch versteht und spricht – unterhält, oder dass Geheimdienstler in Bukarest oder Warschau selbstverständlich Deutsch sprechen, mag keinesfalls wundern; als Gipfel dieser Lagebeschreibung kann jedoch die Verhandlung des Bukarester Kriegsgerichts betrachtet werden, vor dem der
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Ein Beispiel dafür wäre die falsche Information über die Stellung der rumänischen Sprache in der Bukowina, die bei der letzten österreichischen Volkszählung vor dem Ersten Weltkrieg von zirka 34 Prozent der Bevölkerung des Kronlandes als Umgangssprache angegeben wurde.
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Hauptmann Delius zu Unrecht angeklagt wird, und wo ein Czernowitzer Varieté-Besitzer in Deutsch aussagen darf. Das anscheinend widersprüchliche Bild, dass trotz der Aussage über das Unglück derjenigen, die sich in den nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen neuen Staatsgebilden in Mittelosteuropa als Deutsche empfinden, die Verbreitung und die Bedeutung des Deutschen in der Region weiterhin gewaltig blieb, könnte in der Tat auch im Einvernehmen mit den propagandistischen Zwecken des »Dritten Reiches« interpretiert werden: Die angebliche Illegitimität der europäischen Nachkriegsordnung würde noch flagranter im Lichte der Diskrepanz zwischen dem deutschen sprachlich-kulturellen Gepräge Osteuropas und seiner durch die Entmachtung Deutschlands und Österreichs möglich gewordenen politischen Verdrängung aussehen. Die feindselige Haltung der rumänischen Verwaltung gegenüber ihrem deutschstämmigen Staatsbürger Delius, der sich dennoch in die rumänische Armee ernsthaft zu integrieren versuchte,21 wird symbolisch ausgerechnet in der Äußerung des Kommissars Fuchs (sic!) ausgedrückt: »Delius ist ein Deutscher; schon das spricht gegen ihn« (S. 157). Dass das finale, jedoch fern von Mitteleuropa erlangte Eheglück von zwei »Volksdeutschen« aus der ehemaligen Habsburgermonarchie ebenfalls eine politische Symbolik trägt, darf nicht ausgeschlossen werden, auch wenn diese eher eine damals in der Luft liegende Stimmung als eine programmatische Zukunftsvorstellung des Autors Otto Schwerin wiedergibt. Die blonde Edna Gravenkamp aus Böhmen, die als Konkubine des galizischen Juden Kirschenkuchen an allen seinen verbrecherischen Aktionen beteiligt war, erlebt eine offenkundige sittliche Veränderung zum Guten durch die Liebe zum ritterlich wirkenden bukowinadeutschen Offizier Delius. Man kann gleich an den ideologischen »Mehrwert« solcher angeblich unschuldigen romantischen Klischees denken, die letzten Endes – obschon (vermutlich) unbewusst – klaren, von der Reichspropaganda in Bezug auf das mittelöstliche »Auslandsdeutschtum« verfolgten Zielen dienten: »Befreit« von dem ehrlosen Einfluss der »verjudeten« Habsburgermonarchie wird es dem Paar gegönnt, sich vereint im Bunde reiner (wenn auch vorläufig nur häuslicher) »Ideale« gegen alle Feinde (grundsätzlich die Kriegsgewinner Polen und Rumänien) moralisch gestärkt wiederzufinden. In dieser neuen Mental Map fehlt das postkakanische (Deutsch-)Österreich nicht zufällig. »Anschluss«-reif wurde es schon in verschiedenen, im Vergleich zu einem Kriminalroman vornehmeren 21
»Wir rüsten für den Krieg« (S. 104), behauptet Hauptmann Delius, indem er im Namen der »Rumänen« die erste Person Plural verwendet.
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historischen oder literarischen Auseinandersetzungen mit der Geschichte des Ersten Weltkriegs dargestellt, von denen zum Beispiel das 1924 erschienene Rumänische Tagebuch des später im »Dritten Reich« gefeierten Hans Carossa, das eine große Verbreitung erlangte, den Einsatz eines wegen des österreichischen Debakels gegen die rumänische Offensive in Siebenbürgen 1916 eingesprungenen bayerischen Regiments umriss.22 Aus einer 1932 veröffentlichten Erinnerung Carossas an das Treffen mit dem österreichischen Dichter Max Mell an der Front nahe Czernowitz 1917 kann man herauslesen, dass an der Befreiung der Bukowina von den Russen dasselbe bayerische Regiment beteiligt war, wobei die militärische Rolle der Österreicher als durchaus sekundär geschildert wurde.23 Andererseits blieb in den 1920er und 1930er Jahren fast keine Spur von den alten Loyalitäten deutschstämmiger Bevölkerungsgruppen in den Nachfolgestaaten gegenüber Habsburg und Österreich; sie wurden vom kulturellen und später auch politischen Bekenntnis zum Deutschen Reich weitaus ersetzt, wobei dafür gerade das Beispiel der in Rumänien lebenden Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben und Bukowina-Deutschen symptomatisch ist.24 Kein Wunder also, dass der Berliner postimperiale Herrschaftsdiskurs, der sich nach 1933 die expansionistische Mitteleuropavision eines Friedrich Naumann aneignete und der wiederum deutlich im Dienste der Ideologie einer »deutschen Revanche« gegen die aus der Erbmasse der Monarchie neu entstandenen Nationalstaaten Mittelosteuropas stand,25 sich bis in die ungeahnten Nischen billiger (aber »volksnaher«) Kriminalromane übertragen ließ: Auch Otto Schwerins Produkt kommt daher den postimperialen Projekten des »Dritten Reiches« hinsichtlich der für seine
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Hans Carossa, Rumänisches Tagebuch, Leipzig 1924. Die Episode wurde in einer am 10. November 1932 veröffentlichten Erinnerung unter dem Titel »Ein Tag im Kriege« im Feuilleton der Münchner Neuesten Nachrichten erzählt; das Fragment hat Carossa in die ein Jahr später erschienene Schrift Führung und Geleit. Ein Gedenkbuch (Leipzig 1933) wieder aufgenommen. Vgl. u.a. Hildrun Glass, Zerbrochene Nachbarschaft. Das deutsch-jüdische Verhältnis in Rumänien (1918–1938), München 1996; Michael Markel/Peter Motzan (Hg.), Deutsche Literatur in Rumänien und das Dritte Reich. Vereinnahmung – Verstrickung – Ausgrenzung, München 2003; Mariana Hausleitner/Harald Roth (Hg.), Der Einfluss von Faschismus und Nationalsozialismus auf Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa, München 2006. Vgl. Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915; Jacques Le Rider, Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffes, Wien 1994.
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künftige Ostpolitik vorgesehenen Vorreiterrolle der »Volksdeutschen« Mitteleuropas entgegen, als es ein durchaus verklärtes Bild von deren literarischen »Vertretern« Bessy/Edna und Delius entwirft. *** Das größte Problem Otto Schwerins und der »Botschaft« seines teilweise in Czernowitz spielenden und 1935 in Berlin erschienenen Romans lag aber anderswo. Die nicht nur in Mitteleuropa allgemein bekannte Vorstellung über Czernowitz, die z.B. die österreichischen Reiseführer hartnäckig bis vor dem Ersten Weltkrieg wiederholten,26 wurde in einem sachkundigen, obwohl im Dienste der politischen Projekte des Nazi-Regimes in Rumänien gestellten Bericht des deutschen Konsuls in Czernowitz, Fritz Schellhorn, aus dem Jahre 1937 festgehalten, der für die deutsche Gesandtschaft in Bukarest redigiert wurde: »Die Stadt Czernowitz [hätte] ohne die Juden den Charakter einer deutschen Stadt niemals erhalten. Die zahlenmäßig und auch wirtschaftlich schwache deutsche Bevölkerung wäre zu solcher Leistung nie imstande gewesen«.27 Für ihn war die Geschichte der Bukowiner Judenschaft »ein klassisches Beispiel für die Hemmungslosigkeit und den Erfolg jüdischen Machtstrebens, wenn die Machtmittel des Staates diesem Streben keine Schranken setzten«.28 Die komplexe Problematik der sogenannten »deutsch-jüdischen Kultursymbiose« im ehemaligen Habsburgerreich, wofür das Czernowitzer Kulturfeld vor und nach dem Ersten Weltkrieg als Paradebeispiel diente, indem das assimilierte jüdische Bürgertum der Stadt sich mit der »deutschen Kulturnation« identifizierte und damit die symbolische Vertretung der »österreichischen Mission« in Osteuropa übernahm,29 stellte ein ideologisches Ärgernis für die NS-Propaganda inklusive hinsichtlich der »Anschluss«-Ziele und -Pläne dar; 26
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Vgl. Andrei Corbea-Hoisie, Die Bukowina und Czernowitz. Hybrider Kulturraum und Faszinosum, in: Martina Thomsen/Peter Stachel (Hg.), Zwischen Exotik und Vertrautem. Zum Tourismus in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten, Bielefeld 2014, S. 113–122. Fritz Schellhorn, [Bericht], Judenfrage im Amtsbereich des Konsulats, Deutsches Konsulat Czernowitz, 13.12.1937, zit.n. Haim Shamir, Die jüdische Gemeinde von Czernowitz 1937 in deutscher Sicht, in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte 4 (1975), S. 484–498, hier S. 492f. Ebd., S. 495. Martin Broszat, Von der Kulturnation zur Volksgruppe. Die nationale Stellung der Juden in der Bukowina im 19. und 20. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 200 (1965) 3,
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sie wurde allgemein in Deutschland gemäß bekannter Vorgaben propagandistischer NS-Kritik an die Adresse der von den Habsburgern durchgeführten »Entdeutschung« Österreichs behandelt, die in der Tradition deutschnational-antisemitischer Diktion von Hitler selbst in Mein Kampf angesprochen wurde.30 Jenem wesentlichen Umstand der Czernowitzer »deutschen« Identität konnte der Autor des Romans überhaupt nicht entgehen, zumal es ihm auch sicherlich bewusst war, dass es ihm unter der NS-Zensur nicht gelingen wird, ihn einfach und direkt zu erklären. Die von Otto Schwerin gewählte Lösung war, die Nennung des Wortes »Jude« im ganzen Text des Romans einfach zu unterlassen. Bevölkert von Gestalten, die nur deutsch-jüdisch klingende Namen wie Isac Filigran, Simon Reisch, Dr. Kahane, Dr. Friedemann oder Krainer tragen, tritt Otto Schwerins Czernowitz als eine regelrechte »Stadt ohne Juden« auf, wo eine »Judenfrage« im Sinne der NS-Ideologie und daher auch Antisemitismus nicht existierten.31 Es ist schwierig zu beurteilen, ob dieses ›Kunststück‹ des Autors eine überstürzte Bemühung verbarg, den Roman vor den anzunehmenden Einwendungen der Zensur zu retten,32 oder ob es ein absichtlicher Wink an die Leser war, durch diese für die Eingeweihten vielsagende Omission auf die enorme Widersinnigkeit der ideologischen Einschränkungen im Publikationsbereich seitens der Goebbels’schen Zensurbehörde hinzuweisen.33 Wenn es dem Autor ausschließlich um die Romanintrige gegangen wäre, hätte er sicherlich statt Czernowitz einen anderen Ort in den Mittelpunkt des Handlungsverlaufs gestellt; er bestand aber
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S. 572–606, hier S. 576; vgl. Andrei Corbea-Hoisie, Czernowitzer Geschichten. Über eine städtische Kultur in Mittelosteuropa, Wien/Köln/Weimar 2003. Vgl. u.a. Gerd Rühle, Dokumentarische Darstellung des Aufbaues der Nation: Die österreichischen Kampfjahre 1918–1938, mit zahlreichen Bildern und Dokumenten sowie einem Sachregister, Berlin 1940. Konsul Schellhorn spricht hingegen in seinem Bericht von einem »vorbereiteten Boden« für eine »erfolgreiche« Verbreitung des Antisemitismus und unterstreicht die Tatsache, dass »die Einschätzung des Juden in seinem Verhältnis zu Staat und Gesellschaft in der öffentlichen Meinung der Bukowina [sich] stark zu seinen Ungunsten geändert« hatte; Schellhorn, [Bericht], zit.n. Shamir, Die jüdische Gemeinde von Czernowitz, S. 494. Im Vergleich zu anderen Romanen Otto Schwerins aus dem Jahr 1935, die noch in Antiquariaten zu finden sind, wird Bessy tanzt in Czernowitz heute als eine Rarität betrachtet. Könnte dies die Folge einer erzwungenen geringen Auflage des Buches oder sogar eines Verbots seines Absatzes nach der Drucklegung sein? Platini, Krimi, S. 30ff.
»Deutsch bis auf die Knochen«
auf dem Czernowitzer Dekor einschließlich seiner jüdischen Markierung,34 wobei er sich aber unter anderem auch feindselig gemeinter Stereotype des »ewigen Juden« bediente – zumal die Unterdrückung jeder Erwähnung des Wortes »Jude« in diesem Kontext die entgegengesetzte Wirkung hat, sobald »jüdische« Unsitten nicht mehr als »jüdisch« bezeichnet werden. Selbstverständlich sind antisemitisch gefärbte »jüdische« Züge bei der aus Galizien stammenden Figur Kirschenkuchens35 erkennbar: Dieser soll offensichtlich das Feindbild des jüdischen Betrügers und als Spion den angeblich allgemeinen Hang der Juden zur Unaufrichtigkeit bestätigen. Der Czernowitzer Varieté-Besitzer Isac Filigran wird gleichfalls in seiner belästigenden sexuellen Begierde als widerlich dargestellt. Viel komplexer erscheint dagegen die Figur von Simon Reisch, dessen Judentum sich nicht von Anfang an, sondern erst im Laufe seiner Gespräche mit Bessy/Edna enthüllen lässt, als er die »Religionsgesetze« der christlichen Deutschen als »ihre« (und nicht »unsere«) bezeichnet (S. 86). Der durchaus vernünftig-rechnerische Reisch, der in seiner Gewinnsucht seinerseits eine typisch »jüdische« Eigenschaft illustrieren sollte, entfaltet sich allmählich zur Zentralfigur der Romanhandlung. Als derjenige, der es fertig bringt, den Bukarester Drahtzieher der polnischen Spionage bloßzustellen, ist er irgendwie vorprogrammiert, die Sympathie der Leser zu erobern. Die Nuancen, mit denen Schwerin Reisch’ Verhalten und Aussagen versieht, profilieren dessen Gestalt unmissverständlich als den ausgesprochenen Vertreter jener bürgerlichen, deutschsprachigen, assimilierten Czernowitzer Juden, die in dem ehemaligen österreichischen Kronland – laut dem 34
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Im antisemitischen »Lexikon« Sigilla Veri (Erfurt 1929) wird u.a. die Stadt Czernowitz wegen des großen Anteils der jüdischen Bevölkerung mehrmals denunziatorisch erwähnt, vgl. Apud Hubert Orlowski, Literatur und Herrschaft – Herrschaft und Literatur. Zur österreichischen und deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts (Oppelner Beiträge zur Germanistik 2), Frankfurt a.M. u.a. 2000, S. 260ff.; vgl. auch die ähnlichen, wissenschaftlich gefärbten Ausführungen des Geografen Paul Langhans, Die Rumänische Staatsbevölkerung der Gegenwart, in: Petermanns Geographische Mitteilungen (1939) 10, S. 2–7 und Anhang. Der Name klingt in seiner Skurrilität typisch für die von den österreichischen Behörden den galizischen Juden im 18. Jahrhundert willkürlich aufgezwungenen Familiennamen; seine englische Übersetzung Cherrycake, die ihm als »offizieller« Name dient, soll gerade durch seine lächerliche Referenzialität die angeblich amoralische, von den Nazis propagandistisch öfter beschworene amerikanisch-jüdische »Symbiose« hervorheben. Der Name »Kirschenkuchen« wurde allerdings jenem einer bekannten jüdischen Figur aus dem Werk von Karl Emil Franzos nachempfunden, vgl. Karl Emil Franzos, Leib Weihnachtskuchen und sein Kind, Berlin 1896.
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Konsul Schellhorn – zur »Stärkung und Vereinheitlichung des deutschsprachigen Elementes« beigetragen haben.36 Seine Antwort auf Bessys Frage, ob er Deutscher sei, ist in ihrer Ambiguität für deren Status geradezu treffend: Er sei »Czernowitzer«, wobei »man […] uns in der Bukowina zu Deutschen erzogen [hat]« (S. 84). Nicht nur sein Habitus als Bankier, Zigarren-Raucher oder Leser der oft als »jüdisch« geschmähten Neuen Freien Presse und des Pester Lloyd, nicht nur seine vermeintliche Wiener Aussprache mit jiddisch klingenden Einschüben,37 sondern vor allem sein antirumänisches Ressentiment (wobei er sogar von »Hass« spricht), das ihn getrieben habe, für Polen zu spionieren, kennzeichnet eindeutig diese sozialhistorische Affiliation der Romangestalt Simon Reisch. »Durch den Zusammenbruch der Donaumonarchie wurden sie [die deutschsprechende urbane Schicht der Bukowina, die eigentlich, wie man weiß, von Juden gebildet war, Anm. d. Verf.] schwer getroffen; der Schmerz darüber ist auch heute noch nicht verwunden, umsoweniger, als mit der rumänischen Herrschaft die goldenen Tage der österreichischen Zeit in manchem der Vergangenheit angehörten«.38 Zum Gefühl, dass zusammen mit der »Eigenschaft des vollwertigen Staatsbürgers« auch die durch die Deutschsprachigkeit behauptete kulturelle Legitimation »ihnen langsam verloren [geht]«,39 kommt noch, so Reisch’ bittere Bemerkung, hinzu: dass »die Universität […] rumänische ›Kultur‹ [vermittelt], das Theater […] rumänische Stücke [spielt], die kaan Mensch nit versteht« (S. 85). Die symbolischen Maßnahmen der rumänischen Verwaltung der Bukowina nach 1918, die durch die Rumänisierung der Czernowitzer Universität und des Stadttheaters ein starkes Zeichen der Autorität zugunsten der neuen »Leitkultur« setzen wollte,40 und die Reaktion des deutschsprachig-jüdischen Bürgertums darauf sind damit umso mehr und höchst genau dokumentiert. Es bleibt nur noch das Rätsel, ob die Anspielung des Romans von Otto Schwerin auf diese längst vergangene Geschichte noch jemanden (außer der Goebbels’schen Zensur) im Deutschland des Jahres 1935 interessieren konnte. 36 37 38
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Schellhorn, [Bericht], zit.n. Shamir, Die jüdische Gemeinde von Czernowitz, S. 492. Über Filigran sagt Simon Reisch, er sei ein »Gannef« (S. 86). Schellhorn, [Bericht], zit.n. Shamir, Die jüdische Gemeinde von Czernowitz, S. 493. »So gut es uns unter den Habsburgern gegangen ist, so schlecht geht’s uns jetzt unter den Rumänen«, beteuert Simon Reisch in seinem ersten Gespräch mit Bessy/Edna (S. 85). Schellhorn, [Bericht], zit.n. Shamir, Die jüdische Gemeinde von Czernowitz, S. 494. Vgl. u.a. Mariana Hausleitner, Die Rumänisierung der Bukowina. Die Durchsetzung des nationalstaatlichen Anspruchs Großrumäniens 1918–1944, München 2001; Andrei Corbea-Hoisie, Czernowitzer Geschichten.
»Deutsch bis auf die Knochen«
Für die Eingeweihten verkündete das Bild von »Czernowitz ohne Juden« allerdings eher als eine dem Roman von Hugo Bettauer41 ähnliche Botschaft etwas, was der junge Czernowitzer Paul Antschel im November 1938 auf seiner Fahrt nach Paris am Anhalter Bahnhof in Berlin (poetisch transfiguriert von Paul Celan) zu vernehmen schien: »Über Krakau/bist du gekommen, am Anhalter/ Bahnhof/floss deinen Blicken ein Rauch zu/der war schon von morgen«.42
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Vgl. Hugo Bettauer, Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen, Wien 1922. Aus dem Gedicht Le Contrescarpe aus dem Band Die Niemandsrose, in: Paul Celan, Gesammelte Werke I, hg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert unter Mitwirkung v. Rolf Bücher, Frankfurt a.M. 2000, S. 280f.
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Kafka-Wissen als habsburgisch codiertes Wissen Autor und Werk zwischen Regionalität und Universalität Steffen Höhne
1. Vorbemerkung Der Titel des Beitrags weist auf zwei nicht als selbstverständlich vorauszusetzende Vorannahmen. Zum einen bedarf die These einer Verortung Kafkas zwischen Regionalität und Universalität einer Präzisierung. Zum anderen ist die Einordnung Kafkas in ein wie auch immer zu konzeptionalisierendes Habsburg-Wissen alles andere als selbstverständlich. Im Anschluss an einen knappen Klärungsversuch dieser beiden Vorannahmen soll es um die Rekonstruktion jenes Prozesses gehen, in dessen Folge Franz Kafka ein globalisierter Autor geworden ist, man ein globales Wissen um Autor und Werk postulieren darf, welches wiederum auf Erfahrungen mit der Habsburgermonarchie zurückzuführen ist.
2. Erste Vorannahme: Kafka als ein universaler Autor Ungeachtet einer relativen Unbekanntheit zu Lebzeiten und eines eher schmalen Korpus an veröffentlichten Texten sowie der Weisung an den Nachlassverwalter, das Werk zu vernichten, setzte nach Kafkas Tod ein wohl kaum zu erwartender literarischer Erfolg ein, der alles andere als selbstverständlich sein dürfte und der in eine weltweite Wirkung mündete.1 Neben den Auflagen zumindest der bekannteren Erzählungen und Romane2 und einer intensiven phi1 2
Vgl. Steffen Höhne/Ludger Udolph (Hg.), Franz Kafka. Wirkung und Wirkungsverhinderung (Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert. 6), Köln/Weimar/Wien 2014. Als ein Beispiel sei der von Paul Raabe besorgte Band Sämtliche Erzählungen (Fischer Taschenbuch) genannt, von dem in der Deutschen Nationalbibliothek seit der Erstaus-
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Steffen Höhne
lologischen und editorischen Auseinandersetzung mit inzwischen mehreren Werkausgaben zeigt sich diese Wirkung zum einen in den unterschiedlichsten Kunstgattungen und -genres und den jeweiligen ästhetischen Aneignungen, zum anderen in einer höchst polyphonen Interpretationskultur. Kafkas Werk bildet ein Textkorpus, welches »grenzüberschreitende Anschlussmöglichkeiten in den unterschiedlichsten Künsten, von Literatur über bildende Kunst, Film und Musik bis hin zu populären Formen wie dem Comic« eröffnet und das Relevanz für »Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften und die in ihnen kanonisierten Methoden und Theorien besitzt.«3 Die Gründe hierfür wurden darin gesehen, dass sich Kafkas Texte »jeder bequemen Identifizierung von Wirklichkeit im Werk mit der historischen Realität« verweigern4 und dass die in Kafkas Texten angelegten Sinnpotenziale und deren sukzessive Entfaltung vielfältige Aktualisierungen ermöglichten und ermöglichen.5 Die vielfältigen Deutungspositionen symbolisieren somit eine immer wieder sich konstituierende Aktualität des Kafkaschen Werkes, das als »Metonymie für eine grundsätzliche Problematik der Interpretation, ja, für Uninterpretierbarkeit von Literatur im Allgemeinen«6 verstanden wird und das entsprechend auf Unbehagen, auf Skepsis ob dieser Unerschöpflichkeit, Vieldeutigkeit, Undeutbarkeit stößt.7 Nicht ganz falsch konstatierte Edmund Wilson schon 1947 mit dem
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gabe 1970 kontinuierlich für jedes Jahr bis 1994 eine Ausgabe nachgewiesen wird. Mit der letzten von 1994 wurde eine Auflage von insgesamt 897.000 Exemplaren erreicht! Diese Ausgabe wurde bei Fischer von Roger Hermes fortgesetzt, nachweisbar sind Ausgaben (allerdings inklusive Sondereditionen) von 1996 (13. Auflage), 1999, 2002, 2004, 2006, 2007 und als letzte 2011. Seitdem werden bei Fischer die Erzählungen in unterschiedlichen Zusammenstellungen angeboten. Man darf hier zu Recht nicht von einem Beststeller, wohl aber einem Longseller sprechen, was auch für andere Texte Kafkas gelten dürfte, vgl. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 2001, S. 238. Steffen Höhne/Ludger Udolph, Vorwort: Franz Kafka – Wirkungen und Wirkungsverhinderungen, in: dies. (Hg.), Franz Kafka, S. 9–12, hier S. 9. Peter U. Beicken, Typologie der Kafka-Forschung, in: Hartmut Binder (Hg.), Kafka-Handbuch in zwei Bänden. Bd. 2: Das Werk und seine Wirkung, Stuttgart 1979, S. 787–824, hier S. 792. Vgl. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970, S. 144–207, hier S. 186. Oliver Jahraus, Kafka und die Literaturtheorie, in: Bettina von Jagow/ders. (Hg.), KafkaHandbuch. Leben, Werk, Wirkung, Göttingen 2008, S. 304–316, hier S. 304. Vgl. Els Andringa, Die Facette der Interpretationsansätze, in: ebd., S. 317–335.
Kafka-Wissen als habsburgisch codiertes Wissen
Beitrag »A Dissenting Opinion on Kafka« im New Yorker eine Entwicklung vom Kafka-Boom zum Kafka-Slump, womit eine Kafka-Forschung kritisiert wird, der es nicht um die Würdigung eines Dichters gehe, sondern – ausgehend vom klischeehaften Topos »der Lebensbürde der verwerflichen Helden Kafkas« – darum,8 diesen zu einem »Theologen und Heiligen« zu machen.9 Verstärkt wird diese Skepsis durch eine über die üblichen Jahrestage hinausgehende wissenschaftliche Konjunktur, die bereits quantitativ bemerkenswert ist.10 Für den Zeitraum zwischen 1955 und 1980 verzeichnet die Internationale Franz Kafka-Bibliographie 163 Dissertationen zu Kafka und seinem Werk, für den Zeitraum von 1981 bis 1997 weitere 174 nebst 26 in den Nachträgen,11 also insgesamt 353 Qualifikationsarbeiten! Bei den Monografien, von denen gleichwohl auch Zweitauflagen und populärwissenschaftlichere Arbeiten (bis hin zu literaturtouristischen Pragensia) abzuziehen wären, kommt man auf 221 bzw. 443 plus 58 Werke, also auf insgesamt 722 Bücher! Nicht erfasst sind in diesen Zahlen Sammelbände sowie Aufsätze und Artikel in Zeitschriften und sonstigen Periodika. Dieses interpretatorische Interesse erfuhr auch in den zwanzig Jahren nach 1997 keinen Abbruch, was eine Reihe von Orientierung im Feld vermittelnde Handbücher belegen.12 Man darf somit durchaus von einer »Paral8 9 10
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Peter U. Beicken, Geschichte der Kafka-Rezeption. Vereinigte Staaten von Amerika, in: Binder (Hg.), Kafka-Handbuch, S. 776–786, hier S. 780. Edmund Wilson, Eine ketzerische Ansicht über Kafka, in: Heinz Politzer (Hg.), Franz Kafka (Wege der Forschung), Darmstadt 1973 [1950], S. 205–213, hier S. 206. Auf deren ubiquitäre Dimensionen deutete bereits Harry Järvs Bibliografie aus dem Jahr 1961 sowie eine weitere von Patterson für die Jahre 1960 bis 1970 hin, vgl. Heinz Politzer, Einleitung, in: ebd., S. 1–32, hier S. 3. Vgl. Maria Luise Caputo-Mayr, Einleitung zur zweiten Auflage und einige Bemerkungen über die globale Wirkung Franz Kafkas, in: dies./Julius Michael Herz (Hg.), Franz Kafka. Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur. Bd. 2: Bibliographie der Sekundärliteratur, Teil 1: 1955–1980, Teil 2: 1981–1997, München 2000, S. VII–XXIV. Vgl. Jagow/Jahraus (Hg.), Kafka-Handbuch; Manfred Engel/Bernd Auerochs (Hg.), Kafka-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart/Weimar 2010; Carolin Duttlinger (Hg.), Franz Kafka in Context, Cambridge 2018. Siehe ferner die Forschungsberichte des Verfassers, vgl. Steffen Höhne, Neues zu Kafka. Ein Überblick zu aktuellen Studien zur biografisch-kontextuellen Einordnung, in: Bohemia 57 (2017) 1, S. 165–170; ders., Zwischen Hermeneutik und Kulturgeschichte. Neue Arbeiten zu Franz Kafka, in: Bohemia 58 (2018) 2, S. 363–370; ders., Das ›babylonische‹ Habsburg. Ideengeschichtliche Traditionen bei Kafka und das Problem des Universalismus, in: ders./Manfred Weinberg (Hg.), Franz Kafka im interkulturellen Kontext (Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert. 13), Wien/Köln/Weimar 2019, S. 173–195. Erfasst wurden nach jetzigem Stand
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lelgesellschaft der Exegese« sprechen,13 bei der biografische, religiöse, philosophische, psychologische/-analytische, literatursoziologische, marxistische, kulturhistorische und -wissenschaftliche, hermeneutische, rezeptionsästhetische, strukturalistische, dekonstruktivistische etc. Analysen miteinander konkurrieren. Kondensiert betrachtet findet man auf der einen Seite eine psychologischhistorische Herangehensweise, die das »bewußte und unbewußte Intentionale in Kafkas Schreiben« herauszuarbeiten und mit seiner Biografie zu verknüpfen sucht. Auf der anderen Seite dominiert eine strukturale Methode, die das »atemporale Zirkelhafte oder Mythische, die homologischen Überschreibungen dieser vieldeutigen Texte zu durchleuchten sucht.«14 Kafka fungiert, um nur einige der interpretativen Perspektivierungen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – anzuführen, als Zeitkritiker und Seismograf, der in seinem Werk gesellschaftliche (politische) Strukturen bloßlegt und totalitäre Entwicklungen antizipiert. Demgegenüber wird Kafka als weltabgewandter Dichter wahrgenommen, ein ewiger Sohn im Schatten eines übermächtigen Vaters mit Ödipuskomplex und Misogynie. Kafka wird als asketischer Gottsucher betrachtet, ein heroischer Märtyrer des Glaubens und hoher ethischer Maßstäbe: »Es gibt nur eine geistige Welt, was wir sinnliche nennen ist das Böse in der geistigen.« (KKAN II: 59) Sein Werk wurde und wird für den Irrweg der Assimilation gelesen, verrate somit tiefere Kenntnisse der jiddischen Literatur, der Thora und der Kabbala, des Talmuds und des Chassidismus. Das Werk wird unter Verweis auf das Hypochondrische im Kontext des jüdischen Selbsthasses gedeutet: »ich beschäftige mich mit nichts anderem als mit Gefoltert-werden und Foltern.« (KKABr 4: 366 – Brief an Milena vom 3.11.1920) Sein Schreiben dient als Ausdruck einer literarisch-künstlerischen Existenzform: »Ich habe kein litterarisches Interesse sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.« (KKABr 2: 261 – Brief an Felice) Und schließlich lässt es sich als Teil der ästhetischen Moderne, sei es im Prager Kreis, in-
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seit 1997 erneut über 70 Monografien und Sammelbände, darunter die drei Bände der Kafka-Biografie von Reiner Stach, ferner drei Bände in den Oxford Kafka Studies, fünf Bände zu Kafka in der Reihe Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert, fünf Bände in der Reihe der Deutschen Kafka-Gesellschaft. Marcel Krings, Franz Kafka. Der ›Landarzt‹-Zyklus. Freiheit – Schrift – Judentum, Heidelberg 2017, S. 8. Arnold Heidsieck, Kafkas fiktionale Ontologie und Erzählperspektive. Ihre Beziehungen zur österreichischen Philosophie der Jahrhundertwende, in: Poetica 21 (1989), S. 389–402, hier S. 389.
Kafka-Wissen als habsburgisch codiertes Wissen
nerhalb der Prager deutschen Literatur, innerhalb der Prager Moderne15 oder innerhalb der habsburgischen Moderne verorten. Eine ähnlich unabschließbare Varianz erhielte man bei einem Bestimmungsversuch der zentralen, häufig als kafkaesk bezeichneten Themen, womit Machtprozesse und Ohnmachtserfahrungen (»Jemand musste Josef K. verleumdet haben ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.« KKAP 7) genauso wie Erfahrungen von Entfremdung und Bürokratie16 oder die sprichwörtlichen Vater-Sohn-Konflikte gemeint sind: »Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch.« (KKAD 60) Thematisiert bzw. reflektiert werden von Kafka demnach die Freiheit und die Unausweichlichkeit von Existenz (»Ein Käfig ging einen Vogel suchen«), minoritäre kulturelle Identitäten oder Metamorphosen sowie Sprache und Kommunikationsmedien selbst: »Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.« (KKAP 298) Will man diese und weitere Deutungsperspektiven und Themen auf ein mathematisch gesprochen kleinstes gemeinsames Vielfaches bringen, so dürfte ein Minimalkonsens der unterschiedlichen literaturwissenschaftlichen Deutungsperspektiven in der Kernidee liegen, »Kafka sei ein für seine Epoche und Kultur in besonderem Maße aussagekräftiger Autor.«17 Damit ist man bei der Frage der Rezeption und Wirkung von Kafka im Sinne einer vom Text (Wirkung) und einer vom Adressaten (Rezeption) ausgehenden Konkretisierung, in der die Implikationen des Textes und die Explikationen der Adressaten, also der implizite und der explizite Leser, aufeinander bezogen bleiben.18 Diese sind sowohl auf der wissenschaftlichen als auch auf der lebensweltlichen Ebene zu verorten.
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Vgl. Karel Kosík, Hašek und Kafka oder die groteske Welt, in: Květoslav Chvatík (Hg.), Die Prager Moderne. Erzählungen, Gedichte, Manifeste, Frankfurt a.M. 1991 [1963], S. 78–83. Vgl. Oliver Jahraus, Kafkas Habsburg zwischen Bürokratie und Mythos, in: Höhne/ Weinberg (Hg.), Franz Kafka im interkulturellen Kontext, S. 153–171. Monika Schmitz-Emans, Franz Kafka. Epoche, Werk, Wirkung, München 2010, S. 203. Vgl. Hermann Josef Schnackertz, Wirkung/Rezeption, in: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 6, Stuttgart/Weimar 2001, S. 670–693, hier S. 670.
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Abb. 2: Slogan Nr. 1247 aus der Werbekampagne für Jägermeister
Als ein durchaus symptomatisches Indiz für eine die literarischen Grenzen überschreitende Aneignung kann das Eponym kafkaesk gelten, welches losgelöst vom konkreten Text oder Autor als Entlehnung bzw. Lehnübersetzung in die unterschiedlichsten Sprachen Eingang fand19 und das eine Fortsetzung 19
Kafkaesk als a) absurde Situation im totalitären Alltag, b) Prozesse, gegen die man keinen Einspruch erheben kann, c) undurchsichtige Machtrelationen. Siehe u.a. tschechisch: kafkárna; polnisch: kakowski, kafkaesk; kroatisch: kafkijanski; bulgarisch: кафкиански – kafkianski; englisch: kafkaesque; französisch: kafkaïen; italienisch, spanisch, portugiesisch: kafkiano; rumänisch: kafkaiană; schwedisch: kafkastämning; litauisch: kafkiškas; japanisch: カフカエスク – Ka-fu-ka-e-su-ku, カフカ的 – ka-fu-kateki; griechisch: καφκικός/καφκική/καφκικό (kafkikos/kafkiki/kafkiko).
Kafka-Wissen als habsburgisch codiertes Wissen
in lebensweltlichen Kontexten findet – eine offenkundige Diffusion literarischer Texte und Themen in das Alltagshandeln. So findet man in der Ausgabe Nr. 40 des Spiegel 1977 eine einschlägige Werbung für einen Kräuterlikör (Abb. 2), während seit der Covid-19-Pandemie 2020 in Prag Gesichtsmasken mit hunderten unterschiedlichen Kafka-Motiven angeboten werden (um die zehn Euro).20 Aber auch nicht-kommerzielle Organisationen nutzen den Bekanntheitsgrad bzw. das Kafka-Wissen als topografische und chronotopische Signatur. So nannte das Goethe-Institut sein für wenige Jahre auf den ostmitteleuropäischen Raum fokussiertes und weit über literarische Aspekte hinausgreifendes Periodikum Kafka. Zeitschrift für Mitteleuropa (2001–2005).21 Franz Kafka ist somit längst als Ergebnis einer der Orientierung dienenden, selektiven Wahrnehmung eine Art Markenartikel der deutschsprachigen Kultur und Literatur geworden,22 so dass sich das ›kurze‹ 20. Jahrhundert als das Jahrhundert Franz Kafkas bezeichnen lässt.23 Sucht man nach Erklärungen für eine entgegen den oben genannten widrigen Ausgangsbedingungen derart erfolgreiche Durchsetzung im globalen Rahmen, dann lässt sich diese, ausgehend vom Konzept des Literaturbetriebs,24 auf drei Ebenen verorten: auf der des Editions- und Interpretationskomplexes, im Feld von Bildung, Vermittlung und Forschung und übergreifend im gesamten Feld literarisch-kultureller Produktion, Distribution und Rezeption.
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Vgl. https://www.redbubble.com (abgerufen am 15.1.2023). Von der Zeitschrift erschienen insgesamt 16 Hefte, auf dem Titelblatt von Nr. 1 und Nr. 16 befindet sich das kanonisierte Konterfei von Milena Jesenská. Zur Begründung für den Namen vermerkt das Editorial: »Der Name ›Kafka‹ steht nicht nur für die Topografie des Schreckens und des Totalitarismus – er steht auch für das Vermächtnis einer jüdisch geprägten mitteleuropäischen Moderne, die zu den ›Erbschaften dieser Zeit‹ zählt.« Ingke Brodersen/Rüdiger Dammann/Peter Sötje, Editorial, in: Kafka. Zeitschrift für Mitteleuropa 1, hg. v. Goethe-Institut Inter Nationes 2001, S. 4–6, hier S. 4. Vgl. Engel/Auerochs (Hg.), Kafka-Handbuch. Vgl. Karel Kosík, Das Jahrhundert der Grete Samsa. Von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Tragischen in unserer Zeit, in: Kurt Krolop/Hans-Dieter Zimmermann (Hg.), Kafka und Prag, Berlin/New York 1994, S. 187–198, hier S. 187. Unter Literaturbetrieb ist die »Gesamtheit der Institutionen, Instanzen und Personen sowie ihrer Beziehungen untereinander, die Rahmenbedingungen für die Produktion, Distribution und Rezeption literarischer Texte« zu verstehen, vgl. Steffen Richter, Der Literaturbetrieb. Texte, Märkte, Medien. Eine Einführung, Darmstadt 2011, S. 8.
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Zum Editionskontext zählen nicht nur die Verlage, in denen einzelne Werke sowie die Werkausgaben25 erschienen sind (Rowohlt, Kurt Wolff, Die Schmiede, Schocken, Fischer; seit 1994 mit dem Auslaufen der urheberrechtlichen Bindung: Suhrkamp, Reclam, Ullstein, Diogenes, Aufbau, Kiepenheuer und weitere), sondern auch die Akteure im literarisch-kulturellen Feld. Angefangen von der wichtigen Rolle des Mentors Max Brod, der in seinen Bemühungen um eine Entfragmentierung der Texte Kafkas und damit der Bereitstellung von ›Leseausgaben‹ zum »Geburtshelfer des bis dahin fast unbekannten Autors Franz Kafka wird«,26 verläuft der Prozess der ›Anerkennung‹ Kafkas über Gruppenbildung im Prager Kontext bis zur ›Erfindung‹ des Prager Kreises mit zunächst Brod, dann Kafka als Zentrum,27 auch wenn persönliche Bekanntschaften und Kontakte zunächst wenig über spätere Berühmtheit aussagen, zumal Brods Valorisierungs-Bemühen, per Rezension Kafka bekannt zu machen, von begrenztem Erfolg waren, was Kafka in einem Brief an Felice vom 14./15. März 1913 andeutet. Derartige Rezensionen »durch Bekannte« seien »nutzlos in ihrem übertriebenem [sic!] Lob, nutzlos in ihren Anmerkungen und nur als Zeichen der irregeleiteten Freundschaftlichkeit […] zu erklären.« (KKABr 2: 92) Dennoch dürfen beispielsweise Anerkennungsschreiben von renommierten Kollegen der schreibenden Zunft wie Carl Sternheim, der den Fontane-Preis an Kafka weiterreichte (1915), Hermann Hesse, der Kafka 1935 als Seismograf der Epoche bezeichnete, des Weiteren Franz Blei, Thomas Mann, Klaus Mann nicht ohne Wirkung geblieben sein. 25
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Zu den Editionen vgl. Annette Steinich, Kafka-Editionen: Nachlass und Editionspraxis, in: Jagow/Jahraus (Hg.), Kafka-Handbuch, S. 137–149; Annette Steinich/Manfred Engel, Ausgaben und Hilfsmittel, in: Engel/Auerochs (Hg.), Kafka-Handbuch, S. 517–527. Nachdem lange Zeit die Rezeption über die von Max Brod zusammen mit Heinz Politzer besorgte Gesamtausgabe gesteuert wurde, die Gesammelten Schriften, Erzählungen und kleine Prosa (bis 1935 bei Schocken in Berlin, die beiden letzten Bände bei Mercy in Prag, zweite Auflage 1946 bei Schocken in New York, die Lizenzausgabe bei Fischer in Frankfurt mit insgesamt 11 Bänden bis 1974), wurde mit der neuen Kafka-Ausgabe Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe (1982–2013; der letzte Band Briefe in Vorbereitung) eine wissenschaftliche Edition auf der Grundlage des rekonstruierten authentischen Textes vorgelegt. Hinzu kommt die auf den faksimilierten Handschriften beruhende Frankfurter Ausgabe bei Stroemfeld-Roter Stern (seit 1995). Annette Steinich, Kafka-Editionen: Nachlass und Editionspraxis, in: Jagow/Jahraus (Hg.), Kafka-Handbuch, S. 137–149, hier S. 139f. Vgl. Anna-Dorothea Ludewig/Steffen Höhne/Julius H. Schoeps (Hg.), Max Brod (1884–1968). Die Erfindung des Prager Kreises (Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert. 9), Wien/Köln/Weimar 2016.
