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German Pages 416 Year 2008
Schriften zum Europäischen Recht Band 136
Das Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen – Eine dogmatische Analyse des Art. 28 der Europäischen Grundrechtecharta
Von Adam Sagan
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
ADAM SAGAN
Das Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen – Eine dogmatische Analyse des Art. 28 der Europäischen Grundrechtecharta
Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von
Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann
Band 136
Das Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen – Eine dogmatische Analyse des Art. 28 der Europäischen Grundrechtecharta
Von Adam Sagan
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln hat diese Arbeit im Sommersemester 2007 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-12709-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Sommersemester 2007 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen worden. Als ich im Sommer des Jahres 2004 die Arbeit an der Doktorschrift aufnahm, hatte der Europäische Rat jüngst den „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ (EVV) verabschiedet. Anfänglich konzentrierte ich mich daher auf Art. II-88 EVV, da ich davon ausging, dass das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen auf Grund dieser Bestimmung in absehbarer Zukunft mit dem Inkrafttreten des Verfassungsvertrags kodifiziert würde. Nachdem die Verfassung jedoch etwa ein Jahr später infolge der Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war, legte ich mein Augenmerk auf das geltende europäische Recht sowie auf Art. 28 der EU-Grundrechtecharta und verlagerte meine bisherigen Überlegungen zum Verfassungsvertrag in zwei „Verfassungsexkurse“ (§§ 4 und 9). Mit dem „Vertrag von Lissabon“ hat die Europäische Union mittlerweile einen weiteren Anlauf zur Revision des europäischen Vertragsrechts unternommen, der an einem Inkraftsetzen der Grundrechtecharta, einschließlich des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen, festhält. Unterdessen hat die Große Kammer des EuGH das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen in den Rechtssachen Viking und Laval als „festen Bestandteil“ des Gemeinschaftsrechts anerkannt und die Frage nach der Existenz dieses Grundrechts damit schon vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon eindeutig bejaht. Zuvörderst gilt mein Dank meinem verehrten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Ulrich Preis, der die Arbeit nicht nur durch die Wirren des Ratifikationsprozesses der EU-Verfassung hindurch begleitet, sondern mich auch stets hilfsbereit und in vielfältiger Weise unterstützt und gefördert hat. Herrn Prof. Dr. Dres. h.c. Peter Hanau danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Der Bayer-Stiftung für deutsches und internationales Arbeits- und Wirtschaftsrecht, insbesondere Herrn Prof. Dr. Martin Henssler, gilt mein Dank für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung der Arbeit. Den Herausgebern der „Schriften zum Europäischen Recht“ danke ich für die Aufnahme der Dissertation in die Schriftenreihe. Für die Korrektur des Manuskripts danke ich Herrn Michael Facius. Besonderer Dank gilt schließlich Herrn Martin Begiebing, der mir in zahlreichen Gesprächen eine große Hilfe gewesen ist, für seine wertvolle Unterstützung. Köln, im Januar 2008
Adam Sagan
Inhaltsübersicht Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
Erster Teil
§1 §2
Die Begründung und die Ausgestaltung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen
32
Die Entwicklung europäischer Gemeinschaftsgrundrechte und das Recht auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
Die Einfügung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen in das Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
§3
Die inhaltliche Konkretisierung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
§4
Verfassungsexkurs: Das Unionsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
Zweiter Teil
Die Auswirkungen des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen
198
Erster Abschnitt Die europäische Ebene
198
§5
Die gemeinschaftsinterne Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
§6
Europäische Tarifverträge als Ziel gesamteuropäischer Arbeitskämpfe . . . . . 204
§7
Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene und das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
§8
Der Soziale Dialog auf europäischer Ebene und das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
§9
Verfassungsexkurs: Europäische Arbeitskämpfe und Sozialer Dialog auf Unionsebene nach dem Europäischen Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
10
Inhaltsübersicht Zweiter Abschnitt Die nationale Ebene
358
§ 10 Art. 28 Var. 2 GRC und das nationale Arbeitskampfrecht in Deutschland . . 358
Dritter Abschnitt Die transnationale Ebene
375
§ 11 Art. 28 Var. 2 GRC und transnationale Arbeitskämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Verzeichnis der Kommissionsdokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Internetverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412
Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
Erster Teil
Die Begründung und die Ausgestaltung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen §1
Die Entwicklung europäischer Gemeinschaftsgrundrechte und das Recht auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der bisherige Status des Rechts auf kollektive Maßnahmen im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 13 der EG-Sozialcharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Begründung von Gemeinschaftsgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entwicklung von Gemeinschaftsgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 6 Abs. 2 EU und der heutige Stand der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Grundrechtecharta der Europäischen Gemeinschaft . . . . . . . . . . . a) Zur Entstehung der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der rechtliche Status der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die praktischen Auswirkungen der Grundrechtecharta als interinstitutionelle Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Grundrechtecharta zwischen Interpretationshilfe und Rechtserkenntnisquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Begründung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsvergleichung der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . a) Art. 11 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Gewährleistungen des Art. 11 Abs. 1 EMRK nach der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Folgerungen aus der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . b) Art. 6 Nr. 4 ESC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das IAO-Übereinkommen Nr. 87 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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32 32 32 33 34 35 36 37 38 39 39 41 45 45 51 51 52 54 56 56
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Inhaltsverzeichnis d) Art. 8 Abs. 1 Buchstabe d) IPWSKR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassendes Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Art. 28 Var. 2 Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§2
Die Einfügung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen in das Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten im Arbeitskampfrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Unzuständigkeit der Gemeinschaft für die Regelung des Arbeitskampfrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 28 Var. 2 GRC als Kompetenztitel der Gemeinschaft für das Arbeitskampfrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen im Kompetenzgefüge der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Anknüpfung des Art. 28 Var. 2 GRC an das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 137 Abs. 5 EG und die Kompetenz der Gemeinschaft zur Regelung des Tarifvertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die „Kompetenzakzessorietät“ des Art. 28 Var. 1 GRC . . . . . . . . . c) Die Möglichkeit einer Übertragung auf Art. 28 Var. 2 GRC . . . . 2. Der Inhalt arbeitskampfrechtlicher Grundrechtsgewährleistungen . . . a) Der abwehrrechtliche Inhalt des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . b) Der leistungsrechtliche Inhalt des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . aa) Die Ausgestaltungsbedürftigkeit des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Ausgestaltungsbedürftigkeit der Koalitionsmittelfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der leistungsrechtliche Inhalt von Art. 11 Abs. 1 EMRK . . . dd) Folgerungen für Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Abwehranspruch aus dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC auf der Gemeinschaftsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Abwehr kompetenzgerechter Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der spanisch-französische Erdbeerstreit (1997) . . . . . . . . . . . . bb) Art. 2 VO 2679/98/EG (Warenverkehrsverordnung) . . . . . . . . cc) Der deutsch-österreichische Brennerstreit (2003) . . . . . . . . . . . dd) Folgerungen für den Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Exkurs: Die Rechtssachen „Viking“ und „Laval“ . . . . . . . . . . . ff) Vereinbarkeit mit Art. 137 Abs. 5 EG/Beispielsfall Nr. 1 . . . . b) Die Abwehr gegen Art. 137 Abs. 5 EG verstoßender Maßnahmen der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58 59 59 60 61 61 62 64 65 66 67 70 72 72 73 73 74 76 77 77 77 78 78 79 81 83 84 86 90
Inhaltsverzeichnis
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aa) Grundrechte als „negative Kompetenznormen“ . . . . . . . . . . . . . bb) Folgerungen für den Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC auf der Ebene der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte nach der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Grundrechtsbindung bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Grundrechtsbindung bei der Einschränkung von Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Bindung der Mitgliedstaaten an Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . aa) Die Bindung an Art. 28 Var. 2 GRC bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts/Beispielsfall Nr. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Bindung an Art. 28 Var. 2 GRC „anlässlich“ der Durchführung des Gemeinschaftsrechts?/Beispielsfall Nr. 3 . . . . . . . cc) Die Bindung an Art. 28 Var. 2 GRC bei der Beschränkung von EG-Grundfreiheiten/Beispielsfall Nr. 4 . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassendes Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Leistungsanspruch aus dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Möglichkeit „europäischer Arbeitskämpfe“ nach Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Wortlaut des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entstehungsgeschichte des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . c) Der Vorbehalt des Gemeinschaftsrechts in Art. 28 Var. 2 GRC . . d) Die Verpflichtung der Gemeinschaft aus Art. 28 Var. 2 GRC . . . . 2. Der Leistungsanspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC auf der Gemeinschaftsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die „Bezugnahme“ auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unwirksamkeit der Bezugnahme? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 28 Var. 2 GRC als Verweisungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Verweisungsverständnis im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kritische Würdigung des Verweisungsnormverständnisses . . . (1) Der deutsche Wortlaut des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . (2) Sonstige Sprachfassungen des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . (3) Die Diskussion im Grundrechtskonvent . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Der Vergleich mit Art. 18 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Die systematische Auslegung im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis (6) Der systematische Vergleich mit den qualifizierten Regelungsvorbehalten der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . (7) Konstitutiver Verweis auf das Gemeinschaftsrecht? . . . . . . (8) Der von Art. 28 Var. 2 GRC vermittelte Rechtsschutz . . . c) Die Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten als doppelte Schranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Anwendung des Art. 52 GRC auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kritische Würdigung der Einordnung als Grundrechtsschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Anwendbarkeit der Schranken-Schranken des Art. 52 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Unanwendbarkeit des Gesetzesvorbehalts . . . . . . . . . . (3) Die Diskussion im Grundrechtskonvent . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Der Zweck der Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Bezugnahme als „vorbehaltlose Grundrechtsschranke“ . . . . . . 4. Der Leistungsanspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC auf der Ebene der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§3
Die inhaltliche Konkretisierung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Grundsätze der Auslegung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Auslegungsregeln des Art. 52 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 52 Abs. 2 GRC: Art. 28 Var. 2 GRC als in den Verträgen begründetes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 52 Abs. 3 GRC: Art. 28 Var. 2 GRC als Art. 11 Abs. 1 EMRK entsprechendes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Inhalts- und Schrankentransfer gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Voraussetzungen einer Entsprechung im Sinne des Art. 52 Abs. 3 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Vergleich der Schutzbereiche von Art. 11 EMRK und Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Der Inhalts- und Schrankentransfer von Art. 11 EMRK auf Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der Inhaltstransfer von Art. 11 Abs. 1 EMRK auf Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der Schrankentransfer von Art. 11 Abs. 2 EMRK auf Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Exkurs: Die Beschränkung von Grundrechten nach Art. 31 Abs. 1 ESC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Anwendung der allgemeinen juristischen Auslegungsmethoden
121 122 123 125 125 126 126 126 127 128 129 131 131 132 132 133 133 134 136 137 138 139 139 141 142
Inhaltsverzeichnis
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a) Zur historischen Auslegung des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . b) Zum Zweck des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Wirtschaftsverfassung in der Europäischen Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das „Machtgefälle“ im Arbeitsvertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Kompensation der Imparität der Arbeitsvertragsparteien II. Der persönliche Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Arbeitnehmerbegriff des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Arbeitnehmerbegriff in der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 39 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einzelfragen zum Arbeitnehmerbegriff des Art. 28 Var. 2 GRC . . aa) Öffentlich-rechtliche Beschäftigungsverhältnisse . . . . . . . . . . . bb) Die Unionsbürgerschaft als Voraussetzung des Rechts auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Tätigkeit im Wirtschaftsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Begriff der Arbeitnehmerorganisation in Art. 28 Var. 2 GRC . . a) Die Systematik der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Begriffsmerkmale einer Arbeitnehmerorganisation in sonstigen völker- und europarechtlichen Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . c) Die Voraussetzungen der Tarifvertragsfähigkeit nach der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusätzliche Voraussetzungen des gemeinschaftsrechtlichen Gewerkschaftsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Begriff des Arbeitgebers und der Arbeitgeberorganisation . . . . . III. Der sachliche Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die von Art. 28 Var. 2 GRC geschützten kollektiven Maßnahmen . . a) Der Streikbegriff des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Garantie der Aussperrung in Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . c) Sonstige von Art. 28 Var. 2 GRC geschützte Kollektivmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verteidigung von Interessen im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC . . a) Der Arbeitskampf um Rechtsstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der politische Arbeitskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Sympathiearbeitskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Beschränkung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Voraussetzungen für die gemeinschaftsrechtliche Beschränkung des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der gemeinschaftsrechtliche Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . .
142 143 143 145 146 148 148 150 151 151 154 155 156 156 158 159 161 161 162 162 162 163 164 165 165 167 168 170 170 170
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Inhaltsverzeichnis b) Die sonstigen Voraussetzungen einer gemeinschaftsrechtlichen Beschränkung des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Voraussetzungen für die mitgliedstaatliche Beschränkung des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einzelstaatliche Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einzelstaatliche Gepflogenheiten im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§4
Verfassungsexkurs: Das Unionsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zur Entstehungsgeschichte des Europäischen Verfassungsvertrages . . . . II. Das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen im Europäischen Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Implementierung der Grundrechtecharta und der Beitritt zur EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Schutz des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . 3. Die Auslegung und Beschränkung von Art. II-88 Var. 2 EVV nach Art. II-112 EVV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Ergänzungen des Art. II-112 EVV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. II-112 Abs. 7 EVV: Die Erläuterungen zur Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. II-112 Abs. 5 EVV: Art. II-88 Var. 2 EVV als Grundrecht . . . d) Art. II-112 Abs. 4 EVV: Die Berücksichtigung der nationalen Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Art. II-112 Abs. 6 EVV: Die Schranke nationaler Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
176 176 177 178 182 182 185 186 188 189 189 190 191 194 196
Zweiter Teil
Die Auswirkungen des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen
198
Erster Abschnitt Die europäische Ebene §5
Die gemeinschaftsinterne Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Recht der europäischen Beamten auf kollektive Maßnahmen . . . . . 1. Die Rechtsstellung der Beamten der Europäischen Gemeinschaft . . . 2. Art. 28 Var. 2 GRC als Rechtsgrundlage europäischer Beamtenstreiks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
198
198 198 198 200
Inhaltsverzeichnis
17
3. Die Einschränkungen des Rechts der europäischen Beamten auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 II. Das Recht der sonstigen Gemeinschaftsbediensteten auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 §6
§7
Europäische Tarifverträge als Ziel gesamteuropäischer Arbeitskämpfe . . . . . I. Der Tarifvertragsschluss als Arbeitskampfziel im nationalen und internationalen Arbeitskampfrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Ziel nationaler Arbeitskämpfe in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Bezug internationaler Arbeitskampfgarantien zur Tarifvertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Folgerungen für Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen auf der europäischen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Merkmal der geeigneten Ebene in Art. 28 Var. 1 GRC . . . . . . . . a) Der Ebenenbegriff der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Konkretisierung des Ebenenbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren auf der europäischen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Massenentlassungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Betriebsübergangsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Unterrichtungs- und Anhörungsrahmenrichtlinie . . . . . . . . . . . d) Die Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Art. 27 GRC und der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene . . . f) Exkurs: Das Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren innerhalb der Societas Europaea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Übertragung des Ebenenbegriffs von Art. 27 GRC auf Art. 28 Var. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kollektive Verhandlungen auf der europäischen Ebene . . . . . . . . . . . . a) Die vom Konventspräsidium genannten Richtlinien . . . . . . . . . . . . b) Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene und das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die rechtlichen Grundlagen des Sozialen Dialogs nach Art. 138 und 139 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Aufgaben der Kommission beim Sozialen Dialog nach Art. 138 Abs. 1 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Anhörung der Sozialpartner nach Art. 138 Abs. 2 und 3 EG . . . 3. Der Abschluss und die Durchführung von Sozialpartnervereinbarungen nach Art. 139 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Verknüpfung des Anhörungsverfahrens mit den Sozialpartnerverhandlungen in Art. 138 Abs. 4 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
204 204 204 207 208 210 210 211 213 216 217 217 217 218 219 220 220 221 222 222 223 224 224 225 226 227
18
Inhaltsverzeichnis II. Der Soziale Dialog zwischen Beteiligung der Sozialpartner an der gemeinschaftlichen Rechtssetzung und autonomen Tarifverhandlungen . . . 1. Zum Schutzbereich der Tarifvertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Einordnung des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene . . . . . III. Die Verhandlungen europäischer Sozialpartner nach Art. 139 EG und deren Verhältnis zur gemeinschaftlichen Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . . 1. Die europäischen Sozialpartner als Träger des Grundrechts aus Art. 28 Var. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Ablauf von Sozialpartnerverhandlungen nach Art. 139 Abs. 1 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Einleitung von Sozialpartnerverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Durchführung der Sozialpartnerverhandlungen . . . . . . . . . . . . c) Der Gegenstand der Sozialpartnerverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . d) Der Abschluss einer Sozialpartnervereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Teilnahme an den Verhandlungen der Sozialpartner nach Art. 139 Abs. 1 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Verhältnis zwischen europäischen Sozialpartnervereinbarungen und gemeinschaftlicher Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Grundsatz der „doppelten Subsidiarität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die rechtliche Absicherung des Übernahmerechts aus Art. 138 Abs. 4 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Sperrwirkung europäischer Sozialpartnervereinbarungen für die Rechtssetzung der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Europäische Sozialpartnervereinbarungen als europäische Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Diskussion im Schrifttum und die Fragestellung aus der Perspektive des Art. 28 Var. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Durchführung von Sozialpartnervereinbarungen auf der nationalen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Erfordernis eines Durchführungsrechtsakts auf nationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Ausschluss mitgliedstaatlicher Mitwirkungspflichten . . . . . . . c) Die Durchführungspflicht der nationalen Sozialpartner . . . . . . . . . aa) Die Durchführungsverpflichtung der nationalen Sozialpartner im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Auffassung der herrschenden Meinung . . . . . . . . . . . . (2) Die Auffassung der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Durchführungsverpflichtungen nach der Satzung der europäischen Sozialpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Auslegung des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG . . . . . . (1) Der Wortlaut des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG . . . . . (2) Die systematische Auslegung des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
228 229 231 236 236 238 238 239 239 241 241 243 244 245 247 250 250 254 254 258 259 260 260 261 262 265 265 266
Inhaltsverzeichnis (3) Die historische Auslegung des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Die Sperrwirkung autonomer Sozialpartnervereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Die Erteilung des Verhandlungsmandats . . . . . . . . . . . . . . . (6) Die Umsetzungsverpflichtung der mitgliedstaatlichen Sozialpartner in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die rechtlichen Folgen der Durchführungsverpflichtung . . . . . (1) Die Beschränkung der Durchführungsverpflichtung aufgrund nationaler Verfahren und Gepflogenheiten . . . . . . . . (2) Die Effektivität der Durchführung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Durchsetzung der Durchführungspflicht aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Einordnung autonomer Sozialpartnervereinbarungen als europäische Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Durchführung von Sozialpartnervereinbarungen auf der Gemeinschaftsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Inhalt des Ratsbeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Bindungen der Gemeinschaftsorgane an die Sozialpartnervereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Vergleich mit der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Antragserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Erweiterung der rechtlichen Bindungswirkung . . . . . . . . . cc) Der Zweck der Erstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Stellung der erstreckten Regelungen in der jeweiligen Normenhierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Die Beendigung der Erstreckungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Die rechtliche Qualifikation des Hoheitsaktes . . . . . . . . . . . . . . d) Die demokratische Legitimation des Ratsbeschlusses nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Entstehungsgeschichte des Art. 139 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Teleologische Erwägungen für die Anwendung des Art. 28 Var. 1 GRC auf die Verhandlungen im Sozialen Dialog . . . . . . . . . . . . . . . §8
Der Soziale Dialog auf europäischer Ebene und das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Auffassungen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die rechtlichen Voraussetzungen eines europäischen Arbeitskampfes im Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Wortlaut des Art. 139 Abs. 1 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
267 269 270 271 275 275 276 283 286 291 291 292 296 297 297 299 300 302 303 304 310 315 316 317 317 322 322
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Inhaltsverzeichnis 2. Der Kompetenzausschluss in Art. 137 Abs. 5 EG . . . . . . . . . . . . . . . . 325 3. Die Einleitung von Verhandlungen im Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 a) Das Urteil des EGMR in der Sache Wilson vs. United Kingdom 326 b) Der Arbeitskampf für die Anerkennung als europäische Sozialpartnerorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 c) Die Einsetzung paritätischer Ausschüsse für den sektoralen Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 d) Die Mitteilung der Sozialpartner nach Art. 138 Abs. 4 EG . . . . . 334 4. Der europäische Arbeitskampf als Mittel autonomer Konfliktlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 a) Die Rechtssetzungsbefugnis „in den von Art. 137 EG erfassten Bereichen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 aa) Die sozialpartnerschaftliche Übernahme eines gemeinschaftlichen Rechtssetzungsverfahrens nach Art. 138 Abs. 4 EG . . 337 bb) Die Rechtssetzungsbefugnisse der Gemeinschaft bei Sozialpartnerverhandlungen ohne vorherige Anhörung . . . . . . . . . . . 339 cc) Zur Verhandlungsimparität beim Sozialen Dialog auf der Gemeinschaftsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 b) Sozialpartnervereinbarungen außerhalb der von Art. 137 EG erfassten Bereiche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 5. Die Effektivität gesamteuropäischer Arbeitskämpfe im Sozialen Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 a) Der Zusammenhang zwischen Vereinbarungsabschluss und Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 b) Der Zusammenhang zwischen europäischem Arbeitskampf und Vereinbarungsabschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 aa) Exkurs: Die Beteiligung an europäischen Arbeitskämpfen im Sozialen Dialog nach deutschem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 bb) Die Ausübung kollektiven Drucks auf die europäischen Sozialpartner der Arbeitgeberseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 cc) Die Ausübung kollektiven Drucks durch die europäischen Sozialpartner der Arbeitnehmerseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 6. Zusammenfassende Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 IV. Annex: Die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC in den Mitgliedstaaten bei der Durchführung europäischer Sozialpartnervereinbarungen . . 352 V. Annex: Art. 28 Var. 2 GRC als Rechtsgrundlage europäischer Demonstrationsstreiks? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
§9
Verfassungsexkurs: Europäische Arbeitskämpfe und Sozialer Dialog auf Unionsebene nach dem Europäischen Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . 354 I. Die Änderungen am Sozialen Dialog im Europäischen Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
Inhaltsverzeichnis
21
1. Die Rechtsqualität der Ratsentscheidung nach Art. III-212 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EVV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 2. Die Unterrichtung des Europäischen Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 II. Die Vorschrift des Art. I-48 EVV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
Zweiter Abschnitt Die nationale Ebene § 10 Art. 28 Var. 2 GRC und das nationale Arbeitskampfrecht in Deutschland . . I. Die Anwendungsvoraussetzungen des Art. 28 Var. 2 GRC in den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC bei der Umsetzung europäischer Richtlinien nach Art. 137 Abs. 3 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Recht auf kollektive Maßnahmen im sekundären Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Anknüpfung an Tarifverhandlungen im sekundären Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die normative Ergänzung von sekundärem Gemeinschaftsrecht . . . . a) Die normative Ergänzung des Gemeinschaftsrechts in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) § 613a Abs. 6 BGB als normative Ergänzung der Betriebsübergangsrichtlinie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Annex: Die Rechtsprechung nationaler Gerichte als Grundrechtsschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsprechung anderer nationaler Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . .
358 358 358 360 362 362 363 363 364 368 369 374
Dritter Abschnitt Die transnationale Ebene § 11 Art. 28 Var. 2 GRC und transnationale Arbeitskämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Bestimmung des Arbeitskampfstatuts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Arbeitskampfmaßnahmen deutscher Arbeitsvertragsparteien im EGAusland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arbeitskampfmaßnahmen ausländischer Arbeitskampfparteien in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Unterstützung ausländischer Arbeitskampfparteien in Deutschland geführte Solidaritätsarbeitskämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der grenzüberschreitende Arbeitskampf für einen transnationalen Tarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
375 375 375 377 378 378 379
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Inhaltsverzeichnis II. Die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts auf kollektive Maßnahmen auf transnationale Arbeitskämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Arbeitskampfmaßnahmen deutscher Arbeitvertragsparteien im EGAusland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arbeitskampfmaßnahmen ausländischer Arbeitskampfparteien in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Unterstützung ausländischer Arbeitskampfparteien in Deutschland geführte Solidaritätsarbeitskämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der grenzüberschreitende Arbeitskampf für einen transnationalen Tarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Anerkennung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen und Einfügung in die Gemeinschaftsrechtsordnung . . . . . . . . . . II. Der Inhalt und die Begrenzung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen auf der europäischen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen auf nationaler und transnationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Neuerungen durch den Vertrag über eine Verfassung für Europa . . . . . . VI. Zum Wert und Nutzen des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
379 380 381 382 382 384 384 386 387 389 389 390
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Verzeichnis der Kommissionsdokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Internetverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412
Abkürzungsverzeichnis ArbRGeg ASP CEEP CML Rev EBB EBSt ECSR EG EGB EGMR EG-SG EKMR EMRK ESC EU EuG EuGH EVV GRC IAO IPWSKR R-ESC RL UCL-IST UEAPME
UNICE VO
Arbeitsrecht der Gegenwart Abkommen über die Sozialpolitik Centre Européen de l’Entreprises Public (Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft) Common Market Law Review Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften Statut der Beamten der Europäischen Gemeinschaften European Committee of Social Rights (Europäischer Ausschuss für soziale Rechte) Europäische Gemeinschaft/Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft Europäischer Gewerkschaftsbund Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer Europäische Kommission für Menschenrechte Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Europäische Sozialcharta Europäische Union/Vertrag über die Europäische Union Gericht erster Instanz Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Vertrag über eine Verfassung für Europa Charta der Grundrechte der Europäischen Union Internationale Arbeitsorganisation Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Revidierte Europäische Sozialcharta Richtlinie Institut für Arbeitswissenschaften der katholischen Universität Löwen Europäische Union des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe (Union européenne de l’artisanat et des petites et moyennes entreprises) Union der europäischen Industrie- und Arbeitgeberverbände (Union des Confédérations de l’Industrie et des Employeurs d’Europe) Verordnung
„Arbeitskampfrecht ist kein normales Recht. Es ist eine Art Kriegsrecht. Es gibt kaum ein Rechtsgebiet, das so schwierig von dem Gesetzgeber zu bewältigen ist als gerade dieses Rechtsgebiet. Alle Erfahrungen der Staaten Europas haben das unter Beweis gestellt.“ Antoine T. J. M. Jacobs
Einführung Das Recht des Arbeitskampfes gehört zu denjenigen Rechtsmaterien, die im Vergleich zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Staatengemeinschaft erhebliche Divergenzen aufweisen. Die Unterschiede beginnen bereits bei der Frage, auf welcher Ebene innerhalb der nationalen Normenhierarchie das Recht zum Arbeitskampf garantiert wird. In zahlreichen europäischen Ländern enthält die jeweilige Nationalverfassung, wie beispielsweise Art. 28 Abs. 2 der Spanischen Verfassung,1 das Recht der Arbeitnehmer, zur Verteidigung ihrer Interessen zu streiken. Demgegenüber wird das Recht zum Arbeitskampf in Finnland2 ebenso wie in Deutschland3 der jeweiligen Verfassung als Teil der Vereinigungsfreiheit entnommen. In den Niederlanden findet im Gegensatz dazu das Recht auf kollektive Maßnahmen aus der völkerrechtlichen Norm des Art. 6 Nr. 4 der Europäischen Sozialcharta unmittelbare Anwendung.4 Darüber hinaus kennen die europäischen Staaten unterschiedliche Träger des Rechts zum Arbeitskampf.5 In Deutschland muss der Arbeitskampf von einer tariffähigen Koalition geführt werden,6 während in Griechenland jeder einzelne Arbeitnehmer gemeinsam mit anderen die Arbeit niederlegen darf.7 In Italien nehmen zudem Richter und Staatsanwälte das Streikrecht für sich in Anspruch,8 was etwa in der Slowakei9 oder der Tschechischen Republik10 von Verfassungs wegen ausgeschlossen ist. 1
Vgl. Weber, Menschenrechte, S. 534. Mosler/Bernhardt – Dolzer, Die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer, S. 1255 (1259). 3 BVerfGE 84, 212. 4 Henssler/Braun – van Gijzen, Arbeitsrecht in Europa, Niederlande, Rn. 239; Rebhahn, GS-Heinze, S. 649 (652). 5 Vgl. Kenner, EU Employment Law, S. 146 f. 6 BAGE 58, 343 (349). 7 Henssler/Braun – Kerameos/Kerameus, Arbeitsrecht in Europa, Griechenland, Rn. 205. 8 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.7.2005, S. 5. 9 Weber, Menschenrechte, S. 540. 10 Weber, Menschenrechte, S. 541. 2
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Die Voraussetzungen, unter denen das Streikrecht ausgeübt werden darf, sind von Staat zu Staat ebenfalls äußerst verschieden. In Deutschland sind nur auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtete Arbeitkämpfe zulässig.11 Im Gegensatz dazu hat der Italienische Verfassungsgerichtshof12 entschieden, dass ein Streik „nicht nur rechtmäßig ist, wenn er zu Lohnzwecken, sondern auch wenn er mehr allgemein ausgerufen wird in Ausübung aller Forderungen, die den Komplex der Arbeitnehmerinteressen betreffen“. Politisch motivierten Streiks bleibt deswegen der Schutz der Italienischen Verfassung nur versagt, wenn sie ohne Zusammenhang mit diesen Interessen durchgeführt werden. Demgegenüber wäre etwa der von der Gewerkschaft der Staatsbediensteten in Griechenland im Juli 2005 gegen ein Gesetzesvorhaben der Regierung zur Neuregelung von Überstunden ausgerufene Streik13 als politischer Arbeitskampf in vielen anderen europäischen Staaten als rechtswidrig angesehen worden. Die Divergenzen zwischen den einzelstaatlichen Arbeitskampfordnungen spiegeln sich erwartungsgemäß in der tatsächlichen Ausübung des Rechts zum Arbeitskampf wider. Während im Jahr 2003 von 1.000 abhängig Beschäftigten in Österreich durchschnittlich 100, in Italien 124 und in Schweden sogar 164 Arbeitstage arbeitskampfbedingt ausgefallen sind, gilt dies hingegen für denselben Zeitraum in Portugal für 15, in Deutschland für 5 Tage und in Polen sogar nur für einen einzigen Tag.14 Die aufgezeigten Unterschiede zwischen den Arbeitskampfregelungen in den europäischen Staaten und der tatsächlichen Ausübung des Rechts auf kollektive Maßnahmen erklären sich dadurch, dass der Arbeitskampf ein historisch gewachsenes Phänomen des Arbeitslebens ist, auf das jede nationale Rechts- und Gesellschaftsordnung in Europa im Laufe ihrer jeweils eigenen Geschichte unterschiedlich reagiert hat. Wegen seiner historischen Verwurzelung stellt sich das Arbeitskampfrecht in den europäischen Staaten als eine zuvörderst auf nationalen Traditionen beruhende Rechtsmaterie dar, die nur im Kontext ihrer jeweiligen geschichtlichen Entwicklung verstanden werden kann.15 In Deutschland wurde die anfängliche Entwicklung des Arbeitskampfrechts16 von dem mit der Reichszunftordnung von 1731 unternommenen Versuch geprägt, jede Art von Versammlung und Verbindung von Arbeitnehmern zu verhindern, indem sowohl die Bildung von Arbeitnehmerkoalitionen als auch die 11
BAGE 48, 160 (168). In: EuGRZ 1975, S. 114 (115). 13 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.7.2005, S. 6. 14 Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Deutschland in Zahlen, 2005, S. 143. 15 So in Bezug auf das deutsche Arbeitskampfrecht: Kissel, Arbeitskampfrecht, § 1, Rn. 2; vgl. auch Weiss, FS-Kissel, S. 1253 (1256). 16 Siehe hierzu: Kittner, Arbeitskampf, S. 17 ff., dort auch zur historischen Entwicklung des Arbeitskampfrechts in Frankreich (S. 155 ff.) und Großbritannien (S. 168 ff.). 12
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Führung von Arbeitskämpfen unter Strafe gestellt wurde.17 Erst der 1869 für den Norddeutschen Bund erlassene und ab 1871 im Deutschen Reich geltende § 152 Abs. 1 der Gewerbeordnung hob unter dem Eindruck der im 19. Jahrhundert infolge der industriellen Revolution eingetretenen Arbeitsbedingungen „alle Verbote und Strafbestimmungen (. . .) wegen Verabredungen und Vereinbarungen zum Behufe der Erlangung günstigerer Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittelst Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter“18 auf. Damit wurde zwar kein Recht zum Arbeitskampf geschaffen, aber immerhin zog sich die staatliche Obrigkeit – dem liberalen Gedankengut der damaligen Zeit entsprechend – aus der Sanktionierung kollektiver Arbeitskonflikte zurück.19 Obwohl Arbeitskämpfe damit vom grundsätzlichen Verdikt der Rechtswidrigkeit befreit waren, blieb der Staat eine rechtliche Grundlage, auf welcher die gewährte „Arbeitskampffreiheit“ hätte ausgeübt werden können, schuldig.20 Das Reichsgericht war daher im Jahre 1887 gezwungen, die Einschränkungen dieser Freiheit aus dem Zweck ihrer Gewährleistung herzuleiten. Es entschied, dass § 152 Abs. 1 der Gewerbeordnung „absolut nichts mit irgend welchen Gegenständen allgemeiner politischer Natur, sondern ausschließlich mit den konkreten Arbeitsverträgen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, mit den unmittelbar durch diese Verträge geregelten Lohn- und Arbeitsbedingungen und dem Gegensatz und dem Kampfe der sozialökonomischen Interessen unmittelbar um diese Bedingungen“ zu tun habe.21 Der Zweck des Arbeitskampfes begrenzte daher in Deutschland von je her die Befugnis zum Einsatz von Arbeitskampfmitteln.22 Mit der Weimarer Reichsverfassung wurde dann im Jahre 1919 in Art. 159 WRV die Vereinigungsfreiheit zwar ausdrücklich garantiert, aber bewusst keine rechtliche Grundlage geschaffen, die für die Herleitung eines Streikrechts hätte in Anspruch genommen werden können.23 Ein solches „Recht zum Arbeitsvertragsbruch“ wurde mehrheitlich für undenkbar gehalten und so blieb auch Art. 165 WRV, der die Organisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber und deren Vereinbarungen anerkannte, ein uneinklagbarer Programmsatz.24
17 Die entsprechende Bestimmung des Art. 10 der Reichszunftordnung von 1731 ist abgedruckt bei: Münchener Handbuch – Otto, § 282, Rn. 1. 18 Zitiert nach: Kissel, Arbeitskampfrecht, § 2, Rn. 15. 19 Vgl. Ebel/Thielmann, Rechtsgeschichte, Rn. 607. 20 Münchener Handbuch – Otto, § 282, Rn. 3. 21 RGSt 16, 383 (384 f.); vgl. auch RGZ 51, 369 (384). 22 Nahezu 100 Jahre nach der Entscheidung des Reichsgerichts formulierte das Bundesarbeitsgericht (BAGE 48, 160, 168), dass die Hilfsfunktion des Arbeitskampfes für die Tarifautonomie die Grenzen seiner Zulässigkeit bestimme. 23 Anschütz, WRV, Art. 159, Anm. 5. 24 Münchener Handbuch – Otto, § 282, Rn. 9.
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Nachdem im Dritten Reich mit § 36 Abs. 1 Nr. 2 des Arbeitsordnungsgesetzes jeglicher Streik verboten worden war, galt es nach 1945 bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes, die Frage zu entscheiden, ob sich darin ein verfassungsmäßiges Streikrecht finden sollte. Da man sich im Parlamentarischen Rat nicht darüber verständigen konnte, ob ein solches Recht ausschließlich den Gewerkschaften zustehen sollte und auch über die Einschränkungsmöglichkeiten eines verfassungsmäßigen Streikrechts Uneinigkeit herrschte, blieb der Streik in der ursprünglichen Fassung des Grundgesetzes vom 23. Mai 194925 unerwähnt.26 Es oblag dem Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts in seiner Entscheidung vom 28. Januar 1955,27 das deutsche Arbeitskampfrecht den Erfordernissen der bundesrepublikanischen Wirklichkeit anzupassen. In seiner Entscheidung wies der Große Senat darauf hin, dass Art. 9 Abs. 3 GG ebenso wie Art. 159 WRV nur die Koalitionsabrede ausdrücklich schütze und deswegen nach herrschender Meinung nicht bestimmte Koalitionsmittel wie den Streik garantiere.28 Zu dieser damals umstrittenen Frage Stellung zu nehmen, sah der Große Senat jedoch keine Veranlassung, weil Arbeitskämpfe jedenfalls in der „freiheitlichen sozialen Grundordnung der Deutschen Bundesrepublik“29 zuzulassen seien und die Teilnahme an einem kollektivrechtlich erlaubten Streik keinen Bruch des Arbeitsvertrages darstellen könne.30 In der Folge wurde in der Rechtsprechung kaum noch um die dogmatische Einordnung eines Rechts zum Arbeitskampf gerungen, sondern nahezu ausschließlich nach den Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen von Arbeitskampfmaßnahmen auf der kollektiven Ebene gefragt. Stellte sich ein Streik auf dieser als rechtmäßig dar, stand ab dem 28. Januar 1955 fest, dass die Beteiligung an diesem keinen Verstoß gegen individualvertragliche Regelungen begründete. Das Bundesarbeitsgericht ließ die Frage, ob das Streikrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG abzuleiten sei, aufgrund dieser Erkenntnis mehrere Jahre lang offen.31 Auch für die Verfassungsgerichtsbarkeit bestand längere Zeit kein Anlass, über die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Arbeitskampfes zu entscheiden, und noch in den siebziger Jahren konnte sich das Bundesverfassungsgericht einer Stellungnahme zur verfassungsrechtlichen Beurteilung des Arbeitskampfes enthalten.32 Erst in der Entscheidung vom 26. Juni 1991 stellte 25
BGBl. I 1949, S. 1 ff. von Doemming/Füsslein/Matz – Matz, JöR, Band 1 (1951), S. 1 (116 ff.); vgl. auch Grewe, JZ 1951, S. 182 (183). Zu dem nachträglich in das Grundgesetz eingefügten Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG siehe: § 1 III. 1. und § 8 III. 4. 27 BAGE (GS) 1, 291. 28 BAGE (GS) 1, 291 (298). 29 BAGE (GS) 1, 291 (300). 30 BAGE 1, 291 (305). 31 Vgl. BAGE 15, 174 (193 f.); Kissel, Arbeitskampfrecht, § 17, Rn. 7 (m.w. N.). 32 BVerfGE 38, 386 (393). 26
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das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG die Koalitionen bei ihrer Betätigung zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen schützt und auch die zur Verfolgung dieses Koalitionszwecks eingesetzten Arbeitskampfmaßnahmen als Koalitionsmittel garantiert.33 Mehr als hundert Jahre nachdem das Streikrecht zum ersten Mal rechtmäßig auf deutschem Boden ausgeübt worden war und selbst unter der Geltung des Grundgesetzes noch über Jahrzehnte lediglich eine vage Stütze in der „freiheitlichen sozialen Grundordnung der Deutschen Bundesrepublik“ gefunden hatte, erkannte das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht der Koalitionsmittelfreiheit als Teil der Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG als Grundlage des deutschen Arbeitskampfrechts an.34 Kurze Zeit nachdem der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts seine richtungsweisende Entscheidung zum Arbeitskampfrecht gefällt hatte, schlossen sich am 25. März 1957 sechs europäische Staaten mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zusammen. Diese Gemeinschaft war zum Zeitpunkt ihrer Gründung vornehmlich darauf ausgerichtet, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens zu fördern.35 Daneben bekannten sich die Gründungsstaaten zu dem Ziel, zwischen ihnen bestehende Schranken zu beseitigen, um durch gemeinsames Handeln nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den sozialen Fortschritt zu sichern.36 Die Gründungsgemeinschaft war sich zwar auch über die Notwendigkeit einig, auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte hinzuwirken, war aber der Auffassung, dass dieses Ziel ohne weiteres durch die Herstellung des Gemeinsamen Marktes und die Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erreichen sei.37 Die mittlerweile 27 Mitgliedstaaten zählende Europäische Gemeinschaft hat neben der wirtschaftlichen Integration, die mit der Herstellung der Wirtschaftsund Währungsunion durch die Einführung einer gemeinsamen Währung am 1. Januar 2002 ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat, im Rahmen der ihr zustehenden sozialpolitischen Kompetenzen38 zunehmend Einfluss auf das Arbeitsrecht gewonnen. Die arbeitsrechtlichen Konsequenzen eines Unternehmensbzw. Betriebsübergangs, weite Teile des Arbeitszeitrechts und auch das Verfahren bei Massenentlassungen werden mittlerweile von gemeinschaftlichen Richt33
BVerfGE 84, 212. BVerfGE 84, 212. 35 Vgl. Art. 2 des Gründungsvertrages vom 25.3.1957 (BGBl. II 1957, S. 766 ff.). 36 Art. 117 Abs. 1 des Gründungsvertrages vom 25.3.1957. 37 Art. 117 Abs. 2 des Gründungsvertrages vom 25.3.1957. 38 Im Gegensatz zum deutschen Rechtsverständnis und Sprachgebrauch unterscheidet der in den Art. 136 ff. EG verwendete Begriff „Sozialpolitik“ nicht zwischen Arbeits- und Sozialrecht, sondern umfasst beide Rechtsgebiete. 34
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linien geregelt, die gemäß Art. 249 EG39 Vorgaben für die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten enthalten. Mit den Richtlinien zum Europäischen Betriebsrat40 und zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer41 existieren nunmehr auch zu Materien des kollektiven Arbeitsrechts gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen. Die europäische Integration schafft damit einerseits ein genuin „europäisches Arbeitsrecht“42 und führt andererseits zu einer „Europäisierung des (nationalen) Arbeitsrechts“43. Wiederum kurze Zeit nachdem das Bundesverfassungsgericht über die verfassungsrechtliche Grundlage des Arbeitskampfes entschieden hatte, entwickelte sich der anfänglich als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründete Zusammenschluss europäischer Staaten mit dem Vertrag von Maastricht im Jahre 1992 zur Europäischen Union fort. Der europäische Zusammenschluss ist seitdem nicht nur eine Rechts-44, sondern vor allem auch eine Wertegemeinschaft.45 Das kommt an keiner Stelle deutlicher zum Ausdruck als in der Präambel des Unionsvertrages46, in der sich die Mitgliedstaaten zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie zur Rechtsstaatlichkeit bekennen. Im Vertragsrecht der Europäischen Gemeinschaft47 findet sich der Gedanke der Wertegemeinschaft für den Bereich der Sozialpolitik in Art. 136 EG wieder. Danach verfolgen die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten ihre sozialpolitischen Ziele48 eingedenk der sozialen Grundrechte, wie sie in der am 18. Okto39 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Konsolidierte Fassung (ABl. Nr. C 325, 24.12.2002, S. 33 ff.). 40 Richtlinie 94/45/EG des Rates vom 22.9.1994 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen (ABl. Nr. L 254, 30.9.1994, S. 64 ff.). 41 Richtlinie 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.3.2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft (ABl. Nr. L 80, 23.3.2002, S. 29 ff.). 42 Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 3 ff. 43 Gaitanides/Kadelbach/Iglesias – Weiss, Europa und seine Verfassung, S. 589. 44 EuGH, 10.7.2003, Rs. C-15/00, Rn. 75 (Kommission/Europäische Investitionsbank). 45 Pache, EuR 2001, S. 457 (478); Rengeling, DVBl. 2004, S. 453 (455); Schmitz, EuR 2004, S. 691 (692); Schulte, Soziale Grundrechte in Europa, S. 63. 46 Vertrag über die Europäische Union, Konsolidierte Fassung (ABl. Nr. C 325, 24.12.2002, S. 5 ff.). 47 Nach Art. 1 EU ist die Europäische Gemeinschaft die Grundlage der Europäischen Union und neben der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen eine der drei Säulen der Europäischen Union. 48 Nach der Präambel des EG-Vertrages strebt die Gemeinschaft die stetige Besserung der Beschäftigungsbedingungen an und hat es sich gemäß Art. 2 EG zur Aufgabe
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ber 1961 in Turin unterzeichneten Europäischen Sozialcharta49 und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 198950 festgelegt sind. Die sich unter diesen Voraussetzungen vollziehende europäische Einigung lässt die Frage aufkommen, welche Konsequenzen sie für das Arbeitskampfrecht nach sich zieht. Denn ein als „Grundwertegemeinschaft“ konstituierter europäischer Staatenverbund51, der soziale Grundrechte schützt, muss angesichts der sich fortlaufend vertiefenden Integration notwendigerweise eine Antwort auf die Frage finden, wie er es mit dem Grundrecht auf kollektive Maßnahmen52 hält. Ist allerdings auf der Grundlage der geltenden Verträge ein Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen anzuerkennen, und nimmt es an der Suprematie des europäischen Rechts teil, scheint es nicht ausgeschlossen zu sein, dass es sich gegen die tradierten Arbeitskampfrechtsordnungen der Mitgliedstaaten durchsetzt. Ein solches Grundrecht könnte auf der Gemeinschaftsebene ein „Europäisches Arbeitskampfrecht“ etablieren und zu einer „Europäisierung des Arbeitskampfrechts“ führen, in deren Folge die Unterschiede zwischen den nationalen Arbeitskampfordnungen nivelliert würden. Jedenfalls ist es vor dem Hintergrund der Entwicklung des deutschen Arbeitskampfrechts unter der Geltung des Art. 9 Abs. 3 GG denkbar, dass ein Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen die mitgliedstaatlichen Arbeitskampfordnungen ebenso verdrängt, wie das bundesverfassungsrechtliche Grundrecht der Koalitionsmittelfreiheit das Verbot der Aussperrung in Art. 29 Abs. 5 der Hessischen Landesverfassung.53 Daher stellt sich die Frage, ob und inwieweit ein Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen existiert und welche Auswirkungen es für die europäische Ebene, die Ebene der Mitgliedstaaten sowie für die transnationale Ebene innerhalb der Gemeinschaft hat.
gemacht, ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau, ein hohes Maß an sozialem Schutz und den sozialen Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Darüber hinaus werden in Art. 136 Abs. 1 EG die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, ein angemessener sozialer Schutz, der soziale Dialog, die Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzungen als sozialpolitische Ziele der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten genannt. 49 BGBl. II 1964, S. 1261 ff. 50 KOM (89) 248 endg., S. 1; abgedruckt bei: Oetker/Preis, Europäisches Arbeitsund Sozialrecht, A 1500. 51 Vgl. BVerfGE 89, 155 (156). 52 Gegenüber dem spezielleren Streikrecht, das nur ein bestimmtes Arbeitskampfmittel der Arbeitnehmerseite bezeichnet, umfasst der weitere Begriff des „Rechts auf kollektive Maßnahmen“ auch andere Arbeitskampfmittel und vor allem auch Arbeitskampfmaßnahmen der Arbeitgeberseite; vgl. KOM (2000) 559 endg., S. 7. 53 BAGE 33, 140.
Erster Teil
Die Begründung und die Ausgestaltung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen § 1 Die Entwicklung europäischer Gemeinschaftsgrundrechte und das Recht auf kollektive Maßnahmen Für die Beantwortung der Frage, inwiefern auf der Grundlage der geltenden Verträge ein Grundrecht auf kollektive Maßnahmen auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts besteht, sei zunächst danach gefragt, ob bislang überhaupt ein solches Gemeinschaftsgrundrecht anerkannt wurde, um anschließend danach zu fragen, ob es sich unter Anwendung der vom EuGH entwickelten Grundsätze zur Herleitung von Gemeinschaftsgrundrechten begründen lässt. I. Der bisherige Status des Rechts auf kollektive Maßnahmen im Gemeinschaftsrecht Zu der ersten Fragestellung ist festzustellen, dass das Recht auf kollektive Maßnahmen in der bisherigen Entwicklung des Gemeinschaftsrechts keine oder jedenfalls keine praktische Bedeutung hatte. 1. Die Rechtsprechung des EuGH Da die Europäische Gemeinschaft bei ihrer Gründung in erster Linie auf die Verwirklichung des gemeinsamen Binnenmarktes gerichtet gewesen ist, haben vor allem die so genannten „wirtschaftlichen Grundrechte“ wie etwa die Eigentums- oder die Berufsfreiheit in der Rechtsprechung des EuGH eine Rolle gespielt.1 In sozialpolitischer Hinsicht hat in der frühen Rechtsprechung des EuGH vornehmlich das als besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes geltende Recht auf gleiches Entgelt für Männer und Frauen Beachtung gefunden, das heute in Art. 141 EG geregelt ist.2 Ansonsten übte sich der 1 EuGH, 9.11.1995, Rs. C-38/94, Slg. 1995, I-3875, Rn. 14 (Country Landowners Association); 17.7.1997, Rs. C-183/95, Slg. 1997, I-4315, Rn. 42 (Affish). 2 Vgl. EuGH, 8.4.1976, Rs. 43/75, Slg. 1976, 455 (Defrenne). Zum Zusammenhang zwischen Art. 141 EG und dem gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatz siehe: de
§ 1 Die Begründung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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EuGH nicht nur hinsichtlich der übrigen „sozialen Grundrechte“, sondern auch bezüglich eines Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen in Zurückhaltung. Die soweit ersichtlich einzige Gelegenheit, die sich dem EuGH in den siebziger Jahren im Zusammenhang mit Arbeitsniederlegungen der Gemeinschaftsbeamten bot, um die Frage nach einem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen zu klären, hat der Gerichtshof ungenutzt und die Frage nach einem gemeinschaftsrechtlichen Streikrecht ausdrücklich unbeantwortet gelassen.3 2. Art. 13 der EG-Sozialcharta Mit fortschreitender wirtschaftlicher Integration betonten die Mitgliedstaaten allerdings die „soziale Dimension“4 der europäischen Einigung. Neben dem Grundsatz der Entgeltgleichheit für Männer und Frauen sowie der Gewährung von Freizügigkeit für Arbeitnehmer hatten sich die Mitgliedstaaten bereits in Art. 117 des Gründungsvertrages von 1957 darauf verständigt, dass die Arbeitsund Lebensbedingungen der Arbeitskräfte mit der Errichtung des Gemeinsamen Marktes verbessert und angeglichen werden sollten. Um zu bekräftigen, dass der europäische Integrationsprozess und die Verwirklichung des Binnenmarktes im Dienste der Angleichung von Arbeits- und Lebensbedingungen stehen sollen,5 hat der Europäische Rat am 9. Dezember 1989 die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (EG-SC) angenommen.6 Die Gemeinschaftscharta enthält einen umfassenden Katalog sozialer Grundrechte, der sich von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 1 EG-SC) über die Berufsfreiheit (Art. 4 EG-SC) bis hin zum Recht auf Unterrichtung und Anhörung im Unternehmen (Art. 17 f. EG-SC) erstreckt und sich inhaltlich an die Europäische Sozialcharta sowie die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation anlehnt.7 In Art. 13 EG-SC findet sich die thesenartig formulierte Aussage, dass das Recht, bei Interessenkonflikten zu kollektiven Maßnahmen zu greifen, das Streikrecht vorbehaltlich einzelstaatlicher Regelungen und Tarifverträge einschließt. Trotz des proklamatorischen Wortlauts der Vorschrift lässt sich der Bestimmung ein subjektives Recht auf kollektive Maßnahmen entWitte – de Búrca, Ten Reflections on the Constitutional Treaty for Europe, S. 11 (19); Beckmann/Dieringer/Hufeld – Gündisch, Eine Verfassung für Europa, S. 429 (437); Lenaerts, European Law Review 2000, S. 575 (578). 3 EuGH, 18.3.1975, verb. Rs. 44/74, 46/74, 49/74, Slg. 1975, 383, Rn. 11/16 (Acton). 4 13. Erwägungsgrund zur EG-SC. 5 6. und 13. Erwägungsgrund zur EG-SC. 6 Allerdings unterzeichnete das Vereinigte Königreich die unverbindliche Gemeinschaftscharta erst 1998; vgl. Gaitanides/Kadelbach/Iglesias – Weiss, Europa und seine Verfassung, S. 589 (592). 7 10. Erwägungsgrund zur EG-SC.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
nehmen. Dabei geht aus Art. 13 EG-SC allerdings nicht eindeutig hervor, wer der Träger dieses Rechts sein soll. Wegen der alleinigen Bezugnahme auf das Streikrecht in Art. 13 EG-SC scheint die Bestimmung nur die Arbeitnehmerseite zu begünstigen.8 Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Gemeinschaftscharta nach ihrem Titel nur die sozialen Rechte der Arbeitnehmer enthält. Erst aus dem systematischen Zusammenhang mit Art. 12 EG-SC lässt sich Art. 13 EG-SC die Aussage entnehmen, dass die Vorschrift das Recht der Arbeitgeber sowie der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen auf kollektive Maßnahmen betrifft. Denn es ist davon auszugehen, dass sich die Arbeitskampfgewährleistung in Art. 13 EG-SC auf die in Art. 12 EG-SC genannten Grundrechtsträger bezieht. Obwohl Art. 13 EG-SC also trotz seines vagen Wortlauts ein Bekenntnis zum Schutz des Rechts auf kollektive Maßnahmen als gemeinschaftliches Grundrecht entnommen werden kann, ist die Bestimmung weitestgehend bedeutungslos, weil die Gemeinschaftscharta insgesamt rechtlich unverbindlich ist.9 An diesem Umstand vermag die ebenfalls unklare Bezugnahme auf die Gemeinschaftscharta in Art. 136 EG, deren rechtliche Einordnung äußerst umstritten ist,10 nichts zu ändern. Die Gemeinschaftscharta dient auch in diesem Zusammenhang lediglich als programmatischer Wegweiser,11 der bisher keine praktischen Auswirkungen gezeigt hat.12 II. Die Begründung von Gemeinschaftsgrundrechten Dass ein Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen bislang nicht anerkannt wurde, ist kein Beleg für dessen rechtliche Inexistenz.13 Die Frage, ob ein Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen besteht, ist vielmehr nach den für die Begründung von Gemeinschaftsgrundrechten geltenden Grundsätzen zu beantworten. Dafür ist vorab zu klären, worin die Gemeinschaftsgrundrechte ihren Geltungsgrund finden und welche Quellen für ihre Begründung heranzuziehen sind.
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Hanau, ArbRGeg. 28 (1991), S. 98 (110). Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 224 (m.w. N.); Oetker/Preis – Hergenröder, EAS, B 8400, Rn. 21. 10 BMA – Weiss, Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 237 (238). 11 Zuleeg, EuGRZ 1992, S. 329 (330 f.). 12 Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 258. 13 Insbesondere ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Begründung von Gemeinschaftsgrundrechten nicht konstitutiv; vgl. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 11. 9
§ 1 Die Begründung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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1. Die Entwicklung von Gemeinschaftsgrundrechten Die Entwicklung von Grundrechten der Europäischen Gemeinschaft geht auf die frühe Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zurück, in welcher der EuGH zunächst den Vorrang des europäischen Rechts vor jeglichem nationalen Recht und damit auch vor nationalem Verfassungsrecht feststellte, um die europaweit einheitliche Geltung des europäischen Vertragsrechts sicherzustellen.14 Dies hatte vor allem zur Folge, dass Maßnahmen der Gemeinschaft nicht an den Grundrechten der Mitgliedstaaten gemessen werden konnten. Eine Überprüfung von Rechtsakten der Gemeinschaft an nationalen Grundrechten lehnte der EuGH mehrfach ausdrücklich ab.15 Hierdurch entstand eine Lücke im Grundrechtsschutz, weil die Gemeinschaft zu diesem Zeitpunkt nicht über einen geschriebenen Grundrechtskatalog verfügte.16 Mithin fehlte es an materiellen Schranken für die Ausübung der Gemeinschaftsgewalt.17 Einige mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte, unter ihnen auch das deutsche Bundesverfassungsgericht, vertraten allerdings die Auffassung, dass sie unter diesen Umständen zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Gemeinschaftsakten solange befugt seien, wie die Europäische Gemeinschaft keinen Grundrechtsschutz garantiere, der mit den nationalstaatlichen Gewährleistungen vergleichbar sei.18 Um die Lücken zu schließen, die der Vorrang des Gemeinschaftsrechts im Grundrechtsschutz aufgerissen hatte, erkannte der EuGH erstmals 1969 im Fall „Stauder“ die Existenz von „ungeschriebenen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“ an.19 Zu diesen allgemeinen Rechtsgrundsätzen zählte der EuGH die „Grundrechte der Person“, die damit zum Maßstab für alle Maßnahmen der Gemeinschaft wurden. Mithin erkannte der Gerichtshof die Gemeinschaftsgrundrechte als ungeschriebenen Teil des europäischen Primärrechts an. Nachdem der EuGH auf diese Weise das Gemeinschaftsprimärrecht als Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte und den ungeschriebenen Teil des europäischen Vertragsrechts als ihre Rechtsquelle beschrieben hatte, entwickelte er in weiteren Entscheidungen die methodische Grundlage für die Herleitung 14 EuGH, 15.7.1964, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (Costa/E.N.E.L.); 9.3.1978, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 17/18 (Simmenthal). 15 EuGH, 4.2.1959, Rs. 1/58, Slg. 1959, 45, S. 63 (Stork); 15.7.1960, verb. Rs. 36/ 59, 37/59, 38/59, Slg. 1960, 887, S. 920 (Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft); 1.4.1965, Rs. 40/64, Slg. 1965, 296, S. 312 (Sgarlata). 16 Hummer, Der Status der „EU-Grundrechtecharta“, S. 26. 17 Herdegen, Europarecht, § 9, Rn. 15. 18 BVerfGE 37, 271; vgl. auch Italienischer Verfassungsgerichtshof, EuR 1974, S. 255 (261 f.). 19 EuGH, 12.11.1969, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419, Rn. 7 (Stauder). Die Grundlage für diese Entwicklung bot die heute in Art. 288 EG befindliche Norm, nach der sich die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft nach den „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ bestimmt, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
und die Konkretisierung der Gemeinschaftsgrundrechte. In einer 1970 ergangenen Entscheidung fand der EuGH in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten die erste Rechtserkenntnisquelle20 für die Herleitung und die inhaltliche Ausgestaltung der Gemeinschaftsgrundrechte.21 Der Gerichtshof rezipierte die in den Einzelstaaten anerkannten Grundrechte und leitete aus ihnen genuine Grundrechte der Gemeinschaft ab. Dieser ersten Rechtserkenntnisquelle stellte der EuGH ab 1974 die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, zur Seite.22 Sie sollen nach der Rechtsprechung des EuGH für die Begründung und Konkretisierung der Gemeinschaftsgrundrechte ebenfalls zu berücksichtigen sein. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten vom 4. November 195023 zu,24 die der EuGH für seine Grundrechtsrechtsprechung fruchtbar gemacht hat,25 weil sie – auch heute noch26 – ausnahmslos von allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ratifiziert worden ist. Da der EuGH in seiner Rechtsprechung zu den Gemeinschaftsgrundrechten in aller Regel auf die EMRK Bezug nimmt, kann man sogar von einer faktischen Bindung der Gemeinschaft an die EMRK als Mindeststandard für den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz sprechen.27 2. Art. 6 Abs. 2 EU und der heutige Stand der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH In Reaktion auf die entstandene Lücke im Grundrechtsschutz und der daraufhin ergangenen Rechtsprechung des EuGH haben das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission in einer unverbindlichen Gemeinsamen Erklärung 20 Zur Unterscheidung zwischen der primärrechtlichen „Rechtsquelle“ der Gemeinschaftsgrundrechte und den „Rechtserkenntnisquellen“, die zur Gewinnung und Konkretisierung der Gemeinschaftsgrundrechte beitragen, siehe: Jarass, EU-Grundrechte, § 2, Rn. 1 (m.w. N.); von Bogdandy – Kühling, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (589). 21 EuGH, 17.12.1970, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft). 22 EuGH, 14.5.1974, Rs. 4/73 Slg. 1974, 491, Rn. 12 (Nold). 23 BGBl. II 1952, S. 685 ff., berichtigt S. 953. 24 EuGH, 6.3 2001, Rs. C-274/99 P, Rn. 38 (Connolly); 22.10.2002, Rs. C-94/00, Rn. 25 (Roquette Frères); 10.7.2003, verb. Rs. C-20/00, C-64/00, Rn. 65 (Booker Aquaculture); 12.6.2003, Rs. C-112/02, Rn. 71 (Schmidberger); vgl. auch Jarass, EUGrundrechte, § 2, Rn. 23 (m.w. N.). 25 EuGH, 28.1. 1975, Rs. 36/75, Slg. 1975, 1219, Rn. 32 (Rutili). 26 Der Ratifikationsstand der EMRK kann auf der Internetseite des Europarates (www.coe.int/DefaultDE.asp) abgerufen werden. 27 Grabitz/Hilf – Hilf/Schorkopf, Art. 6 EUV, Rn. 48.
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vom 5. April 197728 die Konzeption des EuGH zum gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz gebilligt. Darin haben die Organe der Europäischen Gemeinschaft die Bedeutung der aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen und der EMRK zu schöpfenden Gemeinschaftsgrundrechte unterstrichen und ihren Willen bekundet, die Gemeinschaftsgrundrechte bei der Ausübung ihrer Befugnisse zu wahren.29 Darüber hinaus haben die Grundlagen der Rechtsprechung des EuGH zu den Gemeinschaftsgrundrechten Eingang in das europäische Vertragsrecht gefunden. Als primärrechtliche Rechtsquelle der Gemeinschaftsgrundrechte verpflichtet nunmehr Art. 6 Abs. 2 EU die Union und damit zugleich die ihr gemäß Art. 1 Abs. 2 EU zugehörende Gemeinschaft zur Achtung der Grundrechte.30 Hierzu nimmt die Bestimmung im Unionsvertrag im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und die EMRK als Rechtserkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte Bezug.31 Ihre Berücksichtigung bei der Begründung von Gemeinschaftsgrundrechten ergibt sich daher nicht nur aus der ständigen Rechtsprechung des EuGH, sondern ist zudem in Art. 6 Abs. 2 EU verbindlich vorgeschrieben.32 3. Die Grundrechtecharta der Europäischen Gemeinschaft Neben diesen beiden in Art. 6 Abs. 2 EU genannten Rechtserkenntnisquellen kommt für die Begründung und die inhaltliche Ausgestaltung von Gemeinschaftsgrundrechten die Heranziehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union33 in Betracht.
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ABl. Nr. C 103, 27.4.1977, S. 1. Vgl. hierzu: Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 17. 30 Da die Gemeinschaft an die Unionsgrundrechte gebunden ist, sind die „Grundrechte der Union“ mit den „Grundrechten der Gemeinschaft“ identisch; vgl. von der Groeben/Schwarze – Beutler, Art. 6 EU, Rn. 47; von Bogdandy – Kühling, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (588). Da aber bereits lange vor der Gründung der Union Grundrechte auf der Gemeinschaftsebene existierten, ist der auch hier verwendete Begriff der „Gemeinschaftsgrundrechte“ gebräuchlicher. 31 Lenaerts, European Law Review 2000, S. 575 (577 f.); Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 117, 130; Lenz/Borchardt – Wolffgang, Anh. zu Art. 6 EUV, Rn. 10 f. 32 Mittlerweile hat der EuGH den Grundrechtsschutz der Gemeinschaft in einer Weise ausgebaut, dass er nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 73, 339, 378) nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im Wesentlichen gleichzuachten ist. Deswegen überprüft das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 102, 147) Akte der Gemeinschaft grundsätzlich nicht mehr am Maßstab nationaler Grundrechte. 33 ABl. Nr. C 364, 18.12.2000, S. 1 ff. 29
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
a) Zur Entstehung der Grundrechtecharta Auf dem Kölner Gipfel vom 3./4. Juni 1999 beschloss der Europäische Rat unter deutscher Präsidentschaft, eine Charta der Grundrechte für die Europäische Union ausarbeiten zu lassen.34 Der Rat vertrat die Auffassung, dass der Entwicklungsstand der Union es erfordere, eine Charta derjenigen Grundrechte, die vom EuGH bestätigt und ausgeformt worden seien, erstellen zu lassen, um deren überragende Bedeutung und deren Tragweite für die Unionsbürger sichtbarer werden zu lassen. Unter Verweis auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und die EMRK verlangte der Rat, dass die Charta Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie Verfahrensgrundrechte beinhalten sollte. Zugleich seien aber auch „soziale Rechte zu berücksichtigen, wie sie in der Europäischen Sozialcharta und Gemeinschaftscharta der Arbeitnehmer enthalten sind, soweit sie nicht nur Ziele für das Handeln der Union begründen“.35 Die Ausarbeitung der Charta wies der Rat in seinem Kölner Beschluss einem noch zu bildenden Gremium zu, das aus den Beauftragten der Staats- und Regierungschefs, dem Präsidenten der Europäischen Kommission sowie Mitgliedern des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente bestehen sollte.36 Auf einem weiteren Gipfeltreffen am 15./16. Oktober 1999 im finnischen Tampere entschied der Europäische Rat über die Zusammensetzung und die Arbeitsweise des Gremiums, das mit der Ausarbeitung der Grundrechtecharta betraut werden sollte.37 Es kam am 17. Dezember 1999 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen, bei der es den ehemaligen Bundespräsidenten Dr. Roman Herzog zu seinem Vorsitzenden wählte. Es gab sich später selbst den Namen „Konvent“.38 Nachdem der Konvent im März des folgenden Jahres mit der inhaltlichen Ausarbeitung der „Charta der Grundrechte für die Europäische Union“ begon34 Beschluss des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Bulletin der Europäischen Union 1999, Heft 6, S. 39 f. 35 Beschluss des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Bulletin der Europäischen Union 1999, Heft 6, S. 39. Aufgrund der vagen Formulierung des Kölner Mandats war es allerdings umstritten, ob lediglich eine Kompilation bereits bestehender Grundrechte gewollt war oder auch neu zu schaffende Grundrechte in der Charta verankert werden sollten; vgl. einerseits: de Búrca, European Law Review 2001, S. 126 (130); Hervey/Kenner – Maduro, Economic and Social Rights under the EU Charter of Fundamental Rights, S. 269 (272) und andererseits: Jarass, EU-Grundrechte, § 1, Rn. 22; Weber, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 5. 36 Beschluss des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Bulletin der Europäischen Union 1999, Heft 6, S. 39 f. 37 Vgl. Bulletin der Europäischen Union 1999, Heft 10, S. 15 f. 38 Üblicherweise wird der zur Ausarbeitung der Grundrechtecharta eingesetzte Konvent als „Grundrechtskonvent“ bezeichnet.
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nen hatte, gelang es ihm nach nur 18 öffentlichen Sitzungen und größtmöglicher Beteiligung der Öffentlichkeit in weniger als einem Jahr seine Arbeit an der Charta zu vollenden. Am 2. Oktober 2000 beschloss der Grundrechtskonvent in einer feierlichen Sitzung seinen letzten Entwurf der Grundrechtecharta an den Rat weiterzuleiten.39 Zudem formulierte das Konventspräsidium Erläuterungen zur Grundrechtecharta, die den Inhalt der einzelnen Chartabestimmungen verdeutlichen, aber selbst keine rechtlichen Wirkungen entfalten sollen.40 Am 7. Dezember 2000 wurde die Grundrechtecharta schließlich als Annex IX des Vertragstextes von Nizza vom Europäischen Parlament, dem Rat der Europäischen Union und der Europäischen Kommission feierlich proklamiert.41 b) Der rechtliche Status der Grundrechtecharta Welcher rechtliche Status der Grundrechtecharta aufgrund dieser feierlichen Proklamation zukommt und inwiefern sie als Rechtserkenntnisquelle für die Begründung von Gemeinschaftsgrundrechten in Betracht kommt, wird seit ihrer Veröffentlichung lebhaft diskutiert. aa) Die praktischen Auswirkungen der Grundrechtecharta als interinstitutionelle Vereinbarung Zunächst ist festzustellen, dass alle drei an ihrer Proklamation beteiligten Unionsorgane sich für an die Grundrechtecharta gebunden halten. Das Europäische Parlament hat dies in Art. 34 seiner Geschäftsordnung niedergelegt und achtet deswegen bei jedem Rechtsakt auf dessen Übereinstimmung mit der Charta. Nach der Ansicht des EU-Parlaments ist die Charta mittlerweile zu einem wichtigen Bezugsdokument geworden, auf das sich sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Bürger berufen und das von den Europäischen Institutionen geachtet wird; das verleihe der Charta große Autorität.42 Die Europäische Kommission hat ebenfalls zum Ausdruck gebracht, dass sie die von ihr zu beschließenden Rechtsakte auf deren Vereinbarkeit mit der Grundrechtecharta hin überprüft.43 Der Europäische Rat hat sich zwar nicht ausdrücklich zu seiner Bindung an die Charta bekannt, aber in einer Reihe von verbindlichen Beschlüssen 39
CHARTE 4487/00, CONVENT 50, 28.9.2000. CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000; zur Bedeutung der gen siehe: Hummer, Der Status der „EU-Grundrechtecharta“, S. 68; Jarass, rechte, § 2, Rn. 29. 41 ABl. Nr. C 364, 18.12.2000, S. 5. 42 Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Wirkung der Grundrechte der Europäischen Union und ihren künftigen Status vom (ABl. Nr. C 300 E, 11.12.2003, S. 167). 43 KOM SEK (2001) 380/3, S. 2 f. 40
ErläuterunEU-Grund-
Charta der 23.10.2002
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
und Entschließungen ausdrücklich auf die Grundrechtecharta verwiesen. Beispielsweise hat er im achten Erwägungsgrund seines Beschlusses über das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen vom 3. Dezember 2001 festgestellt, dass sich der Beschluss auf die in der Grundrechtecharta anerkannten Grundsätze stützt.44 Die interinstitutionelle Vereinbarung zwischen den Gemeinschaftsorganen führt wegen der fehlenden Außenwirkung zwar nicht zur Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta,45 entfaltet aber aufgrund der Selbstbindung der europäischen Institutionen grundrechtsschützende Vorwirkungen.46 Da anzunehmen ist, dass die Gemeinschaftsorgane ihre Selbstverpflichtung respektieren wollen, sind alle von ihnen getroffenen Maßnahmen im Zweifel so auszulegen, dass sie mit der Charta in Einklang stehen.47 Eingriffe in die Chartarechte lösen folglich eine besondere Argumentationslast aus, was die Charta zu so genanntem „soft law“ macht.48 Des Weiteren spielt die Charta, obwohl der EuGH sie bislang unerwähnt gelassen hat,49 in der Rechtsprechung der Europäischen Gemeinschaft eine nicht ganz unwesentliche Rolle. In zahlreichen Schlussanträgen haben die Generalanwälte in Verfahren vor dem EuGH und dem Europäischen Gericht erster Instanz zur Begründung ihrer Anträge auf die Charta verwiesen.50 Das EuG hat sie bereits vereinzelt zur Begründung seiner Entscheidungen herangezogen.51 Insbe44 Beschluss 2001/903/EG (ABl. Nr. L 335, 19.12.2001, S. 15); vgl. Grabitz/Hilf – Pernice/Meyer, nach Art. 6 EUV, Rn. 24; Streinz – Streinz, Vorbem. GR-Charta, Rn. 5. 45 Vgl. EuGH, 30.4.1996, Rs. C-58/94, Slg. 1996, I-2169, Rn. 38 (Niederlande/ Rat). 46 Grabitz/Hilf – Pernice/Meyer, nach Art. 6 EUV, Rn. 24. 47 Hummer, Der Status der „EU-Grundrechtecharta“, S. 67; Schmitz, JZ 2001, S. 833 (836); ders., EuR 2004, S. 691 (696 f.). 48 Hummer, Der Status der „EU-Grundrechtecharta“, S. 67; Kenner, EU Employment Law, S. 529; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 55. 49 Hummer, Der Status der „EU-Grundrechtecharta“, S. 63. Lediglich in einem Beschluss des Präsidenten des EuGH (18.10.2002, Rs. 232/02 P (R), Rn. 85 – Technische Glaswerke Ilmenau) findet sich eine Bezugnahme des EuGH auf die Grundrechtecharta. Die Zurückhaltung des Gerichtshofs lässt sich nach Pernice/Mayer (in: Grabitz/Hilf, nach Art. 6 EUV, Rn. 25) und Streinz (in: Streinz, Vorbem. GR-Charta, Rn. 8) damit erklären, dass er dem europäischen Verfassungsprozess nicht vorgreifen will. Jedenfalls ist die von der Kommission (KOM (2000) 644 endg., S. 6) gehegte Erwartung, der Gerichtshof werde die Charta zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts zählen, bislang nicht erfüllt worden. 50 GA Jacobs, SchlA, 22.3.2001, Rs. C-270/99, Rn. 40 (Z/Europäisches Parlament); GA Alber, SchlA, 1.2.2001, Rs. C-340/99, Rn. 94 (TNT Traco); GA Léger, SchlA, 10.7.2001, Rs. C-309/99, Rn. 175 (Wouters); vgl. auch Streinz – Streinz, Vorbem. GRCharta, Rn. 7 (m.w. N.). 51 EuG, 30.1.2002, Rs. T-54/99, Rn. 57 (max.mobil). Bereits in der Rechtssache T112/98 (20.2.2001, Rn. 15 – Mannesmannröhren-Werke) hat das EuG die Anwendung
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sondere hat es in dem 2002 entschiedenen Fall „max.mobil“ die Existenz eines Rechts auf gerichtliche Kontrolle als allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsatz aus den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten gewonnen und Art. 47 GRC zur Bestätigung dieses Ergebnisses angeführt.52 Zuvor hatte das EuG schon im Beschluss zum Fall „Territorio Histórico de Álava“ den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 6 und 13 EMRK und Art. 47 GRC hergeleitet.53 Im Gegensatz dazu verwenden die Generalanwälte die Charta nicht nur für die Auslegung anerkannter, sondern auch zur Begründung solcher Gemeinschaftsgrundrechte, die sich in der europäischen Rechtsprechung noch nicht durchgesetzt haben. Als Beispiel sei nur der Schlussantrag des Generalanwalts Tizzano in dem Fall „BECTU“ genannt, in dem er die Existenz eines grundlegenden Sozialrechts auf bezahlten Jahresurlaub mit Art. 31 Abs. 2 GRC begründet hat.54 Darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der nach Art. 19 EMRK auf die Überprüfung der Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention beschränkt ist, die Grundrechtecharta der Europäischen Union und damit einen für ihn fremden Rechtstext für die zusätzliche Begründung seiner Entscheidungen herangezogen.55 In gleicher Weise hat auch das Bundesverfassungsgericht die Charta verwendet.56 bb) Die Grundrechtecharta zwischen Interpretationshilfe und Rechtserkenntnisquelle Die Bedeutung der Charta für die Begründung und Konkretisierung von Gemeinschaftsgrundrechten ist dennoch nicht unumstritten. Das betrifft insbesondere die Frage, ob die Grundrechtecharta lediglich als Interpretationshilfe für der Grundrechtecharta lediglich deswegen für ausgeschlossen gehalten, weil sie im verfahrensgegenständlichen Zeitpunkt noch nicht existierte. 52 EuG, 30.1.2002, Rs. T-54/99, Rn. 57 (max.mobil). 53 EuG, 11.1.2002, Rs. T-77/01, Rn. 35 (Territorio Histórico de Álava); vgl. auch EuG, 27.9.2002, Rs. T-211/02, Rn. 37 (Tideland Signal). 54 GA Tizzano, SchlA, 8.2.2001, Rs. C-173/99, Rn. 26 (BECTU). 55 EGMR (GrK), 11.7.2002, App. 25680/94, Rn. 41, 80 (I./United Kingdom); 11.7. 2002, App. 28957/95, Rn. 58, 100 (Goodwin). Der EuGH (7.1.2004, Rs. C-117/01, Rn. 33 – National Health Service Pensions Agency) hat sich der mit Bezugnahme auf die EU-Grundrechtecharta entwickelten Rechtsauffassung des EGMR angeschlossen; vgl. hierzu auch: Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 50. 56 BVerfGE 107, 395 (408 f.); 110, 339 (342); BVerfG, EuR 2002, S. 236 (238). Zum Beschluss des spanischen Tribunal Constitucional vom 30.11.2000 und dem Vorlagebeschluss des Österreichischen Gerichtshofs an den EuGH vom 12.12.2000, in denen das Spanische und das Österreichische Verfassungsgericht bezüglich des Schutzes personenbezogener Daten auf Art. 8 GRC verwiesen haben, siehe: Hummer, Der Status der „EU-Grundrechtecharta“, S. 65.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
bereits anerkannte bzw. mit den beiden in Art. 6 Abs. 2 EU genannten Rechtserkenntnisquellen zu begründende Grundrechte herangezogen werden darf oder aber neben diesen beiden als eine eigenständige dritte Rechtserkenntnisquelle für die Herleitung von Gemeinschaftsgrundrechten verwendet werden kann. Nach einer verbreiteten Ansicht können die Gemeinschaftsgrundrechte nur aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der EMRK hergeleitet werden. Lediglich eine unter Rückgriff auf diese beiden Rechtserkenntnisquellen festgestellte gemeineuropäische Grundrechtsüberzeugung könne mit der Charta zusätzlich abgestützt werden.57 Die Grundrechtecharta könne daher nur als Interpretationshilfe bei der Ermittlung gemeinsamer Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und damit ausschließlich als „mittelbare Rechtserkenntnisquelle“ dienen.58 Dieses Ergebnis wird vor allem damit begründet, dass die Grundrechtecharta keinen Eingang in die Vorschrift des Art. 6 Abs. 2 EU gefunden habe und die Mitgliedstaaten bewusst darauf verzichtet hätten, eine Bezugnahme auf die Charta in das europäische Vertragsrecht aufzunehmen. Deswegen könne sie nicht als selbständige Rechtserkenntnisquelle der Gemeinschaftsgrundrechte neben die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und die EMRK treten. Zudem sei insbesondere bei der Begründung solcher Grundrechte, die – wie etwa das Recht auf kollektive Maßnahmen – über den Kompetenzbestand der Gemeinschaft hinausgingen, einzuwenden, dass die Charta für deren Anerkennung nicht herangezogen werden dürfe. Hierfür sei vielmehr eine rechtsverbindliche Aufnahme in das europäische Primärrecht erforderlich.59 Die gegenteilige Auffassung hält die Grundrechtecharta hingegen für eine selbständig neben den einzelstaatlichen Verfassungen und der EMRK stehende Rechtserkenntnisquelle.60 Deswegen könne die Grundrechtecharta ohne weiteres für die Herleitung von Gemeinschaftsgrundrechten genutzt werden. Zur Begründung dieser Ansicht wird zu Recht angeführt, dass der EuGH durchweg völkerrechtliche Vereinbarungen der Mitgliedstaaten, wie etwa die Europäische So-
57 Calliess, EuZW 2001, S. 261 (267); Ehlers – ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20, Rn. 34; Pache, EuR 2001, S. 475 (486); Schmitz, JZ 2001, S. 833 (836); J. Schwarze, EuZW 2001, S. 517 (517 f.); Streinz – Streinz, Vorbem. GR-Charta, Rn. 11; Zuleeg, EuGRZ 2000, S. 511 (514); ähnlich: Däubler, AuR 2001, S. 380 (382); Goldsmith, CML Rev 2001, S. 1201 (1215); Tettinger, NJW 2001, S. 1010. 58 Pache, EuR 2001, S. 475 (486). 59 Vgl. die Diskussion bei Ritgen, ZRP 2000, S. 371 (372). 60 Jarass, EU-Grundrechte, § 2, Rn. 4; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 222; so wohl auch: Mantl/Puntscher-Riekmann/Schweitzer – Vranes, Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union, S. 57 (58); einschränkend: Weber, DVBl. 2003, S. 220 (221); ähnlich: Hummer, Der Status der „EU-Grundrechtecharta“, S. 60.
§ 1 Die Begründung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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zialcharta61, zur Begründung von Gemeinschaftsgrundrechten herangezogen hat, ohne sich hierfür auf eine besondere Ermächtigung in den europäischen Verträgen stützen zu können. Vielmehr hat der EuGH bei der Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte ohne weiteres auf Rechtserkenntnisquellen zurückgegriffen, die zum jeweiligen Zeitpunkt im europäischen Primärrecht gar nicht genannt waren.62 Zudem hat er in dem 1979 entschiedenen Fall „Hauer“63 zur Begründung von Gemeinschaftsgrundrechten die Gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 5. April 197764 herangezogen, die ebenso unverbindlich ist wie die Grundrechtecharta.65 Es ist also keineswegs so, dass für die Begründung von Gemeinschaftsgrundrechten nur primärrechtlich verankerte oder gar verbindlich vorgeschriebene Rechtserkenntnisquellen verwendet werden dürften. Ferner ist Art. 6 Abs. 2 EU keineswegs als abschließende Regelung zu den zulässigerweise verwertbaren Rechtserkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte aufzufassen.66 Letztlich verliert die Kontroverse über die Frage, ob die Grundrechtecharta zur Begründung von Gemeinschaftsgrundrechten herangezogen werden kann, aber an Bedeutung, wenn man bedenkt, dass sie ohnehin keine neuen Grundrechte kreiert, sondern ausweislich ihrer Präambel lediglich den bestehenden Grundrechtsstandard der Gemeinschaft „sichtbarer“ machen will.67 Dieser in der Charta wiedergegebene Standard ergibt sich aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und deren internationalen Verpflichtungen aus dem EU-Vertrag, den Gemeinschaftsverträgen, der EMRK, den vom Europarat beschlossenen Sozialchartas und aus der Rechtsprechung des EuGH sowie des EGMR.68 Die in der Charta enthaltenen Grundrechte werden sich also oh61
EuGH, 15.6.1978, Rs. 149/77, Slg. 1978, 1365, Rn. 26/29 (Defrenne). Hummer, Der Status der „EU-Grundrechtecharta“, S. 62; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 120. 63 EuGH, 5.4.1977, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 15. Ähnlich gelagert ist die Begründung des EuGH in seinem Urteil vom 14.5.1974 (Rs. 4/73, Slg. 1974, 491, S. 507 – Nold), in welcher der Gerichtshof ausführt, dass internationale Verträge bereits dann Grundlage von Gemeinschaftsgrundrechten sein können, wenn sie unterzeichnet, gleichwohl aber wegen fehlender Ratifikation noch unverbindlich sind; vgl. Zuleeg, EuGRZ 2000, S. 511 (513); zustimmend zu dieser Rechtsprechung des EuGH: BVerfGE 73, 339 (383 f.). 64 ABl. Nr. C 103, 27.4.1977, S. 1. 65 Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 1 (11); Zuleeg, EuGRZ 2000, S. 511 (513); vgl. dazu auch Calliess, EuZW 2001, S. 261 (267). 66 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 184 (m.w. N.); a. A.: Schmitz, EuR 2004, S. 691 (696). 67 Vgl. Goldsmith, CML Rev 2001, S. 1201 (1204); Jarass, EU-Grundrechte, § 2, Rn. 5. 68 So ebenfalls in der Präambel der Grundrechtecharta; vgl. Calliess, EuZW 2001, S. 261 (267). Pernice/Mayer (in: Grabitz/Hilf, nach Art. 6 EUV, Rn. 27) halten es aus diesem Grund für praktisch ausgeschlossen, dass ein Grundrecht trotz seiner Verankerung in der Charta nicht zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts62
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
nehin aus den in Art. 6 Abs. 2 EU genannten Rechtserkenntnisquellen ableiten lassen. Eine monokausale Argumentation mit dem Text der Charta wird daher für die Begründung eines Gemeinschaftsgrundrechts nicht notwendig sein. Für die sozialen Grundrechte des vierten Kapitels der Grundrechtecharta69 gilt insofern nichts anderes. Soweit sich ein soziales Grundrecht in der überwiegenden Zahl der Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten wiederfinden lässt, ist es unerheblich, ob sich dessen Anerkennung auf der Gemeinschaftsebene ausschließlich aus den mitgliedstaatlichen Verfassungen oder zusätzlich auch aus der Grundrechtecharta ergibt. Das gleiche gilt für den Fall, dass ein bestimmtes Grundrecht nicht nur aus der Charta, sondern auch aus der Bindung der Mitgliedstaaten an die EMRK und sonstige völkerrechtliche Abkommen zum Schutz der Menschenrechte abgeleitet werden kann. Dass die Grundrechtecharta in diesem Zusammenhang, wie im Kölner Mandat des Grundrechtkonvents vorgesehen, auf die Europäische Sozialcharta und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte zurückgreift, ist im Übrigen keine Neuheit. Denn der EuGH zieht sowohl zur Begründung als auch für die Auslegung der Gemeinschaftsgrundrechte die ESC und im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation abgeschlossene Abkommen heran.70 Sofern sich also ein soziales Grundrecht aus den nationalen Verfassungen, der EMRK und sonstigen völkerrechtlichen Verträgen der Mitgliedstaaten ergibt, kann die zusätzliche Heranziehung der Charta für die Begründung des betreffenden Gemeinschaftsgrundrechts auch nach dem engsten Verständnis des Art. 6 Abs. 2 EU nicht gegen diese Vorschrift verstoßen. Endlich ist für den perhorreszierten Kompetenzkonflikt, der sich angeblich bei der Herleitung von sozialen Grundrechten aus der Grundrechtecharta ergeben soll, kein Anhaltspunkt ersichtlich. Denn Art. 51 Abs. 2 GRC bestimmt ausdrücklich, dass die sich aus der Charta ergebenden Rechte keine neuen Zuständigkeiten der Gemeinschaft begründen und auch an der Reichweite bestehender Zuständigkeiten nichts ändern. Deswegen kann die Grundrechtecharta im Ergebnis vollumfänglich für die Herleitung eines Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen herangezogen werden. Lässt sich ein entsprechendes Grundrecht schon allein aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und deren Verpflichtungen aus internationalen Verträgen zum Schutze der Menschenrechte herleiten, kann die Charta dieses Ergebnis nach allgemeiner Auffassung zusätzlich abstützen. Die Auslegung eines solchermaßen begründeten Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen anhand der Grundrechtecharta ist jedenfalls unproblematisch. rechts gehört. Deswegen könne der Charta eine faktische Geltung nicht abgesprochen werden. 69 Art. 27–38 GRC. 70 EuGH, 15.6.1978, Rs. 149/77, Slg. 1978, 1365, Rn. 26/29 (Deferenne).
§ 1 Die Begründung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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III. Die Begründung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen Aufgrund dieser rechtlichen Voraussetzungen ist nunmehr die Frage nach einem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen zunächst durch vergleichende Betrachtung der Verfassungsnormen und der Verfassungspraxis der Mitgliedstaaten71 sowie deren Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte zu beantworten. Das so gefundene Ergebnis soll anschließend anhand der Grundrechtecharta überprüft und gegebenenfalls bestätigt werden. 1. Rechtsvergleichung der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten Vergleicht man die Rechtslage zum Arbeitskampfrecht in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft unter besonderer Berücksichtigung der Verfassungen der Einzelstaaten, ergibt sich das folgende Bild: In Belgien ist das Streikrecht weder in der Verfassung noch in sonst einem Gesetzestext ausdrücklich vorgesehen.72 Jedoch steht seit der Grundsatzentscheidung des Belgischen Kassationshofes vom 21. Dezember 1981 fest, dass ein Streik einen rechtmäßigen Grund zur Aussetzung des Arbeitsvertrages darstellt und das Streikrecht ein individuelles Recht jedes Arbeitnehmers ist, das ihn dazu berechtigt, als Zeichen des Protestes oder als Ausdruck einer Forderung die Arbeit niederzulegen.73 In Bulgarien wird das Streikrecht hingegen in Art. 50 der Bulgarischen Verfassung garantiert: „Die Arbeiter und Angestellten haben das Recht, zur Verteidigung ihrer kollektiven wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu streiken. Dieses Recht wird unter Voraussetzungen und nach einem Verfahren verwirklicht, das durch Gesetz festgelegt wird.“74
In der Verfassung von Dänemark wird das Streikrecht nicht gewährleistet, ist aber als kollektives Recht der Arbeitnehmerverbände anerkannt und darf ausgeübt werden, sofern kein dem entgegenstehender Tarifvertrag in Kraft ist und eine Gewerkschaft zum Streik aufgerufen hat.75 71 So versteht der EuGH die heute in Art. 6 Abs. 2 auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der 13.12.1979, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 20 (Hauer). 72 Henssler/Braun – Matray/Hübinger, Arbeitsrecht in 73 Henssler/Braun – Matray/Hübinger, Arbeitsrecht in 74 Abgedruckt bei: Weber, Menschenrechte, S. 537. 75 Henssler/Braun – Steinrücke/Würtz, Arbeitsrecht in
EU befindliche Bezugnahme Mitgliedstaaten; vgl. EuGH, Europa, Belgien, Rn. 199. Europa, Belgien, Rn. 202. Europa, Dänemark, Rn. 138.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
In Deutschland wird das Arbeitskampfrecht in Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG erwähnt und seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Juni 1991 steht fest, dass die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind, als zur Verfolgung des Koalitionszwecks notwendige Mittel umfasst.76 In Estland wird das Streikrecht von der Nationalverfassung geschützt. Dort heißt es in Art. 29 Abs. 5 wörtlich: „Die Zugehörigkeit zu Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen und -verbänden ist frei. Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen und -verbände können für ihre rechtlichen und gesetzlichen Interessen Mittel einsetzen, die gesetzlich nicht verboten sind. Die Bedingungen und das Verfahren für die Wahrnehmung des Streikrechts werden gesetzlich festgelegt.“77
Obwohl das Streikrecht im Grundgesetz Finnlands nicht ausdrücklich genannt, sondern auf der Ebene des einfachen Rechts geregelt wird, genießt es nach allgemeiner Auffassung als Teil der Vereinigungsfreiheit Verfassungsrang.78 Die Präambel der Französischen Verfassung vom 4. Oktober 1958 verweist auf die Präambel der Verfassung von 1946, die deswegen ihrerseits geltendes Verfassungsrecht der Republik Frankreich darstellt. In der Präambel der Verfassung von 1946 heißt es: „Das Streikrecht wird im Rahmen der Gesetze, die es regeln, ausgeübt.“79
In Griechenland wird das Streikrecht in Art. 23 Abs. 2 der Landesverfassung gewährt: „Der Streik ist ein Recht und wird zur Bewahrung und Förderung der wirtschaftlichen und allgemeinen Arbeitsinteressen der Arbeitenden von den gesetzmäßig gebildeten Gewerkschaften geführt. Der Streik von Richtern, Staatsanwälten und Polizeiangehörigen ist in jeder Form verboten. Das Streikrecht der Staats- und Kommunalbeamten und der Beamten der juristischen Personen des öffentlichen Rechts sowie des Personals aller Art von Unternehmen von öffentlichem Charakter oder gemeinem Nutzen, deren Tätigkeit für die Gesamtheit der Bevölkerung lebenswichtig ist, darf durch Gesetz besonders eingeschränkt werden. Diese Einschränkung darf nicht zur Aufhebung des Streikrechts oder zur Behinderung von dessen rechtmäßiger Ausübung führen.“80 76
BVerfGE 84, 212. A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl., S. 115. 78 Mosler/Bernhardt – Dolzer, Die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer, S. (1259). 79 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl., S. 194. 80 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl., S. 208. 77
2005, 1255 2005, 2005,
§ 1 Die Begründung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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In Großbritannien definiert paragraph 246 Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 auf der Ebene des einfachen Rechts einen Streik als gemeinschaftlich abgestimmte Arbeitsniederlegung. Sie kann aufgrund weiterer gesetzlicher Bestimmungen zur Immunität der Gewerkschaften und zum Schutz streikender Arbeitnehmer als Recht auf kollektive Maßnahmen verstanden werden.81 Darüber hinaus sind die Gewährleistungen der EMRK und damit auch Art. 11 Abs. 1 EMRK82 in Großbritannien durch den Human Rights Act 1998 in die nationale Rechtsordnung implementiert worden. Dieser Rechtsakt bindet die nationalen Behörden und verpflichtet die nationalen Gerichte dazu, einzelstaatliche Legislativakte in Einklang mit dem Human Rights Act auszulegen und anzuwenden. Allerdings besteht keine Befugnis, nationales Recht, soweit es gegen den Human Rights Act verstößt, unangewendet zu lassen. Ferner ist das House of Parliament nicht an den Inhalt des Human Rights Act gebunden, der zudem den übrigen einfachgesetzlichen Rechtsquellen nicht vorgeht.83 Dem Human Rights Act kann deswegen kein verfassungsrechtlicher Charakter zugesprochen werden. Das Streikecht hat in Großbritannien mithin keinen Verfassungsrang. In Irland wird das Recht zu streiken nach dem Industrial Relations Act 1990 und durch die Gewährung von Immunität gegen rechtliche Schritte des Arbeitgebers während des Arbeitskampfes nach dem Common Law geschützt.84 In der Verfassung der Republik Irland wird das Streikrecht nicht ausdrücklich genannt und es ist umstritten, ob es sich aus Art. 40 Absatz 3 Satz 1 der Irischen Verfassung ergibt.85 Eine mit der Präambel der Französischen Verfassung gleichlautende Formulierung findet sich in Art. 40 der Italienischen Verfassung, der wie folgt lautet: „Das Streikrecht wird im Rahmen der Gesetze, die es regeln, ausgeübt.“86
Art. 108 der Verfassung der Republik Lettland vom 15. Februar 1922 bestimmt: „Beschäftigte haben das Recht, kollektive Verträge abzuschließen und das Recht zu streiken. Der Staat schützt die Freiheit der Gewerkschaften.“87 81 Henssler/Braun – Harth/Taggart, Arbeitsrecht in Europa, Großbritannien, Rn. 106. 82 Zum daraus folgenden Recht auf kollektive Maßnahmen sogleich unter § 1 III. 2. a). 83 Schwarze – Birkinshaw, The Birth of a European Constitutional Order, S. 205 (230 f.). 84 Henssler/Braun – Erken, Arbeitsrecht in Europa, Irland, Rn. 124 (m.w. N.). 85 Henssler/Braun – Erken, Arbeitsrecht in Europa, Irland, Rn. 125. 86 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl., 2005, S. 295. 87 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl., 2005, S. 328.
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In Litauen steht das Streikrecht unter dem Schutz des Art. 51 der Verfassung: „Zur Verteidigung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen haben die Beschäftigten das Recht zu streiken. Beschränkungen, Anwendungsbedingungen und Verfahren für dieses Recht werden durch Gesetz festgelegt.“88
In Luxemburg leiten die Gerichte das Streikrecht aus dem verfassungsrechtlich verankerten Vereinigungsrecht der Gewerkschaften nach Art. 11 der Verfassung ab,89 der an der betreffenden Stelle folgenden Wortlaut hat: „Das Gesetz trifft Vorsorge für die soziale Sicherheit, den Schutz der Gesundheit sowie die Erholung der Arbeiter und gewährleistet die gewerkschaftlichen Freiheiten.“90
In Malta schützt die Nationalverfassung in Art. 42 Abs. 1 hingegen lediglich das Recht jeder Person, zur Verteidigung ihrer Interessen Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten.91 In der Verfassung des Königreiches der Niederlande wird das Streikrecht nicht genannt. Nach dem Urteil des niederländischen Obersten Gerichtshofs vom 3. Mai 1986 findet aber das Streikrecht aus Art. 6 Nr. 4 ESC unmittelbare Anwendung, so dass auch die Niederlande das Streikrecht gewährleisten.92 Österreich ist der Europäischen Menschenrechtskonvention im Jahr 1958 beigetreten und hat die EMRK mit dem Bundesverfassungsgesetz vom 4.3.1964 mit Verfassungsrang ausgestattet. Die in der EMRK verankerten Grundfreiheiten und Menschenrechte gelten damit in Österreich als unmittelbar anwendbare und verfassungsrechtlich gewährleistete Rechte.93 Die Verbürgungen des Art. 11 EMRK und die sich daraus ergebenden Rechte der Gewerkschaften sind daher unmittelbar geltendes österreichisches Verfassungsrecht.94 In Polen wird das Streikrecht in Art. 59 Abs. 3 der Landesverfassung garantiert: „Den Gewerkschaften steht das Recht zu, einen Streik der Arbeitnehmer und andere Protestaktionen in den vom Gesetz bestimmten Grenzen zu veranstalten. Im 88
Abgedruckt bei: Weber, Menschenrechte, S. 538. Mosler/Bernhardt – Dolzer, Die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer, S. 1255 (1259); vgl. Streinz – Streinz, Art. 28 GRC, Rn. 2. 90 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl., 2005, S. 362. 91 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl., 2005, S. 389. 92 Henssler/Braun – van Gijzen, Arbeitsrecht in Europa, Niederlande, Rn. 239; Rebhahn, GS-Heinze, S. 649 (652). 93 Vgl. Berka, Die Grundrechte, Rn. 66 f. 94 Nach Berka (in: Die Grundrechte, Rn. 660) ist das Streikrecht daher in Österreich grundrechtlich garantiert; vgl. im Übrigen Mosler/Bernhardt – Dolzer, Die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer, S. 1255 (1256 f.). 89
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Hinblick auf das Gemeinwohl kann das Gesetz die Durchführung eines Streiks einschränken oder in Bezug auf bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern oder in bestimmten Bereichen verbieten.“95
In der Verfassung der Republik Portugal werden die arbeitskampfrechtlichen Gewährleistungen in Art. 57 geregelt. In dessen erstem Absatz wird das Streikrecht ausdrücklich anerkannt: „Das Streikrecht ist gewährleistet.“96
In vergleichbarer Weise wird das Streikrecht in Art. 40 der Rumänischen Verfassung grantiert: „(1) Die Arbeitnehmer haben das Recht auf Streik zur Verteidigung ihrer beruflichen, wirtschaftlichen und sozialen Belange. (2) Das Gesetz bestimmt die Bedingungen und die Schranken der Ausübung des Rechts sowie die Gewährleistungen, die notwendig sind, um die wesentlichen Dienstleistungen für die Gesundheit sicherzustellen.“97
In Schweden dürfen nach Kapitel 2 § 17 der Verfassung Vereinigungen von Arbeitnehmern sowie Arbeitgeber und Vereinigungen von Arbeitgebern gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen ergreifen, wenn aus Gesetzen und Verträgen nichts anderes hervorgeht.98 In der Slowakei bestimmt Art. 37 Abs. 4 der Landesverfassung: „Das Streikrecht ist gewährleistet. Die Bedingungen werden durch Gesetz geregelt. Dieses Recht steht nicht den Richtern, Staatsanwälten, Angehörigen der Streitkräfte und bewaffneten Korps, Mitgliedern der Feuerwehren und Rettungsmannschaften zu.“99
Eine ähnliche Bestimmung findet sich in Art. 77 der Verfassung der Republik Slowenien vom 23. Dezember 1991: „Die Arbeitnehmer haben das Recht auf Streik. Das Streikrecht kann mit Rücksicht auf die Art und Natur der Tätigkeit durch Gesetz eingeschränkt werden, wenn dies im öffentlichen Interesse ist.“100
95 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, S. 553. 96 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, S. 611. 97 Abgedruckt bei: Weber, Menschenrechte, S. 540. 98 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, S. 688. 99 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, S. 724. 100 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, S. 770.
6. Aufl., 2005, 6. Aufl., 2005,
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Art. 28 Abs. 2 der Spanischen Verfassung hat folgenden Wortlaut: „Das Streikrecht der Arbeitnehmer zur Verteidigung ihrer Interessen wird anerkannt. Das Gesetz, das die Ausübung dieses Rechts regelt, legt die erforderlichen Garantien fest, um die Aufrechterhaltung der wesentlichen Dienstleistungen der Gemeinschaft zu sichern.“101
Für die Tschechische Republik findet sich in Art. 27 Abs. 4 der verfassungskräftigen Charta der Grundrechte und -freiheiten vom 16. Dezember 1992 folgende Bestimmung: „Das Streikrecht wird unter gesetzlich festgelegten Bedingungen gewährleistet; dieses Recht erstreckt sich jedoch nicht auf Richter, Staatsanwälte, Angehörige der Streitkräfte und der Polizei.“102
Art. 70c Abs. 2 der Ungarischen Verfassung bestimmt: „Das Streikrecht kann im Rahmen der dieses regelnden Gesetze ausgeübt werden.“103
In Zypern wird das Streikrecht in Art. 27 der Verfassung der Republik Zypern gewährleistet: „(1) The right to strike is recognised and its exercise may be regulated by law for the purposes only of safeguarding the security of the Republic or the constitutional order or the public order or the public safety or the maintenance of supplies and services essential to the life of the inhabitants or the protection of the rights and liberties guaranteed by this Constitution to any person. (2) The members of the armed forces, of the police and of the gendarmerie shall not have the right to strike. A law may extend such prohibition to the members of the public service.“104
Um auf der Gemeinschaftsebene anerkannt zu werden, muss ein Grundrecht nach der allgemein anerkannten Rechtsprechung des EuGH nicht in allen Mitgliedstaaten verfassungsrechtlich verankert sein.105 Es genügt vielmehr, wenn das betreffende Grundrecht in der überwiegenden Zahl der Mitgliedstaaten als solches anerkannt wird.106
101 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl., 2005, S. 795. 102 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl., 2005, S. 857. 103 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl., 2005, S. 888. 104 A. Kimmel/C. Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl., 2005, S. 925. 105 Vgl. EuGH, 13.12.1979, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 20 (Hauer); von der Groeben/Schwarze – Gaitanides, Art. 220 EG, Rn. 30; Grabitz/Hilf – Hilf/Schorkopf, Art. 6 EUV, Rn. 51; Grabitz/Hilf – Pernice/Mayer, nach Art. 6 EUV, Rn. 16. 106 Jarass, EU-Grundrechte, § 2, Rn. 28.
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Ein Grundrecht auf Arbeitskampfmaßnahmen wird in den folgenden Mitgliedstaaten verfassungsrechtlich gewährleistet: Bulgarien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Polen, Portugal, Rumänien, Österreich, Schweden, der Slowakei, Slowenien, Spanien, der Tschechischen Republik, Ungarn und Zypern. Damit wird es in mindestens 21 der insgesamt 27 Mitgliedstaaten der Gemeinschaft – in der überwiegenden Zahl sogar ausdrücklich – von der jeweiligen nationalstaatlichen Verfassung garantiert. Das entspricht einem Anteil von mehr als 3/4 der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft. In allen anderen Mitgliedstaaten ist das Arbeitskampfrecht auf der Ebene des einfachen Rechts oder aufgrund sonstiger Rechtsgrundlagen anerkannt.107 Die weit überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten kennt demnach ein verfassungsmäßiges Streikrecht bzw. ein Grundrecht auf kollektive Maßnahmen. Allein wegen der Rechtsprechung des EuGH und der Vorschrift des Art. 6 Abs. 2 EU zwingt bereits dieser Befund zur Anerkennung eines Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen. Da das Verfassungsrecht der Einzelstaaten die ranghöchste Quelle ihrer jeweiligen Rechtsordnungen ist, kann die Gemeinschaft als ein von ihnen geschaffener „supranationaler Staatenverbund“108 der übereinstimmenden Bindung an dieses Grundrecht nicht entzogen sein.109 2. Die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten Die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zum Schutz der Menschenrechte zwingen ebenfalls zur Anerkennung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen. a) Art. 11 Abs. 1 EMRK Es ergibt sich bereits aus dem nach Art. 6 Abs. 2 EU zu berücksichtigenden Art. 11 Abs. 1 EMRK, der unter der Überschrift „Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit“ steht und folgenden Wortlaut hat: „Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen; dazu gehört auch das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.“110 107
Vgl. auch Däubler, FS-Hanau, S. 489 (496); Weiss, FS-Kissel, S. 1253 (1255). Die von Knecht (in: Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 186) aufgestellte Behauptung, dass Art. 28 Var. 2 GRC ein Recht enthalte, das für die Aufnahme in einen Grundrechtskatalog in hohem Maße ungeeignet sei, ist vor diesem Befund nicht haltbar. 108 BVerfGE 89, 155 (156). 109 Vgl. Goldsmith, CML Rev 2001, S. 1201 (1202 f.). 110 Hervorhebungen vom Verfasser.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
aa) Die Gewährleistungen des Art. 11 Abs. 1 EMRK nach der Rechtsprechung des EGMR Auf den ersten Blick scheint Art. 11 Abs. 1 EMRK nur die Versammlungsund die allgemeine Vereinigungsfreiheit zu schützen und das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, lediglich als Unterfall der allgemeinen Vereinigungsfreiheit deklaratorisch zu wiederholen. Dass die gewerkschaftliche Vereinigungsfreiheit in Art. 11 Abs. 1 EMRK ein besonderer Fall des Vereinigungsrechts ist, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dementsprechend bereits in den Anfängen seiner Rechtsprechung zu Art. 11 EMRK festgestellt. Schon in seinen ersten Entscheidungen zur Vereinigungsfreiheit hat der EGMR ausgeführt, dass die Gewerkschaftsfreiheit, im Sinne der Freiheit Gewerkschaften zu bilden und diesen beizutreten, nur eine Form bzw. nur einen Aspekt der Vereinigungsfreiheit darstelle.111 Deswegen garantiere Art. 11 Abs. 1 EMRK weder den Gewerkschaften noch deren Mitgliedern eine bestimmte Behandlung seitens des Staates; es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Konventionsstaaten mit Art. 11 Abs. 1 EMRK ein derartiges Recht hätten schaffen wollen.112 Die besonderen Rechte der Gewerkschaften sind dem EGMR zufolge Gegenstand einer besonderen Konvention, nämlich der Europäischen Sozialcharta und dort vor allem des Art. 6 ESC.113 Gleichwohl hält der EGMR das Merkmal in Art. 11 Abs. 1 EMRK, nach welchem die Bildung von Gewerkschaften dem „Schutz von Interessen“ zu dienen bestimmt ist, nicht für überflüssig.114 Der Passus weise eindeutig darauf hin, dass die Konvention die Freiheit garantiere, die beruflichen Interessen von Gewerkschaftsmitgliedern durch gewerkschaftliche Maßnahmen zu schützen.115 Die Konventionsstaaten seien mithin verpflichtet, gewerkschaftliche Maßnahmen zu erlauben und zu ermöglichen, damit die Gewerkschaften die beruflichen 111 EGMR, 27.10.1975, App. 4464/70, Rn. 38 (National Union of Belgian Police); 6.2.1976, App. 5614/72, Rn. 39 (Swedish Engine Drivers’ Union); 6.2.1976, App. 5589/72, Rn. 34 (Schmidt & Dahlström); (GrK) 25.4.1996, App. 15573/89, Rn. 45 (Gustafsson); 2.7.2002, App. 30668/96, Rn. 42 (Wilson aO). 112 EGMR, 27.10.1975, App. 4464/70, Rn. 38 (National Union of Belgian Police); 6.2.1976, App. 5614/72, Rn. 39 (Swedish Engine Drivers’ Union); 6.2.1976, App. 5589/72, Rn. 34 (Schmidt & Dahlström); (GrK) 25.4.1996, App. 15573/89, Rn. 45 (Gustafsson); 2.7.2002, App. 30668/96, Rn. 42 (Wilson aO). 113 EGMR, 27.10.1975, App. 4464/70, Rn. 38 (National Union of Belgian Police); 6.2.1976, App. 5614/72, Rn. 39 (Swedish Engine Drivers’ Union); 6.2.1976, App. 5589/72, Rn. 34 (Schmidt & Dahlström). 114 EGMR, 27.10.1975, App. 4464/70, Rn. 39 (National Union of Belgian Police); 6.2.1976, App. 5614/72, Rn. 40 (Swedish Engine Drivers’ Union); (GrK) 25.4.1996, App. 15573/89, Rn. 45 (Gustafsson); 2.7.2002, App. 30668/96, Rn. 42 (Wilson aO). 115 EGMR, 27.10.1975, App. 4464/70, Rn. 39 (National Union of Belgian Police); 6.2.1976, App. 5614/72, Rn. 40 (Swedish Engine Drivers’ Union); 6.2.1976, App. 5589/72, Rn. 36 (Schmidt & Dahlström); (GrK) 25.4.1996, App. 15573/89, Rn. 45 (Gustafsson); 2.7.2002, App. 30668/96, Rn. 42 (Wilson aO).
§ 1 Die Begründung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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Interessen ihrer Mitglieder wirksam vertreten können.116 Der EGMR lehnt es allerdings ab, Art. 11 Abs. 1 EMRK spezielle Rechte zu entnehmen, mit deren Einsatz die Gewerkschaften die Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder verfolgen können. Art. 11 Abs. 1 EMRK überlasse vielmehr den Einzelstaaten die Wahl der Mittel, die sie für diesen Zweck zur Verfügung stellen.117 Die Ausgestaltung und Begrenzung des Rechts der Gewerkschaften auf Vertretung der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder durch gewerkschaftliche Maßnahmen unterliegt demgemäß nach der Rechtsprechung des EGMR den Rechtsvorschriften der Einzelstaaten, denen insofern ein weiter Ermessensspielraum zusteht.118 Art. 11 Abs. 1 EMRK verlange lediglich, dass die Gewerkschaftsmitglieder nach dem Recht der Einzelstaaten befähigt sind, ihren gewerkschaftlichen Zusammenschluss zur Vertretung ihrer beruflichen Interessen zu nutzen.119 Deswegen entnimmt der EGMR dem Art. 11 Abs. 1 EMRK kein subjektives Recht auf bestimmte gewerkschaftliche Maßnahmen, wie etwa den Streik. Der Gerichtshof hat sich hierzu mit der Aussage beschieden, dass sich aus Art. 11 Abs. 1 EMRK zwar kein Streikrecht ergebe,120 dass aber der Streik, wenn auch nicht das einzige, ohne jeden Zweifel eines der wichtigsten Mittel der Gewerkschaften sei, das sie zur Vertretung der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder einsetzen können.121 Nach einer neueren Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 10. Januar 2002 beschränkt ein einzelstaatliches Streikverbot das Recht der Gewerkschaften, die beruflichen Interessen ihrer Mitglieder zu schützen, und greift damit in das Konventionsrecht aus 116 EGMR, 27.10.1975, App. 4464/70, Rn. 39 (National Union of Belgian Police); 6.2.1976, App. 5614/72, Rn. 40 (Swedish Engine Drivers’ Union); 6.2.1976, App. 5589/72, Rn. 36 (Schmidt & Dahlström); 2.7.2002, App. 30668/96, Rn. 42 (Wilson aO). 117 EGMR, 27.10.1975, App. 4464/70, Rn. 39 (National Union of Belgian Police); 6.2.1976, App. 5614/72, Rn. 40 (Swedish Engine Drivers’ Union); 6.2.1976, App. 5589/72, Rn. 36 (Schmidt & Dahlström); (GrK) 25.4.1996, App. 15573/89, Rn. 45 (Gustafsson); 2.7.2002, App. 30668/96, Rn. 42 (Wilson aO). 118 EGMR (GrK), 25.4.1996, App. 15573/89, Rn. 45 (Gustafsson); EGMR, 2.7. 2002, App. 30668/96, Rn. 44 (Wilson aO). 119 EGMR, 27.10.1975, App. 4464/70, Rn. 39 (National Union of Belgian Police); 6.2.1976, App. 5614/72, Rn. 40 (Swedish Engine Drivers’ Union); 6.2.1976, App. 5589/72, Rn. 36 (Schmidt & Dahlström); (GrK) 25.4.1996, App. 15573/89, Rn. 45 (Gustafsson); 2.7.2002, App. 30668/96, Rn. 42 (Wilson aO). 120 EGMR, 6.2.1976, App. 5589/72, Rn. 36 (Schmidt & Dahlström). Vgl. auch die teilweise abweichende Meinung der Richter Ryssdal, Spielmann, Palm, Foighel, Pekkanen, Loizou, Makarczyk und Repik zur Entscheidung der Großen Kammer des EGMR im Fall Gustafsson vom 25.4.1996 (in: AuR 1997, 411), wonach sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergebe, dass Art. 11 EMRK kein Instrument zur allgemeinen Regulierung kollektiver Arbeitsbeziehungen sei und auch keinen Schutz vor aus Arbeitskämpfen resultierenden Nachteilen biete. 121 EGMR, 6.2.1976, App. 5589/72, Rn. 36 (Schmidt & Dahlström); 2.7.2002, App. 30668/96, Rn. 45 (Wilson aO); vgl. auch EKMR, 16.4.1998, App. 28910/95 (National Association Of Teachers In Further And Higher Education).
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
Art. 11 Abs. 1 EMRK ein.122 Um rechtmäßig zu sein, muss dieser Eingriff gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt werden können, wobei es insbesondere zu prüfen gilt, ob der jeweilige Einzelstaat mit dem Streikverbot seinen Ermessensspielraum überschritten hat.123 bb) Folgerungen aus der Rechtsprechung des EGMR Die Vorschrift des Art. 11 Abs. 1 EMRK und die hierzu ergangene Rechtsprechung des EGMR erinnern in gewisser Weise an Art. 9 Abs. 3 GG. Im deutschen Verfassungsrecht sind die gewerkschaftlichen Rechte ebenfalls ein „Unterfall“ des Rechts, Vereinigungen zu bilden, und auch hier bestimmt die Zwecksetzung des Zusammenschlusses – die Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen – die Rechte der Vereinigung. Freilich besteht insofern ein Unterschied, als dass der EGMR mit Rücksicht auf den konkurrierenden Rechtsschutz der ESC sowie auf die tradierten Arbeitsrechtssysteme in den Konventionsstaaten von einer Konkretisierung der gewerkschaftlichen Rechte aus Art. 11 Abs. 1 EMRK abgesehen hat.124 Demgegenüber hat die deutsche Rechtsprechung Art. 9 Abs. 3 GG in Ermangelung einfachgesetzlicher Vorschriften zur vollständigen Ausgestaltung des deutschen Arbeitskampfrechts genutzt. Für die Auslegung des Art. 11 Abs. 1 EMRK hat das zur Folge, dass die Reichweite der kollektiven Rechte, die von der konventionsrechtlichen Vereinigungsfreiheit geschützt werden, nicht einfach zu bestimmen ist. Auszugehen ist davon, dass den Gewerkschaften einerseits aus Art. 11 Abs. 1 EMRK das Recht zusteht, die beruflichen Interessen ihrer Mitglieder zu schützen und zu verteidigen, die Konventionsbestimmung aber andererseits kein subjektives Streikrecht gewährleistet. Im Schrifttum wird die Rechtsprechung des EGMR nahezu einhellig dahingehend verstanden, dass Art. 11 Abs. 1 EMRK den nationalen Gewerkschaften erlaube, zum Schutz der Interessen ihrer Mitglieder zu kämpfen, ohne dabei bestimmte Formen der kollektiven Interessenwahrnehmung zu gewährleisten.125 Deswegen ergebe sich aus Art. 11 Abs. 1 EMRK ein Recht auf 122
EGMR, 10.2.2002, App. 53574/99 (Unison). EGMR, 10.2.2002, App. 53574/99 (Unison). 124 Mowbray, European Convention on Human Rights, S. 563. 125 von der Groeben/Schwarze – Beutler, Art. 6 EU, Rn. 159; Däubler/Kittner/Lörcher – Däubler, Internationale Arbeits- und Sozialordnung, S. 542; BMA – Dröge/ Marauhn, Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 77 (86); Frowein/Peukert – Frowein, EMRK, Art. 11, Rn. 13; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 23, Rn. 77; Ehlers – Marauhn, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4, Rn. 87; Münchener Handbuch – Otto, § 284, Rn. 50; kritisch, aber im Ergebnis übereinstimmend: Kenner – Ryan, Economic and Social Rights under the EU Charter of Fundamental Rights, S. 67 (75); vgl. auch Barnard, EC Employment Law, S. 770f.; Coppel, The Human Rights Act 1998, Rn. 13.20 f.; Oetker/Preis – Hergen123
§ 1 Die Begründung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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kollektive Maßnahmen, das als Doppelgrundrecht sowohl den Gewerkschaften als auch deren Mitgliedern zustehe.126 Für bestimmte Gruppen von Beschäftigten könne das Streikrecht allerdings ohne Konventionsverstoß durch andere Mittel der Interessenvertretung ersetzt werden.127 Der völlige und ersatzlose Ausschluss des Streikrechts wird im Schrifttum jedoch als mit Art. 11 Abs. 1 EMRK unvereinbar angesehen.128 Die Richtigkeit dieses Verständnisses ergibt sich daraus, dass nach der Rechtsprechung des EGMR der Ausschluss des Streikrechts im Einzelfall mit der Gewährung einer anderen Möglichkeit zur Interessenwahrnehmung kompensiert werden kann, aber auch kompensiert werden muss, um mit Art. 11 Abs. 1 EMRK in Einklang zu stehen. Daraus folgt, dass das Konventionsrecht ein Recht auf kollektive Maßnahmen enthält, ohne selbst bestimmte Kampfmittel zu garantieren. Nur auf diese Weise lässt sich die vom EGMR formulierte Pflicht der Konventionsstaaten verstehen, kollektive Maßnahmen zu erlauben und zu ermöglichen. Hinsichtlich der Ausgestaltung dieses Rechts steht den Einzelstaaten jedoch ein weiter Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen sie bestimmte kollektive Mittel gewähren können. Für Beamte kann das Streikrecht etwa gänzlich ausgeschlossen werden. Ein generelles Streikverbot überschreitet jedoch den Ermessensrahmen der Einzelstaaten. Daher ist als Ergebnis festzuhalten, dass Art. 11 Abs. 1 EMRK nach der Rechtsprechung des EGMR ein Recht auf kollektive Maßnahmen enthält. Als besonderes Kampfmittel steht die Gewährung des Streiks im Ermessen der Einzelstaaten; sein Ausschluss ist im Einzelfall rechtfertigungsbedürftig und ein generelles Streikverbot mit Art. 11 Abs. 1 EMRK unvereinbar. Wegen der in Art. 6 Abs. 2 EU enthaltenen Anerkennung der EMRK als Rechtserkenntnisquelle der europäischen Gemeinschaftsgrundrechte folgt daraus, dass die Gemeinschaft ein Grundrecht auf kollektive Maßnahmen anzuerkennen hat und sich unter diesen kollektiven Maßnahmen grundsätzlich das Streikrecht befindet.
röder, EAS, B 8400, Rn. 16; wohl zu weitgehend hingegen: Bryde, RdA 2003, Sonderbeilage, S. 5 (6); Weber, Menschenrechte, S. 569. 126 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 23, Rn. 78; Ehlers – Marauhn, Europäische Grundrechte, § 4, Rn. 83. 127 Däubler/Kittner/Lörcher – Däubler, Internationale Arbeits- und Sozialordnung, S. 542; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 23, Rn. 77. 128 Frowein/Peukert – Frowein, EMRK, Art. 11, Rn. 13; Ehlers – Marauhn, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4, Rn. 89; vgl. auch Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 11, Rn. 16.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
b) Art. 6 Nr. 4 ESC Eine weitergehende Garantie des Rechts auf kollektive Maßnahmen findet sich in Art. 6 Nr. 4 ESC. Darin erkennen die Unterzeichnerstaaten der ESC das Recht der Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf kollektive Maßnahmen im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen ausdrücklich an. Die ESC ist wie die EMRK von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft ratifiziert worden129 und nach einem Urteil des EuGH aus dem Jahr 1978 als völkerrechtlicher Vertrag der Mitgliedstaaten bei der Gewinnung von Gemeinschaftsgrundrechten zu berücksichtigen.130 Da der Gemeinschaftsvertrag in Art. 136 EG zudem ausdrücklich auf die Europäische Sozialcharta Bezug nimmt, kann sie ohne weiteres für die Begründung von Gemeinschaftsgrundrechten herangezogen werden.131 Zwar haben Österreich, Griechenland, Luxemburg und Polen Vorbehalte gegenüber Art. 6 Nr. 4 ESC erklärt und Deutschland, Spanien, die Niederlande und Portugal haben wegen nationaler Gegebenheiten eine Wirkung des Art. 6 Nr. 4 ESC auf Beamte, Soldaten oder öffentliche Bedienste für ausgeschlossen erklärt,132 aber die übrigen Mitgliedstaaten sind vollumfänglich an den Inhalt des Art. 6 Nr. 4 ESC gebunden. Das ist ein weiterer gewichtiger Beleg dafür, dass auch die Gemeinschaft an ein Grundrecht auf kollektive Maßnahmen gebunden ist.133 c) Das IAO-Übereinkommen Nr. 87 Der EuGH hat in dem soeben genannten Urteil aus dem Jahre 1978 neben der ESC ein Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO)134 zur Begründung dafür herangezogen, dass die Gemeinschaft einen allgemeinen Rechtsgrundsatz kenne, der die Ungleichbehandlung von Mann und Frau im Arbeitsleben verbiete.135 Überträgt man diese Argumentation auf die Frage nach einem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen, ist insoweit auf das am 9. Juli 1948 abgeschlossene und am 4. Juli 1950 in Kraft getretene
129 Der Ratifikationsstand der ESC ist auf der Internetseite des Europarates (www. coe.int/DefaultDE.asp) abrufbar. 130 EuGH, 15.6.1978, Rs. 149/77, Slg. 1978, 1365, Rn. 26/29 (Defrenne). 131 Vgl. Weiss, FS-Wiese, S. 633 (636). 132 Vgl. Kenner – Ryan, Economic and Social Rights under the EU Charter of Fundamental Rights, S. 67 (74). 133 Kritisch hingegen: Ashiagbor, European Human Rights Law Review 2004, S. 62 (66). 134 Die IAO ist mit dem Versailler Vertrag gegründet worden und steht der UNO nahe; vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 20, Rn. 42. 135 EuGH, 15.6.1978, Rs. 149/77, Slg. 1978, 1365, Rn. 26/29 (Defrenne).