Kafka-Wissen als habsburgisch codiertes Wissen
Betrachtet man das literarische Feld als einen sozialen Raum, in dem sich die Akteure mit den ihnen zur Verfügung stehenden Kapitalsorten positionieren und eine Verleihung von symbolischem Kapital durch Konsekrationsinstanzen erfolgt, welche die Anerkennung durch Akteure im Feld voraussetzt,28 dann lässt sich ermessen, welche Bedeutung die Übertragung von Renommee durch Freunde wie Brod und Weltsch und Zeitgenossen wie Rilke und Tucholsky für den Autor Kafka besessen haben dürfte. Ähnlich übertragen renommierte Verlage ihr symbolisches Kapital auf ihre Autoren. Bei all diesen Texten mit Kafka-Bezug handelt es sich letztlich um eine Arbeit an der sich mehr und mehr universalisierenden »Autor-Legende« Kafka, in die autorenund leserspezifische Anteile gleichermaßen eingehen.29 Kafka wurde damit zu einem paradigmatischen Autor der Moderne, der selbst eine Tradition begründete.30 Dem Feld von Bildung, Vermittlung und Forschung kommt im Hinblick auf die Kanonisierung und Tradierung von Wissen um Kafka ebenfalls eine zentrale Rolle zu. Neben den bereits geschilderten Konjunkturen in wissenschaftlichen und belletristischen Publikationen wären die Aufnahme in Literaturgeschichten nebst den dort vorgenommenen Bewertungen und Einordnungen,31 28 29
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Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst. »Das Werk ist weder bloß Produkt des historischen Autor-Subjekts […], noch ist es ausschließlich die Vergegenständlichung einer vorgängig existierenden Autorintention. Auch wenn bei seiner Entstehung die Erlebnisse, Absichten und unbewussten Regungen dieses Subjekts eine wichtige Rolle gespielt haben mögen, so sind sie doch untrennbar an subjektübergreifende Vorstellungen und Ideologien gebunden.« Ulrich Stadler, Kafkas Poetik, Zürich/Berlin/Boston 2019, S. 19, S. 21. Vgl. Dieter Lamping, Kafkas Weltruhm. Eine Skizze (2013), https://literaturkritik.de (abgerufen am 15.1.2023). In der Literaturgeschichte findet Kafka bereits zu Lebzeiten Erwähnung, vgl. die Würdigung bei Adolf Bartels (1918), der in Die Deutsche Dichtung von Hebbel bis zur Gegenwart Kafka unter Rückgriff auf Kurt Pinthus und Max Brod bei den Expressionisten einordnet, dann bei Oskar Walzel (Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod, 1919), der einen Bezug zu Kleist herstellt und auf das Groteske in der Verwandlung weist, schließlich bei Karl Storck, Deutsche Literaturgeschichte (1919), der Kafka als Vertreter der Prager Literatur erfasst bzw. dem Prager Kreis zuordnet: »Eine eigene Stellung nimmt Prag ein, dessen eigenartige Umwelt in der Mischung deutschen, slavischen und jüdischen Lebens mit dem großen historischen und dem eigenartigen architektonischen Hintergrund auf einen beträchtlichen Ausschnitt gerade der neuesten Literatur starken Einfluß geübt hat. Es wäre da auf Meyrink, Max Brod, Paul Adler, Franz Kafka hinzuweisen, die in anderem Zusammenhang gewürdigt werden«, zit.n. Jürgen Born (Hg.), Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1924–1938, Frankfurt a.M. 1979, S. 168.
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die Erstellung von den Forschungsstand synthetisierenden Monografien und Qualifikationsarbeiten, die Regelmäßigkeit von universitären Lehrveranstaltungen sowie Texte von Kafka als Schullektüre und Übersetzungen zu nennen,32 wobei selbst Mis-readings33 eine wichtige Rolle spielen können. Hinzu kommen Fachgesellschaften und Periodika.34 Die dritte Ebene umfasst die komplexen intertextuellen und breit gestreuten genre-, kanon-, werk-, kultur- und sprachüberschreitenden Prozesse von Rezeption und Wirkung in allen Bereichen von Kunst und Kultur, der Literatur, der bildenden und darstellenden Kunst, der Musik, dem Film etc.35 Diese weltweit verlaufenden Prozesse setzen sich fachübergreifend sowie kultur- und systemüberschreitend, z.B. in der Alltagssprache, in der Werbung etc., durch. Bezugspunkte sind neben den an Kafkas Vita geknüpften Biografemen36 literarische (werkimmanente) sowie kontextuelle Themen, Motive, Topoi etc. Kaf-
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Erste Übersetzungen erfolgten noch zu Lebzeiten Kafkas ins Schwedische und Norwegische (1922), es folgten Übersetzungen ins Spanische (1925), Französische und Italienische (1928), 1930 dann ins Englische. Zur wirkungsmächtigen Rezeption und Wirkung sogenannter Mis-readings wie bei Deleuze/Guattari (1975) vgl. Caputo-Mayr, Einleitung zur zweiten Auflage und einige Bemerkungen über die globale Wirkung Franz Kafkas, in: dies./Herz (Hg.), Franz Kafka. Internationale Bibliographie; Marie-Odile Thirouin, Franz Kafka als Schutzpatron der minoritären Literaturen – eine französische Erfindung aus den 1970er-Jahren, in: Höhne/Udolph (Hg.), Franz Kafka, S. 333–354. Zu nennen wären aber auch die breit rezipierten, wahrscheinlich nie geführten Gespräche mit Kafka von Gustav Janouch, vgl. Eduard Goldstücker, Kafkas Eckermann? Zu Gustav Janouchs ›Gespräche mit Kafka‹, in: Claude David (Hg.), Franz Kafka. Themen und Probleme, Göttingen 1980 [1966], S. 238–255. Die einzige einschlägige Fachzeitschrift, das Journal of the Kafka-Society, erscheint in den USA. Weitere Indizien für das universale Phänomen ›Kafka‹, die hier nicht weiter aufgeführt werden sollen, bieten die Aufnahme in Anthologien sowie ›Klassikerbibliotheken‹, ferner in fachfremde (so z.B. der Artikel ›Franz Kafka‹ in der MGG – Musik in Geschichte und Gegenwart) und Universallexika, regelmäßige Berichterstattung in Feuilletons, vgl. Steinich/Engel, Ausgaben und Hilfsmittel, in: Engel/Auerochs (Hg.), KafkaHandbuch, S. 517–527, hier S. 525f. Angesichts dieser Komplexität verwundert es nicht, dass die Herausgeber des MetzlerHandbuches zu Kafka den formalen Aufbau der Handbuchreihe, »Leben, Werk, Wirkung«, nicht umsetzten und explizit auf den Teil Wirkung verzichteten, vgl. Engel/ Auerochs (Hg.), Kafka-Handbuch; Höhne/Udolph (Hg.), Franz Kafka. Hier kommt dem spezifischen Kafka-Habitus nebst partiellen Inszenierungsverweigerungen und einer ausgeprägt skrupulösen Publikationshaltung sicher eine zentrale Rolle zu, vgl. Stadler, Kafkas Poetik.
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ka wird damit zu einem universalen, entkontextualisierten Erinnerungsort, er ist, wie »Shakespeare, Dante und Molière, zum Gemeinbesitz der kultivierten Welt geworden.«37 Hierzu nur zwei Beispiele. Lange Zeit wurde in der KafkaForschung das tschechische Umfeld bestenfalls am Rande zur Kenntnis genommen, obwohl eine enge Verflechtung zwischen deutscher, jüdischer und tschechischer Kultur und Literatur in Prag, einem Knotenpunkt der Moderne, bestand.38 In vor allem englischsprachigen Publikationen verzichtet man zuweilen auf die Originalzitate Kafkas, sondern bezieht sich auf Übersetzungen, etwa bei Duttlinger (2018),39 mit der Folge einer auch sprachlichen Entkontextualisierung des Autors.
3. Zweite Vorannahme: Kafka und Habsburg-Wissen Das Interesse an Kafka als einem universalen Autor erfuhr auch in den 20 Jahren nach der letzten Gesamtbibliografie 1997 keinen Abbruch – im Gegenteil scheint sich eine neue Konjunktur anzubahnen, bei der Kafka allerdings stärker als zuvor an die Prager bzw. böhmischen Kontexte und deren multilinguale, -konfessionelle und -kulturelle Determinanten zurückgebunden wird. Hierfür spielen sicher der erleichterte Zugang zu den Archiven in der Tschechischen Republik nach 1989 eine Rolle, aber auch die verstärkte Zusammenarbeit von Germanisten, Slawisten und Historikern. D.h., in Anschluss an ein bekanntes Diktum von Milan Kundera,40 mit dem das »Jalta der Universitäten« beklagt wurde und damit die für den ostmitteleuropäischen Raum so fatale Auseinanderentwicklung von Germanistik und Slawistik in separierte Fachdisziplinen, zeigt sich ein vermehrtes fachübergreifendes Interesse eben
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Caputo-Mayr, Einleitung zur zweiten Auflage und einige Bemerkungen über die globale Wirkung Franz Kafkas, in: dies./Herz (Hg.), Franz Kafka. Internationale Bibliographie, S. XXIV. Vgl. Manfred Weinberg, Geteilte Kultur(en)? Prager Zwischenräume, in: Bernd Stiegler/Sylwia Werner (Hg.), Laboratorien der Moderne. Orte und Räume des Wissens in Mittel- und Osteuropa, Paderborn 2016, S. 115–132; Manfred Weinberg/Irina Wutsdorff/Štěpán Zbytovský (Hg.), Prager Moderne(n). Interkulturelle Perspektiven auf Raum, Identität und Literatur, Bielefeld 2018. Vgl. Duttlinger (Hg.), Franz Kafka in Context. Milan Kundera, Einleitung zu einer Anthologie oder Über drei Kontexte, in: Květoslav Chvatík (Hg.), Die Prager Moderne. Erzählungen, Gedichte, Manifeste, Frankfurt a.M. 1991, S. 7–22, hier S. 20.
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an den multilingualen Kontexten, die für Kafkas spezifisch mitteleuropäisch grundiertes Werk prägend waren.41 Kafka wird zumeist als ein weltabgewandter Autor mit einer gleichwohl universalen Thematik gelesen, durch die wiederum eine Enträumlichung bzw. Entlokalisierung bzw. -regionalisierung und Entzeitlichung sowie Enthistorisierung des Werkes erfolgte. Tatsächlich sind zeitgleich oder kurz nach Kafkas Tod entstandene Werke wie jene von Robert Musil (Der Mann ohne Eigenschaften) und erst recht von Joseph Roth und Stefan Zweig eindeutiger auf lebensweltliche, kulturelle und soziopolitische Erfahrungen mit und in der Habsburgermonarchie bzw. deren Untergang zu beziehen, auch wenn diese Werke selbstverständlich nicht völlig in dieser Thematik aufgehen. Insofern wundert es nicht, dass im Gegensatz zu den Werken dieser Autoren eine deutlich stärkere Entkontextualisierung mit Blick auf Kafka erfolgt, der auch im Kontext des Habsburg-Mythos42 eine eher marginale Rolle einnimmt, zumal sich Kafka selbst dazu eher distanziert äußerte. So vermerkt er am 8. März 1917 in einem Brief an Fritz Lampl, Anlass war eine Anfrage zur Mitarbeit an einer Zeitschrift für ein künftiges Groß-Österreich: »Ich bin nämlich nicht imstande mir ein im Geiste einheitliches Österreichertum klar zu machen und noch weniger allerdings mich einem solchen Geistigen ganz eingefügt zu denken.« (KKABr 4: 291) Gegen diese Resistenz im Hinblick auf eine einheitliche österreichische Kultur findet man andererseits Äußerungen, in denen Kafka die fragile habsburgische Lebenswelt auf seine Vita bezieht. An Max Brod berichtet er am 13. Januar 1921 aus Matliary über seine »innere Situation«: »Sie erinnert ein wenig an das alte Österreich. Es ging ja manchmal ganz gut, man lag am Abend auf dem Kanapee im schön geheizten Zimmer, das Thermometer im Mund, den Milchtopf neben sich und genoß irgendeinen Frieden, aber es war nur irgendeiner, der eigene war es nicht. Eine Kleinigkeit nur, ich weiß nicht, die Frage des Trautenauer Kreisgerichtes war nötig und der Thron in Wien fing zu schwanken an, ein Zahntechniker, das ist er
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Siehe hier die vom Verfasser begründete Reihe Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert, darin auch den Band 7 von Boris Blahak (Hg.), Franz Kafkas Literatursprache, 2015; ferner den Forschungsverbund Prag als Knotenpunkt europäischer Moderne(n), eine Kooperation der Tübinger Bohemistik und der Prager Germanistik, vgl. Weinberg/ Wutsdorff/Zbytovský (Hg.), Prager Moderne(n). Vgl. Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, Wien 2000 [1963].
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nämlich, studiert halblaut auf dem oberen Balkon und das ganze Reich, aber wirklich das ganze, brennt mit einemmal.« (Briefe, S. 288f.) Es dürfte somit nicht völlig verfehlt sein, Kafka auf österreichisch-böhmische Kontexte zu beziehen,43 immerhin ein habsburgisch sozialisierter Autor, der nicht nur den größten Teil seines Lebens in der Donaumonarchie verbracht hatte und lediglich die letzten sechs Lebensjahre in der Tschechoslowakei, die aber ihrerseits und dies ungeachtet aller Entösterreichungsabsichten habsburgische Traditionen fortsetzte. Und es ist auch nicht zu übersehen, dass sein Werk spezifisch habsburgische Historiografeme aufruft. Unter dem Neologismus Historiografem werden kommunikativ erzeugte, erinnerungskulturell verankerte und historisch verdichtete bzw. in ihrer Komplexität stark reduzierte Wissenselemente mit argumentativem Potenzial erfasst, die in mündlicher wie schriftlicher Interaktion Konnotationen bzgl. historischer Ereignisse bzw. Personen oder Institutionen assoziieren. Dies ist nicht untypisch für literarische Texte, kann aber auch in die Alltagspraxis diffundieren. Ein Beispiel wäre der Gebrauch des Lexems kafkárna in der Zeit der sogenannten Normalisierung nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, eine aus Kafkas Werk abgeleitete, metaphorische Umschreibung von Widrigkeiten der überbürokratisierten und undurchschaubaren sozialistischen Alltagsorganisation, welche gleichwohl keineswegs auf konkrete Textkenntnis rekurrieren muss.44 Kafkas Texte aus dem sogenannten China-Komplex des Jahres 1917, zu denen Beim Bau der chinesischen Mauer, Ein altes Blatt und Eine kaiserliche Botschaft gehören, ferner sei noch das Stadtwappen mit einbezogen, sollen als Beispiel für Rückgriffe auf Erfahrungen mit der habsburgischen Herrschaft dienen.45 Es geht in diesen Texten um Bauwerke, den Turm von Babel, die chinesische Mauer, es geht um Herrschaft und deren Desintegration, es geht um Auseinandersetzung mit Fremden bzw. Feinden, letztlich um (vergebliche)
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Vgl. Steffen Höhne, Kafka und Prag. Kulturelle und mentale Prägungen als Wirkungsbedingungen, in: ders./Udolph (Hg.), Franz Kafka, S. 259–280. Vgl. Jiří Stromšík, ›Kafkárny‹ – kafkaeske Situationen im totalitären Alltag, in: Hans Dieter Zimmermann (Hg.), Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas ›Der Prozeß‹, Würzburg 1992, S. 269–284. Vgl. Steffen Höhne, Das ›babylonische‹ Habsburg. Ideengeschichtliche Traditionen bei Kafka und das Problem des Universalismus, in: ders./Weinberg (Hg.), Franz Kafka im interkulturellen Kontext, S. 173–195.
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Steuerung von kultureller, sozialer und sprachlicher Vielfalt in einer Situation, in der »jede Landsmannschaft […] das schönste Quartier haben« wollte, wodurch sich »Streitigkeiten« ergaben, »die sich bis zu blutigen Kämpfen steigerten.« (KKAN II 319) Doch in der Folge, so das Desintegrationsnarrativ, »verbrachte man die Zeit nicht nur mit Kämpfen, in den Pausen verschönerte man die Stadt, wodurch man allerdings neuen Neid und neue Kämpfe hervorrief.« Auf diese Weise steigerte sich »die Kunstfertigkeit […] immerfort und damit die Kampfsucht.« (KKAN II 319) Dabei tritt neben die Tradition des Wettbewerbs oder Kampfes auch der Topos vielfältiger sozialer Kontaktsituationen und kulturell-sprachlicher Transfers, war man doch, wie Kafka deutlich macht, »schon viel zu sehr miteinander verbunden« (KKAN II 323), als dass man die Stadt verlassen könnte. Man ist also zum Zusammenleben verurteilt – und damit zu Erfahrungen, wie sie in den Böhmischen Ländern bzw. der Habsburgermonarchie insgesamt für die Jahre vor dem Weltkrieg ungeachtet aller Konflikte eben auch charakteristisch waren.46 Einen »aktualhistorischen Bezugsrahmen«47 findet man auch im Fragment Beim Bau der chinesischen Mauer, ein Text, in dem ein Gemeinschaftsideal evoziert wird, das konträr zum romantischen, schwärmerischen Diskurs nationaler Partikularität soziale Kohäsion und Immunisierung gegen die wirkungsmächtige Ideologie nationaler Identifikation propagiert und mit dem Kafka an das utopische Potenzial multiethnischer Stadtgesellschaften anknüpft.48 Allerdings scheint der Erzähler dem darin inhärenten Fortschrittsoptimismus nicht ganz zu trauen, was die verstreuten Hinweise auf ein mögliches Scheitern implizieren. Immerhin wird von ›Sinnlosigkeit‹ gesprochen, von einem möglichen Scheitern aufgrund »der Schwäche des Fundaments« (KKAN I: 343), gar von »Hoffnungslosigkeit solcher fleißigen aber selbst in einem langen Menschenleben nicht zum Ziele führenden Arbeit.« (KKAN I: 341) Noch pessimistischer erscheint der Erzähler in Ein altes Blatt, in dem ›herumtreibende und herumgetriebene‹ Nomaden49 das Reich 46
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Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und bezogen auf Prag vgl. die Studie von Ines Koeltzsch, Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918–1938), München 2012. Benno Wagner, Beim Bau der chinesischen Mauer, in: Engel/Auerochs (Hg.), KafkaHandbuch, S. 250–260, hier S. 255. Vgl. Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar 2010. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz, in: Uli Bielefeldt (Hg.), Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt?, Hamburg 1992, S. 23–49.
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längst infiltriert haben und »bis in die Hauptstadt gedrungen« sind, obwohl diese »doch sehr weit von der Grenze entfernt ist. Jedenfalls sind sie also da, es scheint, daß jeden Morgen mehr werden.« (KKAN I: 358; KKAD 264) In der Konfrontation mit den Nomaden versagen die gewohnten Verfahren zur Auslegung von Welt, Grundannahmen sozialen Lebens werden fraglich, kommunikatives Verständnis erscheint verbal wie nonverbal unmöglich: »Sprechen kann man mit den Nomaden nicht. Unsere Sprache kennen sie nicht, ja sie haben kaum eine eigene. Unter einander verständigen sie sich ähnlich wie Dohlen. Immer wieder hört man diesen Schrei der Dohlen. Unsere Lebensweise, unsere Einrichtungen sind ihnen ebenso unbegreiflich wie gleichgiltig. Infolgedessen zeigen sie sich auch gegen jede Zeichensprache ablehnend. Du magst dir die Kiefer verrenken und die Hände aus den Gelenken winden, sie haben Dich doch nicht verstanden und werden Dich nie verstehen. Oft machen sie Grimassen; dann dreht sich das Weiß ihrer Augen und Schaum schwillt aus ihrem Munde, doch wollen sie damit weder etwas sagen noch auch erschrecken; sie tun es, weil es so ihre Art ist.« (KKAN I, S. 359; KKAD, S. 264f.) Neben einer die Alltagsroutinen in Frage stellenden Verunsicherung, in der die gewohnten Wahrnehmungs- und Erwartungsmuster ihre Orientierungsleistung verlieren, Normalitätsannahmen außer Kraft gesetzt werden, tritt eine erschreckende Transzendierung von Mensch und Tier: »Auch ihre Pferde fressen Fleisch; oft liegt ein Reiter neben seinem Pferd und beide nähren sich vom gleichen Fleischstück, jeder an einem Ende. […] Letzthin dachte der Fleischer, er könne sich wenigstens die Mühe des Schlachtens sparen, und brachte am Morgen einen lebendigen Ochsen. Das darf er nicht mehr wiederholen. Ich lag wohl eine Stunde ganz hinten in meiner Werkstatt platt auf dem Boden und alle meine Kleider, Decken und Polster hatte ich über mir aufgehäuft, nur um das Gebrüll des Ochsen nicht zu hören, den von allen Seiten die Nomaden ansprangen, um mit den Zähnen Stücke aus seinem warmen Fleisch zu reißen. Schon lange war es still ehe ich mich auszugehen getraute; wie Trinker um ein Weinfaß lagen sie müde um die Reste des Ochsen.« (KKAN I: 360; KKAD 265f.) Eine zuvor sesshafte, hierarchisch gegliederte, dynastisch regierte Gesellschaft mit eindeutigen, durch einen Mauerbau symbolisch und machtpolitisch markierten Grenzen wird durch grenzüberschreitende, exogene Durchdringung in ihrer Substanz erschüttert und neuen Ausdifferenzierungsprozessen
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unterzogen, mit denen ein Wechsel von einem universalen Staatsnarrativ zu partikularen und unkontrollierbaren vormodernen Stammesgewalten erfolgt. Der Hof als politisches Zentrum kann angesichts der Erosion von staatlicher Ordnung und Verfall seine konfliktregulierenden Verfahren des Gewaltmonopols nicht mehr durchsetzen. Der Kaiser steht lediglich »an einem Fenster und blickte mit gesenktem Kopf auf das Treiben vor seinem Schloß.« (KKAN I: 360; KKAD 266) Die Botschaft des Kaisers kommt bei den Völkern nicht mehr an. Kafkas Werk kann somit, ohne den einzelnen Text auf eine historische Quelle oder Deutung reduzieren zu wollen, als Kondensat eines sich universalisierenden Habsburg-Wissens in der Phase der Erosion der Monarchie 1917 und damit erhöhter politischer und sozialer Unsicherheit nicht zuletzt für einen jüdischen Untertan gelesen werden. Die Frage, die sich nun stellt, ist die nach dem Wissenstransfer in einer Situation, in der Kafka primär als ein universaler Autor gelesen und gedeutet wurde. Wie verlief ein Wissenstransfer, in dem eine Rückbindung an habsburgische Komplexe intendiert war? Wer waren die Gate-Keeper,50 die den Wissensfluss beförderten in einer Situation, in der Kafka in den USA und in Frankreich, später dann in Deutschland als ein eher entkontextualierter Autor gelesen wurde? Geht man davon aus, dass Wissen als historisches Phänomen zu bestimmten Zeiten und in bestimmter Form auftritt, zwischen Individuen und Gruppen zirkuliert und durch Anstöße aus anderen Wissens- und Erfahrungsfeldern transformiert wird,51 dann liegt die Vermutung nahe, insbesondere Emigranten mit ihren spezifischen akademischen Sozialisationen und lebensweltlichen Erfahrungen als Produzenten, Förderer und Übersetzer von (neuem) Wissen zu identifizieren. Somit lässt sich die These formulieren, dass eine Kontextualisierung, d.h. die Verbindung von Habsburg-Wissen mit Werk und Wirken Franz Kafkas, zu einem maßgeblichen Teil über in die USA exilierte Geisteswissenschaftler aus Österreich bzw. den früheren Kronländern erfolgte.52 50 51 52
Vgl. Peter Burke, Die Explosion des Wissens. Von der Encyclopédie bis Wikipedia, Bonn 2014, S. 103. Vgl. Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011) 1, S. 159–172, hier S. 164. Ein hier allein schon aus Gründen des Umfangs nicht weiter auszuführendes Beispiel für die Art und Weise einer Uminterpretation von Wissen im Prozess des Überquerens kultureller Grenzen dürfte die Konjunktur psychoanalytischer Ansätze in den USA sein, die eng mit der Emigration deutscher und österreichischer Psychoanalytiker verbunden war. Die erste Studie über Kafka in Sigmund Freuds Imago (1931) stammt von Hell-
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4. Die Akteure der Wissensvermittlung In einer Fallstudie seien drei aus dem kulturellen und wissenschaftlichen Kontext der alten Donaumonarchie stammende US-Emigranten vorgestellt, die als Katalysator intellektueller Entwicklungen53 eine entscheidende Wirkung für die sich etablierende Kafka-Forschung besaßen und durch die ein mitteloder zentraleuropäisches Wissen zu einem westlichen und schließlich globalen Wissen avancierte.54 Dies sind Heinz Politzer, Walter Sokel und Peter Demetz, für die ungeachtet aller Unterschiede eine gemeinsame Exilerfahrung postuliert werden darf – nämlich das Konzept der kulturellen Heimat, die ins Exil mitgenommen wird, wie es der Wiener Sokel formuliert hat: »Diese Liebe [zur Literatur] nahm ich über den Ozean mit in die amerikanische Emigration, wo sie durch Nostalgie vertieft noch intensiver wurde. Ich empfand Amerika zunächst als wahre Fremde, in der ich im echtesten Sinn des Schlagwortes ›verfremdet‹ lebte. Und da war Österreich, vermittelt durch seine Literatur, eine versunkene Heimat, von der ich aber selbst eigentlich immer schon ausgeschlossen gewesen war.«55 Sie alle mussten versuchen, »das Land zu begreifen, und das mit Hilfe europäischer Begriffe und Denkmuster, deren Angemessenheit sie nicht immer sicher sein konnten.«56 Auffällig wurde dabei ein mehr oder weniger manifester Anspruch, eine Brückenfunktion zwischen Europa und Amerika einzunehmen, wie es Sokel in einem Interview akzentuierte: »Ja, ich versuchte immer
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muth Kaiser, vgl. Politzer, Einleitung, in: ders. (Hg.), Franz Kafka (Wege der Forschung), S. 1–32, hier S. 4. Vgl. Burke, Die Explosion des Wissens, S. 251. Vgl. hierzu das Forschungsprojekt Bildungsbiografien und Wissenstransfers | Studierende der Universität Wien vor und nach 1938, das von November 2004 bis September 2007 von Herbert Posch, Doris Ingrisch und Gert Dressel unter Leitung von Friedrich Stadler durchgeführt wurde, eine Kooperation des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien mit dem Institut für Hochschulforschung der Universität Klagenfurt, https://forum-zeitgeschichte.univie.ac.at/projekte/studierende-1938/#c1082 (abgerufen am 15.1.2023). Walter H. Sokel, Anfänge in düsterer Zeit, in: Leben mit österreichischer Literatur. Begegnungen mit aus Österreich stammenden amerikanischen Germanisten 1938/1988. Elf Erinnerungen, hg. v. d. Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur u. d. Österreichischen Gesellschaft für Literatur, Wien 1990, S. 15–28, hier S. 23. Anthony Heilbut, Kultur ohne Heimat. Deutsche Emigranten in den USA nach 1930, Berlin 1987, S. 61.
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in meinen Vorlesungen die Amerikaner mit der deutschen Geistesgeschichte und Literatur vertraut zu machen und immer Verbindungen zur englischen und amerikanischen zu ziehen.«57 Diese Brückenfunktion zeigt sich zum einen in dem Stellenwert, der der habsburgischen Kultur und Literatur in Lehre wie Forschung beigemessen wurde, zum anderen in der Tatsache, dass sich fast alle in den USA lebenden österreichischen Germanisten mit dem Phänomen Kafka befassten, neben Sokel, Politzer und eingeschränkter auch Demetz wären Harry Zahn, Evelyn Torton Beck (University of Maryland) und Egon Schwarz (Harvard und Washington University, St. Louis) zu nennen,58 so dass sich tatsächlich von einem ›Geschenk Hitlers‹ für die amerikanische Kultur sprechen ließe.59 Nur am Rande seien weitere mitteleuropäisch sozialisierte Kafka-Forscher genannt, Ernst Fischer (* 1899 in Komotau), Erich Heller (* 1911 in Komotau), Gerhard Neumann (* 1934 in Brünn/Brno). Herausforderungen bestanden für alle exilierten Wissenschaftler, ungeachtet einer rationalistischen Universalitätsannahme, und dies gilt selbst in den Naturwissenschaften, in den »national« oder »even local styles in science«,60 was sowohl die Präsentation der Lehre, die Art der Publikationen und die sozialen Interaktionen auf dem Campus betrafen.61 Zwar bot das nicht 57
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Allerdings ging es auch darum, die vorhandenen Bipolaritäten zu markieren. Erneut Sokel: »Da begann ich die sehr populär werdenden Kurse in englischer Übersetzung über deutsche Geistesgeschichte, deutsche Ideengeschichte. Die führten ganz bewusst zu zwei Richtungen: Einerseits gipfelnd im Nazismus, einem hochintellektuellen Nazismus natürlich, und dann andererseits im Gegenteil. Ich versuchte immer, diese zwei Seiten herauszuarbeiten. Zum Beispiel die Doppeldeutigkeit Nietzsches in dieser Hinsicht, die doppelte Sichtigkeit. Das Janusgesicht von Nietzsche – einerseits auf den Faschismus vorausweisend, andererseits das Gegenteil.« Herbert Posch/Doris Ingrisch/ Gerd Dressel, »Anschluss« und Ausschluss 1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien, Wien/Berlin 2008, S. 318f. Vgl. Beatrix Müller-Kampel, Lebenswege und Lieblingslektüre österreichischer NS-Vertriebener in den USA und Kanada, in: dies. (Hg.), Lebenswege und Lektüren. Österreichische NS-Vertriebene in den USA und Kanada, Tübingen 2000, S. 1–18, hier S. 16. Vgl. Mitchell G. Ash/Alfons Söllner, Introduction: Forced Migration and Scientific Change after 1933, in: dies. (Hg.), Forced Migration and Scientific Change. Emigré German-Speaking Scientists and Scholars after 1933, Washington 1996, S. 1–19, hier S. 3. Ebd., S. 5. Vgl. Johan Galtung, Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein vergleichender Essay über sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft, in: Alois
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nur in kommunikativer Hinsicht offenere System der USA durchaus Vorteile bei der Integration,62 gleichwohl bestanden auch Hindernisse, nicht zuletzt in den Nachwirkungen der Great Depression und den damit verbundenen »widespread fears of unemployment and competition for scarce resources among scientists and professionals in the host countries«, weshalb man eher von »acculturation rather than assimilation as an organizing concept« sprechen müsste.63
4.1 Exkurs: Kafka in den USA Der Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kafka im angelsächsischen und französischen Kontext erfolgte in den 1930er und 1940er Jahren, somit deutlich früher als im deutschsprachigen Raum, hier im Wesentlichen nach 1945,64 und im Ostblock, hier ab den 1950er Jahren, verstärkt in den 1960er Jahren nach der Konferenz von Liblice.65 Allerdings lässt sich für die Vermittlung Kafkas in den USA in den 1930er Jahren zunächst eine zögerliche Rezeption feststellen. Die Frühphase der Kafka-Rezeption stand unter dem Einfluss der ersten Übersetzungen, 1929 Das Urteil von Eugene Jolas, 1930 Das Schloß von Edwin und Willa Muir, sowie Paraphrasen vorgefertigter Deutungen. Doch weniger die Übersetzung des SchloßRomans, obwohl hierzu immerhin sechs Rezensionen erschienen,66 wie auch des Proceß-Romans (1937) – als die Psychoanalyse längst etabliert war – führten
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Wierlacher (Hg.), Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik, München 1985, S. 151–193; Richard Münch, Die Kultur der Moderne. Bd. 1: Ihre Grundlagen und ihre Entwicklung in England und Amerika, Frankfurt a.M. 1986. Vgl. ebd., S. 10: »the United States as a nation of immigrants, and the continuing respect for German intellectual culture among segments of the educated elites«. Ebd., S. 10f. Für die Zeit bis 1938 vgl. Born (Hg.), Franz Kafka. Vgl. Steffen Höhne, 1968, Prag und die DDR-Germanistik. Zur Verflechtung von Ideologie und Politik in der Kafka-Rezeption, in: Wolfgang Adam/Holger Dainat/Gunter Schandera (Hg.), Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung?, Heidelberg 2003, S. 225–244; Manfred Weinberg, Die beiden Konferenzen von Liblice, in: Peter Becher/Steffen Höhne/Jörg Krappmann/Manfred Weinberg (Hg.), Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder, Stuttgart/Weimar 2017, S. 24–27. Vgl. Paul Kurt Ackermann, A History of Critical Writing on Kafka, in: The German Quarterly 23 (March) (1950) 2, S. 105–113, hier S. 107.
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zur Durchsetzung Kafkas67 als vielmehr die Desillusionierung der Intellektuellen vom sowjetischen Kommunismus; diese hatten »ihren letzten ReligionsErsatz« eingebüßt und fanden »sich in den enttäuschten, illusionslosen, landflüchtigen und der Wirklichkeit abhanden gekommenen Helden Kafkas« wieder.68 In den 1940er Jahren folgte im Blick auf Kafka eine Entfaltung der »prophetischen Qualität und Schockwirkung im Krisengefühl« und dann die »kanonische Geltung für das Existenzdilemma des modern man in den fünfziger und sechziger Jahren.«69 Wichtig ist dann Edwin und Willa Muirs Übersetzung von Amerika (1940) bei New Directions (Norfolk/CT) zu nennen,70 die Einführung verfasste Klaus Mann, das Nachwort Max Brod. 1941 folgte die Neuauflage von The Castle (Erstausgabe 1930), ebenfalls in Übersetzung von Edwin und Willa Muir mit einer Einführung von Thomas Mann.71 Insbesondere Max Brods Nachwort mit der Deutung des Romans Amerika als religiöse Allegorie – so das Rezeptionsstichwort – entfaltete eine intensivere Wirkung. Die US-amerikanische Kafka-Diskussion der 1940er Jahre war entsprechend von einer Kontroverse zwischen marxistisch-materialistischen Ansätzen (Wilson, Arendt) und einer metaphysischen oder religiösen Sicht (Klaus Mann, Johannes Urzidil) dominiert, letzterer spricht in Bezug auf Kafkas Erzählungen und Romane von »spirituellen Bauten«.72 In die literarischen Kreise New Yorks, Bostons, Chicagos und San Franciscos fand Kafkas Werk Ende der 1930er, Anfang der 1940er Jahre Eingang. Erste
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Vgl. Heinz Politzer, Problematik und Probleme der Kafka-Forschung, in: ders. (Hg.), Franz Kafka (Wege der Forschung), S. 214–225. Ebd., S. 222. Peter U. Beicken, Geschichte der Kafka-Rezeption, S. 777. Zu den Muirs vgl. Elgin W. Mellown, The Development of a Criticism: Edwin Muir and Franz Kafka, in: Comparative Literature 16 (1964) 4, S. 310-321; Mark Harman, ›Digging the Pit of Babel‹: Retranslating Franz Kafka’s Castle, in: New Literary History 27 (1996) 2, S. 291–311; Catriona MacLeod, Displaced Vernaculars: Edwin and Willa Muir, Kafka, and the Languages of Modernism, in: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory 93 (2018), S. 48–57 sowie Michelle Woods, Kafka Translated: How Translations Have Shaped our Reading of Kafka, New York 2014, die auf die problematischen Übersetzungen eingeht. Vgl. Harman, ›Digging the Pit of Babel‹; MacLeod, Displaced Vernaculars. Johannes Urzidil, The Oak and the Rock, in: Angel Flores (Hg.), The Kafka Problem. An Anthology of Criticism about Franz Kafka, New York 1946, S. 276–286, hier S. 276.
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Beiträge stammen von Philip Rahv, John Kelly und Austin Warren in der Southern Review.73 Einen Abschluss fand die erste kontroverse Debatte um Kafka am Ende des Jahrzehnts (1950) mit Heinz Politzer und der Kritik an einer simplen Übersetzung von Kafkas Symbolsprache. In dieser Kontroverse standen sich zwei Gruppen gegenüber: auf der einen Seite mit dem Literary Criticism vertraute US-Intellektuelle, auf der anderen Seite Emigranten aus Europa wie Johannes Urzidil, Hannah Arendt und Heinz Politzer, ferner Hermann Broch. Letztere waren mit der »eigentümlichen politischen und ethnischen Situation Prags wohl vertraut, sie kannten den Nationalitätenkonflikt zwischen Tschechen und Deutschen. Auch der deutsche, österreichische und tschechische Antisemitismus war ihnen nicht fremd.«74 Die US-Gruppe befasste sich eher mit den Texten, weniger mit den Kontexten, während bei den Emigranten
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Vgl. Philip Rahv, The Death of Ivan Ilyich and Josef K., in: Southern Review (Summer) 1939, S. 174–185; John Kelly, Franz Kafka’s Trial and the Theology of Crisis, in: Southern Review (Spring) 1940, S. 748–766; Austin Warren, Kosmos Kafka, and an exegetical note on ›The Penal Colony‹, in: Southern Review (Fall) 1941, S. 350–365, vgl. Paul Kurt Ackermann, A History of Critical Writing on Kafka, in: The German Quarterly 23 (March) (1950) 2, S. 105–113, hier S. 109. Bei Kelly handle es sich um eine »very penetrating religious interpretation« (Ackermann, S. 110), bei Warren erfolgte eine Herausarbeitung von Kafkas Eigenständigkeit und seiner geschlossenen Welt, womit im Sinne des New Criticism die Forderung nach Werkautonomie vertreten wurde. Rahv gründete 1937 die Partisan Review, in der drei Erzählungen Kafkas (1939–1942), eine Auswahl aus den Tagebüchern und Essays von Max Brod (Kafka: Father and Son, 1938) und Hannah Arendt (1944) erschienen. – Von Bedeutung ist ferner Wystan Hugh Auden mit seinem Beitrag »The Wandering Jew«, veröffentlicht 1941 in The New Republic (Nr. 10, February, S. 185f.), in dem per Analogisierung Kafkas mit Dante, Shakespeare und Goethe eine Einordnung Kafkas in den weltliterarischen Zusammenhang erfolgt und das Konzept des heimatlosen Juden aufgerufen wird, »der das jüdische Schicksal und damit das moderne Lebensschicksal exemplarisch verdeutlicht.« Beicken, Geschichte der Kafka-Rezeption, S. 779. Jürgen Born, Kafka im Exil. Die Kafka-Rezeption während der vierziger Jahre in Amerika, in: Wolfgang Kraus/Norbert Winkler (Hg.), Das Phänomen Franz Kafka (Schriften der österreichischen Franz Kafka-Gesellschaft 7), Prag 1997, S. 95–105, hier S. 98. Bei Hannah Arendt (1944), die in ihren sozialgeschichtlichen Studien Kenntnis der Gesellschaftsstruktur Habsburgs sowie der Mechanismen der Behördenapparate bzw. des Fortlebens von Institutionen, deren Funktionieren sich bis zur Widersinnigkeit steigern kann, belegt, wird gegen metaphysische und psychoanalytische Interpretationen Kafkas argumentiert. Arendt akzentuiert insbesondere die bürokratischen Hierarchien im Proceß und im Schloß.
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immer die mitteleuropäische Situation mit einfloss. Politzer lebte in den 1930er Jahren eine Weile in Prag, wo er Max Brod bei der Herausgabe von Kafkas Gesammelten Schriften unterstützte. Johannes Urzidil und seine Frau gewannen ihre Autorität sogar noch aus einer persönlichen Bekanntschaft mit Kafka: »Hier haben sich die amerikanischen ›Kafkanianer‹ auf uns gestürzt, weil wir ihn persönlich kannten, und wir konnten uns des Ansturms begierig Einzelheiten sammelnder Literaten kaum erwehren […]. [Die] Fülle der Haarspalterei, mit der jetzt jeder jüdische und nichtjüdische Intellektuelle sich selbst durch Kafka-Analysen legitimieren zu sollen glaubt, übersteigt das Maß des Erträglichen.«75
4.2 Heinz Politzer Heinz Politzer (* 31. Dezember 1910 in Wien; † 31. Juli 1978 in Berkeley/CA) studierte nach Abschluss des Humanistischen Gymnasiums von 1929–34 zunächst in Wien, dann in Prag Germanistik und Anglistik. Gemeinsam mit Max Brod gab er die ersten vier Bände der Gesammelten Werke von Kafka heraus (1933–1935).76 Teile des fünften Bandes (Beschreibung eines Kampfes) konnte er noch für den Druck vorbereiten. Die zu Anfang der 1930er Jahre begonnene Dissertation blieb unvollendet, bildete dann Ende der 1950er Jahre die Grundlage seines Standardwerks Franz Kafka. Parable and Paradox (Ithaka 1962).77 Politzer erinnert im Vorwort seiner Kafka-Monografie an die veränderte Situation nach 1933: »Nach dem März 1933 war selbst auf der deutschen Uni-
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Johannes Urzidil, Brief an Hans Fronius, in: Der Turm 2/9-10, Wien 1946/47, S. 356. Politzer gab Vor dem Gesetz heraus (Berlin: Schocken, 1934); gemeinsam mit Max Brod edierte er im Rahmen der Werkausgabe die ersten vier Bände: Franz Kafka, Gesammelte Schriften. 6 Bde., Berlin 1935–1937 (Bd. 1: Erzählungen und kleine Prosa, 1935; Bd. 2: Amerika. Roman, 1935; Bd. 3: Der Prozeß. Roman, 2 1935; Bd. 4: Das Schloß. Roman, 2 1935, hg. v. Max Brod und Heinz Politzer; Bd. 5: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlass, 1936; Bd. 6: Tagebücher 1910–1923, 1937; Bd. 7: Briefe an Milena, 1946; Bd. 8: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass, 1953; hg. v. Max Brod). Beide verantworteten auch die Nachkriegsausgabe: Franz Kafka, Gesammelte Schriften, hg. v. Heinz Politzer u. Max Brod, 2 vols., New York 1946–1953. Eine erweiterte Ausgabe erschien 1966, die deutsche Ausgabe Franz Kafka, der Künstler 1965 bei S. Fischer, 1978 bei Suhrkamp.
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versität der tschechischen Hauptstadt die Atmosphäre einer germanistischen Arbeit über Kafka nicht mehr günstig.«78 1938 emigrierte Politzer zunächst nach Jerusalem, seit 1947 lebte er in den USA, 1950 erwarb er den PhD am Bryn Mawr College, 1952 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft und wirkte als Germanist 1952–60 am Oberlin College in Ohio, 1960 bis zu seiner Emeritierung 1978 als Full Professor an der University of California in Berkeley.79 Seine wissenschaftliche Wirkung basiert neben Publikationen zu Kafka80 auf grundlegenden Abhandlungen zur
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Auch ein Plan, eine Literaturgeschichte der deutsch-jüdischen Symbiose zu verfassen, erwies sich schnell als obsolet, schien es doch, »daß keiner, auch Karl Kraus nicht, das literarische Connubium so klar durchschaut hatte wie Kafka, als er schrieb, diese Literatur sei ›ein Provisorium‹ gewesen.« Heinz Politzer, Franz Kafka, der Künstler, Frankfurt a.M. 2 1978, S. 13. Wilhelm Hemecker, Politzer, Heinz, in: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), S. 600, www.deutsche-biographie.de/pnd118741373.html#ndbcontent (abgerufen am 15.1.2023). In der Festschrift für Heinz Politzer (Karen Hagedorn, Heinz Politzer – Bibliographie, in: Richard Brinkmann/Winfried Kudszus/Hinrich C. Seeba (Hg.), Austriaca. Beiträge zur österreichischen Literatur. Festschrift für Heinz Politzer zum 65. Geburtstag, Tübingen 1975, S. 483–490) werden dessen Kafka-Studien erfasst: Zur Kafka-Philologie, in: Die Sammlung 2 (1935), S. 386f.; Franz Kafkas Autograph, in: Die Schrift 1 (1935), S. 94–97; Franz Kafka. Versuch einer Deutung der Anekdote ›Gibs auf‹, in: Jüdische Welt-Rundschau (6.9.1939), S. 5; Der Dichter Franz Kafka, in: Das Silberboot 2 (1946), S. 41f.; Franz Kafka und die Zeit, in: Der Turm 1 (1946/47), S. 66–69; ›Give it up‹, in: Flores (Hg.), The Kafka Problem, S. 117–121; Von Mendelssohn bis Kafka. Der jüdische Mensch im literarischen Schaffen Deutschlands, in: Jüdische Rundschau 14/15 (1947), S. 28–31; Problematik und Probleme der Kafka-Forschung, in: Monatshefte für den deutschen Unterricht, Deutsche Sprache und Literatur 42 (1950), S. 273–282; Recent Trends in Kafka Criticism, in: Books Abroad 27 (1953), S. 143f.; Franz Kafka’s Letter to His Father, in: Germanic Review 28 (1953), S. 165–179; Franz Kafka. Metaphysical Anarchist, in: Renascence 6 (1954), S. 106–111; Prague and the Origins of Rainer Maria Rilke, Franz Kafka and Franz Werfel, in: Modern Language Quarterly 16 (1955), S. 49–62; Das Paradoxe in der Parabel, in: Forum 5 (1958), S. 453–455; Die Verwandlung des armen Spielmanns. Ein Grillparzer-Motiv bei Franz Kafka, in: Forum 5 (1958), S. 372–375; Kafkas Prozeß gegen das Gericht, in: Wort und Wahrheit 16 (1959), S. 279–291; Franz Kafka und die Krankheit, in: CIBA-Symposium 6 (1959), S. 90–93; Kafka mit der roten Nelke, in: Forum 6 (1959), S. 269–272; Der wahre Arzt. Franz Kafka und Albert Camus, in: Der Monat 11/132 (1959), S. 3–13; Eine Parabel Franz Kafkas. Versuch einer Interpretation, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 4 (1960), S. 463–483; Ein gefirmter Kafka?, in: Wort und Wahrheit 15 (1960), S. 721f.; The Puzzle of Kafka’s Prosecuting Attorney, in: PMLA Publications of the Modern Language Association of America 75 (1960), S. 432–438; Franz Kafka’s Language,
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österreichischen Literatur, so mit seinem zweiten Hauptwerk Franz Grillparzer oder Das abgründige Biedermeier (Wien 1972).81 Methodisch setzte er zunehmend die Psychoanalyse als Deutungsinstrument ein und wurde zum maßgebenden Vertreter psychoanalytischer Literaturkritik.82 Politzer verband europäische Perspektiven mit den dominanten Methoden der US-Literaturkritik. »Die Hauptprinzipien des New Criticism, Ambiguität, Pluralismus und close reading, verwendet er neben Stilkritik, Werkimmanenz, Psychologie, Biographie und Geistesgeschichte, philosophisch erweitert
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in: Modern Fiction Studies 8 (1962), S. 16–22; Kunstwerk als Tierbau. Zur Deutung des späten Kafka, in: Forum 9 (1962), S. 405–408, S. 455–458; The Trail against the Court, in: Daedalus (Sommer 1964), S. 976–997; Wer hat Angst vor dem bösen Franz? Kafka hinter dem Eisernen Vorhang, in: Forum 135/136 (März/April 1965), S. 138–141, S. 188–191; Kafka Returns to Czechoslovakia, in: Survey 57 (Oktober 1965), S. 86f.; Ein Flug um die Lampe herum – ein unbekanntes Werk von Kafka, in: Literatur und Kritik 6 (1966), S. 51f.; Das Schweigen der Sirenen, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 41 (1967), S. 444–467; Der Turm und das Tier aus dem Abgrund. Zur Bildsprache der österreichischen Dichtung bei Grillparzer, Hofmannsthal und Kafka, in: Grillparzer Forum Forchtenstein, Bericht 1968, hg. v. Elisabeth Schmitz, Heidelberg 1969, S. 24–42; Franz Kafkas vollendeter Roman. Zur Typologie seiner Briefe an Felice Bauer, in: Wolfgang Paulsen (Hg.), Das Nachleben der Romantik in der modernen deutschen Literatur, Heidelberg 1969, S. 192–211; Dieses Mütterchen hat Krallen. Prag und die Ursprünge Rainer Maria Rilkes, Franz Kafkas und Franz Werfels, in: Literatur und Kritik 81 (1974), S. 15–33; The Alienated Self. A Key to Kafka’s ›Castle‹?, in: Michigan Quarterly Review 14 (1975), S. 398–414; Franz Kafka: ›Und die Menschen gehen in Kleidern …‹, in: FAZ (1.11.1975). Nicht erfasst bei Hagedorn (1975) wurden Politzers KafkaBeiträge in der Selbstwehr: Franz Kafkas zweifache Heimat, in: Selbstwehr (1.6.1934); Eine Handvoll jüdischer Kleinbücher, in: Selbstwehr (24.5.1935); Franz Kafkas Nachlaß/ Beschreibung eines Kampfes, in: Selbstwehr (18.12.1936); Franz Kafkas Tagebücher und Briefe, in: Selbstwehr (28.5.1937). Ebenfalls fehlt der Band Heinz Politzer (Hg.), Franz Kafka (Wege der Forschung), Darmstadt 1973 mit der Einleitung, S. 1–32. Politzer, Franz Kafka, der Künstler, S. 9; siehe ferner die Studien Martin Buber. Humanist and Teacher, New York 1957; Das Schweigen der Sirenen. Studien zur deutschen und österreichischen Literatur, Stuttgart 1968; Johannes Urzidil, Morgen fahr’ ich heim. Böhmische Erzählungen, hg. u. Nachwort v. Heinz Politzer; Hatte Ödipus einen ÖdipusKomplex? Versuche zum Thema Psychoanalyse und Literatur, München 1974; Freud und das Tragische, Wien 2003. Politzer erhielt folgende Auszeichnungen: die Silbermedaille des Commonwealth Club of California (1963), das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Kl. (1966), das Bundesverdienstkreuz I. Kl. (1966), die Goldene Goethe-Medaille (1969), den Grillparzer-Ring (1972), den Preis der Stadt Wien für Geisteswissenschaften (1974).
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durch Camus’ Begriff des Absurden.«83 Von Interesse ist die Historisierung der eigenen Interpretation und die Rückbindung an Prag, wenn z.B. gegen Wilhelm Emrich bezweifelt wird, ob man »den kakanischen Juden Kafka am Richtmaß der klassischen deutschen Ästhetik und ihrer Traditionen messen« könne.84 Entsprechend positiv urteilt Politzer über Klaus Wagenbachs Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend (1958): »Interpretation, und nun gar ›werkimmanente‹, wird aufs peinlichste vermieden – Photographien und anderes Dokumentarische gehören zum Text, sind gleichsam ins Wort eingearbeitet. So wird die Prager Atmosphäre jener Jahre 1883–1912 in ihrer Dichte und Dumpfigkeit heraufbeschworen, der soziale Aufstieg des Vaters durch die allzu häufigen Wohnungswechsel auf dem Stadtplan nachgezeichnet, die hybride Reinheit von Kafkas Sprache aus der ›Sprachnot‹ des Prager Deutsch entwickelt.«85 Darüber hinaus wird unter Verweis auf Urzidil und Isidor Pollak der Blick auf Kafkas »slawische Lust am Märtyrertum« und eine »jüdische Leidensironie, die sich der deutschen Sprache lediglich bediente«, gelenkt.86 Entsprechend greift Politzers Plädoyer aus dem Jahr 1950 über den Prager Kontext hinaus, wenn er die historischen Kontextualisierungen auf die ganze Monarchie erweitert und damit als einer der ersten im akademischen Diskurs eine habsburgische Lesart eröffnet: »Stoffgeschichtlich kann Kafkas Werk nicht ohne authentische Zeichnung des historischen Hintergrunds erfaßt werden. In mehr als einem Sinn hat er die Größe, den Übermut und den Untergang der österreichischen Doppelmonarchie und damit des noch stabilisierten Vorkriegs-Europa in seinem Werk ausgesprochen. Das Zwischenreich der Beamten im ›Schloß‹ und im ›Prozeß‹ etwa bietet nicht nur das Grauen einer eschatologischen Vision, sondern auch eine gesunde geschichtliche Satire auf die altösterreichische Bürokratie.«87
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Beicken, Geschichte der Kafka-Rezeption, S. 781; Politzer, Franz Kafka, der Künstler, S. 14f. Politzer, Einleitung, in: ders. (Hg.), Franz Kafka (Wege der Forschung), S. 1–32, hier S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. Politzer, Problematik und Probleme der Kafka-Forschung, in: ders. (Hg.), Franz Kafka (Wege der Forschung), S. 214–225, hier S. 224f.
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Gefordert wird, »Kafkas Werk in die Tradition der österreichischen Erzählung einzureihen«,88 womit Politzer zwar gerade nicht Stifter meint, an den man denken könnte, sondern Rilkes Malte Laurids Brigge und Hofmannsthals Andreas-Fragment nennt.
4.3 Walter Sokel Walter Herbert Sokel (* 17. Dezember 1917 in Wien; † 21. Februar 2014 in San Francisco), der 1934 Mitglied im Bund Sozialistischer Mittelschüler war und von 1936 bis Anfang 1938 Romanistik und Kunstgeschichte an der Universität Wien studierte, emigrierte 1939 über Italien und die Schweiz in die USA, wo er 1944 die Staatsbürgerschaft erhielt.89 Sokel arbeitete zunächst als Bote, Bürogehilfe und Liftboy und studierte an der Rutgers University in New Jersey. Dank eines Empfehlungsschreibens von Thomas Mann erhielt er ein Stipendium und konnte Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University in New York studieren. 1953 erhielt er den PhD für eine Arbeit über den literarischen Expressionismus, von 1964 bis zur Emeritierung 1994 war er Ordinarius in Stanford. Ferner nahm er die Commonwealth-Professur für Germanistik und Anglistik an der University of Virginia ein. Als international renommierter Kafka-Experte lehrte er schließlich an zahlreichen amerikanischen und europäischen Universitäten.90 Das bereits erwähnte Wien-Klagenfurter Forschungsprojekt Bildungsbiografien und Wissenstransfers nennt an prominenter Stelle Walter Sokel als exemplarischen Fall eines Wissenschaftlers, dessen Weg vom Laufburschen an der Wall Street zum Kafka-Experten verlief. Entgegen den Erwartungen und ungeachtet der Situation der Kommilitonen, die »ihr Studium auch im Nationalsozialismus fortsetzen und ihre geplanten Bildungswege zu erfolgreichen Karrieren weiterführen« konnten, bot sich 1938 doch als unverhoffte Chance, wie Sokel rückblickend und nicht ohne
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Ebd., S. 225. Sein Vater Salomon Rubin stammte aus Kolomea in Galizien und kam nach Wien, wo er 1942 von den Nazis inhaftiert wurde. Er starb 1942. Der Mutter Rosa Popper (Wien 1884 – New York 1954) gelang die Flucht in die USA. Vgl. Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938, h ttps://gedenkbuch.univie.ac.at; https://forum-zeitgeschichte.univie.ac.at/projekte/st udierende-1938/#c1082 (abgerufen am 15.1.2023) – Ehrungen u.a.: Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst der Republik Österreich; Ehrendoktorat der Universität Graz.
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Humor erinnerte: »1938 hat mich dazu gezwungen, das zu tun, was ich wollte‹ – nämlich Wien zu verlassen.«91 Sokel entdeckte Kafka erst in den USA, und zwar mit der Kafka-Anthologie von Angel Flores The Kafka Problem (1946) mit Beiträgen von Wystan Hugh Auden, Oskar Baum, Max Brod, Albert Camus, Heinz Politzer, Johannes Urzidil, Austin Warren und Franz Werfel.92 Sokel hat später den mimetischen Effekt seiner Begegnung und Identifikation mit Kafkas Welt anhand der Verwandlung als Initiation geschildert und dies mit der Erfahrung von Exil und Zweitem Weltkrieg verknüpft;93 die »zeitgenössische Realität schien darauf aus zu sein, Kafka nachzuahmen«.94 Sokel beschreibt die aktivierende Wirkung Kafkas, »den zwanghaften Drang, ihn zu verstehen«,95 der schließlich zur Berufswahl führte und aus der er ein Interesse für das Phantastische und Avantgardistische entwickeln sollte, insbesondere bei Autoren der Moderne wie Rilke, Schnitzler, Musil, Werfel, Zweig und vor allem Freud und Kafka.96 »In ihm, dem Außenseiter, Geächteten, Juden, Vertriebenen, ließ sich eine unverfälschte Geschichte menschlicher Ideen und Sehnsüchte erkennen, mit ihr möglicherweise eine humanere Geschichte aufbauen.«97 Auch bei Sokel findet man Prägungen durch die Psychoanalyse, entsprechend wird Kafka als ein Klassiker »traumhafter Verfremdung und gleichnishafter Verwandlung« verstanden,98 der über Freud hinausgehe. Die Welt Kafkas erscheint als eine »Welt reiner Kindheit«.99 Damit verbunden wird das aus der Krisenerfahrung der Moderne abgeleitete avantgardistische Konzept eines Weltösterreichertums, welches in das Exilland USA transferiert wurde:
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Zit. n. Posch, »Anschluss« und Ausschluss, in: orf.science.at, 7.3.2008 (abgerufen am 15.1.2023). Walter Sokel, … das wäre der Tod. Und so erfand ich mir eine Person, in: Müller-Kampel (Hg.), Lebenswege und Lektüren, S. 24–69, S. 52. Walter Sokel, Mein Weg zu Kafka, in: Klaus Scherpe/Elisabeth Wagner (Hg.), Kontinent Kafka. Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 8 (2006), S. 14–27, hier S. 14f. Vgl. ebd., S. 18f. Ebd., S. 19. Vgl. Müller-Kampel, Lebenswege und Lieblingslektüre österreichischer NS-Vertriebener in den USA und Kanada, in: dies. (Hg.), Lebenswege und Lektüren, S. 1–18, hier S. 15. Ebd. Walter H. Sokel, Franz Kafka. Tragik und Ironie. Zur Struktur seiner Kunst, Frankfurt a.M. 1976 [1964]), S. 7. Ebd., S. 60.
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»Das ›Österreichische‹ war für mich etwas Prophetisches: daß nämlich die moderne Welt im Grunde genommen durch das kakanische Österreich vorweggenommen wird. Daß Sprachverwirrung zugleich Sprachskepsis und Sprachempfindlichkeit bedeutet, die typisch ist für die österreichische Literatur, für einen Vielvölkerstaat überhaupt. (Multikulturalismus nannte man das später.) Daß sich progressiver Verfall und verfallender Progreß, als das ganz Reaktionäre mit dem ganz Avantgardistischen und Rebellischen trifft.«100
4.3.1 Das Kafka-Netzwerk Sokels In wesentlich stärkerem Maße als Politzer konnte Sokel institutionell auf die Kafka-Forschung einwirken. Hier sind vor allem Sokels Schüler zu nennen, zunächst Peter U. Beicken, der mit einer Dissertation über Kafka an der Stanford University promovierte101 und Karriere als Professor an der University of Maryland machte. Zwei weitere Sokel-Schüler von der University of Virginia sind Janet Ward Lungstrom (zurzeit University of Oklahoma) und Steven Taubeneck (University of British Columbia); beide haben u.a. über Kafka gearbeitet. Sokel hat aber auch bekannte Schüler, die nicht in der Kafka-Forschung tätig waren. Genannt seien vor allem Anton Kaes (PhD Stanford University), Professor an der University of California, Berkeley,102 und Michael Jennings (PhD University of Virginia) an der Princeton University, der über Walter Benjamin promovierte und als einer der führenden Benjamin-Forscher in den USA gilt.103 Für die amerikanische Kafka-Forschung ist ferner Rolf J. Goebel zu nennen, seit 100 Ebd., S. 60. Kritisch mit Sokels psychoanalytischem Ansatz, der den »Zwist zwischen Vater und Sohne« in das Zentrum rückt, setzt sich Politzer auseinander, bleibt doch in diesem Ansatz die »mythisch-religiöse Dimension der Kafkaschen Welt [.] so gut wie ausgespart.« Politzer, Einleitung, in: ders. (Hg.), Franz Kafka (Wege der Forschung), S. 21, S. 19. 101 Zu Beickens Arbeiten zu Kafka vgl. u.a. Franz Kafka. Eine kritische Einführung in die Forschung, Frankfurt a.M. 1974; Franz Kafka. Die Verwandlung. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1983/1998; Franz Kafka. Leben und Werk, Stuttgart 1986/1994. 102 Der Sokel-Schüler Anton Kaes ist vor allem als Filmwissenschaftler hervorgetreten. Seit 1981 lehrt er in Berkeley, 1991–1996 war er Direktor der Film Studies at UC Berkeley, von 1996-1999 Co-Direktor (mit Kaja Silverman). 1985 war er Mitbegründer des German Film Institute. 103 Schüler von Sokel ist ferner der vor allem mit seinen Arbeiten zu Walter Benjamin hervorgetretene Michael Jennings, der sich zumindest am Rande seiner akademischen Tätigkeit mit Franz Kafka befasst hat, so gemeinsam mit Stanley Corngold als Herausgeber eines Special Issue der Monatshefte zu Kafka’s Late Style.
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1982 an der University of Alabama in Huntsville (Full-Professor seit 1998), der zwar nicht ein direkter Schüler von Sokel ist (obwohl sie einander gut gekannt haben), aber über Kafka bei dem Sokel-Schüler Peter Beicken an der University of Maryland promovierte.104 Schließlich ist Richard Gray zu nennen, der bei Sokel an der University of Virginia studierte und dann als Professor in Seattle wirkte. Gray, der in einem Interview von einem langanhaltenden Kafka-Projekt in Bezug auf seine Arbeit spricht und zu Protokoll gibt, er sei durch Sokel auf Kafka gelenkt worden, darf als einer der profiliertesten Kafka-Forscher gelten. In der Studie Constructive Destruction (1987) setzte er sich mit Kafkas aphoristischem und parabolischem Schreiben auseinander. Es folgte ein Band zur Didaktik, Approaches to Teaching Kafka’s Short Fiction (1995), sowie die geschäftsführende Herausgabe der Franz Kafka Encyclopedia (2005) bei Greenwood Press. Aktuell wird eine Studie zu den narrativen Techniken in Kafkas Erzählungen vorbereitet, Arbeitstitel: Acts of Narration in Franz Kafka’s Short Fiction.105 Der Sokel-Schüler Steven Taubeneck hat ebenfalls an der University of Virginia 1988 mit einer Arbeit über die frühen Schriften Kafkas (1900–1912) seinen PhD erlangt, an die sich weitere Artikel zu Kafka anschlossen, zuletzt zur Strafkolonie.106 Taubeneck war ferner Mitveranstalter einer Tagung zu Sokels Geburtstag. Sokel war auch mit Marie Luise Caputo-Mayr an der Etablierung der Kafka Society of America (KSA) beteiligt (San Francisco 1975), die er viele Jahre leitete 104 Seine Arbeiten zu Kafka sind: Kritik und Revision: Kafkas Rezeption mythologischer, biblischer und historischer Traditionen, 1986; Constructing China: Kafka’s Orientalist Discourse, 1997. 105 Gray ist darüber hinaus durch seine Nietzsche-Übersetzung und die Edition von zwei Bänden von The Complete Works of Friedrich Nietzsche in 20 Volumes in Stanford bekannt geworden. Ferner hat er sich mit Fragen der deutschen Geistes- bzw. Ideengeschichte von der Aufklärung bis in die Nachkriegszeit befasst. In der Monografie Stations of the Divided Subject (1995) geht es um die Entstehung und ultimative Krise der bürgerlichen Subjektivität und Individualität, wie sie in ausgewählten literarischen und philosophischen Texten dieser Periode dokumentiert ist. In About Face (2004) wird die Entwicklung des physiognomischen Denkens in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis hin zu den Rasse-Theorien des Faschismus verfolgt. In Money Matters (2008) werden die Beziehungen zwischen ökonomischer Theorie, Literatur und Philosophie zwischen 1770-1850 untersucht. In Vorbereitung befindet sich eine Studie über die fiktionalen Texte von W. G. Sebald. 106 Vgl. Steven Taubeneck, Irony, Contingency, and Postmodernity: In the Penal Colony, in: Richard T. Gray (Hg.), Approaches to Teaching Kafka’s Short Fiction, New York 1995, S. 114–122.
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und deren Ehrenpräsident er war. Die KSA veröffentlicht neben einem Newsletter das einzige bis heute existente wissenschaftliche Kafka-Journal, das Journal of the Kafka Society of America (JKSA, seit 1977).107
4.4 Peter Demetz Ein etwas anderes Schicksal hatte Peter Demetz (* 21. Oktober 1922 in Prag), der während des Protektorats Böhmen und Mähren in der Illegalität in Prag überleben konnte und 1948, nach dem kommunistischen Putsch, sein Heimatland verließ. Von 1950 bis 1952 arbeitete er als Redakteur bei Radio Freies Europa in München, 1953 ging er in die USA, die Staatsbürgerschaft erhielt er 1958. Demetz studierte an der Columbia University in New York und promovierte, nach einer ersten Arbeit in Prag, erneut in Yale, wo er von 1954 bis zu seiner Emeritierung deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft lehrte.108 Eine intensivere Hinwendung zu böhmischen Themen erfolgte bereits in Prag mit der Wiedereröffnung der tschechischen Universitäten. Hier ist der Band Franz Kafka a Praha aus dem Jahr 1947 zu nennen. Demetz’ akademische Arbeit, so Nancy Kaiser und David E. Wellbery in der Festschrift zum 70. Geburtstag, erweitere das Prager Erbe »[…] beyond the biographical birthplace it was for both Peter Demetz and Rilke. The intellectual legacy of the Prague School of linguistics foregrounds the structured, material character of the work of art while recognizing
107 »The KSA was founded in order to facilitate and stimulate scholarly exchange in the field of international Kafka studies. It has been connected with bibliographical research for the last three decades, resulting in Franz Kafka: International Bibliography of Primary and Secondary Literature (Saur, Munich, 2000), published in three volumes, and, at over 1,000 pages, the most extensive Kafka bibliography thus far, with German and English commentaries on book publications«, http://k afkasocietyofamerica.org/about/index.php (abgerufen am 15.1.2023). 108 Demetz erhielt folgende Auszeichnungen: Goethe-Medaille des Goethe-Instituts, München 1971; Wahl zum Korrespondierenden Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt (1977); Aufnahme in die American Academy of Arts and Sciences (1982); Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland (1984); Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt (1994); Verdienstmedaille der Tschechischen Republik (2000); Europäischer Kulturpreis Pro Europa (2004); Georg-Dehio-Buchpreis (Hauptpreis) des Deutschen Kulturforums östliches Europa, Potsdam (2012); Ehrendoktor der Philologie der Masaryk-Universität in Brünn (Tschechien) (2014).
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the interlacing of its semiotic properties with historically variable social contexts. As a teacher, Demetz transmitted an appreciation for the work of such Prague structuralists as Jan Mukařovsky and Felix Vodička. It was an appreciation shared by his teacher, mentor, and close friend, René Wellek, a compatriot and colleague at Yale. In the work of Peter Demetz, the Prague structuralist mediation of social reality and literary text has always been convincingly and vividly accomplished.«109 Anders als Politzer und Sokel, deren Wirkung eher auf akademischem Boden blieb, erreichte Demetz eine weitere Öffentlichkeit, so durch die langjährige Jury-Tätigkeit beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, ferner die regelmäßige publizistische Tätigkeit für die Zeit und die FAZ,110 die Mitgliedschaft im deutschen PEN und in der Berliner Akademie der Künste. Fachpolitisch wichtig war die Präsidentschaft der Modern Language Association 1981, »perhaps the most complex such professional organization in the world and certainly the major institutional voice on behalf of literacy […] in the United States«,111 wobei eine wichtige Voraussetzung Demetz’ Selbstverortung jenseits nationaler Inklusionen und damit verbunden sein ausgeprägter, sprachliche und kulturelle Grenzen überschreitender Kosmopolitismus bedeuten dürfte.112 Demetz’ akademische Arbeit kreist um vier Pole: zunächst der Fokus auf den kontextuellen Determinanten ästhetischer Werke, dann die öffentliche Rolle und Verantwortung als Intellektueller, ferner die kosmopolitische Perspektive und schließlich eine in der Tradition des Prager linguistischen Zirkels verankerte analytische Methode der Literaturkritik.113 Schon in der frühen Studie René Rilkes Prager Jahre (1953) wird das Verfahren der Kontextualisierung deutlich, es ließe sich jenseits biografischer Verankerungen von einem Prager Erbe sprechen, das auch für den Wissenschaftler Demetz Relevanz besitzt.114 Als weitere Beispiele seien genannt: die Anthologie Alt-Prager Geschichten (1982), Der Herrgott schuldet mir ein Mädchen. Tschechische Lyrik des 20. Jahrhunderts (1994), Geschichten aus dem alten Prag. Sippurim (1994),
109 Nancy Kaiser/David Wellbery (Hg.), Introduction, in: dies. (Hg.), Traditions of Experiment from the Enlightenment to the Present. Essays in Honor of Peter Demetz, Ann Abor 1992, S. 1–13, hier S. 5. 110 Peter Demetz, Böhmen böhmisch. Essays, Wien 2006. 111 Kaiser/Wellbery, Introduction, in: dies. (Hg.), Traditions of Experiment, S. 7. 112 Vgl. ebd., S. 8. 113 Vgl. ebd., S. 3. 114 Vgl. ebd., S. 5.
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die Mitarbeit an der Tschechischen Bibliothek in 33 Bänden, ferner sei die Mitarbeit an der Werkausgabe Max Brod in 12 Bänden erwähnt.115 Nimmt man als ein Beispiel die deutschsprachigen Anthologien aus bzw. in den Böhmischen Ländern im Zeitraum von 1800 bis zur Gegenwart, bisher konnten über 150 Textsammlungen nachgewiesen werden,116 dann sind diese nach nationalphilologischen bzw. -sprachlichen und/oder regionalen sowie thematischen und textsortenspezifischen Kategorien angeordnet, die aber, auch bei Aufnahme tschechischer und deutscher Texte, die nationalliterarische Grenze nicht überschreiten. Die erste Anthologie, die einen explizit bohemistischen, das heißt die nationalen Identifikationen transzendierenden Anspruch der ›einen‹ böhmischen Literatur vertritt, ist die von Demetz zusammengestellte Sammlung Alt-Prager Geschichten, die als Gegenentwurf zu den die Grenzen akzentuierenden Literaturgeschichten des nationalbewussten 19. Jahrhunderts konzipiert ist. Diese hätten die »Begriffe vom Prager Literaturleben eher begrenzt als entfaltet«, da auf beiden Seiten der Fokus »auf geschlossene Kontinuitäten nationaler Kulturen« gelegt wurde und so vorsätzlich das getrennt wurde, »was im engen Raume zusammenwirkte. Dabei gerieten jene Tendenzen und Texte in Vergessenheit, die zwischen die kategorialen Stühle fallen«.117 Demetz nennt die hebräische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Interferenzerscheinungen wie bei Karel Hynek Mácha, den antifaschistischen Aktivismus der 1930er Jahre. Und gegen den Topos vom deutschen Ghetto wird eher eine »Dialektik des Auf- und Abstieges konkurrierender Nationalitäten« skizziert,118 die den 115
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Stärker als Kafka ist Rainer Maria Rilke vertreten, so mit der frühen Studie aus dem Jahr 1953, ferner als Herausgeber (zus. mit Hans-Dieter Zimmermann und Joachim W. Storck) des Sammelbandes Rilke, ein europäischer Dichter aus Prag. Dies zeigt auch ein Blick auf die bei Demetz entstandenen Dissertationen. Neben zweien zu Rilke und zu weiteren österreichischen Autoren ist nur eine Arbeit zu Kafka verzeichnet, vgl. Mark Harman, Literary Echoes. Franz Kafka and Heinrich von Kleist, Ann Arbor 1980. Zu Rilke vgl. James Rolleston, Rilke in Transition. A Study of His Poetry, 1896–1902, New Haven 1970; Mortimer Guiney, Fictionalization of Experience in Rilke and Gide, 1987. Von den Schülern sind zu nennen: David Wellbery mit der Dissertation Aesthetics and Semiotics in the German Enlightenment, 1977; Amy Colin mit der Dissertation Paul Celan. His Poetic Traditions, 1981. Vgl. Steffen Höhne, Geschichte und Kultur der Böhmischen Länder im Spiegel der deutschsprachigen Anthologien, in: Études germaniques. Zur deutschen Literatur Prags und der böhmischen Länder 75 (2020) 1, S. 21–53. Peter Demetz, Nachwort, in: ders. (Hg.), Alt-Prager Geschichten, Frankfurt a.M. 1982, S. 275–282, hier S. 275. Ebd., S. 276.
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Juden in Prag Optionen auf Assimilation an die eine oder andere Seite bot, bis der Zionismus einen weiteren Ausweg eröffnete. »Von 1848 bis 1938 war Prag, mehr denn je, eine und eine dreifache Stadt zugleich; tschechische, deutsche und jüdische Bürger fanden sich, ob sie wollten oder nicht, verstrickt in die Prozesse des Aufstieges, des Niederganges, der Selbstbehauptung.«119 Gegen komplexitätsreduzierende Topoi wie dem eines Magischen oder eines Goldenen Prag, eine »Fiktion selektiver Erinnerungen«, und gegen »Wunschbilder« nach friedfertiger Harmonie setzt Demetz gerade auch die Brüche und Kontingenzen der Prager bzw. böhmischen Geschichte.120 Für seine Rekonstruktion der Geschichte Prags greift er weniger auf literarische Bilder, schon gar nicht auf Gustav Meyrinks und, darauf aufbauend, Angelo Ripelinos Absichten, ein magisches Prag zu propagieren, zurück, sondern er geht von stadtgeschichtlich strukturbestimmenden Erinnerungsorten bzw. -momenten aus: dem mythischen Gründungsmythos um Libussa und Přemysl; der historisch verbürgten Zeit der Přemysliden, insbesondere mit Přemysl Ottokar II., als das Königreich Böhmen tatsächlich (fast) bis ans Meer reichte; der Blütezeit von Stadt und Reich unter Karl IV.; der hussitischen Revolution; der Zeit Rudolphs II. und dem Untergang des frühneuzeitlichen Ständestaates, in der Zeit der Wiedergeburt mit den wirkungsmächtigen Metaphern Bilá hora und Temno als traumatisches Ereignis erinnert; Mozart in Prag; dem Jahr 1848 und der beginnenden nationalen Desintegration; der intellektuellen Blütezeit in der Moderne bzw. in der ersten Tschechoslowakischen Republik.121 Als weiterer Erinnerungsort wurde das Protektorat Böhmen und Mähren in einer eigenen Studie präsentiert.122 Kafka findet in diesen stadtgeschichtlichen Modellen zwar Erwähnung, fungiert aber lediglich als ein herausragender Künstler unter anderen, auch wenn, was auch Demetz konzedieren muss, eine besondere kulturtouristische Erwartungshaltung im gegenwärtigen Prag offenkundig ist. Dagegen wendet er sich mit
119 Ebd. 120 Ebd., S. 277f. 121 Vgl. Peter Demetz, Prague in Black and Gold. Scenes in the Life of a European City, New York 1997; dt. Prag in Schwarz und Gold. Sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt, München/Zürich 1997. 122 Vgl. Peter Demetz, Prague in Danger. The Years of German Occupation 1939–1945, New York 2008; dt. Mein Prag. Erinnerungen 1939–1945, Wien [2007].
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einer Monografie über die Flugschau von Brescia einem zentralen Phänomen der Moderne zu, an dem Kafka und Brod intensiv Anteil nahmen.123 Gerade bei Peter Demetz zeigt sich nach 1989 eine verstärkte Hinwendung zu kulturgeschichtlichen Fragen im Hinblick auf seine Geburtsstadt Prag, die Böhmischen Länder bzw. die mitteleuropäisch-habsburgischen Kontexte insgesamt, womit im Hinblick auf Kafka eine über die bloße Lokalisierung auf bzw. Isolierung in Prag hinausgreifende Einordnung, die jüdischen und tschechischen Traditionen berücksichtigende Kontextualisierung, gelingt.
5. Fazit Verbindet man den mit diskursiver Macht ausgestatteten akteursorientierten Wissensansatz sowie den genealogieorientierten, der die Herkunft von Wissen als Geschichte von Machtbeziehungen rekonstruiert,124 mit einem auf Universitäten und Publizistik rekurrierenden institutionellen, durch den erst die Zirkulation von Wissen möglich wird,125 dann eröffnet sich die Perspektive eines Netzwerkes, in dem Transferleistungen auf unterschiedlichen Ebenen verlaufen: auf der personellen Ebene erfolgt ein Transfer über die akademischen Schüler und Kollegen sowie Leser, auf der publizistischen über die unterschiedlichen akademischen, essayistischen und feuilletonistischen Textproduktionen inklusive Übersetzungen sowie literarisch-künstlerischen Aneignungen. Mit den zunächst in englischer, dann in deutscher Sprache publizierten Gesamtdarstellungen von Politzer und Sokel wurden erfolgreiche »Systematisierungsversuche und klärende Zwischenstationen der Kafka-Forschung« unternommen auf einem Weg von »Rezeptionswillkür zur methodischen Interpretation mit der Absicht, Kafka die Totalität, die sein Werk beansprucht, ge-
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Vgl. Peter Demetz, Die Flugschau von Brescia. Kafka, D’Annunzio und die Männer, die vom Himmel fielen, Wien 2002. 124 Vgl. Sarasin, Was ist Wissensgeschichte?, S. 168, S. 171. 125 Damit Wissen funktionieren kann, muss es zirkulieren, d.h. in Wechselwirkung mit institutionellen Kontexten (Universitäten) treten. Entgegen einem unidirektionalen Verständnis von Wissenstransfer ist Wissen nicht statisch, sondern veränderlich, ein multidirektionaler Prozess, mit dem Wissen nicht ortlos wird, »vielmehr erscheint so erst die unvermeidliche Verhakung des Wissens mit seinen wechselnden Orten und ›partialen Perspektiven‹ als unauflöslich.« Ebd., S. 166.
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gen die Aufsplitterungstendenzen der Deutung zurückzugeben.«126 An diese Einschätzung knüpfte noch die New York Times in ihrem Nachruf auf den Brückenbauer Sokel mit Verweis auf seine beiden Monografien an, durch die als erste »Kafka into his proper place as a giant of European Literatur« versetzt worden sei (2014). In Teilen der Forschung scheint dabei längst Konsens, dass sich größere Fortschritte in der Kafka-Forschung nur durch eine systematische Beschäftigung mit Fragen ergeben, die »Kafkas Leben und Werk im Zusammenhang mit seiner Zeit« aufgreifen,127 was eine kompetente Reflexion der multilingualen, -kulturellen und -konfessionellen Verfasstheiten der Region erfordert, in der Politzer, Sokel und Demetz noch sozialisiert worden waren. Hiervon ausgehend lassen sich drei Thesen formulieren: Ein zentraler Teil des Wissenstransfers in Bezug auf Kafka verläuft zunächst über emigrierte Wissenschaftler aus Europa in die USA und von dort retour.128 Wissenschaftler mit Emigrationserfahrung fungierten als Produzenten, Förderer und Übersetzer von Wissen und waren in besonderem Maß an Systematisierungsversuchen gegen eine gewisse Rezeptionswillkür beteiligt, wohinter man auch die Intention erkennen kann, die Totalität von Kafkas Werk gegen die oben erwähnten Aufsplitterungstendenzen der Deutung zu behaupten. In diesem Transfer erfolgte zudem eine – anknüpfend an Johannes Urzidil (1966) – Bohemisierung bzw. Austrifizierung Kafkas und zugleich eine ›Kafkaisierung‹ Böhmens bzw. Österreichs. Natürlich müsste man ausführlicher auf die drei hier vorgestellten Wissenschaftler eingehen und noch weitere Exilanten und ihre Erfahrungen einbeziehen. In diesem Beitrag soll es primär um den Aspekt eines spezifischen Wissenstransfers gehen, an dem die drei vorgestellten Fachvertreter einen entscheidenden Anteil hatten.
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Beicken, Typologie der Kafka-Forschung, S. 798. Caputo-Mayr, Einleitung zur zweiten Auflage und einige Bemerkungen über die globale Wirkung Franz Kafkas, in: dies./Herz (Hg.), Franz Kafka. Internationale Bibliographie, S. X. Für letzteres bieten die wichtigen, zunächst in den USA publizierten und erst später ins Deutsche übersetzten kultur- und geistesgeschichtlichen Entwürfe von William M. Johnston, The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848–1938 (1972); Allan Janik/Stephen Toulmin, Wittgenstein’s Vienna (1972); Carl E. Schorske, Fin-desiècle Vienna. Politics and Culture (1980) einen deutlichen Beleg. Dies ließe sich noch ergänzen um z.B. die Studien von Robert A. Kann und zuletzt von Pieter M. Judson.
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Über die Frage nach den Akteuren, die das Kafka-Wissen erzeugten, hinaus bedarf es weiterer Untersuchungen zu den Umschlagpunkten, an denen sich das zirkulierende Kafka-Wissen, das Kafkaeske, als top-down oder auch als bottom-up-Prozess verselbständigt hat. Zu untersuchen wäre ferner, wie das Englische als Wissenschaftssprache das Wissen der Kafka-Forschung transformiert.
Siglen Briefe KKAD
KKAP KKAN I
KKAN II
KKABr 2 KKABr 4
Franz Kafka (1980), Briefe 1902–1924, Frankfurt a.M.: Fischer. Franz Kafka (1994), Drucke zu Lebzeiten, hg. v. Wolf Kittler, HansGerd Koch und Gerhard Neumann (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), Frankfurt a.M.: Fischer. Franz Kafka (1990), Der Proceß, hg. v. Malcolm Pasley (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), Frankfurt a.M.: Fischer. Franz Kafka (1993), Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hg. v. Malcolm Pasley (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), Frankfurt a.M.: Fischer. Franz Kafka (1992), Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hg. v. Jost Schillemeit (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), Frankfurt a.M.: Fischer. Franz Kafka (1999), Briefe 1913–1914, hg. v. Hans-Gerd Koch (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), Frankfurt a.M.: Fischer. Franz Kafka (2013), Briefe 1918–1920, hg. v. Hans-Gerd Koch (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), Frankfurt a.M.: Fischer.
Die ambivalente Vielfalt Mitteleuropas Diskursiver und performativer Umgang mit Differenz im ostmitteleuropäischen Samizdat Gregor Feindt
Als Milan Kundera 1984 vom »entführten Abendland« schrieb, formulierte er nicht unbedingt neue Gedanken. Der tschechische Schriftsteller im französischen Exil stiftete weder einen neuen Begriff, noch waren seine Überlegungen zu Europa und seiner Teilung an sich unbekannt. Kundera schrieb von einem Mitteleuropa, das auf tragische Weise »ein kleines ›erzeuropäisches‹ Europa«1 sei, seine Vielfalt widerspiegle und so für den Kontinent und seine Kultur stehe. Seine in der Pariser Zeitschrift Le Débat veröffentlichten Überlegungen zwischen nostalgischer Selbstvergewisserung und prägnanter Abgrenzung fanden innerhalb kurzer Zeit große Beachtung im Westen, wo sie zum Beispiel die New York Review of Books und die deutsche Kommune in Übersetzung nachdruckten.2 Kunderas Hilferuf für ein vergessenes und vergangenes Europa gilt weithin als Ausgangspunkt einer Blockgrenzen überschreitenden Debatte, die unter eben diesem Stichwort Mitteleuropa bekannt wurde. Intellektuelle im Westen befassten sich nicht erst, aber besonders in der Folge von Kunderas Appell intensiv mit der Region und rezipierten gerade auch Texte von Dissidenten und Non-Konformisten. Begleitet wurde diese diskursive Aneignung Zentraleuropas von vielfältigen persönlichen Kontakten und Reisen. In einer solchen vermeintlichen Neuentdeckung eines verlorenen Mitteleuropas standen Teilung und Zusammengehörigkeit des Kontinents im Vordergrund. Zu-
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Milan Kundera, Un occident kidnappé oder Die Tragödie Zentraleuropas, in: Kommune 2 (1984) 7, S. 43–52, hier S. 45. Vgl. Milan Kundera, Un Occident kidnappé ou la tragédie de l’Europe centrale, in: Le Débat 4 (1983) 27, S. 3–23; Milan Kundera, The Tragedy of Central Europe, in: New York Review of Books, 26.4.1984, S. 33–38.