§ 1 Die Begründung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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Übereinkommen Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts (IAO-ÜK Nr. 87)136 abzustellen, das von allen 25 Mitgliedstaaten der EU ratifiziert worden ist.137 Das Übereinkommen weist allerdings keine ausdrückliche Aussage zum Streik auf. In Art. 10 IAO-ÜK Nr. 87 wird der in dem Abkommen verwendete Begriff „Organisation“ als Organisation von Arbeitnehmern oder von Arbeitgebern definiert, welche die Förderung und den Schutz der Interessen der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber zum Ziel hat. In Art. 3 IAO-ÜK Nr. 87 wird diesen Organisationen das Recht zugestanden, sich frei von behördlichen Eingriffen Satzungen und Geschäftsordnungen zu geben, ihre Vertreter frei zu wählen, ihre Geschäftsführung und Tätigkeit zu regeln und ihr Programm aufzustellen. Obwohl sich diese beiden Vorschriften zweifelsfrei auf die interne Verbandsautonomie beziehen, ist der Sachverständigenausschuss der IAO der Auffassung, dass ihnen ein Streikrecht zu entnehmen sei.138 Denn ein Streikverbot erschwere es den Gewerkschaften unzulässig, die Interessen ihrer Mitglieder zu verteidigen, und beeinträchtige damit das sich aus Art. 3 IAO-ÜK Nr. 87 ergebende Recht der Gewerkschaften, ihre Tätigkeiten zu organisieren. Immerhin sei der Arbeitskampf nicht nur auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, sondern auch auf die Lösung ökonomischer, sozialer und solcher Probleme gerichtet, die sich für die Arbeitnehmer in Bezug auf ihre berufliche Tätigkeit stellen. Deswegen sollen die Gewerkschaften nach Ansicht des Sachverständigenausschusses aus Art. 3 und 10 IAO-ÜK Nr. 87 das Recht haben, die Interessen ihrer Mitglieder – gegebenenfalls auch kampfweise – zu schützen. In gleicher Weise betont der bei der IAO gebildete Ausschuss für die Vereinigungsfreiheit, dass das Recht zu streiken ein Grundrecht der Arbeitnehmer und der Arbeitnehmerorganisationen sei, das sie zur Verteidigung ihrer wirtschaftlichen Interessen gebrauchen dürfen. Er hat festgestellt, dass der Ausschluss des Streikrechts für privatrechtlich beschäftigte Arbeitnehmer mit der Vereinigungsfreiheit nicht vereinbar sei und das IAO-ÜK Nr. 87 verletze.139 Ob aus dem IAO-ÜK Nr. 87 tatsächlich ein Streikrecht hergeleitet werden kann, bleibt gleichwohl zweifelhaft, weil nach Art. 37 Abs. 1 IAO-Verfas136
BGBl. II 1956, S. 2072 ff. Auf der Internetseite der IAO findet sich eine Tabelle mit dem Ratifikationsstand aller wesentlichen IAO-Übereinkommen und dort auch des IAO-Übereinkommens Nr. 87 (www.ilo.org/ilolex/english/docs/declworld.htm). 138 Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations, General Survey, 1994, Part I, Chapter V, para. 147; der Bericht des Sachverständigenausschusses kann auf der Internetdatenbank der IAO „ILOLEX“ abgerufen werden (www.ilo.org/ilolex/english/surveyq.htm); vgl. zudem: Däubler, FS-AG Arbeitsrecht im DAV, S. 1183 (1188); Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 258 f. 139 Digest of Decisions and Principles of the Freedom of Association Committee of the Governing Body of the ILO, 1996, para. 473, 474, 477; ebenfalls auf „ILOLEX“ (www.ilo.org/ilolex/english/digestq.htm) abrufbar. 137
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
sung140 ausschließlich der Internationale Gerichtshof (IGH) für die authentische und verbindliche Auslegung der IAO-Übereinkommen zuständig ist. Soweit ersichtlich hat sich der IGH mit der Frage nach einem Streikrecht aus dem IAOÜK Nr. 87 bislang noch nicht befasst.141 Sofern man sich indes der Auffassung der IAO-Organe anschließt,142 ist das IAO-ÜK Nr. 87 ein zusätzlicher Beleg dafür, dass das Recht auf kollektive Maßnahmen zu dem internationalen Grundrechtsstandard gehört, den die Gemeinschaft zu achten und anzuerkennen hat. d) Art. 8 Abs. 1 Buchstabe d) IPWSKR Bezüglich der Frage nach einem Recht auf kollektive Maßnahmen bereitet hingegen der im Rahmen der Vereinten Nationen verabschiedete Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR) vom 19. Dezember 1966143 weniger Auslegungsschwierigkeiten als das IAO-Übereinkommen Nr. 87. Denn im Gegensatz zu diesem gewährleistet Art. 8 Abs. 1 Buchstabe d) IPWSKR das Streikrecht ausdrücklich. Zudem finden sich unter den insgesamt 150 Vertragsstaaten des IPWSKR alle 27 EG-Mitgliedstaaten.144 Als solche haben sie nach Art. 8 Abs. 1 Buchstabe d) IPWSKR das Streikrecht zu gewährleisten, soweit es in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung ausgeübt wird. Der Gehalt der Verbürgung wird zwar dadurch relativiert, dass das Streikrecht durch nationales Recht beschränkt werden kann. Der vollständige Ausschluss des Streikrechts würde aber jedenfalls ebenso wie bei Art. 11 Abs. 1 EMRK gegen Art. 8 Abs. 1 Buchstabe d) IPWSKR verstoßen.145 Problematisch an der Berücksichtigung des Art. 8 Abs. 1 Buchstabe d) IPWSKR ist hingegen, dass der Pakt in der Rechtsprechung des EuGH zu den 140
BGBl. II 1975, S. 2206 ff. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 20, Rn. 43. 142 In Deutschland wird die Ableitung eines Streikrechts aus dem IAO-Übereinkommen Nr. 87 – wohl wegen der extensiven Auslegung durch die IAO-Organe, nach der es etwa Solidaritätsstreiks, Proteststreiks und friedliche Betriebsbesetzungen erlauben soll – mehrheitlich abgelehnt: Kissel, Arbeitskampfrecht, § 20, Rn. 46; Münchener Handbuch – Otto, § 284, Rn. 56; vgl. auch AR-Blattei – Löwisch/Rieble, SD 170.1, Rn. 112 ff.; abweichend hingegen: Däubler, FS-AG Arbeitsrecht im DAV, S. 1183 (1188 f.). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 58, 233, 255) scheint den kritischen Stimmen im deutschen Schrifttum folgen zu wollen und hat im Widerspruch zur Auslegung durch die IAO-Organe entschieden, dass das IAO-Übereinkommen Nr. 87 keine Rechte beinhalte, die nicht ohnehin durch Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich abgesichert seien. Ebenfalls kritisch zur Auffassung der IAO-Organe: Ashiagbor, European Human Rights Law Review 2004, S. 62 (67). 143 BGBl. II 1973, S. 1570 ff. 144 Zum Ratifikationsstand siehe: Internetseite des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (www.ohchr.org/english/law/cescr-ratify.htm). 145 Däubler – Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 104d; vgl. auch Kissel, Arbeitskampfrecht, § 20, Rn. 52. 141
§ 1 Die Begründung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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Gemeinschaftsgrundrechten bislang keine Rolle gespielt hat. Erkennt man ihn aber mit einigen Stimmen im Schrifttum als eine für die Begründung von Gemeinschaftsgrundrechten relevante völkerrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten an,146 ist er ein weiterer Beleg für das Bestehen eines Gemeinschaftsrechts auf kollektive Maßnahmen.147 e) Zusammenfassendes Ergebnis Demnach ergibt sich die Anerkennung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen nicht nur aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, sondern auch aus deren völkerrechtlichen Verpflichtungen und insbesondere aus Art. 11 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Nr. 4 ESC.148 Wiederum gilt in Hinblick auf die Bindung der Mitgliedstaaten an die in Art. 11 Abs. 1 EMRK enthaltenen Gewährleistungen, dass sich diese auf der Ebene der Gemeinschaft fortsetzen. Darüber hinaus weisen das IAO-ÜK Nr. 87 und Art. 8 Abs. 1 Buchstabe d) IPWSKR auf ein Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen hin.149 3. Art. 28 Var. 2 Grundrechtecharta Ein Blick in die Grundrechtecharta bestätigt das gefundene Ergebnis. In Art. 28 Var. 2 GRC enthält die Charta das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen. Die Bestimmung lautet wie folgt: „Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen haben nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarif146 Grabitz/Hilf – Hilf/Schorkopf, Art. 6 EUV, Rn. 53; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 182. Für die Berücksichtigung des IPWSKR spricht, dass die Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. Nr. L 303, 2.12.2000, S. 16) in ihrem vierten Erwägungsgrund auf den Pakt – und im Übrigen auch auf das IAOÜbereinkommen Nr. 111 – Bezug nimmt. In seinem Urteil in der Rechtssache „Mangold“ hat der EuGH (Rs. C-144/04, 22.11.2005, Rn. 74) maßgeblich auf die in diesem Erwägungsgrund genannten völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten Bezug genommen und seine Entscheidung dadurch mittelbar auch auf den IPWSKR gestützt; kritisch hierzu: Preis, NZA 2006, S. 401 (406). 147 Vgl. Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 1. 148 Zutreffend: Jarass, EU-Grundrechte, § 29, Rn. 9. Das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen aus der gemeinschaftsrechtlichen Vereinigungsfreiheit entwickelnd, aber im Ergebnis übereinstimmend: GA Jacobs, SchlA, Rs. C-67/98, 28.1. 1999, Rn. 159 (Albany). 149 Ebenso: Däubler, FS-Hanau, S. 489 (496 f.).
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts verträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen.“
Bezeichnenderweise ist das Recht auf kollektive Maßnahmen, wie es in Art. 28 Var. 2 GRC enthalten ist, nach den Erläuterungen des Konventspräsidiums auf Art. 11 EMRK, Art. 6 ESC und Art. 13 EG-SC zurückzuführen.150 Der Grundrechtskonvent hat das Chartarecht auf kollektive Maßnahmen demzufolge aus den anerkannten Rechtserkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte geschöpft und es in der Grundrechtecharta unzweideutig zum bestehenden Grundrechtskanon der Gemeinschaft gezählt. Art. 28 GRC macht dieses Grundrecht in einer Weise sichtbar, die keine Zweifel an dessen rechtlicher Existenz mehr zulässt.151
§ 2 Die Einfügung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen in das Gemeinschaftsrecht Der Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene ist vor dem Hintergrund seiner Entstehungsgeschichte nicht darauf angelegt, die nationalen Grundrechtsgewährleistungen zu vervollkommnen und einen möglicherweise als unzureichend angesehenen Schutz einzelner Grundrechtspositionen in verschiedenen Mitgliedstaaten auf der Ebene der Gemeinschaft zu kompensieren. Er dient lediglich dazu, die im europäischen Vertragsrecht bestehenden Lücken im Grundrechtsschutz zu schließen. Mit der materiell-rechtlichen Bindung der Gemeinschaftsorgane an die Gemeinschaftsgrundrechte sollen die Grundrechtsgewährleistungen der Mitgliedstaaten auf der Gemeinschaftsebene ergänzt, aber nicht ersetzt werden. Die Gewährleistung eines maximalen Grundrechtsschutzes ist weder Zweck noch Ziel der Gemeinschaft.1 Der EuGH betont seit den Anfängen seiner Rechtsprechung zu den Gemeinschaftsgrundrechten, dass sich die auf der Gemeinschaftsebene zu gewinnenden Grundrechte „in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen“ müssen.2 Das gilt in gleicher Weise für die in der Charta enthaltenen Gemein150 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 442; kritisch hingegen: Kenner – Ryan, Economic and Social Rights under the EU Charter of Fundamental Rights, S. 67 (75). 151 Ebenso: Bryde, RdA 2003, Sonderbeilage, S. 5 (6 f.). Weil es sich bei der Charta im Gegensatz zu den Verfassungen der Mitgliedstaaten und der EMRK um eine gemeinschaftliche Rechtserkenntnisquelle der Gemeinschaftsgrundrechte handelt, wird das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen im Folgenden mit der Chartabestimmung des „Art. 28 Var. 2 GRC“ bezeichnet. Mit allen übrigen Gemeinschaftsgrundrechten wird, sofern sie sich ebenfalls aus der Charta ergeben, entsprechend verfahren. 1 EuGH, 28.3.1996, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759 (EMRK-Beitritt); vgl. von Bogdandy, JZ 2001, S. 157 (162); Grabitz/Hilf – Hilf/Schorkopf, Art. 6 EUV, Rn. 52.
§ 2 Die Einfügung des Grundrechts in das Gemeinschaftsrecht
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schaftsgrundrechte.3 Im Anschluss an den Vergleich der einzelstaatlichen Verfassungsüberlieferungen und der Betrachtung der völkerrechtlichen Grundrechtsbindungen der Mitgliedstaaten ist daher nunmehr die Frage zu klären, wie sich das aus außerhalb des Gemeinschaftsrechts liegenden Rechtserkenntnisquellen gewonnene Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen in das europäische Recht einfügen lässt.4 I. Die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten im Arbeitskampfrecht Vorrangige Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die für den Bereich des Arbeitskampfrechts bestehende Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten. 1. Die Unzuständigkeit der Gemeinschaft für die Regelung des Arbeitskampfrechts Die Gemeinschaft ist nicht befugt, das Arbeitskampfrecht, also dasjenige Rechtsgebiet, auf das sich das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen inhaltlich bezieht, zu regeln. Hierzu bedürfte die Gemeinschaft nach dem in Art. 5 EG niedergelegten Prinzip der beschränkten Einzelermächtigung einer positiven Kompetenzzuweisung im Gemeinschaftsvertrag. Ein zuweisender Kompetenztitel für die Regelung des Arbeitskampfrechts lässt sich zwar zunächst dem Art. 137 Abs. 1 Buchstabe f) EG entnehmen, da sich der Arbeitskampf unschwer unter den Begriff der kollektiven Wahrnehmung von arbeitnehmer- und arbeitgeberseitigen Interessen subsumieren lässt. Aber schon im Nachsatz verweist Art. 137 Abs. 1 Buchstabe f) EG auf die Kompetenzausschlussklausel in Art. 137 Abs. 5 EG. Danach gelten die in Art. 137 EG aufgeführten Zuständigkeiten der Gemeinschaft nicht für das Streik- oder das Aussperrungsrecht. Auch alle übrigen für die Begründung einer Gemeinschaftskompetenz zur Regelung des Arbeitskampfrechts in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen im Gemeinschaftsvertrag scheiden aus. Art. 95 Abs. 1 EG ist wegen Art. 95 Abs. 2 2 EuGH, 17.12.1970, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft); vgl. Grabitz/Hilf – Hilf/Schorkopf, Art. 6 EUV, Rn. 51. Für die Anerkennung von Gemeinschaftsgrundrechten, kann diese Formel des EuGH allerdings keine Bedeutung haben; vgl. Renegling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 461. Sie stellt daher nicht die Existenz des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen in Frage, sondern gebietet eine mit dem geltenden Gemeinschaftsrecht verträgliche Auslegung des Schutzbereichs und der Einschränkungsmöglichkeiten dieses Grundrechts. 3 KOM (2000) 664 endg., S. 5. 4 Vgl. von Bogdandy – Kühling, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (590).
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
EG nicht auf Bestimmungen über die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer anzuwenden.5 Ein Rückgriff auf die allgemeine Norm des Art. 94 EG ist wegen der spezielleren Regelung in Art. 137 EG nicht möglich, was mit ebenso entscheidendem Gewicht gegen die Inanspruchnahme des Art. 308 EG als Kompetenznorm der Gemeinschaft zur Regelung des Arbeitskampfrechts spricht.6 2. Art. 28 Var. 2 GRC als Kompetenztitel der Gemeinschaft für das Arbeitskampfrecht? Die Divergenz zwischen dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen und der Unzuständigkeit der Gemeinschaft zur Regelung des Arbeitskampfrechts kann nicht dadurch behoben werden, dass man das Gemeinschaftsgrundrecht, das der materiellen Begrenzung der Gemeinschaftsgewalt dient, zweckwidrig zur Begründung eines arbeitskampfrechtlichen Kompetenztitels der Gemeinschaft heranzieht. Bereits zu Beginn der Arbeiten an der Grundrechtecharta zeichnete sich ab, dass sie dem Kölner Mandat des Konvents folgend und nach dem Willen des Konventspräsidenten Herzog, einen umfassenden Katalog von Grundrechten aufweisen würde.7 Dabei kam im Konvent die Befürchtung auf, dass mit der großzügigen Anerkennung von Gemeinschaftsgrundrechten die Gefahr einer Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen zulasten der Mitgliedstaaten geschaffen werde.8 Zudem wurde im Grundrechtskonvent insbesondere gegen die Aufnahme eines Streikrechts geltend gemacht, dass wegen Art. 137 Abs. 5 EG keine Gemeinschaftskompetenz für das Arbeitskampfrecht bestünde und deswegen auf ein entsprechendes Grundrecht in der Charta verzichtet werden müsse.9 Der Konventspräsident begegnete den im Konvent geäußerten Bedenken mit dem Vorschlag einer horizontalen Klausel10 zugunsten der Mitgliedstaaten, die schließlich als Art. 51 Abs. 2 GRC Eingang in die Charta fand. Diese Chartabestimmung schließt es expressis verbis aus, die in der Charta enthaltenen Rechte zur Begründung neuer oder auch nur zur Ausweitung bestehender Kompetenzen der Gemeinschaft zu verwenden. Sie bietet neben der gleichlautenden Formulie5
Oetker/Preis – Hergenröder, EAS, B 8400, Rn. 36. Oetker/Preis – Hergenröder, EAS, B 8400, Rn. 37 ff., 40 ff. 7 Vgl. Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 110 f. 8 Meyer – Borowsky, GRC, Art. 51, Rn. 14. 9 Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 12. 10 Mit dem Begriff der „horizontalen Klauseln“ oder auch „Querschnittsklausen“ sind die für alle Chartarechte geltenden „Allgemeinen Bestimmungen“ der Charta im siebten Kapitel und mithin die Art. 51 bis 54 GRC gemeint; vgl. Hervey/Kenner – Kenner, Economic and Social Rights under the EU Charter of Fundamental Rights, S. 1 (19). 6
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rung in der Chartapräambel den deutlichsten Beleg dafür, dass die Chartagrundrechte nicht zu diesem Zweck genutzt werden dürfen.11 Folglich kann die Grundrechtsbindung der Gemeinschaft an Art. 28 Var. 2 GRC nicht zu einer Gemeinschaftskompetenz für das Arbeitskampfrecht führen. Art. 28 Var. 2 GRC kann wegen Art. 51 Abs. 2 GRC nicht einmal für die Begründung einer „impliziten Gemeinschaftskompetenz“ für das Arbeitskampfrecht herangezogen werden. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist zwar anerkannt, dass der EG-Vertrag nicht alle Befugnisse der Gemeinschaft explizit erwähnt, sondern auch implizite Ermächtigungen (so genannte „implied-powers“) aufweist. Das ist dann der Fall, wenn den Gemeinschaftsorganen im EG-Vertrag bestimmte Aufgaben zugewiesen werden, ohne die für die Erfüllung dieser Aufgaben unerlässlichen Befugnisse der Gemeinschaftsorgane ausdrücklich zu benennen.12 Obschon daher der Gemeinschaft diejenigen Handlungsbefugnisse zustehen, die zur Erfüllung der ihr im Gemeinschaftsvertrag übertragenen Verpflichtungen notwendig sind, erscheint aber bereits die Annahme, der Schutz des Grundrechts aus Art. 28 Var. 2 GRC sei eine derartige „bestimmte Aufgabe“, äußerst zweifelhaft. Das setzt die fragwürdige Annahme voraus, dass sich aus Art. 28 Var. 2 GRC für die Grundrechtsträger ein von der Gemeinschaft zu erfüllender Leistungsanspruch ergibt.13 Jedenfalls verstößt die Herleitung einer impliziten Ermächtigung aus den Gemeinschaftsgrundrechten gegen Art. 51 Abs. 2 GRC14 und in Bezug auf Art. 28 Var. 2 GRC zudem gegen Art. 137 Abs. 5 EG, der eine Zuständigkeit der Gemeinschaft für das Streik- und Aussperrungsrecht explizit ausschließt. Das gleiche gilt für die Begründung einer Gemeinschaftszuständigkeit für das Arbeitskampfrecht mittels einer „grundrechtsfreundlichen“ Auslegung des Art. 308 EG. Diese Vorschrift ist lediglich dann einschlägig, wenn sich im Gemeinschaftsvertrag keine Bestimmung findet, in der die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten geregelt wird. Nur wenn die Gemeinschaft eine Aufgabe zu erfüllen hat, aber nicht über die hierfür erforderlichen Zuständigkeiten verfügt, begründet Art. 308 EG die notwendige Reservekompetenz, weil die beschränkt einzelermächtigte Gemeinschaft nicht in der Lage ist, sich den entsprechenden Kompetenztitel selbst zu verschaffen. Art. 308 EG ist daher zur Schließung systemwidriger Kompetenzlücken heranzuziehen, aber nicht dazu geeignet, die im EG-Vertrag ausdrücklich geregelten 11 Vgl. Goldsmith, CML Rev 2001, S. 1201 (1206 f.); Jarass, EU-Grundrechte, § 4, Rn. 5; Kenner, EU Employment Law, S. 520. 12 Vgl. EuGH, 9.7.1987, verb. Rs. 281/85, 283/85, 284/85, 285/85, 287/85, Slg. 1987, 3203, Rn. 28 (Deutschland ua./Kommission). 13 Vgl. dazu § 2 IV. 2. 14 Dorf, JZ 2005, S. 126 (127 f.); Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 105 f.; Weber, DVBl. 2003, S. 220 (224).
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
Kompetenzen zu verschieben und die von Art. 137 Abs. 5 EG klar gezogenen Grenzen zu verwischen. Die Gewährleistung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen ist zudem ohnehin kein von der Gemeinschaft im Sinne des Art. 308 EG zu verfolgendes Ziel. Die Grundrechte müssen nach Art. 6 Abs. 2 EG von der Union und der Gemeinschaft geachtet, aber nicht im Sinne des Art. 308 EG verwirklicht werden.15 Ergänzend ist festzustellen, dass die restriktive Aussage des Art. 51 Abs. 2 GRC keineswegs im Widerspruch, sondern vielmehr im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH steht. Der Europäische Gerichtshof hat die Trennung zwischen den Kompetenzvorschriften im Gemeinschaftsvertrag und den Gemeinschaftsgrundrechten mit bemerkenswerter Klarheit zum Ausdruck gebracht. Der unzweideutigen Aussage des EuGH, dass die Wahrung der Menschenrechte eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Gemeinschaft ist,16 und die Anerkennung von Gemeinschaftsgrundrechten nicht dazu führen kann, dass der Anwendungsbereich der Bestimmungen des Gemeinschaftsvertrages über die Zuständigkeiten der Gemeinschaft hinaus erweitert wird,17 ist nichts hinzuzufügen. II. Das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen im Kompetenzgefüge der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten Damit drängt sich die Frage auf, wie sich das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen in die Ziele und die Struktur einer Gemeinschaft einfügen soll, die zur Rechtssetzung im Bereich des Arbeitskampfrechts nicht befugt ist. Im Schrifttum ist die Möglichkeit eines Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen mitunter wegen der Unzuständigkeit der Gemeinschaft für das Streik- und Aussperrungsrecht verneint worden.18 Wegen der Kompetenzverteilung im Bereich des Arbeitskampfrechts sehen darüber hinaus einige Stimmen im Schrifttum einen Widerspruch zwischen Art. 137 Abs. 5 EG und der Gewährleistung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen in
15 von der Groeben/Schwarze – Schwartz, Art. 308 EG, Rn. 9 ff. Nichts anderes ergibt sich aus der in Art. 51 Abs. 1 Satz 2 GRC niedergelegten Verpflichtung der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten zur Förderung der Gemeinschaftsgrundrechte, weil die Förderpflicht nach dieser Chartabestimmung nur gemäß der jeweiligen Zuständigkeiten besteht. 16 EuGH, 28.3.1996, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759, Rn. 34 (EMRK). 17 EuGH, 17.2.1998, Rs. C-249/96, Rn. 45 (Grant); vgl. von der Groeben/Schwarze – Schwartz, Art. 308 EG, Rn. 134. 18 Hanau/Steinmeyer/Wank – Hanau, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 19, Rn. 21; Heinemann – Hergenröder, Das kollektive Arbeitsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 49 (63); Oetker/Preis – ders., EAS, B 8400, Rn. 27; offen gelassen bei: AR-Blattei – Löwisch/Rieble, SD 170.1, Rn. 98 ff.
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Art. 28 Var. 2 GRC.19 Eine weniger weit verbreitete Ansicht wollte hingegen bereits vor der feierlichen Proklamation der Charta trotz der fehlenden Kompetenz der Gemeinschaft für das Arbeitskampfrecht ein dem Gemeinschaftsrecht angehörendes Recht auf kollektive Maßnahmen anerkennen.20 Die Anerkennung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen kann damit einerseits nicht zu einer Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen führen. Andererseits können die Kompetenzvorschriften des Gemeinschaftsvertrages, die ausschließlich das Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten regeln, aber auch nicht die subjektiv-rechtliche Grundrechtsposition beseitigen, die sich aus allen für die Anerkennung von Gemeinschaftsgrundrechten relevanten Rechtserkenntnisquellen ergibt. Das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen muss unabhängig von der Zuständigkeitsverteilung von der Gemeinschaft im Sinne des Art. 6 Abs. 2 EU geachtet werden,21 da das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht für die Einhaltung der Gemeinschaftsgrundrechte gilt. Vielmehr stellt sich vor dem Hintergrund der Zuständigkeitsverteilung im Bereich des Arbeitskampfrechts die Frage, wie weit der Schutz des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen reichen kann. Das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen muss demzufolge in einer Weise in die Gemeinschaftsrechtsordnung integriert werden, die sich widerspruchsfrei mit der Struktur und den Zielen der Gemeinschaft verträgt. Die Disparität zwischen Grundrechtsschutz und Zuständigkeit kann aber weder durch einen gegen Art. 137 Abs. 5 EG sowie Art. 51 Abs. 2 GRC verstoßenden Kompetenzzuwachs der Gemeinschaft, noch einseitig zulasten des Grundrechtsschutzes unter Ablehnung eines Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen gelöst werden. 1. Die Anknüpfung des Art. 28 Var. 2 GRC an das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen Den ersten denkbaren Ansatzpunkt für die Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen Art. 137 Abs. 5 EG und Art. 28 Var. 2 GRC liefert die Garantie des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen in Art. 28 Var. 1 GRC, das die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber oder deren jeweilige Organisationen dazu berechtigt, Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen. Denn auch insoweit kommt ein Auseinanderfallen der grundrechtlichen Bindung der Gemeinschaft an Art. 28 Var. 1 GRC und der Kompetenzen der Gemeinschaft 19 von der Groeben/Schwarze – Beutler, Art. 6 EU, Rn. 159; de Witte – de Búrca, Ten Reflections on the Constitutional Treaty for Europe, S. 11 (35); BMA – Weiss, Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 237 (244). 20 Däubler, FS-Hanau, S. 489 (496 f.); Heinemann – Jacobs, Das kollektive Arbeitsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 107 (116). 21 Vgl. Deinert, RdA 2004, S. 211 (218).
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
zur Regelung kollektiver Verhandlungen in Betracht. Aus diesem Umstand könnten möglicherweise Rückschlüsse für das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen gezogen werden. a) Art. 137 Abs. 5 EG und die Kompetenz der Gemeinschaft zur Regelung des Tarifvertragsrechts Im Gegensatz zum Bereich des Arbeitskampfrechts, das der Gemeinschaft nach Art. 137 Abs. 5 EG ausdrücklich zugunsten der Mitgliedstaaten entzogen ist, ist die Unzuständigkeit der Gemeinschaft zur Rechtssetzung im Tarifvertragsrecht im Schrifttum jedoch umstritten. Ebenso unproblematisch wie für das Arbeitskampfrecht lässt sich zunächst der Vorschrift des Art. 137 Abs. 1 Buchstabe f) EG zugunsten der Gemeinschaft eine positive Kompetenzzuweisung zur Regelung des Tarifvertragsrechts entnehmen.22 Uneinigkeit besteht indes darüber, inwieweit der Gemeinschaft die in Art. 137 Abs. 1 Buchstabe f) EG zugestandene Kompetenz aufgrund des Ausschlusses einer gemeinschaftlichen Rechtssetzung für das „Koalitionsrecht“ in Art. 137 Abs. 5 EG wieder entzogen wird.23 Gegen einen solchen Entzug des Tarifvertragsrechts mit der Ausschlussklausel des Art. 137 Abs. 5 EG wird angeführt, dass der EG-Vertrag, wie sich aus Art. 140 EG ergeben soll, zwischen Koalitionsrecht und Kollektivverhandlungen unterscheide. Deswegen könne der in Art. 137 Abs. 5 EG gebrauchte Begriff nicht das Recht der kollektiven Verhandlungen erfassen, für das die Gemeinschaft folglich rechtssetzungsbefugt sein soll.24 Allerdings ist dieses Argument nicht so zwingend, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Art. 140 EG lässt sich auf die bereits im Gründungsvertrag von 1957 enthaltene Regelung des Art. 118 EWG-V zurückführen und betraf damals ebenso wie der heutige Art. 140 EG die Zuständigkeit der Kommission zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich der Sozialpolitik, insbesondere auf dem Gebiet der Kollektivverhandlungen. Im Zusammenhang des Art. 140 EG sind mit dem Begriff der Kollektivverhandlungen folglich die Kollektivverhandlungen in den einzelnen Mitgliedstaaten gemeint. Art. 137 EG regelt hingegen die Kompetenzen der Gemeinschaft und ist hinsichtlich seines fünften Absatzes gänzlich anderer Provenienz. Die Vorschrift geht auf Art. 2 Abs. 6 des Abkommens zwischen den Mitgliedstaaten der Euro-
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Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 109. Für die Subsumtion des Tarifvertragsrechts unter den Begriff des Koalitionsrechts: Oetker/Preis – Preis/Gotthardt, EAS, B 1100, Rn. 43 (m.w. N.). 24 Schwarze – Rebhahn, Art. 137 EGV, Rn. 19; im Ergebnis ebenso: Münchener Handbuch – Löwisch/Rieble, § 242, Rn. 65 und § 254, Rn. 22; dies., TVG, Grundl., Rn. 109; Schnorr, DRdA 1994, S. 193 (199). 23
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päischen Gemeinschaft mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland über die Sozialpolitik (ASP)25 zurück. Das erklärt, warum derselbe Begriff innerhalb des EG-Vertrages unterschiedlich zu interpretieren ist. Zudem muss der Begriff des Koalitionsrechts in Art. 137 Abs. 5 EG im Kontext der anderen dort aufgeführten und der Zuständigkeit der Gemeinschaft entzogenen Materien verstanden werden. Wegen des funktionalen Zusammenhangs zwischen dem Recht auf Tarifverhandlungen und dem Arbeitskampfrecht kann, weil letzteres der Rechtssetzung der Gemeinschaft ausdrücklich entzogen ist, für ersteres nichts anderes gelten.26 Darüber hinaus hat Art. 137 Abs. 5 EG den Zweck, diejenigen Materien dem Zugriff der Gemeinschaft zu entziehen, die in einer Vielzahl von Mitgliedstaaten zu dem national-verfassungsrechtlich geschützten Grundrechtsbereich der Tarifparteien gehören und deswegen – zumindest teilweise – sogar der Disposition des einfachen Gesetzgebers entzogen sind.27 Der Kompetenzausschluss in Art. 137 Abs. 5 EG hat daher den Zweck, die einzelstaatlichen Verbürgungen der Koalitionsfreiheit vor den Sekundärrechtsakten der Gemeinschaft zu schützen, die jeglichem nationalen Recht vorgehen. Es ist daher sinnwidrig, das Tarifvertragsrecht nicht von dem in Art. 137 Abs. 5 EG genannten Begriff des Koalitionsrechts erfasst zu halten, weil gerade Rechtssetzungsaktivitäten der Gemeinschaft auf diesem Gebiet zu schwerwiegenden Eingriffen in die national-verfassungsrechtlichen Verbürgungen der Koalitionsfreiheit führen können. Das mit Art. 28 Var. 1 GRC anerkannte Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen vermag die in Art. 137 Abs. 5 EG geregelte Begrenzung der Gemeinschaftszuständigkeit im Übrigen ebenso wenig zu verändern wie das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen. Wegen der auch insoweit einschlägigen Regelung in Art. 51 Abs. 2 GRC kann das Grundrecht auf kollektive Verhandlungen nicht zum Anlass dafür genommen werden, den in Art. 137 Abs. 5 EG enthaltenen Begriff des Koalitionsrechts mittels einer vermeintlich grundrechtskonformen Auslegung umzudeuten und auf diese Weise eine Zuständigkeit der Gemeinschaft für das Tarifrecht zu konstruieren.28 b) Die „Kompetenzakzessorietät“ des Art. 28 Var. 1 GRC Damit besteht auch hinsichtlich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen eine Disparität zwischen der Grundrechtsbindung aus Art. 28 Var. 1 GRC und der aufgrund Art. 137 Abs. 5 EG fehlenden Gemeinschaftszu25
ABl. Nr. C 224, 31.8.1992, S. 128 ff.; BGBl. II 1992, S. 1314 f. Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 137 EGV, Rn. 9, 11. 27 Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 455 f. 28 Eine Heranziehung der Grundrechtecharta zur erweiternden Auslegung von Gemeinschaftskompetenzen ebenfalls ablehnend: Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 51, Rn. 59. 26
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
ständigkeit für das Tarifvertragsrecht. Insofern ergibt sich beim Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen die gleiche Situation wie beim Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen. Im Gegensatz zum Grundrecht aus Art. 28 Var. 2 GRC schützt Art. 28 Var. 1 GRC kollektive Verhandlungen aber nur, soweit sie „auf den geeigneten Ebenen“ durchgeführt werden. Lediglich unter dieser gegenüber Art. 28 Var. 2 GRC zusätzlichen Voraussetzung in Art. 28 Var. 1 GRC genießen Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern den Schutz des Gemeinschaftsgrundrechts. Die Bestimmung der Geeignetheit einer Ebene richtet sich dabei nicht – wie man auf den ersten Blick annehmen könnte – nach den tatsächlichen Gegebenheiten des jeweiligen Einzelfalls. Es ist also nicht so, dass etwa in Bezug auf einen bestimmen Verhandlungsgegenstand Kollektivverhandlungen auf einer nach dem Schutzzweck des Gemeinschaftsgrundrechts zu bestimmenden Ebene zu erfolgen hätten und die Gemeinschaft bzw. die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet wären, gerade auf dieser Ebene kollektive Verhandlungen zu ermöglichen. Wie aus den Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtskonvents zu Art. 28 GRC hervorgeht,29 folgt die Eignung einer Ebene nicht aus den tatsächlichen Umständen kollektiver Verhandlungen oder ihres Gegenstandes und ist auch nicht in sonstiger Weise dem Art. 28 Var. 1 GRC zu entnehmen. Das Präsidium verweist in seinen Erläuterungen zu Art. 28 GRC insoweit auf die Ausführungen zu dem in Art. 27 GRC gewährleisteten Grundrecht der Arbeitnehmer auf Anhörung und Unterrichtung im Unternehmen, das ebenso wie das Grundrecht auf kollektive Verhandlungen nur auf den geeigneten Ebenen ausgeübt werden darf. Diesen Umstand kommentiert das Konventspräsidium in Bezug auf Art. 27 GRC mit der Aussage, dass die Eignung einer Ebene vom Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften bestimmt wird.30 Daher sind ausschließlich die im Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften für die Durchführung von Kollektivverhandlungen vorgesehenen Ebenen für die Ausübung des Grundrechts aus Art. 28 Var. 1 GRC geeignet.31 Aufgrund der Bezugnahme auf die geeigneten Ebenen in Art. 28 Var. 1 GRC werden die entsprechenden Bestimmungen zugleich Inhalt des Grundrechts auf kollektive Verhandlungen. Das Merkmal koppelt den Schutzbereich des Grundrechts an diejenigen Rechtsvorschriften, in denen die Durchführung kollektiver Verhandlungen geregelt wird. Der Schutz des Grundrechts auf kollektive Ver29 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 442. 30 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 441 f. 31 Abweichend hiervon will Jarass (in: EU-Grundrechte, § 2, Rn. 4) die Sekundärrechtsakte der Gemeinschaft lediglich als Auslegungshilfe der Gemeinschaftsgrundrechte heranziehen.
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handlungen hängt damit von gemeinschaftlichen und einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ab. Die grundrechtliche Freiheit auf kollektive Verhandlungen kann nur insoweit in Anspruch genommen werden, als ein entsprechendes Recht auf kollektive Verhandlungen im sonstigen Gemeinschaftsrecht bzw. im einzelstaatlichen Recht besteht. Insofern kann man von einer „Vergrundrechtlichung“ einfachrechtlicher Vorschriften sprechen.32 Darüber hinaus hat das Präsidium des Grundrechtskonvents in den Erläuterungen zu Art. 27 GRC darauf hingewiesen, dass die europäische Ebene nur dann im Sinne des Art. 27 GRC geeignet ist, wenn gemeinschaftliche Rechtsvorschriften dies vorsehen.33 Das muss ebenso für das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen gelten. Folglich kann es auf der europäischen Ebene nur dann ausgeübt werden, wenn und soweit gemeinschaftsrechtliche Rechtsvorschriften dies zulassen. Der gemeinschaftsgrundrechtliche Schutz kollektiver Verhandlungen auf der europäischen Ebene hängt damit vom Bestand und vom Umfang sonstigen Gemeinschaftsrechts ab und ist daher gemeinschaftsrechtsakzessorisch.34 Von der Gemeinschaft kann die Ermöglichung der Grundrechtsausübung auf der europäischen Ebene aus Art. 28 Var. 1 GRC nur verlangt werden, soweit das sonstige Gemeinschaftsrecht die Einrichtung kollektiver Verhandlungsmöglichkeiten auf der europäischen Ebene vorsieht. Besteht ein dementsprechendes Recht auf kollektive Verhandlungen nur auf der Grundlage eines kompetenzwidrig erlassenen Gemeinschaftsrechtsaktes, ist der betreffende Rechtsakt nichtig und das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen bleibt unanwendbar. Demgegenüber werden Tarifverhandlungen in den Mitgliedstaaten vom Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen geschützt, wenn sie nach dem jeweils anwendbaren einzelstaatlichen Recht auf der geeigneten Ebene35 erfolgen. Insofern verhält sich der gemeinschaftsgrundrechtliche Schutz nationalrechtsakzessorisch. Soweit eine Bindung der Mitgliedstaaten an das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts in Betracht kommt, gilt es auch insoweit zu beachten, dass ein unter Missachtung des Art. 137 Abs. 5 EG das Tarifvertragsrecht regelnder Rechtsakt der Gemeinschaft nichtig ist und keine grundrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten entstehen lässt. 32 Vgl. Tettinger/Stern – Lang, Kölner GK-GRC, Art. 27, Rn. 7; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 1001 f. 33 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 441 f. 34 Vgl. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 1007, 1004 f. 35 Zum Begriff der Ebene im Einzelnen siehe: § 6 II. 1.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
Damit reicht der gemeinschaftsgrundrechtliche Schutz kollektiver Verhandlungen nach Art. 28 Var. 1 GRC zum einen nicht weiter als die entsprechenden Rechte im sonstigen Gemeinschaftsrecht und in den betreffenden Bestimmungen der Mitgliedstaaten. Zum anderen setzt die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts einen kompetenzgerechten Rechtsakt der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten voraus. Der gemeinschaftsgrundrechtliche Schutz kollektiver Verhandlungen kann daher auch als „kompetenzakzessorisch“ bezeichnet werden. Diese Regelungstechnik hat den Vorzug, die vollständige Parallelität von Grundrechtsschutz und Zuständigkeit herzustellen und sowohl eine Verpflichtung der Gemeinschaft zur Ermöglichung kollektiver Verhandlungen auf der europäischen Ebene als auch eine kompetenzwidrige Inanspruchnahme der Mitgliedstaaten aus Art. 28 Var. 1 GRC auszuschließen. c) Die Möglichkeit einer Übertragung auf Art. 28 Var. 2 GRC Das Problem der mangelnden Kompetenz der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Arbeitskampfrechts bei gleichzeitiger Anerkennung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen wäre gelöst, wenn das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen an der Akzessorietät des Art. 28 Var. 1 GRC teilhaben würde oder sich die Akzessorietät des Grundrechts auf kollektive Verhandlungen auf Art. 28 Var. 2 GRC übertragen ließe. Dieser Ansatz wäre etwa dann erfolgversprechend, wenn man das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen mit der Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen verknüpfen könnte. Dazu könnte etwa das in Art. 28 Var. 2 GRC genannte Merkmal des „Interessenkonflikts“ so auslegt werden, dass es einen Tarifkonflikt verlangt, bei dem der Abschluss eines in den Schutzbereich des Art. 28 Var. 1 GRC fallenden Kollektivvertrages erzwungen werden soll. Damit würde die rechtmäßige Ausübung des Rechts auf Kollektivmaßnahmen voraussetzen, dass die ergriffene Maßnahme auf die wirksame Verwirklichung des Rechts auf kollektive Verhandlungen nach Art. 28 Var. 1 GRC gerichtet ist. Zudem ließe sich gegebenenfalls verlangen, dass die Ergreifung kollektiver Maßnahmen auf der europäischen Ebene ebenso im sonstigen Gemeinschaftsrecht vorgesehen sein muss, wie dies für die Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen der Fall ist. Unter diesen Prämissen würden sich die Garantien des Art. 28 Var. 2 GRC ohne weiteres in die Gemeinschaftsrechtsordnung einfügen. Die Gewährleistungen des Art. 28 Var. 2 GRC hätten dann an der Akzessorietät des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen teil, so dass auch in Bezug auf das Arbeitskampfrecht ein Kompetenzkonflikt zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten ausgeschlossen wäre.
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Dennoch wird man das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen nicht in diesem Sinne mit der Ausübung des Grundrechts auf kollektive Verhandlungen verknüpfen können. Dem steht schon der insoweit eindeutige Wortlaut des Art. 28 GRC entgegen, der nicht den geringsten Hinweis auf eine derartige Verflechtung der beiden Grundrechte gibt. In Art. 28 GRC werden die beiden Grundrechte mit dem Wort „sowie“ beziehungslos nebeneinander gewährleistet, weswegen eine Auslegung, die sie in ein Abhängigkeitsverhältnis zueinander stellt, im Wortlaut der Chartabestimmung keine Stütze findet.36 Der bloße Umstand, dass beide Rechte innerhalb desselben Artikels der Grundrechtecharta gewährleistet sind, kann ebenfalls nicht dazu führen, den Einsatz kollektiver Maßnahmen von der Ausübung des Rechts auf kollektive Verhandlungen abhängig zu machen. Zudem ist die Bezugnahme auf die geeigneten Ebenen vom Grundrechtskonvent innerhalb des Art. 28 GRC absichtlich so gestellt worden, dass sie sich ausschließlich auf die Gewährleistung von kollektiven Verhandlungen bezieht.37 Deshalb stehen der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte des Art. 28 Var. 2 GRC einer Auslegung entgegen, nach welcher die Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen von einem sonstigen Rechtsakt abhinge. Darüber hinaus spricht Art. 28 Var. 2 GRC nicht von einem Tarif-, sondern von einem Interessenkonflikt. Dieses Tatbestandsmerkmal ist dem Recht auf kollektive Maßnahmen aus Art. 6 Nr. 4 ESC entlehnt und ist deswegen – unabhängig von der Frage, ob Art. 28 Var. 2 GRC auch im Übrigen im Einklang mit der Bestimmung in der ESC ausgelegt werden muss38 – dem zu Art. 6 Nr. 4 ESC entwickelten Begriffsinhalt entsprechend zu interpretieren. Obwohl in Art. 6 Nr. 4 ESC das Recht auf kollektive Maßnahmen zur wirksamen Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen gewährleistet wird, hat das zur authentischen Auslegung der Europäischen Sozialcharta berufene Ministerkomitee entschieden, dass ein Verbot aller Streiks, die nicht auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtet sind, gegen Art. 6 Nr. 4 ESC verstößt.39 Dementsprechend kann sich das in Art. 28 Var. 2 GRC befindliche Merkmal des Interessenkonflikts nicht ausschließlich auf Streitigkeiten bei kollektiven Verhandlungen nach Art. 28 Var. 1 GRC beziehen. Folglich handelt es sich bei dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen und dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen um zwei selbständige Grundrechte, die unabhängig voneinander ausgeübt werden können.
36 Die gleichbedeutenden Formulierungen „and“ in der englischen und „et“ in der französischen Fassung des Art. 28 GRC erlauben keine andere Einschätzung. 37 Jarass, EU-Grundrechte, § 29, Rn. 14; Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 19. 38 Ablehnend: Rebhahn, GS-Heinze, S. 649 (652 f.). 39 Vgl. die Empfehlung des Ministerkomitees vom 3.2.1998 (abgedruckt in: AuR 1998, S. 156).
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
2. Der Inhalt arbeitskampfrechtlicher Grundrechtsgewährleistungen Kann demnach die Disparität von Grundrechtsschutz und Kompetenz nicht auf diese Weise gelöst werden, ist zu klären, welche grundrechtlichen Ansprüche aus der Gewährleistung eines Rechts auf kollektive Maßnahmen folgen können. Im Anschluss daran ist danach zu fragen, inwieweit sich die jeweiligen Grundrechtsinhalte des Art. 28 Var. 2 GRC gegen die Gemeinschaft und inwieweit sie sich gegen die Mitgliedstaaten richten können. Traditionell unterscheidet man in der Dogmatik der Gemeinschaftsgrundrechte zwischen einem auf Abwehr von Eingriffen gerichteten Abwehrinhalt und einem grundrechtlichen Leistungsinhalt, der den jeweiligen Hoheitsträger zur Erbringung bestimmter Leistungen an den Grundrechtsberechtigten verpflichtet.40 In der Grundrechtecharta werden die beiden unterschiedlichen Grundrechtsfunktionen in Art. 51 Abs. 1 Satz 2 GRC angesprochen. Die dortige Verpflichtung zur Achtung der Gemeinschaftsgrundrechte entspricht dem abwehrrechtlichen und die Förderungspflicht dem leistungsrechtlichen Gehalt der Gemeinschaftsgrundrechte.41 a) Der abwehrrechtliche Inhalt des Art. 28 Var. 2 GRC Mit dem Mandat von Köln hat der Europäische Rat dem Grundrechtskonvent bei der Ausarbeitung der Charta die Berücksichtigung solcher sozialen Grundrechte aufgegeben, die nicht nur Ziele für das Handeln der Union begründen. In dieser Hinsicht spielte das Streikrecht bei dem im Grundrechtskonvent entbrannten Streit darüber, inwiefern und in welcher Weise soziale Rechte in die Charta aufzunehmen seien,42 eine besondere Rolle. Denn im Gegensatz zu vielen anderen sozialen Grundrechten lässt es sich problemlos als klassisches Freiheitsrecht mit einer dementsprechenden abwehrrechtlichen Komponente darstellen.43 Das Gemeinschaftsrecht auf kollektive Maßnahmen ist daher in erster Linie als grundrechtliche „Freiheit zum Arbeitskampf“ zu verstehen, die den Grundrechtsträgern einen Anspruch darauf gibt, Arbeitskämpfe ohne hoheitliche Eingriffe autonom austragen zu dürfen. Aus Art. 28 Var. 2 GRC folgt mithin ihr Anspruch darauf, dass die Hoheitsträger alle Verhaltensweisen unterlassen, die die kämpfenden Parteien bei der Ausübung der grundrechtlich geschützten Kollektivmaßnahmen behindern. Kommt es dennoch zu ungerechtfertigten Eingriffen in diese als Arbeitskampffreiheit zu bezeichnende Komponente des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen, können die Grundrechtsberechtigten 40
Jarass, EU-Grundrechte, § 5, Rn. 9 ff. Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 51, Rn. 17. 42 Vgl. Tettinger/Stern – Lang, Kölner GK-GRC, Art. 27, Rn. 1. 43 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 324; vgl. Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 5, 17. 41
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den Eingriff mittels Art. 28 Var. 2 GRC abwehren.44 Darüber hinaus haben die Grundrechtsträger des Art. 28 Var. 2 GRC einen grundrechtlich geschützten Anspruch darauf, dass sich die Hoheitsträger während eines Arbeitskampfes neutral verhalten und nicht zugunsten der jeweils anderen Kampfpartei intervenieren. Dem entspricht auf Seiten der Hoheitsträger die Neutralitätspflicht gegenüber dem autonomen Auseinandersetzungsprozess.45 Mit seinem Inhalt als Freiheit zum Arbeitskampf (Arbeitskampffreiheit) und dem Anspruch auf Neutralität der Träger hoheitlicher Gewalt im Arbeitskampf (Arbeitskampfneutralität) gewährt Art. 28 Var. 2 GRC den Grundrechtsträgern klassische Abwehrrechte. b) Der leistungsrechtliche Inhalt des Art. 28 Var. 2 GRC Mit seinem abwehrrechtlichen Gehalt ist das Grundrecht auf kollektive Maßnahem allerdings keineswegs erschöpft. Mit der Arbeitskampffreiheit und der Arbeitskampfneutralität ist der grundrechtliche Gewährleistungsinhalt des Rechts auf kollektive Maßnahmen nur unzureichend beschrieben, was mit der Eigenart dieses Rechts zusammenhängt. aa) Die Ausgestaltungsbedürftigkeit des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen Mit der grundrechtlich geschützten Freiheit ist notwendigerweise nicht nur die Befugnis verbunden, von den gewährten Freiheit Gebrauch zu machen, sondern auch ein grundrechtlich geschützter Anspruch darauf, die Freiheiten auch tatsächlich ausüben zu können. Die Ausübung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen enthält demzufolge einen Anspruch der jeweiligen Grundrechtsträger darauf, von ihrer Arbeitskampffreiheit in zumutbarer Weise tatsächlich Gebrauch machen zu können.46 Hierfür ist zwingend eine Rechtsgrundlage erforderlich, die zum einen die Voraussetzungen enthält, unter denen kollektive Maßnahmen in rechtmäßiger Weise ergriffen werden dürfen, und die zum anderen die Rechtsfolgen der Ergreifung kollektiver Maßnahmen regelt. Mit der bloßen Verbürgung eines Grundrechts auf kollektive Maßnahmen allein wird den am Arbeitskampf unmittelbar beteiligten Arbeitgebern und Arbeitnehmern nur ein unzulänglicher Grundrechtsschutz geboten. Fehlt es nämlich beispielsweise an einer Regelung, 44 Zum arbeitskampfrechtlichen Abwehrrecht siehe: AR-Blattei – Löwisch/Rieble, SD 170.1, Rn. 9, 24; Münchener Handbuch – Otto, § 284, Rn. 78. 45 So zu Art. 9 Abs. 3 GG: von Mangoldt/Klein/Starck – Kemper, GG, Art. 9 Abs. 3, Rn. 156. 46 Vgl. Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 20.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
die bestimmt, unter welchen Bedingungen ein streikender Arbeitnehmer seine arbeitsvertraglichen Pflichten nicht verletzt, könnte er gegenüber der Behauptung, seine Arbeitsniederlegung sei rechtswidrig, letztlich nur das fragmentarische Grundrecht auf kollektive Maßnahmen anführen. Darin sind aber weder die Voraussetzungen noch die Rechtsfolgen zulässiger Arbeitskämpfe geregelt. Entscheidet sich ein Arbeitnehmer auf dieser Grundlage für einen Ausstand, trifft ihn das Risiko, dass die Arbeitskampfmaßnahmen, an denen er sich beteiligt hat, von der grundrechtlichen Gewährleistung nicht gedeckt gewesen sind. Wie hoch dieses Risiko ist, kann er jedoch nicht mit zumutbarer Bestimmtheit dem Text des Grundrechts entnehmen. Aber auch die Rechtsstellung der von einem Arbeitskampf betroffenen Dritten muss geregelt sein, wenn die Freiheit, die das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen gewährleistet, in vertretbarer Weise ausgeübt werden soll. Dazu gehört etwa, dass vor dem Beginn eines Arbeitkampfes klar ist, ob sich einerseits nichtorganisierte Arbeitnehmer daran beteiligen bzw. auch ausgesperrt werden dürfen und andererseits, ob nichtorganisierte Arbeitgeber Ziel gewerkschaftlicher Streikmaßnahmen sein können. Ferner muss die Verteilung des Lohnrisikos geregelt sein, bevor die Parteien zum Arbeitskampf übergehen, damit sie die finanziellen Risiken, die sich daraus für sie ergeben, einschätzen können. Schließlich muss während des Arbeitskampfes die Mindestversorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern sichergestellt sein, so dass die Arbeitskampfparteien auch in dieser Hinsicht wissen müssen, wie weit ihr Recht auf kollektive Maßnahmen reicht.47 bb) Die Ausgestaltungsbedürftigkeit der Koalitionsmittelfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG Aus den genannten Gründen ist in Deutschland für die sich aus Art. 9 Abs. 3 GG ergebende Koalitionsfreiheit und das von ihr geschützte Arbeitskampfrecht der Koalitionen anerkannt, dass sie der Ausgestaltung bedürfen. Ansatzweise liegt diese Erkenntnis schon frühen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zugrunde, in denen es ausführte, dass Art. 9 Abs. 3 GG in einem verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich vom Staat die Bereitstellung eines Tarifvertragssystems verlange.48 Der Gesetzgeber dürfe die Teilnahme an dem unter Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Tarifvertragssystem allerdings von weiteren in der Verfassung nicht genannten Merkmalen abhängig machen.49 Deutlicher ist 47
Vgl. zum Ganzen: Löwisch, DB 1988, S. 1013 (1015). BVerfGE 4, 96 (106). 49 BVerfGE 18, 18 (26); zur Ausgestaltung des sich ebenfalls aus Art. 9 Abs. 3 GG ergebenden Rechts der Gewerkschaften, bei der Personalvertretung tätig zu werden, siehe: BVerfGE 19, 303 (321). 48
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das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1970 geworden, indem es klargestellt hat, dass es Sache des Gesetzgebers sei, im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit die Tragweite der Koalitionsfreiheit dadurch zu bestimmen, dass er die Befugnisse der Koalitionen im Einzelnen ausgestaltet und näher regelt.50 1979 stellte das Bundesverfassungsgericht im so genannten „Mitbestimmungsurteil“ die Ausgestaltungsbedürftigkeit der Koalitionsfreiheit mit größtmöglicher Klarheit fest: „Mehr noch als die in Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Vereinigungsfreiheit bedarf die Koalitionsfreiheit von vornherein der gesetzlichen Ausgestaltung. Diese besteht nicht nur in der Schaffung der Rechtsinstitute und Normenkomplexe, die erforderlich sind, um die grundrechtlich garantierten Freiheiten ausüben zu können. Die Bedeutung und Vielzahl der von der Tätigkeit der Koalitionen berührten Belange namentlich im Bereich der Wirtschaftsordnung und Sozialordnung machen vielmehr vielfältige gesetzliche Regelungen notwendig, die der Koalitionsfreiheit auch Schranken ziehen können; (. . .).“51
In Hinblick auf die Koalitionsmittelfreiheit heißt es in einer weiteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1993: „Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit kann sich unter diesen Umständen aber nicht darauf beschränken, den einzelnen Grundrechtsträger vor staatlichen Eingriffen in individuelle Handlungsmöglichkeiten zu schützen; es hat vielmehr darüber hinaus die Beziehung zwischen Trägern widerstreitender Interessen zum Gegenstand und schützt diese auch insoweit vor staatlicher Einflussnahme, als sie zum Austrag ihrer Interessengegensätze Kampfmittel mit beträchtlichen Auswirkungen auf den Gegner und die Allgemeinheit verwenden. Gerade wegen dieser Eigenart bedarf das Grundrecht der Koalitionsfreiheit der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung (. . .). Zum einen erfordert der Umstand, dass beide Tarifvertragsparteien den Schutz von Art. 9 Abs. 3 GG prinzipiell gleichermaßen genießen, bei seiner Ausübung aber in scharfem Gegensatz zueinander stehen, koordinierende Regelungen, die gewährleisten, dass die aufeinander bezogenen Grundrechtspositionen trotz ihres Gegensatzes nebeneinander bestehen können. Zum anderen macht die Möglichkeit des Einsatzes von Kampfmitteln rechtliche Rahmenbedingungen erforderlich, die sichern, dass Sinn und Zweck dieses Freiheitsrechts sowie seine Einbettung in die verfassungsrechtliche Ordnung gewahrt bleiben.“52
Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht – ohne eine Änderung in der Sache zu beabsichtigen – die früher vertretene Kernbereichslehre aufgegeben. Es hält jedoch nach wie vor daran fest, dass das Grundgesetz die Betätigungsfreiheit der Koalitionen nicht schrankenlos gewährleistet, sondern eine Ausge50
BVerfGE 28, 295 (306). BVerfGE 50, 290 (368) – Hervorhebungen vom Verfasser; vgl. auch BVerfGE 58, 233 (247). 52 BVerfGE 88, 103 (115) – Hervorhebungen vom Verfasser. Zur Ausgestaltung des Aussperrungsrechts: BVerfGE 84, 212 (228). 51
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
staltung durch den Gesetzgeber zulässt.53 Die Literatur in Deutschland ist dem Bundesverfassungsgericht in dieser Frage einhellig gefolgt und hält das sich aus Art. 9 Abs. 3 GG ergebende Recht auf Koalitionsmittelfreiheit ebenfalls für ausgestaltungsbedürftig.54 Mit dem Recht des Staates zur Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit korrespondiert ein Anspruch der Grundrechtsträger auf Bereitstellung derjenigen Verfahren, Rechtsinstitute und Normenkomplexe, die die Ausübung der Koalitionsfreiheit überhaupt erst ermöglichen. Gegenüber den Grundrechtsträgern wird die staatliche Ausgestaltungsbefugnis damit zur grundrechtlich geschuldeten Pflicht und verstärkt deren abwehrrechtliche Grundrechtsposition um einen leistungsrechtlichen Inhalt,55 so dass mit dem Freiheitsrecht der Koalitionsbetätigung ein „auxiliärer leistungsrechtlicher Gehalt“56 untrennbar verbunden ist.57 cc) Der leistungsrechtliche Inhalt von Art. 11 Abs. 1 EMRK Die Ausgestaltungsbedürftigkeit des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen lässt sich aber nicht nur aus der in Deutschland geltenden Rechtslage, sondern auch aus der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 EMRK gewinnen, nach der das Konventionsrecht den Gewerkschaften erlaubt, zur Verteidigung der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder kollektive Maßnahmen zu ergreifen. Die Einzelstaaten sind danach verpflichtet, gewerkschaftliche Maßnahmen zu erlauben und zu ermöglichen. Dabei steht ihnen ein weiter Ermessensspielraum hinsichtlich der Mittel zu, die sie zu diesem Zweck zur Verfügung stellen. Dass sie aber nach Art. 11 Abs. 1 EMRK dazu verpflichtet sind, Mittel zu diesem Zweck zur Verfügung zu stellen und auf diese Weise die in der Menschenrechtskonvention enthaltenen Freiheiten auszugestalten, ergibt sich ohne weiteres aus den zu Art. 11 EMRK ergangenen Entscheidungen des EGMR.58
53
BVerfGE 93, 352 (359) – Hervorhebungen vom Verfasser. Erfurter Kommentar – Dieterich, Art. 9 GG, Rn. 79; Sachs – Höfling, GG, Art. 9, Rn. 76; von Münch/Kunig – Löwer, GG, Art. 9, Rn. 65; Münchener Handbuch – Otto, § 284, Rn. 20; Maunz/Dürig – Scholz, GG, Art. 9 Abs. 3, Rn. 167. Bis zu zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 84, 212, 226 f.; 88, 103, 115) war lediglich umstritten, ob die Arbeitsrechtsprechung für die Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit zuständig sein kann oder ob hierfür wegen der tangierten Grundrechte und des Wesentlichkeitsgrundsatzes ein Parlamentsgesetz erforderlich ist; vgl. Lerche, NJW 1987, S. 2465 ff.; Löwisch, DB 1988, S. 1013 ff. 55 Vgl. statt aller: Münchener Handbuch – Otto, § 284, Rn. 20. 56 Sachs – Höfling, GG, Art. 9, Rn. 77. 57 Zur Kategorie des Ausgestaltungsanspruchs aus den Gemeinschaftsgrundrechten siehe: Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 419 (m.w. N.). 58 Vgl. EGMR, 2.7.2002, App. 30668/96, Rn. 41 (Wilson aO) sowie die Nachweise unter § 1 III. 2. a) aa). 54
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dd) Folgerungen für Art. 28 Var. 2 GRC Da es sich beim Grundrecht auf kollektive Maßnahmen aus Art. 28 Var. 2 GRC um ein mit der Koalitionsmittelfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG thematisch identisches und den arbeitskampfrechtlichen Garantien des Art. 11 Abs. 1 EMRK entsprechendes Recht handelt, ist auch beim Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen zwischen einem abwehrrechtlichen und einem leistungsrechtlichen Inhalt zu unterscheiden. Das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen vermittelt im Ergebnis über seinen abwehrrechtlichen Gehalt hinaus einen grundrechtlichen Anspruch auf Bereitstellung von Rechtsvorschriften, die für die tatsächliche Ausübung der gewährten Freiheiten erforderlich sind.59 Allerdings ist damit noch keine Entscheidung darüber gefallen, gegen welchen Verband sich die jeweiligen Pflichten aus Art. 28 Var. 2 GRC richten, so dass im Folgenden zu untersuchen ist, inwiefern die Gemeinschaft und inwiefern die Mitgliedstaaten an die jeweiligen Inhalte des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen gebunden sind. III. Der Abwehranspruch aus dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen Zunächst ist der abwehrrechtliche Gehalt des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen auf der Ebene der Gemeinschaft und anschließend auf der Ebene der Mitgliedstaaten zu untersuchen. Dabei geht es ausschließlich um die (negative) Abwehr von hoheitlichen Eingriffen in die Freiheit, kollektive Maßnahmen anzuwenden, und nicht um die (positive) Befugnis zur Ergreifung kollektiver Maßnahmen. 1. Der Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC auf der Gemeinschaftsebene Ein Eingriff der Gemeinschaft in die Arbeitskampffreiheit oder die Arbeitskampfneutralität, die zu einem Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC führen könnte, ist in zwei grundsätzlich verschiedenen Fallgestaltungen denkbar: Zum einen kann von der Gemeinschaftsebene her in kompetenzgemäßer Weise in die von Art. 28 Var. 2 GRC geschützten Freiheiten eingegriffen werden und zum
59 Zutreffend: Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 18. Nach der entgegengesetzten Auffassung von Winner (in: Die Europäische Grundrechtecharta und ihre soziale Dimension, S. 161) soll sich der Wirkungsgehalt des Art. 28 Var. 2 GRC in einer objektiv-rechtlichen Respektierungsverpflichtung der Union und der Mitgliedstaaten sowie einem subjektiven Abwehrrecht der grundrechtsberechtigten Arbeitnehmer und Koalitionen erschöpfen.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
anderen kann ein Gemeinschaftsorgan unter Verletzung des Art. 137 Abs. 5 EG eine das Arbeitskampfrecht regelnde Maßnahme treffen.60 a) Die Abwehr kompetenzgerechter Eingriffe Die Erkenntnis, dass die erste Konstellation nicht nur theoretisch denkbar ist, sondern insbesondere bei einer Kollision von EG-Grundfreiheiten mit dem Recht auf kollektive Maßnahmen praktisch relevant werden kann, geht auf ein Urteil des EuGH vom 9. Dezember 199761 zurück. aa) Der spanisch-französische Erdbeerstreit (1997) In dem betreffenden Verfahren führte die Kommission aus, dass seit mehr als einem Jahrzehnt regelmäßig Beschwerden bei ihr eingingen, mit denen die Untätigkeit französischer Behörden gegenüber Gewalttaten gerügt werde, die Privatpersonen und Protestbewegungen französischer Landwirte gegen landwirtschaftliche Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten verübten. Mehrfach war bei Ausschreitungen die Ladung von Lastwagen, die landwirtschaftliche Erzeugnisse transportierten, vernichtet worden und landwirtschaftliche Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten in französischen Supermärkten beschädigt worden. Zwischen April und Juli 1993 seien insbesondere Erdbeeren aus Spanien Ziel der Kampagne gewesen. Auch im April 1995 sei es erneut zu schweren Vorfällen im Südwesten Frankreichs gekommen, in deren Verlauf landwirtschaftliche Erzeugnisse aus Spanien vernichtet wurden. Daraufhin erhob die Kommission beim EuGH Klage auf Feststellung, dass Frankreich gegen seine Verpflichtungen aus Art. 30 EG in Verbindung mit Art. 5 des EG-Vertrages verstoßen hat, indem es nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, damit der freie Warenverkehr nicht durch Handlungen von Privatpersonen beeinträchtigt werde.62 Der EuGH musste sich in seiner Entscheidung nicht damit auseinandersetzen, inwieweit die Protestaktionen in Frankreich durch Grundrechte geschützt werden. Der Gerichtshof stellte vielmehr fest, dass es nicht die Aufgabe der Gemeinschaftsorgane sei, sich an die Stelle der Mitgliedstaaten zu setzen, wenn es 60 Zu den Fällen, in denen ausschließlich ein Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC geltend gemacht wird, gehören vor allem diejenigen Konstellationen, in denen die Anwendung kollektiver Maßnahmen bereits nach nationalen Rechtsvorschriften erlaubt ist und Eingriffe der Gemeinschaft in nationale Arbeitskämpfe abgewehrt werden sollen. Gleichwohl ist die Rechtmäßigkeit der jeweiligen Arbeitskampfmaßnahme nach dem nationalen Recht keine Voraussetzung für die Entstehung eines grundrechtlichen Abwehranspruches aus Art. 28 Var. 2 GRC; vgl. § 2 IV. 3. b). 61 EuGH, 9.12.1997, Rs. C-265/95 (Kommission/Frankreich). 62 EuGH, 9.12.1997, Rs. C-265/95, Rn. 10 (Kommission/Frankreich).
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um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gehe. Dafür seien allein die Mitgliedstaaten zuständig und es stehe grundsätzlich im Ermessen der Mitgliedstaaten zu entscheiden, welche Maßnahmen in einer bestimmten Situation am besten geeignet seien, um Beeinträchtigungen der freien Wareneinfuhr zu beseitigen.63 Allerdings begründe Artikel 30 EG in Verbindung mit Artikel 5 des EG-Vertrages eine Verpflichtung, ausreichende und geeignete Maßnahmen gegen Handlungen von Privatpersonen zu ergreifen, die Hemmnisse für den freien Warenverkehr mit bestimmten landwirtschaftlichen Erzeugnissen verursachen. Insoweit stellte der Gerichtshof im konkreten Fall fest, dass Frankreich keine zum Schutz des freien Warenverkehrs geeigneten und ausreichenden Maßnahmen ergriffen hatte.64 bb) Art. 2 VO 2679/98/EG (Warenverkehrsverordnung) Im Schrifttum ist im Nachgang zu dieser Entscheidung des EuGH erkannt worden, dass die begründete Schutzpflicht aus der Warenverkehrsfreiheit mit den nationalen Grundrechten und insbesondere mit den national-verfassungsrechtlichen Verbürgungen des Arbeitskampfes in Konflikt geraten könnte. Es ist denkbar, dass ein Mitgliedstaat zur Sicherstellung der anwendungsvorrangigen gemeinschaftsrechtlichen Warenverkehrsfreiheit auch dann gezwungen sein könnte, gegen Arbeitskampfmaßnahmen einzuschreiten, wenn sie unter dem Schutz der nationalen Verfassung stehen.65 Der Rat hat auch in Hinblick auf die mögliche Kollision der einzelstaatlichen Pflicht zum Schutz der Warenverkehrsfreiheit und dem Recht auf kollektive Maßnahmen am 7. Dezember 1998 die Verordnung 2679/98/EG66 (so genannte Warenverkehrsverordnung) erlassen. Im dritten und vierten Erwägungsgrund zu dieser Verordnung erkennt der Rat an, dass die Mitgliedstaaten zur Sicherstellung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarktes keine Maßnahmen ergreifen dürfen, die den Handel behindern könnten, und darüber hinaus alle erforderlichen, der Situation angemessenen Maßnahmen zur Erleichterung des freien Warenverkehrs in ihrem Gebiet treffen müssen. Diese Maßnahmen dürften aber nicht die Ausübung der Grundrechte und insbesondere nicht die Ausübung des Streikrechts beeinträchtigen. Dazu bestimmt Art. 2 der VO 2679/98/ EG wörtlich:
63
EuGH, 9.12.1997, Rs. C-265/95, Rn. 33 f. (Kommission/Frankreich). EuGH, 9.12.1997, Rs. C-265/95, Rn. 35, 39, 66 (Kommission/Frankreich). 65 Münchener Handbuch – Birk, § 19, Rn. 443; Däubler, FS-Hanau, S. 489 (500); Szczekalla, DVBl. 1998, S. 219 (223 f.); vgl. auch Meurer, EWS 1998, S. 196 (202). 66 Verordnung (EG) Nr. 2679/98 des Rates vom 7.12.1998 über das Funktionieren des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. Nr. L 337, 12.12.1998, S. 8 ff.). 64
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts „Diese Verordnung darf nicht so ausgelegt werden, dass sie in irgendeiner Weise die Ausübung der in den Mitgliedstaaten anerkannten Grundrechte, einschließlich des Rechts oder der Freiheit zum Streik, beeinträchtigt. Diese Rechte können auch das Recht oder die Freiheit zu anderen Handlungen einschließen, die in den Mitgliedstaaten durch die spezifischen Systeme zur Regelung der Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern abgedeckt werden.“67
Im Schrifttum ist die Bestimmung des Art. 2 VO 2679/98/EG vor allem deswegen auf Kritik gestoßen, weil ihr nicht ohne weiteres zu entnehmen sein soll, ob sie sich auf die Grundrechte der Mitgliedstaaten oder auf einen gemeinschaftlichen Grundrechtsstandard bezieht.68 Obwohl Art. 2 Satz 2 VO 2679/98/ EG für die letztere Auffassung in Anspruch genommen wird, weil dieser Teil der Bestimmung ansonsten überflüssig sein soll,69 ist aufgrund des Wortlauts von Art. 2 Satz 1 VO 2679/98/EG anzunehmen, dass sich die Vorschrift auf die nationalen Grundrechte bezieht.70 Sie reagiert damit auf die erkannte Kollision der Warenverkehrsfreiheit mit den nationalen Arbeitskampfgarantien und bestimmt, dass der aus der gemeinschaftlichen Grundfreiheit herrührende Schutzgewähranspruch im Zweifel hinter den arbeitskampfrechtlichen Gewährleistungen der nationalen Verfassungen zurücktritt. Die Vorschrift verdeutlicht, dass eine Rücksichtnahme auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts erforderlich ist, um die nationalen Arbeitskampfparteien vor gemeinschaftsrechtlichen Eingriffen in ihren ansonsten nur nationalverfassungsrechtlich gewährten Freiheiten zu schützen. In geradezu klassischer Weise macht das Beispiel des Art. 2 VO 2679/98/EG deutlich, dass die nationalen Grundrechtsträger bei der Kollision von gemeinschaftsrechtlicher Grundfreiheit und nationalem Streikrecht wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts Eingriffen von der Gemeinschaftsebene her „grundrechtsschutzlos“ ausgeliefert sind. Denn die nationalrechtlichen Arbeitskampfbefugnisse vermögen nicht den aus der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheit resultierenden Schutzgewähranspruch zu beschränken.71 Deswegen ist eine materielle Begrenzung 67 Hervorhebungen vom Verfasser. Rixen (in: Tettinger/Stern, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 4) will aus der Existenz der Vorschrift ableiten, dass das Recht der Europäischen Union beislang kein Grundrecht aus Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen kenne. Die Begründung von Gemeinschaftsgrundrechten richtet sich jedoch nach Art. 6 Abs. 2 EU und nicht nach der sekundärrechtlichen Vorschrift des Art. 2 VO 2679/98/EG. 68 Kenner – Ryan, Economic and Social Rights under the EU Charter of Fundamental Rights, S. 67 (80). 69 Kenner – Ryan, Economic and Social Rights under the EU Charter of Fundamental Rights, S. 67 (80). 70 Birk, FS-BAG, S. 1165 (1172). 71 Nach der Rechtsprechung des EuGH sind mitgliedstaatliche Beschränkungen der EG-Grundfreiheiten an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen. Verstünde man das nationale Arbeitskampfrecht als mitgliedstaatliche Begrenzung der sich aus den Grundfreiheiten ergebenden Schutzpflichten, unterläge es – der Rechtsprechung des
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der Grundfreiheiten und der entsprechenden Handlungsbefugnisse der Gemeinschaftsorgane auf der Ebene des europäischen Rechts notwendig. Dass es tatsächlich immer wieder zu Kollisionslagen zwischen dem Gemeinschaftsrecht und der Ausübung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen kommt, belegt der Bericht der Kommission über die Anwendung der Warenverkehrsverordnung aus dem Jahr 2001, in dem sie die mit der Anwendung der Verordnung gewonnenen Erfahrungen bilanziert.72 Nach dem Bericht der Kommission ist es vor allem im Zeitraum zwischen Juni 1999 und Oktober 2000 aufgrund von Arbeitskämpfen zu Beeinträchtigungen des Warenverkehrs in einer die gemeinschaftsrechtliche Grundfreiheit tangierenden Weise gekommen. Dazu gehören etwa die Streiks der italienischen Spediteure im Juni 2000, bei denen an den Grenzübergängen in den Alpen Streikposten errichtet worden sind, sowie zwei Streiks von italienischen und französischen Fluglotsen am 26. Juni und am 27. Juli 2000.73,74 cc) Der deutsch-österreichische Brennerstreit (2003) In einer neueren Entscheidung aus dem Jahr 2003 hat der EuGH jedoch eine andere als die in Art. 2 VO 2679/98/EG vorgesehene Lösung der Kollision von Warenverkehrsfreiheit und grundrechtlich geschützten Rechtspositionen aufgezeigt.75 In diesem Fall hatte ein österreichischer Verein zum Schutz des Lebensraumes in der Alpenregion für Juni 1998 eine Versammlung auf der Brenner-AutoEuGH zufolge – einer Prüfung am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte. Die einzelstaatlichen Arbeitskampfvorschriften wären mithin nur insoweit beachtlich als sie mit den Gemeinschaftsgrundrechten und folglich auch mit dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen in Einklang stehen; vgl. hierzu im Einzelnen: § 2 III. 2. b) cc). 72 KOM (2001) 160 endg. 73 KOM (2001) 160 endg., Anhang II, S. 18 f.; vgl. auch die Nachweise bei Szczekalla, DVBl. 1998, S. 219 [Fn. 2]. 74 Ein weiteres Beispiel für einen möglichen Eingriff der Gemeinschaft in das Recht auf kollektive Maßnahmen bei der Ausübung ihr zustehender Kompetenzen liefert die Verordnung Nr. 261/2004/EG vom 11.2.2004 über die gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste (ABl. Nr. L 46, 17.2.2004, S. 1). Die Verordnung enthält Mindestrechte für Fluggäste im Falle einer unfreiwilligen Nichtbeförderung, einer Annullierung des Flugs oder einer Verspätung des Flugs. In diesem Zusammenhang ist es denkbar, dass ein Luftfahrtunternehmen einen Flug aufgrund eines Streiks streichen muss. Um die zusätzliche Belastung eines bestreikten Luftfahrtunternehmens durch Ersatzansprüche der Fluggäste und damit einen Eingriff in dessen Arbeitskampffreiheit zu vermeiden, wird im 14. Erwägungsgrund zur Verordnung 261/2004/EG darauf hingewiesen, dass Streiks als außergewöhnliche Umstände im Sinne der Verordnung 261/2004/EG anzusehen sind, die gemäß Art. 5 Abs. 3 der Verordnung 261/2004/EG Ersatzansprüche ausschließen. 75 EuGH, 12.6.2003, Rs. C-112/00 (Schmidberger).
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bahn ankündigt, die in dem angeführten Zeitraum zu einer zwischenzeitlichen Blockade des gesamten Verkehrs auf der Autobahn führen sollte. Da die österreichischen Behörden die Versammlung nicht untersagt hatten, fand sie wie angekündigt statt und brachte den Verkehr auf dem Brenner für die Dauer von etwa 30 Stunden zum Erliegen. Daraufhin verklagte ein in Deutschland ansässiges Transportunternehmen die Republik Österreich auf Zahlung von Schadenersatz, weil die nationalen Behörden die Versammlung nicht verboten und nichts unternommen hätten, um die den freien Warenverkehr behindernde Blockade der Straßenverbindung zu verhindern. Das in zweiter Instanz mit der Klage befasste Oberlandesgericht Innsbruck legte dem EuGH unter anderem die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob der Grundsatz des freien Warenverkehrs einen Mitgliedstaat dazu verpflichte, wichtige Transitrouten freizuhalten und ob diese Verpflichtung den Grundrechten auf Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit vorgehe.76 Der Europäische Gerichtshof stellte zunächst fest, dass der freie Warenverkehr zwar eines der Grundprinzipien des EG-Vertrags darstelle, aber unter bestimmten, im EG-Vertrag genannten Voraussetzungen oder aufgrund zwingender Erfordernisse des Allgemeininteresses beschränkt werden könne.77 Hierzu zähle der Schutz der tangierten Grundrechte der Meinungsäußerungs- und der Versammlungsfreiheit; diese Grundrechte seien allerdings ihrerseits ebenfalls bestimmten, durch Ziele des Allgemeininteresses gerechtfertigten Beschränkungen unterworfen.78 Entscheidend ist, dass der EuGH im Gegensatz zu den Schlussanträgen des Generalanwalts Jacobs79 in diesem Zusammenhang nicht auf die in Österreich geltenden nationalen Grundrechte, sondern auf die Gemeinschaftsgrundrechte abgestellt hat.80 Zudem entschied der EuGH, dass die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft mit den sich aus den EG-Grundfreiheiten ergebenden Erfordernissen abzuwägen seien. Anhand einer Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls müsse festgestellt werden, ob das rechte Gleichgewicht zwischen diesen Interessen gewahrt worden sei.81
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Vgl. auch: GA Jacobs, SchlA, 11.7.2002, Rs. C-112/00, Rn. 101 (Schmidberger). EuGH, 12.6.2003, Rs. C-112/00, Rn. 78 (Schmidberger). 78 EuGH, 12.6.2003, Rs. C-112/00, Rn. 79 (Schmidberger). 79 SchlA, 11.7.2002, Rs. C-112/00, Rn. 100 (Schmidberger). 80 EuGH, 12.6.2003, Rs. C-112/00, Rn. 71, 74 (Schmidberger); Rixen (in: Tettinger/Stern, Kölner GK-GRC, Art. 12, Rn. 2 [Fn. 6]) ist hingegen der Ansicht, dass sich der EuGH auf Art. 11 EMRK als in Österreich geltendes Verfassungsrecht bezogen habe. Gegen dieses Verständnis der Entscheidung spricht aber, dass der EuGH sich darin auf frührere Entscheidungen zu den Gemeinschaftsgrundrechten bezieht. Darüber hinaus ist der EuGH nach Art. 220 EG lediglich für die Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts zuständig und wollte sicherlich nicht offensichtlich gegen diese gemeinschaftsvertragliche Kompetenznorm verstoßen. 81 EuGH, 12.6.2003, Rs. C-112/00, Rn. 77, 81 (Schmidberger). 77
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Im Ergebnis gab der EuGH dem Grundrechtsschutz den Vorrang und verneinte eine Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheit.82 dd) Folgerungen für den Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC Der EuGH hat es mithin abgelehnt, die gemeinschaftsrechtlichen Schutzpflichten der Einzelstaaten aufgrund nationaler Grundrechtsgewährleistungen zu verkürzen. Der Gerichtshof hat die Kollision der Grundfreiheit mit den tangierten Grundrechten nicht im Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum Recht der Einzelstaaten, sondern mit einer Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts gelöst. Eine dementsprechende Abwägung zwischen den EG-Grundfreiheiten und dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen ist der in Art. 2 VO 2679/98/EG vorgesehenen Lösung im Falle einer Kollision vorzuziehen, weil sie die Einschränkung des Gemeinschaftsrechts durch nationale Rechtsvorschriften und damit eine systemwidrige Durchbrechung des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts verhindert. Im Gegensatz zu den nationalen Grundrechten steht Art. 28 Var. 2 GRC mit den EG-Grundfreiheiten innerhalb der Normenhierarchie des Gemeinschaftsrechts auf der gleichen Stufe, so dass das Grundrecht ohne weiteres mit den mitgliedstaatlichen Pflichten zum Schutz der Grundfreiheiten abgewogen werden kann.83 Zudem kennen nicht alle Mitgliedstaaten eine verfassungsmäßige Garantie des Arbeitskampfes, weswegen sich bei dem mit Art. 2 VO 2679/98/EG verfolgten Ansatz die Frage stellen würde, ob die gemeinschaftsrechtliche Schutzpflicht aus den Grundfreiheiten in diesen Staaten weiterreichende Wirkungen entfaltet als in denjenigen Mitgliedstaaten, in denen das Recht auf kollektive Maßnahmen Verfassungsrang genießt.84 Schließlich ist es praktisch unmöglich, in allen Bereichen, in denen eine Kollision zwischen dem Gemeinschaftsrecht und den nationalen Arbeitskampfrechten denkbar erscheint, eine dem Art. 2 VO 2679/98/EG entsprechende Regelung in das Gemeinschaftsrecht aufzunehmen. Bereits für die neben der Warenverkehrsfreiheit bestehenden Grundfreiheiten im EG-Vertrag, bei denen eine Kollision mit den nationalen Arbeitskampfordnungen ebenfalls denkbar erscheint, fehlt eine dem Art. 2 VO 2679/98/EG vergleichbare Regelung.85 Ohne die Anwen82
EuGH, 12.6.2003, Rs. C-112/00, Rn. 93 f. (Schmidberger). Obwohl der Abwehranspruch aus dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen bei der Kollision mit dem Schutzgewähranspruch aus einer EG-Grundfreiheit in aller Regel bei Arbeitskämpfen Anwendung finden dürfte, die ihre Rechtsgrundlage im nationalen Recht finden, handelt es sich insoweit dennoch um eine Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC auf der Gemeinschaftsebene. Sie hängt damit nicht davon ab, dass die besonderen Voraussetzungen erfüllt sind, die Art. 51 Abs. 1 GRC für eine Anwendung von Gemeinschaftsgrundrechten in den Mitgliedstaaten vorsieht. 84 Vgl. Birk, FS-BAG, S. 1165 (1172). 85 Birk, FS-BAG, S. 1165 (1171). 83
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dung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen ist in diesen Fällen gar nicht ersichtlich, wie die jeweiligen Träger nationaler Grundrechte ihre Rechtsposition gegenüber dem Gemeinschaftsrecht verteidigen sollen. Da diese Schutzlücke das gesamte Gemeinschaftsrecht betrifft, kann ihr folglich nur mit der dogmatisch konsequenten Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen begegnet werden.86 Demnach ist die Kollision zwischen den Grundfreiheiten und dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen, der Rechtsprechung des EuGH folgend, im Wege der Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts zu lösen. Dabei ist praktische Konkordanz87 herzustellen, so dass alle Beteiligten ihre kollidierenden Interessen möglichst weitgehend verwirklichen können.88 ee) Exkurs: Die Rechtssachen „Viking“ und „Laval“ Im Jahr 2005 sind mit der Rechtssache „Viking“89 und der Rechtssache „Laval“90 zwei Verfahren beim EuGH anhängig geworden, bei denen es um eine Beeinträchtigung eines grundfreiheitlich geschützten Verhaltens durch Maßnahmen des Arbeitskampfs geht. In der Rechtssache „Viking“ hat der für England und Wales zuständige Court of Appeal dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die mit der Umflaggung eines Schiffes zusammenhängen.91 Das finnische Fähr86 Dieser Auffassung ist auch die Europäische Kommission (KOM (2001) 160 endg., S. 13 [Fn. 27]). 87 Vgl. hierzu: BVerfGE 97, 169 (176). 88 Szczekalla, DVBl. 1998, S. 219 (224); vgl. auch Tettinger/Stern – von Danwitz, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 37 und Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 1008. Birk (in: FS-BAG, S. 1165, 1173) hat seine frühere Auffassung (in: Münchener Handbuch, § 19, Rn. 446), nach welcher die Grundfreiheiten mit den Grundrechten abzuwägen seien, zugunsten der Annahme eines ausnahmslosen Vorranges der gemeinschaftlichen Grundfreiheiten gegenüber den nationalen Grundrechten aufgegeben. Das führt jedoch auf der Gemeinschaftsebene zu Problemen, weil Art. 28 Var. 2 GRC nach der Auffassung von Birk lediglich dazu dienen soll, die Grundfreiheiten im Lichte des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen zu interpretieren. Damit wird dem Gemeinschaftsgrundrecht aber zum einen der abwehrrechtliche Gehalt abgesprochen und zum anderen läuft der Rekurs auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts der Vorschrift des Art. 2 VO 2679/98/EG zuwider. 89 Rs. C-438/05, vgl. ABl. Nr. C 60, 11.3.2006, S. 16 ff.; vgl. GA Maduro, SchlA, 23.5.2007, Rs. C-438/05. 90 Rs. C-341/05, vgl. ABl. Nr. C 281, 12.11.2005, S. 10; vgl. GA Mengozzi, SchlA, 23.5.2007. Rs. C-341/05. 91 Vgl. Court of Appeal (Civil Division), 3.11.2005, European Law Reports 2006, S. 509 ff.; vgl. im Übrigen: Barnard, EC Employment Law, S. 272 ff.; Blanke, AuR 2006, S. 1 ff.; Davies, Industrial Law Journal 2006, S. 75 ff.; Junker, EWS 2007,
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unternehmen „Viking Line ABP“ beabsichtige, die zwischen Helsinki und Tallinn verkehrende Fähre „Rosella“ auf das estnische Tochterunternehmen „OÜ Viking Line Esti“ auszuflaggen, da das Schiff der estnischen Konkurrenz nicht standhalten konnte und Verluste erwirtschafte. Nach der Umflaggung sollte die Rosella mit einer estnischen oder gegebenenfalls mit einer teilweise finnischen und teilweise estnischen Crew betrieben werden. Ziel des Unternehmens war es, die weniger strengen estnischen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen und insbesondere das estnische Lohnniveau zur Anwendung zu bringen. Die betroffenen finnischen Seeleute sollten allerdings nicht entlassen, sondern in anderen Unternehmen des Viking Konzerns weiterbeschäftigt werden. Die „Finnish Seamen’s Union“ (FSU), die die Besatzung der Fähre repräsentierte, drohte dem finnischen Mutterunternehmen jedoch Arbeitskampfmaßnahmen an. Viking Line ABP sollte gezwungen werden, entweder die Absicht, die Rosella umzuflaggen, aufzugeben oder einen Tarifvertrag abzuschließen, der das Unternehmen auch nach einer Umflaggung dazu verpflichtet hätte, weiterhin finnisches Recht und finnische Tarifverträge anzuwenden und dementsprechend die gesamte Besatzung der Rosella nach finnischen Tariflöhnen zu vergüten. Das vorlegende Gericht hat den EuGH insbesondere danach gefragt, ob die angedrohten kollektiven Maßnahmen, mit welchen letztlich der wirtschaftliche Erfolg der Umflaggung verhindert werden sollte, einen gerechten Ausgleich zwischen dem sozialen Grundrecht, Kollektivmaßnahmen zu ergreifen, und der Freiheit, sich niederzulassen und Dienstleistungen zu erbringen, schaffen. Die Beantwortung dieser Frage hängt letztlich von einer Abwägung zwischen der vorrangig tangierten Niederlassungsfreiheit einerseits und dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen andererseits ab.92 Gegen die Zulässigkeit der angedrohten Arbeitskampfmaßnahmen spricht nicht nur, dass sich die primäre Forderung der finnischen Gewerkschaft gegen die Umflaggung und damit gegen die unternehmerische Entscheidung als solche richtete, sondern auch der Umstand, dass die finnische Gewerkschaft für sich in Anspruch genommen hat, die Beschäftigungsbedingungen etwaiger estnischer Arbeitnehmer auf der Rosella zu regeln.93 In der Rechtssache „Laval“ hat der schwedische „Arbetsdomstol“ dem EuGH mehrere Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die sich im Zusammenhang mit dem schwedischen „Medbestämmandelag“ (Mitbestimmungsgesetz) ergeben. Eine im Medbestämmandelag enthaltene Bestimmung verbietet den Gewerkschaften Arbeitskampfmaßnahmen, die darauf gerichtet sind, einen zwiS. 49 ff.; Novitz, Lloyd’s Maritime and Commercial Law Quarterly 2006, S. 242 ff.; Wedl, DRdA 2006, S. 264 ff. 92 GA Maduro, SchlA, 23.5.2007, Rs. C-438/05, Rn. 57 ff. 93 Der Umstand, dass das Vorgehen der FSU im Rahmen der so genannten Billigflaggenkampagne der International Transport Workers’ Federation koordiniert und abgestimmt worden ist, ändert an diesem Befund nichts.
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schen anderen Parteien geschlossenen Tarifvertrag zu verdrängen. Aufgrund einer besonderen Vorschrift, die mit der so genannten Lex Britannia in das Medbestämmandelag eingeführt worden ist, gilt dieses Verbot jedoch nur dann, wenn eine Gewerkschaftsorganisation Maßnahmen im Hinblick auf Arbeitsverhältnisse durchführt, auf die das schwedische Mitbestimmungsgesetz unmittelbar anwendbar ist. Das bedeutet in der Praxis, dass das Arbeitskampfverbot nicht für kollektive Maßnahmen gegen ausländische Unternehmen gilt, die vorübergehend im Schweden tätig sind und ihre eigenen Arbeitnehmer mitbringen. Im konkreten Fall ging es um die Arbeitnehmer eines Tochterunternehmens der lettischen „Laval un Partneri Ltd.“, die zur Erfüllung eines Bauauftrages lettische Arbeitnehmer in die schwedische Stadt Vaxholm entsandt hatte und diese Arbeitnehmer auf der Grundlage lettischer Tarifverträge entlohnte. Hiergegen ergriffen die schwedische Bauarbeitergewerkschaft, „Svenska Byggnadsarbetareförbundet“, und die schwedische Elektrikergewerkschaft, „Svenska Elektrikerförbundet“, kollektive Maßnahmen, insbesondere in Form einer Betriebsblockade, um das lettische Unternehmen zum Abschluss eines Kollektivvertrages zu zwingen, nach welchem es dazu verpflichtet gewesen wäre, die lettischen Arbeitnehmer während ihres Auslandseinsatzes nach schwedischen Tarifverträgen zu bezahlen. Unabhängig von der Frage, ob die gesetzlichen Regelungen in Schweden im Einklang mit der Dienstleistungsfreiheit und der Entsenderichtlinie 96/71/EG94 stehen, können sich die schwedischen Gewerkschaften nicht auf das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen berufen. Auch wenn man die Betriebsblockade als zulässiges Arbeitskampfmittel ansieht,95 handelte es sich um einen wider die Interessen der betroffenen lettischen Arbeitnehmer geführten Arbeitskampf, mit dem ausschließlich auf die Vergütung von Arbeitnehmern Einfluss genommen werden sollte, die nicht den kampfführenden Gewerkschaften angehörten.96 ff) Vereinbarkeit mit Art. 137 Abs. 5 EG/Beispielsfall Nr. 1 Um die Frage zu klären, inwieweit sich die Anwendung des Abwehranspruchs aus Art. 28 Var. 2 GRC auf kompetenzgerechte Rechtsakte der Gemeinschaft und insbesondere auf Kollisionen der Arbeitskampffreiheit mit den EG-Grundfreiheiten in die zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten 94 Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12. 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. Nr. L 18, 21.1.1997, S. 1 ff.). 95 Siehe hierzu: § 3 III. 1. c). 96 Infolge der Betriebsblockade wurde über das Tochterunternehmen der Laval un Partneri Ltd. ein Liquidationsverfahren eröffnet und deren Arbeitnehmer nach Lettland zurückgeschickt.
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bestehende Kompetenzordnung einfügt, sei zunächst nach dem Zweck des Art. 137 Abs. 5 EG gefragt.97 Art. 137 Abs. 5 EG zielt vordergründig darauf ab, die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für das Arbeitskampfrecht zu schützen und zu bewahren. Die Vorschrift stellt sicher, dass in diesem Bereich keine Harmonisierung durch das Gemeinschaftsrecht erfolgt, sondern die Regelung des Arbeitskampfrechts alleinige Aufgabe der Mitgliedstaaten bleibt. Obwohl sich die Bestimmung darauf beschränkt, die Zuständigkeitsverhältnisse zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten zu regeln, ist der mit Art. 137 Abs. 5 EG verfolgte Zweck mit dem Hinweis auf den Schutz mitgliedstaatlicher Kompetenzen nicht vollständig beschrieben. Die Wahrung der mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten ist lediglich die Kehrseite des Kompetenzentzuges, nicht aber der sachliche Grund, aus dem die Mitgliedstaaten von einer Kompetenzübertragung der in Art. 137 Abs. 5 EG genannten Materien auf die Gemeinschaft abgesehen haben. Der entscheidende Gesichtspunkt hierfür lässt sich dem Umstand entnehmen, dass Art. 137 Abs. 5 EG neben dem Arbeitskampfrecht insbesondere eine Gemeinschaftszuständigkeit für die Regelung des Arbeitsentgeltes ausschließt. Da diese Materie regelmäßig nicht in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, sondern von den einzelstaatlichen Koalitionen geregelt wird, soll Art. 137 Abs. 5 EG nicht nur die Kompetenzen der Einzelstaaten schützen, sondern vor allem die Regelungsbefugnisse der nationalen Koalitionen.98 Da die Mitgliedstaaten die Höhe der Arbeitsvergütung in aller Regel nicht autoritativ festlegen können, weil sie damit die nationalen Grundrechte der Arbeitsvertragsparteien und der Koalitionen verletzen würden, soll Art. 137 Abs. 5 EG sicherstellen, dass auch die Gemeinschaft keinen Einfluss auf die Löhne und Gehälter nehmen kann. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass sich die Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie ihre Zusammenschlüsse gegenüber der Gemeinschaft nicht auf ihre jeweiligen nationalen Grundrechtsgewährleistungen berufen können.99 Für das Arbeitskampfrecht gilt insoweit nichts anderes, weil es in der weit überwiegenden Mehrzahl der Mitgliedstaaten zum national-verfassungsrechtlich geschützten Grundrechtsbereich der Koalitionen gehört.100 Im Bereich des Arbeitskampfrechts soll Art. 137 Abs. 5 EG ausschließen, dass Sekundärrechtsakte der Gemeinschaft, die sogar das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten verdrängen, die einzelstaatlichen Verfassungsverbürgungen des Arbeitskampfrechts beeinträchtigen. Die Norm schließt Rechtssetzungsaktivitäten der Gemeinschaft im Bereich des Arbeitskampfrechts aus und beugt damit Einbrüchen 97
Vgl. § 2 II. 1. a). von der Groeben/Schwarze – Högl, Art. 137 EG, Rn. 41; Wisskirchen, FS-Arbeitsgerichtsverband, S. 653 (658 f.). 99 Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 455 f. 100 § 1 III. 1.; vgl. zudem Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 694. 98
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gemeinschaftsrechtlicher Regelungen in die kollektiven Arbeitsrechtssysteme der Mitgliedstaaten vor. Der Kompetenzentzug der Gemeinschaft in Art. 137 Abs. 5 EG dient demnach auch dem Schutz der einzelstaatlichen Arbeitskampfparteien. Damit besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der in Art. 137 Abs. 5 EG geregelten Kompetenzverteilung und den nationalen Grundrechten auf kollektive Maßnahmen, die mit Art. 137 Abs. 5 EG vor einer Überlagerung durch das anwendungsvorrangige Gemeinschaftsrecht geschützt werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird deutlich, dass der Ausschluss der Gemeinschaftskompetenz für das Streik- und Aussperrungsrecht denselben Zweck verfolgt wie die abwehrrechtliche Komponente des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen. Während der Kompetenzausschluss in Art. 137 Abs. 5 EG den Schutz der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen im Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten regelt, gibt ihnen Art. 28 Var. 2 GRC ein subjektives Recht, mit dem sie rechtswidrige Eingriffe der Gemeinschaft in ihre grundrechtlich geschützte Sphäre selbständig abwehren können.101 Zu derartigen Eingriffen kann es auf der Gemeinschaftsebene kommen, obwohl die Gemeinschaft nicht über eine Zuständigkeit für die Regelung des Arbeitskampfrechts verfügt. Wie etwa aus der Regelung des Art. 2 VO 2679/98/ EG hervorgeht, kann die Gemeinschaft die Arbeitskampffreiheit der in Art. 28 GRC genannten Grundrechtsträger auch bei der Wahrnehmung ihr tatsächlich zustehender Kompetenzen beeinträchtigen. In diesen Konstellationen versagt der Schutz des Art. 137 Abs. 5 EG ebenso wie der Schutz der nationalen Grundrechte. Bei derartigen „mittelbaren“ Eingriffen der Gemeinschaft in die Arbeitskampffreiheit bietet dann Art. 28 Var. 2 GRC den notwendigen Grundrechtsschutz.102 Als Abwehrrecht gegen diese Art von Eingriffen steht Art. 28 Var. 2 GRC damit im Einklang mit der Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten.103 101 Insoweit zutreffend: Hervey/Kenner – Kenner, Economic and Social Rights under the EU Charter of Fundamental Rights, S. 1 (21); abzulehnen ist hingegen der von Kenner (in: EU Employment Law, S. 533 f.) aus diesem Umstand gezogene Schluss, dass die Grundrechtecharta damit das Streikrecht untergrabe. 102 Meyer – Borowsky, GRC, Art. 51, Rn. 41; Goldsmith, CML Rev 2001, S. 1201 (1207). 103 Freilich kann aufgrund der Anerkennung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen der Kompetenzausschluss in Art. 137 Abs. 5 EG nicht etwa deswegen teleologisch reduziert werden, weil der Grundrechtsschutz des Rechts auf Arbeitskampfmaßnahmen auf der europäischen Ebene dem nationalen Grundrechtsschutz gleichzuachten ist (vgl. BVerfGE 73, 339, 378) und sich der Zweck des Kompetenzausschlusses in Art. 137 Abs. 5 EG damit gewissermaßen überholt habe. Einen solchen Paradigmenwechsel schließt Art. 51 Abs. 2 GRC kategorisch aus. Es bleibt auch nach der Anerkennung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen dabei, dass die Übertragung von Kompetenzen auf die Gemeinschaft die Schaffung eines gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes erforderlich macht und nicht umgekehrt die
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Die abwehrrechtliche Komponente des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen bei Eingriffen der Gemeinschaft in die Arbeitskampffreiheit innerhalb ihr zustehender Kompetenzen sei abschließend am folgenden hypothetischen Beispielsfall verdeutlicht: Beispielsfall Nr. 1: Die Europäische Gemeinschaft erlässt zur Stärkung des Gemeinsamen Marktes die Dienstleistungsverordnung, in der vorgesehen ist, dass Dienstleistungserbringer auch dann ausschließlich den Bestimmungen ihres Herkunftsmitgliedstaates unterfallen, wenn sie ihre Dienstleistung grenzüberschreitend in einem anderen Mitgliedstaat erbringen. Das soll nach der Dienstleistungsverordnung auch für die Beschäftigungsbedingungen von Arbeitnehmern gelten, die der Dienstleistungserbringer zur Erfüllung vertraglicher Verpflichtungen vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat entsendet.104 Das deutsche Unternehmen U betreibt in Passau eine Buchdruckerei mit 100 Beschäftigten. In einer Auseinandersetzung über den Abschluss eines Firmentarifvertrages ruft die zuständige Gewerkschaft G die bei U beschäftigten Arbeitnehmer zum Streik auf, woraufhin alle Mitarbeiter der U die Arbeit niederlegen. Um Produktionsausfälle zu vermeiden, schließt U daraufhin mit dem tschechischen Dienstleistungsunternehmen D einen Werkvertrag ab, in dem sich D zur Herstellung einer bestimmten Anzahl von Büchern verpflichtet. Zur Erfüllung dieser vertraglichen Verpflichtung entsendet das Unternehmen D 100 ordnungsgemäß bei ihr beschäftigte Arbeitnehmer in die von U zur Verfügung gestellte Produktionshalle nach Passau. Dort werden sie von D zu den Bedingungen ihrer tschechischen Arbeitsverträge beschäftigt. Wenn die G gegen die Beschäftigung der 100 tschechischen „Streikbrecher“ in Deutschland vorgehen will, kann sie sich dabei nicht auf ihre Grundrechte aus Art. 9 Abs. 3 GG stützen. Da die europäische Dienstleistungsverordnung als Teil des Gemeinschaftsrechts nicht der Prüfung anhand einzelstaatlicher
Begründung eines Gemeinschaftsgrundrechts zur Erweiterung der gemeinschaftlichen Kompetenzen führt. 104 Nach der Rechtsprechung des EuGH berechtigt die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 50 EG zur vorübergehenden Entsendung des gesamten Personals eines Dienstleistungserbringers in einen anderen Mitgliedstaat, wenn sich die betreffenden Arbeitnehmer rechtmäßig im Entsendestaat aufhalten und dort mit einer Arbeitserlaubnis versehen ordnungsgemäß beschäftigt werden; vgl. EuGH, 27.3.1990, Rs. C-113/89, Slg. 1990, I-1417, Rn. 7 ff. (Rush Portuguesa); 9.8.1994, Rs. C-43/93, Slg. 1994, I-3803, Rn. 11 ff. (Vander Elst). Zu dieser aus der Dienstleistungsfreiheit abgeleiteten, sog. Annex-Freizügigkeit der Arbeitnehmer eines Dienstleistungserbringers siehe vor allem: Hanau/Steinmeyer/Wank – Hanau, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 15, Rn. 425 ff. Es sei darauf hingewiesen, dass das so genannte Herkunftslandprinzip schon nach Art. 17 Ziffer 5 des Kommissionsvorschlags für eine Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt vom 25.2.2004 gerade nicht für die Angelegenheiten gelten sollte, die von der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern geregelt werden; vgl. KOM (2004) 2 endg./2, S. 61 f.
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Grundrechte unterliegt, kann die G nur Erfolg haben, wenn sie sich unter den Voraussetzungen des Art. 230 Abs. 4 EG105 mit einer Nichtigkeitsklage vor dem EuGH auf ihr Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen beruft.106 Der EuGH hat dann neben der Zuständigkeit der Gemeinschaft für den Erlass der Dienstleistungsverordnung vor allem zu klären, ob die Verordnung mit dem Gemeinschaftsprimärrecht und insbesondere mit Art. 28 Var. 2 GRC inhaltlich im Einklang steht. Verneint er dies, erklärt der Europäische Gerichtshof die Dienstleistungsverordnung gemäß Art. 231 EG für nichtig, woraufhin die G gegen die Beschäftigung der tschechischen Arbeitnehmer in Passau mit dem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG gegen die Bundesrepublik Deutschland vorgehen kann. Art. 137 Abs. 5 EG steht dieser Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC unter keinem erdenklichen Gesichtspunkt entgegen. b) Die Abwehr gegen Art. 137 Abs. 5 EG verstoßender Maßnahmen der Gemeinschaft In denjenigen Fällen, in denen ein Träger des Grundrechts aus Art. 28 Var. 2 GRC den abwehrrechtlichen Anspruch aus dem Gemeinschaftsgrundrecht gegen die Gemeinschaft geltend macht, damit sie eine kompetenzwidrige Regelung im Bereich des Arbeitskampfes unterlässt, ist ebenfalls kein Widerspruch zu Art. 137 Abs. 5 EG ersichtlich. Eine unter Verstoß gegen die Kompetenzausschlussklausel erlassene gemeinschaftsrechtliche Regelung zum Arbeitskampfrecht stellt notwendigerweise zugleich eine Verletzung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen dar. aa) Grundrechte als „negative Kompetenznormen“ Der Umstand, dass Grundrechte in ihrer Funktion als subjektive Abwehrrechte keine kompetenzerweiternden, sondern ausschließlich kompetenzbegrenzende Wirkungen entfalten, ist in der deutschen Grundrechtsdogmatik unter der Geltung des Grundgesetzes bereits frühzeitig erkannt worden. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1959 führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass die Freiheit der Entfaltung der Persönlichkeit sich nicht in der allgemeinen Handlungsfreiheit erschöpfe, sondern darüber hinaus den grundrechtlichen Anspruch enthalte, durch die Staatsgewalt nicht mit einem Nachteil belastet zu werden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begründet ist. Das Grundrecht gewährleiste daher einen Anspruch auf Freiheit von unberechtigten und mithin auch von kompetenzwidrigen staatlichen Eingriffen.107 105 106 107
Siehe zu diesen: Borowsky, EuR 2004, S. 879 ff. Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7, Rn. 9. BVerfGE 9, 83 (88).
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Ehmke108 hat daraufhin in einem 1963 veröffentlichten Aufsatz festgestellt, dass Grundrechte ganz allgemein ihren jeweiligen Trägern einen Anspruch darauf vermitteln, nur von dem jeweils zuständigen Hoheitsträger in ihren von der Verfassung gewährleisteten Rechten beeinträchtigt zu werden.109 Die subjektivrechtliche Abwehrfunktion der Grundrechte garantiert folglich das Recht, bei der Grundrechtsausübung innerhalb der verfassungsmäßigen Schranken nur von dem objektiv-rechtlich zuständigen Hoheitsträger beeinträchtigt zu werden. Deswegen besteht ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen Grundrecht und Kompetenz, der sich dadurch auszeichnet, dass die in der Verfassung positiv geregelten Kompetenzzuweisungen negativ von den Grundrechten begrenzt werden.110 Aus diesem Grund werden Grundrechte auch als negative Kompetenznormen verstanden. Die kompetenzbegrenzende Funktion der Grundrechte gilt ebenso für den Grundrechtsschutz der Gemeinschaft. Für die Ermittlung des jeweils zuständigen Hoheitsträgers besteht im Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten kein qualitativer Unterschied zur Kompetenzabgrenzung innerhalb eines Nationalstaates.111 Ihre kompetenzbegrenzende Funktion wahren die Grundrechte daher auch nach der Übertragung von Kompetenzen auf die überstaatliche Ebene und wirken sich auf dieser wie bei der Grundrechtsbindung der Einzelstaaten als negative Kompetenzbegrenzungen aus. Folgerichtig ist im Zusammenhang mit den in der Grundrechtecharta aufgeführten Rechten auf ihre Wirkung als negative Kompetenznormen hingewiesen worden.112 Auch diejenigen Gemeinschaftsgrundrechte, die über den Kompetenzbestand der Gemeinschaft hinausgehen, dienen lediglich dem Schutz des Einzelnen. Sie schützen sogar die Kompetenzen der Mitgliedstaaten, weil die jeweiligen Grundrechtsträger bei kompetenzüberschreitenden Rechtsakten der Gemeinschaft aus eigenem Recht gegen diese Rechtsakte vorgehen können. bb) Folgerungen für den Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC Dass die Gemeinschaftsgrundrechte nur von dem jeweils zuständigen Verband begrenzt werden dürfen und jeder kompetenzwidrige Rechtsakt zugleich 108
In: VVDStRL 1963 (20), S. 53 (91). Ehmke, VVDStRL 1963 (20), S. 53 (92). Dieser Gedanke hat sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durchgesetzt: BVerfGE 10, 354 (360 f.); 11, 105 (110); 11, 234, (236); 18, 315 (328); 26, 246 (258); 75, 108 (146). 110 Ehmke, VVDStRL 1963 (20), S. 53 (89). 111 Vgl. Grabitz, DVBl. 1977, S. 786 (790). 112 Meyer – Borowsky, GRC, Art. 51, Rn. 41; Pernice, DVBl. 2000, S. 847 (852) Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 400; Busek/Hummer – Weber, Etappen auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, S. 55 (58); Weber, NJW 2000, S. 537 (538); ähnlich: Hepple, Industrial Law Journal 2001, S. 225 (229). 109
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eine Verletzung des jeweils einschlägigen Grundrechts darstellt, ergibt sich aus Art. 51 Abs. 1 GRC. Nach dieser Bestimmung gilt die Charta für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Daraus folgt, dass den betreffenden Grundrechtsträgern ein Abwehrrecht gegen Rechtsakte der Gemeinschaft zusteht, die das in Art. 5 EG enthaltene Subsidiaritätsprinzip verletzen.113 Das gilt ebenso für den Fall, dass die Gemeinschaft in sonstiger Weise ihre Kompetenzen überschreitet, da Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC sie auch insoweit an die Gemeinschaftsgrundrechte bindet.114 Daraus lässt sich schließen, dass kompetenzwidrige Maßnahmen der Gemeinschaft zugleich Grundrechtsverletzungen darstellen, gegen die sich die betroffenen Grundrechtsträger zur Wehr setzen können.115 Demnach liegt bei einer Maßnahme der Gemeinschaftsorgane, die Regeln für den Bereich des Arbeitskampfrechts enthält und deswegen gegen Art. 137 Abs. 5 EG verstößt, zugleich eine Verletzung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen vor, da das Grundrecht nur kompetenzgerechte Eingriffe zulässt. Daher ist Art. 28 Var. 2 GRC notwendigerweise verletzt, wenn sich die für das Arbeitskamprecht unzuständige Gemeinschaft anschickt, diese Rechtsmaterie zu regeln, so dass in der zweiten denkbaren Abwehrsituation auf der Gemeinschaftsebene ebenfalls kein Widerspruch zwischen der Kompetenzvorschrift und dem Gemeinschaftsgrundrecht besteht. Ganz im Gegenteil wird die Unzuständigkeit der Gemeinschaft für das Streik- und Aussperrungsrecht mit dem Grundrecht aus Art. 28 Var. 2 GRC subjektiv-rechtlich flankiert, weil die Grundrechtsberechtigten damit aus eigenem Recht gegen eine etwaige Rechtssetzung der Gemeinschaft im Bereich des Arbeitskampfrechts einschreiten können.116
113 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 451. Allerdings machen Regeling/Szczekalla zu Recht darauf aufmerksam, dass aus Art. 51 Abs. 1 GRC nicht hervorgeht, ob das gemeinschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip eine Anforderung an die formelle Rechtmäßigkeit einer in den Schutzbereich eines Gemeinschaftsgrundrechts eingreifenden Handlung oder eine besondere SchrankenSchranke für die Begrenzung der Gemeinschaftsgrundrechte darstellt. 114 Auf keinen Fall wird man aus Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC den fernliegenden Schluss ziehen dürfen, dass die Gemeinschaft nur dann an die Chartarechte gebunden ist, wenn sie innerhalb ihrer Zuständigkeiten unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips tätig wird; vgl. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 39. 115 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 440. 116 Die Charta wählt insoweit im Vergleich zum Grundgesetz einen restriktiven Ansatz, weil sich in Deutschland jedermann mit der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG gegen eine kompetenzwidrige und ihn belastende Maßnahme zur Wehr setzen kann. Demgegenüber verzichtet die Charta zugunsten des grundrechtlichen Subsidiaritätsschutzes nach Art. 51 Abs. 1 GRC auf die Garantie einer allgemeinen Handlungsfreiheit; vgl. Dreier – Dreier, GG, Art. 2 I, Rn. 14; Jarass, EU-Grundrechte, § 2, Rn. 16; kritisch: Schmitz, EuR 2004, S. 691 (708). Deswegen können nur Arbeitnehmer, Arbeitgeber sowie ihre jeweiligen Organisationen mit Art. 28 Var. 2 GRC gegen eine Art. 137 Abs. 5 EG verletzende Gemeinschaftsmaßnahme vorgehen.
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2. Der Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC auf der Ebene der Mitgliedstaaten Im Gegensatz zur Gemeinschaft sind die Mitgliedstaaten nicht ohne weiteres, sondern nur unter besonderen Voraussetzungen an die Gemeinschaftsgrundrechte bzw. an Art. 28 Var. 2 GRC gebunden. a) Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte nach der Rechtsprechung des EuGH Nach dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 EU ist nur die Europäische Union und damit zugleich die Europäische Gemeinschaft dazu verpflichtet, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der EMRK ergebenden Grundrechte zu achten. Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte des gemeinschaftlichen Staatenverbundes ist daher schon nach Art. 6 Abs. 2 EU im Gegensatz zur Bindung der Gliedstaaten an nationale Grundrechte in einem Bundesstaat eine rechtfertigungsbedürftige Ausnahme.117 Denn mit jeder Ausweitung der mitgliedstaatlichen Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte wird die im EU- und EG-Vertrag geregelte Zuständigkeitsverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten zugunsten der Gemeinschaft ausgeweitet und damit derjenigen Kompetenzausweitung Vorschub geleistet, die insbesondere mit Art. 51 Abs. 2 GRC verhindert werden soll.118 Der Europäische Gerichtshof hat ausdrücklich anerkannt, dass die Wahrung der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts lediglich eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit von Gemeinschaftshandlungen ist, aber nicht dazu führen kann, dass die Gemeinschaftskompetenzen über die Bestimmungen des europäischen Vertragsrechts hinaus erweitert werden.119 Nach dem Europäischen Gerichtshof müssen die Gemeinschaftsgrundrechte für die Mitgliedstaaten aber dann gelten, wenn die nationalen Grundrechte wegen des Anwendungsvorrangs des europäischen Rechts verdrängt werden. Sofern die einzelstaatlichen Grundrechte keinen wirksamen Schutz vermitteln können, weil die Organe der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts handeln und ihr Vorgehen deswegen nicht an den einzelstaatlichen Grundrechten gemessen werden kann, sind einzelstaatliche Rechtsakte nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH an den Gemein117 Als Beispiele für einen bundeseinheitlichen Grundrechtsstandard sind etwa die Bundesrepublik Deutschland oder die Vereinigten Staaten von Amerika zu nennen; vgl. Lenaerts, European Law Review 2000, S. 575 (591); Weber, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 13. 118 Vgl. Kingreen, JuS 2000, S. 857 (864). 119 EuGH, 17.2.1998, Rs. C-249/96, Rn. 45 (Grant).
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schaftsgrundrechten zu messen.120 Diese Voraussetzung bejaht der EuGH zum einen, wenn die Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht durchführen121 und zum anderen, wenn sie Grundfreiheiten aus dem EG-Vertrag beschränken122. aa) Die Grundrechtsbindung bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts Die erste Fallgruppe, die auch ausdrücklich in Art. 51 Abs. 1 GRC anerkannt worden ist,123 bezieht sich auf Sachverhalte, in denen das Handeln mitgliedstaatlicher Organe vom Gemeinschaftsrecht determiniert wird, weil sie das europäische Recht aufgrund einer gemeinschaftsvertraglichen Verpflichtung auf der nationalen Ebene durchführen.124 Das ist dann der Fall, wenn die Mitgliedstaaten die Rechtsakte der Gemeinschaft legislativ oder administrativ durchführen sowie beim so genannten mittelbaren gemeinschaftsrechtlichen Vollzug, also der Durchführung eines nationalen Gesetzes, dessen Inhalt vom Gemeinschaftsrecht, insbesondere von einer gemeinschaftlichen Richtlinie, vorgegeben ist.125 120 EuGH, 11.7.1985, verb. Rs. 60/84, 61/84, Slg. 1985, 2605, Rn. 26 (Cinéthèque); 30.9.1987, Rs. 12/86, Slg. 1987, 3719, Rn. 28 (Demirel); 18.6.1991, Rs. C-160/59, Slg. 1991, I-2925, Rn. 42 (ERT); 4.10.1991, Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685, Rn. 31 (Society for the Protection of Unborn Children Ireland); 13.6.1996, Rs. C-144/95, Slg. 1996, I-2909, Rn. 12 (Maurin); 29.5.1997, Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2909, Rn.15 (Kremzow); 18.12.1997, Rs. C-309/96, Rn. 13 (Annibaldi). 121 EuGH, 13.7.1989, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609, Rn. 19, 22 (Wachauf); 24.3.1994, Rs. C-2/92, Slg. 1994, I-955, Rn. 16 (Bostock); 14.7.1994, Rs. C-351/92, Slg. 1994, I-3361, Rn. 17 (Graff); 15.2.1996, Rs. C-63/93, Slg. 1996, I-569, Rn. 29 (Duff); 17.4.1997, Rs. C-15/95, Slg. 1997, I-1961, Rn. 36 (Earl de Kerlast). 122 EuGH, 18.6.1991, Rs. C-160/59, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43 (ERT); 4.10.1991, Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685, Rn. 31 (Society for the Protection of Unborn Children Ireland); 26.6.1997, Rs. C-368/95, Rn. 24 (Familiapress); 11.7.2002, Rs. C-60/00, Rn. 40 (Carpenter). 123 Art. 51 Abs. 1 GRC bezieht sich seinem Wortlaut nach nur auf die „Durchführung des Rechts der Union“. Da die Europäische Gemeinschaft gemäß Art. 1 Abs. 3 EU eine Säule der Europäischen Union darstellt, bildet das Gemeinschaftsrecht einen Teil des in Art. 51 Abs. 1 GRC genannten Unionsrechts. Deshalb erstreckt sich die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte auch auf die Durchführung des Gemeinschaftsrechts. Zumal das sonstige „Recht der Union“ regelmäßig keiner mitgliedstaatlichen Durchführung bedarf; vgl. Mantl/Puntscher-Riekmann/Schweitzer – Vranes, Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union, S. 57 (59). 124 Allgemein zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts: Möllers, EuR 2002, S. 483 ff. 125 Ehlers – Calliess, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20, Rn. 26; Jarass, EU-Grundrechte, § 4, Rn. 12; Ruffert, EuR 2004, S. 165 (177); Streinz – Streinz, Art. 51 GR-Charta, Rn. 8; Vitorino, Revue de Droit de l’Union Européenne 2001, S. 27 (42); differenzierend: Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 304 ff. Die mitgliedstaatlichen Gerichte haben im Rahmen ihrer rechtsprechenden Funktion die Pflicht, die Gemeinschaftsgrundrechte anzuwenden, wenn der Rechtsakt, über dessen Rechtmäßigkeit sie zu entscheiden haben, das Gemeinschaftsrecht durchführt und deswegen mit den Gemeinschaftsgrundrechten im Einklang stehen muss.