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gleich, und bedeutender, trugen Intellektuelle in Ost und West zu einer Reflexion der kulturellen Vielfalt Europas und Mitteleuropas bei. Diese Reflexion von kultureller Vielfalt behandelte zugleich einen spezifischen Umgang mit Differenz innerhalb des mit Mitteleuropa bezeichneten Raums und durch das Konzept Mitteleuropa, und zwar sowohl in intellektuellem Räsonnement als auch in seiner performativen Umsetzung. Die Mitteleuropa-Debatte dekonstruierte Grenzen, und ihre Protagonisten überschritten solche Grenzen mit Texten und in Person. Dieser Beitrag diskutiert den Umgang mit Differenz in dieser Auseinandersetzung mit Mitteleuropa und ordnet ihn in einen breiteren Hintergrund oppositionellen Denkens und oppositioneller Kommunikation ein. Dabei stehen die dissidentischen und oppositionellen Intellektuellen Ostmitteleuropas im Zentrum der Untersuchung wie auch ihre Anstöße zur Debatte und ihre Kontakte innerhalb Ostmitteleuropas und über die Region hinaus. An ihrem Beispiel lässt sich zeigen, wie die retrospektiven und utopischen Deutungskonkurrenzen über Mitteleuropa3 gegenwärtige Handlungsmacht eröffneten und performativ zu Bausteinen kultureller und politischer Selbstbehauptungen in einer marginalisierten Position wurden. Auf diese Weise rezentriert dieser Beitrag die Mitteleuropa-Debatte der 1980er Jahre und rückt den in einer »diffusen und undefinierten«4 Debatte zentralen, wenn auch kaum offen diskutierten Aspekt der Differenz in den Mittelpunkt. Dieser Aufsatz exemplifiziert zunächst die Mitteleuropa-Debatte anhand zweier Beispiele und arbeitet zwei Formen des Umgangs mit Differenz heraus, und zwar die essentialistische Affirmation und Nutzung von Differenz und ihre liberale Wertschätzung. Daraufhin werden diese Formen weitergehend im ostmitteleuropäischen Samizdat verortet, und in einem weiteren Schritt wird nach Grenzen und Grenzüberschreitungen in solchen Debatten gefragt. Eine Schlussbetrachtung diskutiert Mitteleuropa als Projektionsfläche der Differenz. Der intellektuelle Impuls der Mitteleuropa-Debatte wirkte sich freilich auch auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Region und das umfassendere Verständnis Zentraleuropas aus.5 Diese Betrachtung der
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Dabei verwende ich im Folgenden Mitteleuropa als Quellenbegriff der konkreten Debatte und Ostmitteleuropa zur geografischen Beschreibung der Region. Timothy Garton Ash, Mitteleuropa?, in: Daedalus 119 (1990) 1, S. 1–21, hier S. 1. Hier sei nur auf zwei zusammenfassende und pointierende Beiträge dieser wissenschaftlichen Debatte verwiesen, vgl. Philipp Ther, Von Ostmitteleuropa nach Zentral-
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von Kundera angestoßenen Debatte selbst ist mehr als ausführlich, ohne dass dabei immer trennscharf zwischen Debattenbeiträgen und Analysen zu unterscheiden wäre. Dabei überwiegen immer noch Beiträge aus einer westeuropäischen und oft nationalstaatlich gerahmten Perspektive,6 die zwangsläufig die Mental Maps der ursprünglichen Debatte der 1980er Jahre reifizieren und die Debatte, ihre Argumente und Deutungsmuster national verorten.7 Dagegen soll hier explizit eine transnationale Perspektive aufgegriffen werden, ohne dabei die nachhaltige Relevanz nationalstaatlicher Öffentlichkeiten zu unterschätzen. In Anknüpfung an zahlreiche neue Arbeiten zu den unklaren Grenzen im sozialistischen Ostmitteleuropa8 muss besonders die Bedeutung persönlicher Beziehungen über die Blockgrenzen hinweg in die Analyse eingebunden werden.9
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europa – Kulturgeschichte als Area Studies, in: H-Soz-Kult, 2.6.2006, http://hsozkul t.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=739&view=pdf&pn=forum&type=artikel (abgerufen am 15.1.2023); Joachim von Puttkamer, Strukturelle und kulturelle Grundlagen des Politischen in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert, in: Comparativ 18 (2008) 2, S. 87–99. Kritisch gegenüber der Kategorie Ostmitteleuropa: Markus Krzoska/Kolja Lichy/Konstantin Rometsch, Jenseits von Ostmitteleuropa? Zur Aporie einer deutschen Nischenforschung, in: Journal of Modern European History 16 (2018), S. 40–63. Als Impuls für ein kulturwissenschaftlich reflektiertes Verständnis der Region als Zentraleuropa grundlegend Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien 2010. Vgl. Maciej Janowski/Constantin Iordachi/Balázs Trencsényi, Why Bother about Historical Regions? Debates over Central Europe in Hungary, Poland and Romania, in: East Central Europe 35 (2005) 1/2, S. 5–58, hier S. 7. Vgl. Frithjof Benjamin Schenk, Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 493–515, hier S. 511–514. Vgl. als Zusammenschau größerer Verbundprojekte: Włodzimierz Borodziej/Jerzy Kochanowski/Joachim von Puttkamer (Hg.), »Schleichwege«. Inoffizielle Begegnungen sozialistischer Staatsbürger zwischen 1956 und 1989, Köln 2010; Béatrice von Hirschhausen/Hannes Grandits/Claudia Kraft/Dietmar Müller/Thomas Serrier, Phantomgrenzen. Räume und Akteure in der Zeit neu denken, Göttingen 2015. Auf eine solche Verflechtungsdimension der demokratischen Menschenrechtsopposition hat besonders Robert Brier hingewiesen, vgl. Robert Brier, Entangled Protest. Dissent and the Transnational History of 1970s and 1980s, in: ders. (Hg.), Entangled Protest. Transnational Approaches to the History of Dissent in Eastern Europe and the Soviet Union, Osnabrück 2013, S. 11–42, hier S. 27–42.
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Entführtes Abendland und Traum von Europa Milan Kunderas Überlegungen zum »entführten Abendland« nehmen seit Mitte der 1980er Jahre ohne Zweifel eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung mit der Teilung Europas ein. Aus den breitgefächerten weiteren Beiträgen sticht in der Frühphase der Debatte besonders György Konráds »Traum von Europa« heraus, der sowohl im ungarischen Samizdat als auch in westlichen Zeitschriften erschien.10 Beide Autoren definierten Mitteleuropa weniger als geografischen Raum denn als eine konkrete kulturelle Erfahrung, die sich für sie im Denken und Handeln manifestierte und zu Beginn der 1980er Jahre gefährdet war. Und dennoch unterscheiden sich Kunderas und Konráds Argumentationsgänge und vor allem der ihnen zugrundeliegende Umgang mit Differenz dabei grundlegend durch mobilisierende Abgrenzung und durch inkludierend bejahende Vielfalt. Kundera präsentierte eine martialische Vorstellung »jenes Europa[s], das ich zentral nenne«. Es zeichne sich durch die Bereitschaft aus, »für sein Vaterland und für Europa [zu] sterben«.11 Der seit 1975 im französischen Exil lebende tschechoslowakische Schriftsteller verwies hier auf die Volksaufstände des Jahres 1956 und den niedergeschlagenen Prager Frühling 1968 und markierte einen fundamentalen Gegensatz Mitteleuropas zur kommunistischen Sowjetunion. Als eigene Entität würde es nur in der existentiellen Bedrohung durch die »Zivilisation des russischen Totalitarismus« sichtbar.12 Kunderas Mitteleuropa qualifizierte sich also nicht durch ein positiv verstandenes eigenes kulturelles Selbstverständnis, sondern zugespitzt dadurch, dass es nicht Russland war. Eine solche kulturalistisch motivierte Abgrenzung vom östlichen Hegemonen mobilisierte durch die Setzung einer Differenz. Kunderas negative Definition beinhaltete den expliziten Vorwurf, der europäische und globale Westen habe Mitteleuropa im Zuge der Entspannungspolitik vergessen und letztlich der Sowjetunion überlassen.13 Hier verschränkte Kundera die ostmitteleuropäische Perspektive mit seiner französischen Exilerfahrung. 10 11 12 13
György Konrád, Mein Traum von Europa, in: Kursbuch 21 (1985) 81, S. 175–193. Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, München 1984, S. 44. Ebd., S. 52. Zum Hintergrund vgl. Philipp Ther, Milan Kundera und die Renaissance Zentraleuropas, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, https://www.europa.clio-online. de/essay/id/fdae-1362 (abgerufen am 15.1.2023); Moritz Csáky, Das Gedächtnis Zentraleuropas. Kulturelle und literarische Projektionen auf eine Region, Wien/Köln/Weimar 2019, S. 15–17.
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Er hatte in Frankreich erlebt, welche Akzeptanz der Kommunismus dort auch noch nach dem GULag-Schock des Jahres 1974 hatte.14 Auch das mit dem Helsinki-Prozess begonnene westliche Engagement für Menschenrechte in den sozialistischen Ländern konnte diese Verstörung nicht überbrücken. Es gehört schließlich zu den Widersprüchen in Kunderas Argumentation, dass er mit dem Begriff des Abendlandes und der Vorstellung eines lateinischen Europas wiederum auf Vorstellungen des westeuropäischen Antikommunismus der 1950er und 1960er Jahre rekurrierte, die Mitteleuropa ursprünglich aus dem sich integrierenden Europa ausgeschlossen hatten. Kundera band Mitteleuropa in einer überzeitlichen und zivilisatorischen Perspektive dezidiert in dieses westliche Europa ein und grenzte es von dessen gegenwärtiger Selbstzufriedenheit ab. Auch György Konrád kritisierte die Teilung des Kontinents, entwickelte Mitteleuropa aber nicht aus einem Antagonismus zur Sowjetunion: Diese »besitzt ein Recht auf unsere Freundschaft, nicht aber auf die Bestimmung unseres gesellschaftlich-politischen Systems.«15 Konrád formulierte hier eine explizite Gegenposition zu Kundera. In Abgrenzung zur Gegenwart des real existierenden Sozialismus entwarf der ungarische Schriftseller hier ein positives Selbstbild Mitteleuropas und nutzte die Vergangenheit der Habsburgermonarchie affirmativ: »Kakaniens größte Energie verbarg sich in seinem Gemischtsein.«16 Diese kulturelle Vielfalt verortete Konrád sowohl innerhalb der imperialen und nationalstaatlichen Ordnungsräume als auch grenzüberschreitend in den verschiedenen sprachlichen, ethnischen und sozialen Verflechtungen zwischen diesen Räumen. Was Konrád als Vielfalt erkannte, hatte auch Kundera in seinen Ausführungen bereits beschrieben, allerdings als Folge und Ausdruck einer grundsätzlichen Schwäche der kleinen mitteleuropäischen Nationen. Diese hätten ihre bedrohte Lage zwischen Deutschland und Russland mit kultureller Kreativität kompensiert, ohne letztlich verhindern zu können, dass »ihre Existenz in jedem x-beliebigen Moment in Frage gestellt werden kann«.17 Auch wenn Kundera diese Vielfalt verschiedentlich nostalgisch anpries, blieb sie das Fundament der eigentlichen »Tragödie Zentraleuropas«.
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Konzepte und Praktiken der Differenz im ostmitteleuropäischen Samizdat Beide Texte wurden im Samizdat intensiv rezipiert und beförderten eine weitere Debatte über Mitteleuropa. Ähnlich wie Kunderas »entführtes Abendland« in westlichen Medien übersetzt und nachgedruckt wurde, druckten polnische und ungarische Samizdat-Zeitschriften den Text,18 oft zusammen mit weiteren Beiträgen zu Mitteleuropa. Konráds Text wiederum erschien vor seiner deutschen Publikation in der ungarischen Zeitschrift Hírmondó [Beobachter], die sich schon zuvor für Kundera und Mitteleuropa interessiert hatte und beispielweise 1983 ein Interview nachdruckte.19 Dieses Interesse zeugt auch von der großen Anschlussfähigkeit der beiden Aufsätze und ihrer Gedanken an die Ideenwelt des Samizdat. Kunderas kulturalistische Abgrenzung von der Sowjetunion und ihrer »totalitären Zivilisation« war geradezu paradigmatisch für die Einschätzung Russlands im konservativen Denken der ostmitteleuropäischen Opposition. Auch schon vor der Mitteleuropa-Debatte hatte 1980 beispielweise Aleksander Hall, führender Kopf der national-konservativen Bewegung Junges Polen, die Konfrontation mit dem Kommunismus als größte Herausforderung Europas beschrieben und die westeuropäische Integration als selbstreferentielle Krisenerscheinung abgetan. Dort würde eine neue »unnatürliche« Institution über die natürliche Ordnung der Nation gestülpt, die daran scheitere, eine Wertegemeinschaft zu formieren. In einer Auseinandersetzung über Europa, die innerhalb des polnischen Samizdat, also des zweiten Umlaufs,20 funktionsäquivalent zur Mitteleuropa-Debatte 18
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Milan Kundera, A megrabelt Nyugatavagy Közép-Európa tragédiája [Der entführte Westen oder die Tragödie Mitteleuropas], in: Hírmondó [Samizdat] 2 (1984) 6/7, S. 4–17; Milan Kundera, Zachód porwany albo tragedia Europy Środkowej [Der entführte Westen oder die Tragödie Zentraleuropas], in: Zachód porwany. Eseje i polemiki [Der entführte Westen. Essays und Polemiken], Breslau 1984 [Samizdat], S. 3–20. Eine zweite polnische Fassung von 1987 war eine Übersetzung aus dem Ungarischen: Milan Kundera, Obrabowany Zachód czyli tragedia Europy Środkowej [Der beraubte Westen oder die Tragödie Zentraleuropas], in: Obóz [Samizdat] 7 (1987) 11, S. 5–17. György Konrád, Van-e mégálem Közep-Európáról [Gibt es einen Traum von Mitteleuropa?], in: Hírmondó [Samizdat] 2 (1984) 8, S. 24–34. Das Interview wurde komplett, auch im Druckbild, aus der Pariser Exil-Zeitschrift Magyar Füzetek übernommen. Milan Kundera, Mi az, hogy Kelet-Európa? [Was ist es, dieses Osteuropa, Interview mit Milan Kundera], in: Hírmondó [Samizdat] 1 (1983) 1, S. 31. Der Begriff »zweiter Umlauf« [drugi obieg] bezeichnet in Polen Publikationen im literarischen Untergrund – ähnlich dem Samizdat – und grenzt sie vom ersten, d.h. offiziel-
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war, formulierte Hall dagegen die Idee eines lateinisch-christlichen Europas, das vom totalitären Kommunismus und individualistischen Liberalismus gleichermaßen bedroht sei.21 Damit nahm er hier inhaltlich vorweg, was Kundera wenige Jahre später als moralische Krise Mitteleuropas und des Westens ausmachte, fügte aber ein kulturalistisch-katholisches Argument hinzu. Diese argumentative Überschneidung zeigt, wie attraktiv und anschlussfähig Kundera für den nationalkonservativen Flügel der polnischen Opposition war. Auch wenn er durch seine Emigration nicht dezidierter Teil der ostmitteleuropäischen Opposition und ihrer Publizistik sein konnte und dieser Opposition auch grundsätzlich eher skeptisch gegenüberstand, stellte sein Bild von Mitteleuropa eine analoge Verarbeitung nationaler Traumata, also von Gewalterfahrungen und des Verlusts nationaler Souveränität, dar. György Konráds Traum von Europa wurde hingegen vor allem unter linken und liberalen Oppositionellen rezipiert und in Polen 1988 sogar in der offiziellen Wochenzeitschrift Polityka abgedruckt.22 Im Gegensatz zu Kundera postulierte Konrád die Vielfalt Mitteleuropas als eigenen Wert. Er erkannte Differenz also nicht nur an, sondern affirmierte sie und nutze sie, um Mitteleuropa in der Gegenwart als Gegenentwurf zum Blockgegensatz zu positionieren. Konrád kritisierte nicht bloß die Mental Maps des Westens. Er stellte vielmehr ihre grundsätzliche Logik und Epistemologie einer zivilisatorischen Konfrontation in Frage. Auch über eine solche räumliche Vorstellung Mitteleuropas hinaus strebte Konrád eine weiterreichende Überwindung antagonistischer Konzeptionen an und argumentierte beispielsweise für die wechselseitige Vereinbarkeit von Sozialismus und Demokratie.23 Unter dem Schlagwort einer »Subjekt«-Werdung der Gesellschaft formulierte der ungarische Philosoph und Schriftsteller einen eigenen Entwurf Mitteleuropas, der an einem dezidiert oppositionellen Begriff des Politischen orientiert war. Sein
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len publizistischen Umlauf ab, vgl. Gregor Feindt, Opposition und Samizdat in Ostmitteleuropa. Strukturen und Mechanismen unabhängiger Publizistik in vergleichender Perspektive, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 65 (2016), S. 17–42. Vgl. Aleksander Hall, Jeszcze o Europie. Polemika [Noch über Europa. Polemik], in: Bratniak [Samizdat] 4 (1980) 22, S. 39–42; zum Russlandbild der polnischen Opposition vgl. Marek Golińczak, Związek Radziecki w myśli politycznej polskiej opozycji 1976–1989 [Die Sowjetunion im politischen Denken der polnischen Opposition 1976–1989], Kraków 2009. György Konrád, Sen o Europie Środkowej, in: Polityka, 12.11.1988. Vgl. Konrád, Mein Traum von Europa, S. 176–178.
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Traum von Europa setzte so konkret um, was Konrád im ebenfalls 1984 erschienenen Band Antipolitik als Axiom politischen Handelns für die ungarische und ostmitteleuropäische Opposition dargelegt hatte.24 Antipolitik, als Begriff auch vom tschechoslowakischen Schriftsteller und Gründungssprecher der Charta 77 Václav Havel angeführt,25 basierte auf einer strikten Unterscheidung zwischen Gesellschaft einerseits und Staat und Politik andererseits und forderte die Zurückdrängung des Staates aus gesellschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Prozessen in ganz Mitteleuropa.26 Dabei handelte es sich aber nicht um ein Konzept, die Macht selbst zu erlangen, sondern vielmehr um eine Begleitung der Machtausübung, die bereits zum Zeitpunkt ihrer Formulierung »aufgrund ihres moralisch-kulturellen Gewichts«27 wirkte. Eine solche liberale Wertschätzung von Differenz ist die markante Grundhaltung politischen Denkens im Samizdat und schien in unterschiedlichen Facetten immer wieder durch oppositionelle Debatten durch. Sie wurde zum Beispiel in der polnischen Auseinandersetzung über den oppositionellen Pluralismus oder in der tschechoslowakischen Behandlung vermeintlich »totalitärer Tendenzen« innerhalb der Opposition in die Praxis oppositioneller Selbstorganisation übersetzt.28 So überrascht es nicht, dass der polnische Literaturkritiker Jan Józef Lipski dem oben angeführten Beitrag von Aleksander Hall durchaus ähnliche Argumente entgegenbrachte wie Konrád in der Mitteleuropa-Debatte Kundera. Unter der Chiffre des »größeren Vaterlands« verteidigte Lipski Europa als plurale, solidarische Gemeinschaft und umriss hier bereits seinen Essay »Zwei Vaterländer – Zwei Patriotismen«, der ein Jahr später erscheinen sollte.29 Auch Lipski argumentierte mit dem polnischen Ka24 25
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György Konrád, Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen, Frankfurt a.M. 1984. Zu einer Begriffsbestimmung der Antipolitik bei Havel vgl. Miloš Havelka, »Nepolitická politika«. Kontexty a tradice [»Nicht-politische Politik«. Kontext und Traditionen], in: Sociologický časopis 34 (1998), S. 455–466. Vgl. grundlegend dazu Barbara J. Falk, The Dilemmas of Dissidence in East-Central Europe. Citizen Intellectuals and Philosopher Kings, Budapest 2003; Matt Killingsworth, Civil Society in Communist Eastern Europe. Opposition and Dissent in Totalitarian Regimes, Colchester 2012. Konrád, Antipolitik, S. 331. Vgl. ausführlicher dazu Gregor Feindt, Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft. Oppositionelles Denken zur Nation im ostmitteleuropäischen Samizdat, 1976–1992, Berlin 2015, S. 285–295. Jan Józef Lipski, Dwie ojczyzny – dwa patriotyzmy. Uwagi o megalomanii narodowej i ksenofobii Polaków [Zwei Vaterländer – Zwei Patriotismen. Bemerkungen über den Größenwahn und den Fremdenhass der Polen], in: Kultura 35 (1981) 10, S. 3–30; Jan C.
Die ambivalente Vielfalt Mitteleuropas
tholizismus, allerdings nicht als kulturell abgegrenzte Gemeinschaft, sondern als moralisch-absoluter Anspruch der Integration: Jede politische Gemeinschaft – ob nur das eigentliche Vaterland Polen oder das größere Vaterland Europa – müsse auf der Nächstenliebe beruhen, alles andere sei eine »ethische Missbildung«.30 Beide Beispiele, d.h. die Auseinandersetzungen Kundera-Konrád und Hall-Lipski, verknüpften Mitteleuropa bzw. Europa mit Fragen des grundlegenden Umgangs mit Differenz und der eigenen politischen Gemeinschaft. Wenn Kundera kleine Nationen von der Sowjetunion abgrenzte und Hall die Bedrohung eines lateinisch-christlichen Europas skizzierte, verstanden beide die zu definierenden eigenen Bezugsgrößen als eindeutige und implizit homogene Gemeinschaften – und folgten damit der Imagination einer solchen sozialen Gruppe und ihrer wirkmächtigsten Ausdrucksform, der Nation. Kundera benannte folglich das Fehlen homogener Nationalstaaten als den grundlegenden Mangel Mitteleuropas.31 Vielfalt ist in diesem Sinne die Vielfalt bestehender und eindeutig abgrenzbarer Einheiten, wogegen Konrád und Lipski eine Vielfalt innerhalb dieser Gemeinschaften bestätigten und als inneres Prinzip einer utopischen Gesellschaftsordnung einforderten. Ihre Vorstellung einer politischen Gemeinschaft blieb symbolisch unbestimmt und definierte sich über ihre Funktionsweise, nicht aber durch Zugehörigkeit. Kritisierten also beide Positionen die Teilung Europas, bedeutete diese für die konservative Position Kunderas und Halls die unnatürliche Teilung eines kulturell und historisch zusammengehörenden Europas und den Gegensatz zu Russland und der Sowjetunion. Die liberale Gegenposition Konráds und Lipskis zielte hingegen auf die Teilung als solche und nahm einen integrierenden moralischen Grundimpetus an, der sich nur von Ausgrenzung und Unfreiheit abgrenzen könne, nicht aber von Ländern oder Völkern. Auch in der nostalgischen Anschauung historischer Vielfalt in Ostmitteleuropa um 1900 lassen sich diese beiden Typen eines angewandten Verständnisses von Differenz anschaulich machen. Vermisste Kundera nämlich in der Situation der 1980er Jahre die Stärke der kleinen Nationen, die aus einer der
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Behrends, Jan Józef Lipskis europäischer Traum. Zur Geschichtskultur in Polen, Russland und Deutschland nach 1989, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, htt ps://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1426 (abgerufen am 15.1.2023). Lipski, Dwie ojczyzny – dwa patriotyzmy [Zwei Vaterländer – Zwei Patriotismen], S. 4. Vgl. Kundera, Tragödie Zentraleuropas, S. 48.
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Bedrohung folgenden kulturellen Mobilisierung erwuchs,32 so bezweifelte Konrád, ob »der homogene Nationalstaat« für Mitteleuropa überhaupt als »Norm […] brauchbar« sei.33 In dieser Hinsicht stand ein essentielles und konfliktbasiertes Verständnis von politischer Gemeinschaft einem voluntaristischen und pluralistischen Verständnis gegenüber, das Andersartigkeit affirmativ anerkannte und als Prinzip politischer Organisation nutzte. Für die demokratische Opposition in Ostmitteleuropa war dieser Grundgegensatz zwischen essentialistischer und voluntaristischer Begründung von Identität und Zugehörigkeit prägend. Er ließe sich über die hier angeführte polnische Auseinandersetzung an zahlreichen Beispielen konkreter Begegnungen und Konflikte zwischen Oppositionellen ausführen.34 Was hier als abstrakte und philosophische Auseinandersetzung erscheint, bedingte die politische Handlungsfähigkeit oppositioneller Akteure, wenn zum Beispiel die Kooperationsfähigkeit unterschiedlicher politischer Strömungen innerhalb der Opposition in Frage stand. Die Frage nach dem Umgang mit Differenz transzendiert die Unterscheidung von innen und außen, und genau dieser Doppelcharakter schlägt sich auch in den oppositionellen Kontakten über Ländergrenzen hinweg nieder. Im Folgenden soll diskutiert werden, wie sich dieser Gegensatz im Selbst- und Fremdbild der Opposition auswirkte.
Grenzüberschreitung und Grenzen im Umgang mit Differenz Mit den Debatten über Mitteleuropa bzw. auch der Beschäftigung mit Europa konnten ostmitteleuropäische Oppositionelle und Non-Konformisten Aufmerksamkeit über das eigene Land hinaus und auch jenseits des sprichwörtlichen Eisernen Vorhangs erlangen. Der explizite Bezug auf eine Gemeinschaft jenseits des eigenen Nationalstaates und der eigenen Öffentlichkeit ermöglichte es, Kontakte zu anderen Regimegegnern und besonders zu Intellektuellen und Unterstützern im Westen zu knüpfen. Christian Domnitz konnte mit seiner Studie Hinwendung nach Europa zeigen, wie solche Verheißungen auch über die Regimekritik hinaus in staatlich sanktionierte Publizistik und
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Vgl. ebd., S. 52. Konrád, Mein Traum von Europa, S. 186. Vgl. u.a. Michal Kopeček, Human Rights Facing a National Past. Dissident ›Civic Patriotism‹ and the Return of History in East Central Europe, 1968–1989, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 573–602.
Die ambivalente Vielfalt Mitteleuropas
Öffentlichkeit reichten und Mitteleuropa und Europa auch dort Themen waren.35 Allein schon die Diskussion über Teilung und Zusammengehörigkeit Europas über trennende Grenzen hinweg erweckte bei den Akteuren und vielen frühen Beobachtern den Eindruck eines gemeinsamen Handelns. Diese Wahrnehmung bedarf jedoch einer Differenzierung. Bereits bei den beiden Kerntexten der Debatte wird deutlich, wie sehr diese bei ihrer Veröffentlichung auf eine jeweils nationale Öffentlichkeit abzielten. Kunderas Aufsatz erschien zwar innerhalb kurzer Zeit in Frankreich, Deutschland und den USA sowie mit etwas Verzögerung auch im ostmitteleuropäischen Samizdat, jedoch mit teils deutlichen Abweichungen, gerade in der englischen Fassung.36 Noch deutlicher wird dies bei Konrád: Der Hauptteil seines Artikels in der westdeutschen Zeitschrift Kursbuch mit der Kapitelüberschrift »Gibt es noch einen Traum von Mitteleuropa?« ging auf eine Rede zurück, die Konrád anlässlich der Verleihung des Herder-Preises 1983 in Wien gehalten hatte und die zunächst im Hírmondó im ungarischen Samizdat erschien.37 Für die deutsche Ausgabe stellte Konrád diesem Textkern Überlegungen über einen demokratischen Sozialismus voran und zielte damit offenkundig auf die linke Leserschaft des Kursbuchs. Seine Überlegungen hätten in ungarischen Samizdat-Blättern in dieser Form vermutlich nur wenig Anklang gefunden und folgten auch nicht vollständig dem Argumentationsgang seiner Antipolitik. Mit anderen Worten: Der Eindruck, hier authentische Stimmen aus Ostmitteleuropa zu rezipieren,38 war trügerisch. Vielmehr schrieben ostmitteleuropäische Intellektuelle wenigstens in Teilen für ein westliches Publikum. In der europäischen Linken hatte der schleichende Vertrauensverlust gegenüber dem Marxismus39 und der Niedergang des Eurokommunismus ein
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Christian Domnitz, Hinwendung nach Europa. Öffentlichkeitswandel im Staatssozialismus 1975–1989, Bochum 2015. Vgl. Ther, Milan Kundera und die Renaissance Zentraleuropas. Konrád, A megrabelt Nyugatavagy Közép-Európa tragédiája [Der entführte Westen oder die Tragödie Zentraleuropas], S. 24; in der deutschen Fassung: Konrád, Mein Traum von Europa, S. 184–193. Vgl. Victoria Harms, Living Mitteleuropa in the 1980s. A Network of Hungarian and West German Intellectuals, in: European Review of History 19 (2012), S. 669–692. Vgl. Agnes Arndt, Der Bedeutungsverlust des Marxismus in transnationaler Perspektive. »Histoire Croisée« als Ansatz und Anspruch an eine Beziehungsgeschichte West- und Ostmitteleuropas, in: Agnes Arndt/Joachim C. Häberlen/Christiane Reinecke (Hg.), Vergleichen, verflechten, verwirren? Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, Göttingen 2011, S. 89–114. In längerer Perspektive und mit Fo-
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Interesse an alternativen Ideen befördert, das nun mit solchen Beiträgen aus Ostmitteleuropa neue Anregungen erhielt.40 Mitte der 1980er Jahre entstand geradezu eine Mode, ostmitteleuropäische Intellektuelle zu lesen. Auf diese Weise erreichten prominente Dissidenten wie Konrád, der polnische Regimegegner Adam Michnik oder gerade Václav Havel im Westen beachtliche Auflagen.41 Die erwähnte Ausgabe des Kursbuchs – nur ein Beispiel unter vielen – beruhte auf der Vermittlung des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger, der ungarische Intellektuelle wie György Dalos oder eben Konrád, die mit Stipendien des Deutschen Akademischen Austauschdienstes einige Zeit in West-Berlin verbracht hatten, nun im deutschen Zeitungs- und Verlagswesen protegierte.42 Finanzielle Unterstützung und Stipendien für Aufenthalte im westlichen Ausland linderten das Schicksal vieler mit Berufs- und Publikationsverbot belegter Autoren in Ostmitteleuropa. Kundera, der vollständig nach Frankreich übergesiedelt war, und Konrád, der seit 1978 durch den Westen reiste, sind dafür typische Beispiele. Und dennoch »waren ungarische Dissidenten für New Yorker Intellektuelle von Bedeutung«,43 wie Victoria Harms zeigte. Die Anschauungen ostmitteleuropäischer Intellektueller und ihr Denken angesichts von Liminalitätserfahrungen regte seit den späten 1970er Jahren amerikanische Intellektuelle an und motivierte einen dezidiert liberalen Anti-Kommunismus und eine Begeisterung für das Fin de siècle. Hatten viele dieser zumeist New Yorker Denker jüdische und ostmitteleuropäische Wurzeln, ging hier die Wiederaneignung der eigenen Familiengeschichte mit dem Interesse an Wien um 1900 und der Unterstützung ostmitteleuropäischer Regimekritiker ineinander über.44 Diese wehmütige Beschäftigung mit der Frage eines dezidiert als liberal begriffenen45 und historisch gescheiterten Umgangs mit
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kus auf Westdeutschland vgl. Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte, 1960–1990, München 2015. Vgl. Tony Judt, The Rediscovery of Central Europe, in: Daedalus 119 (1990) 1, S. 23–54, hier S. 34. Vgl. ebd., S. 32. Vgl. Harms, Living Mitteleuropa in the 1980s, S. 675. Victoria Harms, Central Europe in Manhattan: Why Hungarian Dissidents Mattered to New York Intellectuals, in: Comparativ 25 (2015) 4, S. 23–38. Vgl. ebd., S. 31–36. Dabei geht es weniger um eine ideologisch konsistente Bewertung der Vergangenheit als um ihre deutende Aneignung und zeitgenössische Funktionalisierung, vgl. ausführlicher zur Tradition des Liberalismus Pieter M. Judson, Rethinking the Liberal Legacy, in: Steven Beller (Hg.), Rethinking Vienna 1900, New York/Oxford 2001, S. 57–79.
Die ambivalente Vielfalt Mitteleuropas
Differenz in der Habsburgermonarchie formulierte also Elemente der Mitteleuropa-Debatte, lange bevor Kunderas »entführtes Abendland« eine Debatte provozierte. Wie bereits am polnischen Beispiel gezeigt, lässt sich ähnliches auch für den Europa-Diskurs im ostmitteleuropäischen Samizdat festhalten.46 Auch die Publizistik der polnischen Exilzeitschrift Kultura zu Europa und zum polnischen Verhältnis zu den östlichen Nachbarn griff ein solches liberales Lob der Vielfalt auf und wendete es konstruktiv als politisches Programm des Ausgleichs an.47 Diese dezentrale und vielgestaltige Entwicklung einer liberalen Anerkennung von Differenz lässt sich jedoch nicht als Mitteleuropa avant la lettre begreifen, sondern verdeutlicht vielmehr, welche Diskursstränge in dieser Debatte aufschienen und erst dort einem breiteren Publikum bekannt wurden. Aus dieser Textgeschichte zwischen Ost und West ergibt sich, wie oben bereits am Beispiel von Konráds Traum von Europa gezeigt, die Frage, für welche Adressaten diese Texte eigentlich entstanden. Bei näherer Betrachtung nicht nur der Mitteleuropa-Debatte zeigt sich, dass sich nur ein sehr beschränktes Meinungsspektrum des Samizdat im Westen wiederfand.48 Diese Auswahl von nahezu durchgängig liberal orientierten Autoren beeinflusste auch diese Autoren selbst in ihren Erwartungshorizonten und ihrem konkreten Denken. Neben der Mitteleuropa-Debatte waren es vor allem Beiträge dieser »Philosophen-Könige«,49 wie Barbara Falk sie in Anlehnung an Platons Politea nannte, zur Zivilgesellschaft, die das westliche Publikum bewegten und das politische Handeln in den Neuen Sozialen Bewegungen mitprägte. Dass der Begriff – und in weiten Teilen das Konzept – der Zivilgesellschaft den ostmitteleuropäischen Regimegegnern erst durch westliche Beiträge überhaupt geläufig wurde,50 war dafür weniger relevant.51 Das soll nicht in Zweifel ziehen,
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Vgl. Domnitz, Hinwendung nach Europa, S. 214–244. Vgl. Timothy Snyder, The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569–1999, New Haven 2003, S. 218–231. Analog dazu kam es auch in der Forschung zu einer verzerrten Wahrnehmung, vgl. Friederike Kind-Kovács/Jessie Labov, Samizdat and Tamizdat, in: dies. (Hg.), Samizdat, Tamizdat and Beyond. Transnational Media during and after Socialism, New York 2013, S. 1–23, hier S. 7. Falk, The Dilemmas of Dissidence in East-Central Europe. Vgl. Agnes Arndt, Intellektuelle in der Opposition. Diskurse zur Zivilgesellschaft in der Volksrepublik Polen, Frankfurt a.M. 2007. Dieses Argument habe ich anderer Stelle ausführlicher diskutiert, vgl. Feindt, Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft, S. 301–312.
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dass ostmitteleuropäische Intellektuelle einen genuinen Beitrag zum Konzept der Zivilgesellschaft leisteten oder in der Mitteleuropa-Debatte neue Anregungen für ihre westlichen Leser boten,52 sondern betonen, welche Unwucht eine solche »Schlagwort-Kommunikation«53 oftmals erzeugte und wie sich die Performanz des Diskurses von seinen Inhalten unterschied. Vermittelt durch einzelne Intellektuelle und angepasst an die jeweils spezifischen Leseerwartungen und -bedürfnisse, entstand das Bewusstsein einer gemeinsamen Debatte, obwohl sich zwei verwandte Zusammenhänge nur überlappten und diese »produktiven Missverständnisse« Unschärfen produzierten.54 Eine solche Unschärfe von symbolischer Rezeption und diskursiver Parallelität lässt sich freilich auch im Samizdat nachverfolgen, wenn polnische, tschechoslowakische oder ungarische Journale ausländische Beiträge nachdruckten. So fanden nicht nur die beiden hier exemplarisch diskutierten Kerntexte von Kundera und Konrád eine spürbare Verbreitung im Samizdat, sondern auch westliche Beiträge zur Mitteleuropa-Debatte wie Karl Schlögels Die Mitte liegt ostwärts, der einen dezidiert westdeutschen Zugang zur abwesenden Historizität der Beziehungen mit dem Osten Europas darstellte.55 Das Bewusstsein, Teil einer grenzüberschreitenden Opposition gegen den Staatssozialismus zu sein, regte im publizistischen Untergrund Ostmitteuropas nicht nur Sammelbände oder Themenhefte an, sondern gleich neue Zeitschriften und ermöglichte publizistisch eine oppositionelle Anschauung Zentraleuropas, wie sie vorher nur durch persönliche Kontakte möglich war. Die seit 1984 erscheinende Prager Zeitschrift Střední Evropa [Mitteleuropa], die sich mit Titel und Vorwort eindeutig auf die Mitteleuropa-Debatte bezog, ohne jedoch Kunderas Namen oder Impuls zu nennen, wurde zu einem der wichtigsten Organe der tschechoslowakischen Opposition. In Polen berichteten beispielsweise bereits seit 1981 Obóz [Lager] oder ABC [Adriatyk–Bałtyk–Morze 52 53
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Vgl. Falk, The Dilemmas of Dissidence in East-Central Europe, S. 314–322 und S. 335–348. Lisa Bonn, Begriffskonjunktur Zivilgesellschaft. Zur missverständlichen Interpretation dissidentischer Bewegungen in Osteuropa, in: Lino Klevesath/Holger Zapf (Hg.), Demokratie – Kultur – Moderne, München 2011, S. 121–131, hier S. 121. Vgl. Michael G. Esch, Transfers, Netzwerke und produktive Missverständnisse. Plastic People, Velvet Underground und das Verhältnis zwischen westlicher und östlicher Dissidenz, in: Comparativ 25 (2014) 4, S. 39–57. Karl Schlögel, Středleží na Východě [Die Mitte liegt ostwärts], in: Střední Evropa [Samizdat] 3 (1986) 6, S. 34–40; ders., Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa, Berlin 1986.
Die ambivalente Vielfalt Mitteleuropas
Czarne; Adria–Baltikum–Schwarzes Meer] über andere staatssozialistische Länder und ihre Oppositionsbewegungen. In Ungarn knüpften Égtájak között [Zwischen den Himmelsrichtungen] und Máshonnan Beszélő [Der Sprecher von Anderswo] daran an. Letzterer druckte sogar ausschließlich ausländische Texte, vor allem aus Ostmitteleuropa. Auch und gerade weil es dabei nicht zu einer Anpassung der Texte an die spezifischen Leseerwartungen kam, lässt sich hier zum Beispiel in konzeptionellen Debatten kein größerer Einfluss übersetzter Texte erkennen. In einzelnen Fällen wurde diese Ambivalenz auch den Beteiligten des Samizdat augenscheinlich, wie eine kritische Bemerkung in der Zeitschrift Obóz 1988 demonstrierte. Robert Bogdański, Redaktionsmitglied dieser ältesten unabhängigen polnischen Zeitschrift »für Probleme der Nachbarländer«,56 behauptete, dass Mitteleuropa lediglich das »künstliche Werk von Intellektuellen« sei.57 Dabei hatte Obóz im Jahr zuvor Kunderas Text in einer Übersetzung aus dem Ungarischen zusammen mit anderen Texten zu Mitteleuropa nachgedruckt.58 In einem Geschehen, das unter dem Eindruck stand, nicht nur über die Mitte Europas zu diskutieren, sondern eben auch diese Mitte in ihrer Gänze zu erfassen, nahm Bogdański so eine Außenperspektive ein.
Schlussbetrachtung: Mitteleuropa als Projektionsfläche von Differenz Dieser Beitrag hat gezeigt, dass die Diskussion über Pluralitäten, Heterogenitäten bzw. vermeintliche Homogenitäten in der Vergangenheit mit einer spezifischen Behauptung und Anwendung von Differenzkonstruktionen in der Gegenwart einherging.59 Aus dieser Perspektive klafften in der hier ex-
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So der Untertitel der Zeitschrift Obóz. Aleksander Romert [Robert Bogdański], Europa Środkowa w Europie Środkowejdziś – mit i postulat [Mitteleuropa in Mitteleuropa heute – Mythos und Postulat], in: Obóz [Samizdat] 15 (1988), S. 133–135, hier S. 133. Kundera, Obrabowany Zachód; Wstęp [Einleitung], in: Obóz [Samizdat] 7 (1987) 11, S. 4. Ohne eine solche Einschränkung druckte nur die wenig bedeutende polnische Zeitschrift Europa Kerntexte der Debatte nach, vgl. Europa 1 (1987) 2. Vgl. als Anregung Moritz Csáky/Johannes Feichtinger/Peter Karoshi/Volker Munz, Pluralitäten, Heterogenitäten, Differenzen. Zentraleuropas Paradigmen für die Moderne, in: Kakanien revisited, www.kakanien-revisited.at/beitr/theorie/ MCsaky_JFeichtinger_PKaroshi_VMunz1.pdf (abgerufen am 15.1.2023).
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emplarisch ausgeführten Mitteleuropa-Debatte Selbstverständnis und Praxis im Umgang mit Differenz deutlich auseinander. In der Funktion eines geteilten Schlagwortes firmierte Mitteleuropa sowohl als Symbol einer liberalen Wertschätzung von Differenz innerhalb politischer Gemeinschaften als auch als essentialisierender und konfliktbasierter Mechanismus politischer Abgrenzung. Zugleich bedingten sich – sowohl mit Bezug auf Mitteleuropa im Speziellen als auch auf Vielfalt im Allgemeinen – Deutung und Handlung gegenseitig, müssen also verschränkt gedacht werden.60 In dieser ambivalenten Bedeutung lässt sich Mitteleuropa als politisches Postulat verstehen und die langanhaltende Debatte als Resonanz dieses Postulats. Dabei kann Mitteleuropa als beschreibendes Konzept das Funktionieren von Pluralitäten, Heterogenitäten und Differenzen nicht erfassen, sondern lediglich behaupten. Das Konzept und seine vielfältigen Akteure fordern also eine spezifische Souveränität gegenüber politischen Instanzen ein, sei dies die Sowjetunion, der sozialistische Staat oder die ethnische Nation. Die Kategorie dieser relational formulierten Differenz, ihre Bezugspunkte und ihre Akteure sind dabei nicht nur vielgestaltig, sondern auch flüssig.61 Indem die Debatte unter einem Schlagwort unterschiedliche Vorstellungen von Differenz miteinander verknüpft, exemplifiziert sie die kulturelle Hybridität der beschriebenen Region, sowohl in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart. Dieser unterschiedliche Umgang mit Differenz forderte auch die historische Forschung zur Region heraus und schlug sich in einer vertieften wissenschaftlichen Betrachtung seit Mitte der 1980er Jahre nieder. Durchaus im Widerspruch zu den homogenisierenden und essentialistischen Konzeptionen in der Folge von Kundera stieß das Konzept Zentraleuropa dabei eine kulturwissenschaftlich und post-kolonial informierte Betrachtung der Region an. Mit dem Ansatz eines Kommunikationsraums, »in dem Differenzen nicht einfach ›vermischt‹, sondern anerkannt und offengelassen werden«,62 knüpfte das Konzept an den liberalen Strang der hier behandelten Mitteleuropa60
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Vgl. Gregor Feindt/Bernhard Gißibl/Johannes Paulmann, Kulturelle Souveränität. Zur historischen Analyse von Deutungs- und Handlungsmacht jenseits des Staates, in: dies. (Hg.), Kulturelle Souveränität. Politische Deutungs- und Handlungsmacht jenseits des Staates im 20. Jahrhundert, Göttingen 2017, S. 9–46; Gregor Feindt, Making and Unmaking Socialist Modernities. Seven Interventions into the Writing of Contemporary History on Central and Eastern Europe, in: European History Yearbook 19 (2018), S. 133–154. Vgl. ebd. Csáky, Das Gedächtnis der Städte, S. 105.