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Die Mitgliedstaaten sind also vor allem dann an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden, wenn sie europäische Richtlinien umsetzen oder europäische Verordnungen vollziehen. Diese erste der beiden vom EuGH entwickelten Fallgruppen ist im Schrifttum allgemein anerkannt, weil es konsequent ist, die Lücke im Grundrechtsschutz, die bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts aus dem Anwendungsvorrang des europäischen Rechts entsteht, mit der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte zu schließen.126 Durchführungsakte der Mitgliedstaaten, gegen die nationale Grundrechte nicht gelten gemacht werden können, sind deswegen nach allgemeiner Auffassung zu Recht an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen. bb) Die Grundrechtsbindung bei der Einschränkung von Grundfreiheiten Die zweite Fallgruppe, bei welcher der EuGH eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte annimmt, wird hingegen kontrovers diskutiert.127 Der EuGH geht davon aus, dass die Mitgliedstaaten auch dann an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind, wenn sie von den im EG-Vertrag vorgesehenen128 oder den ungeschriebenen Möglichkeiten zur Beschränkung von EG-Grundfreiheiten Gebrauch machen.129 Sofern sich ein Mitgliedstaat zur 126 Dreier – Dreier, GG, Art. 1 III, Rn. 12; Ehlers – Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14, Rn. 33 f.; Jacobs, European Law Review 2001, S. 331 (333 f.); Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 51, Rn. 26; Lenaerts, European Law Review 2000, S. 575 (590); Remmert, Jura 2003, S. 13 (17). Im Gegensatz dazu wollen Kingreen (in: JuS 2000, S. 857, 864) und Weber (in: NJW 2000, S. 537, 542) eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsrechte in diesem Zusammenhang nur annehmen, sofern und soweit eine europäische Richtlinie unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbar ist oder verbleibende Ermessensspielräume der nationalen Gesetzgeber europarechtlich determiniert sind. Diese Unterscheidung ist wenig praktikabel, weil die Vorschriften eines nationalen Gesetzes dann zum Teil an europäischen und zum anderen Teil an nationalen Grundrechten zu messen wären. Vorzugswürdig ist eine einheitliche Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte, vgl. Ruffert, EuGRZ 1995, S. 518 (527 f.). Exkurs zum Europäischen Verfassungsvertrag: Im Europäischen Verfassungsvertrag lässt sich die Bindung der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung „Europäischer Rahmengesetze“, die die europäischen Richtlinien ersetzen sollen, unschwer nachweisen. Aus Art. II-33 Abs. 1, II-37 Abs. 1 EVV ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet sind, die Europäischen Rahmengesetze „durchzuführen“. Die identische Verwendung des Wortes „durchführen“, die sich ebenfalls in der englischen und der französischen Fassung der Verfassung („to implement“ bzw. „mettre en œuvre“) findet, belegt, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung Europäischer Rahmengesetze an die Unionsgrundrechte gebunden sein sollen. 127 Vgl. statt aller: Mantl/Puntscher-Riekmann/Schweitzer – Vranes, Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union, S. 57 (60 f.). 128 Art. 30, 39 Abs. 3, 46 und 58 EG. 129 EuGH, 18.6.1991, Rs. C-160/59, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43 (ERT); 4.10.1991, Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685, Rn. 31 (Society for the Protection of Unborn Child-
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Rechtfertigung einer die Grundfreiheiten einschränkenden Regelung auf eine im europäischen Primärrecht vorgesehene Beschränkungsmöglichkeit berufe, müsse die mitgliedstaatliche Regelung im Lichte der Gemeinschaftsgrundrechte ausgelegt werden.130 Eine die Grundfreiheiten einschränkende einzelstaatliche Regelung könne nur dann rechtmäßig sein, wenn sie selbst mit den Gemeinschaftsgrundrechten im Einklang stehe.131 Demgemäß können sich die Grundrechtsberechtigten gegenüber den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaftsgrundrechte berufen, wenn sie von ihnen bei der Ausübung einer EG-Grundfreiheit beeinträchtigt werden.132 b) Die Bindung der Mitgliedstaaten an Art. 28 Var. 2 GRC Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des EuGH tritt die Bindung der Mitgliedstaaten an das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen ein, wenn sie das Gemeinschaftsrecht durchführen oder die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten begrenzen. Nach der Rechtsprechung des EuGH wäre das Grundrecht also insbesondere dann innerstaatlich anwendbar, wenn die Mitgliedstaaten die EG-Grundfreiheiten der in Art. 28 Var. 2 GRC aufgeführten Grundrechtsträger einschränken. Im Folgenden sei diskutiert, inwiefern es bei diesen beiden Fallgruppen zu einer dem Art. 137 Abs. 5 EG entgegenstehenden Kompetenzverschiebung zulasten der Mitgliedstaaten kommen kann. aa) Die Bindung an Art. 28 Var. 2 GRC bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts/Beispielsfall Nr. 2 Die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen zur Abwehr von Eingriffen der Mitgliedstaaten, die sie in Erfüllung ihrer Pflicht zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts vornehmen, führt weder zu ren Ireland); 26.6.1997, Rs. C-368/95, Rn. 24 (Familiapress); 11.7.2002, Rs. C-60/00, Rn. 40 (Carpenter). 130 EuGH, 18.6.1991, Rs. C-160/59, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43 (ERT). 131 EuGH, 18.6.1991, Rs. C-160/59, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43 (ERT). 132 Die Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte in den Mitgliedstaaten bei der Beschränkung von Grundfreiheiten ist nicht mit der Kollision zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten zu verwechseln. Im erstgenannten Fall begrenzen die Mitgliedstaaten die gemeinschaftlichen Grundfreiheiten auf der Ebene des nationalen Rechts, während sich die Kollision von EG-Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts abspielt. Dabei begrenzt der grundrechtliche Abwehranspruch die sich aus den EG-Grundfreiheiten ergebenden Schutzpflichten der Mitgliedstaaten. Dass die Kollision insoweit Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten haben kann, ändert nichts an dem Umstand, dass sie auf der Gemeinschaftsebene aufzulösen ist. Demgegenüber stellt sich bei der nationalstaatlichen Begrenzung der EGGrundfreiheiten die Frage, ob die Gemeinschaftsgrundrechte in diesem Fall überhaupt Anwendung finden; dazu sogleich unter § 2 III. 2. b) cc).
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einem Kompetenzkonflikt zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, noch verändert sie die in den Mitgliedstaaten bestehenden subjektiven Arbeitskampfrechte. Da der mitgliedstaatliche Durchführungsakt inhaltlich vom Gemeinschaftsrecht bestimmt wird, richtet sich dessen Abwehr mit Hilfe des Gemeinschaftsgrundrechts aus Art. 28 Var. 2 GRC materiell gegen den Gemeinschaftsrechtsakt, der die Mitgliedstaaten zur Vornahme der Durchführungsmaßnahme oder zum Erlass des Durchführungsrechtsaktes verpflichtet. Dabei wird das sonstige mitgliedstaatliche Recht nicht tangiert. Da der einzelstaatliche Durchführungsakt darüber hinaus keiner Überprüfung anhand des nationalen Rechts und auch nicht der mitgliedstaatlichen Grundrechte unterliegt, sind insoweit keine Ingerenzen zwischen dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen und den entsprechenden mitgliedstaatlichen Grundrechten zu befürchten.133 Das Zusammenspiel zwischen dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen, dem sekundären Gemeinschaftsrecht und den nationalen Rechtsvorschriften, das bei der mitgliedstaatlichen Durchführung des Gemeinschaftsrechts zu einer Bindung der Mitgliedstaaten an Art. 28 Var. 2 GRC führen kann, verdeutlicht in Abwandlung des ersten Beispielsfalles der folgende Beispielsfall: Beispielsfall Nr. 2: Die Europäische Gemeinschaft erlässt zur Stärkung des Gemeinsamen Marktes die Dienstleistungsrichtlinie, nach welcher für ins EGAusland entsandte Arbeitnehmer ausschließlich die für sie im Entsendestaat geltenden Beschäftigungsbedingungen anzuwenden sind. Die Bundesrepublik Deutschland setzt die in der Richtlinie enthaltenen Bestimmungen pflicht- und ordnungsgemäß im Dienstleistungsgesetz um. Bei dem in Passau ansässigen Buchdruckunternehmen U kommt es wiederum zu einer Tarifauseinandersetzung mit der Gewerkschaft G, infolge derer alle 100 bei U Beschäftigten Arbeitnehmer in den Ausstand treten. U überbrückt den Ausfall, indem er mit dem tschechischen Dienstleistungsunternehmen D einen Werkvertrag abschließt, welches daraufhin 100 tschechische Arbeitnehmer entsendet, die in Passau während des Streiks eingesetzt werden. Die Bundesrepublik Deutschland erlaubt auf der Grundlage des deutschen Dienstleistungsgesetzes die Entsendung der Arbeitnehmer unter Anwendung tschechischen Arbeitsund Tarifvertragsrechts. Die G fühlt sich daraufhin in ihrer Arbeitskampffreiheit verletzt und verlangt von der Bundesrepublik, der D die Beschäftigung der 100 „Streikbrecher“ zu untersagen und hiergegen vorzugehen. Zunächst ist festzustellen, dass die staatlichen Organe der Bundesrepublik an das Dienstleistungsgesetz gebunden sind und weder der deutsche Gesetzgeber noch andere nationale Stellen dieses Gesetz ohne Verstoß gegen sich aus dem 133
Zutreffend: Jarass, EU-Grundrechte, § 3, Rn. 14.
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EG-Vertrag ergebende Pflichten der Bundesrepublik zugunsten des Anliegens der G ändern oder außer Anwendung lassen können. Soweit die G ihr Begehren auf ihre Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG stützt, kann sie also keinen Erfolg haben, weil weder die europäische Dienstleistungsrichtlinie noch das sie umsetzende deutsche Dienstleistungsgesetz an den Grundrechten des Grundgesetzes zu messen sind. Letztlich kann sich kein nationalstaatliches Organ wegen einer angenommenen Verletzung des Art. 9 Abs. 3 GG über die Bestimmungen des Dienstleistungsgesetzes hinwegsetzen, ohne das anwendungsvorrangige Gemeinschaftsrecht zu verletzen. Erfolg kann die G folglich nur haben, wenn sie sich vor den deutschen Gerichten wegen einer Verletzung ihres Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen aus Art. 28 Var. 2 GRC auf die Unwirksamkeit des Dienstleistungsgesetzes beruft. Da das deutsche Dienstleistungsgesetz einen das Gemeinschaftsrecht durchführenden Rechtsakt darstellt und deshalb in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, ist es (zunächst) an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen.134 Ein von der G angerufenes deutsches Gericht kann daher das deutsche Dienstleistungsgesetz, das sich ausschließlich nach dem Inhalt der Dienstleistungsrichtlinie richtet, auf dessen Vereinbarkeit mit Art. 28 Var. 2 GRC hin überprüfen. Kommt es zu der Überzeugung, dass das Dienstleistungsgesetz gegen das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen verstößt und will das Gesetz deswegen unangewendet lassen, muss es nach Art. 234 EG ein Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof einleiten,135 weil das angerufene Gericht zugleich die Gültigkeit der Dienstleistungsrichtlinie in Frage stellt.136 Der EuGH entscheidet daraufhin allein über die Wirksamkeit der Dienstleistungsrichtlinie und verwirft diese, falls er zu der Auffassung gelangt, dass sie das Gemeinschaftsgrundrecht der G auf kollektive Maßnahmen verletzt.137 Der Wechsel der streitgegenständlichen
134 Ohne Unterschied in der Sache oder im Ergebnis will eine im Schrifttum vertretene Ansicht (vgl. Ehlers – Calliess, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20, Rn. 29) entgegen Art. 51 Abs. 1 GRC lediglich den europäischen Sekundärrechtsakt, nicht aber nationale Durchführungsakte einer Überprüfung am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte unterwerfen. 135 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7, Rn. 14. 136 Entgegen dem Wortlaut des Art. 234 EG muss jedes mitgliedstaatliche Gericht eine das Gemeinschaftsrecht betreffende Gültigkeitsfrage dem EuGH vorlegen, wenn es die Gültigkeit der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift verneinen will. Die Feststellung der Ungültigkeit gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften bleibt dem EuGH vorbehalten; EuGH, 22.10.1987, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 15 (Foto-Frost); 15.4. 1997, Rs. C-27/95, Slg. 1997, I-1847, Rn. 20 (Bakers of Nailsea); 6.12.2005, Rs. C461/03, Rn. 21 (Gaston Schul Douane-expediteur); 10.1.2006, Rs. C-344/04, Rn. 27 (Department for Transport); Geiger, Art. 234 EGV, Rn. 17. 137 Da der EuGH nach Art. 220 EG nur für die Auslegung und Anwendung des EG-Vertrages zuständig ist und insbesondere auch im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG über die Rechtmäßigkeit des gemeinschaftlichen Rechtsaktes zu be-
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Norm zwischen dem Verfahren vor dem deutschen Gericht und dem Europäischen Gerichtshof vermeidet alle denkbaren Kompetenzkonflikte, da der EuGH nach Art. 234 EG nur über die Vereinbarkeit der Dienstleistungsrichtlinie mit Art. 28 Var. 2 GRC, nicht aber über das deutsche Dienstleistungsgesetz entscheidet. Wenn im Vorabentscheidungsverfahren zugunsten der G die Unwirksamkeit der Dienstleistungsrichtlinie festgestellt worden ist, entfällt die Umsetzungsverpflichtung der Bundesrepublik aus dem EG-Vertrag. Damit endet die Anwendbarkeit des Art. 28 Var. 2 GRC und zugleich wird es den Organen der Bundesrepublik möglich, das Dienstleistungsgesetz an Art. 9 Abs. 3 GG zu überprüfen. Nach der Nichtigerklärung der Dienstleistungsrichtlinie ist das deutsche Dienstleistungsgesetz nicht mehr ein das Gemeinschaftsrecht „durchführender“ Rechtsakt, weil es keinen durchzuführenden Rechtsakt der Gemeinschaft mehr gibt.138 Das von der G zuvor angerufene deutsche Gericht könnte nunmehr im Anschluss an die Entscheidung des EuGH im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 GG eine weitere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Wirksamkeit des Dienstleistungsgesetzes herbeiführen, wenn es das Dienstleistungsgesetz wegen Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 3 GG für verfassungswidrig hält.139 In seiner abwehrrechtlichen Funktion bewirkt die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC in den Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts, wie der Beispielsfall gezeigt hat, ausschließlich den Wegfall der gemeinschaftsrechtlichen Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten, ohne eine anschließende Überprüfung des durchführenden Rechtsakts an den nationalen Grundrechten auszuschließen oder vorwegzunehmen. Mit dem Wegfall der gemeinschaftsvertraglichen Durchführungspflicht endet die Anwendbarkeit der Gemeinschaftsgrundrechte in den Mitgliedstaaten. Deren Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte hat in dieser Fallgruppe damit ausschließlich formalen Charakter, da sich der Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC materiell gegen den Rechtsakt der Gemeinschaft richtet, der das Handeln der Mitgliedstaaten determiniert.140 Zudem zeigt sich in dieser Konstellation wiederum die Notfinden hat, kann er nur die europäische Dienstleistungsrichtlinie, nicht aber das deutsche Dienstleistungsgesetz verwerfen. 138 Zutreffend: Ehlers – Calliess, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20, Rn. 29. 139 Alternativ könnte die G mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in Verbindung mit §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG unmittelbar gegen das Dienstleistungsgesetz vorgehen. 140 Das wird besonders daran deutlich, dass die Mitgliedstaaten auch dann noch über die Geltung des durchführenden nationalen Rechtsaktes disponieren können, nachdem sich der durchzuführende gemeinschaftliche Rechtsakt als nichtig herausgestellt hat. Seitens der Gemeinschaft kommt insoweit eine Verletzung der Kompetenzen der Mitgliedstaaten nur mit der Setzung des durchzuführenden Rechtsaktes, nicht aber mit der Bindung der Mitgliedstaaten an den Abwehrgehalt des Grundrechts aus Art. 28 Var. 2 GRC in Betracht.
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wendigkeit eines Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen, da sich die betreffenden Grundrechtsträger sowohl gegenüber dem durchzuführenden als auch dem durchführenden Rechtsakt nicht mit nationalen, sondern nur mit gemeinschaftlichen Grundrechten zur Wehr setzen können. bb) Die Bindung an Art. 28 Var. 2 GRC „anlässlich“ der Durchführung des Gemeinschaftsrechts? /Beispielsfall Nr. 3 Demgegenüber scheint sich ein Kompetenzkonflikt ergeben zu können, wenn Art. 28 Var. 2 GRC bei der mitgliedstaatlichen Durchführung eines Gemeinschaftsrechtsaktes auch auf solche nationalen Rechtsvorschriften Anwendung finden könnte, die „neben“ den mitgliedstaatlichen Durchführungsrechtsakten zur Anwendung kommen. Das gilt insbesondere für nationale Rechtsnormen, die eine Austragung von Arbeitskämpfen untersagen. Die Umstände, unter denen in einem solchen Fall „anlässlich“ der Durchführung des Gemeinschaftsrechts eine Bindung der Mitgliedstaaten an das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen angenommen werden könnte, zeigt unter Abwandlung des zweiten Beispiels der nächste Fall: Beispielsfall Nr. 3: Statt der Gewerkschaft G, die für die Erzwingung eines Firmentarifvertrages die Arbeitnehmer der U zum Streik aufruft, fordert der bei U in Passau gebildete Betriebsrat B den Abschluss einer Betriebsvereinbarung. Die U lehnt die Aufnahme von Verhandlungen ab, woraufhin B zum Streik aufruft. Wiederum legen alle 100 Arbeitnehmer der U die Arbeit nieder und die D entsendet zur Erfüllung eines mit der U zuvor geschlossenen Werkvertrages 100 tschechische Arbeitnehmer nach Passau. Daraufhin verlangt B von der Bundesrepublik Deutschland, deren Beschäftigung bei der U zu untersagen. Im Gegensatz zu einer tariffähigen Gewerkschaft kann sich der Betriebsrat schon nach dem deutschen Recht nicht auf Art. 9 Abs. 3 GG berufen, weil er keine Koalition darstellt und deswegen nicht in den persönlichen Schutzbereich des deutschen Grundrechts fällt. Darüber hinaus verbietet § 74 Abs. 2 BetrVG Arbeitskämpfe zwischen dem Arbeitgeber U und dem Betriebsrat B. Das scheint auf den ersten Blick aber nicht auszuschließen, dass sich der B auf das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen beruft, gegen die Dienstleistungsrichtlinie sowie das Dienstleistungsgesetz vorgeht und die Frage nach deren Wirksamkeit bei nationalen Gerichten bzw. beim EuGH anhängig macht. Das könnte – wenn man einmal davon absieht, dass es sich bei dem durch Wahl entstandenen Betriebsrat nicht um eine Arbeitnehmerorganisation im Sinne des Art. 28 GRC handelt141 – möglicherweise zu der Frage führen, ob § 74 Abs. 2 BetrVG eine zulässige Beschränkung des Art. 28 Var. 2 GRC dar-
141
Vgl. § 6 II. 4. a).
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stellt. Dann müsste es sich bei der Regelung im deutschen Betriebsverfassungsgesetz um einen gerechtfertigten Eingriff in das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen handeln, der gegebenenfalls den in Art. 52 GRC aufgestellten Anforderungen an eine Beschränkung des Gemeinschaftsgrundrechts gerecht werden müsste. Tatsächlich ist aber in der geschilderten Konstellation eine Überprüfung des § 74 Abs. 2 BetrVG auf dessen Vereinbarkeit mit Art. 28 Var. 2 GRC ausgeschlossen, weil die Vorschrift nicht der Durchführung des Gemeinschaftsrechts bzw. der Dienstleistungsrichtlinie dient. Mitgliedstaatliche Hoheitsakte sind nur insoweit mit dem Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC angreifbar, als damit eine aus einem Gemeinschaftsrechtsakt herrührende Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten beseitigt werden soll. Das ist bei § 74 Abs. 2 BetrVG nicht der Fall. Dass es letztlich nicht zu einer Überprüfung des § 74 Abs. 2 BetrVG anhand des Gemeinschaftsgrundrechts kommen kann, ergibt sich zudem daraus, dass eine Entscheidung des EuGH – sei es nach Art. 230 Abs. 4, 231 EG oder nach Art. 234 EG – lediglich die europäische Dienstleistungsrichtlinie und deren Vereinbarkeit mit Art. 28 Var. 2 GRC zum Gegenstand haben kann. Selbst nach einer die Dienstleistungsrichtlinie kassierenden Entscheidung des EuGH stünde lediglich fest, dass die europäische Richtlinie wegen eines Verstoßes gegen Art. 28 Var. 2 GRC nichtig wäre. Die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen als Abwehrrecht würde auch in dieser Fallgestaltung nur dazu führen, eine Kontrolle des durchzuführenden Rechtsaktes der Gemeinschaft an dem Recht auf kollektive Maßnahmen zu ermöglichen und gegebenenfalls die gemeinschaftsrechtliche Durchführungsverpflichtung der Mitgliedstaaten entfallen zu lassen. Nur darauf bezöge sich die Entscheidung des EuGH, so dass der Betriebsrat auch in dem für ihn günstigsten Fall aus ihr kein Recht zum Arbeitskampf herleiten könnte. Denn § 74 Abs. 2 BetrVG bliebe nach einer die Dienstleistungsrichtlinie verwerfenden Entscheidung des EuGH ausschließlich am Maßstab des Art. 9 Abs. 3 GG zu messen. Daher ist auch insoweit eine kompetenzwidrige Einflussnahme der Gemeinschaft auf die Arbeitskampfordnungen der Mitgliedstaaten im Ergebnis nicht zu befürchten. cc) Die Bindung an Art. 28 Var. 2 GRC bei der Beschränkung von EG-Grundfreiheiten/Beispielsfall Nr. 4 Demgegenüber führt die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei der Beschränkung von gemeinschaftlichen Grundfreiheiten regelmäßig zu Kompetenzübergriffen der Gemeinschaft zulasten der Mitgliedstaaten. Wie sich das im Falle einer Bindung an das Gemeinschaftsrecht auf kollektive Maßnahmen auswirken kann, verdeutlicht der letzte Beispielsfall:
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Beispielsfall Nr. 4: Die deutsche L-GmbH gründet in Ausübung ihrer Niederlassungsfreiheit aus Art. 43 EG einen Geschäftssitz in Lissabon, an dem sie 80 portugiesische Arbeitnehmer beschäftigt. Nach einem ordnungsgemäßen Streikaufruf der portugiesischen Gewerkschaft P treten in der Niederlassung der L in Lissabon 40 Mitarbeiter in den Ausstand. Daraufhin sperrt die L zehn weitere Arbeitnehmer aus und behält deren Lohn ein. Nach der Beendigung des Arbeitskampfs fordern die ausgesperrten portugiesischen Arbeitnehmer Lohnnachzahlungen von der L, weil Aussperrungen nach Art. 57 Abs. 3 der Portugiesischen Verfassung verboten sind142 und die Arbeitskampfmaßnahmen der L daher rechtswidrig gewesen seien. Hiergegen macht die deutsche L-GmbH geltend, dass die portugiesische Verfassungsvorschrift gegen das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen verstoße und deswegen nichtig sei, jedenfalls aber in ihrem Fall nicht zur Anwendung kommen könne. Geht man davon aus, dass das Aussperrungsverbot in der portugiesischen Verfassung eine die Niederlassungsfreiheit der L einschränkende Regelung darstellt,143 kommt es in der Tat darauf an, ob sie an Art. 28 Var. 2 GRC zu messen ist und deswegen den in Art. 52 GRC genannten Anforderungen genügen muss.144 Das hängt in erster Linie davon ab, ob man der Rechtsprechung des EuGH folgt und eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei der Beschränkung von Grundfreiheiten annimmt. Dafür soll sprechen, dass die Rechtsprechung des EuGH effektiven Rechtsschutz gewährleiste, dem Anwendungsvorrang des europäischen Rechts Rechnung trage und eine Beschränkung der dem europäischen Primärrecht zugehörenden Grundfreiheiten nur an den Gemeinschaftsgrundrechten gemessen werden könne.145 Der Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 GRC spricht im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung des EuGH jedoch nicht von einer Bindung der Mitgliedstaaten 142
Vgl. Weber, Menschenrechte, S. 535. Ob Art. 43 EG lediglich zur Gleichbehandlung von Inländern und sich niederlassenden Ausländern verpflichtet oder ein darüber hinausgehendes (allgemeines) Beschränkungsverbot enthält, ist im Schrifttum umstritten; vgl. Streinz – Müller-Graff, Art. 43 EGV, Rn. 57. Nach der Rechtsprechung des EuGH (31.3.1993, Rs. C-19/92, Slg. 1993, 1663, Rn. 32 – Kraus; 30.11.1995, Rs. C-55/94, Slg. 1995, 4165, Rn. 37 – Gebhard) steht die Niederlassungsfreiheit indes grundsätzlich solchen nationalen Regelungen entgegen, die die Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch die Gemeinschaftsangehörigen (einschließlich der Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, der die Regelung erlassen hat) behindern oder weniger attraktiv machen. 144 Zum Aussperrungsverbot in der portugiesischen Verfassung und Art. 28 GRC siehe: Streinz – Streinz, Art. 28 GR-Charta, Rn. 3; offengelassen bei: Rebhahn, GSHeinze, S. 649 (659); vgl. zudem: Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 104. 145 Dreier – Dreier, GG, Art. 1 III, Rn. 12; Ehlers – Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14, Rn. 34; Jarass, EuR 2000, S. 705 (720); Weber, NJW 2000, S. 537 (542). 143
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im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, sondern ausdrücklich nur bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts. Die Vorschrift in der Grundrechtecharta erfasst damit nur die erste vom EuGH anerkannte Fallgruppe, nicht hingegen die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei der einzelstaatlichen Begrenzung der Grundfreiheiten.146 Allerdings verweist das Konventspräsidium in den Erläuterungen zu Art. 51 Abs. 1 GRC wiederum auf die Rechtsprechung des EuGH und führt aus, dass die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Einhaltung der Gemeinschaftsgrundrechte gelte, wenn sie im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts handelten.147 Darüber hinaus belegt es seine Aussage mit der Leitentscheidung des EuGH vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache „ERT“, in welcher der Gerichtshof die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei der Beschränkung der Grundfreiheiten erstmalig begründet hat.148 Die Erläuterungen des Konventspräsidiums stehen daher zu dem insoweit eindeutigen Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 GRC im Widerspruch.149 Allerdings strebte das Präsidium bereits bei den Beratungen im Grundrechtskonvent eine Ausweitung der Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte in den Mitgliedstaaten an. Die ersten Entwürfe im Grundrechtskonvent zu der nunmehr in Art. 51 Abs. 1 GRC befindlichen Regelung sahen eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte lediglich bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts vor.150 Von dieser restriktiven Linie ging das Konventspräsidium eigenmächtig ab. In Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH dehnte es die Bindung der Mitgliedstaaten an die Chartarechte von einer Anwendung bzw. Durchführung des Gemeinschaftsrechts auf den gesamten Geltungsbereich des Unionsrechts 146 Cremer, NVwZ 2003, S. 1452 (1455); Goldsmith, CML Rev 2001, S. 1201 (1205); Jacobs, European Law Review 2001, S. 331 (338); Kenner, EU Employment Law, S. 530; Konzen, ZfA 2005, S. 189 (194); Mantl/Puntscher-Riekmann/Schweitzer – Vranes, Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union, S. 57 (60); Weber, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 12. Demgegenüber will Ruffert (in: EuR 2004, S. 165, 176 ff.) zwischen den geschriebenen Vorbehalten der EG-Grundfreiheiten im EG-Vertrag und den immanenten Schranken differenzieren. Gänzlich anderer Auffassung ist Jarass (in: EU-Grundrechte, § 4, Rn. 15), der die mitgliedstaatliche Beschränkung von EG-Grundfreiheiten für eine Durchführung des Gemeinschaftsrechts im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRC hält. 147 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 46; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 454. 148 EuGH, 18.6.1991, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43 (ERT); vgl. Jacobs, European Law Review 2001, S. 331 (335). 149 Cremer, NVwZ 2003, S. 1452 (1455). 150 So etwa der Chartaentwurf vom 12. April 2000: „Diese Charta findet Anwendung auf die Einrichtungen und Organe der Union bei der Wahrung der ihnen durch die Verträge übertragenen Befugnisse sowie auf die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts.“ – Hervorhebung vom Verfasser; vgl. Meyer – Borowsky, GRC, Art. 51, Rn. 5.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
aus,151 ohne dass ein darauf gerichteter Vorschlag aus dem Plenum des Grundrechtskonvents gemacht worden wäre.152 Das Vorgehen des Präsidiums stieß im Konvent auf Kritik und einhellige Ablehnung. Die weit überwiegende Anzahl der Abgeordneten lehnte die vom Präsidium vorgenommene Ausweitung der mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindung ab, so dass es zu der ursprünglichen Formulierung zurückkehren musste, an der später sogar das Wort „Anwendung“ durch den in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC vorfindbaren Ausdruck „Durchführung“ ersetzt worden ist.153 Die Erläuterungen des Konventspräsidiums zu Art. 51 Abs. 1 GRC stehen daher nicht nur im offenen Widerspruch zum Wortlaut der Regelung, sondern sind auch mit dem ausdrücklichen Willen der Mehrheit des Grundrechtskonvents unvereinbar.154 In der Sache sprechen ebenfalls gewichtige Gründe gegen eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei der Einschränkung der Grundfreiheiten. Nutzen die Einzelstaaten die hierzu nach dem EG-Vertrag bestehenden Möglichkeiten, ist ihr Handeln nicht vom europäischen Recht determiniert. Es handelt sich dabei also um einzelstaatliche Gesetzgebung in einem Bereich, in dem das Gemeinschaftsrecht wegen der im EG-Vertrag vorgesehenen Ausnahmetatbestände gegenüber dem nationalen Recht keinen Vorrang genießt. Deswegen bleibt hier eine Überprüfung der einzelstaatlichen Rechtsakte an den nationalen Grundrechten möglich.155 Darüber hinaus steht der gemeinschaftliche Grundrechtsschutz nicht beziehungslos neben dem Schutz der EG-Grundfreiheiten. Mit Art. 15 Abs. 2 GRC ist die Ausübung der Grundfreiheiten unter den Grundrechtsschutz der Gemeinschaft gestellt worden.156 Art. 15 Abs. 2 GRC richtet sich in erster Linie an die Mitgliedstaaten.157 Schon aus dem Wortlaut der Bestimmung geht hervor, dass 151
Vgl. Meyer – Borowsky, GRC, Art. 51, Rn. 5. Der Vorschlag des Präsidiums des Grundrechtskonvents vom 16. Mai 2000 lautete: „Diese Charta findet Anwendung auf die Einrichtungen und Organe der Union bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Verträge übertragenen Befugnisse sowie auf die Mitgliedstaaten ausschließlich im Geltungsbereich des Rechts der Union.“ – Hervorhebung vom Verfasser; vgl. Meyer – Borowsky, GRC, Art. 51, Rn. 5. 153 Meyer – Borowsky, GRC, Art. 51, Rn. 7; vgl. auch Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 51, Rn. 22, 27. 154 de Búrca, European Law Review 2001, S. 126 (136 f.); Rengeling, DVBl. 2004, S. 453 (463); Ruffert, EuR 2004, S. 165 (177); Streinz – Streinz, Art. 51 GR-Charta, Rn. 9; a. A.: Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 51, Rn. 23. 155 Kingreen, JuS 2000, S. 857 (864); Schilling, EuGRZ 2000, S. 3 (34); Störmer, AöR 123 (1998), S. 541 (567). 156 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 18; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 435; Rengeling, DVBl. 2004, S. 453 (456). Der EuGH (15.10.1987, Rs. 222/86, Slg. 1987, 4097, Rn. 14 – Unectef) hat die Ausübung der EG-Grundfreiheiten in seiner Rechtsprechung ohnehin schon in den Rang von Grundrechten erhoben. 157 Vgl. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 146. 152
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die Bindung der Mitgliedstaaten an Art. 15 Abs. 2 GRC nicht von den zusätzlichen Bedingungen des Art. 51 Abs. 1 GRC abhängt.158 An die Rechte aus Art. 15 Abs. 2 GRC sind die Mitgliedstaaten folglich stets und unabhängig von einer Durchführung des Gemeinschaftsrechts gebunden. Bei der Einschränkung eines der in Art. 15 Abs. 2 GRC enthaltenen Rechte haben die Mitgliedstaaten gemäß Art. 52 Abs. 2 GRC die hierfür im Gemeinschaftsvertrag genannten Bedingungen einzuhalten. Denn die in Art. 15 Abs. 2 GRC gewährleisteten Grundfreiheiten ergeben sich ausnahmslos auch aus dem Gemeinschaftsvertrag. Aus dieser spezialgesetzlichen Regelung in Art. 15 Abs. 2 GRC und dem in Art. 52 Abs. 2 GRC enthaltenen besonderen Verweis auf die Regelungen des Gemeinschaftsvertrages159 folgt, dass die Ausübung einer gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheit nicht zur Anwendbarkeit sämtlicher Gemeinschaftsgrundrechte führen kann. Ebenso wie der Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 GRC spricht also auch die systematische Zusammenschau von Art. 15 Abs. 2 und 52 Abs. 2 GRC im Ergebnis gegen die Annahme, die Mitgliedstaaten seien bei der Beschränkung der EG-Grundfreiheiten an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden.160,161
158 Art. 15 Abs. 2 GRC verdrängt als lex specialis Art. 51 Abs. 1 GRC; vgl. Tettinger/Stern – Ladenburger, GK-GRC, Art. 51, Rn. 50; Rengeling, DVBl. 2004, S. 453 (457). Umstritten ist lediglich, ob eine Anwendung des Art. 15 Abs. 2 GRC ebenso wie die EG-Grundfreiheiten einen grenzüberschreitenden Sachverhalt erfordert und insoweit auch Art. 15 Abs. 1 GRC vorgeht; bejahend: Meyer – Bernsdorff, GRC, Art. 15, Rn. 20; a. A.: Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 1 (5). 159 Vgl. Meyer – Bernsdorff, GRC, Art. 15, Rn. 20; kritisch: Rengeling, DVBl. 2004, S. 453 (458 f.). 160 Dieses Ergebnis darf nicht mit einer extensiven Auslegung des Art. 6 Abs. 2 EU bzw. des Art. I-9 Abs. 3 EVV konterkariert werden, nach welcher die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts an die aus den mitgliedstaatlichen Verfassungen und der EMRK geschöpften Gemeinschaftsgrundrechte und bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts zusätzlich nach Art. 51 Abs. 1 GRC an die Chartarechte gebunden sein sollen. Die Grundrechtecharta begründet keine neuen und von Art. 6 Abs. 2 EU unabhängigen Gemeinschaftsgrundrechte, sondern macht die bestehenden Gemeinschaftsgrundrechte ausweislich ihrer Präambel lediglich sichtbarer; vgl. § 1 II. 3. b) bb); Rengeling, DVBl. 2004, S. 53 (463); Ruffert, EuR 2004, S. 165 (177); a. A.: Jarass, EU-Grundrechte, § 2, Rn. 14. 161 Im Beispielsfall Nr. 4 hat das zur Folge, dass sich die von L vorgenommenen Aussperrungen als rechtswidrig erweisen und keiner Prüfung am Maßstab des Art. 28 Var. 2 GRC unterliegen. Wollte man hingegen mit der Rechtsprechung des EuGH eine Bindung der Mitgliedstaaten bei der Beschränkung der EG-Grundfreiheiten annehmen, kommt nach Art. 28 Var. 2 GRC eine Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs als nationale Rechtsvorschrift oder Gepflogenheit in Betracht; so zum Aussperrungsverbot in der portugiesischen Verfassung: Streinz – Streinz, Art. 28 GR-Charta, Rn. 3.
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3. Zusammenfassendes Ergebnis Im Ergebnis ist damit festzustellen, dass die Bindung der Mitgliedstaaten an den Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC unter den in Art. 51 Abs. 1 GRC genannten Bedingungen nicht zu einem Kompetenzkonflikt zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten führt. Folgt man entgegen der bisherigen Rechtsprechung des EuGH der in der Charta verwirklichten Konzeption, so ist ein Verstoß gegen Art. 137 Abs. 5 EG in sämtlichen Abwehrsituationen ausgeschlossen. Führen die Mitgliedstaaten das Recht der Gemeinschaft durch und handeln – bildlich gesprochen – als verlängerter Arm der Gemeinschaft, dann unterliegen sie – wie die Gemeinschaft selbst – der materiellen Bindung an das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen. Handeln sie dagegen souverän und ohne gemeinschaftsrechtliche Vorgabe, sind die von ihnen vorgenommenen Rechtsakte in der Abwehrsituation keiner Überprüfung am Maßstab des Art. 28 Var. 2 GRC ausgesetzt. In seinem abwehrrechtlichen Gehalt fügt sich das Gemeinschaftsrecht auf kollektive Maßnahmen mithin zwanglos in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft ein. IV. Der Leistungsanspruch aus dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen Nachdem also feststeht, dass der abwehrrechtliche Inhalt des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen nicht im Widerspruch zu der in Art. 137 Abs. 5 EG vorgesehenen Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten steht, bleibt zu klären, ob dies auch für den leistungsrechtlichen Anspruch auf tatsächliche Inanspruchnahme des Rechts auf kollektive Maßnahmen und den Erlass der dafür notwendigen rechtlichen Regelungen gilt. 1. Die Möglichkeit „europäischer Arbeitskämpfe“ nach Art. 28 Var. 2 GRC Um die Frage nach einer diesbezüglichen Grundrechtsverpflichtung der Gemeinschaft zu klären, ist zunächst danach zu fragen, ob mit der Anerkennung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen eine Rechtsgrundlage für grenzüberschreitende Arbeitsniederlegungen im gesamten Gebiet der Europäischen Gemeinschaft geschaffen worden ist und Art. 28 Var. 2 GRC mithin Arbeitskämpfe auf der europäischen Ebene bzw. den Einsatz kollektiver Maßnahmen auf der europäischen Ebene erlaubt.
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a) Der Wortlaut des Art. 28 Var. 2 GRC Die textuelle Aussage des Art. 28 Var. 2 GRC zu der Frage nach einem gesamteuropäischen Anwendungsbereich des Grundrechts ist weniger klar als es bei der ersten Lektüre der Vorschrift den Anschein haben mag. Dötsch162 entnimmt dem Wortlaut des Art. 28 Var. 2 GRC ohne weiteres ein Recht, auf europäischer Ebene zu streiken, und Weiss163 kommt zu dem gleichen Ergebnis unter Hinweis darauf, dass Art. 28 Var. 2 GRC das Streikrecht „auf allen Ebenen“ gewährleiste. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 28 GRC wird aber nur das Grundrecht auf kollektive Verhandlungen „auf den geeigneten Ebenen“ gewährleistet. Das Recht auf kollektive Maßnahmen wird unabhängig von Art. 28 Var. 1 GRC und ohne Bezugnahme auf eine bestimmte Ebene garantiert. Der Ausdruck „auf den geeigneten Ebenen“ bezieht sich demnach ausschließlich auf das Recht auf Kollektivverhandlungen und keineswegs auf die zweite Variante des Art. 28 GRC, so dass man nicht allein wegen des Wortlauts des Chartarechts ein Recht auf Arbeitskampfmaßnahmen auf europäischer Ebene annehmen kann. b) Die Entstehungsgeschichte des Art. 28 Var. 2 GRC Die im Grundrechtskonvent geführte Diskussion zu der Frage nach einem Recht, auf europäischer Ebene zu streiken, lässt ebenfalls keinen eindeutigen Schluss darauf zu, ob Art. 28 Var. 2 GRC ein solches Recht enthalten sollte. In dem frühen Entwurf der Grundrechtecharta vom 27. März 2000 sollte das Recht auf kollektive Maßnahmen das ausdrückliche Recht umfassen, auf europäischer Ebene zu streiken: „Workers and employers have the right in cases of conflicts of interest to take collective action at European Union level should the occasion arise, including the right to strike.“164
An dieser Aussage hielt der Chartaentwurf vom 16. Mai 2000 fest und bestimmte in Art. 34: „Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben das Recht, nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Tarifverträge auszuhandeln und zu schließen, sowie bei Interessenkonflikten auch auf Ebene der Union kollektive Maßnahmen zu ergreifen, um ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu vertreten.“165 162
In: AuA 2001, S. 362 (364). In: AuR 2001, S. 374 (376). Mit seinem Zitat scheint Weiss sich auf den Chartaentwurf vom 21. September 2000 zu beziehen. In der Endfassung der Grundrechtecharta verweist Art. 28 Var. 2 GRC lediglich auf die „geeigneten Ebenen“. 164 CHARTE 4192/00, CONVENT 18, 27.3.2000, S. 6 – Hervorhebungen vom Verfasser. 165 Hervorhebungen vom Verfasser; vgl. Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 16. 163
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Die Fassung des Streikgrundrechts, die das Präsidium nach einer Reihe von Änderungsvorschlägen am 23. Juni 2000 vorlegte, ließ das Recht auf einen gesamteuropäischen Streik unangetastet: „Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben das Recht, auf allen Ebenen nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Tarifverträge auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten (. . .) kollektive Maßnahmen zu ergreifen, um ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu vertreten.“166
Hierbei wurde der Passus „auf allen Ebenen“ noch beiden Varianten des Grundrechts vorangestellt, so dass er sich sowohl auf das Recht auf kollektive Verhandlungen, als auch auf das Recht auf kollektive Maßnahmen bezog. Demgegenüber verschwand die Bezugnahme auf die europäische Ebene in der Fassung der Vorschrift im Entwurf der Grundrechtecharta vom 28. Juli 2000 gänzlich. Dort hieß es in Art. 26: „Employers and workers have the right to negotiate and conclude collective agreements and, in cases of conflicts of interest, to take collective action to defend their interests, in accordance with Community law and national laws and practices.“167
Knapp zwei Monate später machte das Präsidium diese Änderung wieder rückgängig und legte am 21. September 2000 einen Entwurf vor, dessen Art. 27 lautete: „Workers and employers, or their respective organisations, have, at all levels, the right to negotiate and conclude collective agreements and, in cases of conflicts of interest, to take collective action to defend their interests, including strike action, in accordance with Community law and national laws and practices.“168
Die Endfassung des Art. 28 GRC vom 28. September 2000 formuliert dagegen zurückhaltender und verweist nur auf die geeigneten Ebenen. Zudem hat der Grundrechtskonvent den Passus absichtlich so gestellt, dass er sich nur auf das Recht auf kollektive Verhandlungen und nicht mehr auf das Recht auf kollektive Maßnahmen beziehen kann.169 Die wechselhafte Geschichte zur Frage nach der Absicht des Grundrechtskonvents, ein Recht auf kollektive Maßnahmen anzuerkennen, das auf der Gemeinschaftsebene ausgeübt werden kann, zeigt, dass sich der Konvent des Problems bewusst gewesen ist, sich aber im Ergebnis nicht zu einer eindeutigen Lösung durchringen konnte. Allein aus der Umstellung des Merkmals der geeigneten Ebene in der Endfassung des Art. 28 GRC folgern zu wollen, dass der Konvent damit jeden gesamteuropäischen Arbeitskampf hat verhindern wollen,
166
Hervorhebungen vom Verfasser; vgl. Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 17. CHARTE 4422/00, CONVENT 45, 28.7.2000, S. 9. 168 CHARTE 4470/1/00 REV 1, CONVENT 47, 21.9.2000, S. 12 – Hervorhebungen vom Verfasser. 169 Vgl. Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 19. 167
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dürfte jedenfalls zu weit gehen. Immerhin findet sich in den Erläuterungen des Präsidiums der Hinweis darauf, dass sich die Zulässigkeit grenzübergreifender Arbeitskampfmaßnahmen nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten bestimmen soll.170 Das muss folgerichtig auch für Streiks gelten, die sich auf das Gebiet der gesamten Gemeinschaft erstrecken sollen. Sind also die Mitgliedstaaten in der Lage, die Möglichkeit der Teilnahme an mehrstaatlichen Streikaktionen einzuschränken, muss Art. 28 Var. 2 GRC im Umkehrschluss eine dementsprechende supranationale Garantie enthalten. Daher sprechen die Erläuterungen des Präsidiums dafür, dass Art. 28 Var. 2 GRC ein durch mitgliedstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten beschränkbares Recht auf kollektive Maßnahmen enthält, das auf europäischer Ebene ausgeübt werden darf. c) Der Vorbehalt des Gemeinschaftsrechts in Art. 28 Var. 2 GRC Zu diesem Ergebnis gelangt man ebenfalls, wenn man die in Art. 28 Var. 2 GRC enthaltene Vorbehaltsregelung berücksichtigt, nach welcher das Gemeinschaftsrecht das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen beschränken kann. Diese Einschränkungsmöglichkeit ergibt vor allem dann einen Sinn, wenn sie einem entsprechenden Anwendungsbereich des Grundrechts auf der europäischen Ebene gegenübersteht, und ist damit ein weiterer Hinweis darauf, dass Art. 28 Var. 2 GRC das Recht enthält, kollektive Maßnahmen auf europäischer Ebene zu ergreifen. Denn es ist kaum ersichtlich, weshalb die in Art. 28 Var. 2 GRC gewährleisteten Rechte ihre Grenzen im Recht der Gemeinschaft finden sollten, wenn mit der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtschranke kein europäischer Anwendungsbereich des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen korrespondieren würde. d) Die Verpflichtung der Gemeinschaft aus Art. 28 Var. 2 GRC Dass man die Frage nach der Möglichkeit gesamteuropäischer Arbeitskämpfe auf der Grundlage des Art. 28 Var. 2 GRC im Ergebnis zu bejahen hat, folgt vor allem aus dem Umstand, dass die Grundrechtecharta, wie sich aus Art. 51 Abs. 1 GRC ergibt, in erster Linie an die Gemeinschaft adressiert ist und sich die Grundrechtsverpflichtungen dementsprechend gegen deren Organe richten. Im Gegensatz zu Art. 11 Abs. 1 EMRK, der gemäß Art. 1 EMRK nur für die Konventionsstaaten, nicht aber für den Europarat selbst rechtlich verbindlich ist, wird durch Art. 28 Var. 2 GRC die Gemeinschaft als supranationaler Rechtsträger aus dem Grundrecht verpflichtet. Derselbe entscheidende Unterschied zeigt sich bei dem Streikrecht aus Art. 6 Nr. 4 ESC, das nur die Vertragsparteien der 170
CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27.
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Europäischen Sozialcharta anerkennen. Demnach ist es im Gegensatz zu den genannten völkerrechtlichen Bestimmungen die Gemeinschaft, die den Arbeitnehmern und Arbeitgebern mit Art. 28 Var. 2 GRC die Freiheit gewährt, bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen zu ergreifen.171 Da es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsgrundrechts mit dem Geltungsbereich seiner Rechtsgrundlage nicht übereinstimmt, folgt aus der Zugehörigkeit des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen zum europäischen Primärrecht, dass es gemeinschaftsweit ausgeübt werden kann. 2. Der Leistungsanspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC auf der Gemeinschaftsebene Einem gesamteuropäischen Anwendungsbereich des Art. 28 Var. 2 GRC steht der Kompetenzausschluss der Gemeinschaft für das Streik- und das Aussperrungsrecht in Art. 137 Abs. 5 EG nicht entgegen. Die Norm regelt lediglich die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten für den Bereich des Arbeitskampfrechts und schließt aus, dass die Gemeinschaft Vorschriften zur Regelung des Arbeitskampfrechts erlässt. Sie verbietet aber den Trägern des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen nicht die Ausübung ihres Grundrechts auf der europäischen Ebene. Dabei scheint sich die Leistungsverpflichtung aus dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen auf den ersten Blick gegen denjenigen Verband zu richten, der die mit dem Grundrecht verbundenen Freiheiten garantiert. Deswegen liegt es nahe zu behaupten, dass der freiheitsgewährende Verband aus dem Grundrecht zur Ermöglichung des Arbeitskampfes sowie zur Ausgestaltung der arbeitskampfrechtlichen Garantien verpflichtet ist und das Grundrecht insoweit eine kompetenzzuweisende Funktion aufweist.172 Wer einerseits die grundrechtliche Freiheit gewährleistet, müsse andererseits deren Ausübbarkeit sicherstellen. Aus dieser Überlegung scheint sich auch der behauptete Widerspruch zwischen der Gewährleistung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen in Art. 28 Var. 2 GRC und der in Art. 137 Abs. 5 EG geregelten Kompetenzverteilung zu speisen. Denn wegen des Kompetenzausschlusses in Art. 137 Abs. 5 EG wäre die Gemeinschaft gar nicht in der Lage, einen gegen sie gerichteten Anspruch auf Ausgestaltung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen zu erfüllen.
171
Vgl. Bercusson, The trade union movement and the European Constitution,
S. 26. 172 Vgl. zu dieser für Art. 9 Abs. 3 GG geltenden Prämisse: Sachs – Höfling, GG, Art. 9, Rn. 5 f., 76.
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Allerdings ist die Annahme, die Gemeinschaft sei aus Art. 28 Var. 2 GRC verpflichtet, die Ausübbarkeit des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen zu gewährleisten, keineswegs zwingend. Im Zusammenhang mit der Lehre von den Grundrechten als negativen Kompetenznormen ist zunächst darauf hingewiesen worden, dass die Grundrechte die Befugnis des jeweils zuständigen Hoheitsträgers begrenzen und der Eingriff eines unzuständigen Hoheitsträgers in einen grundrechtlich geschützten Bereich eine Grundrechtsverletzung darstellt.173 Diese kompetenzbeschränkende Wirkung kommt den Grundrechten jedenfalls dann zu, wenn der jeweilige Grundrechtsträger den Eingriff eines Hoheitsträgers in seine grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre abwehren möchte. Lediglich der subjektiv-rechtliche Abwehrgehalt der Grundrechte korrespondiert mit ihrer objektiv-rechtlichen Eigenschaft als negative Kompetenznormen.174 Jedoch ist in Verbindung mit der Lehre von den negativen Kompetenznormen zu Recht darauf hingewiesen worden, dass auch grundrechtliche Schutzgewähransprüche keine kompetenzbegründende Wirkung haben, weil sie sich nur gegen den jeweils zuständigen Hoheitsträger richten und sich deswegen zur organisationsrechtlichen Kompetenzverteilung akzessorisch verhalten.175 Der grundrechtliche Schutzgewähranspruch kann mithin nur gegenüber dem jeweils zuständigen Hoheitsträger geltend gemacht werden. In Bezug auf die Geltendmachung eines grundrechtlichen Schutzgewähranspruchs ist es für den betreffenden Grundrechtsträger indes auch in aller Regel unerheblich, welcher staatliche Kompetenzträger ihm bei der Abwehr grundrechtsrelevanter Beeinträchtigungen seitens privater Dritter zur Hilfe kommt. Demgegenüber ist es beim Grundrecht auf kollektive Maßnahmen nicht von vorneherein belanglos, gegen welchen Verband sich der leistungsrechtliche Gehalt des Art. 28 Var. 2 GRC richtet. Gleichwohl wird man den in Bezug auf grundrechtliche Schutzgewähransprüche entwickelten Gedanken auf den leistungsrechtlichen Inhalt des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen übertragen müssen, um eine Art. 137 Abs. 5 EG zuwiderlaufende Grundrechtsbindung der Gemeinschaft und eine dem Art. 51 Abs. 2 GRC widersprechende Kompetenzverschiebung auszuschließen. Der grundrechtliche Anspruch auf Ausübung und Ausgestaltung des Gemeinschaftsgrundrechts richtet sich – und zwar auch soweit es um dessen Ausübung auf europäischer Ebene geht – allein gegen die für die Regelung des Streik- und Aussperrungsrechts zuständi173
Vgl. § 2 III. 1. b). Vgl. Pernice, DVBl. 2000, S. 847 (852). 175 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 298; Szczekalla, Die so genannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 163 ff. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 81, 310, 334) ist dieser Überlegung gefolgt und hat entschieden, dass Grundrechte nur bei der Wahrnehmung bestehender Kompetenzen Bindungen erzeugen, aber nicht selbst Kompetenzen bestimmter Hoheitsträger zu begründen vermögen. 174
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gen Mitgliedstaaten. Da die Gemeinschaft die notwendigen Voraussetzungen für die Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen wegen Art. 137 Abs. 5 EG nicht selbst schaffen kann, muss sich der darauf gerichtete grundrechtliche Leistungsanspruch notwendigerweise gegen die Mitgliedstaaten richten.176 Davon gehen auch die Erläuterungen des Konventspräsidiums zu Art. 28 GRC aus, in denen es heißt, dass Kollektivmaßnahmen durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten geregelt werden.177 Dieses Ergebnis findet zudem eine weitere Stütze in der Regelung des Art. 51 Abs. 1 Satz 2 GRC, nach welcher die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten innerhalb der bestehenden Zuständigkeiten zur Förderung der Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte verpflichtet sind.178 Daraus lässt sich schließen, dass es die zur Regelung des Arbeitskampfrechts zuständigen Mitgliedstaaten sein sollen, die das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen ausgestalten. Demnach muss sich der entsprechende Leistungsanspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC gegen die Einzelstaaten richten. 3. Die „Bezugnahme“ auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Der an die Mitgliedstaaten gerichtete Ausgestaltungsauftrag wird im Wortlaut des Art. 28 GRC mit der „Bezugnahme“179 auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten zum Ausdruck gebracht. Wie weit dieser Auftrag geht und unter welchen Voraussetzungen er Beschränkungen des Gemeinschaftsgrundrechts auf der nationalen Ebene zulässt, hängt maßgeblich davon ab, wie man die Bezugnahme in Art. 28 GRC grundrechtsdogmatisch einordnet und vor allem, ob hierauf die in Art. 52 GRC genannten Bedingungen für die Beschränkung von Gemeinschaftsgrundrechten Anwendung finden. Über diesen Punkt besteht jedoch im Schrifttum keine Einigkeit. Das Meinungsspektrum lässt sich in drei unterschiedliche Positionen aufteilen: Von einer Einzelmeinung wird der Bezugnahme auf nationale Rechtsvorschriften und 176 Vgl. Konzen, ZfA 2005, S. 189 (195); Losch/Radau, NVwZ 2003, S. 1440 (1444); Vitorino, Revue de Droit de l’Union Européenne 2001, S. 27 (55); ähnlich zum Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen: Däubler, FS-Hanau, S. 489 (495 f.); ablehnend in Bezug auf Art. 13 EG-SC: Kenner, EU Employment Law, S. 146 f. 177 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27. Noch deutlicher ist in den Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents zu Art. II-88 EVV die Rede davon, dass die Modalitäten für die Durchführung von Kollektivmaßnahmen durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten geregelt werden, ABl. Nr. C 310, 16.12.2004. S. 442. 178 Siehe hierzu: Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 51, Rn. 18. 179 So die Bezeichnung im Dokument des Grundrechtskonvents CHARTE 4192/00, CONVENT 18, 27.3.2000, S. 6; vgl. Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 15.
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Gepflogenheiten in Art. 28 Var. 2 GRC jede Wirkung abgesprochen. Von einer beachtlichen Zahl von Autoren wird sie als Verweisung auf nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verstanden, die den Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC konstituieren sollen. In einer etwa gleich großen Zahl von Veröffentlichungen wird sie demgegenüber als doppelte (Grundrechts-)Schranke aufgefasst, die den Schranken-Schranken des Art. 52 GRC unterliegen soll. a) Unwirksamkeit der Bezugnahme? Am weitestgehenden ist die Auffassung von Bercusson, der annimmt, dass die in Art. 28 GRC enthaltenen Rechte nicht durch nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten begrenzt werden können.180 Zur Begründung führt Bercusson zum einen an, dass eine Begrenzung des europäischen Streikrechts durch nationale Rechtsquellen gegen Art. 11 EMRK verstoße und es zum anderen dem transnationalen Charakter des Art. 28 Var. 2 GRC, der sich gegen die Gemeinschaft richte, widerspreche, das Streikrecht nationalen Beschränkungen zu unterwerfen.181 Da die Gemeinschaft gemäß Art. 6 Abs. 2 EU die sich aus der EMRK ergebenden Rechte zwar achtet, ohne selbst an diese gebunden zu sein, ist der von Bercusson behauptete Verstoß der Gemeinschaft gegen die EMRK begrifflich ausgeschlossen.182 Da im Übrigen das Konventionsrecht auf kollektive Maßnahmen zugunsten der Einzelstaaten unter einem weiten Ermessensvorbehalt steht,183 stimmt die in Art. 28 GRC vorgesehene Möglichkeit, das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen durch einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten zu begrenzen, insoweit mit dem Gewährleistungsinhalt des Art. 11 EMRK vollkommen überein. Die Grundrechtsbindung der Gemeinschaft kann darüber hinaus nicht zu einer den eindeutigen Wortlaut des Art. 28 Var. 2 GRC missachtenden Auslegung des Gemeinschaftsgrundrechts führen. Daraus mag sich zwar ein Beleg für einen transnationalen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsgrundrechts gewinnen lassen, den die Erläuterungen des Konventspräsidiums in der Tat nahe legen;184 die Bindung der
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Bercusson, The trade union movement and the European Constitution, S. 24. Bercusson, The trade union movement and the European Constitution, S. 26. 182 Nach der Entscheidung der Großen Kammer des EGMR im Fall „Matthews“ vom 18.2.1999 (in: EuZW 1999, S. 308, 309) haften zudem die Mitgliedstaaten für Verstöße der Gemeinschaft gegen die EMRK; vgl. auch Canor, European Law Review 2000, S. 3 (21); Tettinger/Stern – von Danwitz, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 25; Jarass, EU-Grundrechte, § 1, Rn. 12; Lenaerts, European Law Review 2000, S. 575 (584); Lenz/Borchardt – Wolffgang, Anh. zu Art. 6 EUV, Rn. 13. 183 EGMR (GrK), 25.4.1996, App. 15573/89, Rn. 45 (Gustafsson). 184 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 442. 181
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Gemeinschaft beweist aber nicht, dass das Gemeinschaftsgrundrecht in allen Mitgliedstaaten einheitlich ausgestaltet sein muss. b) Art. 28 Var. 2 GRC als Verweisungsnorm Die Bezugnahme auf nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten wird von einer beachtlichen Meinung im Schrifttum so verstanden, dass Art. 28 GRC hinsichtlich der Ausgestaltung des Schutzbereichs auf das Gemeinschaftsrecht und die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verweist und diesem Verweis für den Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung des Art. 28 Var. 2 GRC konstitutive Wirkung zukommt. aa) Das Verweisungsverständnis im Schrifttum Auf diese Art und Weise versteht Streinz185 die Bezugnahme auf nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten und auch Magiera186 geht davon aus, dass die nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten die Gemeinschaftsgrundrechte näher qualifizieren sollen. Ein ähnliches Normverständnis scheint der Auffassung von Alber und Widmaier187 zugrunde zu liegen, derzufolge die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten bereits auf die Gewährleistung der betreffenden Grundrechte verweisen. In die gleiche Richtung geht die Aussage von Hirsch188, nach der Art. 28 Var. 2 GRC eine „Blankettnorm“ sei, die nicht selbst den Umfang des in ihr enthaltenen Rechts festlege, sondern lediglich auf andere Rechtsquellen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten verweise. Die Auffassung, dass Art. 28 Var. 2 GRC auf nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verweist, vertritt auch Rebhahn189. Er verwirft eine Auslegung als Grundrechtsschranke ausdrücklich und nimmt einen Ausgestaltungsvorbehalt an, der die Mitgliedstaaten von den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dispensiere und zur Ausgestaltung des Schutzbereichs der jeweiligen Grundrechte ermächtige. Eisner190 versteht die Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten als Ausfluss der Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten innerhalb der ihnen zustehenden 185
In: Streinz, Art. 28 GR-Charta, Rn. 4. In: DÖV 2000, S. 1017 (1026). 187 In: EuGRZ 2000, S. 497 (500). 188 In: Schwarze, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 111 (124). An anderer Stelle bezeichnet Hirsch (in: Blank, Soziale Grundrechte in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 11, 17) die unter dem Vorbehalt nationaler Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten stehenden Gemeinschaftsgrundrechte als „Hülsen-Regelungen“ mit geringem normativen Gehalt. 189 In: GS-Heinze, S. 649 (654 f.). 190 In: Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, S. 134 f. 186
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Kompetenzen, den Schutzbereich bestimmter Chartagrundrechte auszugestalten. Dorf191 ist der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten die grundrechtliche Gewährleistung von Rechten, die in der Charta nur nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts verbürgt seien, nach Schutzbereich und Schranken in vollem Umfang in den Händen halten. Nettesheim192 versteht unter der Gewährleistung „nach“ dem Gemeinschaftsrecht und den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nur eine Gewährleistung „im Rahmen“ derselben, was wohl ebenfalls dahingehend zu verstehen ist, dass der Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC von Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten konstituiert werden soll. Schärfer formuliert Schmitz193, dass es sich bei einem Chartarecht, das wie Art. 28 Var. 2 GRC auf das Recht der Gemeinschaft und der Einzelstaaten verweise, nur um eine „normative Hülle“ mit einem „geringen normativen Gehalt“ handle, deren Substanz sich aus einer anderen Quelle ergebe. Dieser Ansicht zufolge wird der Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC von den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten überhaupt erst gebildet, so dass Art. 52 GRC, der nur für die Grundrechtsbeschränkungen gilt, auf die den Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts konstituierenden Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten keine Anwendung fände. bb) Kritische Würdigung des Verweisungsnormverständnisses Gegen das Verständnis der Bezugnahme auf nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Art. 28 GRC bestehen indes durchgreifende Bedenken. (1) Der deutsche Wortlaut des Art. 28 Var. 2 GRC Die Verweisungslehre kann sich zwar insofern auf den deutschen Wortlaut des Art. 28 GRC berufen, als dass der Ausdruck „nach“ jedenfalls nicht gegen die Annahme einer Verweisung spricht. Die damit verbundene Annahme, das Gemeinschaftsgrundrecht habe keinen einheitlichen Schutzbereich, sondern nur 191
In: JZ 2005, S. 126 (130). In: integration 2002, S. 35 (38); allerdings hält Nettesheim die Bezugnahme auf das Gemeinschaftsrecht und einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten für einen schwerwiegenden Mangel. 193 In: JZ 2001, S. 833 (841) und EuR 2004, S. 691 (705); vgl. hierzu die Replik bei: Meyer – Bernsdorff, GRC, Art. 9, Rn. 13. Die Systematisierung von Schmitz, der die Art. 27, 28, 30, 34, 35 S. 1 und 36 GRC für Verweisungsnormen hält, aber Art. 16 GRC – trotz der insoweit wörtlichen Übereinstimmung – zu den Grundrechten mit qualifiziertem Regelungsvorbehalt (Art. 9, 10 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 3 GRC) zählt, kann nicht überzeugen. Auf der Grundlage des Verweisungsverständnisses müsste das Grundrecht auf unternehmerische Freiheit folgerichtig ebenfalls eine „normative Hülle“ darstellen. 192
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einen durch nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten geprägten, erscheint aber äußerst zweifelhaft. Der EuGH geht nämlich grundsätzlich davon aus, dass die Begriffe des europäischen Gemeinschaftsrechts autonom auszulegen sind und nicht durch Rückgriff auf nationale Begriffsinhalte bestimmt werden dürfen.194 Die autonome Gemeinschaftsrechtsordnung verweist also grundsätzlich nicht auf die unterschiedlichen Begriffe der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.195 Diese Rechtsprechung beruht vor allem auf der Überlegung, dass die Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit haben sollen, mittels einer nationalstaatlichen Auslegung der Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, die darin enthaltenen Rechte der Unionsbürger zu verkürzen und so ihrer praktischen Wirksamkeit zu berauben.196 Eine Ausnahme von der einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts macht der EuGH, wenn ein Begriff in einer Norm verwendet wird, mit der eine Vereinheitlichung der jeweiligen Rechtsmaterie nicht bezweckt wird. Beispielsweise unterliegt die Bestimmung des Arbeitnehmerbegriffs, soweit er in der Richtlinie 2001/23/EG197 verwendet wird, allein dem Recht der Mitgliedstaaten.198 Es ist zwar nicht fernliegend, insofern eine Parallele zwischen diesem Ausnahmefall und den Begrifflichkeiten des Art. 28 Var. 2 GRC zu ziehen, da der Gemeinschaft im Bereich des Arbeitskampfrechts bereits die Kompetenz für eine gemeinschaftsweite Vereinheitlichung fehlt. Der Kompetenzverteilung nach Art. 137 Abs. 5 EG würde es durchaus entsprechen, wenn die Mitgliedstaaten die Interpretationshoheit darüber zustehen würde, wie weit das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen reicht. Deshalb könnte man in der Tat erwägen, ob in Bezug auf die Auslegung des Art. 28 GRC nicht ausnahmsweise das nationale Recht zur Anwendung kommen kann. Richteten sich aber schon die einzelnen Tatbestandsmerkmale des Art. 28 Var. 2 GRC nach dem nationalen Recht, hätte es der weiteren Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Art. 28 GRC gar nicht bedurft. Wenn etwa der dort verwendete Begriff der „Arbeitnehmerorganisation“ oder des „Interessenkonflikts“ keinen eigenständigen gemeinschaftsrechtlichen Inhalt aufwiese und von den verschiedenen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bestimmt würde, verlöre der zusätzliche Rekurs auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten seinen Sinn. Zudem kann aus 194 EuGH, 19.3.1964, Rs. 75/63, Slg. 1964, 383, S. 396 (Unger); 1.2.1972, Rs. 49/ 71, Slg. 1972, 23, Rn. 8 (Hagen); 1.2.1972, Rs. 50/71, Slg. 1972, 53, Rn. 8 (Wünsche); 14.1.1982, Rs. 64/81, Slg. 1982, 13, Rn. 8 (Corman). 195 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 572. 196 EuGH, 19.3.1964, Rs. 75/63, Slg. 1964, 383, S. 396 (Unger). 197 Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. Nr. L 82, 22.3.2001, S. 16 ff.). 198 So schon zur Richtlinie 77/187/EWG: EuGH, 11.7.1985, Rs. 105/85, Slg. 1985, 2639, Rn. 26 (Mikkelsen).