Die ambivalente Vielfalt Mitteleuropas
Debatte an und regte damit die historische Beschäftigung mit dem Umgang mit Differenz im Europa der Neuzeit an. In der hier untersuchten Situation der 1980er Jahre, besonders im ostmitteleuropäischen Spätsozialismus, trafen agonistische Verständnisse einer ethnisch und national gerahmten Identität auf Vorstellungen von hybrider und damit mehrdeutiger Kultur.63 Im liberalen Strang der Mitteleuropa-Debatte lässt sich dabei bereits ein reflexiver Umgang mit Differenz erkennen, also ein spezifisch postmoderner Ansatz jenseits von großer Erzählung und exklusiven Zugehörigkeiten, der Differenz auch als Abstraktum reflektiert und daraus politische Implikationen zieht. Konráds und Havels Antipolitik oder Lipskis »Zwei Vaterländer – Zwei Patriotismen« fallen idealtypisch in dieses Muster, um nur die hier behandelten Beispiele anzuführen.64 Mitteleuropa stand dabei als historische und zeitgenössische Großregion über den konkreten Problemstellungen, die sich auf Nationalstaaten oder politische Ideologien bezogen. Stellvertretend stand Mitteleuropa aber als größerer Rahmen für die jeweilige Ordnung im Kleinen. Für diese zumeist implizite Auseinandersetzung über den Umgang mit Differenz waren gerade Vergangenheitsbezüge in der Debatte besonders relevant. Die nostalgische Vergewisserung des Fin de siècle verdeutlicht dies, genauso wie die Trauer über den Verlust von Vielfalt im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Dabei drehte sich die Mitteleuropa-Debatte keineswegs um Vergangenheit als solche, sondern war hoch aktuell, ja in ihren einzelnen Pointen sogar tagesaktuell. Für die Debatte spielte es dabei keine Rolle, dass in diesem dynamischen Jahrhundert, das zwischen der wertschätzenden Ermöglichung und der radikalen Vernichtung von Differenz oszillierte, sich die jeweils verhandelte Form und Kategorie der Differenz veränderte. Mitteleuropa als Vorstellung war vielmehr die Projektionsfläche einer solchen hybriden Differenz und Anregung einer erneuerten und nun kulturwissenschaftlich informierten Betrachtung.
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Vgl. systematisch erhellend dazu Seyla Benhabib, The Claims of Culture. Equality and Diversity in the Global Era, Princeton 2002. Für weitere Beispiele vgl. Falk, The Dilemmas of Dissidence in East-Central Europe, S. 313–325.
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»Gespenster des alten Österreich« Der Kampf um die Deutungsmacht über die habsburgische Vergangenheit in der Ersten Republik Werner Suppanz
Der vorliegende Beitrag setzt sich mit Aspekten des Deutungskampfes um die Habsburgermonarchie in der Republik (Deutsch-)Österreich in den Jahren zwischen 1918 und 1933/34 auseinander. Eine zentrale Rolle spielte dabei die höchst kontroversielle Bewertung des Ersten Weltkriegs. Untersucht wird diese Frage vorrangig an den gegensätzlichen Narrativen des sozialdemokratischen und des bürgerlichen bzw. christlich-konservativen Lagers, die die unterschiedlichen Perspektiven auf die Vergangenheit in paradigmatischen Erzählungen formulierten.1 Sofort umkämpft war – natürlich keineswegs überraschend – die »Materialisierung« der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg bzw. in der Zwischenkriegszeit »den Weltkrieg« in Form von Zeichensetzungen des kulturellen Gedächtnisses. Allerdings, wie zu zeigen sein wird, stand die Kontinuität der österreichischen Geschichte generell in Frage bzw. im Zeichen eines Deutungskampfes. Kontroversiell, emotional aufgeladen und im Zentrum der Definition des »Österreichischen« und »der (deutsch-)österreichischen Geschichte« war der Blick auf die habsburgische Vergangenheit insgesamt. Als Element des Funktionsgedächtnisses der politischen Lager war diese Frage eine wesentli-
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Zur Drei-Lager-Theorie vgl. Adam Wandruszka, Österreichs politische Struktur: Die Entwicklung der Parteien und politischen Bewegungen, in: Heinrich Benedikt (Hg.), Geschichte der Republik Österreich, Wien 1954, S. 289-485. Zur Kritik daran vgl. Florian Wenninger. Der Faschist als Alien. Eine Reflexion der Drei-Lager-Theorie am Beispiel der österreichischen Heimwehren, in: Werner Anzenberger/Heimo Halbrainer (Hg.), »Unrecht im Sinne des Rechtsstaates«. Die Steiermark im Austrofaschismus, Graz 2014, S. 47-68.
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Werner Suppanz
che Ausdrucksform der unvereinbaren Modi, mit denen sich Sozialdemokratie und Christlichsoziale zur Vergangenheit in Bezug setzten.2 Bis zum Ende der demokratischen Republik 1933/34 ist diesbezüglich ein vehementer Deutungskampf in den gesetzgebenden Körperschaften, in der (Partei-)Presse und in der Zeichensetzung im öffentlichen Raum zu konstatieren. Im austrofaschistischen »Ständestaat« hingegen wird eine mit dem Selbstbild als »besserer deutscher Staat« mit einer »österreichischen Mission« kompatible Version des habsburgischen Mythos zum offiziellen Geschichtsbild.3 Dieser Zeitabschnitt liegt, von einem kurzen Verweis abgesehen, nicht mehr im Untersuchungszeitraum dieses Beitrags. Eine vorrangige Rolle in der Untersuchung dieses Deutungskampfes wird dabei die Frage nach den Sprachbildern spielen, die in den Narrativen der beiden politischen Lager verwendet werden. Abschließend folgt eine knappe Untersuchung von in den 1920er Jahren verwendeten Schulbüchern, in der der Frage nachgegangen wird, in welcher Form diese die habsburgische Vergangenheit Österreichs vermitteln und welche sinnstiftenden Einordnungsangebote sie den Schüler:innen machten.
Prolog Die Analyse des Sprechens von und der diskursiven Erzeugung der »habsburgischen Vergangenheit« Österreichs in den unterschiedlichen Versionen sollte nicht unbeachtet lassen, dass eine Frage darin keine Rolle spielte:4 War ein Staat Österreich-Ungarn ohne Monarchie und damit ohne Dynastie Teil der politischen Konzepte und der Erwartungshorizonte vor 1918? War die Option einer Trennung des Staates Österreich-Ungarn von seiner Staatsform Monarchie Teil des politischen Reformdiskurses? Karl Renner stellte im Jahr 1906 unter dem Autorenpseudonym Rudolf Springer in seiner programmatischen Stu2
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Zum Konzept des Funktions- und des Speichergedächtnisses vgl. z.B. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 133-139. Vgl. Werner Suppanz, Österreichische Geschichtsbilder. Historische Legitimationen in Ständestaat und Zweiter Republik (Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek 34), Köln/ Weimar/Wien 1998. Zur Rolle des Nicht-Gesagten als Element der Diskursmacht vgl. Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse (Historische Einführungen 4), Frankfurt a.M./New York ²2018, S. 99.
»Gespenster des alten Österreich«
die Grundlagen und Entwicklungsziele der Österreich-Ungarischen Monarchie fest: »Die ganze Zukunft der Dynastie hängt davon ab, ob sie treu zum gleichen Stimmrecht aller steht, in Österreich wie in Ungarn. Um das Reich ist mir nicht bange: Die Völkerföderation wird sich durchsetzen, mit ihr oder ohne sie.«5 Hier wird das Konzept eines österreichisch-ungarischen »Vielvölkerstaates« gleichsam angerissen. Die vage formulierte Vorstellung ist die eines demokratischen Staates, der sowohl das Stimmrecht des Einzelnen als auch die Gleichberechtigung der sprachlich-ethnischen Gruppen, der »Nationalitäten« des Reiches, vorsieht. Dieses Staatswesen, so Renner/Springer, sei nicht notwendigerweise an ein monarchisches Staatsoberhaupt gebunden. Vielmehr liege es an der Dynastie, ob sie den demokratischen Staat akzeptiere oder nicht. Der Staat sei letztlich dauerhafter als die monarchische Staatsform, das Bekenntnis zur »Völkerföderation« stärker als jenes zu Dynastie und Adel. Das Zitat öffnet eine, wenn auch nur unscharf angedeutete Zukunftsperspektive, die den Fortbestand Österreich-Ungarns jenseits der letztlich bis 1918 bestehenden politischen Ordnung ermöglichen sollte. Renner sollte sich täuschen, wenn ihm »um das Reich nicht bange« war. Die österreichische Sozialdemokratie insgesamt entwickelte auch keine republikanischen Konzepte für das Reich. Aber Renners Feststellung verweist auf den Umstand, dass die sozialdemokratische Position, die sich nach 1918 so vehement gegen den Fortbestand Österreich-Ungarn richtete, weitaus stärker gegen die habsburgische Dynastie als grundsätzlich gegen den Staat gerichtet war. Allerdings, wie gleich zu zeigen sein wird, führte das Fehlen – mit wenigen Ausnahmen – eines die monarchische politische Ordnung transzendierenden Konzepts dazu, dass der Sozialdemokratie der Zerfall Österreich-Ungarns als Preis für das Ende der habsburgischen Herrschaft letztlich gering erschien.
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Rudolf Springer, Grundlagen und Entwicklungsziele der Österreich-Ungarischen Monarchie. Politische Studie über den Zusammenbruch der Privilegienparlamente und die Wahlreform in beiden Staaten, über die Reichsidee und ihre Zukunft, Wien/Leipzig 1906, S. 232.
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Die sozialdemokratische Position zur habsburgischen Vergangenheit in der Zwischenkriegszeit Der Zerfall Österreich-Ungarns war aus sozialdemokratischer Sicht, vor allem unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, ein Grund zur Freude und ein Anlass zum Triumph. Dieser antihabsburgische Diskurs, der in der Arbeiter-Zeitung, in Wahlplakaten, in politischen Reden und Schriften in vielen Details ausformuliert wurde, basierte in hohem Maße auf der Ablehnung des Ersten Weltkriegs, für den Kaiser Franz Joseph und die Dynastie in hohem Maße verantwortlich gemacht wurden. Generell galt die Ausrufung der Republik als Durchbruch in »moderne Zeiten«. Die monarchische Ordnung sei ein Zeichen der Rückständigkeit gewesen. Feudale Ordnungen wurden als mittelalterlich gedeutet: »Die Kaiserkrone ist das unheilvolle Erbe, mit dem die Völker von Geschlecht zu Geschlecht von den dunklen Tiefen des Mittelalters her bis zu unseren Tagen geschlagen waren. […] Durch Jahrhunderte konnte die Vermessenheit einzelner Familien auf den Thronen schalten, und es bedurfte erst des mächtigen Sturmes einer Revolution, um diese Schmach zu tilgen.«6 Neben der monarchisch-dynastischen Staats- bzw. Herrschaftsform generell war es vor allem die Verantwortung der Habsburger für den Weltkrieg, die zum dominanten Element der antihabsburgischen Narrative wurde. Die Kriegsschuldfrage war für die SDAPÖ (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs) eindeutig geklärt. So stellte der Grazer Bürgermeister Vinzenz Muchitsch in seiner Inaugurationsrede am 13. Juni 1919 fest: »Wir lehnen es mit aller Entschiedenheit ab, die Erben der mit Blut und Eisen aufgebauten und durch den Weltkrieg zum Glücke seiner Völker zerstörten Habsburger-Monarchie zu sein. […] Wir fluchen jenen, die dieses entsetzliche Menschenmorden, die Vernichtung unserer Arbeit und unseres bescheidenen Wohlstandes eingeleitet und uns in dieses Unglück gestürzt haben, als die größten Verbrecher der Menschheit.«7 Die Habsburgermonarchie trage aufgrund ihrer Kriegsschuld das historische Erbe eines gewaltsam errichteten, »mit Blut und Eisen aufgebauten« Reiches
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Ohne Autor, Der teure Kaiser (Aufklärungsschriften 3), Wien 1919, S. 15. Inaugurationsrede Vinzenz Muchitsch, in: Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz 23 (1919). Konstituierende Sitzung des Gemeinderates der Landeshauptstadt Graz am Freitag, den 13. Juni 1919, S. 335.
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mit sich. Ein Staat, dessen innere Ordnung auf Gewalt aufgebaut gewesen sei, hätte in einer letzten Steigerung gleichsam die Welt in seine Macht- und Herrschaftslogik mitgerissen. Eine Alternative zu seiner Zerstörung – »zum Glücke seiner Völker« – habe es, der Darstellung Muchitschs folgend, daher nicht geben können. Mit der Absage an die »Sinngebung des Sinnlosen« – des Sterbens und Leidens im Weltkrieg – stand das linke Lager auch in einem unaufhebbaren Gegensatz zum »politischen Christentum und dem nationalistischen Milieu«.8 Das sozialdemokratische Narrativ von der Habsburgermonarchie gleichsam als Rogue State mit den Habsburgern als hochgradig kriminellen Schurken spielte auf der Bundes-, der Landes- und der kommunalen Ebene eine zentrale Rolle. Die Aussagen der SDAPÖ-Politiker in der Grazer Stadtregierung sind hier repräsentativ. Muchitsch sprach von den »größten Verbrechern der Menschheit«. Finanzstadtrat Alois Ausobsky erklärte am 3. März 1921: »Der Krieg hat uns zu Bettlern gemacht, den Staat, das Land, die Gemeinde und wir haben vor uns die Verwaltung eines Bettlerhaushaltes, und das Weltverbrechen, das im Jahre 1914 von den Habsburgern begangen wurde, wird noch schwer auf den Schultern unserer Kinder und Kindeskinder lasten.«9 Zeitgenössisch stand die Sozialdemokratie mit dieser Darstellung des Weltkriegs und des Habsburger-Staates nicht allein. Karl Kraus hatte bereits während des Krieges in der Fackel und in den Letzten Tagen der Menschheit den verbrecherischen Kampf gegen innere und äußere Feinde mit Sarkasmus und Bitterkeit angeprangert, was wiederholt zur Beschlagahme von Zeitschriftenausgaben durch die Zensur führte.10 In der österreichischen Geschichtswissenschaft und Gedächtniskultur dauerte es mit wenigen Ausnahmen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts bzw. bis zum frühen 21. Jahrhundert, bis die »dunk-
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Dieter A. Binder, Helden, in: Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl (Hg.), Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa, 30 kulturwissenschaftliche Stichworte, Wien/Köln/Weimar 2016, S. 87. Rede Alois Ausobsky, in: Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz 25 (1921). Gemeinderatssitzung 10.4.1921, S. 135. Vgl. Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, in: Die Fackel, Wien 1918/1919; Andrea Stangl, Ich habe es nicht gewollt. »Die letzten Tage der Menschheit«, https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/ich-habees-nicht-gewollt-die-letzten-tage-der-menschheit (abgerufen am 15.1.2023).
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len« Seiten der habsburgischen Kriegsführung und Geschichte explizit und systematisch untersucht und dargestellt wurden.11 Daraus resultierte seitens der Grazer Sozialdemokratie, die hier als Fallbeispiel stehen soll, eine Erinnerungspolitik, deren zentrale Forderung die Eliminierung der Repräsentationen der habsburgischen Vergangenheit im öffentlichen Raum sein sollte, wie ein Antrag im Gemeinderat vom 25. September 1919 zeigte, wonach »alle Plätze, Straßen und Gassen, die Namen der Habsburger-Dynastie aufweisen oder an sie erinnern, dem Gemeinderate bekanntzugeben und entsprechende Vorschläge zur Umänderung dem Gemeinderate vorzulegen« seien. Eine Legitimation dafür sei »wohl nicht notwendig«. Als Begründung diente die Feststellung, die Republik solle »alle jene Erinnerungen an das Haus, das so viel Unglück über unser Volk gebracht hat«, endgültig entfernen.12 Darüber hinaus ist anzumerken, dass die österreichische Sozialdemokratie grundsätzlich ihr deutsches Nationalbewusstsein und ihre Zugehörigkeit zu deutscher Kultur und deutschem Sprachraum betonte. Die deutschsprachigen Österreicher:innen waren für sie ganz selbstverständlich Deutsche. Bis zum 12. Februar 1934 bezeichnete sich die Arbeiter-Zeitung als Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs. Die Geschichte der (deutsch-)österreichischen Sozialdemokratie wurde als Teil der deutschen Geschichte aufgefasst. Die Forderung nach dem »Anschluss« Österreichs an Deutschland wurde erst am Parteitag im Oktober 1933 im Hinblick auf den »Zuchthausstaat Hitlers« aus dem Programm gestrichen.13
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Vgl. Hannes Leidinger/Verena Moritz/Karin Moser/Wolfram Dornik, Habsburgs schmutziger Krieg. Ermittlungen zur österreichisch-ungarischen Kriegsführung 1914–1918, St. Pölten/Salzburg/Wien 2014. Zur Geschichte des habsburgischen Zentraleuropa in der Historiografie vgl. Werner Suppanz, Supranationality and National Overlaps: The Habsburg Monarchy in Austrian Historiography after 1918, in: Tibor Frank/Frank Hadler (Hg.), Disputed Territories and Shared Pasts. Overlapping National Histories in Modern Europe (Writing the Nation Series 5), Basingstoke, Hampshire [u.a.] 2010, S. 66–91. Antrag Gemeinderat Leopold Obiltschnig, in: Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz 28 (1919). Gemeinderatssitzung 25.9.1919, S. 551. Zu analogen Bestrebungen in Wien vgl. Patrick Svensson-Jajko, (Um)erinnern. Veränderung der Straßennamenlandschaft in Budapest und Wien zwischen 1918 und 1934 (Mitteleuropäische Geschichte und Kultur – Studienreihe 4), Wien 2018, S. 328–388. Vgl. Der Parteitag, in: Arbeiter-Zeitung, 14.10.1933, S. 1f.
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Gleichzeitig kam es im Unterschied zum deutschnationalen politischen Lager zu keiner grundsätzlichen Ablehnung der Supranationalität des Reiches. Der Diskurs richtete sich gegen die politische Verfasstheit. Die Staatsform der Monarchie galt als undemokratische Herrschaft feudaler, bourgeoiser und klerikaler Eliten, unter der das Proletariat und die ausgebeuteten Klassen aller Nationalitäten gleichermaßen litten. Die am 12. November 1918 proklamierte demokratische Republik Deutsch-Österreich war für die SDAPÖ daher der positive Gegenentwurf zur Monarchie. Der Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich war zunächst das unmittelbare Ziel – auf der Grundlage zunächst der Erwartung einer gesamtdeutschen Revolution. Die Vereinigung Österreichs mit der Weimarer Republik als demokratischem und republikanischem Staatswesen sollte, wie erwähnt, bis 1933 Teil des Parteiprogramms der Sozialdemokratie bleiben. Nach der Reduktion der revolutionären Erwartungen wandelte sich die SDAPÖ zur verfassungspatriotischen Partei par excellence. Sie beging als einzige mit Überzeugung den 12. November als Staatsfeiertag und propagierte ihn als Gegenentwurf zur Monarchie.14 Der Festtag der demokratischen Republik bot ihr Anlass zur Präsenz im öffentlichen Raum wie sonst der 1. Mai als Tag der Arbeit, der ebenfalls im Jahr 1919 gesetzlich als Feiertag eingerichtet wurde. Die Parole »Nie wieder Habsburg!« war weiterhin das Leitmotiv der Sozialdemokratie. Der Widerstand gegen restaurative Bestrebungen, deren Gefahr als hoch eingeschätzt wurde, war ein zentrales Element der politischen Kommunikation der SDAPÖ. Die antihabsburgische Rhetorik war dabei durchwegs mit dem Aufruf zur Verteidigung der Errungenschaften der Arbeiterklasse aus den Jahren 1918 bis 1920 verschränkt.15 Diese Haltung blieb in den gesamten 1920er Jahren und bis zur Etablierung des austrofaschistischen Regimes prägend. Die Kommentare zum 10. Jahrestag des Kriegsendes zeigen die Konstanz der oben dargestellten Deutung. Der Weltkrieg habe einer politischen Ordnung, die der Moderne nicht mehr 14
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Vgl. Heidemarie Uhl, Gedächtnisort 12. November 1918. Republikjubiläen zwischen ideologischem Konflikt und nationaler Selbstvergewisserung, in: Brigitte Mazohl (Hg.), Vermessung einer Zeitenschwelle. Die Bedeutung des Jahres 1918 in europäischer und globaler Perspektive, Wien 2023 (im Erscheinen); Julia Köstenberger, 12. November – Gedenktag der Republik. Ein verlorener Staatsfeiertag, in: Stefan Karner/ Lorenz Mikoletzky (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament, Innsbruck 2008, S. 609–620. Vgl. Heraus zur Republikfeier! Nie wieder Habsburg! – Nieder mit dem Fascismus! – Hände weg von den Errungenschaften der Arbeiterklasse!, in: Arbeiter-Zeitung, 11.11.1928, S. 2.
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entsprochen habe, gleichsam den Todesstoß versetzt und letztlich den Zusammenbruch beschleunigt, der aus der Logik der historischen Entwicklung ohnehin bevorstand. Unter dem Titel »Selbstvernichtung war’s. Der Zusammenbruch im Weltkrieg« stellte die Arbeiter-Zeitung fest: »Das Herkommen, das den Republiken Mitteleuropas von den Monarchien hinterlassen ward, waren verstorbene Ideen, die auf den Müllhaufen zerschellter, zerschmissener Gesellschafts- und Staatszustände faulten. Wir sind gar nicht – wie man uns doch immer vorwirft – dazu gekommen, die Vergangenheit pietätlos auf den Schindanger der Geschichte zu werfen, wir haben sie dort vorgefunden.«16 Auffällig ist, dass der Artikel sich nicht allein auf Österreich bezog, sondern auf »die Republiken Mitteleuropas«. Sie seien gemeinsame Erbinnen eines »Müllhaufens«. Der Anteil der Sozialdemokratie bzw. der Arbeiterklasse dieser Staaten am desaströsen gesellschaftlichen Zustand wird als gering dargestellt. Vielmehr erscheint der Zusammenbruch der als veraltet und mittelalterlich geltenden Habsburgermonarchie als Ausdruck einer Logik der historischen Entwicklungsgesetze. »Und in vier Wochen zerfiel das vierhundert Jahre alte Reich. In vier Wochen zerstob der Habsburgerspuk, der vier Jahrhunderte die Menschheit gefesselt hatte«, konstatierte das sozialdemokratische Kleine Blatt, das die Dynastie als »fluchbeladenes Geschlecht« für eine historische Epoche der Repression, Ausbeutung und Gewalt verantwortlich machte.17 Die Sozialdemokratische Partei wies mit dieser Deutung vor allem den Vorwurf zurück (siehe unten), durch ihr Agieren für die Niederlage im Weltkrieg und damit für den Zerfall des Reiches verantwortlich zu sein. Hinzuweisen ist an dieser Stelle aber auch auf die noch zu besprechende Prägung dieser Erzählung durch zwei aufeinander verweisende Sprachbilder, jenes des historischen Verfalls und jenes »schauerromantische« des Spuks und des Fluches. Wie erwähnt, existierte vor 1914 ein vages sozialdemokratisches Konzept einer sowohl politischen als auch sozialen Demokratisierung der Habsburgermonarchie. Ab 1918 wurde nur noch das Bild Österreich-Ungarns als eines Staatswesens gezeichnet, das infolge der Jahrhunderte dauernden habsburgischen Herrschaft in so durchdringendem Maße unreformierbar war, dass keine Aussicht auf den Fortbestand des supranationalen Reiches in erneuerter, demokratisch-republikanischer Form vorhanden war. Als »modern« konnte nur noch das Modell des Nationalstaats gelten. Die »Nation« wurde 16 17
Selbstvernichtung war’s. Der Zusammenbruch im Weltkrieg, in: Arbeiter-Zeitung, 11.11.1928, S. 3 Zehn Jahre Republik, in: Das kleine Blatt, 11.11.1928, S. 2.
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als sprachlich-ethnisch homogen vorgestellt, sodass im Fall der deutschsprachigen Österreicher:innen nur eine Zugehörigkeit zur deutschen Nation in Frage kam. Österreich-Ungarn dagegen erschien so diskreditiert, dass sein Fortbestand weder realisierbar noch wünschenswert erschien. Karl Renner repräsentierte diese Haltung in seinem Artikel anlässlich des zehnten Jahrestags der Ausrufung der Republik. Er betonte den »tausendjährigen geschichtlichen Zusammenhang« mit dem »Deutschen Reich«, der die Anschlusserklärung vom 12. November 1918 legitimierte. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die »Stärke« des neuen »deutschösterreichischen« Staatswesens darin liege, dass es in vielfacher Hinsicht neu war. Alle mitteleuropäischen Staaten außer der Schweiz seien durch Fürstengewalt geschaffen worden. Das Ende der Habsburgermonarchie habe es ermöglicht, dass »Deutsch-Österreich« nun durch »freien Entschluß frei gewählter Volksvertreter geschaffen worden« sei. Die Hervorhebung des revolutionären Gründungsakts eines historisch vorher nicht existenten Staates diente Renner auch zur Zurückweisung der Zuschreibung der Kriegsschuld im Vertrag von Saint-Germain. Nicht das österreichische Volk, sondern die feudalen Eliten des Reiches seien für den verbrecherischen Weltkrieg verantwortlich gewesen: »Als ich in SaintGermain die Note erhielt, in der wir neuen ›Österreicher‹ als die Hauptschuldigen des Krieges abgekanzelt wurden, war mir das Lachen und Weinen gleich nahe: die harmlosen Bewohner der Alpenländer, seit Jahrzehnten von böhmischen, polnischen und ungarischen Grafen regiert, ahnungslos in den Krieg hineingestoßen, tragen also die Schuld und zahlen die Schulden!«18 Renners Artikel diente in hohem Maß der Legitimierung seiner Handlungen und Entscheidungen in den Jahren 1918 und 1919 und seiner veränderten Haltung zur Habsburgermonarchie seit der Veröffentlichung seiner Schriften unter dem Pseudonym Rudolf Springer. Seine Kritik an der Habsburgermonarchie folgte aber gleichzeitig einem deutschnationalen Deutungsmuster. Die staatliche Organisation Österreich-Ungarns habe sowohl ständische Herrschaft über das Volk als auch fremdnationale (böhmische, polnische, ungarische) Herrschaft über die als deutsch vorgestellten Österreicher:innen bedeutet. Hinzuweisen ist, wie gesagt, darauf, dass sich die Beschreibung der habsburgischen Vergangenheit in der politischen Kommunikation stetig wiederkehrender Sprachbilder bediente, die auch in visuellen Repräsentationen 18
Karl Renner, Vom 12. November und den Jahren vorher und nachher, in: Arbeiter-Zeitung, 11.11.1928, S. 3–5, hier S. 3.
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ihr Äquivalent finden. Der Zustand des Habsburgerreiches im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde mit Verfallsprozessen assoziiert, es sei von der Geschichte selbst überrollt und unbrauchbar gemacht worden (»zerschellt«, »zerschmissen«, »Müllhaufen«, »Schindanger«); sein Ende wird u.a. mit einer biologistischen Metapher dargestellt (»verstorben«). Die Bezugnahme dieser Allegorien auf das Mittelalter und dessen anachronistisches Fortleben in der Monarchie ruft Sprachbilder hervor, die die Habsburger zu Gestalten der »Schauerromantik« machen (»spukhaft«, »fluchbeladen«). Der »Geist« oder das »Gespenst« fungiert in der Moderne und in spezifischer Prägung nach 1918 in vielfältigen kulturellen Ausdrucksformen und eben auch in der politischen Kommunikation als Figur, Metapher und Wahrnehmungsdispositiv.19 Eine andere sprachliche Figur ist die Assoziation mit Gewalt, (Kapital-)Verbrechen und Tod, die an der Dynastie als Gesamtheit politisch verantwortlicher Personen festgemacht wurde – das »Weltverbrechen« der Habsburger«, das »Menschenmorden«. Die Assoziation der Habsburger mit dem Tod wurde natürlich vor allem mit dem Ersten Weltkrieg in Bezug gesetzt. Sie eignete sich in besonderem Maß für visuelle Darstellungen, wie ein Beispiel aus der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift Die Unzufriedene (Abb. 3) zeigt. Die habsburgische Politik, der sarkastisch Dank ausgesprochen wird, ist hier durch ein Skelett repräsentiert, das – so ist zu vermuten – die Gefallenen des Weltkriegs verkörpert. Eine Uniformmütze tragend, wird es von einem Band mit patriotische militärische Pflichterfüllung und Feindbilder ansprechenden Parolen gewissermaßen gefesselt. Die Abbildung illustriert die »Mahnworte einer Büglerin zum Tage der Republik« in der Unzufriedenen vom 15. November 1924: Die patriotischen Forderungen an das arbeitende Volk und damit auch an die Frauen führten nur zur Verelendung, hier am Beispiel der fehlenden Versorgung mit Milch für Kinder
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Vgl. Lorenz Aggermann u.a. (Hg.), »Lernen, mit den Gespenstern zu leben«. Das Gespenstische als Figur, Metapher und Wahrnehmungsdispositiv in Theorie und Ästhetik, Berlin 2015. Verwiesen sei hier auch auf Viktor Winkler-Hermaden, Isonzo-Legende. Dramatisches Spiel in 2 Bildern und einem Zwischenspiel, Wien 1929, in dem die Geister der gefallenen Soldaten am Isonzo auferstehen und erst nach dem Bekenntnis des Sohnes eines Isonzo-Veteranen, ihr Opfer zu ehren und in der Zukunft soldatische Pflichterfüllung wieder als Wert hochzuhalten, gleichsam erlöst in ihre Gräber zurückkehren.
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gezeigt. Die »Herrschaften« und die »hochgeborenen Säuglinge« seien hingegen selbst in den schwersten Zeiten ausreichend versorgt gewesen.20
Abb. 3: Die Unzufriedene 2 (15.11.1924) 46, S. 1.
Eine andere Form der visuellen Kommunikation, die im Kontext des Weltkriegs die Habsburgerdynastie mit Gewalt und Repression assoziiert, bot die sozialdemokratische Bild-Illustrierte Der Kuckuck.21 Die Bildstrategie, die die k.u.k. Armee als Instrument eines repressiven Staates zeigt, der gegen die »eigene« Bevölkerung gerichtet ist, kommt durch eine Fotoserie von Hinrichtungen zum Ausdruck: »Habsburgs Krieg gegen die eigenen Völker« (Abb. 4). Die schockierenden Fotografien, insbesondere die detaillierte Abfolge von »Szenen einer Hinrichtung« vom Prozess bis zur Exekution, dienen als Beglaubigungsstrategie mittels dokumentarischer Darstellungsform. Zwei Personen, ein Theresienritter und Kaiser Karl, »der letzte ›Oberste Kriegsherr‹«, reprä-
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Paula Reimer, Mahnworte einer Büglerin zum Tage der Republik, in: Die Unzufriedene 2 (15.11.1924) 46, S. 1f. Vgl. Stefan Riesenfellner, Der Kuckuck. Die moderne Bild-Illustrierte des Roten Wien, Wien 1995.
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sentieren das »System«, das für Gewalt und Repression gegen die Bevölkerung des Reiches verantwortlich ist.
Abb. 4: Der Kuckuck 3 (26.4.1931) 17, S. 2
Die Christlichsoziale Partei und »die Weite des großen alten Reiches« Selbst die Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung am 12. November 1918, dem Tag der Ausrufung der Republik, ließ die unterschiedlichen Haltungen zur Vergangenheit erkennen. Wilhelm Miklas begründete für die Christlichsoziale Partei die Akzeptanz der Republik mit der katholischen Haltung der prinzipiellen Achtung staatlicher Autorität. Seine Partei werde sich, »wie es uns auch unsere katholischen Grundsätze vorschreiben, der
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neuen von uns selbst bestellten Staatsautorität loyal unterordnen«.22 Karl Renner hingegen verlas mit offenkundiger Befriedigung den Aufruf »An das deutschösterreichische Volk« mit einer Formulierung, die den Durchbruch aus einem aus sozialdemokratischer Sicht reaktionären Staatswesen in eine zukunftsorientierte Republik zum Ausdruck brachte: »Was dieses von Unglück heimgesuchte, schwergeprüfte Volk seit den Tagen von 1848 immer begehrt, was ihm die Mächte des Rückschritts ebenso hartnäckig wie kurzsichtig versagt haben, das ist nun inmitten des allgemeinen Zusammenbruches der alten Einrichtungen glücklich errungen.«23 War für die SDAPÖ das Ende der Monarchie eine historische Notwendigkeit, um in einem den Anforderungen der Gegenwart und der Moderne entsprechenden Staat leben zu können, machte die Christlichsoziale Partei zu diesem Zeitpunkt mit der Akzeptanz der Republik aus der Not eine Tugend. In den folgenden Jahren entwickelten die Christlichsozialen eine ambivalente Haltung. Einerseits führten sie einen Diskurs der Souveränität des »deutschen Volkes« in Österreich, die mit der Nachkriegsordnung durch das im Vertrag von Saint-Germain auferlegte »Anschlussverbot« verletzt wurde. Gleichzeitig war ihre Haltung gegenüber der habsburgischen Vergangenheit im Vergleich der politischen Parteien am stärksten affirmativ. Neben dem Deutungskampf um das Ende der Habsburgermonarchie spielte somit die Frage nach dem »Anschluss« an das Deutsche Reich eine zentrale Rolle. Auch die »Deutschen« in Österreich sollten das Recht auf Selbstbestimmung in Anspruch nehmen können, so der Tenor. Miklas, nun Bundespräsident, brachte diese Position in seiner Ansprache anlässlich der Festsitzung des Nationalrats zum Republikjubiläum am 12. November 1928 zum Ausdruck: »Unser Volk, das heute vor zehn Jahren in diesem Freistaat seiner eigenen Bestimmung Herr geworden, keinem irdischen Herrscher mehr untertan, nur Gott allein und sich selbst verantwortlich […].«24 Das Bild der Monarchie war im christlich-konservativen Lager, auf der Ebene der Partei und der ihm zugehörigen politischen Milieus, von Trauer 22
23 24
Abgeordneter Miklas, in: 3. Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich am 12. November 1918, S. 68, https://www.parlament.gv.at/PAKT/V HG/PN/PNSITZ/PNSITZ_00003/imfname_617286.pdf. Ebd., S. 69. Der Aufruf »An das deutschösterreichische Volk« wurde im StGBl. 1. Stück Nr. 6 kundgemacht. Präsident Miklas, in: 67. (Fest-)Sitzung des N.R. der Republik Österreich, III. G.P. – 12. November 1928, S. 1967, https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/III/NRSITZ/NRS ITZ_00067/imfname_798757.pdf.
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und Schmerz über das Ende Österreich-Ungarns geprägt. Die Erzählungen über die habsburgische Vergangenheit verbanden den Verlust von Identität und Zugehörigkeit mit zeitgenössischen politischen und ökonomischen Interessen. Die Reichspost, inoffizielles Parteiorgan der Christlichsozialen Partei, stellte am 11. November 1928 im Leitartikel »Gedenken« fest, dass die »Zerstückelung der Monarchie« ein geschichtlicher Akt gewesen sei, der sich auf den Schlachtfeldern vollzogen habe. Nicht die Selbstbestimmung des neuen österreichischen Staates steht hier im Vordergrund, sondern der Kummer darüber, dass Österreich »übriggeblieben« sei. »Vergessen wir nicht, daß mit der Erringung der Selbständigkeit Deutschösterreichs der schmerzliche Verlust blühender deutschösterreichischer Länder verbunden war, vergessen wir nicht, daß ein großes, organisch gewachsenes Wirtschaftsgebiet zerrissen wurde, daß die deutschösterreichische Arbeit ihre sichersten Märkte, die deutschösterreichische Intelligenz viele Tausende von Arbeitsstätten verlor; vergessen wir nicht, daß Wien aufhörte, die Hauptstadt Mitteleuropas zu sein und durch lange Zeit eine Stadt der Armut wurde.« Die Reichspost betrachtete den 11. November 1918, den Tag des allgemeinen Waffenstillstands, als den »Todestag der alten Armee«. Die Mehrheit der Bevölkerung – inklusive der sozialdemokratischen Führer – habe noch bis Sommer 1918 am alten Reich gehangen.25 Die Christlichsoziale Partei bezeichnete ihren Blick auf den Tag des Endes der Monarchie zehn Jahre danach als einzige als »Gedenken«. Ihre Deutung der Habsburgermonarchie war diametral gegensätzlich zu jener der Sozialdemokratie. Während Letztere einen schon lang vor dem Weltkrieg begonnenen Verfallsprozess eines gleichsam vormodernen politischen Gebildes wahrnahm, erschien er z.B. in der Reichspost als plötzlicher Zusammenbruch. Sein Legitimitätsverlust in der Bevölkerung sei nicht absehbar gewesen. Im Unterschied zum Narrativ der SDAPÖ von der Niederlage im Krieg als Todesstoß, der das unvermeidliche Ende schließlich realisierte, kamen in der Erzählung der Christlichsozialen der Zerfall Österreich-Ungarns und das Ende der Monarchie überraschend. Die historische Verbundenheit der »Deutschen« in Österreich mit dem »Deutschtum« wurde historisch mit der Kontinuität zum Heiligen Römischen Reich erklärt. Bundeskanzler Ignaz Seipel formulierte dieses Geschichtsbild 25
Gedenken (10.11.1928), in: Reichspost, 11.11.1928, S. 1.
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in einer Rede anlässlich der Feier der Wiener Hochschulen zum 10-jährigen Jubiläum der Ausrufung der Republik, bei der er erklärtermaßen nicht als Politiker, sondern ausdrücklich als Universitätsprofessor sprach. Seipel sprach die gespaltene Haltung der österreichischen Bevölkerung zum Jahr 1918 an. Zwar bedeute der »Untergang des Alten« vielen eine »Befreiung«, viele andere könnten daran aber »nur mit tiefem Schmerz« denken. »Menschen, die die Weite des großen alten Reiches in ihre Seele aufgenommen hatten und nur schwer in der Enge des Kleinstaates atmen, dem sie jetzt angehören, Menschen, die an eine besondere Sendung der Ostmarkdeutschen und ihrer Herrscher im Herzen Europas und den östlichen Nachbarn gegenüber glauben; Menschen, die die Geschichte kennen und sich durch jenes Oesterreich, das 1866 aus dem Deutschen Bund ausgeschlossen worden und das andere Oesterreich, das 1806 aus dem Römischen Reich Deutscher Nation bei dessen Untergang ausgeschieden war, mit diesem überweltlich verklärten Reich, dem Reich an sich, mehr verbunden als von ihm getrennt fühlten.«26 Der österreichische Staatsfeiertag am 12. November sei daher, so Seipel, kein Freudentag. Nur das Zehn-Jahr-Jubiläum stelle eine Ausnahme dar, da aktuell keine Alternative zum »kleinen Österreich« bestehe, dessen Aufbau zurzeit im Vordergrund stehe.27 Nach dem Maßstab historischer Größe gab es aus dieser Sicht somit keinen Grund, an der Republik positive Seiten zu finden. Auch das Ziel des »Anschlusses« an eine deutsche Republik konnte den für die Christlichsozialen schmerzhaften Verlust der Kontinuität des alten »Heiligen Reiches«, die von den Habsburgern verkörpert wurde, nicht ausgleichen.
Conrad von Hötzendorf und die »Beschwörung« des Geistes des alten Österreichs Den beschriebenen Deutungsmustern entsprach auch die Berichterstattung über die Beisetzung Franz Conrads von Hötzendorf. Der ehemalige Feldmarschall und Generalstabschef der bewaffneten Macht Österreich-Ungarns war am 25. August 1925 gestorben. Nach einer öffentlichen Aufbahrung im Militärkasino am Schwarzenbergplatz wurde er am 2. September am Hietzinger 26 27
Ignaz Seipel, Die wahre Republik, in: Reichspost, 11.11.1928, S. 2 Ebd.
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Friedhof in Wien beigesetzt. Die Begräbnisfeierlichkeiten fanden in Gegenwart einer großen Menschenmenge und mit internationaler Beteiligung, vor allem hochrangiger Vertreter der ehemaligen k.u.k. und der deutschen Armee, statt. Die Arbeiter-Zeitung kommentierte das Begräbnis als letzten Auftritt einer untergegangenen Epoche, mit dem »Pomp, der aus den monarchistischen Rumpelkammern hervorgeholt wurde«. Sie fasste ihre Bewertung mit dem Satz zusammen: »Die Gespenster des alten Oesterreich gaben sich ein Stelldichein.«28 Doch die SDAPÖ bildete in den 1920er Jahren die Opposition, während die Christlichsoziale Partei durchwegs den Bundeskanzler stellte. Die offizielle Haltung der Bundesregierung war daher eine deutlich nostalgischere und der Person Conrad von Hötzendorf gegenüber affirmative. Heeresminister Carl Vaugoin begrüßte in seiner Ansprache im Rahmen der Trauerfeier im Marmorsaal des Militärkasinos dankbar die Abgesandten des »Brudervolkes« [Vertreter aus dem Deutschen Reich, Anm. d. Verf.] und »Angehörige anderer Nationen, die unter dem Marschall einst gekämpft haben«. Das alte mächtige Reich sei zu seinem größten Waffengang in der Geschichte gezwungen worden, wies Vaugoin den Vorwurf der Kriegsschuld Conrads und Österreich-Ungarns insgesamt zurück. Er sprach im Gegenteil vom »unauslöschlichen Dank« an ihn, weil er mit seinen tapferen Soldaten das Land vor feindlicher Invasion bewahrt habe. Nicht der Geist und das Schwert Conrads hätten versagt, sondern Hunger und Entbehrung hätten Österreich zermürbt.29 In der Reichspost finden wir auch das charakteristische Bild vom geistigen Fortleben des »alten Reiches«: »Das alte Oesterreich ist tot, das haben seine Feinde im In- und Auslande tausendmal triumphierend der Welt verkündigt, aber noch ist es nicht gänzlich eingesargt, noch wandelt sein Geist klagend und anklagend durch die Weltgeschichte, noch pulsiert sein Herzblut in den Männern, die einst Vorkämpfer österreichischen Idee und Träger der österreichischen Größe waren«.30 Auch hier finden wir das Sprachbild vom Fortleben als Geist. Aber dieser existiert einerseits als Gespenst, das in seiner Anklage an die Feinde und Verrä-
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Das Leichenbegängnis Conrad-Hötzendorfs. Ein Begräbnis des alten Oesterreich, in: Arbeiter-Zeitung, 3.9.1925, S. 6. Feldmarschall Franz Conrad Hötzendorf, in: Wiener Zeitung, 3.9.1925, S. 4f.; Feldmarschall Conrads letzte Fahrt, in: Reichspost, 3.9.1925, S. 7. Oesterreichisches Begräbnis. Dem Feldmarschall Conrad v. Hötzendorf ins Grab, in: Reichspost, 3.9.1925, S. 1.