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der Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten nicht geschlossen werden, dass mit Art. 28 Var. 2 GRC nur die jeweiligen arbeitskampfrechtlichen Verbürgungen der Mitgliedstaaten geschützt werden sollen. Wäre dies beabsichtigt gewesen, befände sich eine dem Art. 2 VO 2679/ 98/EG entsprechende Bestimmung in der Grundrechtecharta, nach welcher die Gemeinschaft die mitgliedstaatlichen Grundrechte auf kollektive Maßnahmen zu respektieren hätte. Da Art. 28 Var. 2 GRC aber nach seinem Wortlaut den Arbeitnehmern, Arbeitgebern und ihren jeweiligen Organisationen im Falle von Interessenkonflikten ein Recht auf kollektive Maßnahmen einräumt und daneben auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Bezug nimmt, kann dem mitgliedstaatlichen Recht nicht schon auf der Ebene der Schutzbereichsbestimmung, sondern erst auf der Ebene der Grundrechtsbegrenzung Rechnung getragen werden.199 Dass der Weg über eine nationalrechtliche Auslegung der Begriffe des Art. 28 Var. 2 GRC verschlossen ist und mit der Grundrechtecharta nicht von dem Prinzip der Einheitlichkeit des europäischen Primärrechts abgewichen werden sollte, belegt ferner die Vorschrift des Art. 53 GRC, nach welcher die Chartarechte die nationalen Grundrechtsordnungen unberührt lassen.200 Die damit zum Ausdruck gebrachte begriffliche Unabhängigkeit der Charta201 zwingt zu dem Schluss, dass die Begrifflichkeiten des Art. 28 Var. 2 GRC einheitlich auszulegen sind.202 (2) Sonstige Sprachfassungen des Art. 28 Var. 2 GRC Unter den verschiedenen Sprachfassungen, in denen die Grundrechtecharta mittlerweile vorliegt, befinden sich zahlreiche, die das Recht auf kollektive Maßnahmen nicht wie in ihrem deutschen Wortlaut „nach“ den nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten, sondern „in Übereinstimmung mit“ den nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten gewähren. In diesen Sprachfassungen, die für die Auslegung des Art. 28 GRC ebenso wie dessen 199 Im Ergebnis übereinstimmend: Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 107. 200 Das ist im Übrigen die einzige Aussage der dem Art. 53 EMRK nachgeahmten Norm des Art. 53 GRC. Sie ist trotz ihres unpräzisen Wortlauts keinesfalls dahingehend zu verstehen, dass sie eine Kontrolle von Gemeinschaftsrechtsakten an den nationalen Grundrechten gestattet; vgl. Liisberg, CML Rev 2001, S. 1171 (1190 f.); Hervey/Kenner – Maduro, Economic and Social Rights under the EU Charter of Fundamental Rights, S. 269 (297). Davon ist auch der Spanische Verfassungsgerichtshof (in: EuR 2005, S. 339, 351) in seinem Urteil vom 13.12.2004 zur Vereinbarkeit des Europäischen Verfassungsvertrages mit dem spanischen Verfassungsrecht ausgegangen. 201 KOM (2000) 644 endg., S. 5; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 135. 202 Im Ergebnis übereinstimmend: Jarass, EU-Grundrechte, § 6, Rn. 29; vgl. auch Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 107.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
deutscher Wortlaut heranzuziehen sind,203 findet die These, das Gemeinschaftsgrundrecht verweise auf nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten, keine Stütze. Beispielsweise wird in der spanischen Fassung des Art. 28 GRC der Ausdruck „de conformidad con el Derecho comunitario y con las legislaciones y prácticas nacionales“204
verwendet, was mit „in Übereinstimmung mit“ ins Deutsche übersetzt werden kann.205 Das gilt ebenso für den in der italienischen Fassung des Art. 28 GRC befindlichen Ausdruck „conformemente al diritto comunitario e alle legislazioni e prassi nazionali“.206
Das niederländische „overeenkomstig het Gemeenschapsrecht en de nationale wetgevingen en praktijken“207
ist ebenso mit „nach Maßgabe der Vorschriften“ zu übersetzen.208 Die portugiesische Sprachfassung des Art. 28 GRC lautet an der hier interessierenden Stelle „de acordo com o direito comunitário e as legislações e práticas nacionais“,209
was mit dem deutschen Ausdruck „in Übereinstimmung mit“ gleichbedeutend ist.210 In der englischen und französischen Version wird der Ausdruck „in accordance with Community law an national laws and practices“211
bzw. „conformément au droit communautaire et aux législations et pratiques nationales“212
gebraucht, der jeweils mit „in Übereinstimmung mit“ ins Deutsche übersetzt werden kann.213 203
Vgl. EuGH, 9.1.2003, Rs. C-257/00, Rn. 37 (Givane). Hervorhebungen vom Verfasser. 205 Becher, Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache, 5. Aufl., 1999, Teil 1, S. 300. 206 Hervorhebungen vom Verfasser; Conte, Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache, 2. Aufl., 1999, Teil 1, S. 80. 207 Hervorhebungen vom Verfasser. 208 Kroes, Diuts Handwoordenboeck, 14. Aufl., 1952, S. 621. 209 Hervorhebungen vom Verfasser. 210 Langenscheidt, Portugiesisch – Deutsch, 1968, S. 35. 211 Hervorhebungen vom Verfasser. 212 Hervorhebungen vom Verfasser. 213 Romain/Bader/Byrd, Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache, Teil I, 5. Aufl., 2000, S. 7 (Englisch); Potonier, Wörterbuch für Wirtschaft, Recht und Handel, Band 2, 2. Aufl., 1990, S. 378 (Französisch). 204
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Eine Gewährleistung des Rechts auf kollektive Maßnahmen „in Übereinstimmung mit“ nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten wird man schwerlich als Verweis auf das nationale Recht ansehen können, der für den Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC konstitutive Wirkung hat. Vielmehr ist dieser Ausdruck so zu verstehen, dass das eigenständige Grundrecht nur insoweit geschützt wird, wie es mit den jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Übereinstimmung steht. Die mitgliedstaatlichen Vorschriften und Gepflogenheiten können aus der Sicht des weitergehenden Gemeinschaftsgrundrechts dann nur als Grundrechtsschranke eingeordnet werden. Das wird besonders deutlich, wenn man berücksichtigt, dass sich im englischen Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 EMRK und des Art. 8 Abs. 2 EMRK der ebenfalls in der englischen Version des Art. 28 GRC verwendete Ausdruck „in accordance with“ wiederfindet. In der Europäischen Menschenrechtskonvention hat dieser Passus zweifelsfrei die Funktion einer Grundrechtsschranke der jeweiligen Konventionsrechte214 und wird dementsprechend auch als solcher in der deutschen Fassung der EMRK wiedergegeben.215 Eine ähnliche Wendung findet sich darüber hinaus in Art. 8 Abs. 1 Buchstabe d) IPWSKR, der das Recht zu streiken gewährleistet, soweit es in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung ausgeübt wird. Dort wird es – soweit ersichtlich unumstritten – als eine Begrenzung des Streikrechts und jedenfalls nicht als konstitutive Verweisung auf die innerstaatlichen Rechtsordnungen verstanden.216 Schließlich enthält Art. 13 EG-SC eine Formulierung nach der das Recht auf Kollektivmaßnahmen vorbehaltlich der Verpflichtung aufgrund der einzelstaatlichen Regelungen gewährleistet werden soll, so dass die gemeinschaftsrechtliche Vorgängerbestimmung des Art. 28 Var. 2 GRC ebenfalls unter einem Vorbehalt zugunsten des nationalen Rechts steht und nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist.217 Exkurs zum Europäischen Verfassungsvertrag: Das gleiche gilt für die polnische Formulierung „zgodnie z prawem Unii oraz ustawodawstwami i praktykami krajowymi“ in Art. II-88 EVV; vgl. Kilian, Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache, 2000, Teil 1, S. 454. 214 Vgl. statt aller: EGMR, 26.4.1979, App. 6538/74, Rn. 48 (Sunday Times). 215 Der englische Wortlaut des Art. 8 Abs. 2 EMRK lautet: „There shall be no interference by a public authority with the exercise of this right except such as is in accordance with the law (. . .)“ – Hervorhebungen vom Verfasser. In der deutschen Fassung heißt es in Art. 8 Abs. 2 EMRK: „Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen (. . .) ist.“ – Hervorhebung vom Verfasser. 216 Däubler – Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 104d; Däubler/Kittner/Lörcher – Kittner, Internationale Arbeits- und Sozialordnung, S. 147 (149); vgl. auch Münchener Handbuch – Otto, § 284, Rn. 57. 217 Vgl. Bercusson, European Labour Law, S. 592; Blank, FS-Gnade, S. 649 (653); Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 593; vgl. auch Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 225.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
Es wäre daher wünschenswert gewesen, in der deutschen Fassung des Art. 28 GRC ebenfalls statt von einer Gewährleistung „nach“ den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten, von einem Recht auf kollektive Maßnahmen „in Übereinstimmung mit“ einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten zu sprechen.218 Das hätte das Missverständnis des Wortlauts als Verweisung, den die Verwendung des Wortes „nach“ zugegebenermaßen nahe legt, ausgeschlossen. (3) Die Diskussion im Grundrechtskonvent Die Entstehungsgeschichte der Grundrechtecharta erlaubt hingegen keinen eindeutigen Rückschluss darauf, ob die Bezugnahme auf nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten einen Verweis oder eine Grundrechtsschranke darstellen sollte. Nimmt man die überlieferten Sitzungsprotokolle wörtlich, haben der Abgeordnete Friedrich (EP; D)219 und der Abgeordnete Barros Moura (P)220 in diesem Zusammenhang von Verweisungen auf das nationale Recht gesprochen, während beispielsweise die Abgeordneten Altmaier (D)221 und der Abgeordnete Meyer (EP; D)222 die Bezugnahme auf nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten als Möglichkeit zur Einschränkung der in Rede stehenden Grundrechte aufgefasst haben. Im Konvent bestand mithin keine Einigkeit darüber, wie diese Wendung grundrechtsdogmatisch zu verstehen ist. (4) Der Vergleich mit Art. 18 GRC Aufschlussreich ist hingegen ein Vergleich des Art. 28 GRC mit der englischen und französischen Fassung von Art. 18 GRC. Der Konvent hat das Asylrecht nicht inhaltlich bestimmt, sondern in Art. 18 GRC lediglich auf das Genfer Abkommen vom 28. Juli 1951 und des dazugehörigen Protokolls vom 31. Januar 1967 verwiesen. Der deutsche Wortlaut des Art. 18 GRC verdeutlicht dies, indem darin das Asylrecht „nach Maßgabe“ des Genfer Abkommens gewährleistet wird. In der französischen und englischen Fassung wird für diese Verweisung aber nicht wie in Art. 28 GRC die Wendung „in accordance with“ oder „conformément“ benutzt, sondern „due respect for“ bzw. „dans le respect“. 218 Vgl. auch die Übersetzungsvorschläge bei: Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 75 [Fn. 249]. 219 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 290. 220 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 358. 221 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 226 f. 222 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 370.
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In der deutschen, englischen und der französischen Fassung der Grundrechtecharta besteht demnach ein erkennbarer Unterscheid zwischen der in Art. 18 GRC enthaltenen Verweisung und dem Vorbehalt in Art. 28 GRC. Art. 18 GRC nimmt an seinem Ende zudem Bezug auf den EG-Vertrag. Der deutsche Wortlaut spricht insofern von einer Gewährleistung „gemäß“ dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Die englische sowie die französische Fassung des Art. 18 GRC lauten an dieser Stelle aber ebenso wie in Art. 28 GRC „in accordance with“ bzw. „conformément“. Bezeichnenderweise wird beim Gemeinschaftsgrundrecht auf Asyl deswegen gleichwohl kein konstitutiver Verweis auf das Gemeinschaftsrecht angenommen, sondern Art. 52 Abs. 1 GRC für anwendbar gehalten.223 (5) Die systematische Auslegung im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen Es ist bereits gezeigt worden, dass die Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen auf der europäischen Ebene nach Art. 28 Var. 1 GRC wegen des Merkmals der „geeigneten Ebene“ gemeinschaftsrechtsakzessorisch ausgestaltet ist. Der Inhalt dieses Grundrechts wird insofern vom Gemeinschaftsrecht bestimmt. Auf der europäischen Ebene kann es nur in Abhängigkeit von sonstigen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts verwirklicht werden.224 Die in Art. 28 GRC enthaltene Wendung „nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ bezieht sich nicht nur auf das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen, sondern auch auf das Grundrecht auf kollektive Verhandlungen. Hinsichtlich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen führt die Verweisungslehre insoweit zu einem Widerspruch, weil das Grundrecht aus Art. 28 Var. 1 GRC von nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten konstituiert werden soll, obwohl es sich auf der europäischen Ebene akzessorisch zum anwendungsvorrangigen Gemeinschaftsrecht verhält. (6) Der systematische Vergleich mit den qualifizierten Regelungsvorbehalten der Grundrechtecharta Das Argument von Eisner225, die aus einem Vergleich mit Art. 9 GRC den Schluss zieht, die Bezugnahme auf nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten weise die Ausgestaltung des Schutzbereichs den Mitgliedstaaten zu, vermag das Verweisungsverständnis nicht zu stützen. In der Tat ist es zwar so, dass 223 224 225
Meyer – Bernsdorff, GRC, Art. 18, Rn. 13. § 2 II. 1. b). In: Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, S. 135.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
Art. 9 GRC beispielsweise weder untersagt noch vorschreibt, Personen gleichen Geschlechts den Status der Ehe zu verleihen und den Mitgliedstaaten insofern gestatten mag, den Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts aus Art. 9 GRC zu bestimmen.226 Entscheidend ist aber, dass Art. 9 GRC im Gegensatz zu Art. 28 GRC auf die einzelstaatlichen Gesetze Bezug nimmt, die die Ausübung des Rechts, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, regeln. Anders als beim Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen weist Art. 9 GRC damit ebenso wie Art. 10 Abs. 2 GRC und Art. 14 Abs. 3 GRC die Regelung des in ihm enthaltenen Gemeinschaftsgrundrechts ausdrücklich den Mitgliedstaaten zu. Die Unterscheidung in der Grundrechtecharta zwischen diesen qualifizierten Regelungsvorbehalten und der einfachen Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten würde aufgehoben, wollte man in beiden Fällen gleichermaßen annehmen, dass die Mitgliedstaaten zur Konstituierung des grundrechtlichen Schutzbereichs befugt seien. (7) Konstitutiver Verweis auf das Gemeinschaftsrecht? Obwohl die Verweisungslehre den Vorzug aufweisen mag, eine inhaltliche Bindung der Mitgliedstaaten und damit eine Verletzung des Art. 137 Abs. 5 EG zu verhindern, schießt sie gleichsam über das Ziel hinaus. Denn das Recht auf kollektive Maßnahmen wird nach dem Wortlaut des Art. 28 GRC nicht nur nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten, sondern „nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ gewährleistet. Dem Verweisungsverständnis zufolge müsste der Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC also nicht nur von nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten, sondern darüber hinaus auch vom (sekundären) Gemeinschaftsrecht konstituiert werden, ohne dass der Gemeinschaftsgesetzgeber an die Beschränkungsgrenzen aus Art. 52 GRC gebunden wäre. Es ist aber nicht ersichtlich, warum die Gemeinschaft im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten bei der Beschränkung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen nicht den Schranken-Schranken des Art. 52 GRC unterliegen sollte. Die zusätzliche Bezugnahme auf das Gemeinschaftsrecht in Art. 28 Var. 2 GRC ist lediglich dem Umstand geschuldet, dass Art. 28 Var. 2 GRC ohne sie den unzutreffenden Eindruck erweckt hätte, dass das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen nur von den Mitgliedstaaten begrenzt werden könne. Deswegen war es notwendig neben dem Vorbehalt einzelstaatlicher Rechtsvorschrif226 Zwingend ist dieser Schluss gleichwohl nicht, weil sich eine einzelstaatliche Bestimmung, die Personen des gleichen Geschlechts das Recht zur Eheschließung vorenthält, unproblematisch auch als Schranke des Gemeinschaftsgrundrechts aus Art. 9 GRC ansehen lässt. Inwieweit eine entsprechende mitgliedstaatliche Regelung einer Rechtfertigung bedarf, ist eine davon zu trennende Frage. Ohne überzeugende Begründung kritisch zum Umfang des Schutzbereichs von Art. 9 GRC: Tettinger/Geerlings, EuR 2005, S. 419 (425).
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ten und Gepflogenheiten die Beschränkungsmöglichkeit der Gemeinschaft in Art. 28 GRC aufzunehmen. Eine Befreiung der Gemeinschaft von den Schranken-Schranken des Art. 52 GRC ist damit jedoch nicht bezweckt worden. Zudem macht die Bezugnahme auf das Gemeinschaftsrecht in Art. 28 GRC als konstitutiver Verweis auf das Gemeinschaftsrecht keinen Sinn, weil die Gemeinschaft wegen Art. 137 Abs. 5 EG nicht in der Lage ist, den Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC rechtssetzend zu konstituieren. (8) Der von Art. 28 Var. 2 GRC vermittelte Rechtsschutz Schließlich führt die Annahme, dass in Art. 28 GRC auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verwiesen wird, zu schweren Ungereimtheiten beim Grundrechtsschutz bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts auf der Ebene der Mitgliedstaaten. Nationalstaatliche Gesetzgebungsakte müssten nach dem Verweisungsverständnis auch dann eine den Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC konstituierende Wirkung haben, wenn sie bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts erlassen werden. Als den Schutzbereich des Grundrechts bestimmende Normen würden sie daher, wenn ein nationaler Grundrechtsträger eine Verletzung des Gemeinschaftsgrundrechts aus Art. 28 Var. 2 GRC geltend macht, zugleich den Maßstab darstellen, an dem die durchzuführenden Gemeinschaftsrechtsakte und die durchführenden Rechtsakte der Mitgliedstaaten zu messen wären. Diese Problematik ist von Schmitz erkannt worden. Nach seiner Auffassung sollen die anhand des Art. 28 Var. 2 GRC zu prüfenden Regelungen als Schutzbereichskonkretisierungen zugleich den Maßstab darstellen, an dem sie zu messen sind.227 Die Verweisungsinterpretation des Art. 28 Var. 2 GRC kann schon wegen dieses in sich unstimmigen Ergebnisses, das die in Art. 51 Abs. 1 GRC vorgesehene Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte zur Fiktion werden lässt, nicht überzeugen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Verweisungslehre bei der Überprüfung, ob eine Maßnahme der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten das Grundrecht aus Art. 28 Var. 2 GRC verletzt, ebenfalls zu schwerlich vertretbaren Ergebnissen führt. Hätte Art. 28 Var. 2 GRC einen nationalrechtlich geprägten Inhalt, müsste der EuGH bei der Prüfung, ob ein rechtswidriger Eingriff in den Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC vorliegt, die betreffende Maßnahme im Ergebnis auf deren Vereinbarkeit mit den Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten des jeweiligen Mitgliedstaats hin überprüfen. Der EuGH würde wegen seiner Prüfungskompetenz hinsichtlich einer Verletzung des Art. 28 Var. 2 GRC damit zur 227 Schmitz, JZ 2001, S. 833 (841). Nach Nettesheim (in: integration 2002, S. 35, 38) soll Art. 28 GRC deswegen keinen Schutz gegenüber dem EG-Gesetzgeber oder dem das EG-Recht durchführenden nationalen Gesetzgeber bieten.
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„Superrevisionsinstanz“ für Fragen des nationalen Arbeitskampfrechts.228, 229 Da der EuGH ausweislich Art. 220 EG nur über die Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu befinden hat, ist das ein unhaltbares Ergebnis.230 Daher ist die Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten nicht als für den Schutzbereich des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen konstitutiver Verweis zu verstehen. Hält man Art. 28 Var. 2 GRC im Sinne der Verweisungslehre für eine „Blankettvorschrift“231, degradiert man das Grundrecht zur lex imperfecta und beschädigt damit den Grundrechtschutz der Gemeinschaft als Ganzes. Art. 28 Var. GRC hat vielmehr einen einheitlichen Schutzbereich, der einer autonomen Auslegung bedürftig und – wie noch zu zeigen sein wird – auch zugänglich ist.
228 Ebenso wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 18, 85, 92), das Akte der öffentlichen Gewalt lediglich in Bezug auf eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts hin überprüft, weigert sich der EGMR (12.07.1988, App. 10862/84, Rn. 45 – Schenk), Verstöße gegen das Recht der Mitgliedstaaten zu sanktionieren. Der EuGH hat sich in ähnlicher Weise zum Verhältnis seiner Rechtsprechung zum nationalen Recht geäußert. In der Rechtssache „Corsten“ (3.10.2000, Rs. C-58/98, Rn. 24) stellte der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens fest, dass er weder befugt sei, über die Richtigkeit der Auslegung nationaler Rechtsvorschriften zu entscheiden, noch sich zur Vereinbarkeit dieser Vorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht zu äußern. Dem Gerichtshof stehe es lediglich zu, die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts auszulegen, um dem vorlegenden Gericht alle sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden zweckdienlichen Hinweise zu geben, damit es den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden könne. Auch in Grundrechtsfragen hat der EuGH mehrfach entschieden, dass er im Vorabentscheidungsverfahren dann, wenn eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, dem vorlegenden Gericht lediglich die Auslegungskriterien an die Hand zu geben habe, die es benötige, um die Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit den Grundrechten der Gemeinschaft beurteilen zu können; vgl. EuGH, 4.10.1991, Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685, Rn. 31 (Society for the Protection of Unborn Children); 29.5.1997, Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2637, Rn. 15 (Kremzow); 18.12.1997, Rs. C-309/96, Slg. 1997, I-7493, Rn. 13 (Annibaldi). 229 Für Mitgliedstaaten, die wie die Bundesrepublik Deutschland nur ein richterrechtlich ausgeprägtes Arbeitskampfrecht kennen, wäre dieses Ergebnis besonders misslich, weil schwerlich zu begründen wäre, warum der EuGH, wenn er Art. 9 Abs. 3 GG bei seinen Entscheidungen als Schutzbereichskonkretisierung des Art. 28 Var. 2 GRC zugrunde legen müsste, an die Auslegung durch das Bundesarbeitsgericht gebunden sein sollte. Zumal das Bundesarbeitsgericht selbst – innerhalb des von der Verfassung gesetzten Rahmens – von seinen Entscheidungen abrücken darf. 230 Anders verhält es sich bei einem Verständnis der Bezugnahme auf mitgliedstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Art. 28 GRC als Grundrechtsschranke. Der EuGH kann sich dann auf die Feststellung beschränken, dass ein bestimmtes Verhalten wegen entgegenstehender nationaler Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten keinen Schutz nach Art. 28 Var. 2 GRC genießt. Das nationale Recht wird auf diese Weise nicht zum Prüfungsmaßstab. 231 Vgl. Schwarze – Hirsch, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 111 (124).
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c) Die Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten als doppelte Schranke Demgegenüber wird die Bezugnahme auf nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten von einer ebenfalls verbreiteten Meinung als Grundrechtsschranke verstanden.232 aa) Die Anwendung des Art. 52 GRC auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Der in diesem Zusammenhang mehrfach verwendete Begriff der „doppelten Schranke“ ist allerdings nicht so zu verstehen, dass wegen des in Art. 28 Var. 2 GRC enthaltenen Vorbehalts neben der Möglichkeit zur Begrenzung des Gemeinschaftsgrundrechts nach Art. 52 GRC eine weitere Schranke aus Art. 28 Var. 2 GRC hinzuträte, die unabhängig von Art. 52 GRC eine eigenständige Begrenzung des Gemeinschaftsgrundrechts erlauben würde. Der Begriff der „doppelten Schranke“ soll vielmehr verdeutlichen, dass zu der allgemeinen Beschränkungsmöglichkeit der Gemeinschaftsgrundrechte durch das Gemeinschaftsrecht eine weitere Begrenzungsmöglichkeit durch einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten treten soll. Die Bezugnahme auf das Gemeinschaftsrecht in Art. 28 GRC habe insoweit nur deklaratorischen Charakter und verweise auf die Beschränkungsmöglichkeit der Gemeinschaft nach der Maßgabe der in Art. 52 GRC enthaltenen Bestimmungen. Mit der Bezugnahme auf nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten sollen sowohl die Gemeinschaft als auch die Einzelstaaten die Möglichkeit haben, das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen einzuschränken. Dabei sollen die Mitgliedstaaten allerdings, wie der Begriff der „doppelten Schranke“ deutlich 232 Meyer – Borowsky, GRC, Art. 52, Rn. 16; Ehlers – Calliess, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20, Rn. 18; ders., EuZW 2001, S. 261 (264); Gallner, ArbRGeg. 41 (2004), S. 21 (37); Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 1 (3); Jarass, EUGrundrechte, § 6, Rn. 29; Losch/Radau, NVwZ 2003, S. 1440 (1444); AR-Blattei – Lörcher, SD 690.3, Rn. 97; Rengeling, DVBl. 2004, S. 453 (459); Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 27; J. Schwarze, EuZW 2001, S. 517 (519); ähnlich: Streinz – Pechstein, Art. 6 EUV, Rn. 23. Rixen (in: Tettinger/Stern, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 14) versteht den Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten nicht als Schranken-, sondern als Ausgestaltungsvorbehalt und will mitgliedstaatliche Beschränkungen des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen am Maßstab des Art. 52 Abs. 1 GRC messen. In vergleichbarer Weise hält Ladenburger (in: Tettinger/Stern, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 106, 108 ff.) den EuGH aufgrund der Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Art. 28 Var. 2 GRC für verpflichtet, bei der Prüfung von mitgliedstaatlichen Einschränkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen etwaige einzelstaatliche Besonderheiten zu berücksichtigen; Art. 52 Abs. 1 GRC soll aber, um einen effektiven Grundrechtsschutz sicherzustellen, auf mitgliedstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Anwendung finden.
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macht, ebenso wie die Gemeinschaft an die in Art. 52 GRC aufgeführten gemeinschaftsrechtlichen Grenzen der Einschränkbarkeit von Grundrechten, die so genannten Schranken-Schranken, gebunden sein. bb) Kritische Würdigung der Einordnung als Grundrechtsschranke Dieses Verständnis des Vorbehalts nationaler Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten als eine neben dem Gemeinschaftsrecht stehende weitere Schranke des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen begegnet ebenfalls grundsätzlichen Bedenken. (1) Die Anwendbarkeit der Schranken-Schranken des Art. 52 GRC Den ersten gewichtigen Einwand gegen dieses Verständnis des Art. 28 Var. 2 GRC liefert die Erkenntnis, dass es eines speziellen Vorbehalts nationalen Rechts in Art. 28 GRC gar nicht bedurft hätte, wenn die Mitgliedstaaten bei der Beschränkung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen an die Schranken-Schranken des Art. 52 GRC gebunden wären. Denn im Rahmen ihrer Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte können die Mitgliedstaaten unter Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Schranken-Schranken die Gemeinschaftsgrundrechte ohnehin trotz des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts in zulässiger Weise einschränken.233 Die nationalen Gesetzgeber können daher im Rahmen der in Art. 52 GRC genannten Grenzen ohne weiteres in die sich aus der Grundrechtecharta ergebenden Grundrechte der Gemeinschaft eingreifen, ohne dass es hierfür einer besonderen Ermächtigung oder eines besonderen Vorbehalts in Art. 28 GRC bedurft hätte. (2) Die Unanwendbarkeit des Gesetzesvorbehalts Ein schwerwiegendes Argument gegen die Doppelte-Schranken-Lehre ist ferner, dass der sich aus Art. 52 GRC ergebende Gesetzesvorbehalt – und zwar unabhängig davon, ob man ihn hinsichtlich des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen unmittelbar aus Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC oder aus Art. 52 Abs. 3 GRC in Verbindung mit Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK herleitet – nicht sinnvoll auf den Vorbehalt nationaler Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten angewendet werden kann. Da Art. 28 Var. 2 GRC für seine Beschränkung einzelstaatliche Gepflogenheiten genügen lässt, passt das in Art. 52 GRC genannte Erfor-
233 Zutreffend: Jarass, EU-Grundrechte, § 6, Rn. 38; vgl. auch Meyer – Borowsky, GRC, Art. 52, Rn. 20; Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 247 (m.w. N.); a. A.: Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, S. 139.
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dernis eines den Eingriff rechtfertigenden Gesetzes nicht zum Wortlaut des Art. 28 GRC.234 (3) Die Diskussion im Grundrechtskonvent Im Grundrechtskonvent war die Aufnahme eines Grundrechts auf kollektive Maßnahmen in die Grundrechtecharta heftig umstritten. In der siebten Sitzung des Konvents am 3./4. April 2000 wurde diskutiert, ob es überhaupt ein Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen geben könne. Der Abgeordnete Hirsch Ballin (NL) lehnte dies ab, weil er ebenso wie der Abgeordnete Sanz Gandasegui (E) der Auffassung war, dass das Streikrecht durch die Mitgliedstaaten einschränkbar bleiben müsse.235 Insgesamt vertrat wohl die Mehrheit der Konventsdelegierten die Ansicht, dass die Einschränkungsprärogative eines solchen Grundrechts bei den Mitgliedstaaten verbleiben müsse, was beispielsweise anhand der bestehenden Beschränkungen des Arbeitskampfes im öffentlichen Dienst diskutiert wurde. Die Konventsmehrheit sprach sich dafür aus, dass die nationalen Beschränkungsmöglichkeiten erhalten bleiben müssten.236 Goldsmith (GB) führte zudem an, dass die nationalen Regelungen zum Arbeitskampfrecht erheblich voneinander abweichen würden und das Streikrecht wegen Art. 137 EG ein ausschließlich nationales Recht sei. Deswegen dürfe es nicht auf der Gemeinschaftsebene verankert werden.237 Friedrich (EP; D) trat ebenfalls für die vollständige Streichung des Streikrechts ein, weil er befürchtete, dass es von den Gegnern der Charta zum Anlass genommen werden könnte, grundsätzliche Einwände gegen die Charta zu erheben. In Reaktion auf diese Diskussion stellte der als Vertreter der Kommission an der Sitzung teilnehmende Kommissar Vitorino fest, dass das Subsidiaritätsprinzip im Bereich des Streikrechts gewahrt bleiben müsse und schlug deswegen vor, den Passus „vorbehaltlich der Verpflichtungen und Einschränkungen auf nationaler Ebene“ in das Gemeinschaftsgrundrecht einzufügen.238 Damit sollte also den Mitgliedstaa234 Obwohl „Gepflogenheiten“ nicht mit den selbständig daneben stehenden „Rechtsvorschriften“ gleichgesetzt werden können, wollen Rengeling/Szczekalla (in: Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 438) wegen der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zur wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit auf Art. 16 GRC dennoch den Gesetzesvorbehalt anwenden; ebenso: Schwarze – Rengeling, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 331, 349. Das soll nach Rengeling (in: DVBl. 2004, S. 453, 462) auch für Art. 28 Var. 2 GRC gelten. 235 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 213. 236 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 213. 237 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 213. 238 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 213.
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ten das Recht gegeben werden, über die Reichweite des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen selbst zu entscheiden, ohne sich dabei an gemeinschaftsrechtliche Vorgaben halten zu müssen. Dass mit der Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten jeglicher Kompetenzkonflikt zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten vermieden werden sollte, ergibt sich vor allem aus dem Kommentar des Konventspräsidiums zu der im Chartaentwurf vom 27. März 2000 enthaltenen Regelung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen: „Die zusätzliche Bezugnahme auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ist erforderlich, weil die Gemeinschaft nach Art. 137 Abs. 6 EGV [Art. 137 Abs. 5 EG] keine Zuständigkeit in Bezug auf das Streikrecht in den Mitgliedstaaten hat. Sie muss daher in dieser Hinsicht die geltenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anerkennen.“239
Damit ist man im Grundrechtskonvent davon ausgegangen, dass es wegen dieser Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Art. 28 Var. 2 GRC nicht zu einer Kontrolle mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften anhand der in Art. 52 GRC genannten Schranken-Schranken kommt. (4) Der Zweck der Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Vor dem Hintergrund des Art. 137 Abs. 5 EG kann die Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten nur den Zweck haben, dem Kompetenzausschluss der Gemeinschaft für das Arbeitskampfrecht Rechnung zu tragen.240 Sie ist daher so auszulegen, dass Einschränkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen, die sich aus nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten ergeben, nicht am Maßstab der SchrankenSchranken nach Art. 52 GRC gemessen werden können. Aufgrund der in Art. 137 Abs. 5 EG niedergelegten Kompetenzverteilung kann es weder der Gemeinschaft im Allgemeinen noch dem EuGH im Besonderen zukommen, nationale Arbeitskampfregelungen wegen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen zu verwerfen.241 Vor allem kann der EuGH nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten, die das Grundrecht aus Art. 28 Var. 2 GRC einschränken, nicht einer Güterabwägung unterziehen, um festzustellen, ob sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.242 Der EuGH darf lediglich feststellen, ob eine formell ordnungsgemäße Rechtsvorschrift oder Gepflogenheit des jeweiligen Mitgliedstaates existiert, welche 239 CHARTE 4192/00, CONVENT 18, 27.03.2000, S. 6; vgl. Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 15. 240 Goldsmith, CML Rev 2001, S. 1201 (1213); Hervey/Kenner – Kenner, Economic and Social Rights under the EU Charter of Fundamental Rights, S. 1 (19). 241 Konzen, ZfA 2005, S. 189 (196).
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die Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen einschränkt. Eine über diese Prüfung hinausgehende Befugnis, nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten an Art. 28 Var. 2 GRC zu messen, steht dem EuGH, der aufgrund der Vorschrift des Art. 220 EG ebenso wie die übrigen Gemeinschaftsorgane an den Kompetenzausschluss in Art. 137 Abs. 5 EG gebunden ist, nicht zu.243 d) Die Bezugnahme als „vorbehaltlose Grundrechtsschranke“ Der Vorbehalt nationaler Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten ist folglich als Grundrechtsschranke zu verstehen, die ihrerseits keinen Begrenzungen und somit nicht den Schranken-Schranken des Art. 52 GRC unterliegt. Will man den terminologisch treffenden, aber sprachlich verunglückten Begriff der „schranken-schrankenlosen Schranke“ vermeiden, bietet es sich an, von einer vorbehaltlosen Grundrechtsschranke zu sprechen. Dieser Vorbehalt erlaubt es den Mitgliedstaaten, das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen zu begrenzen, ohne dabei an gemeinschaftsrechtliche Vorgaben gebunden zu sein. Die einzige denkbare Grenze stellt das vollständige Verbot kollektiver Maßnahmen dar, die den Trägern des Grundrechts aus Art. 28 Var. 2 GRC die Partizipation an Arbeitskämpfen auf der Grundlage des Art. 28 Var. 2 GRC gänzlich unmöglich machen würde. Ob Art. 28 Var. 2 GRC eine solche Garantie aufweist, ist vor dem Hintergrund, dass jedenfalls der völlige Ausschluss des Rechts auf kollektive Maßnahmen ohnehin eine Verletzung des Art. 11 Abs. 1 EMRK darstellt244 und Arbeitskämpfe als solche in keinem der 27 Mitgliedstaaten der Gemeinschaft verboten sind, wohl ausschließlich theoretischer Natur. Dennoch spricht der Vergleich mit Art. 11 Abs. 1 EMRK dafür, dem Art. 28 Var. 2 GRC einen dementsprechenden Grundrechtsinhalt zu entnehmen.245 Darüber hinaus greift Art. 28 Var. 2 GRC mit der Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten auch bezüglich der Ausgestaltung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen auf die ar242 Das gilt wiederum unabhängig von der Frage, ob man die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf Art. 28 Var. 2 GRC aus Art. 52 Abs. 1 GRC oder aus Art. 52 Abs. 3 GRC in Verbindung mit Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK herleitet. 243 Die Anwendung nationaler Schranken-Schranken auf das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen findet nicht nur im Text der Grundrechtecharta keinen Anhaltspunkt, sondern führt im Ergebnis ebenfalls zu der nicht hinzunehmenden Folge, dass der EuGH Rechtsakte der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten über das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen inhaltlich am nationalen Recht zu überprüfen hätte. Das würde sowohl Art. 220 EG als auch Art. 137 Abs. 5 EG verletzen. 244 Frowein/Peukert – Frowein, EMRK, Art. 11, Rn. 13. 245 Im Ergebnis ebenso: Rebhahn, GS-Heinze, S. 649 (655).
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
beitskampfrechtlichen Regelungen in den Mitgliedstaaten zurück. Denn wenn der Vorbehalt einzelstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten es den Mitgliedstaaten gestattet, das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen zu beschränken, sind diese erst recht dazu berechtigt, die Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts zu regeln.246 Auf diese Weise erfüllen die arbeitskampfrechtlichen Bestimmungen in den Mitgliedstaaten zugleich den Leistungsanspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC, der auf die Ermöglichung europäischer Arbeitskämpfe gerichtet ist.247 Ein solcher Arbeitskampf muss nämlich nicht nur in den Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen fallen und die gemeinschaftsrechtlichen Schranken für die Ergreifung kollektiver Maßnahmen einhalten, sondern wegen der weiteren Grundrechtsschranke in Art. 28 Var. 2 GRC zudem mit den jeweiligen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Einklang stehen, um rechtmäßig zu sein. Damit finden auf den europäischen Arbeitskampf nicht nur die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben Anwendung, sondern auch die Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten, wodurch ein mit der Kompetenzverteilung des Art. 137 Abs. 5 EG konformes Ergebnis erzielt wird. Denn es bleibt den Mitgliedstaaten überlassen, die Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen in eigener Verantwortung zu regeln und zu begrenzen, ohne dabei inhaltlichen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts genügen zu müssen. So können die Mitgliedstaaten beispielsweise festlegen, ob das Recht auf kollektive Maßnahmen den einzelnen Arbeitnehmern und/oder ihren jeweiligen Organisationen zustehen soll.248 Die Gemeinschaftsorgane und insbesondere der EuGH sind – außerhalb der Möglichkeit, Art. 28 Var. 2 GRC in dem von Art. 52 GRC gesteckten Rahmen zu begrenzen – im Gegensatz dazu lediglich befugt, den Umfang des Schutzbereiches von Art. 28 Var. 2 GRC zu konkretisieren und damit die äußere Reichweite des Gemeinschaftsgrundrechts zu bestimmen.249 Innerhalb die246 Ohnehin lässt sich eine Grundrechtseinschränkung nur schwerlich von einer Grundrechtsausgestaltung abgrenzen; vgl. Erfurter Kommentar – Dieterich, Art. 9 GG, Rn. 79. 247 Bei der bloßen Inanspruchnahme eines Abwehranspruchs aus Art. 28 Var. 2 GRC hat der Vorbehalt hingegen keine Bedeutung. Nehmen die Mitgliedstaaten einen Eingriff in den Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts vor, ergibt sich ihre Grundrechtsbindung aus Art. 51 Abs. 1 GRC. Da in diesem Fall kein Widerspruch zwischen Art. 28 Var. 2 GRC und dem sich aus Art. 137 Abs. 5 EG ergebenden Kompetenzgefüge besteht, bleibt hier für die Anwendung der vorbehaltlosen Grundrechtsschranke kein Raum. In dieser Konstellation bleiben die Mitgliedstaaten an die SchrankenSchranken des Art. 52 GRC gebunden. 248 Unter Missachtung des Wortlauts von Art. 28 GRC, der Arbeitnehmern oder ihren jeweiligen Organisationen das Recht auf kollektive Maßnahmen einräumt, kommt Rixen (in: Tettinger/Stern, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 10) hingegen zu dem Ergebnis, dass das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen sowohl den einzelnen Arbeitnehmern als auch den Gewerkschaften zustehe. 249 A. A.: Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 28 GRCh, Rn. 7.
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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ser Reichweite unterliegt die innere Ausgestaltung des Gemeinschaftsgrundrechts aufgrund der vorbehaltlosen Grundrechtsschranke des Art. 28 Var. 2 GRC einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Dementsprechend ist der EuGH lediglich befugt festzustellen, ob überhaupt eine einzelstaatliche Rechtsvorschrift oder Gepflogenheit im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC vorliegt, die einem Verhalten, welches in den Schutzbereich des Grundrechts fällt, den gemeinschaftsgrundrechtlichen Schutz versagt. Eine über diesen formellen Prüfungsumfang hinausgehende Befugnis zur Überprüfung mitgliedstaatlicher Grundrechtsschranken auf deren materielle Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht steht dem EuGH nicht zu. Damit führt ein sich auf der europäischen Ebene, aber gleichwohl unter Beachtung nationaler Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vollziehender Arbeitskampf nicht zu einer Kollision des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen mit dem Kompetenzausschluss des Art. 137 Abs. 5 EG. 4. Der Leistungsanspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC auf der Ebene der Mitgliedstaaten Während das Gemeinschaftsgrundrecht aus Art. 28 Var. 2 GRC auf der europäischen Ebene ohne weitere Voraussetzungen ausgeübt werden kann, kann es auf der Ebene der Mitgliedstaaten nur unter der in Art. 51 Abs. 1 GRC genannten Voraussetzung verwirklicht werden, dass ein von den Mitgliedstaaten durchzuführender Rechtsakt der Gemeinschaft die Ausübung des Rechts auf kollektive Maßnahmen vorsieht.250 Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass die Divergenz zwischen dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen und dem Kompetenzausschluss in Art. 137 Abs. 5 EG nicht zu Widersprüchen innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung führt, sondern dass sich das Gemeinschaftsgrundrecht in seiner leistungsrechtlichen Dimension ebenso zwanglos in die Ziele und Strukturen der Gemeinschaft einfügen lässt, wie der aus ihm herzuleitende Abwehranspruch.
§ 3 Die inhaltliche Konkretisierung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen Bevor die möglichen Anwendungsbereiche und die Auswirkungen des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen untersucht werden können, ist es notwendig, dessen Schutzbereich näher zu bestimmen und die in Art. 28 Var. 2 GRC enthaltenen Begriffe zu definieren. In persönlicher Hinsicht wendet sich das Gemeinschaftsgrundrecht an „Arbeitnehmer“, „Arbeitgeber“ sowie deren jeweilige „Organisationen“ und gewährt ihnen in sachlicher Hinsicht das 250
Siehe hierzu im Einzelnen: § 10 I.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
Recht, bei „Interessenkonflikten“ zur Verteidigung ihrer Interessen „kollektive Maßnahmen“ zu ergreifen. Darüber hinaus ist danach zu fragen, unter welchen Voraussetzungen die grundrechtlichen Freiheiten des Art. 28 Var. 2 GRC beschränkt werden können. Hierzu ist mit Rücksicht auf die in Art. 137 Abs. 5 EG geregelte Kompetenzverteilung zu ermitteln, was unter dem in Art. 28 GRC angesprochenen „Gemeinschaftsrecht“ und den „einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ zu verstehen ist. Vorab ist es allerdings notwendig zu klären, unter welchen rechtlichen Vorgaben und methodischen Prämissen das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen zu interpretieren ist. I. Die Grundsätze der Auslegung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen Die in Art. 28 Var. 2 GRC verwendeten Begrifflichkeiten weisen autonome und einheitliche Inhalte auf, die nicht von den mitgliedstaatlichen Verfassungsund Rechtsordnungen bestimmt werden.1 Für die Konkretisierung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen sind zunächst die in Art. 52 GRC enthaltenen Auslegungs- und Einschränkungsregeln heranzuziehen. 1. Die Auslegungsregeln des Art. 52 GRC In Art. 52 Abs. 2 GRC verweist die Grundrechtecharta für die Auslegung und Begrenzung bestimmter Chartarechte auf den EU- und den EG-Vertrag und nimmt in Art. 52 Abs. 3 GRC auf die Europäische Menschenrechtskonvention Bezug. Beide Regelungen gehen als leges speciales der allgemeinen SchrankenSchranke aus Art. 52 Abs. 1 GRC vor.2
1
§ 2 IV. 3. b) bb) (1). Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 463, 473. A. A.: Jarass (in: EU-Grundrechte, § 6, Rn. 33) und wohl auch Eisner (in: Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, S. 150 ff.), die Art. 52 Abs. 3 GRC und Art. 52 Abs. 1 GRC kumulativ anwenden möchten. Richtigerweise kommt die allgemeine Schrankenregelung der Grundrechtecharta aber gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRC lediglich dann (subsidiär) zur Anwendung, wenn sie an die Einschränkung eines Gemeinschaftsgrundrechts höhere Voraussetzungen stellt als die EMRK an ein entsprechendes Konventionsrecht. Gegen die kumulative Anwendung von Art. 52 Abs. 2 GRC und Art. 52 Abs. 1 GRC, die von Danwitz (in: Tettinger/Stern, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 30) befürwortet, spricht, dass die in den Europäischen Verträgen vorgesehenen Bedingungen und Grenzen der betreffenden Grundrechte konterkariert würden, wenn diese Rechte nur unter den zustätzlichen Voraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRC beschränkt werden könnten. 2
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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a) Art. 52 Abs. 2 GRC: Art. 28 Var. 2 GRC als in den Verträgen begründetes Recht Nach Art. 52 Abs. 2 GRC erfolgt die Ausübung der durch die Charta anerkannten Rechte, die im EU- oder im EG-Vertrag begründet sind, im Rahmen der dort festgelegten Bedingungen und Grenzen.3 Den Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtskonvents zu Art. 52 GRC ist zu entnehmen, dass die Ausübung eines Rechts, das sich aus den europäischen Verträgen ergibt, den darin festgelegten Bedingungen und Grenzen unterworfen bleiben soll und mit der Charta die durch die Verträge gewährten Rechte nicht geändert werden.4 Als Kongruenzsicherungsklausel setzt Art. 52 Abs. 2 GRC tatbestandlich voraus, dass einem Chartarecht eine subjektive Rechtsposition in einem der europäischen Verträge entspricht. Eine wörtliche Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Rechtsgrundlagen ist hierfür allerdings nicht erforderlich.5 Hinsichtlich des Rechts auf kollektive Maßnahmen enthält weder der EUnoch der EG-Vertrag eine andere Aussage, als die des Art. 137 Abs. 5 EG, wonach Art. 137 EG keine Gemeinschaftskompetenz für das Streik- und Aussperrungsrecht begründet. Eine Rechtsgrundlage für ein subjektives Recht auf kollektive Maßnahmen lässt sich der Kompetenzvorschrift nicht entnehmen. Damit enthält im Ergebnis keiner der beiden Verträge ein Recht auf kollektive Maßnahmen, so dass die Bestimmung des Art. 52 Abs. 2 GRC keine Anwendung auf Art. 28 Var. 2 GRC findet.6 b) Art. 52 Abs. 3 GRC: Art. 28 Var. 2 GRC als Art. 11 Abs. 1 EMRK entsprechendes Recht Art. 52 Abs. 3 GRC beinhaltet ebenfalls eine Kongruenzsicherungsklausel. Soweit die Grundrechtecharta ein Recht enthält, das einem von der EMRK garantierten Recht entspricht, hat es nach dieser Chartabestimmung die gleiche Bedeutung und Tragweite wie das Konventionsrecht.
3
Vgl. dazu: Dorf, JZ 2005, S. 126 (128). CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 48. 5 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 463. Wird ein Grundrechtsinhalt im EU-Vertrag oder im EG-Vertrag hingegen nur objektiv-rechtlich behandelt, so dass Dritte aus der Regelung keine eigenen Rechte herleiten können, bleibt Art. 52 Abs. 2 GRC unangewendet. 6 Vgl. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 384. 4
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
aa) Der Inhalts- und Schrankentransfer gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC Mit Art. 52 Abs. 3 GRC wollte der Grundrechtskonvent Divergenzen zwischen dem europäischen Grundrechtsschutz der EMRK und dem Grundrechtsschutz der Gemeinschaft möglichst vermeiden und die dazu notwendige Kohärenz zwischen der Charta und der EMRK herstellen.7 Im Rahmen des Mandats von Köln konnte der Grundrechtskonvent die Etablierung zweier voneinander unabhängiger Grundrechtssysteme in Europa aber nicht durch den seit mehr als einem Jahrzehnt diskutierten Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK vermeiden. Deswegen entschied sich der Konvent dafür, den Grundrechtsschutz der Gemeinschaft mit der Bestimmung des Art. 52 Abs. 3 GRC an die Konvention zu koppeln.8 Da der Grundrechtskatalog der Charta ganz erheblich über die in der EMRK geschützten Rechte hinausgeht, soll die Chartabestimmung dafür sorgen, dass jedenfalls diejenigen Chartarechte, die Konventionsrechten „entsprechen“, das von der Konvention garantierte Schutzniveau nicht unterschreiten. Da in diesem Zusammenhang nicht nur die EMRK als solche, sondern auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu beachten ist,9 kommt es über Art. 52 Abs. 3 GRC zu einem dynamischen Inhalts- und Schrankentransfer von den Konventionsrechten auf die ihnen entsprechenden Chartagrundrechte.10 Die Schutzbereichsbestimmungen bestimmter Konventionsrechte bzw. bestimmte in der EMRK vorgesehene Grundrechtsschranken gelten demnach wegen Art. 52 Abs. 3 GRC für die entsprechenden Grundrechte in der Charta.11 7 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 48; Tettinger/Stern – von Danwitz/Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 4. 8 Goldsmith, CML Rev 2001, S. 1201 (1210 f.). 9 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 48. 10 Meyer – Borowsky, GRC, Art. 52, Rn. 37. 11 Wegen Art. 52 Abs. 3 GRC ergeben sich die Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte daher nicht nur aus der Grundrechtecharta selbst, sondern zum Teil auch aus der EMRK. Wegen des hohen Abstraktionsgrades des Inhalts- und Schrankentransfers ist die Grundrechtecharta im Schrifttum zuweilen auf Kritik gestoßen; vgl. Pache, EuR 2001, S. 475 (489 f.); Schmitz, JZ 2001, S. 833 (839); Triantafyllou, CML Rev 2002, S. 53 (58). In der Tat ist es nicht leicht verständlich, dass beispielsweise in das Gemeinschaftsgrundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nur eingegriffen werden darf, soweit dies gesetzlich vorgesehen und zum Schutz der Moral in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Das ergibt sich daraus, dass Art. 7 GRC dem Art. 8 EMRK entspricht und deswegen über Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC die in Art. 8 Abs. 2 EMRK enthaltenen Schranken auf das Gemeinschaftsgrundrecht anzuwenden sind; vgl. CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 49; ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 457. Dennoch ist das Konzept des Inhalts- und Schrankentransfers trotz aller Kritik an der in der Tat wenig transparenten Regelung in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC in der Sache konsequent, weil damit Rechtsprechungsdivergenzen zwischen dem EGMR und dem EuGH weitestgehend vermieden werden, ohne dass der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsschutz seine Eigenständigkeit verlöre. Zugleich
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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Das zentrale Problem des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC ist die Frage, ob es zu einem Transfer von Grundrechtsschranken von der EMRK auf die entsprechenden Chartarechte auch dann kommt, wenn die Konvention an eine Schranke niedrigere Anforderungen stellt als Art. 52 Abs. 1 GRC, oder ob in diesem Fall die allgemeine Schrankenregelung der Charta subsidiäre Anwendung findet.12 Nach einer im Schrifttum vertretenen Auffassung soll Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC wegen seines englischen und französischen Wortlauts so auszulegen sein, dass er eine „deckungsgleiche“ Auslegung der Chartarechte mit den Konventionsrechten gebiete.13 Darin werden statt des deutschen Wortes „gleich“ die Begriffe „the same“ bzw. „les mêmes“ verwendet. In der Folge sollen nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC die konventionsrechtlichen Schrankenregelungen auch dann auf die betreffenden Chartarechte anzuwenden sein, wenn sie im Vergleich zu Art. 52 Abs. 1 GRC geringere Voraussetzungen an die Grundrechtseinschränkung stellen. Ob aber zwischen den verschiedenen Wortlauten des Art. 52 Abs. 3 GRC Satz 1 GRC tatsächlich ein Unterschied besteht, ist bereits zweifelhaft, weil jedenfalls der englische Begriff „the same“ mit dem Wort „gleich“ ins Deutsche übersetzt werden kann.14 Warum es gleichbedeutend mit „deckungsgleich“ übersetzt werden soll, ist nicht ersichtlich. Zudem steht die Folge, dass der Schrankentransfer das Schutzniveau der Charta abzusenken vermag, im Widerspruch zu Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRC. Aus dieser Bestimmung geht hervor, dass der höhere Grundrechtsschutz der Charta nach Art. 52 Abs. 1 GRC bestehen bleibt, wenn die nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC aus der Konvention zu übertragenden Schranken weitergehende Eingriffe zulassen als Art. 52 Abs. 1 GRC.15 Schließlich liegt der Zweck des Art. 52 Abs. 3 GRC darin, ein Absinken des Grundrechtsschutzes unter das Niveau der EMRK zu verhindern. Daraus lässt sich folgern, dass die Bestimmungen der EMRK einen Mindeststandard für den gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz darstellen, ohne diesen abzusenken.16 trägt Art. 52 Abs. 3 GRC dem in Art. 6 Abs. 2 EU verbindlich vorgeschriebenen Gebot zur Achtung der Konventionsrechte Rechnung. 12 Vgl. Ehlers – Calliess, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20, Rn. 17 (m.w. N.). 13 Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 314; Schmitz, JZ 2001, S. 833 (839). 14 Romain/Bader/Byrd, Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache, Teil I, 5. Aufl., 2000, S. 722. 15 Jarass, EU-Grundrechte, § 2, Rn. 19 f.; Vitorino, Revue de Droit de l’Union Européenne 2000, S. 499 (505 f.); Mantl/Puntscher-Riekmann/Schweitzer – Vranes, Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union, S. 57 (65). Da die Grundrechtecharta in der Auffangnorm des Art. 52 Abs. 1 GRC die Mindestvoraussetzungen für eine Grundrechtsbeschränkung festlegt, verfängt auch nicht das weitere von Schmitz (in: JZ 2001, S. 833, 839) vorgebrachte Argument, dass die Charta den in Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRC verheißenen Schutz nicht gewähre. 16 Tettinger/Stern – von Danwitz, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 62; Rengeling/ Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 469.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
bb) Die Voraussetzungen einer Entsprechung im Sinne des Art. 52 Abs. 3 GRC Weitgehend ungeklärt ist allerdings die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Chartarecht einem Konventionsrecht im Sinne des Art. 52 Abs. 3 GRC entspricht. In dieser Hinsicht besteht lediglich Klarheit darüber, dass eine Anwendung des Art. 52 Abs. 3 GRC zum einen nicht ausgeschlossen ist, wenn das betreffende Chartarecht über die Gewährleistungen in der EMRK hinausgeht. Das geht aus dem Wort „soweit“ hervor, mit dem Art. 53 Abs. 3 Satz 1 GRC beginnt. In diesem Fall kann es immer noch zu einer parallelen Auslegung des Gemeinschaftsgrundrechts und des Konventionsrechts in einem sich überschneidenden Teilbereich beider Rechte kommen.17 Zum anderen ist klar, dass bei der Frage nach einer Entsprechung im Sinne des Art. 52 Abs. 3 GRC nicht auf die „Bedeutung und Tragweite“ der jeweiligen Grundrechte abgestellt werden darf, weil die Übertragung der „Bedeutung und Tragweite“ die in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC vorgesehene Rechtsfolge einer Entsprechung ist.18 Einen übereinstimmenden Wortlaut des Chartarechts und des Konventionsrechts wird man ebenfalls nicht verlangen können.19 Obwohl eine Wortlautentsprechung ein trennscharfes Abgrenzungsmerkmal böte, hat sich dieses Kriterium im Grundrechtskonvent gerade nicht durchsetzen können.20 Zudem würden die von Art. 52 Abs. 3 GRC gestellten Anforderungen an einen Inhalts- und Schrankentransfer überspannt, wenn man hierfür identische Wortlaute in der Charta und der Konvention voraussetzen würde.21 In der Literatur ist für eine Entsprechung daher zu Recht gefordert worden, dass die zu vergleichenden Rechte für eine Entsprechung im Sinne des Art. 53 Abs. 3 GRC einen „identischen Regelungsbereich“22 bzw. einen „übereinstimmenden Schutzbereich“23 aufweisen müssen.24 Diesen Schluss legen die Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtskonvents (CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 48; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 456) zu Art. 52 Abs. 3 GRC nahe. Darin wird davon ausgegangen, dass der jeweilige Gesetzgeber bei der Einschränkung von Chartarechten, die einem Schrankentransfer aus der EMRK unterliegen, die gleichen Normen „einhalten“ müsse, die dafür in der EMRK vorgesehen sind. Deswegen ist anzunehmen, dass das Präsidium nicht von einer Absenkung des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes aufgrund der Regelung in Art. 52 Abs. 3 GRC ausgegangen ist; ebenso: Jarass, EUGrundrechte, § 6, Rn. 34. 17 Meyer – Borowsky, GRC, Art. 52, Rn. 33. 18 Meyer – Borowsky, GRC, Art. 52, Rn. 31; ebenso mit einer näheren Darstellung der Entstehungsgeschichte des Art. 52 Abs. 3 GRC: Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 329 f. 19 Tettinger/Stern – von Danwitz, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 53; a. A.: Ehlers – Calliess, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20, Rn. 17. 20 Vgl. auch Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 330. 21 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 468. 22 Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 1 (3).
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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cc) Vergleich der Schutzbereiche von Art. 11 EMRK und Art. 28 Var. 2 GRC Das einzige Konventionsrecht, das für einen Inhalts- oder Schrankentransfer auf das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen in Betracht kommt, ist das Konventionsrecht aus Art. 11 Abs. 1 EMRK. Bei einem Wortlautvergleich der beiden Bestimmungen würde man allerdings in der Tat eine Entsprechung der beiden Rechte für ausgeschlossen halten. Während Art. 28 Var. 2 GRC ausdrücklich ein Recht auf kollektive Maßnahmen gewährt, schützt Art. 11 Abs. 1 EMRK seinem Wortlaut nach lediglich die gewerkschaftliche Vereinigungsfreiheit als einen Unterfall der allgemeinen Vereinigungsfreiheit. Der EGMR hat jedoch insbesondere aus dem Umstand, dass der gewerkschaftliche Zusammenschluss der Verteidigung der beruflichen Interessen dienen soll, Art. 11 Abs. 1 EMRK ein Recht auf kollektive Maßnahmen entnommen.25 Die Anwendung des Art. 52 Abs. 3 GRC ist keineswegs wegen der unterschiedlichen Schwerpunkte der Grundrechtsgarantien in Art. 28 Var. 2 GRC und Art. 11 Abs. 1 EMRK ausgeschlossen, da es einer Anwendung des Art. 52 Abs. 3 GRC nicht entgegensteht, dass Art. 28 Var. 2 GRC über die Gewährleistungen des Art. 11 Abs. 1 EMRK hinausgeht. Im Grundrechtskonvent hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte trotz dessen Zurückhaltung, Art. 11 Abs. 1 EMRK ein explizites Streikrecht zu entnehmen, einen nicht unerheblichen Einfluss bei der Diskussion um die Aufnahme eines gemeinschaftlichen Streikrechts gehabt. Gegen eine solche Aufnahme ist insbesondere von den Abgeordneten Bowness (GB) und Goldsmith (GB) geltend gemacht worden, dass die Gemeinschaft im Bereich des Arbeitskampfrechts keine Zuständigkeit besitze.26 Diesen Einwand beantwortete der Konventsabgeordnete Braibant (F) mit dem Argument, dass der Streit über die Aufnahme des Streikrechts in die Grundrechtecharta ohnehin ein „Kampf ohne Gegenstand“ sei, weil es für alle Mitgliedstaaten der Gemeinschaft wegen Art. 11 EMRK rechtsverbindlich gelte.27 In den Erläuterungen zu Art. 28 GRC weist das Präsidium des Grundrechtskonvents zudem darauf hin, 23
Schmitz, JZ 2001, S. 833 (839). Vgl. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 306. Dies lässt sich beispielsweise für Art. 6 GRC und Art. 5 EMRK annehmen, die beide das Recht auf Freiheit und Sicherheit schützen. Weitere Beispiele bilden das Recht auf Privatsphäre, das sich sowohl in Art. 7 GRC als auch in Art. 8 EMRK findet, oder das Recht die Ehe zu schließen, das von Art. 9 GRC und Art. 12 EMRK geschützt wird. 25 § 1 III. 2. a) aa). 26 Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 12. 27 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 324; vgl. auch Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 13 sowie ferner Hepple, Industrial Law Journal 2001, S. 225 (227 f.). 24
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
dass der EGMR das Recht auf kollektive Maßnahmen als Bestandteil des gewerkschaftlichen Vereinigungsrechts aus Art. 11 EMRK anerkannt habe und Art. 28 Var. 2 GRC sich daher auf Art. 11 EMRK stütze.28 Vor diesem Hintergrund kann es nur überraschen, dass das Recht auf kollektive Maßnahmen nach Art. 28 Var. 2 GRC in den Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtskonvents zu Art. 52 GRC, in denen es die übereinstimmenden Charta- und Konventionsrechte aufgelistet hat, nicht als ein dem Art. 11 EMRK entsprechendes Grundrecht aufgeführt wird. Dort wird lediglich Art. 12 Abs. 1 GRC als ein dem Art. 11 EMRK entsprechendes Chartarecht eingeordnet.29 Gleichwohl ist die Aufzählung sich entsprechender Konventions- und Chartarechte des Präsidiums in den Erläuterungen zu Art. 52 GRC weder verbindlich30 noch abschließend31. Deswegen ist trotz der Erläuterungen des Konventspräsidiums zu Art. 52 GRC anzunehmen, dass sich Art. 28 Var. 2 GRC und Art. 11 EMRK im Sinne des Art. 52 Abs. 3 GRC partiell entsprechen, weil Art. 28 Var. 2 GRC gänzlich und Art. 11 Abs. 1 EMRK wenigstens teilweise den Schutz des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen zum Gegenstand hat.32 dd) Der Inhalts- und Schrankentransfer von Art. 11 EMRK auf Art. 28 Var. 2 GRC Deshalb darf die Gewährleistung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen in Art. 28 Var. 2 GRC nicht unter das Schutzniveau des Art. 11 EMRK fallen. Denjenigen Grundrechtsschutz, den das Konventionsrecht in Hinsicht auf kollektive Maßnahmen bietet, muss folglich auch Art. 28 Var. 2 GRC garantieren. Der konventionsrechtliche Schutz kollektiver Maßnahmen ist damit der grundrechtliche Mindeststandard für den gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz nach Art. 28 Var. 2 GRC. 28
CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 442. 29 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 49; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 458; vgl. auch Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 1. 30 Vgl. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 330; Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 1 (2); Streinz – Streinz, Art. 52 GRC, Rn. 4. Nach dem erklärten Willen des Konventspräsidiums (CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 1; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 424) haben die Erläuterungen keinen verbindlichen Charakter und auch nach Art. II-112 Abs. 7 EVV sollen die Erläuterungen zur Grundrechtecharta bei der Auslegung der Charta der Grundrechte lediglich gebührend berücksichtigt werden. 31 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 48; ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 456; Tettinger/Stern – von Danwitz, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 53. 32 A. A.: Jarass (in: EU-Grundrechte, § 29, Rn. 22), der ausschließlich Art. 52 Abs. 1 GRC anwenden möchte; anscheinend ebenso: Meyer – Borowsky, GRC, Art. 52, Rn. 13.
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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(1) Der Inhaltstransfer von Art. 11 Abs. 1 EMRK auf Art. 28 Var. 2 GRC In Bezug auf den Schutzbereich muss Art. 28 Var. 2 GRC demgemäß das Recht auf kollektive Maßnahmen mindestens in dem von Art. 11 Abs. 1 EMRK geschützten Umfang garantieren. Allerdings ist das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen in Hinblick auf den persönlichen und sachlichen Schutzbereich ohnehin konkreter und präziser, als es das Konventionsrecht nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 EMRK ist. Gleichwohl sind die Tatbestandsmerkmale des Art. 28 Var. 2 GRC wegen Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC so auszulegen, dass sie mindestens den in Art. 11 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Umfang haben. (2) Der Schrankentransfer von Art. 11 Abs. 2 EMRK auf Art. 28 Var. 2 GRC Weitaus komplizierter ist die Frage, inwieweit die in Art. 11 Abs. 2 EMRK genannten Schranken auf das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen angewendet werden können, da Art. 28 Var. 2 GRC unter dem speziellen Vorbehalt des Gemeinschaftsrechts und einzelstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten steht. Soweit die vorbehaltlose Grundrechtsschranke zugunsten nationaler Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten zur Anwendung kommt, geht sie als lex specialis jeglicher Regelung des Art. 52 GRC und damit auch dem Schrankentransfer aus Art. 11 Abs. 2 EMRK vor. Im Übrigen finden aber die Schranken-Schranken des Art. 52 GRC Anwendung, so dass insbesondere hinsichtlich der gemeinschaftsrechtlichen Beschränkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen in jedem Fall der Schrankentransfer von Art. 11 Abs. 2 EMRK auf Art. 28 Var. 2 GRC zu beachten ist. Ferner ergibt sich aus dem Schutzzweck des Art. 52 Abs. 3 GRC, dass die in Art. 11 Abs. 2 EMRK aufgeführten Einschränkungsmöglichkeiten nur insoweit Anwendung auf die Beschränkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen aus Art. 28 Var. 2 GRC finden, als sie höhere Anforderungen stellen als Art. 52 Abs. 1 GRC. Die allgemeine Regelung der Schranken-Schranken in der Charta nennt vier Voraussetzungen für die Einschränkung von Gemeinschaftsgrundrechten: den Gesetzesvorbehalt, die Wesensgehaltsgarantie, die Notwendigkeit des Eingriffs zur Verfolgung des Gemeinwohls oder zum Schutze der Rechte Dritter sowie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Demgegenüber lautet Art. 11 Abs. 2 EMRK: „1Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. 2Dieser Artikel steht rechtmäßigen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung nicht entgegen.“
Hinsichtlich des Gesetzesvorbehalts entspricht die Regelung in Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK wörtlich der Vorschrift des Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC, die beide verlangen, dass Einschränkungen des Rechts auf kollektive Maßnahmen gesetzlich vorgesehen sein müssen. In Bezug auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist zunächst festzustellen, dass Art. 11 Abs. 2 EMRK nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ebenfalls nur verhältnismäßige Eingriffe in die von Art. 11 Abs. 1 EMRK geschützten Konventionsrechte gestattet.33 Im Gegensatz zu Art. 52 Abs. 1 GRC, der insoweit jegliche dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen für eine Beschränkung der Chartarechte genügen lässt, spezifiziert Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK die zulässigen Ziele, die eine Einschränkung der Konventionsrechte aus Art. 11 Abs. 1 EMRK zu rechtfertigen vermögen.34 Insoweit stellt die EMRK also höhere Anforderungen als Art. 52 Abs. 1 GRC und verdrängt die allgemeine Regelung des Art. 52 Abs. 1 GRC. Die Einschränkung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen muss demnach in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral notwendig sein. Erfolgt die Grundrechtsbeschränkung hingegen zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, sind die Regelungen in Art. 51 Abs. 1 Satz 2 GRC und Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK wiederum identisch. Da Art. 11 Abs. 2 EMRK aber keine Wesensgehaltsgarantie enthält, bleibt es insoweit bei der Vorschrift des Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC.35 Schließlich ist noch die Frage zu beantworten, welchen Einfluss die Bestimmung des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK auf die Voraussetzungen einer Einschränkung des Art. 28 Var. 2 GRC für die Angehörigen der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung hat. Die vormals beim Europäischen Gerichtshof bestehende Kommission hat dazu ausgeführt, dass Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK Einschränkungen des Konventionsrechts aus Art. 11 Abs. 1 EMRK erlaubt, die nicht schon durch die Regelung des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK gerechtfertigt sind; die Einschränkungsmöglichkeiten nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK seien unabhängig von der in Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK genannten
33 EGMR, 13.8.1981, App. 7601/76, 7806/77, Rn. 63 (Young, James and Webster); (GrK) 29.4.1999, App. 25088/94, 28331/95, 28443/95, Rn. 112 (Chassagnou aO); vgl. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 23, Rn. 81. 34 Vgl. EGMR, 2.7.2002, App. 30668/96, 30671/96, 30678/96, Rn. 38 (Wilson aO). 35 Zur Wesensgehaltsgarantie siehe: EuGH, 10.12.2002, Rs. C-491/01, Rn. 152 f. (British American Tobacco); Tettinger/Stern – von Danwitz/Ladenburger, Köler GKGRC, Art. 52, Rn. 21; Jarass, EU-Grundrechte, § 6, Rn. 51; von Bogdandy – Kühling, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (624 f.).
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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Grundrechtsschranke.36 Da aber weder in Art. 28 Var. 2 GRC noch in Art. 52 Abs. 1 GRC eine spezielle Einschränkung des Rechts auf kollektive Maßnahmen für Staatsbedienstete vorgesehen ist, kann Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK jedenfalls nicht über Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC auf das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen übertragen werden. Insoweit bietet die Charta nach Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRC einen weitergehenden Schutz. Selbstverständlich kann aber die in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK zum Ausdruck kommende Wertung bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Grundrechtseinschränkung herangezogen werden. (3) Exkurs: Die Beschränkung von Grundrechten nach Art. 31 Abs. 1 ESC Da Art. 6 Abs. 2 EU trotz der vorgeschriebenen Berücksichtigung der EMRK als Rechtserkenntnisquelle für die Grundrechte der Gemeinschaft die Heranziehung weiterer völkerrechtlicher Verträge über den Schutz der Menschenrechte zulässt,37 sei ein kurzer Blick auf die Einschränkungsmöglichkeiten des Rechts auf kollektive Maßnahmen nach Art. 6 Nr. 4 ESC geworfen. Da die sozialen Grundrechte der ESC das Komplementärwerk zur EMRK darstellen38 und Art. 28 Var. 2 GRC nicht nur Art. 11 EMRK, sondern auch Art. 6 Nr. 4 ESC nachempfunden ist, können die Beschränkungsmöglichkeiten des Rechts auf kollektive Maßnahmen nach der Europäischen Sozialcharta ebenso wie die Grundrechtsschranke des Art. 11 EMRK bei der Beschränkung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen berücksichtigt werden. Insoweit findet zwar kein von Art. 52 Abs. 3 GRC vorgeschriebener Inhalts- und Schrankentransfer statt. Dennoch erscheint es naheliegend, den sozialen Grundrechten in der Grundrechtecharta dem Rechtsgedanken des Art. 52 Abs. 3 GRC folgend die gleiche Bedeutung und Tragweite zuzugestehen, die den entsprechenden Rechten in der ESC zukommt.39 Für die Beschränkung des Rechts auf kollektive Maßnahmen aus Art. 6 Nr. 4 ESC gilt die Schrankenregelung des Art. 31 Abs. 1 ESC, die folgenden Wortlaut hat: „Die in Teil I niedergelegten Rechte und Grundsätze dürfen nach ihrer Verwirklichung ebenso wie ihre in Teil II vorgesehene wirksame Ausübung anderen als den in diesen Teilen vorgesehenen Einschränkungen oder Begrenzungen nur unterliegen, wenn diese gesetzlich vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer oder zum Schutze der öffent36
EKMR, 20.1.1987, App. 11603/85 (Council of Civil Service Unions aO). Vgl. Grabitz/Hilf – Hilf/Schorkopf, Art. 6 EUV, Rn. 53. 38 Vgl. Rieble, RdA 2005, S. 200 (203). 39 Vgl. Hepple, Industrial Law Journal 2001, S. 225 (226); ablehnend hingegen: Rebhahn, GS-Heinze, S. 649 (652). 37
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
lichen Sicherheit und Ordnung, der Sicherheit des Staates, der Volksgesundheit und der Sittlichkeit notwendig sind.“
Im Gegensatz zu Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK lässt sich lediglich die Einschränkung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen zur Verhütung von Straftaten im Wortlaut von Art. 31 Abs. 1 ESC nicht wiederfinden. Ansonsten ist sie mit der Konventionsbestimmung identisch. Daraus folgt, dass man zu dem Ergebnis des Schrankentransfers von Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK auf Art. 28 Var. 2 GRC auch dann kommt, wenn man stattdessen die allgemeine Vorschrift der Grundrechtecharta in Art. 52 Abs. 1 GRC im Lichte des Art. 31 Abs. 1 ESC auslegt. 2. Die Anwendung der allgemeinen juristischen Auslegungsmethoden Des Weiteren versteht es sich von selbst, dass für die Auslegung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen die allgemeinen juristischen Auslegungsmethoden Anwendung finden, wie sie für die Interpretation des europäischen Rechts anerkannt sind. Zu diesen Methoden zählt die vom Europäischen Gerichtshof und vom Europäischen Gericht Erster Instanz anerkannte Auslegung europarechtlicher Normen anhand ihres Wortlauts,40 ihres systematischen Zusammenhangs,41 ihrer Entstehungsgeschichte42 und ihres jeweiligen Zwecks43. a) Zur historischen Auslegung des Art. 28 Var. 2 GRC Die historische Auslegung einer Norm beschränkt sich nicht nur auf die Auswertung ihrer Entstehungsgeschichte, sondern hat zudem die vom jeweiligen Normgeber vorgefundene Rechtslage und den historischen Kontext zu beachten, an den bei der Formulierung der Norm angeknüpft wurde. Nur in diesem Zusammenhang lassen sich die in einer Bestimmung verwendeten Begrifflichkeiten erschließen.44 Aus diesem Grund sind für die Auslegung des Art. 28 Var. 2 GRC neben der Entstehungsgeschichte im Grundrechtskonvent und den Erläuterungen des Konventspräsidiums, die Art. 11 EMRK, Art. 6 Nr. 4 ESC und die
40 EuGH, 24.2.2005, Rs. C-300/02, Rn. 75 (Griechenland/Kommission); 26.5.2005, Rs. C-498/03, Rn. 34 (Kingscrest Associates). 41 EuG, 25.3.1999, T-102/96, Rn. 148 (Gencor); 3.7.2003, Rs. T-224/00, Rn. 125 (Midland); vgl. EuGH, 2.12.1999, C-176/98, Rn. 24 (Holst Italia). 42 EuGH, Rs. 158/80, Slg. 1981, 1805, Rn. 13 (Rewe); Rs. 246/60, Slg. 1981, 2311, Rn. 23 (Broeckmeulen); 23.10.2003, Rs. C-245/01, Rn. 97 (RTL). 43 EuGH, 7.12.1995, Rs. C-449/93, Slg. 1995, I-4291, Rn. 28 (Rockfon); 17.12. 1998, Rs. C-236/97, Rn. 28 (Codan); 13.4.2000, Rs. C-420/98, Rn. 21 (WN); 9.1. 2003, Rs. C-257/00, Rn. 37 (Givane). 44 Vgl. Gast, Juristische Rhetorik, Rn. 229; Müller, Juristische Methodik, S. 247.
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
143
Art. 11–13 EG-SC zu berücksichtigen, aus denen der Grundrechtskonvent Art. 28 Var. 2 GRC hergeleitet hat.45 b) Zum Zweck des Art. 28 Var. 2 GRC In einem neueren Urteil hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass der in der Richtlinie 80/987/EWG46 verwendete Begriff des Arbeitsverhältnisses unter besonderer Berücksichtigung des sozialen Zwecks der betreffenden Richtlinie auszulegen ist.47 Dementsprechend sind soziale Grundrechte und auch das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen ihrem jeweiligen sozialen Zweck entsprechend zu interpretieren.48 Damit ist die Frage danach aufgeworfen, welchem Zweck das Recht auf kollektive Maßnahmen in Art. 28 Var. 2 GRC dient. Die Zweckrichtung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen kann dabei nicht aus den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gewonnen werden, sondern muss aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften der Grundrechtecharta und den Europäischen Verträgen mithin aus der eigenständigen Gemeinschaftsrechtsordnung49 erschlossen werden. aa) Die Wirtschaftsverfassung in der Europäischen Gemeinschaft Ausgangspunkt für die Frage nach dem Zweck des Art. 28 Var. 2 GRC ist die in der Gemeinschaft bestehende Wirtschaftsverfassung, die sich vor allem aus vereinzelten Bestimmungen in den europäischen Verträgen, die eine wirtschaftspolitische Konzeption der Gemeinschaft erkennen lassen, sowie den Gemeinschaftsgrundrechten ableiten lässt.50 Art. 2 EU legt für die Union das Ziel des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts insbesondere durch die Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes sowie der Wirtschafts- und Währungsunion fest. Dieses Ziel wird mit der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Aussage des Art. 4 Abs. 1 und 2 EG inhaltlich 45 So bereits im Konventsdokument CHARTE 4192/00, CONVENT 18, 27.3.2000, S. 2; ebenso: CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; vgl. auch ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 442; Fischer, Konvent, S. 219; Streinz – Streinz, Art. 28 GRC, Rn. 1. 46 Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20.10.1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. Nr. L 283, 28.10.1980, S. 23 ff.). 47 EuGH, 15.3.2003, Rs. C-160/01, Rn. 42 (Mau). 48 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 1003. 49 Vgl. EuGH, 14.10.2004, Rs. C-36/02, Rn. 34 (Omega Spielhallen); 14.7.2005, Rs. C-433/03, Rn. 42 (Kommission/Deutschland). 50 Nicolaysen, EuR 2003, S. 719 (742); Rengeling, DVBl. 2004, S. 453 (456); Busek/Humer – Weber, Etappen auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, S. 55 (60 f.).
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
ausgefüllt, der die Verpflichtung der Gemeinschaft auf den Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb enthält.51 Das gilt für die Mitgliedstaaten nach Art. 98 EG ebenso wie für die Gemeinschaft selbst.52 Mit dem Bekenntnis zur Marktwirtschaft schließt der Gemeinschaftsvertrag die Einführung einer Zentral- oder Planwirtschaft aus53 und setzt zugleich eine Wirtschaftsordnung voraus, die auf der individuellen Handlungsfreiheit der privaten Rechtssubjekte gründet.54 Das folgt auch aus dem Bekenntnis des EG-Vertrages zum Wettbewerb. Denn nach dieser ebenfalls in Art. 4 EG enthaltenen Aussage soll das Wirtschaftsgeschehen in der Gemeinschaft grundsätzlich nicht hoheitlich geregelt, sondern vom Wettbewerb der privaten Rechtssubjekte untereinander und nur ausnahmsweise durch staatliche oder gemeinschaftliche Intervention organisiert werden.55 Die Wirtschaftssteuerung durch dezentralen Wettbewerb zwischen Privaten setzt ebenso wie der Grundsatz der Marktwirtschaft die grundsätzlich unbeschränkte Handlungsfreiheit der einzelnen Wirtschaftssubjekte voraus.56 Maßgeblicher Teil der individuellen Handlungsfreiheit, die sich also aus beiden Gesichtspunkten der „wettbewerbsverfassten Marktwirtschaft“ in der Gemeinschaft ableiten lässt, ist die Vertragsfreiheit, die der EuGH für die Gemeinschaftsebene bereits ausdrücklich sowohl als objektiven Rechtssatz als auch als subjektives Recht anerkannt hat.57 Für den Bereich des Arbeitsrechts folgt das Prinzip der Vertragsfreiheit zudem aus den gemeinschaftlichen Grundrechtsgarantien, die sich ihrerseits in der Grundrechtecharta und namentlich in Art. 15
51
Vgl. EuGH, 3.10.2000, Rs. C-9/99, Rn. 25 (Échirolles). Exkurs zum Europäischen Verfassungsvertrag: Im Gegensatz zum EG-Vertrag wird die Union nach dem Europäischen Verfassungsvertrag in Art. I-3 Abs. 3 EVV auf das Ziel einer „im hohen Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft“ ausgerichtet. Gleichwohl hat der Inhalt von Art. 4, 98 EG Eingang in die Art. III-69 Abs. 1 und III-70 EVV gefunden, so dass die Union nach dem Europäischen Verfassungsvertrag zur Gewährleistung einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet bleibt. Unbeschadet dieser Divergenz zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der Europäischen Verfassung bleibt es unter der Geltung des Art. I-3 Abs. 3 EVV bei der privatautonomen Gestaltung der Wirtschaftsverhältnisse durch Private und deren Wettbewerb untereinander; vgl. zu den wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft: Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 209. 53 Schwarze – Hatje, Art. 4 EG, Rn. 9; Müller-Graff, EuR 1997, S. 433 (440). 54 Streinz – Kempen, Art. 4 EG, Rn. 13; von der Groeben/Schwarze – Wittelsberger, Art. 98 EG, Rn. 6. 55 Schwarze – Hatje, Art. 4 EG, Rn. 9; Müller-Graff, EuR 1997, S. 433 (441). 56 Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 223; von der Groeben/Schwarze – Wittelsberger, Art. 98 EG, Rn. 6; vgl. Isensee/Kirchhof – Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 115, Rn. 156. 57 EuGH, 21.1.1999, verb. Rs. C-215/96, C-216/96, Rn. 46 (Carlo Bagnasco); 5.10.1999, Rs. C-240/97, Rn. 99 (Spanien/Kommission). 52
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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sowie Art. 16 GRC niedergeschlagen haben. Für die Seite der Arbeitnehmer ergibt sich aus der Berufsfreiheit des Art. 15 GRC das Recht, beim Abschluss eines Arbeitsvertrages den Arbeitgeber frei wählen zu können,58 und der sich anschließenden ebenfalls grundrechtlich geschützten Freiheit, sich als Arbeitnehmer zu betätigen.59 Für den Arbeitgeber enthält Art. 16 GRC eine entsprechende Garantie der Arbeitsvertragsfreiheit.60 Damit stellt sich das Arbeitsvertragsverhältnis sowohl für den Arbeitgeber als auch für den Arbeitnehmer als Teil ihrer grundrechtlich geschützten Vertragsautonomie dar. bb) Das „Machtgefälle“ im Arbeitsvertragsrecht Aus der individuellen Perspektive folgt daraus, dass der Einzelne seine materielle Existenzgrundlage grundsätzlich selbst zu erwirtschaften hat. Er ist gehalten, durch den Austausch wirtschaftlicher Leistungen unter Ausübung der gewährten Vertragsfreiheit, seine materiellen Bedürfnisse selbst zu befriedigen. Im Sinne einer so genannten Verfassungserwartung wird vom einzelnen Rechtssubjekt die Teilnahme am Marktgeschehen, die seiner Freiheit willen nicht erzwungen werden kann, unter wirtschaftsverfassungsrechtlichen Gesichtspunkten erwartet.61 Ein Blick in Art. 34 Abs. 3 GRC62 belegt diese Aussage, da den betreffenden Grundrechtsträgern erst dann ein Anspruch auf soziale Fürsorge zusteht, wenn sie selbst nicht (mehr) über ausreichende Mittel verfügen, die ihnen ein menschenwürdiges Dasein sichern. Dem arbeitsrechtlichen Austausch von Arbeitskraft gegen Entgelt stellt sich in dieser Hinsicht mit der Verhandlungsimparität der Arbeitsvertragsparteien ein besonderes Problem. Begegnen sich nämlich ansonsten beim Austausch von Wirtschaftsgütern Parteien mit gegenläufigen Interessen, können sie diese im Rahmen von Vertragsverhandlungen ausgleichen. Sofern jedes der beteiligten Rechtssubjekte in der Lage ist, seine Position wirksam geltend zu machen, lassen sich dabei interessengerechte und vertretbare Ergebnisse erzielen. Um zu einem angemessenen Interessenausgleich zu führen, setzt die individuelle Vertragsfreiheit jedoch ein annähernd ausgewogenes Kräfteverhältnis zwischen den 58 Vgl. EuGH, 10.7.1991, Rs. C-90/90, C-91/90, Slg. 1991, I-3617, Rn. 13 (Jean Neu); 16.12.1992, C-307/91, Slg. 1993, I-6835, Rn. 14 (Luxlait). 59 Meyer – Bernsdorff, GRC, Art. 15, Rn. 13. 60 Meyer – Bernsdorff, GRC, Art. 16, Rn. 12; J. Schwarze, EuZW 2001, S. 517 (518). 61 Zur Kategorie der Verfassungserwartung: Isensee/Kirchhof – Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 115, Rn. 222 ff. 62 Das sich aus Art. 34 Abs. 1 GRC ergebende Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit bezieht sich auf Ansprüche auf sozialversicherungsrechtliche Leistungen, für welche der betreffende Grundrechtsträger in seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer regelmäßig Beiträge geleistet hat (vgl. Meyer – Riedel, GRC, Art. 34, Rn. 16) und ist deswegen für den hier interessierenden Gesichtspunkt belanglos.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
Parteien voraus.63 Andernfalls setzt sich ausschließlich der wirtschaftlich Stärkere durch.64 Beim Austausch von Arbeitskraft gegen Entgelt begegnen sich nun aber zwei Vertragsparteien, zwischen denen ein ausgewogenes Kräfteverhältnis nicht besteht.65 Die tradierte und allgemeine Rechtsauffassung geht vielmehr von einem Machtgefälle zwischen den Arbeitsvertragsparteien zulasten des Arbeitnehmers aus. Neben der in aller Regel gegebenen wirtschaftlichen Abhängigkeit ist der Arbeitnehmer verpflichtet, fremdnützige Tätigkeit zu verrichten, und der Arbeitgeber bestimmt im Rahmen seiner Organisationskompetenz die Umstände, unter denen der Arbeitnehmer seine Leistung zu erbringen hat.66 Das Ungleichgewicht zwischen den Vertragsparteien macht es auf der Ebene des Arbeitsvertrages letztlich unmöglich, eine hinnehmbare Lösung des Interessengegensatzes zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu finden. cc) Die Kompensation der Imparität der Arbeitsvertragsparteien Innerhalb ihrer jeweiligen Zuständigkeiten müssen die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft die Störung des Gleichgewichts zwischen den Arbeitsvertragsparteien beseitigen, um die grundrechtlich geschützte Freiheit des Einzelnen wiederherzustellen.67 Das erste hierfür in Betracht kommende Mittel ist der gesetzliche Arbeitnehmerschutz. Mit der Schaffung gesetzlicher Vorschriften zum Schutz des Arbeitnehmers wird das Bestimmungsrecht des Arbeitgebers begrenzt und der Interessenkonflikt der Arbeitsvertragsparteien legislativ gelöst. In der Rechtsordnung der Gemeinschaft hat das Arbeitnehmerschutzrecht einen festen Platz eingenommen. So bestimmt etwa Art. 137 Abs. 1 EG, dass die Gemeinschaft für die Verbesserung der Sicherheit der Arbeitnehmer zuständig ist. Auf dieser Grund63
Vgl. BVerfGE 89, 214 (232 f.). Vgl. BVerfGE 89, 214 (232). 65 Vgl. statt aller: Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 3 (m.w. N.); kritisch hingegen: Zöllner, AcP 196 (1996), S. 1 (19 ff.). 66 In der deutschen Rechtsprechung ist das Ungleichgewicht zwischen den Arbeitsvertragsparteien längst anerkannt. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 77, 84, 116 f.; 84, 212, 229) ist der Auffassung, dass der Individualarbeitsvertrag ein unzureichendes Instrument zur Begründung eines angemessenen Vertragsverhältnisses ist und die einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss des Arbeitsvertrages der Seite der Arbeitgeber strukturell unterlegen sind. Das Bundesarbeitsgericht (BAGE 76, 155, 169) hat an seinem Standpunkt in dieser Frage ebenfalls keine Zweifel offen gelassen. Nach dessen Rechtsprechung ist das Individualarbeitsrecht durch die strukturelle Unterlegenheit des einzelnen Arbeitnehmers gegenüber dem einzelnen Arbeitgeber gekennzeichnet. 67 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 89, 214, 232 f.) sieht darin eine Hauptaufgabe des geltenden Zivilrechts. Pointiert drückt Lacordaire denselben Gedanken aus: „Entre le fort et le faible c’est la liberté qui opprime et la loi qui libère.“ (wiedergegeben bei: Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 5). 64
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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lage ist beispielsweise die Richtlinie 98/24/EG des Rates vom 7. April 1998 zum Schutz von Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch chemische Arbeitsstoffe bei der Arbeit68 ergangen. Mit dem in Art. 31 GRC enthaltenen Grundrecht der Arbeitnehmer auf angemessene Arbeitsbedingungen wird der gesetzliche Arbeitnehmerschutz der Gemeinschaft zudem grundrechtlich flankiert. Neben dem gesetzlichen Arbeitnehmerschutz dient das kollektive Arbeitsrecht dazu, die Machtüberlegenheit des Arbeitgebers zu begrenzen.69 Im Gegensatz zur Arbeitsleistung des einzelnen Arbeitnehmers ist der Arbeitgeber auf die Kooperation der Gesamtheit der bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer angewiesen, so dass die einzelnen Arbeitnehmer ihre strukturelle Unterlegenheit durch Zusammenschluss und einheitlichem Auftreten gegenüber dem Arbeitgeber überwinden können. Auf der Gemeinschaftsebene finden sich ebenfalls Bestimmungen zum kollektiven Arbeitsrecht. Die organisatorische Bündelung individueller Arbeitnehmerinteressen zu einem handlungsfähigen Kollektiv wird in Art. 12 Abs. 1 GRC grundrechtlich geschützt. Mit dieser grundrechtlichen Bestimmung gewährleistet die Gemeinschaft die Bildung derjenigen Arbeitnehmerorganisationen, die auf kollektiver Ebene die Interessen der Arbeitnehmer wahrnehmen sollen, und garantiert auf diese Weise das personelle Substrat für ein System kollektiver Arbeitsbeziehungen (auch) auf der Gemeinschaftsebene.70 Die konkrete Ausgestaltung dieses Systems findet sich sodann im vierten Kapitel der Grundrechtecharta. Dort begründet Art. 27 GRC das Recht der Arbeitnehmer oder ihrer Vertreter auf rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung im Unternehmen.71 Art. 28 GRC enthält mit dem Grundrecht auf Kollektivverhandlungen und dem Grundrecht auf Kollektivmaßnahmen zwei weitere kollektivrechtliche Gewährleistungen.72 Damit stellt das Gemeinschaftsrecht ein kollektivarbeitsrechtliches Instrumentarium für den Ausgleich des individuellen Verhandlungsungleichgewichts beim Abschluss und Vollzug eines Arbeitsvertrages bereit. Die kollektiven Rechte haben dementsprechend ebenfalls den Zweck, die Imparität der Arbeitsvertragsparteien auszugleichen. Demnach dient das Ge68
ABl. Nr. L 131, 5.5. 1998, S. 20 ff. Vgl. Münchener Handbuch – Richardi, § 241, Rn. 12. 70 Die gemeinschaftsrechtliche Vereinigungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GRC kann im Gegensatz zu Art. 11 Abs. 1 EMRK auch grenzüberschreitend auf der europäischen Ebene ausgeübt werden; CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 15; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 434. 71 Ob Art. 27 GRC neben seinem kollektiven noch einen individuellen Inhalt aufweist, ist umstritten. Für einen individuellen Gehalt: Meyer – Riedel, GRC, Art. 27, Rn. 29 (m.w. N.); anscheinend a. A.: Zachert, NZA 2001, S. 1041 (1045); vgl. zum Streitstand: Tettinger/Stern – Lang, Kölner GK-GRC, Art. 27, Rn. 11. 72 Unerheblich ist, dass die soeben genannten Rechte aus Art. 28 GRC den einzelnen Arbeitnehmern zustehen können. Der kollektive Inhalt dieser Grundrechte wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die einzelnen Arbeitnehmer die Träger des Rechts sein können. 69
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
meinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen nach Art. 28 Var. 2 GRC dazu, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer auf der kollektiven Ebene zu kompensieren, indem Arbeitnehmer oder ihre Organisationen das Recht erhalten, den Arbeitgeber bzw. die betreffenden Arbeitgeberorganisationen unter kollektiven Druck zu setzen.73 Der Interessengegensatz der Arbeitsvertragsparteien wird auf diese Weise auf die kollektive Ebene verlagert und soll dort konfrontativ aufgelöst werden. Diesem Zweck entsprechend ist das Gemeinschaftsgrundrecht aus Art. 28 Var. 2 GRC auszulegen. II. Der persönliche Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen Unter diesen methodischen Prämissen gilt es zunächst den persönlichen Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen und mithin die Begriffe „Arbeitnehmer“ und „Arbeitnehmerorganisation“ zu bestimmen. 1. Der Arbeitnehmerbegriff des Art. 28 Var. 2 GRC Nach dem Wortlaut des Art. 28 Var. 2 GRC ist unter einem Arbeitnehmer eine natürliche Person zu verstehen, die sich gegenüber einer anderen Person gegen Entlohnung zur Leistung bestimmter Dienste unter Aufgabe ihrer Selbständigkeit verpflichtet.74 Bei einer systematischen Betrachtung des Gemeinschaftsrechts zeigt sich, dass es keinen einheitlichen Arbeitnehmerbegriff aufweist, sondern das Wort „Arbeitnehmer“ in verschiedenen Zusammenhängen verwendet, ohne eine Bestimmung des Begriffes zu enthalten.75 Er findet sich zunächst in den Kompetenzvorschriften der Art. 136 ff. EG wieder, kann aber wegen der verschiedenen Normzwecke nicht auf das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen übertragen werden.76 Ganz anders verhält es sich hingegen mit Art. 39 EG.77 Im Bereich der gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerfreizügig73
Ebenso: Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 5. Vgl. Meyers Universallexikon, Band 1, 1981, S. 529. Das gleiche gilt für das englische Wort „worker“, vgl. Collins, English dictionary, 4. Aufl., 1998, S. 1756. 75 Hanau/Steinmeyer/Wank – Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 14, Rn. 1. 76 Vgl. Schwarze – Rebhahn, Art. 136 EGV, Rn. 18. Ohnehin hat der EuGH den Begriff des Arbeitnehmers im Sinne der sozialpolitischen Kompetenzvorschriften im EG-Vertrag bislang nicht näher konkretisiert; vgl. Schwarze – Rebhahn, Art. 136 EGV, Rn. 18. 77 Exkurs zum Europäischen Verfassungsvertrag: Obwohl Art. III-18 EVV, der innerhalb des Europäischen Verfassungsvertrages die Arbeitnehmerfreizügigkeit garantiert, nicht mit dem Wortlaut des Art. 39 EG identisch ist, liegt in der sprachlichen Umgestaltung keine Änderung in der Sache. Die neue Formulierung beruht allein auf dem Umstand, dass Art. 39 EG die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemein74
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keit ist der Begriff des Arbeitnehmers bereits seit langem Gegenstand der Rechtsprechung und der Diskussion im Schrifttum,78 so dass eine Übertragung des Begriffsinhalts auf die Auslegung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen in Betracht kommt und im Schrifttum auch schon vorgeschlagen worden ist.79 Auf den ersten Blick ist allerdings nicht recht ersichtlich, warum das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen hinsichtlich des Arbeitnehmerbegriffs mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit gleichgesetzt werden soll. Immerhin wirkt sich das Recht auf kollektive Maßnahmen in erster Linie zwischen den Arbeitsvertragsparteien bzw. den Arbeitskampfparteien aus und soll dort das Machtgefälle zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern ausgleichen, während sich die Arbeitnehmerfreizügigkeit zur Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes vor allem gegen die Mitgliedstaaten richtet.80 Ein ähnliches Verhältnis, wie es zwischen der Eigentumsfreiheit und der Warenverkehrsfreiheit besteht, die notwendigerweise ein nach Art. 17 GRC grundrechtlich geschütztes Verhalten voraussetzt,81 lässt sich zwischen Art. 28 Var. 2 GRC und Art. 39 EG nicht feststellen. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten zwischen der Arbeitnehmerfreizügigkeit und dem Grundrecht auf kollektive Maßnahmen, die über die gemeinsame Verwendung des Wortes Arbeitnehmer hinausgehend eine identische Auslegung des Begriffs rechtfertigen. Vor allem aus Art. 15 Abs. 2 GRC folgt, dass sich Art. 28 Var. 2 GRC und Art. 39 EG grundsätzlich an einen identischen Personenkreis richten. Mit Art. 15 Abs. 2 GRC ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach Art. 39 EG als Grundrecht in die Charta aufgenommen worden und gestattet es jedem Unionsbürger, in jedem Mitgliedstaat zu arbeiten.82 Da die Arbeitnehmerfreizügigkeit auf diese Weise Eingang in die Grundrechtecharta gefunden hat, ist es systematisch konsequent, den Arbeitnehmerbegriff in beiden Chartavorschriften übereinstimmend zu interpretieren.83
schaft gewährleistet. Die Gemeinschaft geht aber nach der Vorschrift in Art. IV-3 EVV in der Union auf. Daher wird die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach dem Verfassungsvertrag folgerichtig auf dem Gebiet der Europäischen Union garantiert; vgl. Schwarze – Roth, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 313 (319 f.). 78 Vgl. Schwarze – Rebhahn, Art. 136 EGV, Rn. 18. 79 Jarass, EU-Grundrechte, § 29, Rn. 3; Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 20 und Art. 27 GRC, Rn. 20; Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 7. 80 Vgl. Calliess/Ruffert – Brechmann, Art. 39 EGV, Rn. 1; Schulte, Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 25 (29). 81 Vgl. Frenz, EuR 2002, S. 603 (618). 82 Vgl. J. Schwarze, EuZW 2001, S. 517 (518 f.); Zachert, NZA 2001, S. 1041 (1044). 83 Exkurs zum Europäischen Verfassungsvertrag: Aus dem Europäischen Verfassungsvertrag ergibt sich die einheitliche Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs in Art. II88 EVV und Art. III-18 EVV zudem daraus, dass beide Vorschriften innerhalb der
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a) Der Arbeitnehmerbegriff in der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 39 EG In einer Reihe von Entscheidungen hat der EuGH zum Begriff des Arbeitnehmers im Sinne des Art. 39 EG Stellung genommen. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist Arbeitnehmer, wer eine tatsächliche und echte Tätigkeit im Lohnund Gehaltsverhältnis ausübt,84 wobei völlig untergeordnete oder unwesentliche Tätigkeiten außer Betracht bleiben.85 Erforderlich ist, dass es sich um eine Beschäftigung im Wirtschaftsleben handelt.86 Maßgeblich ist demnach, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.87 Eine Leistung ist dabei jede Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert, die auf eine gewisse Dauer angelegt ist; unter dem Begriff „Entgelt“ versteht der EuGH alle Arten von Gegenleistungen, denen im weitesten Sinne der Charakter einer Vergütung zukommt.88 Für den in Art. 28 Var. 2 GRC verwendeten Arbeitnehmerbegriff sind die Erbringung einer Arbeitsleistung und deren Vergütung als synallagmatische Hauptpflichten jedes Arbeitsverhältnisses schlechterdings konstitutiv, so dass die Übernahme dieser Merkmale ebenso unverzichtbar ist wie die vom EuGH vorgenommene Charakterisierung des Arbeitsverhältnisses als Dauerschuldverhältnis. Im Übrigen entspricht das Ergebnis des EuGH der Wortlautinterpretation des Arbeitnehmerbegriffs, so dass keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Übertragung der Begrifflichkeiten von Art. 39 EG auf das Gemeinschaftsgrundrecht aus Art. 28 Var. 2 GRC bestehen.89 Verfassung verwendet werden. Das verstärkt das systematische Argument für die identische Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs. 84 EuGH, 23.3.1982, Rs. 53/81, Slg. 1982, 1035, Rn. 17 (Levin); 31.5.1989, Rs. 344/87, Slg. 1989, 1621, Rn. 13 (Bettray); vgl. auch Art. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. Nr. L 257, 19.10.1968, S. 2 ff.). 85 EuGH, 23.3.1982, Rs. 53/81, Slg. 1982, 1035, Rn. 17 (Levin); 3.6.1986, Rs. 139/85, Slg. 1986, 1741, Rn. 14 (Kempf); 21.6.1988, Rs. 197/86, Slg. 1988, 3205, Rn. 21 (Brown); 26.2.1992, Rs. C-357/89, Slg. 1992, I-1027, Rn. 10 (Raulin); 26.2.1992, Rs. C-3/90, Slg. 1992, I-1071, Rn. 14 (Bernini); 27.6.1996, Rs. C-107/94, Slg. 1996, I-3089, Rn. 25 (Asscher). 86 EuGH, 23.3.1982, Rs. 53/81, Slg. 1982, 1035, Rn. 17 (Levin); 31.5.1989, Rs. 344/87, Slg. 1989, 1621, Rn. 13 (Bettray). 87 EuGH, 3.7.1986, Rs. C-71/93, Slg. 1986, 2121, Rn. 17 (Lawrie-Blum); 21.6. 1988, Rs. 197/86, Slg. 1988, 3205, Rn. 21 (Brown); 31.5.1989, Rs. 344/87, Slg. 1989, 1621, Rn. 12 (Bettray); 26.2.1992, Rs. C-357/89, Slg. 1992, I-1027, Rn. 10 (Raulin); 10.12.1991, Rs. C-179/90, Slg. 1991, 5889, Rn. 13 (Merci Convenzionali Porto Di Genova); 26.2.1992, Rs. C-3/90, Slg. 1992, I-1071, Rn. 14 (Bernini); 27.6.1996, Rs. C-107/94, Slg. 1996, I-3089, Rn. 26 (Asscher); 30.1.1997, Rs. C-340/94, Slg. 1997, I462, Rn. 26 (de Jaeck). 88 EuGH, 5.10.1988, Rs. 196/87, Slg. 1988, 6159, Rn. 11 f. (Steymann).
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b) Einzelfragen zum Arbeitnehmerbegriff des Art. 28 Var. 2 GRC Nachdem festzustellen gewesen ist, dass die Arbeitnehmerdefinition des EuGH zu Art. 39 EG in ihrem wesentlichen Inhalt Art. 28 Var. 2 GRC gerecht wird, besteht lediglich Anlass, einige Einzelfragen des Arbeitnehmerbegriffs im Sinne des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen zu klären. Das gilt insbesondere für die Frage nach der Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC auf öffentlich-rechtlich Beschäftigte und zum anderen für die Frage, ob die Arbeitnehmereigenschaft nach Art. 28 Var. 2 GRC die Unionsbürgerschaft voraussetzt. aa) Öffentlich-rechtliche Beschäftigungsverhältnisse Nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 39 EG setzt der Arbeitnehmerbegriff voraus, dass die Tätigkeit, die der Arbeitnehmer zu erbringen hat, rechtlich geschuldet ist. Diese Voraussetzung ist bei der Begründung der Dienstverpflichtung aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages sowohl in Bezug auf Art. 39 EG als auch auf Art. 28 Var. 2 GRC unproblematisch erfüllt. Nicht selbstverständlich ist hingegen die Annahme, dass es sich bei öffentlich-rechtlich beschäftigten Personen ebenfalls um Arbeitnehmer im Sinne des Art. 39 EG sowie des Art. 28 Var. 2 GRC handelt. Zur Arbeitnehmerfreizügigkeit hat der EuGH mehrfach entschieden, dass es für die Arbeitnehmereigenschaft nicht auf die Rechtsnatur der Grundlage ankommt, auf welcher die Dienstleistung erbracht wird; der Gerichtshof bezieht in den Arbeitnehmerbegriff alle öffentlich-rechtlich Beschäftigten und sogar Beamte ein.90 Dabei stützt sich der EuGH auf ein Argument, dass sich nicht ohne weiteres auf Art. 28 Var. 2 GRC übertragen lässt. Denn der Gerichtshof nimmt an, dass öffentlich-rechtlich beschäftigte Personen als Arbeitnehmer im Sinne des Art. 39 EG angesehen werden müssen, damit die Mitgliedstaaten nicht die 89 Verschiedentlich sind in der Literatur (vgl. von der Groeben/Schwarze – Högl, Art. 137 EG, Rn. 8; Schwarze – Rebhahn, Art. 136 EGV, Rn. 22) Einwände gegen das Merkmal der Weisungsbefugnis erhoben und eine bloß wirtschaftliche Abhängigkeit für die Arbeitnehmereigenschaft für ausreichend erachtet worden. Neben dem Umstand, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit ein kaum zu präzisierendes Merkmal darstellt und die Weisungsgebundenheit an das in vielen Mitgliedstaaten bekannte Merkmal der persönlichen Abhängigkeit anknüpft (Oetker/Preis – Runggaldier, EAS, B 2000, Rn. 20), ist es gerade die Fremdbestimmtheit der Dienstverpflichtung, die zu dem typischen Machtgefälle im Arbeitsverhältnis führt und damit den entscheidenden Gesichtspunkt für ein Recht auf kollektive Maßnahmen darstellt. Das spricht dafür, den Begriff des Arbeitnehmers nach Art. 28 Var. 2 GRC vom Bestehen eines Weisungsrechts abhängig zu machen. 90 EuGH, 12.2.1974, Rs. 152/73, Slg. 1974, 153, 162, Rn. 4 (Sotgiu); 3.7.1986, Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121, Rn. 26 (Lawrie-Blum); 16.6.1987, Rs. 225/85, Slg. 1987, 2625, Rn. 8 (Kommission/Italien).
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
Möglichkeit haben, den bei ihnen beschäftigten Personen durch Verbeamtung das Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit zu nehmen und dadurch die Einheit und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu beeinträchtigen.91 Weil aber die Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen zuständig sind,92 kann das so nicht für Art. 28 Var. 2 GRC gelten. Gleichwohl folgt aber aus dem Merkmal der öffentlichen Verwaltung in Art. 39 Abs. 4 EG, dass der in Art. 39 Abs. 1 EG verwendete Arbeitnehmerbegriff zunächst alle öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnisse erfasst. Art. 39 Abs. 4 EG nimmt hiervon die in der öffentlichen Verwaltung beschäftigten Personen aus. Der EuGH legt diese Bereichsausnahme eng aus und wendet sie nur auf Dienstnehmer an, die unmittelbar oder mittelbar an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse beteiligt und mit der Wahrnehmung solcher Aufgaben betraut sind, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlich-rechtlicher Körperschaften gerichtet sind.93 Wegen der parallelen Auslegung mit Art. 39 EG muss der Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC folglich ebenfalls alle öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnisse umfassen. Die Rechtsprechung des EuGH zur Anwendung der Grundrechte in öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnissen stützt dieses Ergebnis, weil der Gerichtshof die Grundrechte auch im Dienstverhältnis zwischen den europäischen Institutionen und den bei ihnen beschäftigten Personen anwendet.94 In den Beratungen zu Art. 31 GRC ist allerdings das Konventsmitglied Einem (A) anscheinend davon ausgegangen, dass Beamte – vor allem die bei der Gemeinschaft beschäftigten Beamten – keine Arbeitnehmer im Sinne der Grundrechtecharta seien.95 Er trat dafür ein, ihre Rechtsstellung und insbesondere ihr Streikrecht ausdrücklich in der Charta zu verankern.96 Demgegenüber 91 EuGH, 12.2.1974, Rs. 152/73, Slg. 1974, 153, Rn. 4 (Sotgiu); 3.7.1986, Rs. 66/ 85, Slg. 1986, 2121, Rn. 26 (Lawrie-Blum); 16.6.1987, Rs. 225/85, Slg. 1987, 2625, Rn. 8 (Kommission/Italien). 92 Siehe hierzu: § 2 IV. 3. d). 93 EuGH, 17.12.1980, Rs. 149/79, Slg. 1980, 3881, Rn. 10 (Kommission/Belgien); 3.6.1986, Rs. 307/84, Slg. 1986, 1725, Rn. 12 (Kommission/Frankreich); 3.7.1986, Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121, Rn. 27 (Lawrie-Blum); 2.7.1996, Rs. C-473/93, Slg. 1996, I-3207, Rn. 2 (Kommission/Luxemburg); 2.7.1996, Rs. C-173/94, Slg. 1996, I3265, Rn. 2 (Kommission/Belgien); 2.7.1996, Rs. C-290/94, Slg. 1996, I-3285, Rn. 2 (Kommisson/Griechenland). 94 EuGH, 13.12.1989, Rs. C-100/88, Slg. 1989, 4285, Rn. 16 (Oyowe und Traore); 16.12.1999, Rs. C-150/98 P, Rn. 12 (Wirtschafts- und Sozialausschuss/Europäisches Parlament). Einen Ausschluss der Grundrechtsgeltung in „besonderen Gewaltverhältnissen“, wie ihn das deutsche Recht bis zur so genannten Strafgefangenen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 33, 1) kannte, hat es im Gemeinschaftsrecht nie gegeben. 95 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 325.
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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ist der Konvent ausdrücklich und insbesondere zur Begründung seiner Kompetenz zur Regelung des Streikrechts davon ausgegangen, dass sich Art. 28 Var. 2 GRC auf die Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften bezieht.97 In der Folge wollte der Abgeordnete Hirsch Ballin (NL) hinsichtlich des Streikrechts eine Ausnahme für Beamte und Polizisten machen98 und auch der Abgeordnete Friedrich (EP; D) erinnerte daran, dass Beamte in Deutschland nicht streiken dürften.99 Daher ist anzunehmen, dass man im Grundrechtskonvent mehrheitlich davon ausging, dass öffentlich-rechtlich Bedienstete von Art. 28 Var. 2 GRC erfasst sind.100 Im Vergleich mit Art. 14 EG-SC ergibt sich ebenfalls, dass das Recht auf kollektive Maßnahmen aus Art. 13 EG-SC grundsätzlich auch für die Streitkräfte, die Polizei und den öffentlichen Dienst gelten soll, was für deren Einbeziehung in den Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC spricht. Zu Art. 6 Nr. 4 ESC ist zudem festzustellen, dass nach Art. 38 ESC nur der englische und französische Wortlaut der Bestimmung verbindlich ist und Konsens darüber besteht, dass das englische Wort „worker“ Beamte einschließt.101 Mithin umfasst der ebenfalls in der englischen Fassung des Art. 28 Var. 2 GRC verwendete Begriff „worker“ alle öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisse und damit auch Beamtenverhältnisse. Vor allem folgt die Einbeziehung öffentlich-rechtlich Beschäftigter aus dem Inhaltstransfer von Art. 11 Abs. 1 EMRK auf das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC. Denn zu Art. 11 Abs. 1 EMRK hat der EGMR entschieden, dass das Konventionsrecht den Staat unabhängig davon verpflichtet, ob seine Beziehung zu seinen Beamten dem öffentlichen oder dem privaten Recht unterliegt.102 Zudem folgt aus Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK ebenso wie aus der Ausnahmeregelung des Art. 39 Abs. 4 EG, dass öffentlich-rechtlich Beschäftigte in den persönlichen Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK fallen. Würde man sie hingegen nicht für von Art. 28 Var. 2 GRC geschützt halten, würde die Charta hinter
96 Dieser Vorschlag beruht aber möglicherweise darauf, dass der österreichische Abgeordnete einen Staat im Grundrechtskonvent vertreten hat, in dem Beamte nach dem nationalen Rechtsverständnis keine Arbeitnehmer sind und dementsprechend nicht streiken dürfen. 97 CHARTE 4192/00, CONVENT 18, 27.3.2000, S. 7. 98 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 372 f. 99 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 324. 100 Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 7. 101 ECSR, Digest of the Case Law, S. 36; Agnelli – Däubler, Die Europäische Sozialcharta, S. 103 (128); Harris, The European Social Charter, S. 78; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 45, Rn. 21 [Fn. 34]; Münchner Handbuch – Otto, § 285, Rn. 194. 102 EGMR, 6.2.1976, App. 5614/72, Rn. 37 (Swedish Engine Drivers’ Union); 6.2. 1976, App. 5589/72, Rn. 33 (Schmidt & Dahlström).
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
dem von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC geforderten Mindeststandard des in der Konvention vorgesehenen Grundrechtsschutzes zurückbleiben. bb) Die Unionsbürgerschaft als Voraussetzung des Rechts auf kollektive Maßnahmen Eine weitere Zweifelsfrage betrifft die Überlegung, ob der Arbeitnehmerbegriff des Art. 28 Var. 2 GRC voraussetzt, dass die betreffende Person nach Art. 17 EG Unionsbürger ist. Im Grundrechtskonvent vertraten die Abgeordneten Korthals Altes (NL), Friedrich (EP, D) und Brauneder (A) die Auffassung, dass es sich insgesamt bei den sozialen Grundrechten der Charta nur um Grundrechte der Unionsbürger handeln könne und die Gewährung von Rechten an jedermann die Ausnahme bleiben müsse.103 Demgegenüber machte insbesondere der Abgeordnete Voggenhuber (A) deutlich, dass lediglich die politischen Teilhaberechte an die Unionsbürgerschaft gebunden seien, und alle übrigen Gemeinschaftsgrundrechte Menschenrechte seien, die nicht von der Voraussetzung der Unionsbürgerschaft abhingen. Daher müsse Art. 28 Var. 2 GRC als ein Grundrecht angesehen werden, dass allen Arbeitnehmern ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit zustehe.104 Der Vertreter der Kommission im Grundrechtskonvent schloss sich den Ausführungen Voggenhubers an und betonte, dass die Kommission die Auffassung teile, dass Art. 28 Var. 2 GRC unabhängig von der Unionsbürgerschaft für alle Arbeitnehmer gelte, wie dies in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt sei.105 Dass die Unionsbürgerschaft eine Voraussetzung des in Art. 28 Var. 2 GRC verwendeten Arbeitnehmerbegriffs sein soll, widerspricht in der Tat der Systematik der Grundrechtecharta. Sämtliche Chartagrundrechte sind – von den Bürgerrechten im fünften Kapitel der Charta abgesehen – als Menschenrechte formuliert.106 Die Annahme, dass es sich bei den sozialen Grundrechten im vierten Kapitel ebenfalls um Unionsbürgerrechte handelt, ist demnach systemwidrig.107 Art. 28 Var. 2 GRC ist insbesondere eng mit Art. 12 Abs. 1 GRC verbunden und dort ist nicht von Unionsbürgern, sondern von Personen die Rede.108 Ferner ist das Arbeitnehmergrundrecht auf würdige Arbeitsbedingungen aus Art. 31 GRC wegen seines Zusammenhanges mit Art. 1 GRC unabhän103 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 212. 104 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 212. 105 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 213. 106 Vgl. Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 51, Rn. 2. 107 Vgl. KOM (2000) 559 endg., S. 8; Kenner, EU Employment Law, S. 519. 108 Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 7.