»Gespenster des alten Österreich«
ter keine Ruhe findet, aber auch als Spirit, als Mentalität, die nach 1918 von jenen weitergetragen werde, die im Herzen immer noch die Größe des Habsburgerreiches in sich spürten. Diese Ambivalenz des altösterreichischen »Geistes« fand die Reichspost auch im neuen Österreich seit 1918 wieder: »Von dem zerrissenen alten Reiche hat das Kernland an der Donau das Erbe angetreten. Es war ein Erbe des Hasses und der Verfolgung, des Spottes und der Armut, aber zugleich auch ein Erbe unbefleckter Helden- und Soldatenehre, ein Erbe großer, geschichtlicher Ueberlieferungen, der Erkenntnis von der Sendung und dem Wert des zertrümmerten Staates.« Der »Geist der alten Armee«, der unsichtbar hinter dem Sarg zum letzten Geleit geschritten sei,31 galt daher im Unterschied zur sozialdemokratischen Erzählung von der k.u.k. Armee nicht als Ausdruck der Antiquiertheit, des Morschen und des Verfalls, sondern des Fortlebens in Menschen – und insbesondere Soldaten – mit der »rechten Gesinnung«, die »wahres Österreichertum« und Demokratie letztlich als unvereinbar betrachtete.32 Der »Geist«, von dem die Reichspost sprach, war daher – anders als im sozialdemokratischen Diskurs bzw. Gebrauch dieser Allegorie – nicht Ausdruck der Vergangenheit, die von ihrer überflüssig gewordenen Existenz nicht loslassen kann. Im Gegenteil war der hier beschriebene »Geist« Ausdruck von Unsterblichkeit und Hoffnung auf das Fortleben einer »österreichischen Idee«, die für die Christlichsoziale Partei einen vermeintlich zeitlosen Sinn und Zweck Österreichs ausmachte: »Menschen sind sterblich, aber die Ideen, denen sie sich weihten, werden nicht mit ihnen begraben, und von der Gruft Conrad v. Hötzendorfs spricht der unsterbliche Genius Oesterreichs zu dem Gewissen der Zeit.«33
Schulbücher Der Kampf um die Deutungsmacht über die Geschichte der Habsburgermonarchie und insbesondere ihre Bedeutung für die Gegenwart prägte auch den
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Ebd. Vgl. Werner Suppanz, Habsburg-Revival. Die Conrad-von-Hötzendorf-Straße im Kontext der austrofaschistischen Geschichtspolitik, in: Nicole Pruckermayr (Hg.), Demokratie und Frieden auf der Straße: Comrade Conrade. Ein Kunst-, Forschungs- und Friedensprojekt in Graz 2016–2019, Graz 2019, S. 46-54. Oesterreichisches Begräbnis, S. 2.
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Schulunterricht. Ziel der schulischen Bildung in Geschichte war die Vermittlung deutscher Identität. Gleichzeitig war es die Aufgabe des Unterrichts, die noch präsente Vergangenheit als Teil Österreich-Ungarns zu vermitteln und zu erläutern. Eine bedeutende Rolle spielte dabei das – auch von Seipel vertretene – Narrativ der europäischen bzw. deutschen Sendung Österreichs. So stellte beispielhaft das Lehrbuch der Geographie, Bürgerkunde und Geschichte für die oberste Klasse der Mittelschulen von Marek/Kulisch/Montzka 1924 fest: »Eine große politische Idee bildete die Grundlage für die Entstehung der österreichisch-ungarischen Monarchie. Sie sollte die Gefahren, die vom Osten drohten, vor allem die Türkengefahr, von der west- und mitteleuropäischen Kultur abwenden.«34 Das Lehrbuch verwies die Schüler:innen dabei auf zwei große staatenbildende Ideen, denen das Habsburgerreich nicht entsprach: zum einen die große Idee politischer Freiheit, wie sie die USA und die Schweiz verkörperten, zum anderen die gemeinsame große nationale Idee, die das Deutsche Reich und Italien hervorgebracht habe. Letztere sei sowohl staatenbildend als auch, wie Österreich-Ungarn zeige, staatenvernichtend.35 Den Schüler:innen wurde nach 1918 im Geografie- und Geschichteunterricht eine Welt der Nationalstaaten vermittelt, die die Gegenwart von der Vergangenheit unterscheide: »Ist das Nationalgefühl im Staatsvolk stärker entwickelt als alle anderen staatenbildenden Beweggründe zusammen, so ist das Schicksal des Nationalitätenstaates besiegelt. Das hat wieder das Beispiel der österreichisch-ungarischen Monarchie bewiesen.«36 Die gegenwärtige Welt der 1920er Jahre sei eine Welt vorwiegend nationaler Staaten. Das Nationalgefühl sei in der Empfindung der meisten Menschen das »allein Richtige und Natürliche«. »Darum empfinden wir es als etwas Widernatürliches, wenn wir von wem immer in der Erreichung dieses Zieles gehindert werden.« Auf dieser Grundlage wurde den Schüler:innen das Streben nach einem gesamtdeutschen Staat vermittelt. Das genannte Nationalgefühl bringe daher die tiefe Empörung in weiten deutschen Kreisen hervor, dass den Deutschen verwehrt werde, was allen anderen Nationen gestattet sei: »die Zusammenfassung aller Stämme derselben Nation zu einem gemeinsamen nationalen Staat, sofern sie einen solchen wollen.«37
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Richard Marek/Max Kulisch/Heinrich Montzka, Lehrbuch der Geographie, Bürgerkunde und Geschichte für die oberste Klasse der Mittelschulen, Wien 1924, S. 118. Vgl. ebd. Ebd., S. 118f. Ebd.
»Gespenster des alten Österreich«
Diese Erklärung griff zwei Diskurse auf: Zum einen jenen der Modernität, da der Nationalstaat – viel mehr als der »Vielvölkerstaat« – ein Staatswesen gleichsam auf der Höhe der Zeit sei. Gleichzeitig wird auf Emotionen verwiesen, die die Schüler:innen möglicherweise in sich selbst oder in ihrer Umgebung verspürten: ein deutsches Nationalgefühl und die Empfindung der Frustration resultierend aus der Verweigerung eines als natürlich wahrgenommenen Anspruchs. Historisch wurde das habsburgische Reich ebenfalls durch seine Funktionen für das »Deutschtum« legitimiert. Nun hätten sich modernere Organisationsformen für die Nation etabliert: »Der alte Staat hat im Laufe der Geschichte große Kulturarbeit geleistet. Lange Zeit hindurch war er der Pionier für die deutsche Kultur im Osten; aber er war nicht mehr lebensfähig, seitdem die nationale Bewegung auch ihn erfaßt hatte. Darum das Streben so mancher, die den Staat noch retten wollten, die nationale Bewegung künstlich niederzuhalten; als ob man große geistige Bewegungen durch obrigkeitliche Maßnahmen meistern könnte. In der Zeit fortschreitender demokratischer Ideen, gegen die sich kein Staat durch künstliche Mittel absperren kann, bedarf jeder Staat einer für das Volksbewußtsein gemeinverständlichen sittlich-politischen Grundlage. Die natürlichste und darum volkstümlichste ist heute unwidersprechbar die nationale Selbstbestimmung.«38 Das Manifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918 zur Umwandlung ÖsterreichUngarns in einen Bundesstaat wird in diesem Schulbuch als letzte Chance für das untergehende Reich bezeichnet; sie konnte aber wegen der Versprechungen der Entente an die Nationalitäten der Monarchie nicht realisiert werden. Die Überlegenheit des neuen Nationalstaats zeige sich darin, dass die deutsche Sprache nun Staatssprache sei, »worum im Kaisertum Österreich so lange erfolglos gekämpft wurde«.39 Prägend für die Schulbücher der 1920er Jahre war die Legitimation des habsburgischen Staatswesens durch seine Bedeutung für das »Deutschtum«, die wiederum ambivalent gesehen wurde. Einerseits wurde das Narrativ des Bollwerks von Deutschtum und Abendland vermittelt, andererseits habe die Kraft des habsburgischen Reiches für diese Aufgabe zunehmend nachgelas-
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Ebd., S. 143f. Ebd., S. 153.
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sen. Die »drohende Slawisierung Österreichs«40 galt dabei als Zeichen, dass die den Schüler:innen vermittelte historische Sendung von der Monarchie nicht mehr erfüllt werden konnte. Gemeinsamer Nenner der GeschichteLehrbücher war die Vermittlung der habsburgischen Geschichte als Teil der deutschen Geschichte ohne einen »Eigenwert« Österreich-Ungarns. Der Schulunterricht sollte auf dieser Grundlage keinen Bruch mit der Habsburgermonarchie erzeugen, sondern deren Untergang – unabhängig von der unterschiedlichen Bewertung im politischen Diskurs bzw. in den jeweiligen politischen Milieus – erklären und verständlich machen. Den Schüler:innen sollte aber klar werden: Die Zukunft gehöre dem (deutschen) Nationalstaat.
Zusammenfassung Die erinnerungskulturelle und gedächtnispolitische Deutung der Habsburgermonarchie war zwischen 1918 und 1938 eine wesentliche Markierung der Differenz zwischen den politischen Lagern in Österreich und gleichzeitig ein zentrales Element lagerinterner Kommunikation und Selbstvergewisserung. Konkurrierende Konzepte staatlicher und nationaler Identität wurden in Hinblick auf unterschiedliche Modi der Abgrenzung und Kontinuität zu Österreich-Ungarn und der jahrhundertelangen habsburgischen Herrschaft ausverhandelt. Die Ablehnung der habsburgischen Vergangenheit einerseits, das Bekenntnis zur Dynastie und zur »Größe« des zerfallenen Reiches anderseits konnten ein Maß an Konfliktbereitschaft und Emotionalität aufweisen, das insbesondere aus der Perspektive der gegenwärtigen, auf Konsens bedachten Kommerzialisierung und Touristifizierung habsburgischer Gedächtnisorte erstaunlich wirken kann.41 Untersucht wurden diese Diskurse anhand der Positionen der Sozialdemokratischen und der Christlichsozialen Partei sowie abschließend anhand von Schulbüchern. Identitätspolitischer Konsens bestand darin, dass die (deutschsprachigen) Österreicher:innen Deutsche seien. Die österreichischen Schulbücher der 1920er Jahre sollten den Schüler:innen deutsches Nationalbewusstsein vermitteln, indem das Habsburgerreich in die als deutsch
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Richard Raithel, Lehrbuch der Geschichte für die oberen Klassen der Mittelschulen. III. Teil: Neuzeit, Wien/Leipzig 1928, S. 289. Vgl. Werner Suppanz, Geschichtsbilder, in: Feichtinger/Uhl (Hg.), Habsburg neu denken, S. 66–72, hier S. 70f.
»Gespenster des alten Österreich«
verstandene Geschichte Österreichs integriert, aber gleichzeitig als staatliche Organisationsform der Vergangenheit vermittelt wurde. Als Teil des »bewohnten« Funktionsgedächtnisses erwies sich die Deutung der habsburgischen Vergangenheit in den Diskursen der sozialdemokratischen und der christlichsozialen Partei. Dieser Kampf um die Deutungsmacht über die Geschichte war hochgradig emotional aufgeladen. Das Narrativ der SDAPÖ beschrieb das Ende Österreich-Ungarns als historische Notwendigkeit. Die Spannung zwischen dem als reaktionär betrachteten, einer fernen Vergangenheit entsprechenden feudalen Herrschaftssystem und der zu Demokratisierung und nationaler Souveränität führenden historischen Entwicklung habe sich letztlich als unauflösbar erwiesen. Die Moderne, so lässt sich die sozialdemokratische Sicht zusammenfassen, habe dem Überbleibsel des Mittelalters ein Ende bereitet. Diese Erzählung wurde mit moralischer Kritik am repressiven und kriminellen System der Dynastie, der Schuldigen am Weltkrieg, emotional aufgeladen. Die Christlichsoziale Partei hingegen betrachtete das Ende der Monarchie als Verlustgeschichte – auch für das »Deutschtum« – und suchte nach »Sündenböcken«, unter denen die Sozialdemokratie eine Vorrangstellung einnahm. Sie bot sich all jenen als politische und soziokulturelle Vertretung an, die den Untergang eines jahrhundertealten Staatswesens nicht einfach hinnehmen wollten. Die Beisetzung Conrad von Hötzendorfs bot eine Gelegenheit, diese Haltung auch medial und im öffentlichen Raum zu repräsentieren. Die »Geister«, die »Gespenster« der Vergangenheit waren in diesen Narrativen ständig präsent. Sie erfüllten unterschiedliche Funktionen. Sie standen in der Sozialdemokratie als Sprachbild für den »untoten« Charakter des Habsburgerreiches, das seine »Überlebtheit« schon vor 1918 nicht wahrhaben wollte. Aber der »Geist« konnte, wie es sich die Christlichsoziale Partei erhoffte, auch für die Unsterblichkeit stehen. Der Staat sei untergegangen, aber er lebe noch fort in den kulturellen Spuren und in den Menschen, die Österreich-Ungarns gedachten. Der Austrofaschismus trat schließlich mit dem Anspruch an, das Gespenst der österreichischen Vergangenheit zu erlösen, indem die demokratische Republik in einen autoritären »Ständestaat« umgewandelt werden sollte.
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Pietas Austriaca? Vom habsburgischen Erbe zur Ersatzideologie1 Dieter A. Binder
I. Die Existenz einer »Pietas Austriaca«, wie sie von Anna Coreth charakteristischerweise im hochkochenden Kalten Krieg 1954 beschrieben wurde,2 kennzeichnet das imperiale Erbe, das in der Republik Österreich weiterwirkt. »Die Pietas Austriaca, die österreichische Frömmigkeit – wobei hier nicht Österreich als geopolitischer Begriff, sondern die Casa d’Austria, das Haus Österreich gemeint war – wurde in der Barockzeit als die wichtigste Tugend der habsburgischen Dynastie propagiert. Im Zeitalter der Glaubensspaltung hielten die Habsburger der römischen Kirche kompromisslos die Treue. Der Katholizismus war de facto Staatsreligion im Reich der Habsburger. Durch fromme Stiftungen, Wallfahrten und Marienkult, aber auch durch Kompromisslosigkeit und Härte in der Religionspolitik wurde der Grundstein für einen barocken Katholizismus gelegt, der die habsburgischen Länder für lange Zeit prägen sollte.«3
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Dieser Aufsatz ist eine aktualisierte Fassung meiner Arbeit Pietas Austriaca? Das imperiale Erbe der Republik Österreich, in: Burkhard Pöttler/Katharina Eisch-Angus/Johann Verhovsek (Hg.), Fundstücke europäisch-ethnologischen Forschens. Eine Festschrift für Helmut Eberhart, Münster/New York 2018, S. 159–171. Eine Erstversion wurde 2017 veröffentlicht: Pietas Austriaca? The Imperial Legacy in Interwar and Postwar Austria, in: Religions 8 (2017) 9. Anna Coreth, Pietas Austriaca. Wesen und Bedeutung habsburgischer Frömmigkeit in der Barockzeit, Wien/Horn 1954. Die Welt der Habsburger, https://www.habsburger.net/de/themen/pietas-austriaca (abgerufen am 15.1.2023).
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Dieser Sichtweise steht für die Zeit nach 1918 die prägnante Analyse Otto Bauers gegenüber, der im »Aufstand der österreichischen Arbeiter« 1934 festhielt: »Auf die Dauer werden nicht dreißig Prozent des Volkes über siebzig, nicht das Dorf über die Großstadt, nicht der Klerikalismus über ein zu zwei Drittel nicht klerikales Volk die Diktatur ausüben können.«4 Der triefende Katholizismus des Austrofaschismus, dessen Legitimierungsstrategien auch nach dem Bild des religiösen Volkstums greifen, interpretiert das »neue Österreich« als christliche Bastion gegen den heidnischen Nationalsozialismus und den atheistischen Austromarxismus. Das Bild der »Pietas Austriaca« wechselt damit von der habsburgischen Selbstdarstellung zur apodiktischen Rahmenerzählung des politischen Katholizismus. In der einsetzenden Krise des Parlamentarismus Ende der 1920er Jahre wurde das Bild im System der »Ostmärkischen Sturmscharen«, den »Ölberghusaren«, militarisiert.5 Das Bundesheer, in den 1920er Jahren auf die Reichswehr hin ausgerichtet, folgte im schleichenden Staatsstreich 1933/34 dieser Entwicklung. Das Beschwören der Katholizität, das Monieren des imperialen Gestus der »Pietas Austriaca« diente letztlich politischem Kleingeld, z.B. dem Ignaz Seipel- und Engelbert Dollfuß-Kult mit Kirchenbau und Märtyrererzählung in einem zunehmend laizistischen Umfeld, in dem die Berufung auf die katholische Tradition weitgehend das konservative Theoriedefizit substituierte. Daneben diente es dem nach 1945 zurückhaltender auftretenden politischen Katholizismus im Werben um die Stimmen der ehemaligen Nationalsozialisten und der Positionsbestimmung im Kalten Krieg.
II. Der Kriegsabsolutismus und die staatliche Zwangswirtschaft ließen die bäuerliche und gewerbliche Bevölkerung, Kernschichten der Christlichsozialen, außerhalb Wiens zum Thron auf Distanz gehen.6 Während das Wiener Milieu der 4
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Otto Bauer, Der Aufstand der österreichischen Arbeiter. Seine Ursachen und seine Wirkungen, Prag 1934, zit.n. Otto Bauer, Werkausgabe, hg. v. Manfred Ackermann. Bd. 3, Wien 1976, S. 953–997, hier S. 970. Walter Reich, Die Ostmärkischen Sturmscharen, Frankfurt a.M. 2000. Vgl. Anton Staudinger/Wolfgang C. Müller/Barbara Steininger, Die Christlichsoziale Partei, in: Emmerich Tálos/Herbert Dachs/Ernst Hanisch (Hg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik, Wien 1995, S. 160–176, S. 160; Hel-
Pietas Austriaca?
Partei noch Anfang Oktober 1918 Kaiser Karl die Loyalität bekundete, wandte sich die Provinz bereits der Republik zu. Die Verzichtserklärung Kaiser Karls ermöglichte es der katholischen Hierarchie, zur Tagesordnung überzugehen. Der Wiener Erzbischof Kardinal Piffl, der Mitte Oktober die Losung »Gut und Blut für unseren Kaiser, Gut und Blut für unser Vaterland!« ausgegeben hatte, erklärte nun, ganz der praktischen Theologie verpflichtet, dass »für den künftigen Wahlkampf« die »Parole ›Monarchie oder Republik‹ grundsätzlich zurückzustellen« wäre.7 Piffls Schwenk reduzierte die »Pietas Austriaca« habsburgischer Selbstinszenierung auf die Sicherung des »Besitzstandes der Kirche«,8 den er durch den Laizismus der Sozialdemokraten und des deutschnationalen Milieus gefährdet sah. Die von den Sozialdemokraten geforderte Trennung von Kirche und Staat reicht in die Gründungsphase der Partei zurück und wurde am Parteitag von Hainfeld 1888/89 programmatisch definiert, wobei man sich dabei im Einklang mit den Liberalen und Deutschnationalen wusste. Man forderte die Beseitigung des kirchlichen Einflusses auf das Schulwesen und die obligatorische Zivilehe. Diese Anliegen wurden aus Sicht der katholischen Kirche durch die Forderung nach Abschaffung des § 144 StGB, die Freigabe der Abtreibung, verschärft. Der politische Katholizismus der Christlichsozialen und teilweise der Österreichischen Volkspartei übernahm die kirchlichen Positionen in diesen Fragen. Den 1926 gefundenen Kompromiss im Schulwesen unterlief man 1933/34 durch eine dramatische Rekonfessionalisierung, die Zivilehe wurde 1938 durch den Nationalsozialismus Realität, die man letztlich 1945/46 akzeptierte, während die Rückkehr zum Schulunterrichtsgesetz von 1926 bis in die jüngste Vergangenheit dazu führte, dass vielfach katholische Lobbyisten und teilweise Politiker der ÖVP auf Schulreformvorschläge aus dem sozialdemokratischen Lager wie der Pawlow’sche Hund reagieren: Schon
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mut Wohnout, Middle-Class Governmental Party and Secular Arm of the Catholic Church: The Christian Socials in Austria, in: Wolfram Kaiser/Helmut Wohnout (Hg.), Political Catholicism in Europe 1918–1945. Bd. 1, London/New York 2004, S. 172–194. Schreiben Kardinal Piffls an den Klerus der Erzdiözese Wien vom 12. November 1918, zit.n. Walter Goldinger/Dieter A. Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918–1938, Wien 1992, S. 24f. Grundsätzlich zur Positionierung der katholischen Kirche in der Phase der Republikgründung vgl. Dieter A. Binder, Fresko in Schwarz? Das christlichsoziale Lager, in: Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), … der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik. Bd. 1, Wien 2008, S. 241–260.
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beim leisesten Ton speichelte man ein und verneinte kategorisch. Die Indikationslösung, wie sie in der Strafrechtsreform Bruno Kreiskys Realität wurde, wurde letztlich von der ÖVP nach pflichtgemäßer Abwehrschlacht pragmatisch akzeptiert. Die Schaffung einer katholischen und deutschnationalen Zeugungsfront in einem Anti-Abtreibungs-Volksbegehren 1975 scheiterte und geriet zur Minderheitenfeststellung. Während das bäuerlich-demokratische Milieu pragmatisch die Neuaufstellung des Staates 1918/19 mittrug, formatierte Ignaz Seipel subkutan den Rekatholisierungsprozess seiner Partei. Als erstes und zutiefst irritierendes Kampfziel, das parteiintern zu einer massiven Frontbildung gegen die Sozialdemokratie genutzt wurde, wenngleich damit keinem grundsätzlichen Interesse der eigenen Klientel gedient war, muss die Kongrua-Debatte von 1920/21 gesehen werden. In der Frage der staatlichen Kleriker-Besoldung, der Kongrua, kannte Seipel, unter dem Druck der Bischöfe stehend, keinen Kompromiss. Aus der Sicht Seipels war dies dem »Primat der Kirche vor christlich[sozial]er Parteipolitik« und der »Pietas Austriaca« geschuldet.9 Im Parteiprogramm vom Dezember 1918 unterstrichen die Christlichsozialen im Gleichklang mit der katholischen Hierarchie den Schutz der Familie und der Jugend, betonten die »Pflege nationaler Sitte und Kultur«, bekannten sich zur »physischen und moralischen Volksgesundheit«, zur Bekämpfung des »Geburtenrückganges, der Säuglingssterblichkeit, der Tuberkulose und der Geschlechtskrankheiten« und riefen zum »Abwehrkampf« gegen die »Korruption und Herrschsucht jüdischer Kreise« auf. Damit schuf man eine große Schnittmenge mit den deutschnationalen Parteien. In den sozialrechtlichen Reformansätzen nahm man sozialdemokratische Positionen auf. Diese Zugeständnisse an den linken Flügel der eigenen Partei schafften eine charakteristische Gesprächsbasis zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten. Der noch dominierende Länderflügel der Christlichsozialen verständigte sich gegen den Willen der Wiener Partei mit dem Koalitionspartner auch auf die Verfolgung von Kriegsverbrechen durch Offiziere, die Abschaffung der Adelstitel sowie auf den Landesverweis der Habsburger und die Beschlagnahme des habsburgischen Familienversorgungsfonds.10 Damit leistete die Partei ihren Anteil an einem pragmatischen Übergang von der
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Maximilian Liebmann, Von der Dominanz der katholischen Kirche zur freien Kirche im freien Staat, in: Rudolf Leeb (Hg.), Geschichte des Christentums in Österreich. Von der Spätantike bis zur Gegenwart, Wien 2003, S. 361–456, hier S. 397–406. Vgl. Binder, Fresko in Schwarz? Das christlichsoziale Lager, S. 247–249.
Pietas Austriaca?
Monarchie zur Republik und unterband anhaltend eine nennenswerte monarchistische/legitimistische Fundamentalopposition. Im Zusammenspiel mit den katholischen Bischöfen substituierte man den abhanden gekommenen Monarchen als Garant der »Pietas Austriaca«, indem man die antimodernistisch geprägten Positionen der Bischöfe und deren Besitzstand wahrende Forderungen als ideologisierende Leitlinien ins Parteiprogramm schrieb. 1945, so scheint es, wiederholte sich dieser Vorgang, wiewohl die Österreichische Volkspartei als Neugründung auftrat und die katholische Hierarchie eine Wiederkehr des politischen Katholizismus nach außen hin verneinte. Zweifellos gab es innerhalb der politischen Eliten der provisorischen Regierung Renner 1945 jenen antinationalsozialistischen Konsens, der auch das Bekenntnis zu einem unabhängigen Österreich umfasste. Einige Repräsentanten der Österreichischen Volkspartei trafen sich mit kommunistischen Intellektuellen wie Ernst Fischer in der Frage der »österreichischen Nation«. Während die Kommunisten an die im Zuge der Volksfrontstrategie 1937 entwickelten Positionen anknüpften, die Alfred Klahr verschriftlicht hatte,11 griffen die Theoretiker der Volkspartei, allen voran Alfred Missong, auf Konzepte zurück,12 die sie bereits in den späten 1920er Jahren zur Diskussion gestellt13 und die sie auch in den nationalen Diskurs des autoritären »Ständestaates« eingebracht hatten.14 Die ÖVP, zunächst geprägt vom französischen Linkskatholizismus, sah sich bis 1947, soweit überhaupt eine theoretische Diskussion stattfand, ähnlich den deutschen Christdemokraten als Vertreter eines »europäischen Sozialismus aus christlicher Verantwortung«.15 Eingebettet in die Wahrnehmung des Kalten Krieges und gefangen im Wettlauf um die Stimmen der »Ehemaligen« erntete das Reizwort »österreichische Nation« bereits 1946 parteiintern Widerspruch und schlich sich auf leisen Sohlen davon. Da
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Vgl. Rudolf (d.i. Alfred Klahr), Zur nationalen Frage in Österreich, in: Weg und Ziel 3 (1937) 2, S. 126–133 und 4 (1937) 2, S. 173–181. Vgl. Alfred Missong jun., Alfred Missong. Der Entdecker der Österreichischen Nation, in: Alfred Missong jun./Cornelia Hoffmann/Gerald Stourzh (Hg.), Alfred Missong, Christentum und Politik. Ausgewählte Schriften 1924–1950, Wien/Köln/Graz 2006, S. 47–56. Vgl. Ernst Karl Winter/August Maria Knoll/Alfred Missong/Wilhelm Schmid/Hans Karl Freiherr von Zeßner-Spitzenberg, Die österreichische Aktion, Wien 1927. Vgl. Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung, Wien/Köln/Graz 1984, S. 156f. Walter Dirks, Die zweite Republik. Zum Ziel und zum Weg der deutschen Demokratie 1946, in: Frankfurter Hefte 1 (1946) 1, S. 12–24, hier S. 22.
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Missongs »Nation Österreich« zutiefst katholisch segmentiert war, war sie ein doppeltes Hindernis im Werben um die »Ehemaligen«. Symptomatisch suchte Missong, ehe er kaltgestellt wurde, »seine« Nationsdebatte in das Werben um das vormals »großdeutsche« Wählerpotenzial geschmacksneutral mit dem Schlüsselwort »Reichsidee« einzubringen und aus dem ÖsterreichDiskurs eine Europa-Debatte zu machen.16 Die ÖVP setzte aber an die Stelle der »österreichischen Nation« die »Heimat«.
III. Die Folie des Kalten Krieges beherrschte bis 1989 die Rahmenerzählung des amalgamierenden Heimatbegriffs der Heimatmacher. Damit wird die Heimat zum gefährdeten Gebiet, zum Land an der »flammenden Grenze«,17 wodurch der Heimat nach Hanns Koren, dem Kulturpolitiker der ÖVP in der Steiermark und katholischen Brückenbauer, auch eine konstante Aufgabe zukäme. »Seit es die Steiermark gibt, haben die Steirer immer der kleinen Heimat und dem großen Reich gedient […]. Steirische Geschichte – wie treffend hat sie Hans Kloepfer charakterisiert als ›ein Bild voll Blut und Wunden […]‹.« Kloepfer, der dichtende Wegbereiter des Nationalsozialismus in der Weststeiermark, sakralisierte mit diesem Bild aus dem lateinischen Hymnus »Salve caput cruentatum« die »Heimat«, indem er sie mit Christus gleichsetzte. Und Koren weiter: »›Des Deutschen Reiches Hofzaun‹ hat sie von alters her geheißen, ein bitterer Ehrentitel für ein Land, dass gegen Osten und seine beutelüsternen Raubscharen zu Fuß und zu Ross von jeher offen lag.«18 An anderer Stelle rief Koren der Landjugend zu: »Von der Heimat darf keiner desertieren […]. Die Heimat ist der einzige Ort auf der Erde, auf dem es die Menschen gibt, auf die du dich letzten Endes verlassen kannst.«19 Damit traf der katholische Brückenbauer das bestimmende Gefühl der deutschnationalen Elite, die sich im »nationalen 16
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Alfred Missong, Sinn- und Formwandel der Reichsidee, in: Österreichische Monatshefte, Oktober 1949, wieder abgedruckt in: Missong jun./Hoffmann/Stourzh (Hg.), Alfred Missong, S. 213–225. Fritz Posch, Flammende Grenze. Die Steiermark in den Kuruzzenstürmen, Graz/Wien/ Köln ²1986 (EA: 1968). Hanns Koren, Die Steiermark – Einheit und Eigenart des Landes, in: Hanns Koren, Reden, Graz 1966, S. 200f. Koren gastierte mit dieser Rede österreichweit. Hanns Koren, Euch ist das Schicksal des Landes in die Hand gegeben, in: Koren, Die Steiermark, S. 264f.
Pietas Austriaca?
Abwehrkampf der Grenzlanddeutschen« seit den frühen 1950er Jahren verortete.20 Für das christlichsoziale Milieu war dabei ein Phänomen, auf das Hans Rosenberg explizit hingewiesen hat, von Beginn an entscheidend: Die Verunsicherung durch die Moderne bewirkte in diesem Milieu den Rückgriff auf vorindustrielle Gesellschaftstraditionen.21 Der Bogen spannt sich von Karl Freiherrn von Vogelsang über die päpstlichen Enzykliken »Rerum Novarum« (1891) und »Quadragesimo Anno« (1931) bis hin zur Trabrennplatzrede von Engelbert Dollfuß, dem Schlüsseldokument des Austrofaschismus, und zum Geschlechter- und Familienverständnis der ÖVP. In diesem Segment trafen sich die katholischen und (deutsch-)nationalen Zeugungsstrategen an der Geburtenfront und in der Formatierung der katholischen Kirche Österreichs im »Mariazeller Manifest« von 1952.22 Der damit verknüpfte Heimatkult sollte eine antimoderne Volksgemeinschaft im Widerspruch zur sozialdemokratisch dominierten Stadt kreieren. Im ÖVP-Programm von 1952 heißt es: »Das Dorf ist die natürlichste und gesündeste Siedlungsform, die ewige Erneuerungsquelle jedes Volkes.«23 »Österreich besitzt«, so das Mariazeller Manifest, »den traurigen Ruf, das geburtenärmste Land der Welt zu sein. Wir sind im Begriffe, ein Volk hungernder und bettelnder Greise zu werden, da uns in wenigen Jahrzehnten die arbeitende und produzierende Generation fehlen wird. Es wird niemand mehr da sein, der das Korn baut, damit wir das Brot zu essen haben, der die Kohle schürft, damit wir uns wärmen, und der den Baum fällt, in dessen Brettern wir zur letzten Ruhe gebettet werden.«24
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Bernhard Weidinger, »Im nationalen Abwehrkampf der Grenzlanddeutschen«. Akademische Burschenschaften und Politik in Österreich nach 1945, Wien/Köln/Weimar 2015. Vgl. Hans Rosenberg, Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967, S. 242. Vgl. Maximilian Liebmann, Das »Mariazeller Manifest« als Teil einer Doppelstrategie, in: Ulfried Burz/Michael Dendarsky/Werner Drobesch (Hg.), Brennpunkt Mitteleuropa, Klagenfurt 2000, S. 639–697. »Alles für Österreich«. Programmatische Grundsätze der Österreichischen Volkspartei (1952), in: Klaus Berchtold (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, Wien 1966, S. 379. Mariazeller Manifest (kürzere Fassung), abgedruckt bei Liebmann, Mariazeller Manifest, S. 650–653, hier S. 652.
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Angesichts solcher Zukunftsvisionen darf es auch nicht verwundern, dass aus Sicht der Verfasser des Manifests vor allem staatliche Hilfe für die Familien und für die »zukunftstragende Volksschicht, wie die Bergbauern«25 eingefordert wird. Auch wenn die Verfasser des Manifests sich als Sprecher eines geeinten, katholischen Volks darstellen, sucht man den Schulterschluss mit den ehemaligen Nationalsozialisten und bietet ihnen als Morgengabe die dezidierte Forderung nach dem Ende eines »gewissen Absolutismus der politischen Parteien« und der »politischen Sondergesetzgebung«.26 Gemeinsam ist beiden Lagern der »männliche Mann« und die Frau als »Hüterin der heiligen Herdflamme«, auch »wenn sie«, so Hanns Koren, »vielleicht schon mit dem Propangas kocht oder mit einem Elektroherd«.27 Ein gediegener Vertreter der Katholisch-Nationalen, der Neuländer Franz Maria Kapfhammer, sah in der industriellen Gesellschaft das Gefährdungspotenzial für die Familie als Nukleus der Heimat, da diese Gesellschaftsform anscheinend »die politische Führungsaufgabe« des Manns als »den Hausvater« und den »Priester des Hauses« in Frage stellte. Ein solcher Übervater »findet« erst »Heimat« in der Familie, wenn die Frau und Mutter als »Mittlerin« zu den männlich konnotierten lichten Höhen, »die wir als das Übersinnliche, Überirdische, das ›Göttliche‹ bezeichnen«, auftritt und als Gebärerin des Nachwuchses ihrer zentralen Aufgabe »nachkommt«.28 In einer spezifischen Form der Histoire de longue durée definierte man das »Volk« als die Konstante der Geschichte, aus der Heimat entsteht: »Das Volk […] ist die Bevölkerung, die einen von der Natur zugewiesenen Raum bewohnt. […] Auch die rassischen Merkmale der Donaubevölkerung waren längst konstant, als durch Romanisierung, Germanisierung, Slawisierung jene sprachlichen Kompetenzen aufgeprägt wurden, die im Zeitalter 25 26
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Ebd. Mariazeller Manifest (längere Fassung), abgedruckt bei Liebmann, Mariazeller Manifest, S. 653–656; der explizite Hinweis auf die Entnazifizierungsgesetzgebung ist nur in der längeren Fassung zu finden, wobei anzumerken wäre, dass zu diesem Zeitpunkt die »Minderbelasteten« ohnehin von den Folgen ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP pardoniert waren, vgl. zur Haltung des österreichischen Episkopates Eva Maria Kaiser, Hitlers Jünger. Der Einsatz der katholischen Bischöfe Österreichs für ehemalige Nationalsozialisten nach 1945, Wien/Köln/Weimar 2017. Koren, Euch ist das Schicksal des Landes in die Hand gegeben, S. 269. Franz Maria Kapfhammer, Familie und Heim, in: Landesjugendreferat der Steiermärkischen Landesregierung (Hg.), Die Heimat lädt dich ein. Eine Gabe an die steirischen Jungbürger, Graz 1959, S. 27.
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des Nationalstaatsgedankens überschätzt und als allein maßgeblich für die volkliche und staatliche Zugehörigkeit der Bevölkerung des Donauraumes angesehen wurden. Aus der natürlichen Einheit dieser Bevölkerung haben sich im Laufe der Geschichte mehrere Einzelvölker herausgebildet, die selbständige Nationen sind und auch bei Sprachgleichheit keiner anderen Nation angehören.«29 Mit diesem Modell aus einem Unterrichtsbehelf für die Ausbildung von Volksschullehrerinnen und -lehrern unmittelbar nach Kriegsende 1945 wurde eine naturbezogene Heimat mit einer in deren Boden verwurzelten Bevölkerung konstruiert, die letztlich »immer schon hier« war.30 Ernst Bruckmüller hat in diesem Kontext auf die Inszenierung der Ostarrichi-Feiern 1946 hingewiesen und dabei auf die Verwebung einer historischen Urkunde mit den aktuellen politischen Bedürfnissen ins »Vorzeitliche« verwiesen: »Es ist 1946 tatsächlich geschrieben worden: ›Wie der liebe Gott ÖSTERREICH erschaffen hat‹. Der Text verbindet die Schöpfungsperiode mit einem Ausblick in die Zukunft und ermöglicht so die Verbindung des demiurgischen Schöpfungsaktes einer Landschaft mit ihrer späteren Nutzung und Gestaltung durch die Menschen – eben durch die Österreicher. Nichts fehlt da an Österreich-Stereotypen: Berge und Seen, der Arlbergtunnel, Tirolerknödel, der Großglockner, Salzburg, Kärnten, Steiermark, Rosegger, die Steyr-Werke, das Salzkammergut, Aggstein und das Burgenland, schließlich der Prater, das Panorama von Wien mit dem Stephansdom und der Johann Strauß.«31
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»Österreichische Geschichte«, hektografiertes Manuskript für das Schuljahr 1945/46 an der Lehrerbildungsanstalt Graz. Frau Dr. Christa Höller, Graz, sei für die Überlassung des Unterrichtsbehelfs gedankt. Das Schweizer Landesmuseum in Zürich präsentierte 2009 eine neue Dauerausstellung zur Geschichte der Schweiz, deren Einleitung unter dem radikal gegenteilig formulierten Motto »Niemand war schon immer da« stand, vgl. Andreas Spillmann (Hg.), Geschichte Schweiz. Katalog der Dauerausstellung im Landesmuseum Zürich, Zürich 2009, S. 20. Ernst Bruckmüller, Millennium! – Millennium? Das Ostarrîchi-Annoversarium und die österreichische Länderausstellung 1996, in: Österreich in Geschichte und Literatur 39 (1995) 3, S. 137–155, hier S. 140. Der eingangs zitierte Satz bezieht sich auf die Publikation Marga Frank (Text)/Johannes Peter Wiegand (Illustrationen), Wie der liebe Gott Österreich erschaffen hat, Wien 1946.
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Nach 1945 wurde die Heimat im »Kleinen« identitätserhaltend und -stiftend für jene, die noch nicht bereit waren, Österreich ohne Einschränkung zu akzeptieren. In Parenthese: Der österreichische Heimatfilm der 1940er und 1950er Jahre mit seinen »Metaphern der vorindustriellen Gesellschaft« setzte die »patriarchalen Strukturen« gegen die »fluktuierenden Massen« der urbanen Modernität.32 In den häufig genutzten Zitaten der Doppelmonarchie wurden die sozialen Konflikte im Bild des gütigen Kaisers aufgehoben. Eingebettet in den Kalten Krieg konnte die Heimaterzählung als Bollwerk figurieren, eine nachgeholte »Alpenfestung« bieten, während man »Österreich« als »Brücke zwischen West und Ost« und als Herz Europas »neutralisierte«.33 Diese Art von Heimat war, um ein Wort Thomas Bernhards zu variieren, vielfach »katholisch(deutsch)national(sozialistisch)« fermentiert.34
IV. Die »christliche Heimat«, das vormals katholische »Bollwerk« muss dort, wo sie nicht als »Brücke« zwischen West und Ost auftritt oder sich als neutraler Staat, als vom lieben Gott geschaffene »Insel der Seligen« präsentiert, verteidigt werden. Das oblag und obliegt dem 1955/56 wieder aufgestellten Bundesheer. Woher kommt der dabei seit 1955/56 auftretende charakteristische imperiale Überhang, der der Traditionspflege des Bundesheeres der Zweiten Republik bis heute anachronistische Züge verleiht? Es ist dies das nicht eingestandene Erbe austrofaschistischer Provenienz, das sich in der Ikonografie des am 9. September 1934 eingeweihten Heldendenkmales im Äußeren Burg-
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Irene Nierhaus, Heimat und Serie. Zum Wohnbau nach 1945, in: Wolfgang Kos/Georg Rigele (Hg.), Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, S. 329–344, hier S. 330f. Vgl. Dieter A. Binder, »Rescuing the Occident« and »Europe in Us«: The People’s Party in Austria, in: Michael Gehler/Wolfram Kaiser (Hg.), Christian Democracy in Europe Since 1945. Vol. 2, London/New York 2004, S. 139–154. Vgl. Jacques Lajarrige, Die Leiche im Keller. Les écrivains face au passé nazi de l’Autriche, in : Anne-Marie Corbin/Marc Lacheny (Hg.), Le travail de retour sur le passé à l’époque de la Seconde République autrichienne (Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche 82), Mont-Saint-Aignan 2016, S. 29–50.
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tor der Wiener Hofburg spiegelt35 und dessen politisch-historische Rahmenerzählung Joseph August Lux in seinem Goldenen Buch der vaterländischen Geschichte lieferte.36 Das Heldendenkmal definierte den Kanon der österreichischen Helden durch schlichte Namensnennungen und Verweise auf Schlachten. Es markierte so das Äußere Burgtor als »Tempel der Nation im steten Abwehrkampf« und griff damit auf die seit Herodots Darstellung des »griechischen Freiheitskampfes« anhaltende Tradition einer Geschichtsdeutung zurück, in der eine Person »als Retter« des Volkes vor einem übermächtigen Feind fokussiert wird. Den Auftakt des Namedroppings bildet Wallenstein. »Der aus der Sicht des vaterländischen Geschichtsbildes« austrofaschistischer Provenienz »positive Ausgang des Dreißigjährigen Krieges« für die habsburgischen Territorien – »Rekatholisierung, innere Festigung, Durchsetzung des Absolutismus« – wurde als der »entscheidende Schritt« gelesen, »um die kommende, ganz große Auseinandersetzung bestehen zu können: die Türkenkriege.«37 Den propagierten defensiven Charakter Österreichs unterstreichend folgt im Heldendenkmal auf Wallenstein Ernst Rüdiger von Starhemberg (1638–1701) als »Verteidiger von Wien« 1683 und damit ein zentraler Lieu de mémoire österreichischer Mythenbildung im »Prozess der Nationsbildung«.38 Ernst Bruckmüller unterstrich in seiner kritischen Hinterfragung des »österreichischen Heldenzeitalters« die Überhöhung der Verteidigung und des Entsatzes von Wien 1683 in der »vaterländischen« Publizistik, die mit den Facetten politischen Selbstverständnisses einzelner Gruppen des ausgehenden 19. Jahrhunderts korrelierte: »Deutschnationale Sentiments hoben die Reichskontingente hervor, katholisch-universalistische die Polen und der Wiener Lokalpatriotismus konzentrierte sich auf die heroischen Leistungen
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Vgl. Heidemarie Uhl/Richard Hufschmied/Dieter A. Binder (Hg.), Gedächtnisort der Republik. Das Österreichische Heldendenkmal im Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg. Geschichte – Kontroversen – Perspektiven, Wien/Köln/Weimar 2021. Joseph August Lux, Das goldene Buch der vaterländischen Geschichte für Volk und Jugend Österreichs, Wien 1934, S. 191–272. Werner Suppanz, Österreichische Geschichtsbilder. Historische Legitimationen in Ständestaat und Zweiter Republik, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 156. Ernst Bruckmüller, Österreich »An Ehren und Siegen reich«, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, München/Berlin 1998, S. 269–294, hier S. 269.
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der Bürger Wiens«,39 deren Nachkommen treue christlichsoziale Wähler waren. In der Konturlosigkeit wäre Graf Starhemberg mit dem Kapuziner Marco d’Aviano zu vergleichen, den die Apologetik dieser Jahre zur zentralen Lichtgestalt erhob.40 Dieser Vertraute Kaiser Leopolds I. erlebte, ausgehend von den Feiern zum 200-jährigen Gedenken an den Kampf um Wien 1883, in betont katholisch-konservativen Kreisen bis 1938 eine massive Renaissance,41 die nach 1945 nicht fortgesetzt werden konnte,42 da diese in apologetischer Manier d’Aviano mit Engelbert Dollfuß gleichsetzte und somit auch ein Hindernis für die Annäherung an die »Ehemaligen« bildete.43 Das Zurückwerfen des türkischen Heeres vor Wien, das den Auftakt für das Zurückdrängen der osmanischen Herrschaft im südosteuropäischen Raum einläutete, ließ die Ängste vor dem »heidnischen« Feind in der zeitgenössischen Propaganda in die »fragwürdige Legitimation eines Kreuzzuges für die Christenheit« umschlagen, um »einen erbarmungslosen Vernichtungskrieg zu führen, in dem Gefangennahmen die Ausnahme blieben.«44 Die Erziehung zu »Österreich« fokussierte ab 1933 die Bedrohung des »christliche[n] Abendland[es]« durch das »Vordringen« des »türkische[n] Reich[es]« in Analogie zur Bedrohung desselben durch den »heidnischen« Nationalsozialismus und den vom Entsatz Wiens ausgehenden »Zerfall der europäischen Türkei (1683–1913)«45 in der erträumten Analogie vom Scheitern Hitlers durch den »Märtyrertod« von Engelbert Dollfuß.46 Beide scheiterten gleichsam am »christlichen«, am »katholischen« Bollwerk Wien. Werner 39 40 41 42
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Ebd., S. 279–281. Kalender der Vaterländischen Front 1935, S. 140, zit.n. Suppanz, Österreichische Geschichtsbilder, S. 171. Volker Press, Marco d’Aviano, in: Neue Deutsche Biographie 16 (1960), S. 128f., www.deutsche-biographie.de/pnd118731076.html (abgerufen am 15.1.2023). Einen letzten Versuch dieses Milieus unternahm Vincenzo Crisculo in seinem Aufsatz »Markus von Aviano. Christophorus und Retter Europas«, der im von Jan Mikrut herausgegebenen Buch »Faszinierende Gestalten der Kirche Österreichs«. Bd. 1, Wien 2000, S. 11–34 erschien. Vgl. Suppanz, Österreichische Geschichtsbilder, S. 171. Matthias Rogg, Die Ursprünge: Ritter, Söldner, Soldat. Militärgeschichte bis zur Französischen Revolution 1789, in: Karl-Volker Neugebauer (Hg.), Grundkurs deutsche Militärgeschichte. Bd. 1, München 2006, S. 1–121, hier S. 110. Wilhelm Schier, Atlas zur Allgemeinen und Österreichischen Geschichte, Wien 1935, Karte 40 und Karte 41. Vgl. Lucile Dreidemy, Der Dollfuß-Mythos. Eine Biographie des Posthumen, Wien/ Köln/Weimar 2014.
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Suppanz hat nachdrücklich darauf hingewiesen, wie intensiv sich die »Österreich-Ideologie« des autoritären Ständestaates des Motivs der Türkenkriege annahm, um aus der Analogie politische Legitimation zu lukrieren.47 Im Kalten Krieg trat in der Nutzanwendung des Feindmotivs an die Stelle der Nazis die Sowjetunion, deren kommunistischer Imperialismus das freie Europa bedrohte und Österreich erneut zum »christlichen Bollwerk« werden ließ. Das diffuse Erinnern an die »Türkengefahr«, den Volksschulkindern im Heimatkundeunterricht eindringlich nahegebracht, war als Rahmenerzählung für die nunmehrige Positionierung im Kalten Krieg anhaltend nutzbringend. In einer historisch-politischen, pseudogeografischen Darstellung wurde noch 1986 diese Erzählung der Heimat zwischen der Jungsteinzeit und dem Jahr 1945 mit ihrer »seßhafte[n] dichte[n] Kultur« und ihrem »defensiv organisiert[en]« Charakter den aus »der pannonischen Steppe einbrechenden Nomaden, Viehhirten und Reitervölker[n] mit ganz anderen, auf Angriff ausgerichteten Strategie[n]« gegenübergestellt, die immer dann in die Heimat einfallen, »wenn sie ihre Weideländer an Stärkere verlieren – wie es das unerbittliche Gesetz der Steppe ist [sic!] –, wenn sie weitausgreifende Raubzüge durchführen [sic!] oder wenn sie von Weltherrschaftsideologien vorwärts getrieben werden [sic!]«.48 An die Stelle der »heidnischen Türken« tritt im Heldendenkmal nunmehr der gottlose »Preuße« Friedrich II., der dabei zu Adolf Hitlers Vorreiter mutierte. Maria Theresia, eine »Schwester« der Mariazeller »Magna Mater Austriae«, musste gegen den »unritterlichsten und räuberischsten Gegner« um den »Bestand Österreichs« kämpfen.49 Nicht zuletzt durch die Historienmalerei wurde die »ritterliche Begeisterung« der ungarischen Magnaten am Preßburger Reichstag 1741, die der jungen, hilfesuchenden Mutter »›vitam et sanguinem‹, Blut und Leben zu opfern versprachen«,50 in der dynastischen Erzählung des habsburgischen Reiches im 19. Jahrhundert popularisiert.51 Dieses edle Rittertum stand an der Spitze des Kampfes gegen Friedrich II., der
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Suppanz, Österreichische Geschichtsbilder, S. 156–162. Gerhard Pferschy, Grenzfunktionen des steirischen Raumes, in: ders./Peter Krenn (Hg.), Die Steiermark. Brücke und Bollwerk, Graz 1986, S. 1–7, hier S. 2. Lux, Das goldene Buch der vaterländischen Geschichte für Volk und Jugend Österreichs, S. 260. Ebd. Vgl. Bruckmüller, Österreich »An Ehren und Siegen reich«, S. 284f.
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nicht davor zurückschreckte, »Europa in Brand zu stecken und seinen Raub dabei zu sichern.«52 Aufklärung und Französische Revolution wurden zum Purgatorium, aus dem heraus Österreich als Kaisertum entstand, um in einem »neuen Heldenzeitalter« als »Bollwerk der katholischen Kultur seiner heiligen Sendung« gerecht zu werden. Wieder interpretierte man eine politisch-militärische Gefährdung als Glaubenskampf, Napoleon wurde als »Antichrist« zum Wiedergänger des »gott- und ehrlosen« Friedrich, dem in der Entstehungszeit des Denkmals Adolf Hitler und nach 1945 das antikommunistische Feind- und Bedrohungsszenarium des Kalten Krieges nachfolgte. Radetzkys Nennung unter den »Heerführern« stand 1934 für 1848/49 und für die Niederwerfung der Revolution. Sie galt dem reaktionären politischen Kopf, der stets gegen liberale Ideen Position bezogen hatte.53 Das Goldene Buch der vaterländischen Geschichte spiegelt die Sichtweise auf 1848/49 im Schein der »nationalen Revolution« der Nationalsozialisten und der Abkehr des »ständestaatlichen« Regimes von der Demokratie, wobei Lux mit Schaum vor dem Mund erregt fragmentierend festhält: »›Freiheit und Nation‹ waren die Schlagworte der französischen Revolution auch im Umsturz 1848, ein Doppelziel, unklar zwar, doch um so berauschender. […] Die Massen wußten nicht, um was es ging; sie wissen es niemals. […] Doch im unklaren Drang die an sich berechtigte Forderung einer Verfassung. ›Konstitution‹ hieß das Zauberwort der Zeit. Parlamentarische Volksvertretung nach englischem Vorbild, französisch umgeformt, Freiheit von allen Bindungen, wirtschaftlich, politisch, religiös. Liberalismus. […] Die andere Zielrichtung liegt im nationalen Unabhängigkeitsdrang. […] Liberalismus, Partei- und Kapitalsinteresse, Freimaurertum verbrämt mit Bardenbärten und viel Freiheitsgesang […]. Liberalismus führt über Nationalismus immer zum Radikalismus.«54
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Lux, Das goldene Buch der vaterländischen Geschichte für Volk und Jugend Österreichs, S. 260. Johann Christoph Allmayer-Beck, Johann Josef Wenzel Graf Radetzky von Radetz, in: ÖBL 8 (1983), S. 370f.; Manfried Rauchensteiner, Johann Josef Wenzel Anton Franz Karl Graf Radetzky de Radetz, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 87f., www.deutsche-biographie.de/pnd118597647.html (abgerufen am 15.1.2023). Lux, Das goldene Buch der vaterländischen Geschichte für Volk und Jugend Österreichs, S. 301f.
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In Parenthese: Eingebettet in die »Türkenbefreiungsfeier« und umrahmt vom »Katholikentag« hielt Engelbert Dollfuß beim ersten Generalappell der »Vaterländischen Front« am 11. September 1933 auf dem Wiener Trabrennplatz fest, dass dem »Liberalismus« die »Willkür« folgte,55 seine Regierung aber »die Zeit kapitalistisch-liberalistischer Wirtschaftsordnung«, »die Zeit marxistischer, materialistischer Volksverführung« beendet habe und »Gleichschalterei und Terror« durch »Autorität« bekämpfen werde. Die »Autorität« käme aus der »Führung durch verantwortungsbewußte, selbstlose, opferbereite Männer«, die wie die an der Front kämpfenden »christkatholischen« Offiziere »nichts als« ihre »Pflicht erfüll[t]en.«56 Radetzky stand also für Autorität, für den Kampf gegen den Liberalismus und den Nationalismus. Mit Franz Conrad von Hötzendorf (1852–1925)57 bediente das Heldendenkmal einen Heldenkult, der gleichermaßen katholisch-konservative und deutschnationale bürgerliche Kreise im späten 19. Jahrhundert erreicht hatte.58 Lawrence Sondhaus definierte Conrad als »Architekten der Apokalypse«.59 Als Kaiser und König Karl Anfang 1917 Conrad als Generalstabschef ablöste, waren 7,5 Millionen k.u.k. Soldaten im Einsatz gewesen, von denen 700.000 gefallen, 600.000 dienstuntauglich und 1,500.000 in Kriegsgefangenschaft geraten waren. Conrad selbst spekulierte in seinen Schuldzuweisungen mit Dolchstoßlegenden. »Österreich-Ungarns Fehler war es«, meinte Conrad, »das serbische Übel bis zu jener Größe heranreifen zu lassen, die es 1914 bereits hatte«, was nur das Werk der »zersetzenden Kräfte im Inneren« sein konnte, die er schließlich auch zu benennen wusste: »Tschechen, Italiener, Polen, Rumänen, Serben, Magyaren, Sokolisten, Schulvereine etc. Pfaffen, Agitatoren, Presse, Sozialdemokraten, Feindschaft gegen die Armee
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Engelbert Dollfuß, Die »Trabrennplatz-Rede«, in: Berchtold, Parteiprogramme, S. 427–433, hier S. 428. Ebd., S. 430. Vgl. Dieter A. Binder, Conrad von Hötzendorf revisited, in: Harald Heppner (Hg.), Der verhängnisvolle Irrtum. Zur Analyse von Fehlleistungen in politisch-militärischen Kontexten, Berlin 2014, S. 83–96. Dieter A. Binder, Helden, in: Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl (Hg.), Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Stichworte, Wien/Köln/Weimar 2016, S. 82–88. Lawrence Sondhaus, Franz Conrad von Hötzendorf: Architect of the Apocalypse, Boston 2000.
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in Böhmen, nationale Strömungen in der Armee.«60 Schlussendlich interpretiert Conrad die Niederlage auch als einen der Moderne geschuldeten Verlust an altfränkischer Ritterlichkeit: »Wir haben den Krieg in den Formen altherkömmlicher Sitte, unsere Gegner haben ihn mit allen Kniffen modernen Gaunertums geführt.«61 Conrads antidemokratische Positionierung, seine Modernisierungsphobie, sein Rassismus, sein Vulgärdarwinismus und seine Rede von dem »nach unfassbaren Gesetzen sich vollziehenden Daseinskampf«62 waren der Bodensatz des sich nach 1918 formierenden Revisionismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Sein Festhalten an der Kameradschaft der »alten Armee«, sein Eintreten für die »Obsorge« und den Dank »für die Armee und die braven Offiziere, die sich vier Jahre lang für Kaiser und Reich geschlagen hatten,«63 zitierte die »Frontkämpfergeneration«, als deren Repräsentant Engelbert Dollfuß vor und erst recht nach seinem Tod 1934 gefeiert wurde. Ab 1945 galt Conrad als letzter »Ritter«, er traf damit gleichermaßen den im späten 19. Jahrhundert in der bürgerlichen Selbstaristokratisierung entwickelten Heldenkult und lieferte so den Kitt für das Werben um die ehemaligen Nationalsozialisten für die ÖVP ab 1948/49. Sein Geschwätz vom Präventivschlag verdeckte die Schuld Österreich-Ungarns am Kriegsausbruch 1914 und lieferte die Folie für die »Ehemaligen«, zumindest den Überfall auf die Sowjetunion zu legitimieren.
V. Der katholisch fermentierten »Pietas Austriaca« setzte man ab 1956 ein ökumenisches Verständnis zur Seite, das in der politischen Nutzanwendung weniger dem theologischen Anliegen als vielmehr dem Werben um die deutschnationale Klientel gewidmet war. Diese hatte in der Los-von-Rom-Bewegung des späten 19. Jahrhunderts mit der Formel »Deutsch sein heißt lutherisch sein!« das katholische Selbstverständnis der Christlichsozialen angegriffen, in der Siedlungspolitik »reichsdeutscher« Neusiedler etwa im Kärnten der
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Kurt Peball (Hg.), Conrad von Hötzendorf. Private Aufzeichnungen, München 1977, S. 91. Ebd., S. 111. Ebd., S. 79. Ebd., S. 121.
Pietas Austriaca?
Zwischenkriegszeit völkische Grenztumsarbeit mit lutherischer Evangelisierung und nationalsozialistischer Infiltration verbunden und den autoritären »Ständestaat« als neue »Gegenreformation« propagandistisch hinterfragt. Die kirchlichen Requisiteure der Annäherung, die noch 1935 die Katholische Aktion als »himmlisch-vaterländische Front« definiert hatten, boten sich nun als lagerübergreifende »Volksgemeinschaft« an. In der Inszenierung griffen sie auf Vertrautes zurück. Den ersten steirischen Katholikentag nach dem Kriegsende 1950 eröffneten sie mit Höhenfeuern und einem Fackelzug, die jungen Marschierer trugen weiße Stutzen und weiße Hemden zur kurzen Lederhose, als man zum Auftakt die Gnadenstatue aus Mariazell in die Stadt Graz hineintrug. Die vormalige »Stadt der Volkserhebung« wurde so »rekatholisiert«. Unter dem Schlagwort der Ökumene der 1950er und 1960er Jahre reduzierte man die katholische »Pietas Austriaca« auf ein apodiktisch angenommenes »christliches« Österreich und ignorierte damit den voranschreitenden, der Moderne geschuldeten Säkularisierungsprozess. Symptomatisch dafür wäre die Prozession der frisch gegossenen Pummerin von Linz nach Wien 1952 zu nennen. Am Ende dieser Entwicklung und eingebettet in den Zerfall der bipolaren Welt 1989/90 sammelten Prominente aller politischer Richtungen wie etwa Helmut Zilk Gelder für die Restaurierung baulicher Überreste der »Pietas Austriaca« wie den Stephansdom in Wien und die Basilika in Mariazell. Nahezu gleichzeitig sprach Papst Johannes Paul II. Kaiser und König Karl, den letzten Repräsentanten der »Pietas Austriaca« habsburgischer Provenienz, selig. Bemühungen, dies zu betreiben, setzten bereits kurz nach Karls Tod 1922 ein. Die völlige Historisierung der Person nahm der Seligsprechung weitgehend jegliche politische Brisanz. Die österreichische Identität wuchs parallel zum Bruttoinlandsprodukt, die Partizipation am westeuropäischen Wirtschaftswunder wurde zum wesentlichen Faktor in der Akzeptanz einer »österreichischen Nation«.64 Das Ende des Kalten Kriegs und der Beitritt zur Europäischen Union schufen Platz für »Heimat/en«. Gleichzeitig kamen auf gar nicht leisen Sohlen jene hervor, die ihre mentalen Schwierigkeiten mit einer österreichischen Identität in einem Europa der Regionen zu verstecken trachten. Ihre Minderheitenposition trachten sie dadurch zu überwinden, dass sie die »Heimat« durch »Umvolkung« aufs Neue gefährdet sehen, denn sie meinen, dass sie schon 64
Ernst Bruckmüller, Österreichbewußtsein im Wandel. Identität und Selbstverständnis in den 90er Jahren, Wien 1994.
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immer hier gewesen wären. Im Beschwören des »christlichen Bollwerkes« durch das Hochhalten des Kreuzes auf Wahlplakaten und durch holprige Stabreime knüpft man an das anhaltend strapazierte Bild Wiens von 1683 an. Dass dies nun zur Spezialität einer an sich laizistischen, dem politischen Katholizismus skeptisch gegenüberstehenden Partei werden konnte, ist der angesprochenen Säkularisierung der Gesellschaft geschuldet, auch wenn sich der extrem reaktionäre Rand des schmal gewordenen aktiven Katholizismus, geschart um den Auxiliarbischof Andreas Laun, der sich als Wiedergänger Marco d’Avianos stilisiert, lautstark anschließt. Die Freiheitliche Partei ist damit endgültig zum Aftermieter der »Pietas Austriaca« geworden.
Der diskrete Charme der Dekadenz und das posthume Fortleben Österreich-Ungarns Adam Kożuchowski
Vor dem letzten Kriegsjahr 1918 haben wohl nur wenige Menschen vorausgesehen, dass Österreich-Ungarn binnen weniger Monate von der Landkarte Europas verschwinden würde. Aber noch weniger glaubten nach Kriegsende, dass es wieder auferstehen könnte. Die Monarchie, die sich als legitimer Erbe des Heiligen Römischen Reiches und Karls des Großen sah, schien als politische Idee tot zu sein, ein abgeschlossenes Kapitel der europäischen Geschichte. Keine ernstzunehmende politische Kraft erhob Anspruch auf eine Tradition, die allgemein als zweifelhaft angesehen wurde, und die Mehrheit der Historiker betrachtete die Monarchie retrospektiv als dem Untergang geweiht. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich diese Beurteilung von Österreich-Ungarn jedoch rasch zu ändern. Westliche Historiker blendeten die behauptete Rückständigkeit aus und konzentrierten sich auf die positiven Aspekte des politischen Erbes. Insbesondere wurden dabei die Multikulturalität und eine Tendenz zum Liberalismus hervorgehoben. Nach und nach wurde Österreich-Ungarn zum Sinnbild einer Epoche des Friedens und der Stabilität, wirtschaftlichen Wohlstands und einer blühenden Kultur. Die Monarchie wurde als leuchtendes Zentrum geistigen und künstlerischen Lebens wiederentdeckt, das nun faszinierend modern und originell wirkte. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus befassten sich immer mehr Studien mit den entlegensten Ecken der Monarchie, den Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie sowie den lokalen Nuancen des politischen und kulturellen Erbes der Habsburger. Der Aspekt der früheren Unterdrückung und Fremdherrschaft trat in den Hintergrund, zumal die meisten Nachfolgestaaten der Europäischen Union beitraten. Heute, mehr als ein Jahrhundert nach ihrem Ende, erhebt sich die Frage, warum die Monarchie überhaupt untergegangen ist und warum man sie überhaupt abgelehnt haben konnte? Im Folgenden werde ich zu erklären ver-
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suchen, wie diese positive Wandlung ihres Images möglich war. Dazu muss man in die Zwischenkriegszeit zurückblicken, als die Aussichten dafür nicht allzu glänzend erschienen.1 *** Es gibt gewiss faktische oder besser objektive Gründe, warum sich das posthume Image der Habsburgermonarchie so deutlich verbessert hat. Diese sind allgemein bekannt, darum will ich sie in nur wenigen Sätzen zusammenfassen. Zum einen ließen die überraschenden Folgen des Ersten Weltkriegs Millionen von Menschen auf eine neue Ära in der europäischen Geschichte hoffen. Ein Zeitalter der Demokratie und des Friedens sollte die Epoche der blutigen Rivalitäten zwischen den Großmächten ablösen. Die territorialen Veränderungen auf Grundlage der Pariser Friedenskonferenzen von 1919 hinterließen jedoch bei einigen Ländern, insbesondere bei Deutschland und Ungarn, eine tiefe Frustration. Darüber hinaus enttäuschte die harte Realität der Zwischenkriegszeit mit der Weltwirtschaftskrise und dem Aufstieg totalitärer Regime diese Hoffnungen. Den Ländern Zentraleuropas mangelte es an politischer Stabilität und sie litten stärker unter der Wirtschaftskrise als der Westen. Diese düsteren Umstände begünstigten eine Nostalgie für die »gute alte Zeit« des Wohlstands, der Stabilität und des Optimismus – in anderen Worten für jene Zeit, als Österreich-Ungarn noch existiert hatte. Ein weiterer Faktor ist, dass der Nationalismus, der lange die alles dominierende Ideologie seiner Zeit schien und der Menschheit während des Ersten Weltkriegs sein fürchterliches Antlitz gezeigt hatte, durch den Zweiten Weltkrieg endgültig kompromittiert wurde. Dies veranlasste die politischen Führer Westeuropas, nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen, die die gegensätzlichen Interessen der Nationalstaaten versöhnen und die nationalistische Ideologie entschärfen sollte. Daraus entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Europäische Union. Dies begünstigte wiederum positive Reminiszenzen an Österreich-Ungarn, das für seinen übernationalen Charakter bekannt war und auch dafür, dass es beharrlich gegen den aufkommenden Nationalismus angekämpft hatte.
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Die folgenden Bemerkungen basieren auf meinen Überlegungen in: Adam Kożuchowski, The Afterlife of Austria-Hungary. The Image of the Habsburg Monarchy in Interwar Europe, Pittsburgh 2013.
Der diskrete Charme der Dekadenz und das posthume Fortleben Österreich-Ungarns
Wie auch immer, die meisten Menschen haben in ihrem Alltagsleben Wichtigeres im Sinn, als derartige komplexe Überlegungen anzustellen, und verlassen sich lieber auf die Darstellungen von Historikern und Schriftstellern. Um zu verstehen, wie sich das Bild der Monarchie veränderte, müssen wir daher in das Reich der Literatur eintauchen und in das Jahr 1918 zurückgehen, als das Nachleben Österreich-Ungarns begann.2 Einer der Schlüsselaspekte der historischen Auseinandersetzung mit der Monarchie, den man hervorheben muss, ist, dass praktisch alle an der Diskussion Beteiligten – einschließlich jener, die sie verurteilten, und jener, die sie hochschätzten – darin übereinstimmten, dass sie unwiderruflich vergangen war. Österreich-Ungarn gehörte als Anachronismus ganz und gar der Vergangenheit an, lautete der Befund. Ob man sie gemocht hatte oder nicht, es war nicht zu bestreiten, dass sie zum Zerfall verurteilt war. Dieses simple Verdikt wurde von allen Teilnehmern an der Debatte unablässig wiederholt oder zumindest stillschweigend impliziert. Überraschend ist, dass das gerade von jenen Autoren am freimütigsten aufgezeigt wurde, deren Einstellung zur Monarchie von Sympathie bis hin zu Schwärmerei geprägt war. Zum Beispiel betonten die beiden Wirtschaftshistoriker Gusztáv Gratz und Richard Schüller in der Einleitung zu ihrem Werk Economic Policy of Austria-Hungary During the War in Its External Relations: »We may regret its fall; for it is possible still to hold, with Palmerston, that if an ›Austria‹ did not exist, it would be necessary to create one […]. Yet the Monarchy, whatever its uses, was an anachronism.«3 Der österreichische Historiker Alfred Francis Pribram schloss sein Buch Austrian Foreign Policy mit einer ähnlichen Formel: »Regrets, however, are of no avail. History has pronounced its verdict. Austria-Hungary is no more.«4 Das Verblüffende an diesen Urteilen ist, dass deren Urheber zwar den Untergang Österreich-Ungarns offen bedauerten, aber sich trotzdem genötigt sahen, vehement zu bestreiten, dass dieser irgendwie verhindert hätte werden können. Wenn auch nicht direkt unlogisch, so ist diese Schlussfolgerung zumindest nicht gerade einleuchtend. Es scheint fast, dass der Gedanke,
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Für den jüngsten Beitrag zum habsburgischen Erbe im Österreich der Zwischenkriegszeit vgl. Carlo Moos, Habsburg post mortem. Betrachtungen zum Weiterleben der Habsburgermonarchie, Wien/Köln/Weimar 2016. Gusztáv Gratz/Richard Schüller, The Economic Policy of Austria-Hungary during the War in its External Relations, New Haven/CT 1928, S. xxiii. Alfred Francis Pribram, Austrian Foreign Policy, 1908–1918, London 1923, S. 128.
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dass Österreich-Ungarn hätte fortbestehen können, nicht nur ein politischer, sondern auch ein intellektueller Skandal gewesen sein muss. Die Gründe dafür können unter dem Begriff »Anachronismus« subsummiert werden. Die Habsburgermonarchie wurde als altersschwacher Greis dargestellt, als ein vorsintflutliches Konzept, für das in der modernen Welt kein Platz mehr war. Verfall und Auflösung wohnten diesem Verständnis von seiner »Natur« immanent inne. Entsprechend dieser Auffassung behauptete der österreichische Historiker Viktor Bibl, der Verfasser einer dreibändigen Abhandlung zum Zerfall der Monarchie, dass man weniger vom Untergang der Monarchie im Jahr 1918 überrascht sein durfte, als vielmehr davon, dass sie bis 1918 überlebt hatte. Er nannte dies das »Mirakel« des Hauses Österreich.5 Im Nachhinein sei jedem klar gewesen, dass sich Österreich-Ungarn seit Jahrzehnten in Auflösung befunden hatte. Was generell als der problematischste Aspekt der Monarchie gesehen wurde und sie zu einem Anachronismus machte, war ihr nicht-nationaler Charakter, der sich in einem Mangel an »einer beflügelnden neuen Idee« äußerte, wie der Wiener Historiker Heinrich Srbik formulierte.6 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde nationale Identität als die einzige solide und verlässliche Quelle politischer Legitimation angesehen. Die Nationalstaaten bildeten entsprechend diesem Verständnis ihrem Wesen nach moderne politische Einheiten, während die auf dem dynastischen Prinzip gegründete Habsburgermonarchie in politischen Dimensionen verhaftet zu sein schien, die antiquiert und unhaltbar waren. Abgesehen von einer gewissen Gruppe wie Ex-Ministern und anderen hohen Beamten, die aus persönlichen Gründen daran interessiert waren, den Ruf der Monarchie zu verteidigen, kamen nur wenige Autoren zum Schluss, dass das Alte Österreich nicht dem Untergang geweiht war oder gar aus der Asche wieder auferstehen könnte. Um diese Auffassung zu untermauern, wurde häufig Polen als Beispiel herangezogen. Es diente dabei interessanter Weise sowohl als negatives wie auch als hoffnungsvolles Gegenstück einer Nation, die ihre Eigenstaatlichkeit verloren hatte und der es gelungen war, diese wiederzuerlangen. Zum Beispiel konstatierte der deutsche Historiker Wilhelm Schüßler, dass der Zustand der Monarchie nicht so beklagenswert
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Viktor Bibl, Die Tragödie Österreichs, Leipzig/Wien 1937, S. 13. Heinrich von Srbik, Erzherzog Albrecht, Benedek und der altösterreichische Soldatengeist, in: ders., Aus Österreichs Vergangenheit. Von Prinz Eugen zu Franz Joseph, Salzburg 1949, S. 107–140, hier S. 132f.
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wie allgemein angenommen gewesen sei, und krönte seine Argumentation mit der etwas überraschenden Analogie: »Es muß Leben darin gewesen sein, starkes Leben, anders als in dem alten Polen des 18. Jahrhunderts.«7 Leopold Andrian glaubte daran, dass die Monarchie – ebenso wie es Polen nach 120 Jahren der Aufteilungen gelungen war – durchaus auferstehen könnte; dafür sah er allerdings göttliches Eingreifen als Voraussetzung an.8 Dennoch erscheint die Einhelligkeit der Meinungen, dass Österreich-Ungarn zum Untergang verurteilt gewesen sei, als etwas schizophren, wenn man bedenkt, dass die Debatten der Zwischenkriegszeit viel Aufmerksamkeit auf die Frage verwendeten, was getan hätte werden können, um die Monarchie zu retten, und wer für ihren endgültigen Zusammenbruch verantwortlich zu machen sei. Folgende Probleme wurden hitzig diskutiert: Was man hätte tun können, um die Nationalitäten zufriedenzustellen, ob der Ausgleich von 1867 ein fataler Fehler war oder wie man den Kriegsausbruch 1914 hätte verhindern können.9 Die Liberalen beschuldigten die Konservativen und umgekehrt, und alle Übrigen beschuldigten die Ungarn wegen ihrer fürchterlichen Eigensinnigkeit. Und dennoch waren diese Auseinandersetzungen von einem Fatalismus überschattet, der am besten bei Bibl in seiner Diskussion der Reformpläne des glücklosen Erzherzog Franz Ferdinand zum Ausdruck kommt. In seinem Zögern zwischen einer Föderalisierung und dem so genannten Trialismus, so Bibl, habe der Erzherzog erkannt, dass die gegensätzlichen Ansprüche der Nationalitäten letztlich unlösbar seien und alle seine Pläne zum Scheitern verurteilt waren, nicht zuletzt aufgrund der widersprüchlichen Natur ihres Gegenstandes, der »Tücke des Objekts« – von Österreich-Ungarn selbst.10 Ganz offenbar war die allgegenwärtige Betonung des ehrwürdigen Alters von Österreich-Ungarn aber in erster Linie eine rhetorische Figur. Sie rührte zum Teil von der offiziellen staatlichen Propaganda her, die sich mit Stolz auf 7 8 9
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Wilhelm Schüßler, Österreich und das deutsche Schicksal. Eine historisch-politische Skizze, Leipzig 1925, S. 8. Vgl. Leopold Andrian, Österreich im Prisma der Idee. Katechismus der Fü hrenden, Graz 1937, S. 370–403. Im Hinblick auf die Historiografie zu alternativen Szenarien für Österreich-Ungarn und den Ersten Weltkrieg vgl. Adam Kożuchowski, An Unintended but Planned Suicide: Nationalities, the Monarchy, and the Great War in the Interwar Historiography, in: Heeresgeschichtliches Museum Wien (Hg.), Der Erste Weltkrieg und der Vielvölkerstaat (Acta Austro-Polonica 4), Wien 2012, S. 243–252. Vgl. Viktor Bibl, Der Zerfall Österreichs. Von Revolution zu Revolution, Wien 1922, S. 402–430.
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althergebrachte Traditionen berief, wie das Heilige Römische Reich und die innige Verbindung der Monarchie zur katholischen Kirche. Die talentiertesten Anwälte der Monarchie wie Hugo von Hofmannsthal bezogen sich mit großer Begeisterung auf diese Sinndeutungen. Es sei nicht von geringer Bedeutung, so erklärte er in seinem Essay »Die österreichische Idee«, dass Österreich auf eine elfhundertjährige Tradition als Mark des Heiligen Römischen Reiches zurückblicken konnte und sogar auf eine über zweitausendjährige Geschichte als römische Grenzkolonie, »und seine Idee in dem einen Fall von den römischen Kaisern, im anderen von Karl dem Großen, ihrem Nachfolger im Imperium, her hat.« Dauerhaftigkeit, so argumentierte Hofmannsthal, sich auf Machiavelli beziehend, sei das wahre Ziel aller Herrschaftsformen, das über allen anderen steht: »Die geographische Situation, eine Sache, die an sich unveränderlich scheint und doch immer neuen Interpretationen unterliegt, und das Alter, ein Phänomen, an das wenig oder nur mit der gelegentlichen Geringschätzung des Halbverstandes gedacht wird, wo man doch jener Zeilen des Machiavell [sic!] nicht hätte vergessen sollen, die klar und unzerstörbar sind, wie jeder Bruchteil seines politischen Denkens: ›Was den Staat betrifft, so ist die Form seiner Regierung von sehr geringer Bedeutung, obwohl halbgebildete Leute anders denken: das große Ziel der Staatskunst sollte Dauer sein, welche alles andere aufwiegt‹.«11 In seiner berühmten Radioansprache »Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation« von 1927, in der er von einer »konservativen Revolution« spricht,12 stellte Hofmannsthal die Werte, die von der Monarchie verkörpert wurden und in der natürlichen Ordnung gegründet seien, gesegnet von Gott und beschützt von der Tradition, jenen der »oberflächlichen Modernität« gegenüber.13 Andere konservative Bewunderer der Monarchie wie die Autoren des Bandes Österreich und die Reichsidee, der 1937 erschien, hoben ebenso unermüdlich hervor, dass sie die ehrwürdigsten Traditionen verkörperte,
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Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Die österreichische Idee (1917), in: ders., Österreichische Aufsätze und Reden, Wien 1956, S. 104–108, hier S. 105f. Hugo von Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation [Rede, gehalten im Auditorium maximum der Universität München am 10. Januar 1927], in: ders., Reden und Aufsätze III 1925–1929 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), Frankfurt a.M. 1980, S. 41. Vgl. Martin Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1971, S. 169ff.
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wie die »übernationale, föderalistische Staatsidee«, die im Alten Rom entstand und unter Karl dem Großen erblühte.14 Die Vergleiche mit früheren Zeitaltern waren sehr populär unter Autoren, die sentimentale Gefühle für Österreich-Ungarn hegten, wie bei Franz Werfel: »There may have been, in the days when Rome fell and new states sprang up on her soil, generations like ours.«15 Auch der österreichische Historiker Heinrich Benedikt insistierte, dass der Untergang der Monarchie »den nur mit dem Fall Roms vergleichbaren Umsturz der Weltordnung«16 darstellte. Der katholische Schriftsteller Alfred Missong erklärte: »Der österreichische Mensch […] ist rassisch eine Synthese von Germanentum und Slawentum, geistig eine Synthese von Römertum und Byzantinertum und der Form nach ist er durchaus Lateiner«.17 Noch in den 1960er Jahren erklärte der österreichische Essayist Herbert Eisenreich seinen Leser:innen, dass »die Einzigartigkeit und Größe Österreichs dem Umstand zu verdanken ist, dass es wie Athen ein Marktplatz und Schmelztiegel der Ideen« gewesen sei.18 Kurzum, der Gedanke, dass Österreich-Ungarn eine überkommene, antiquierte Idee und die Habsburger ein »altes Haus« seien, beruhte nicht nur auf Anti-Habsburg-Propaganda. Das gesamte Vokabular, seine Fixierung auf das ehrwürdige Alter der Monarchie und antike Traditionen als das hauptsächliche ideologische Fundament entstammen der Feder jener, die sie verherrlichen wollten. Diese Tendenzen leiteten sich ganz klar von der offiziellen Staatspropaganda aus der Zeit vor 1918 her und waren zum Teil auch das Ergebnis der zeitgenössischen Konstellation in der Geschichtsschreibung und der historischen Vorstellungswelt im Allgemeinen. Es gilt zu bedenken, dass im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Vergangenheit wesentlich höher geschätzt wurde als heute und ehrwürdige Traditionen nicht nur von Monarchen und ihren Höfen, sondern von den sozialen Eliten insgesamt als erstrebenswerte Quelle von 14 15 16 17
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Julius Wolf/Konrad J. Heilig/Hermann M. Görgen, Österreich und die Reichsidee, Wien 1937, S. 1–34. Franz Werfel, An Essay upon the Meaning of Imperial Austria, in: The Twilight of a World, trans. Helen T. Lowe-Porter, New York 1937, S. 4. Heinrich Benedikt, Die Monarchie des Hauses Österreich. Ein historisches Essay, München 1968, S. 8. Alfred Missong, Österreichs Politik seit 1866/67. Eine politische Gewissenserforschung, in: August M. Knoll et al., Die österreichische Aktion. Programmatische Studien, Wien 1927, S. 111. Zit. n. Norbert Leser (Hg.), Das geistige Leben Wiens in der Zwischenkriegszeit, Wien 1981, S. 103.
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Legitimation betrachtet wurden. Effizienz, abstrakte Zahlenspiele und statistisch messbarer Fortschritt standen weniger hoch auf der Skala politischer Respektabilität – aber diese veränderte sich nach 1918 sehr schnell und die Apologeten Österreich-Ungarns passten ihre Argumentation nur zögerlich dem neuen Trend an. In jedem Fall war die Metapher des ehrwürdigen Alters zweischneidig, und in der Zeit nach 1918 herrschte die Ansicht vor, dass Österreich-Ungarn, wenn es im Konflikt mit der Modernität stand, naturgemäß daran zerbrechen musste. Die Vergleiche mit Athen, Rom und dem Byzantinischen Reich erweckten Bilder einer prächtigen, aber entfernten und dekadenten Vergangenheit. Die Attribute hohen Alters waren verehrungswürdig, aber auch mit naheliegenden Assoziationen von Schwäche und Agonie gepaart. Alle diese Merkmale sind der gemeinsame Schlüssel für die historischen Begründungen zum Schicksal Österreich-Ungarns, wobei das Bild vom hohen Alter in vielen Fällen dominant war. *** Ihr Ende wirkte dämpfend auf die Kritiklust der Feinde der Monarchie und war dafür um so inspirierender für ihre Sympathisanten. Solange sie existierte, hatte sie eine ganze Reihe kluger Kritiker unter ihren Feinden, wie zum Beispiel Thomas Masaryk oder R. W. Seton-Watson. Nach 1918 widmeten ihr diese Autoren jedoch auffallend geringe Aufmerksamkeit. Eben weil man die Monarchie als Anachronismus betrachtete, die gegen die Modernität – oder vielmehr gegen die Geschichte selbst – angekämpft hatte, sei ihr Kampf zum Scheitern verurteilt gewesen. Als sie schließlich unterging, habe es keinen Sinn mehr gehabt, ihren Zerfall aufzuhalten. Was mit Österreich-Ungarn geschah, hatte man offenbar erwartet, und seine Gegner sahen wenig Erklärungsbedarf dafür. Sie brauchten sich nur mehr selbst zu beglückwünschen und die Habsburger so schnell wie möglich zu vergessen. Tatsächlich war es schon vor dem Ersten Weltkrieg eine typische Strategie der nationalen Geschichtsschreibungen in den späteren Nachfolgestaaten, die Habsburger zu ignorieren, und das Jahr 1918 scheint hier keinen grundlegenden Wandel in der Einstellung bewirkt zu haben. Für Josef Pekař, einen führenden tschechischen Historiker und den intellektuell begabtesten Gegenspieler Masaryks, bedurfte es nur geringer Mühe, sein Werk Dějiny naší říše [Geschichte unseres Reiches], das 1914 erschienen war, zu überarbeiten, sodass er es 1918 als Dějiny československé [Geschichte der Tschechoslowakei] publizieren konnte.
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In beiden Versionen war die tschechische Nationalgeschichte der zentrale Gegenstand, und Österreich spielte darin, ebenso wie die Slowakei, nur eine marginale Rolle. Ebenso wenig eine zentrale Stellung hatte die Monarchie in Jan Opočenskýs Werk Der Untergang Österreichs und die Entstehung des Tschechoslowakischen Staates, das 1928 veröffentlicht wurde. Dieser tschechische Historiker setzte das Vorurteil seiner Leserschaft voraus, dass die österreichische Monarchie eine feudale, korrupte und unterdrückende Macht gewesen war, die ein Hindernis für die Bestrebungen einer nationalen Eigenständigkeit der Tschechen und Slowaken gebildet hatte. Diese Haltung war zum Teil Ergebnis des vorherrschenden Trends einer nationalen Geschichtsschreibung in jener Zeit und zum Teil auch der antihabsburgischen politischen Orientierung. Der häufigste Vorwurf, den die Monarchie im Nachhinein erntete, betraf die geistige Verfassung ihrer Eliten, die gerne als völlig inkompetent dargestellt wurden. Diese Kritik war aber durchaus gemäßigt und weit davon entfernt, wüste Attacken auf deren moralische Grundsätze und politische Prinzipien zu sein. Nach 1918 belustigten sich ihre alten Feinde eher über die Monarchie als sie zu verdammen. Dies lässt sich anhand der Erinnerungen zweier Politiker zeigen, die gewiss keine Freunde des »alten Österreich« waren. Einer der beiden war Ignacy Daszyński, ein polnischer Sozialist und ehemaliger Abgeordneter des österreichischen Reichsrats: »Dem alten Kaiser folgte Karl, ein Schwächling unreifen Geistes, der bisweilen einfach nur den Eindruck harmloser Dummheit erweckte. Die zwei Jahre seiner Herrschaft waren eine Zeit des Niedergangs und schließlich des vollkommeneren Zusammenbruchs […]. Die Regierung Clam-Martinic stürzte wegen der typischen aristokratischen Unfähigkeit des Ministerpräsidenten und seiner Ministerkollegen. Er wurde durch einen gewissen Dr. Seidler ersetzt, einen ehemaligen Lehrer Kaiser Karls. Er war der kurioseste Ministerpräsident, den ich je gesehen habe (und ich habe ein paar Dutzend davon gesehen!). Er war kleinkariert, aufrichtig, ziemlich dumm und so naiv, dass ich einmal in meiner Rede, heftiges Gelächter in der Kammer hervorrufend, die Frage stellte: ›Haben Sie jemals, meine Herren, ein Kind dieses Alters gesehen?‹ Und solch ein Mann hat über ein ganzes Jahr hinweg den Posten des Ministerpräsidenten des niedergehenden Österreich innegehabt.«19
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Ignacy Daszyński, Pamiętniki, Warschau 1957, S. 99, S. 254, S. 270.
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Der andere Zeitzeuge ist Leo Trotzki, der bei Aufenthalten in Wien vor 1914 mit der Elite der Sozialdemokratischen Partei verkehrte und hier nicht näher vorgestellt werden muss. Er erinnerte sich an diese Zeit: »They were well-educated people whose knowledge of various subjects was superior to mine. I listened with intense and, one might almost say, respectful interest to their conversation in the ›Central‹ café. But very soon I grew puzzled. These people were not revolutionaries. Moreover, they represented the type which was farthest from that of the revolutionary. This expressed itself in everything – in their approach to subjects, in their political remarks and psychological appreciations, in their self-satisfaction – not self-assurance, but self-satisfaction. I even thought I sensed philistinism in the quality of their voices.«20 Der Ton dieser recht drastischen Einschätzungen reicht von Spott im ersten Fall bis hin zu Sarkasmus im zweiten. Daszyńskis Erinnerungen könnte man leicht mit den bekannten satirischen Porträts aus der Feder der damaligen Dichterelite, wie zum Beispiel Jaroslav Hašek, Robert Musil oder Fritz von Herzmanovsky-Orlando, verwechseln. Das Alte Österreich in diesen Zeugnissen, so bitter sie klingen, war alles andere als ein bedrohlicher Feind. Es war zu unbeholfen und hilflos, um stürmische Kritik zu verdienen. Es ähnelte einem alternden Aristokraten, der sich fahrlässig auf ein Geschäftsunternehmen eingelassen und dabei sein ganzes Geld verloren hatte, ohne es wahrzunehmen. Eine Großmacht in operettenhaftem Buffo-Stil, die in fiktionaler Gestalt als Kakanien, Tarokanien oder Tescovina bekannt wurde. Die Satire bildete das Lieblingsgenre der Monarchie-Kritiker in fiktionaler ebenso wie nichtfiktionaler Literatur – als eine im Grunde mächtige Waffe taugte sie jedoch nur wenig zu deren Dämonisierung, ebenso wenig zur Behandlung schmerzhafter Themen. Diese Tendenz kann man am besten anhand der Fülle an Literatur zu Kaiser Franz Joseph ablesen, jenem Herrscher, der übermächtig wie kein anderer die alte Ordnung verkörperte. Der Monarch (oft als »der letzte Kaiser« bezeichnet) personifizierte sein Reich in der Erinnerung seiner ehemaligen Untertanen, auch weil man sich an ihn nur als alten Mann erinnerte, gebeugt unter der Last seiner tragischen Erfahrungen und mit wachsender Beschwerlichkeit ankämpfend gegen die Wirklichkeit.
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Leon Trotsky, My Life: An Attempt at an Autobiography, New York 1970, S. 207.
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Franz Joseph hatte zahlreiche Biografen, deren Haltung gegenüber dem Herrscher von Bewunderung bis hin zu Irritation reichte. Ihre Diskussionen drehten sich vor allem um Fragen zu seiner Persönlichkeit und seinen individuellen Charakterzügen: War er tatsächlich ein weiser und weitsichtiger Politiker oder nur ein starrköpfiger und mittelmäßiger Mann, der den Einschätzungen seiner kriecherischen Berater vertraute. Eine hitzige Debatte entspann sich zwischen jenen, die seinen früh beginnenden Arbeitstag, die vielen Stunden, die er offensichtlich unwichtigsten Belangen widmete, und seine Gabe, sich an die Namen Hunderter Menschen erinnern zu können, als Beweise für seine Herrscherqualitäten sahen, und jenen, die ihn als »mittelmäßigen Postmeister« abtaten. Überraschend wenig Aufmerksamkeit wurde seiner politischen Philosophie und seiner Verantwortung für wichtige Entscheidungen gewidmet wie dem Ausgleich von 1867 oder dem Kriegsbeginn im Jahr 1914.21 Die vernichtendste Kritik betrifft seine letzten Lebensjahre, oft abgeschwächt durch Respekt vor seinem ehrwürdigen Alter. »Zweifach hat uns Franz Joseph unendlich geschadet […], einmal durch seine Jugend und das zweite Mal durch sein Alter«, schrieb der ehemalige Ministerpräsident Koerber,22 der damit wohl auch andeutet, dass der Kaiser für seine Fehler nicht wirklich verantwortlich war. Auch Schriftsteller trugen dazu bei, eine bewusste Entscheidung des Kaisers für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Abrede zu stellen, ebenfalls mit dem Hinweis auf sein hohes Alter. Wir finden eine fast identische Szene in den Werken von Franz Werfel und des polnischen Autors Józef Wittlin zu jenem Moment, als der Kaiser das Manifest »An meine Völker« unterzeichnete.23 Beide Autoren stellen es so dar, dass es das Schicksal selbst war, das die Berater des Kaisers verblendete, als sie ihn dazu bewegten, das Dokument zu unterzeichen, und bestritten damit seine Verantwortung für die im wahrsten Sinne des Wortes fatale Entscheidung. Es mag weiters überraschen, wie wenig Kritik die Monarchie von Seiten der Liberalen erntete. Eine mögliche Antwort darauf ist, dass in der ersten 21
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Vgl. E. C. C. Corti/Hans Sokol, Kaiser Franz Joseph, Wien/Graz 1960; Eugene Bagger, Franz Joseph. Eine Persönlichkeits-Studie, Zürich/Wien/Leipzig 1927; Karl Tschuppik, Franz Joseph I. Der Untergang eines Reiches, Hellerau 1928; Josef Redlich, Emperor Francis Joseph of Austria. A Biography, London 1929. Josef Schneider (Hg.), Kaiser Franz Joseph und sein Hof. Erinnerungen und Schilderungen aus dem Nachlass eines persönlichen Ratgebers, Wien 1919, S. 25f. Franz Werfel, An Essay upon the Meaning of Imperial Austria, in: ders., Twilight of a World, London 1937, S. 28f.; Józef Wittlin, Salt of the Earth, translated by Pauline de Chary, Chicago 1970, S. 10–15.
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Hälfte des 20. Jahrhunderts die Liberalen in Zentraleuropa nicht sehr zahlreich und ganz auf den Fortschritt hin orientiert waren. Aus diesem Grund hielten sie das Alte Österreich für hoffnungslos veraltet und dem Untergang geweiht. Eine andere These formulierte Ernest Gellner, der darauf hinwies, dass die »Pariah-Liberalen« in Zentraleuropa durch den Aufstieg von Nationalismus und Chauvinismus dermaßen eingeschüchtert waren – er bezeichnet diese Haltung als die »village green«-Ideologie –, dass sie paradoxerweise und contre coeur die Habsburger als Verbündete sahen.24 Es lohnt sich, dieses Argument wörtlich zu zitieren, weil es das Überdauern der Idee der unterstellten Antiquiertheit der Monarchie deutlich belegt: »The rickety structure, which was a survival of feudalism and baroque absolutism, somehow endeared itself to, and only to, the free-thinking liberal individualists (a strange metamorphosis indeed!) […] An old and rigid dynasty, long linked with hierarchy, authoritarianism, and obscurantist dogmatism, did not exactly look like promising material for being the symbol of the Open Society. But, comic as it might be, the logic of the situation made it so.«25 Kurz gesagt, beide Gruppen, sowohl jene, die Österreich-Ungarn aufgrund ihrer nationalen Gefühle ablehnten, als auch jene, die es aufgrund ihres Fortschrittsglaubens geringschätzten (und diese beiden fielen oft in eins) brachten kaum seriöse historiografische und politische Pamphlete gegen sein Erbe hervor.26 Sie sahen dieses als zu unbedeutend an, weil es in ihren Augen unfähig und überholt war. In einer Welt, die von nationaler Politik und nationalen Rivalitäten bzw. von Klassenkonflikten beherrscht war, gab es keinen Raum mehr für jene Prinzipien, die einst durch die Monarchie verkörpert worden waren, und daher auch keinen Bedarf, diese weiterhin zu erörtern. Die Habsburger waren aus der Perspektive der nationalen Geschichtsschreibungen ein letztes Kapitel, das die Epoche des Feudalismus, der Religionskriege und der dynas-
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Diese Haltung kann man unter anderem finden in Friedrich Hertz, Nationalgeist und Politik. Beitrage zur Erforschung der tieferen Ursachen des Weltkrieges, Vol. I.: Staatstradition und Nationalismus, Zürich 1937; Walter Kolarz, Myths and Realities in Eastern Europe, London 1946. Ernest Gellner, Language and Solitude: Wittgenstein, Malinowski and the Habsburg Dilemma, Cambridge 1998, S. 32f. Eine ganz klare Ausnahme ist die exzellente, zwar teils nostalgische, aber immer noch in hohem Maße zeitkritische Studie von Oscar Jászi, The Dissolution of the Habsburg Monarchy, Chicago 1929.
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tischen Politik beendete und zugleich den Grundstein für die folgende Epoche mit dem Titel »Moderne und Nationalstaat« legte. *** Eine bemerkenswerte Ausnahme von dieser Regel waren deutsche Historiker, die die Monarchie als unvollendetes Kapitel im Kampf der deutschen Nation um ihre Einheit in einem Staat betrachteten. Sie wollten ihren Leser:innen in Erinnerung rufen, dass die Habsburger dafür verantwortlich waren, dass die deutschen Österreicher von ihrem Vaterland getrennt worden waren, gleich einer offenen Wunde, die behandelt werden musste. Einige von ihnen setzten sogar die Schweizer und Holländer auf die Liste der Opfer habsburgischer dynastischer Politik. Keine andere Gruppe äußerte ebenso leidenschaftliche wie harte Kritik an den Habsburgern wie die großdeutschen Autoren.27 Zum einen bedauerten sie, dass Österreich ein Hindernis im deutschen Einigungsprozess war, zum anderen verurteilten sie den Ausgleich von 1867 mit Ungarn als eine »moralische Kapitulation« und beklagten den Einfluss ungarischer und anderer nichtdeutscher Elemente in der Monarchie (und dass man diese nicht zumindest teilweise germanisiert hatte). Sie waren voll Verachtung dafür, dass Österreich nicht schon lange vor 1914 Serbien zerschlagen hatte und Franz Ferdinand, der vermeintlich starke Mann, nie den Thron bestiegen hatte, um den Ungarn und anderen Nicht-Deutschen ihre verdiente Lektion zu erteilen. Schließlich kreideten sie Franz Joseph und Karl ihre Unentschlossenheit und ihren Mangel an militärischem Schwung an. Schon lange davor hatte die Dämonisierung Habsburgs als einer der tragischsten Größen in der deutschen Geschichte unter deutschnationalen Autoren eine lange Tradition, darunter einige der prominentesten protestantischen Historiker Deutschlands wie Johann Gustav Droysen oder Ludwig Häusser.28 27
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Vgl. zum Beispiel Alfred Rapp, Die Habsburger. Tragödie eines halben Jahrtausends deutscher Geschichte, Stuttgart 1936; Friedrich Kleinwaechter, Der Untergang der Oesterreichisch-ungarischen Monarchie, Leipzig 1920; Edmund von Glaise-Horstenau, Die Katastrophe. Die Zertrümmerung Österreich-Ungarns und das Werden der Nachfolgestaaten, Wien/Leipzig/Zürich 1929; Heinrich Kanner, Kaiserliche Katastrophenpolitik. Ein Stück zeitgenössischer Geschichte, Leipzig/Wien/Zürich 1922. Für Näheres dazu vgl. Georg G. Iggers, The German Conception of History. The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present, Middletown/CT 1968; Bernd Faulenbach, Die Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte
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Da es schließlich Adolf Hitler war, der den »Anschluss« Österreichs an Deutschland vollziehen sollte, aber die Unabhängigkeit der Republik Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt wurde, versiegte diese Strömung, so machtvoll und leidenschaftlich sie in der Zwischenkriegszeit war, mit dem Fall des »Dritten Reiches«. Mit dem Verstummen des deutschen Nationalismus waren die heftigsten Gegner des habsburgischen Erbes endgültig zum Schweigen gebracht. *** In seinem Werk The Decline and Fall of the Habsburg Empire weist Alan Sked darauf hin, dass die meisten historischen Diskussionen zu Österreich-Ungarn mehr oder weniger kontrafaktisch geführt werden: Das heißt, sie versuchen zu ergründen, ob der Untergang unvermeidlich war oder ob die Monarchie gerettet hätte werden können. Diese Versuche, so Sked, weisen ganz offensichtlich darauf hin, dass die Mehrheit der amerikanischen Historiker zur Auffassung neigt, es wäre besser gewesen, wenn die Monarchie nicht zerfallen wäre29 – wie etwa George Kennan, der 1979 feststellte: »The Austro-Hungarian Empire still looks better as a solution to the tangled problems in that part of the world than anything that has succeeded it.«30 Dieser Satz ist zugleich ein treffendes Resümee der Geschichtsschreibung zur Monarchie in der Zwischenkriegszeit. Derlei hypothetische Annahmen sind jedoch trügerisch. Die Autoren der Zwischenkriegszeit debattierten ebenso hitzig wie ihre amerikanischen Kollegen wenige Dekaden später, wie man die Monarchie erhalten hätte können, und waren doch zugleich überzeugt, dass sie nicht mehr gerettet werden konnte. Diese Einschränkung war die Voraussetzung dafür, dass erstere Annahme überhaupt getroffen werden konnte. Die ganze Diskussion um die »vertanen Möglichkeiten« konnte sich nur entspinnen, weil sie völlig abstrakt geführt wurde. Es war eine intellektuelle Fingerübung, ein Ausdruck von Habsburg-Sentimentalität und eine Kritik am Status quo nach 1918. Die Habsburger stellten nach dem Ersten Weltkrieg kaum mehr eine politische
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in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980; Niklas Lenhard-Schramm, Konstrukteure der Nation. Geschichtsprofessoren als politische Akteure in Vormärz und Revolution 1848/49, Münster 2014. Alan Sked, The Decline and Fall of the Habsburg Empire, 1815–1918, London 1989, S. 3. George F. Kennan, The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations, 1875–1890, Princeton 1979, S. 423.
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Option dar, weder in Österreich noch in Ungarn, sondern konnten bestenfalls als Andenken an die guten alten Tage von Frieden und Stabilität dienen. *** Aus dieser Tatsache ergaben sich zwei wichtige Konsequenzen: Zum einen konnte Österreich-Ungarn so würdevoll und stolz in das Reich der Fiktion eintreten. Wie andere versunkene Reiche hatte auch die Monarchie eine ganze Reihe talentierter Schriftsteller unter ihren Bewunderern und Apologeten – wie Joseph Roth, Heimito von Doderer, Alexander Lernet-Holenia, Franz Werfel, Stefan Zweig und viele weitere –, die es als ein Land des Friedens und der Stabilität verklärten, ein Reich, in dem »wahre« (also konservative) Werte noch respektiert wurden. Wichtiger noch erscheint, dass die Monarchie die Einbildungskraft von Dichtern wie Robert Musil, Fritz von Herzmanovsky-Orlando, Gregor von Rezzori und Franz Kafka anregte, die es als Folie für ihre phantastischen Geschichten benutzten. Sie verwandelten das Alte Österreich erfolgreich in ein erdichtetes Land, ein abstraktes Reich, das wie kein anderes gewesen war. Das Österreich, das sie beschrieben, ja eigentlich schufen, war entweder lächerlich oder furchteinflößend, aber niemals real. Eine der zentralen Eigenschaften des »Habsburgischen Mythos« in der Literatur ist, dass er das Alte Österreich außerhalb der Geschichte ansiedelte, oder zumindest außerhalb der Modernität mit ihren beständigen Veränderungen und Herausforderungen.31 Die literarische Transformation Österreich-Ungarns hin zur Abstraktion kann vielleicht am besten am Fall der berühmten und nicht zuletzt scharfen Satire gegen sein Militär studiert werden: Der brave Soldat Schwejk des tschechischen Anarchisten Jaroslav Hašek. Als radikales antihabsburgisches Pamphlet angelegt, wurde das Buch in einer gekürzten Version von Millionen Leser:innen als universelles pazifistisches Manifest verstanden; denn seinen ursprünglichen Kontext in Gestalt der Habsburgermonarchie gab es nach der Veröffentlichung des Schwejk nicht mehr. Zweitens wirkte Österreich-Ungarn anziehend auf eine besondere Spielart des historischen Interesses, nämlich jene, die durch die ihr unterstellte De-
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Diese Tradition reicht zurück bis ins 19. Jahrhundert, wie Claudio Magris in seiner bekannten Studie argumentiert: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Übersetzt aus dem Italienischen von Madeleine von Pásztory, Salzburg 1966 (ital. EA: 1963).
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kadenz geweckt wurde. Enttäuscht in seinem Ehrgeiz, als Großmacht zu bestehen, aber stolz auf seine Herkunft vom Alten Rom und Athen hinweisend, und repräsentiert durch den ehrwürdigsten und zugleich schwächsten der europäischen Monarchen, passte Österreich-Ungarn viel besser in das Stereotyp der Dekadenz als jeder seiner Rivalen. Dekadenz ist ein ambivalentes Konzept: Es wird mit politischer Bedeutungslosigkeit, aber auch mit kultureller Raffinesse und materiellem Reichtum verbunden. Von der Antike bis zur Aufklärung herrschte allgemein der Gedanke vor, dass sich Großmächte zyklisch entwickeln: Zu Anfang seien sie militant und aggressiv, aber wenn sie durch Eroberungen eine gewisse Machtposition erlangt hätten, dann würden sie die alten kriegerischen Tugenden vergessen, um ihren Reichtum und die Früchte einer verfeinerten und gehobenen Kultur zu genießen, sodass sie schließlich ihren ärmeren und barbarischen Nachbarn zum Opfer fallen. Diese Theorie, die auf den antiken Historiker Polybios32 zurückgeht, wurde inzwischen verworfen, aber ihr Einfluss erstreckte sich auch auf die Vorstellungskraft späterer Autoren und ihr Nachhall hat sich in vielen Geschichtswerken zum spätkaiserlichen Rom, zu Byzanz oder zur chinesischen Kultur niedergeschlagen. Österreich-Ungarn, als Reich des Walzers, der Operetten und der adeligen Bälle, der Geburtsort der Psychoanalyse, des Zionismus, des Masochismus und der atonalen Musik, passt perfekt in dieses Schema. Je mehr es in politischer Hinsicht verfiel, desto fruchtbarer erwies sich sein Boden für eigenständige kulturelle und künstlerische Hervorbringungen. Daneben profitierte, wie bereits angemerkt, das Image Österreich-Ungarns vom Niedergang seines Hauptgegners, des Nationalismus. Seit den 1970er Jahren hat eine Fülle von Studien zur Neubewertung und Stigmatisierung dieser Ideologie als Hauptgrund für alles Unheil in der europäischen Geschichte der vergangenen zwei Jahrhunderte beigetragen. Dadurch erschien Österreich-Ungarn in einem neuen Licht, als das wahrscheinlich toleranteste, liberalste und übernationalste aller Vielvölkerreiche – ganz im Gegensatz zu dem herrschenden Bild, als es noch existiert hatte. Das neu gewonnene Image
32
Vgl. Alexander Demandt, Zum Dekadenzproblem, in: ders., Zeit und Unzeit. Geschichtsphilosophische Essays, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 99–110; Frank W. Walbank, The Idea of Decline in Polybius, in: Reinhart Koselleck/Paul Widmer (Hg.), Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema, Stuttgart 1980, S. 41–58; Peter Burke, Tradition and Experience. The Idea of Decline from Bruni to Gibbon, in: G. W. Bowersock/John Clive/Stephen R. Graubard (Hg.), Edward Gibbon and the Decline and Fall of the Roman Empire, Cambridge, Mass. 1977, S. 87–102.
Der diskrete Charme der Dekadenz und das posthume Fortleben Österreich-Ungarns
der Monarchie verdankt sich ebenso der Tatsache, wie ebenfalls schon oben angemerkt, dass sie vom Nationalismus zerschlagen wurde. Sie genießt einen Opferstatus, trotz der Unterscheidung – umstritten, aber doch gängig in der westlichen Wissenschaft – zwischen »staatsbürgerlichem« und »ethnischem« Nationalismus, die beide typisch für Völker mit oder ohne Eigenstaatlichkeit in West- oder Osteuropa sind. Die Frage, ob Österreich als politische Klammer für das östliche Zentraleuropa den Aufstieg des Nationalismus in dieser Region gehindert oder gefördert hat, kann ebenfalls nur hypothetisch beantwortet werden. Die Idealisierung der Monarchie setzte jedenfalls ein, als Studien zu Großreichen wieder in Mode kamen. Diese Forschungsperspektive scheint der Monarchie wohlgesonnen zu sein als der schwächsten (und damit friedlichsten) unter den modernen Großmächten, deren Reputation nie durch die Ausbeutung außereuropäischer Kolonien getrübt worden ist. Eine kritischere Sicht zeigen die postkolonialen Studien auf, die von der Forschung zu Österreich-Ungarn und seinem Erbe mit Enthusiasmus übernommen wurden und die belegen, dass sich dieses Modell sehr wohl auch auf die Monarchie anwenden lässt.33 Ein fester Platz im Reich der Imagination und in der Forschung hat Österreich-Ungarn endgültig unsterblich werden lassen.
33
Vgl. Johannes Feichtinger/Ursula Prutsch/Moritz Csáky, Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 2), Innsbruck u.a. 2003; Wolfgang Müller-Funk/Peter Plener/Clemens Ruthner (Hg.), Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen 2002; Klemens Kaps/Jan Surman (Hg.), Galicia postcolonial. Prospects and Possibilities (Historyka. Studia Metodologiczne 42), Kraków 2012.
337
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Puchingers Allegorie auf das allgemeine Männerwahlrecht für die Kaiser-Festnummer von Österreichs Illustrierter Zeitung, 2.12.1908. Abb. 2.: Nochsitzcola. Die Jägermeistersammlung von KLE, www.hochsitzcola.de/?s=Kafka (abgerufen am 15.1.2023). Abb. 3: Dank den Habsburgern, in: Die Unzufriedene 2 (15.11.1924) 46, S. 1. Abb. 4: Habsburgs Krieg gegen die eigenen Völker, in: Der Kuckuck 3 (26.4.1931) 17, S. 2.
Autor:innenverzeichnis
Dieter A. Binder lehrte Neuere Österreichische Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Graz und ist Leiter des Lehrstuhls für Kulturwissenschaften an der Andrássy Universität Budapest. Andrei Corbea-Hoişie ist Professor für Deutsche Literatur an der Universität Jassy/Iași und Projektleiter am Institut für Sozial- und Geisteswissenschaften der Rumänischen Akademie in Hermannstadt/Sibiu. Moritz Csáky ist Professor emeritus für Österreichische Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Graz und Gründungsdirektor des Instituts für Kulturwissenschaften an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Johannes Feichtinger ist Direktor des Instituts für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Dozent für Neuere Geschichte an der Universität Wien. Gregor Feindt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Franz L. Fillafer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wolfgang Göderle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Universität Graz.
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Das integrative Empire
Steffen Höhne ist Professor für Kulturwissenschaft und -management am Institut für Musikwissenschaft der Hochschule für Musik Weimar und der Universität Jena. Dietlind Hüchtker ist Professorin für Historische transregionale Studien am Fakultätszentrum für transdisziplinäre historisch-kulturwissenschaftliche Studien der Universität Wien. Reinhard Johler ist Professor für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen, Direktor des Ludwig-Uhland-Instituts und wissenschaftlicher Leiter des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde. Adam Kożuchowski ist Professor am Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Jana Osterkamp ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Collegium Carolinum und lehrt als Dozentin an der Universität München. Alexander Pinwinkler ist Dozent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien und Lehrbeauftragter am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg. Werner Suppanz ist Assoziierter Professor am Institut für Geschichte der Universität Graz. Heidemarie Uhl ist Senior Research Associate am Institut für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Dozentin für Zeitgeschichte an der Universität Graz. Jan David Zimmermann ist Wissenschaftshistoriker und freier Autor in Wien.
Index
A Addams, Jane, 102 Áder, János, 71 Adler, Paul, 235 Anderson, Benedikt, 14 Andrian, Leopold, 325 Andrian-Werburg, Ferdinand Leopold Freiherr von, 121 Andrian-Werburg, Viktor Franz Freiherr von, 90 Anich, Peter, 88 Arendt, Hannah, 246, 247 Aubin, Hermann, 178, 180, 182–184, 187 Auden, Wystan Hugh, 247, 253 Ausobsky, Alois, 285 B Babić, Luka, 117 Bachtin, Michail M., 147, 148 Bahr, Hermann, 162 Ballinger, Pamela, 138 Barnett, Samuel und Henrietta, 102, 103 Bartels, Adolf, 235 Bartók, Béla, 153, 154 Bauer, Otto, 304
Baum, Oskar, 253 Bauman, Zygmunt, 126, 128 Beck, Torton, 244 Becker, M.[oritz] A.[Alois] von, 123 Beicken, Peter U., 254, 255 Benador, Ury, 217 Benedikt, Heinrich, 327 Benjamin, Walter, 157, 167, 254 Benussi, Bernhard (Bernardo), 122, 132, 133 Bernhard, Thomas, 312 Bettauer, Hugo, 225 Beyer, Hans Joachim, 176–178, 187 Bhabha, Homi K., 148, 149 Bibl, Viktor, 324, 325 Binder, Dieter A., 24 Blei, Franz, 234 Boehm, Max Hildebert, 169 Bogdański, Robert, 277 Bolzano, Bernard, 157 Brix, Emil, 128 Broca, Paul, 121 Broch, Hermann, 160, 247 Brod, Max, 164, 234, 235, 238, 246–248, 253, 258, 260 Bruckmüller, Ernst, 311, 313
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Das integrative Empire
Brunner, Otto, 11, 184 Burbank, Jane, 94 C Camus, Albert, 251, 253 Čapek, Karel, 154 Caprin, Giulio, 135 Caputo-Mayr, Marie Luise, 255 Carossa, Hans, 220 Celan, Paul, 225 Certeau, Michel de, 147–149 Clam-Martinic, Heinrich, 329 Claß, Heinrich, 175 Cohen, Gary B., 14 Combi, Carlo, 133, 134 Conrad von Hötzendorf, Franz, 295–297, 301, 317, 318 Cooper, Frederick, 94 Corbea-Hoişie, Andrei, 22 Coreth, Anna, 303 Corngold, Stanley, 254 Crisculo, Vincenzo, 314 Csáky, Moritz, 15, 20, 24, 64 Czoernig, Karl Freiherr von, 91, 92, 95, 121, 122, 124–126, 131, 136 D d’Aviano, Marco, 314, 320 Dalos, György, 274 Dante Alighieri, 247 Daszyńska-Golińska, Sophie, 179 Daszyński, Ignacy, 329, 330 Deák, Ferenc, 71 Deak, John, 92 Demetz, Peter, 23, 243, 244, 256–261 Dobrila, Juraj, 138 Doderer, Heimito von, 335
Dollfuß, Engelbert, 24, 309, 314, 317, 318 Domnitz, Christian, 272 Dressel, Gert, 243 Droysen, Johann Gustav, 333 Duttlinger, Carolin, 237
E Eger, Friedrich von, 50 Eisenreich, Herbert, 327 Emrich, Wilhelm, 251 Enzensberger, Hans Magnus, 274
F Falk, Barbara, 275 Feichtinger, Johannes, 64, 118 Feindt, Gregor, 23 Ferdinand I., Kaiser von Österreich, 92 Ferdinand III., römisch-deutscher Kaiser, 49 Fillafer, Franz L., 18, 19 Fischer, Ernst, 244, 307 Franz Ferdinand, Erzherzog von Österreich, 325, 333 Franz I. (II.), Kaiser von Österreich, 49, 87, 92, 94, 95 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich, 41, 160, 284, 330, 331, 333 Franzos, Karl Emil, 223 Freud, Sigmund, 156 Friedrich II., König von Preußen, 315 Frings, Theodor, 203 Fuchs, Brigitte, 121 Fux, Hugo, 40
Index
G Gamillscheg, Ernst, 204 Gammerl, Benno, 94 García–Salmones Rovira, Mónica, 66 Gellner, Ernest, 14, 332 Gingrich, Andre, 118 Göderle, Wolfgang, 19, 124 Goebel, Rolf J., 254 Goethe, Johann Wolfgang von, 247 Gratz, Gusztáv, 323 Gray, Richard, 255
H Hall, Aleksander, 268–271 Harms, Victoria, 274 Hašek, Jaroslav, 25, 159, 330, 335 Häusser, Ludwig, 333 Havel, Václav, 270, 274, 279 Helbok, Adolf, 178 Heller, Erich, 244 Herder, Johann Gottfried, 145 Hermes, Roger, 228 Herzl, Theodor, 101 Herzmanovsky-Orlando, Fritz von, 330, 335 Hesse, Hermann, 234 Hitler, Adolf, 222, 244, 314–316, 334 Hobsbawm, Eric, 154 Hofmannsthal, Hugo von, 149, 150, 161–163, 252, 326 Höhne, Steffen, 22, 23 Höller, Christa, 311 Hüchtker, Dietlind, 19 Hueber, Blasius, 88 Hügel, Carl Alexander von, 90
I Ingrisch, Doris, 243 Ipsen, Gunther, 169 Iser, Wolfang, 164 Ive, Anton, 125 J Järv, Harry, 229 Jauß, Hans Robert, 164 Jennings, Michael, 254 Jesenská, Milena, 233 Johannes Paul II., Papst, 319 Johler, Reinhard, 20 Jolas, Eugene, 245 Joseph II., römisch-deutscher Kaiser, 19, 50, 79, 81, 82, 86, 89, 92 Judson, Pieter M., 10, 13, 16, 17, 27, 28, 35, 97, 118, 128, 261 Justi, Johann Heinrich Gottlob von, 86 K Kaes, Anton, 254 Kafka, Franz, 22, 23, 25, 164, 165, 227–231, 233–240, 242–249, 251–256, 259–261, 335 Kaindl, Raimund Friedrich, 21, 174 Kaiser, Nancy, 256 Kann, Robert A., 11, 12, 14, 261 Kapfhammer, Franz Maria, 310 Karl der Große, König und Kaiser des Fränkischen Reichs, 321, 326, 327 Karl I., Kaiser von Österreich, 305, 317, 319, 329, 333 Karl IV., röm.-deutscher Kaiser, 259 Kelly, John, 247
345
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Das integrative Empire
Kelsen, Hans, 57, 64–68, 70 Kennan, George, 334 Keyser, Erich, 180, 181, 183, 187 Kiš, Danilo, 160 Kjelléns, Rudolf, 67 Klahr, Alfred, 307 Kleist, Heinrich, 235 Kloepfer, Hans, 308 Kobryns’ka, Natalja, 106–108 Koch, Hans, 177 Koerber, Ernest von, 331 Konrád, György, 23, 24, 266–276, 279 Koren, Hanns, 308, 310 Koselleck, Reinhart, 99 Kożuchowski, Adam, 25 Kralik, Dietrich von, 201 Kranzmayer, Eberhard, 193, 194, 198, 200, 203, 204, 206–209 Kraus, Karl, 249, 285 Kreisky, Bruno, 306 Krleža, Miroslav, 160 Kroh, Oswald, 177 Kruitzer, Gijs, 49 Kudler, Joseph von, 51, 57, 58 Kuhn, Ernst, 195 Kuhn, Walter, 176, 182, 183, 187 Kulischer, Alexander, 179–181 Kulischer, Eugen, 179–181 Kundera, Milan, 23, 24, 237, 263, 265–271, 273–278 Kvapil, Jaroslav, 162 L Lampl, Fritz, 238 Laun, Andreas, 320 Lefebvre, Henri, 154 Leopold I., römisch-deutscher Kaiser, 314
Lernet-Holenia, Alexander, 335 Lessiak, Primus, 193 Lipski, Józef, 270, 271, 279 Lotman, Jurij M., 143, 146–149, 152, 153 Ludendorff, Erich, 173 Ludwig XIV., französischer König, 48 Lüers, Friedrich, 205 Luft, Robert, 35 Lungstrom, Janet Ward, 254 Lux, Joseph August, 313, 316 M Mácha, Karel Hynek, 258 Machiavelli, Niccolò, 326 Magris, Claudio, 159 Maine, Henry S., 48 Malinowski, Bronislaw, 145 Mann, Klaus, 234, 246 Mann, Thomas, 234, 246, 252 Maria Theresia, Erzherzogin von Österreich, Königin von Böhmen und Ungarn, 19, 79, 85, 86, 315 Martin, Bernhard, 203 Martini, Karl Anton von, 52 Masaryk, Thomas, 328 Mauthner, Fritz, 156, 157 Mell, Max, 220 Meringer, Rudolf, 129 Meyrink, Gustav, 235, 259 Michnik, Adam, 274 Miglia, Guido, 139 Miklas, Wilhelm, 292, 293 Miklosich, Franz Xaver Ritter von, 125, 129 Mikrut, Jan, 314 Missong, Alfred, 307, 308, 327
Index
Mouffe, Chantal, 163 Mozart, Wolfgang Amadeus, 259 Muchitsch, Vinzenz, 284, 285 Muir, Edwin, 245, 246 Muir, Willa, 245, 246 Mukařovsky, Jan, 257 Musil, Robert, 25, 118, 159, 160, 238, 253, 330, 335 N Napoleon Bonaparte, französischer Kaiser, 316 Naumann, Friedrich, 220 Neumann, Gerhard, 244 Neumann, Julius, 172 Nietzsche, Friedrich, 163, 166, 167 Nobile, Peter, 49 O Oberkrome, Willi, 171 Oberländer, Theodor, 187 Okunevs’kyj, Teofil’, 108 Onciul, Aurel von, 40 Opočenskýs, Jan, 329 Osterhammel, Jürgen, 31 Osterkamp, Jana, 17, 18 Ozarkevyč, Ivan, 106 P Pekař, Josef, 328 Penck, Albrecht, 199, 200 Peucker, Karl, 208 Pfalz, Anton, 193, 196, 200–203, 205 Pfeil, Elisabeth, 185 Piffl, Friedrich Gustav, Erzbischof von Wien, 305 Pinthus, Kurt, 235 Pinwinkler, Alexander, 21
Politzer, Heinz, 23, 234, 243, 244, 247–254, 257, 260, 261 Pollak, Isidor, 251 Popović, Lorena, 117 Posch, Herbert, 243 Přemysl Ottokar II., König von Böhmen, 259 Pribram, Alfred Francis, 323 Protagoras, griechischer Philosoph, 166 Puchinger, Erwin, 61
Q Quetelet, Adolphe, 86, 87
R Raabe, Paul, 227 Radetzky, Johann Joseph Wenzel, Graf von Radetz, 316, 317 Radnitzky, Ernst, 65, 67 Rahv, Philip, 247 Ranzmaier, Irene, 121 Raphael, Lutz, 184 Redlich, Josef, 11, 36 Reiffenstein, Ingo, 196 Renner, Karl, 282, 283, 289, 293 Rezzori, Gregor von, 213, 335 Ricœur, Paul, 155 Rilke, Rainer Maria, 165, 235, 252, 253, 256, 258 Ripelino, Angelo, 259 Rokitansky, Carl von, 120–122 Rosenberg, Hans, 309 Roth, Joseph, 20, 25, 141–144, 149, 156, 159, 160, 238, 335
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Rudolf, Erzherzog, Kronprinz von Österreich und Ungarn, 122 Rudolph II., röm.-deutscher Kaiser, 259 S Scheda, Josef/Joseph von, 208 Scheda, Joseph von, 92, 208 Schellhorn, Fritz, 221, 222, 224 Schieder, Theodor, 187 Schlögel, Karl, 276 Schmitt, Carl, 163 Schnitzler, Arthur, 67 Schuchardt, Hugo, 20, 129–131, 136 Schüller, Richard, 323 Schuschnigg, Kurt, 24 Schüßler, Wilhelm, 324 Schwarz, Egon, 244 Schwerin, Otto, 22, 211–217, 219–224 Sebald, Winfried Georg Max, 255 Seemüller, Joseph, 193, 195, 196, 199, 201 Seidler, Ernst, Ritter von Feuchtenegg, 329 Seipel, Ignaz, 294, 295, 298, 306 Seton-Watson, Robert William, 328 Shakespeare, William, 247 Silverman, Kaja, 254 Simon, Daniela, 117, 138 Sked, Alan, 334 Slataper, Scipio, 134 Sokel, Walter, 23, 243, 244, 252–255, 257, 260, 261 Somek, Alexander, 72 Sondhaus, Lawrence, 317 Sonnenfels, Joseph von, 51, 52 Spinčić, Alois (Vjekoslav), 122
Spitzer, Leo, 129 Srbik, Heinrich, 170, 324 Stadler, Friedrich, 243 Starhemberg, Ernst Rüdiger von, 313, 314 Steinacher, Hans, 177 Steinacker, Harold, 177, 178 Steinhauser, Walter, 196, 201, 202 Sternheim, Carl, 234 Stifter, Adalbert, 252 Storck, Karl, 235 Stourzh, Gerald, 12 Stradner, Josef, 20, 130–132, 136 Strakosch, Henry E., 48 Strisower, Leo, 65, 67 Střitecký, Jaroslav, 156 Suppanz, Werner, 24, 315 T Tantner, Anton, 88 Taubeneck, Steven, 254, 255 Toncich, Francesco, 117, 133 Toynbee, Arnold, 102 Trotzki, Leo, 330 Tucholsky, Kurt, 235 U Umlauf, Friedrich, 150–153 Urzidil, Johannes, 246–248, 251, 253, 261 V Vaugoin, Carl, 296 Vipauz, Karl, 122 Virchow, Rudolf, 119, 121 Vivante, Angelo, 135 Vodička, Felix, 257 Voegelin, Erich, 64
Index
Vogelsang, Karl Freiherrn von, 309 Volarich, Francesco, 133 W Wagenbach, Klaus, 251 Wallenstein, Albrecht von, 313 Walzel, Oskar, 235 Warren, Austin, 247, 253 Weinelt, Herbert, 177 Wellbery, David E., 256 Wellek, René, 257 Weltsch, Felix, 235 Wendehorst, Stephan, 76 Wenker, Georg, 193, 200, 203 Wentscher, Erich, 186 Werfel, Franz, 25, 165, 253, 327, 331, 335 Weyr, František, 65 Wiesinger, Peter, 190, 191, 194, 201, 209
Wilson, Edmund, 228, 246 Wittgenstein, Ludwig, 157, 161 Wittlin, Józef, 331 Wrede, Ferdinand, 200, 203, 204 Wysłouchowa, Maria, 110–114
Y Young, Robert J. C., 117
Z Zahn, Harry, 244 Zahra, Tara, 97, 128 Zajac, Peter, 149, 150 Zeiller, Franz von, 51, 52, 54, 66, 69, 70 Zilk, Helmut, 319 Zimmermann, Jan David, 21, 22 Zuckerkandl, Emil, 122 Zweig, Stefan, 25, 238, 253, 335
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Geschichtswissenschaft Manuel Gogos
Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft DOMiD – Ein Verein schreibt Geschichte(n) 2021, 272 S., Hardcover, Fadenbindung, durchgängig vierfarbig 40,00 € (DE), 978-3-8376-5423-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5423-7
Thomas Etzemüller
Henning von Rittersdorf: Das Deutsche Schicksal Erinnerungen eines Rassenanthropologen. Eine Doku-Fiktion 2021, 294 S., kart. 35,00 € (DE), 978-3-8376-5936-8 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5936-2
Thilo Neidhöfer
Arbeit an der Kultur Margaret Mead, Gregory Bateson und die amerikanische Anthropologie, 1930-1950 2021, 440 S., kart., 5 SW-Abbildungen 49,00 € (DE), 978-3-8376-5693-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5693-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Geschichtswissenschaft Norbert Finzsch
Der Widerspenstigen Verstümmelung Eine Geschichte der Kliteridektomie im »Westen«, 1500-2000 2021, 528 S., kart., 30 SW-Abbildungen 49,50 € (DE), 978-3-8376-5717-3 E-Book: PDF: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5717-7
Frank Jacob
Freiheit wagen! Ein Essay zur Revolution im 21. Jahrhundert 2021, 88 S., kart. 9,90 € (DE), 978-3-8376-5761-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5761-0
Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hg.)
WerkstattGeschichte 2022/2, Heft 86: Papierkram September 2022, 192 S., kart., 24 SW-Abbildungen, 1 Farbabbildung 22,00 € (DE), 978-3-8376-5866-8 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5866-2
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