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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gig von der Staatsangehörigkeit zu beachten und muss deswegen als Menschenrecht angesehen werden, so dass für die übrigen Arbeitnehmergrundrechte nichts anderes gelten kann. Darüber hinaus garantiert Art. 15 Abs. 3 GRC Drittstaatsangehörigen, die im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu arbeiten berechtigt sind, Arbeitsbedingungen, die denen der Unionsbürger entsprechen. Das führt ebenfalls zu dem Schluss, dass sich EU-Ausländer im gleichen Umfang auf die Arbeitnehmergrundrechte berufen können wie die Unionsbürger.109 Schließlich spricht Art. 34 Abs. 2 GRC für dieses Ergebnis, weil das Recht auf soziale Sicherheit aus Art. 34 Abs. 2 GRC gerade dann thematisch einschlägig ist, wenn eine Person nach dem Verlust des Arbeitsplatzes die Eigenschaft Arbeitnehmer zu sein verloren hat.110 Wenn nun gerade dieses soziale Chartagrundrecht nach dem Wegfall des Arbeitsverhältnisses nicht auf die Unionsbürgerschaft, sondern auf einen rechtmäßigen Wohnsitz innerhalb der Union abstellt, ist anzunehmen, dass es dementsprechend auch während der Ausübung des Arbeitsverhältnisses nicht auf die Staatsangehörigkeit ankommt.111 cc) Tätigkeit im Wirtschaftsleben Schließlich geht der EuGH wegen der in Art. 2 EG bezeichneten Aufgabe der Gemeinschaft in ständiger Rechtsprechung zu Art. 39 EG davon aus, dass es sich bei der geschuldeten Arbeitsleistung um eine Tätigkeit handeln muss, die für das Wirtschaftsleben von Bedeutung ist.112 Obwohl das in der Vergangenheit in mehrfacher Hinsicht zu Abgrenzungsschwierigkeiten geführt hat, sind die mit diesem Merkmal in Zusammenhang stehenden Probleme für die Auslegung des Art. 28 Var. 2 GRC von untergeordneter Bedeutung. Die Einordnung von Berufssportlern113 und Angehörigen von Religionsgemeinschaften114 als Arbeitnehmern unterliegt jedenfalls aus der Perspektive des Art. 28 Var. 2 GRC keinen durchgreifenden Bedenken. Soweit der EuGH aus der besonderen Zweckrichtung der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht nur Praktikanten, Volontäre und Referendare115 sondern auch Studenten116 als Arbeitnehmer aner-
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Weiss, AuR 2001, S. 374 (377). Zweifelnd: Weiss, AuR 2001, S. 374 (377). 111 Im Ergebnis übereinstimmend: Jarass, EU-Grundrechte, § 29, Rn. 17. 112 EuGH, 23.3.1982, Rs. 53/81, Slg. 1982, 1035, Rn. 17 (Levin). 113 EuGH, 15.12.1995, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 69 ff. (Bosman). 114 EuGH, 5.10.1988, Rs. 196/87, Slg. 1988, 6159, 6173, Rn. 14 (Steymann); vgl. BAGE 64, 131 (136); Erfurter Kommentar – Preis, § 611 BGB, Rn. 165; Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, § 2, Rn. 18. 115 EuGH, 26.2.1992, Rs. C-3/90, Slg. 1992, I-1071, Rn. 16 (Bernini). Allerdings ist für die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC zu verlangen, dass eine Vergütung gezahlt wird, die als Gegenleistung der Tätigkeit anzusehen ist; vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 42, Rn. 36 ff. 110
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
kannt hat, ist lediglich die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC auf die zuletzt genannte Gruppe begrifflich ausgeschlossen. Damit ist im Ergebnis festzuhalten, dass der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC wie der bereits zu Art. 39 EG gebildete Begriff zu verstehen ist. Normzweckbedingte Einschränkungen sind – mit Ausnahme von Studenten – nicht erforderlich. 2. Der Begriff der Arbeitnehmerorganisation in Art. 28 Var. 2 GRC Ebenso wenig wie ein universeller Arbeitnehmerbegriff im europäischen Gemeinschaftsrecht existiert, gibt es eine Regelung dazu, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit eine gemäß Art. 28 Var. 2 GRC zum Ergreifen kollektiver Maßnahmen berechtigte Arbeitnehmerorganisation vorliegt. Nach der Bestimmung des Art. 137 Abs. 5 EG ist die Europäische Gemeinschaft zur Regelung des Koalitionsrechts ausdrücklich nicht befugt, so dass es an einer näheren Begriffsbildung zu diesem in Art. 28 Var. 2 GRC verwendeten Tatbestandsmerkmal fehlt.117 Aus dem Wortlaut des Art. 28 Var. 2 GRC ist zunächst nicht mehr zu schließen, als dass es sich um einen Zusammenschluss von Arbeitnehmern im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC handeln muss. a) Die Systematik der Grundrechtecharta Aus der Systematik der Grundrechtecharta lassen sich indes weitere Voraussetzungen für das Vorliegen einer Arbeitnehmerorganisation im Sinne des Art. 28 GRC gewinnen. Den ersten systematischen Ansatzpunkt bietet das ebenfalls den Arbeitnehmerorganisationen in Art. 28 Var. 1 GRC gewährte Grundrecht auf Kollektivverhandlungen. Daraus lässt sich schließen, dass die arbeitskampfberechtigten Arbeitnehmerorganisationen zugleich Träger des Rechts auf kollektive Verhandlungen sind und deswegen fähig sein müssen, Tarifverhandlungen zu führen und Tarifverträge abzuschließen. Diese Folgerung ist zwingend, da das Recht auf Kollektivverhandlungen über die Verknüpfung „sowie“ im Text des Art. 28 Var. 2 GRC mit dem Recht auf kollektive Maßnahmen verbunden ist. Das schließt es aus, dass einer Organisation nur eines der beiden Rechte aus Art. 28 GRC zusteht.118 Die Grundrechtecharta schützt zudem in Art. 12 Abs. 1 GRC das Recht jeder Person, sich mit anderen zusammenzuschließen und zum Schutz ihrer Interessen 116 EuGH, 21.6.1988, Rs. 39/86, Slg. 1988, 3161, Rn. 37 (Lair); 26.2.1992, Rs. C357/89, Slg. 1992, I-1027, Rn. 21 (Raulin). 117 Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 137 EGV, Rn. 11. 118 Zu den sich aus Art. 28 Var. 1 GRC ergebenden Voraussetzungen sogleich unter § 3 II. 2. b) und c).
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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„Gewerkschaften“ zu gründen und denselben beizutreten. Hieran fällt auf, dass Art. 12 Abs. 1 GRC abweichend von Art. 28 GRC nicht von „Arbeitnehmerorganisationen“, sondern von „Gewerkschaften“ spricht. Die sprachliche Differenzierung macht in der Sache dennoch keinen Unterschied, wie die gemeinsame Zweckrichtung von Art. 12 Abs. 1 GRC und Art. 28 Var. 2 GRC zeigt, die beide auf den Schutz der Arbeitnehmerinteressen ausgerichtet sind. Das belegt, dass Kollektivmaßnahmen ein besonderes Betätigungsmittel der nach Art. 12 Abs. 1 GRC gegründeten Gewerkschaften sind. Die Genese der beiden Chartarechte bestätigt die Richtigkeit dieser Annahme. Art. 12 Abs. 1 GRC und Art. 28 Var. 2 GRC finden beide ihren Ausgangspunkt in Art. 11 EMRK.119 Wegen des in Art. 52 Abs. 3 GRC angeordneten Inhalts- und Schrankentransfers hat Art. 12 Abs. 1 GRC dieselbe Bedeutung und Tragweite wie die konventionsrechtliche Vereinigungsfreiheit.120 Da die Vereinigungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GRC damit ebenso wie das Recht auf kollektive Maßnahmen nach Art. 28 Abs. 2 GRC auf die Vorschrift in Art. 11 EMRK zurückgeht und beide in Übereinstimmung mit Art. 11 EMRK auszulegen sind, spricht dies für die einheitliche Auslegung der Begriffe „Arbeitnehmerorganisation“ in Art. 28 GRC und „Gewerkschaft“ in Art. 12 Abs. 1 GRC. Noch im Präsidiumsentwurf vom 27. März 2000 wurden die beiden in der Charta verwendeten Begriffe in unterschiedlichen Absätzen einer einzigen Vorschrift synonym verwendet. Aus dieser Bestimmung geht hervor, dass jedenfalls das Recht auf kollektive Verhandlungen, den unter dem Schutz des Gemeinschaftsgrundrechts der Vereinigungsfreiheit gebildeten Arbeitnehmerorganisationen zustehen sollte.121 Der von Art. 12 Abs. 1 GRC abweichende Wortgebrauch in Art. 28 GRC ist daher 119 CHARTE 4192/00, CONVENT 18, 27.3.2000, S. 7; vgl. auch Zachert, NZA 2001, S. 1041 (1044); Kenner, EU Employment Law, S. 523. 120 Die Präsidien des Grundrechts- und des Verfassungskonvents (CHARTE 4473/ 00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 49; ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 457) haben zu Art. 12 Abs. 1 GRC (Art. II-72 Abs. 1 EVV) festgestellt, dass die Vorschrift im Sinne des Art. 52 Abs. 3 GRC (Art. II-112 Abs. 3 EVV) dem Konventionsrecht aus Art. 11 EMRK entspricht. 121 Die betreffende Bestimmung lautete: „Freedom of association, rights of collective bargaining and collective action 1. Employers and workers have the right to associate freely, including at European Union level, in order to form the professional or trade union organisations of their choice to defend their economic and social interests. Every employer and every worker has the right to join or not join these organisations, without this causing him any personal or professional harm. 2. Employers and employers’ organisations, on the one hand, and worker’s organisations, on the other hand, have the right, under the conditions laid down by national legislation and practice, to negotiate an conclude collective agreements, including at European Union level. 3. Workers and employers have the right in cases of conflicts of interest to take collective action at European Union level should the occasion arise, including the right to strike.“ CHARTE 4192/00, CONVENT 18, 27.3.2000, S. 5 – Hervorhebungen vom Verfasser.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
vermutlich allein darauf zurückzuführen, dass das Wort Gewerkschaft nur Arbeitnehmerorganisationen bezeichnet und Art. 28 GRC die in ihm enthaltenen Rechte auch den Organisationen der Arbeitgeber gewähren sollte. Arbeitnehmerorganisationen im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC sind somit ausschließlich die unter dem Schutz des Art. 12 Abs. 1 GRC gebildeten Gewerkschaften.122 Da das Gemeinschaftsgrundrecht der Vereinigungsfreiheit nur freiwillige Zusammenschlüsse von Arbeitnehmern schützt, bedeutet das, dass nur freiwillige Zusammenschlüsse von Arbeitnehmern als arbeitskampfberechtigte Arbeitnehmerorganisation in Frage kommen.123 b) Die Begriffsmerkmale einer Arbeitnehmerorganisation in sonstigen völker- und europarechtlichen Bestimmungen Wegen der in Art. 52 Abs. 3 GRC vorgesehenen parallelen Auslegung mit Art. 11 Abs. 1 EMRK hängt der Gewerkschaftsbegriff des Art. 12 Abs. 2 GRC von der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 EMRK ab. Das hat mittelbar Konsequenzen für den Begriff der Arbeitnehmerorganisation nach Art. 28 Var. 2 GRC, der sich seinerseits nach Art. 12 Abs. 1 GRC richtet. Soweit ersichtlich, ist der Judikatur des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 EMRK jedoch bislang noch keine Präzisierung des Gewerkschaftsbegriffes zu entnehmen. In der Literatur wird unter einer Gewerkschaft im Sinne des Art. 11 Abs. 1 EMRK jeder Zusammenschluss abhängig Beschäftigter zur Vertretung ihrer Interessen aus dem Beschäftigungsverhältnis verstanden.124 Konkretisiert der EGMR den in Art. 11 Abs. 1 EMRK verwendeten Gewerkschaftsbegriff in diesem Sinne, wäre dies unmittelbar für Art. 12 Abs. 1 GRC und mittelbar für Art. 28 Var. 2 GRC von Bedeutung. Für die Bildung des Begriffs der Arbeitnehmerorganisation ist zudem die Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte zu berücksichtigen.125 Dort wird das Wort „Organisation“ wiederum synonym mit dem Begriff der „Vereinigung“ benutzt und die Bildung von Arbeitnehmervereinigungen in Art. 11 EG122 Vgl. von der Groeben/Schwarze – Beutler, Art. 6 EU, Rn. 159; Jarass, EUGrundrechte, § 17, Rn. 16; vgl. zudem Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 13. 123 Man wird davon auszugehen haben, dass auch ein Zusammenschluss von Arbeitnehmerorganisationen eine (mittelbare) Arbeitnehmerorganisation im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC entstehen lässt. Das gegenteilige Ergebnis würde zu einem ungerechtfertigten Eingriff in die Vereinigungsfreiheit der Arbeitnehmer führen, weil kein sachlicher Grund dafür ersichtlich ist, eine Vereinigung von Arbeitnehmern anders zu behandeln als eine Vereinigung von Arbeitnehmerorganisationen. 124 Frowein/Peukert – Frowein, EMRK, Art. 11, Rn. 9; Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 211; vgl. auch Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 12, Rn. 9 (m.w. N.); offen gelassen bei: BVerfGE 58, 233 (254). 125 Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 21.
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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SC geschützt. Ihnen steht nach Art. 12 EG-SC das Recht auf Tarifvertragsverhandlungen zu. Ebenso wie Art. 12 Abs. 1 GRC verlangt die EG-SC damit einen freiwilligen Zusammenschluss von Arbeitnehmern.126 Enger als Art. 12 Abs. 1 GRC, der lediglich vom Schutz von Interessen spricht, verpflichtet Art. 11 EG-SC die Gewerkschaften hingegen zur Wahrnehmung „wirtschaftlicher und sozialer“ Interessen. Darin liegt eine zulässige Konkretisierung des in Art. 12 Abs. 1 GRC benutzten Interessenbegriffs, der auch für Art. 28 Var. 2 GRC von Bedeutung ist. Danach dürfen nur wirtschaftliche und soziale Interessen zulässigerweise mit den in Art. 28 Var. 2 GRC genannten kollektiven Maßnahmen verteidigt werden.127 In übereinstimmender Weise verlangt Art. 5 ESC, dass die Bildung einer Organisation dem Schutz ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen dienen muss. Eine allgemein-politische Betätigung von Gewerkschaften ist auch nach den Regelungen in der Grundrechtcharta nicht geschützt. Insofern trifft Art. 12 Abs. 2 GRC eine speziellere Regelung, die verdeutlicht, dass für die Vereinigungsfreiheit bei politischen Parteien besondere Voraussetzungen gelten. Das lässt darauf schließen, dass die Verfolgung politischer Interessen nicht Gegenstand einer Vereinigung nach Art. 12 Abs. 1 GRC sein kann. Aus diesem Blickwinkel ist die Einschränkung auf wirtschaftliche und soziale Interessen, die in einem zwischenzeitlichen Chartaentwurf für das Grundrecht des Art. 28 Var. 2 GRC noch ausdrücklich vorgesehen gewesen ist,128 gerechtfertigt.129 c) Die Voraussetzungen der Tarifvertragsfähigkeit nach der Rechtsprechung des EuGH Wie bereits gezeigt worden ist, ergibt sich unmittelbar aus Art. 28 GRC, dass die grundrechtsberechtigten Arbeitnehmerorganisationen in der Lage sein müssen, Tarifverträge zu schließen. Nur unter dieser Voraussetzung steht ihnen auch das Recht auf kollektive Maßnahmen zu. Allerdings sind die Voraussetzungen der „Tariffähigkeit“ im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC wiederum problematisch, weil es einerseits kein gemeinschaftliches Tarifvertragsrecht gibt, und sich diese Frage andererseits aber auch nicht nach dem Recht der Einzelstaaten richten kann. Aus der Perspektive des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen können in dieser Hinsicht folglich nur solche Vorgaben gemacht werden, die als Mindestanforderung jeglicher Tarifvertragsfähigkeit anzusehen und unabhängig von der Ausgestaltung des jeweiligen Tarifsystems zwingend erforderlich sind. 126 127 128 129
Jarass, EU-Grundrechte, § 17, Rn. 16. Vgl. Meyer – Bernsdorff, GRC, Art. 12, Rn. 17. CHARTE 4316/00, CONVENT 34, 16.5.2000, S. 3. Ähnlich: Schwarze – Rebhahn, Art. 137 EGV, Rn. 24.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
Das erfordert zunächst die Fähigkeit der betreffenden Organisation, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Sie muss mit anderen Worten überhaupt in der Lage sein, Verträge wirksam schließen zu können.130 Damit korrespondiert die Fähigkeit, Partei in einem Prozess sein zu können, weil zu verlangen ist, dass eine Tarifvertragspartei aus dem Tarifvertrag gerichtlich vorgehen und vor Gericht in Anspruch genommen werden kann. Die dazu notwendigen Voraussetzungen hat der EuGH in seiner Rechtsprechung bereits genannt. In zwei Fällen aus dem Jahre 1974 musste das Gericht klären, ob der Europäische Gewerkschaftsbund131 bzw. die Allgemeine Gewerkschaft der Europäischen Beamten132 parteifähige Gewerkschaften sind. Hierzu führte der Gerichthof aus, dass es für die Parteifähigkeit darauf ankomme, ob die betreffende Organisation als verantwortliche Einheit im Rechtsverkehr auftrete.133 Das gilt in gleicher Weise für Art. 28 Var. 1 GRC, so dass es nicht darauf ankommt, ob die jeweilige Vereinigung nach den Vorschriften der Einzelstaaten rechts- und parteifähig ist.134 Aus dem genannten Erfordernis ergibt sich zudem notwendigerweise, dass der betreffende Zusammenschluss zumindest auf eine gewisse Dauer angelegt sein muss.135 Darüber hinaus hat der EuGH für die Anerkennung der Parteifähigkeit einer Gewerkschaft gefordert, dass sie repräsentativ ist,136 ohne dieses Merkmal näher zu konkretisieren. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass beispielsweise ein Zusammenschluss zweier Arbeitnehmer keine Arbeitnehmerorganisation im Sinne des Art. 28 GRC entstehen lässt. Daher ist das Repräsentativitätskriterium für den Begriff der Arbeitnehmervereinigung unverzichtbar.137 Es stellt sicher, dass die Gewerkschaft die Interessen ihrer Mitglieder effektiv vertreten kann und die von ihr zu schließenden Tarifverträge ein adäquates Mittel zum Ausgleich der widerstreitenden Interessen zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern sind. Ob eine Gewerkschaft hinreichend repräsentativ ist, bemisst sich allerdings nicht nach der absoluten Zahl ihrer Mitglieder. Denn es reicht nicht aus, dass der Zusammenschluss so zahlreich ist, dass bei der verbandsin-
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A. A.: Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 469. EuGH, 8.10.1974, Rs. 175/73, Slg. 1974, 917 ff. (Massa & Kortner). 132 EuGH, 8.10.1974, Rs. 18/74, Slg. 1974, 933 ff. (Allgemeine Gewerkschaft). 133 EuGH, 8.10.1974, Rs. 175/73, Slg. 1974, 917, Rn. 9/13 (Massa & Kortner); 8.10.1974, Rs. 18/74, Slg. 1974, 933, Rn. 5/9 (Allgemeine Gewerkschaft). 134 In aller Regel wird sich allerdings im Umkehrschluss ergeben, dass eine Vereinigung von Arbeitnehmern, die nach den nationalen Regelungen rechtsfähig ist, zugleich eine verantwortlich im Rechtsverkehr auftretende Einheit darstellt. 135 A. A.: Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 429. 136 EuGH, 8.10.1974, Rs. 175/73, Slg. 1974, 917, Rn. 9/13 (Massa & Kortner); 8.10.1974, Rs. 18/74, Slg. 1974, 933, Rn. 5/9 (Allgemeine Gewerkschaft). 137 Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 465; ders., RdA 2004, S. 211 (223); a. A.: Löwisch/Rieble, TVG, § 5, Rn. 181. 131
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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ternen Willensbildung individuelle Interessen zurücktreten. Zur Repräsentation ihrer eigenen Mitglieder ist schlechterdings jede Vereinigung in der Lage.138 Richtigerweise muss verlangt werden, dass die Mitglieder einer Vereinigung so zahlreich sind, dass sie für sich in Anspruch nehmen kann, den Willen aller Arbeitnehmer hinreichend widerzuspiegeln, auf die von ihr geschlossene Tarifverträge Anwendung finden können.139 d) Zusätzliche Voraussetzungen des gemeinschaftsrechtlichen Gewerkschaftsbegriffs Wenn auch nicht unmittelbar aus dem Gemeinschaftsvertrag oder der Grundrechtecharta ableitbar, sind an den europäischen Gewerkschaftsbegriff eine Reihe weiterer Anforderungen zu stellen, die sich vor allem aus einem Vergleich der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ergeben. Deinert fordert in diesem Zusammenhang, dass die Vereinigung eine demokratische Binnenstruktur aufweist, nicht von ihrem konkreten Mitgliederbestand abhängig ist und sowohl von ihrem sozialen Gegenspieler als auch vom Staat bzw. der Gemeinschaft unabhängig ist.140 Unter diesen weiteren Voraussetzungen lässt sich zusammenfassend feststellen, dass eine Arbeitnehmerorganisation im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC jeder freiwillige und repräsentative Zusammenschluss von Arbeitnehmern zur Verfolgung wirtschaftlicher und sozialer Interessen ist, der als verantwortliche Einheit im Rechtsverkehr auftritt. 3. Der Begriff des Arbeitgebers und der Arbeitgeberorganisation Spiegelbildlich lässt sich als Arbeitgeber der jeweilige Vertragspartner eines Arbeitnehmers definieren. Unter einer Arbeitgeberorganisation hat man dementsprechend unter den gleichen Voraussetzungen, die an eine Arbeitnehmervereinigung zu stellen sind, jeden freiwilligen Zusammenschluss von Arbeitgebern
138 Vgl. Deinert, RdA 2004, S. 211 (221). Bereits zuvor hatte Deinert (in: Der europäische Kollektivvertrag, S. 430) für das Gemeinschaftsrecht eine Koalition als einen nicht notwendig auf Dauer angelegten, vom jeweiligen sozialen Gegenspieler und vom Staat unabhängigen, freiwilligen, vom Mitgliederbestand unabhängigen Zusammenschluss von Arbeitgebern oder Arbeitnehmern mit demokratischer Binnenstruktur definiert, der die Verteidigung und Förderung der Mitgliederinteressen zum Ziel hat. 139 Das Repräsentativitätskriterium auf der europäischen Ebene erinnert an das in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAGE 53, 347, 357) entwickelte und vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 58, 233, 249) bestätigte Erfordernis der Durchsetzungskraft bzw. der sozialen Mächtigkeit einer Arbeitnehmervereinigung, für ihre Fähigkeit wirksam Tarifverträge abschließen zu können; vgl. Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 87; Buchner, RdA 1993, S. 193 (202 f.). 140 Deinert, RdA 2004, S. 211 (223).
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
zur Verfolgung wirtschaftlicher und sozialer Interessen zu verstehen, der als verantwortliche Einheit im Rechtsverkehr auftritt.141 III. Der sachliche Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen Der sachliche Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen umfasst nach Art. 28 Var. 2 GRC das Ergreifen kollektiver Maßnahmen im Falle von Interessenkonflikten. 1. Die von Art. 28 Var. 2 GRC geschützten kollektiven Maßnahmen Beide Begriffe gilt es im Folgenden zu klären, wobei sich zunächst die Frage stellt, welche kollektiven Maßnahmen von Art. 28 Var. 2 GRC geschützt werden. a) Der Streikbegriff des Art. 28 Var. 2 GRC Von den nach Art. 28 Var. 2 GRC möglichen Kollektivmaßnahmen nennt die Vorschrift den Streik ausdrücklich. Sowohl nach seinem deutschen als nach seinem englischen Wortlaut bezeichnet das Wort „Streik“ bzw. „strike“ die gemeinschaftliche Arbeitsniederlegung mehrerer Arbeitnehmer zur Durchsetzung geforderter Arbeitsbedingungen.142 Dass es sich um ein kollektives Verhalten mehrerer Arbeitnehmer handeln muss, folgt unmittelbar aus Art. 28 Var. 2 GRC. Zwar kann der Rechtsinhaber die Arbeitnehmerorganisation oder der einzelne Arbeitnehmer selbst sein, dennoch kann das Verhalten eines einzelnen Arbeitnehmers nicht als kollektive Maßnahme aufgefasst werden. Im Übrigen bleibt festzustellen, dass der Streik ein Arbeitskampfmittel darstellt und deswegen voraussetzt, dass der Verhandlungspartner damit bewusst und gewollt unter Druck gesetzt wird.143 Beim Streik soll dies mittels einer kollektiven Arbeitsniederlegung geschehen. Ein Streik im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC ist daher als kollektive Arbeitsniederlegung mehrerer Arbeitnehmer zur Verteidigung ihrer Interessen zu definieren.
141 Aus teleologischen Gründen entfällt auf der strukturell überlegenen Seite der Arbeitgeber das Repräsentativitätserfordernis im Gemeinschaftsrecht; vgl. Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 784. 142 Meyers Universallexikon, Band 13, 1985, S. 494; Collins, English dictionary, 4. Aufl., 1998, S. 1518. 143 So zum deutschen Recht: Kissel, Arbeitskampfrecht, § 13, Rn. 1.
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b) Die Garantie der Aussperrung in Art. 28 Var. 2 GRC Da Art. 6 Nr. 4 ESC seinem Wortlaut nach nur das Streikrecht ausdrücklich als kollektive Maßnahme aufführt, ist seit langem umstritten, ob die Bestimmung in der Europäischen Sozialcharta auch Aussperrungen seitens der Arbeitgeber als kollektive Maßnahmen garantiert. Eine Mindermeinung im deutschen Schrifttum ist der Auffassung, dass Art. 6 Nr. 4 ESC nur das Streikrecht der Arbeitnehmer, nicht aber das Aussperrungsrecht der Arbeitgeber schütze.144 Die demgegenüber ganz herrschende Meinung, der sich das Bundesarbeitsgericht angeschlossen hat, fasst Aussperrungen der Arbeitgeber zu Recht als kollektive Maßnahme im Sinne des Art. 6 Nr. 4 ESC auf. Die Aussperrung sei die hauptsächliche, wenn nicht sogar einzige Form der kollektiven Maßnahme, die die Arbeitgeber zur Verteidigung ihrer Interessen ergreifen können.145 Dieser Auffassung sind auch die Überwachungsorgane der Europäischen Sozialcharta. Sie sind der Meinung, dass Art. 6 Nr. 4 ESC neben dem Streikrecht das Recht der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen und insbesondere das Aussperrungsrecht enthalte; allerdings seien die Einzelstaaten nicht verpflichtet, die volle rechtliche Gleichheit zwischen dem Streikrecht und dem Recht auf Aussperrung herzustellen. Lediglich ein generelles Aussperrungsverbot sei mit Art. 6 Nr. 4 ESC nicht mehr vereinbar.146 Bei der Diskussion über die Aufnahme eines Rechts auf kollektive Maßnahmen in die Charta ist im Grundrechtskonvent darüber gestritten worden, ob die Aussperrung, wenn schon das Streikrecht der Arbeitnehmer aufgenommen werden solle, daneben ebenfalls ausdrücklich erwähnt werden müsse.147 Diese Auffassung fand jedoch im Grundrechtskonvent keine Mehrheit, so dass Art. 28 Var. 2 GRC in seiner endgültigen Fassung ebenso wie Art. 6 Nr. 4 ESC nur den Streik als kollektive Maßnahme der Arbeitnehmerseite nennt. Deswegen wurde schon erwartet, dass sich die zu Art. 6 Nr. 4 ESC geführte Diskussion in gleicher Weise hinsichtlich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen wiederholen würde.148 Tatsächlich wird die Aussperrung indes – soweit ersichtlich – im Schrifttum einhellig und – wie der Vergleich mit Art. 6
144 Däubler – Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 916; Agnelli – ders., Die Europäische Sozialcharta, S. 103 (139). 145 BAGE (GS) 23, 292 (308); BAGE 33, 140 (156 f.); Münchener Handbuch – Birk, § 19, Rn. 441; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 957; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 20, Rn. 10; Mitscherlich, Das Arbeitskampfrecht der Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Sozialcharta, S. 61 f. 146 Europarat, Die Europäische Sozialcharta, S. 138; ECSR, Digest of the Case Law, S. 35. 147 Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 12. 148 So die Einschätzung von Däubler (in: AuR 2001, S. 380, 383 f.) und Zachert (in: NZA 2001, 1041, 1045); vgl. auch Weiss, AuR 2001, S. 374 (377).
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Nr. 4 ESC zeigt – auch zutreffend als von Art. 28 Var. 2 GRC geschützt angesehen.149 c) Sonstige von Art. 28 Var. 2 GRC geschützte Kollektivmaßnahmen Wegen der allgemeinen Formulierung in Art. 28 Var. 2 GRC, der sich auf kollektive Maßnahmen bezieht und den Streik nur als eines der möglichen Arbeitskampfmittel nennt, steht fest, dass der sachliche Schutzbereich des Chartarechts mehr als nur die Arbeitsniederlegung und die Aussperrung schützt.150 Der Streik ist nicht das einzige Mittel, mit dem die Arbeitnehmer Druck auf den Arbeitgeber ausüben können. Ihnen bieten sich hierzu zahlreiche Möglichkeiten, deren Zulässigkeit in den EG-Mitgliedstaaten stark variiert. Beispielsweise hat der Sachverständigenausschuss der ESC im Jahr 2002 in seinen Schlussfolgerungen zum Bericht über die Rechtslage in Finnland festgestellt, dass Überstundenverweigerung, Bummelstreiks, Betriebsblockaden, Boykotte, Massenkündigungen und die Aufstellung von Streikposten kollektive Maßnahmen sein können.151 Diese Arbeitskampfmittel sollten unter Art. 28 Var. 2 GRC subsumiert werden, weil alle Maßnahmen, die möglicherweise unter dem Schutz der einzelstaatlichen Verfassungen stehen, nicht bereits aus dem Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC ausgeschieden werden sollten.152 Mögliche Abwehransprüche aus dem Gemeinschaftsgrundrecht gegen die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten sollten nicht von vorneherein durch eine enge Auslegung des Begriffs der kollektiven Maßnahme ausgeschlossen werden. Das ist vor allem deswegen geboten, weil die tatsächliche Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen gemäß Art. 28 Var. 2 GRC mit nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Einklang stehen muss. Den Mitgliedstaaten entsteht durch die extensive Auslegung des sachlichen Schutzbereichs des Art. 28 Var. 2 GRC kein Nachteil, weil sie innerhalb ihres weiten Ermessensspielraums selbst darüber entscheiden können, welche der von Art. 28 Var. 2 GRC garantierten Kollektivmaßnahmen sie aufgrund nationaler Regelungen ausschließen wollen.
149 Dötsch, AuA 2001, S. 362 (364); Jarass, EU-Grundrechte, § 29, Rn. 14; Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 24; Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 13; Streinz – Streinz, Art. 28 GRC, Rn. 3. 150 Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 24. 151 Conclusions XVI-1, vol. 1, 1.1.2001, Finnland, Art. 6 Nr. 4 ESC, S. 208 ff.; die Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses können auf der Internetdatenbank des Europarates zur ESC (hudoc.esc.coe.int/esc/search/default.asp) abgerufen werden. Zu den von Art. 13 ES-SC umfassten Arbeitskampfmaßnahmen siehe: Bercusson, European Labour Law, S. 591. Vgl. zudem: Kissel, Arbeitskampfrecht, § 61. 152 Vgl. Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 13.
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2. Die Verteidigung von Interessen im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC Art. 28 Var. 2 GRC legt selbst den Zweck fest, der mit der Kollektivmaßnahme verfolgt werden muss und bestimmt hierzu, dass sie auf die Verteidigung von Interessen innerhalb eines Interessenkonflikts gerichtet sein muss. In der für die Auslegung des Art. 28 Var. 2 GRC vorrangig heranzuziehenden Vorschrift des Art. 11 Abs. 1 EMRK wird das Merkmal der Vereinigung zum Schutz von Interessen in der Literatur dahingehend verstanden, dass mit der Ausübung des Konventionsrechts Interessen aus dem Beschäftigungsverhältnis verfolgt werden müssen.153 Darüber hinaus findet sich das Merkmal des Interessenkonflikts wörtlich in Art. 6 Nr. 4 ESC wieder. Daran hat sich der Grundrechtskonvent bei der Formulierung Art. 28 Var. 2 GRC bewusst orientiert.154 Deswegen ist der Bestimmung des Art. 6 Nr. 4 ESC bei der Auslegung dieses Merkmals besondere Beachtung zu schenken, zumal dessen Interpretation im Rahmen des Art. 6 Nr. 4 ESC Anlass für zahlreiche Streitigkeiten im Schrifttum ist.155 a) Der Arbeitskampf um Rechtsstreitigkeiten Hinsichtlich Art. 6 Nr. 4 ESC ist etwa umstritten, ob ein Interessenkonflikt im Sinne der Bestimmung vorliegt, wenn zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite ein Rechtsstreit ausgetragen wird. Daher stellt sich die Frage, ob die Feststellung und Durchsetzung von Rechtspositionen ein Interesse ist, das mit den von Art. 28 Var. 2 GRC geschützten Kollektivmaßnahmen verfolgt werden darf. Riedel ist hierzu der Ansicht, dass der Wortlaut des Art. 28 Var. 2 GRC nicht dagegen spreche, Rechtsstreitigkeiten als Interessenkonflikte aufzufassen.156 Tatsächlich handelt es sich bei einem Recht um nichts anderes als ein mit Hilfe der Rechtsordnung verfolgbares Interesse, so dass die von Riedel vorgenommene Wortlautinterpretation des Art. 28 Var. 2 GRC nicht von der Hand zu weisen ist. Dennoch dient das einschränkende Merkmal des Interessenkonflikts in Art. 6 Nr. 4 ESC vor allem dazu, Rechtsstreitigkeiten aus dem Schutzbereich des Streikrechts auszuscheiden.157 Das muss folgerichtig in gleicher Weise für Art. 28 Var. 2 GRC gelten. Däubler hat hingegen zu Art. 6 Nr. 4 ESC den Standpunkt eingenommen, dass zwar Streitigkeiten um die Existenz und die Auslegung eines Tarifvertrages bei bestehender Friedenspflicht in der Regel nicht im Wege des Arbeits153
Frowein/Peukert – Frowein, EMRK, Art. 11, Rn. 9. Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 25. 155 Vgl. Fabricius, Streik und Aussperrung im Internationalen Recht, S. 30 ff. 156 Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 25. 157 Vgl. Bepler, FS-Wissmann, S. 97 (112); Harris, The European Social Charter, S. 75; ebenso zum Merkmal des Interessenkonflikts in Art. 13 EG-SC: Kenner, EU Employment Law, S. 146. 154
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kampfes, sondern vor Gericht geklärt werden müssten. Alle anderen kollektiven Auseinandersetzungen seien aber jedenfalls dann von Art. 6 Nr. 4 ESC gedeckt, wenn es um „substantielle Interessen“ von Arbeitnehmern oder Arbeitgebern gehe und nicht nur rechtstechnische Einzelheiten zur Diskussion stünden.158 Däubler begründet dies insbesondere damit, dass jede Verweisung auf den Rechtsweg eine Begünstigung des Arbeitgebers darstelle, weil Streitigkeiten um die Auslegung von Gesetzen und Tarifverträgen nur selten zum Erlass einstweiliger Verfügungen führten und bis zum Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung oftmals Jahre vergingen. In der Zwischenzeit könne der Arbeitgeber aber vollendete Tatsachen schaffen, indem er die Arbeitsabläufe seiner Auslegung der betreffenden Norm entsprechend gestalte.159 Gegen die Auffassung von Däubler spricht, dass das staatliche Gewaltmonopol tangiert wird, wenn einem Rechtsinhaber, der die Möglichkeit hat, sein Recht auf dem Rechtsweg durchzusetzen, die zusätzliche Möglichkeit zugestanden wird, dasselbe Ziel ohne Inanspruchnahme staatlicher Hilfe eigenmächtig durch die Ausübung kollektiven Drucks zu verfolgen.160 Als Fundament nicht nur der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, sondern aller modernen Staaten überhaupt, liegt das staatliche Gewaltmonopol jeder Verfassungsordnung und mithin der Geltung von Grundrechten voraus.161 Es ist ausgeschlossen, eine Grundrechtsgewährleistung so zu verstehen, dass der jeweilige Normgeber mit ihr das Gewaltmonopol beseitigt oder auch nur eingeschränkt hätte. Im Übrigen ist die von Däubler vorgeschlagene Abgrenzung wenig präzise, weil schwerlich eine Grenze dafür gefunden werden kann, ab welcher die Arbeitnehmer ein „substantielles Interesse“ an der Durchsetzung einer Rechtsposition haben und ihnen der Rechtsweg deswegen nicht zugemutet werden kann. Der auf der Grundlage des Protokolls zur Europäischen Sozialcharta vom 21. Oktober 1991 eingesetzte Europäische Ausschuss für soziale Rechte (ECSR, European Committee of Social Rights)162 geht zudem ebenfalls davon aus, dass Art. 6 Nr. 4 ESC Arbeitskämpfe um Rechtsstreitigkeiten nicht zulässt: „Article 6 § 4 applies to conflicts of interests, i. e. generally conflicts which concern the conclusion of a collective agreement. It does not concern conflicts of
158
Agnelli – Däubler, Die Europäische Sozialcharta, S. 103 (119 f.). Agnelli – Däubler, Die Europäische Sozialcharta, S. 103 (118 f.). Das weitere von Däubler angeführte Argument, dass die Einzelstaaten die Rechte aus Art. 6 Nr. 4 ESC nicht durch eine umfassende Arbeitsgesetzgebung aushöhlen dürften, ist nicht auf Art. 28 Var. 2 GRC übertragbar, weil es eine einheitliche Geltung des Gemeinschaftsgrundrechtsrechts auf kollektive Maßnahmen wegen des Vorbehalts nationaler Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten ohnehin nicht geben kann. 160 Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 30; Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 284. 161 Vgl. Isensee/Kirchhof – Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 115, Rn. 109. 162 Zum ECSR und dessen Einfluss auf die Auslegung des Art. 28 GRC: Hepple, Industrial Law Journal 2001, S. 225 (226); Kenner, EU Employment Law, S. 538 f. 159
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rights, i. e. related to the exercise, validity or interpretation of a collective agreement and to the violation of a collective agreement.“163
Schließlich wird in Art. 47 Var. 2 GRC jeder Person das Recht auf ein wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf und ein faires und effizientes gerichtliches Verfahren zugestanden. Wenn also die Interessen der Arbeitnehmer vor Gericht – gegebenenfalls im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – nicht ausreichend Berücksichtigung finden, ist Art. 47 GRC das thematisch einschlägige Grundrecht, mit dem sich die Arbeitnehmer gegen die vorgetragene Rechtsverletzung zur Wehr setzen können. Art. 28 Var. 2 GRC kann nicht zum Ausgleich defizitärer Gerichtsverfahren herangezogen werden. Rechtsstreitigkeiten scheiden deshalb als Interessenkonflikte im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC aus. b) Der politische Arbeitskampf Politisch nennt man solche Arbeitskämpfe, die sich zwar nach ihrem äußeren Erscheinungsbild nicht von gewöhnlichen Arbeitskämpfen unterscheiden, aber darauf gerichtet sind, eine allgemein-politische Gestaltung im weitesten Sinne zu erreichen, wie zum Beispiel den Erlass eines Gesetzes oder eine bestimmte behördliche Entscheidung zu erzwingen. Der politische Arbeitskampf unterscheidet sich demnach nicht im Adressaten der Maßnahme von sonstigen Arbeitsniederlegungen, sondern in dem mit ihm verfolgten Ziel.164 Zu Art. 28 Var. 2 GRC hat Däubler165 die Auffassung vertreten, dass von der Norm auch der dem politischen Streik nahestehende Demonstrationsstreik geschützt wird. In Bezug auf Art. 6 Nr. 4 ESC besteht jedoch weitgehend Einigkeit, dass die Europäische Sozialcharta politische Streiks nicht schützt.166 Aus Art. 28 Var. 2 GRC ergibt sich ebenso wie aus Art. 6 Nr. 4 ESC, dass der tatbestandlich vorausgesetzte Interessenkonflikt zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auszutragen ist.167 Das ist beim politischen Arbeitskampf, der zwar den Arbeitgeber trifft, sich aber gegen staatliche Stellen richtet, nicht der Fall. Da das Recht auf kollektive Maßnahmen dazu dient, das arbeitsrechtliche Machtgefälle zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern abzumildern,168 kann die Ergreifung kollektiver Maßnahmen mit dem Ziel, Druck auf öffentliche Stellen auszuüben, keinen Interessenkonflikt im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC 163
ECSR, Digest of the Case Law, S. 36 – Hervorhebungen vom Verfasser. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 24, Rn. 51. 165 In: AuR 2001, S. 380 (383). 166 Harris, The European Social Charter, S. 76; Mitscherlich, Das Arbeitskampfrecht der Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Sozialcharta, S. 149; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 498; einschränkend: Agnelli – Däubler, Die Europäische Sozialcharta, S. 103 (120 ff.). 167 So zu Art. 6 Nr. 4 ESC: Ramm, AuR 1967, S. 97 (108). 168 § 3 I. 2. b) cc). 164
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darstellen. Da die Arbeitnehmerorganisationen im Übrigen auf die Verfolgung wirtschaftlicher und sozialer Interessen beschränkt sind, kann es kein Gemeinschaftsgrundrecht auf politische Arbeitskämpfe geben.169 c) Der Sympathiearbeitskampf Schließlich bleibt noch zu klären, ob Art. 28 Var. 2 GRC so genannte Sympathiearbeitskämpfe170 schützt.171 Der Wortlaut des Art. 28 Var. 2 GRC gibt einen ersten gewichtigen Hinweis darauf, dass diese Frage zu verneinen ist. Über das Erfordernis eines Interessenkonflikts hinaus verlangt Art. 28 Var. 2 GRC nämlich zusätzlich, dass der Arbeitskampf von den betreffenden Grundrechtsträgern zur „Verteidigung ihrer Interessen“ erfolgt. Bei einem Sympathiestreik werden jedoch in erster Linie nicht eigene Interessen verfolgt, sondern ein fremder Arbeitskampf unterstützt. Eine Subjektivierung des Tatbestandsmerkmals der eigenen Interessen, wonach allein die Arbeitnehmer entscheiden könnten, was in ihrem Interesse steht, würde das in Art. 28 Var. 2 GRC enthaltene Merkmal überflüssig machen und scheidet daher aus.172 Darüber hinaus ist zweifelhaft, ob bei Sympathiearbeitskämpfen ein Interessenkonflikt im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC vorliegt. Aus teleologischen Gründen ist anzunehmen, dass der Interessengegensatz, von dem die Norm spricht, zwischen dem streikenden Arbeitnehmer und dem bestreikten Arbeitgeber vorliegen muss. Wenn der Streik dem Ausgleich des individuellen Machtgefälles auf kollektiver Ebene dienen soll, hat sich die Arbeitsniederlegung gegen denjenigen Arbeitgeber zu richten, zu dem das Abhängigkeitsverhältnis besteht. Das ist beim Sympathiestreik in aller Regel nicht der Fall. Während die Art. 11 Abs. 1 EMRK und Art. 13 EG-SC keinen Hinweis auf die Zulässigkeit von Sympathiearbeitskämpfen liefern, ist im Schrifttum zu Art. 6 Nr. 4 ESC hingegen die Auffassung vertreten worden, dass die Bestimmung den Sympathiestreik erlaube.173 Das lässt sich allerdings schon deswegen nicht auf Art. 28 Var. 2 GRC übertragen, weil das Gemeinschaftsgrundrecht 169 Demgegenüber scheint Rixen (in: Tettinger/Stern, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 13) den politischen Arbeitskampf unter Art. 28 Var. 2 GRC subsumieren zu wollen. 170 Unter Sympathiearbeitskämpfen sollen im vorliegenden Zusammenhang kollektive Maßnahmen verstanden werden, die darauf gerichtet sind, einen fremden Arbeitskampf zu unterstützen; vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 4, Rn. 16; Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 30. 171 Bejahend: Dötsch, AuA 2001, S. 362 (364). 172 Für eine ausschließlich subjektive und zur Konturlosigkeit des Merkmals der eigenen Interessen führenden Auslegung hingegen: Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 13.
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insoweit über Art. 6 Nr. 4 ESC hinausgehend nicht nur einen Interessenkonflikt, sondern die Verteidigung eigener Interessen voraussetzt.174 Grundrechtsdogmatische Gesichtspunkte führen ebenfalls zu der Auslegung, nach der Sympathiearbeitskämpfe nicht von Art. 28 Var. 2 GRC geschützt werden. Für Grundrechte ist es charakteristisch, dass ihr Gebrauch eigennützig erfolgt. Als Abwehrrechte gegen den Staat sind sie vornehmlich dazu gedacht, dem Einzelnen einen Freiraum zu verschaffen, den er zu seinem eigenen Vorteil nutzen können soll.175 Der eigennützige Gebrauch eines Grundrechts ist also der Regelfall und bei wirtschaftlich relevanten Grundrechten ist der Eigennutz geradezu Tatbestandsmerkmal.176 Das gilt auch für das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen, dass durchaus als ein „Wirtschaftsgrundrecht der Arbeitnehmer“ betrachtet werden kann.177 Jedenfalls stellt eine Drittwirkung dergestalt, dass die Ausübung eines Grundrechts unter Beeinträchtigung anderer Grundrechtsträger zum Besten Dritter erfolgt, eine Anomalie innerhalb der Grundrechtssystematik dar. Sollen bei der Grundrechtsverwirklichung die Interessen Dritter berücksichtigt werden, wird dies wie beispielsweise in Art. 17 Abs. 1 Satz 3 GRC ausdrücklich vorgeschrieben.178 Das zeigt, dass die Grundrechtecharta vom eigennützigen Gebrauch der Gemeinschaftsgrundrechte ausgeht. Für den Bereich der sozialen Grundrechte ist hiervon keine Ausnahme zu machen, weil auch diese Rechte durchweg im eigenen Interesse auszuüben sind. Art. 27 GRC handelt nur von der Unterrichtung innerhalb des Unternehmens zu dem der jeweilige Arbeitnehmer in einem Arbeitsverhältnis steht bzw. bei dem die jeweilige Arbeitnehmervertretung gebildet worden ist. Das Recht auf Kollektivverhandlungen aus Art. 28 Var. 1 GRC bezieht sich nur auf die Regelung der eigenen Arbeitsbedingungen. Art. 29 GRC erlaubt dem betreffenden Grundrechtsträger lediglich den eigenen Zugang zur Arbeitsvermittlung. Art. 30 GRC schützt ausschließlich gegen den Ausspruch ungerechtfertigter Kündigungen des eigenen Arbeitsverhältnisses und mit Art. 31 GRC kann sich der Arbeitnehmer
173 Agnelli – Däubler, Die Europäische Sozialcharta, S. 103 (131 ff., 133); Mitscherlich, Das Arbeitskampfrecht der Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Sozialcharta, S. 139 ff., 148. 174 Der in Bezug auf Art. 6 Nr. 4 ESC geäußerte Einwand, dass der Sympathiearbeitskampf nicht auf den Abschluss eines auf das eigene Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifvertrages gerichtet ist (vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 24, Rn. 34), verfängt bei Art. 28 Var. 2 GRC nicht, weil das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen im Gegensatz zum Wortlaut des Art. 6 Nr. 4 ESC nicht zur wirksamen Ausübung des Rechts auf kollektive Verhandlungen in Anspruch genommen werden muss. 175 von Bogdandy – Kühling, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (600). 176 So: Isensee/Kirchhof – Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 115, Rn. 245. 177 Ähnlich: Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 6. 178 Nach Art. 17 Satz 3 GRC kann die Nutzung des Eigentums gesetzlich geregelt werden, soweit diese für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist; vgl. zur deutschen Eigentumsfreiheit: BVerfGE 50, 290 (339).
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nur gegen die grundrechtsverletzenden Arbeitsbedingungen seines eigenen Arbeitsverhältnisses zur Wehr setzen. Schließlich schützt auch Art. 32 GRC nur die betreffenden Kinder und Jugendlichen selbst. Aus keinem der zitierten Grundrechte lässt sich der Gedanke entwickeln, die Charta erlaube die Ausübung eines sozialen Grundrechts zugunsten Dritter. Nicht einmal Art. 12 Abs. 1 GRC enthält einen Ansatzpunkt für eine gegenteilige Annahme, weil auch nach dieser Vorschrift die Bildung von Gewerkschaften im Schutz des eigenen Interesses verhaftet ist. Die im Ergebnis abzulehnende Subsumtion des Sympathiearbeitskampfes unter Art. 28 Var. 2 GRC würde daher eine systemwidrige „materielle Grundrechtsstandschaft“ darstellen und zu einem Bruch in der allgemeinen Grundrechtsdogmatik führen. IV. Die Beschränkung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen Schließlich ist zu untersuchen, unter welchen Voraussetzungen das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen nach dem Gemeinschaftsrecht bzw. einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten eingeschränkt werden kann. 1. Die Voraussetzungen für die gemeinschaftsrechtliche Beschränkung des Art. 28 Var. 2 GRC Für Beschränkungen des Art. 28 Var. 2 GRC auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts gelten die in Art. 52 Abs. 3 GRC in Verbindung mit Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK bzw. die in Art. 52 Abs. 1 GRC genannten Voraussetzungen einer Grundrechtsbeschränkung. a) Der gemeinschaftsrechtliche Gesetzesvorbehalt Aus den beiden angeführten Schranken-Schranken ergibt sich übereinstimmend, dass eine gemeinschaftsrechtliche Beschränkung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen „gesetzlich vorgesehen“ sein muss. Schon in der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bestand für die Einschränkung von Gemeinschaftsgrundrechten das Erfordernis einer Rechtsgrundlage. Der EuGH hat in diesem Zusammenhang wiederholt ausgeführt, dass Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre jeder natürlichen oder juristischen Person in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen einer Rechtsgrundlage bedürften und aus den gesetzlich vorgesehenen Gründen gerechtfertigt sein müssten. Der Gesetzesvorbehalt ist mithin in der Rechtsprechung des EuGH als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt.179 Unklar ist hingegen, welche Anforderungen an die grundrechtseinschränkende gesetzliche Vorschrift zu stel-
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len sind und insbesondere, ob hierfür – wie es im deutschen Verfassungsrecht mitunter der Fall ist180 – ein förmliches Parlamentsgesetz erforderlich ist, das möglicherweise unter Beteiligung des Europäischen Parlaments zustande gekommen sein muss, oder ein Gesetz im materiellen Sinn genügt.181 Da sich die Formulierung in Art. 52 Abs. 1 GRC an den Gesetzesvorbehalt der EMRK anlehnt,182 erhellt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Gesetzesvorbehalt in der Europäischen Menschenrechtskonvention die Antwort auf diese Frage.183 Zahlreiche Konventionsrechte stehen unter dem Vorbehalt „gesetzlich vorgesehener Einschränkungen“.184 In den beiden nach Art. 59 Abs. 4 EMRK verbindlichen englischen und französischen Fassungen der EMRK wechselt der Ausdruck des Gesetzesvorbehaltes in der Menschenrechtskonvention zwischen „provided by law“185, „prescribed by law“186 und „in accordance with law“187 bzw. „prévue(s) par la loi“188. Vor allem wegen des gleichmäßigen französischen Wortlauts interpretiert der EGMR die Vorbehalte „gesetzlich vorgesehener Einschränkungen“ einheitlich.189 Schon in einer frühen Entscheidung von 1971 hat der EGMR einen Eingriff in das Konventionsrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK aufgrund einer Königlichen Verordnung in Belgien, die nach dem nationalen belgischen Recht nicht den Rang eines formellen Gesetzes hat, zur Rechtfertigung eines Eingriffs in das Konventionsrecht herangezogen.190 In einer Leitentscheidung aus dem Jahr 1979 hat der EGMR zur Funktion des Gesetzvorbehalts in der EMRK Folgendes ausgeführt:
179 EuGH, 21.9.1989, verb. Rs. 46/87, 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 19 (Hoechst); 17.10.1989, verb. Rs. 97/87, 98/87, 99/87, Slg. 1989, 3165, Rn. 17 (Dow Chemical). 180 Vgl. BVerfGE 57, 295 (321). 181 Triantafyllou, CML Rev 2002, S. 53 (58). 182 Vitorino, Revue de Droit de l’Union Européenne 2001, S. 27 (48). 183 Vgl. von Bogdandy – Kühling, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (616 f.); a. A. und für eine „europaspezifische Definition“ des in Art. 52 Abs. 1 GRC verwendeten Gesetzesbegriffs: Tettinger/Stern – von Danwitz, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 33. 184 Vgl. Art. 2 Abs. 1, 5 Abs. 1, 8 Abs. 2, 9 Abs. 2, 10 Abs. 2 und 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK. 185 Art. 2 Abs. 1 EMRK. 186 Art. 5 Abs. 1, 9 Abs. 2, 10 Abs. 2, 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK. 187 Art. 5 Abs. 1, 6 Abs. 2, 7 Abs. 2, 8 Abs. 2, 12 EMRK. 188 Art. 8 Abs. 2, 9 Abs. 2, 10 Abs. 2, 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK; ähnlich: Art. 2 Abs. 1 EMRK. 189 EGMR, 26.4.1979, App. 6538/74, Rn. 48 (Sunday Times). 190 EGMR, 18.6.1971, App. 2832/66, 2835/66, 2899/66, Rn. 93 (De Wilde aO); vgl. Tettinger/Stern – von Danwitz, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 23.
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„In the Court’s opinion, the following are two of the requirements that flow from the expression ,prescribed by law‘. Firstly, the law must be adequately accessible: the citizen must be able to have an indication that is adequate in the circumstances of the legal rules applicable to a given case. Secondly, a norm cannot be regarded as a ,law‘ unless it is formulated with sufficient precision to enable the citizen to regulate his conduct: he must be able – if need be with appropriate advice – to foresee, to a degree that is reasonable in the circumstances, the consequences which a given action may entail. Those consequences need not be foreseeable with absolute certainty: experience shows this to be unattainable.“191
Der Straßburger Gerichtshof sieht den Zweck des Gesetzesvorbehalts also zum einen darin, jedem Bürger in adäquater Weise die Kenntnis derjenigen Rechtsvorschriften zu verschaffen, die in einer konkreten Situation seine in der EMRK gewährten Rechte einschränken, und zum anderen soll das staatliche Handeln hinreichend genau voraussehbar sein. Das entspricht nahezu exakt dem für die Beschränkung von Grundrechten geltenden und aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleiteten Bestimmtheitsgebot im deutschen Verfassungsrecht.192 Danach sind gesetzliche Tatbestände so klar zu formulieren, dass die jeweiligen Normadressaten die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten darauf einrichten können.193 Da der Gerichtshof den konventionsrechtlichen Gesetzesvorbehalt als Bestimmtheitserfordernis für die grundrechtseinschränkende Rechtsvorschrift interpretiert, kann es nicht überraschen, dass er in der gleichen Entscheidung aus dem Jahre 1979 an die Qualität der jeweiligen Rechtsnorm keine besonderen Anforderungen gestellt hat: „The Court observes that the word ,law‘ in the expression ,prescribed by law‘ covers not only statute but also unwritten law. Accordingly, the Court does not attach importance here to the fact that contempt of court is a creature of the common law and not of legislation. It would clearly be contrary to the intention of the drafters of the Convention to hold that a restriction imposed by virtue of the common law is not ,prescribed by law‘ on the sole ground that it is not enunciated in legislation: this would deprive a common-law State which is Party to the Convention of the protection of Article 10 (2) (art. 10-2) and strike at the very roots of that State’s legal system.“194 191 EGMR, 26.4.1979, App. 6538/74, Rn. 48 (Sunday Times) – Hervorhebungen vom Verfasser. 192 Vgl. von Bogdandy – Kühling, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (616 f.). 193 BVerfGE 78, 205 (212); 84, 133 (149); 87, 234 (263). Dabei genügt es dem deutschen Bestimmtheitsgebot ebenso wie dem Gesetzesvorbehalt in der EMRK, wenn die betreffenden Gesetze unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten, deren Konkretisierung und Anwendung den Verwaltungsbehörden und Fachgerichten obliegt; vgl. BVerfGE 31, 255 (264); 87, 234 (263 f.). 194 EGMR, 26.4.1979, App. 6538/74, Rn. 47 (Sunday Times) – Hervorhebungen vom Verfasser.
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Mit Rücksicht auf das am Verfahren beteiligte Vereinigte Königreich hat der EGMR entschieden, dass es für die „gesetzliche“ Beschränkung von Konventionsrechten nicht darauf ankommt, dass die betreffende Rechtsnorm im Wege eines Gesetzgebungsverfahrens entstanden ist. Ausreichend sind vielmehr auch Bestimmungen des britischen „common law“.195 Demzufolge genügt richterliches Recht zur Beschränkung von Konventionsrechten.196 Ein Parlamentsgesetz ist dafür nicht erforderlich. In weiteren Entscheidungen hat der EGMR an seiner Rechtsprechung festgehalten und unter das in der Konvention verwendete Wort „Gesetz“ nicht nur geschriebenes Gesetzesrecht, sondern auch „ungeschriebenes Richterrecht“ und insbesondere das englische „common law“ subsumiert.197 Mit einer weiteren Leitentscheidung aus dem Jahr 1990 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Rechtsprechung zum Gesetzesvorbehalt in der EMRK ausgebaut. Wörtlich hat der Gerichtshof ausgeführt: „Settled case-law of this kind cannot be disregarded. In relation to paragraph 2 of Article 8 (art. 8-2) of the Convention and other similar clauses, the Court has always understood the term ,law‘ in its ,substantive‘ sense, not its ,formal‘ one; it has included both enactments of lower rank than statutes (. . .) and unwritten law. (. . .). Statute law is, of course, also of importance in common-law countries. Conversely, case-law has traditionally played a major role in Continental countries, to such an extent that whole branches of positive law are largely the outcome of decisions by the courts. (. . .). Were it to overlook case-law, the Court would undermine the legal system of the Continental States almost as much as the Sunday Times judgment of 26th April 1979 would have ,struck at the very roots‘ of the United Kingdom’s legal system if it had excluded the common law from the concept of ,law‘ (. . .).“198
Der EGMR hat damit seine auf das Rechtssystem in Großbritannien abzielende Rechtsprechung zum richterrechtlichen „common-law“ auf die kontinentaleuropäischen Konventionsstaaten übertragen und erkennt eine ständige Rechtsprechung199 nationaler Gerichte als ordnungsgemäße Einschränkung von Kon-
195 In der Gegenüberstellung zum so genannten „statute law“ bezeichnet man mit „common law“ das Richterrecht im umfassenden Sinn; vgl. Graf von Bernstorff, Einführung in das englische Recht, S. 1 ff. Synonym mit „case law“ wird der Begriff des „common law“ dem „statute law“ entgegengestellt, um den Gegensatz zwischen Richterrecht und Gesetzesrecht zu verdeutlichen; vgl. Blumenwitz, Einführung in das anglo-amerikanische Recht, S. 8; Hay, US-Amerikanisches Recht, Rn. 16. 196 Vgl. Tettinger/Stern – von Danwitz, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 23. 197 EGMR, 22.10.1981, App. 7525/76, Rn. 44 (Dudgeon); 25.3.1983, App. 5947/72, 6205/73, 7052/75, 7061/75, 7107/75, 7113/75, 7136/75, Rn. 86 (Silver); 2.8.1984, App. 8691/79, Rn. 66 (Malone); 26.3.1987, App. 9248/81, Rn. 50 (Leander); 30.3.1989, 10461/83, Rn. 52 (Chappell). 198 EGMR, 24.4.1990, App. 11801/85, Rn. 29 (Kruslin) – Hervorhebungen vom Verfasser. 199 In diesem Sinne ist wohl das Wort des EGMR vom „settled case-law“ in das deutsche Rechtsverständnis zu übertragen.
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ventionsrechten an.200 Zudem hat der EGMR bestätigt, dass der Gesetzesvorbehalt in der Konvention nicht als formeller Gesetzesvorbehalt zu verstehen ist und die EMRK für die Einschränkung von Konventionsrechten kein Parlamentsgesetz verlangt, sondern dass das Erfordernis eines den Eingriff vorsehenden Gesetzes als materielles Bestimmtheitsgebot aufzufassen ist. Der Grund für die Zurückhaltung des Gerichtshofs und die niedrigen inhaltlichen Anforderungen an den Gesetzesbegriff der Konvention liegt in der Erkenntnis, dass die nationalen Gesetzgeber die Ausgestaltung ganzer Rechtsgebiete der Rechtsprechung einzelstaatlicher Gerichte überlassen haben. Aus Rücksicht auf die nationalen Kompetenzzuordnungen verlangt der EGMR für die Einschränkung von Konventionsrechten daher keine Entscheidung des jeweiligen Parlaments.201 In zwei weiteren Entscheidungen aus den Jahren 1995202 und 2001203 hat der EGMR seine Rechtsprechung zum Gesetzesvorbehalt sodann ausdrücklich aufrecht erhalten. Die Rechtsprechung des EGMR zum Gesetzesvorbehalt gewinnt im Rahmen des Schrankentransfers nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC unmittelbare Bedeutung für den Grundrechtsschutz der Gemeinschaft. Zwar ist es denkbar, dass die Gemeinschaft wegen der Regelung in Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRC einen höheren Grundrechtsschutz bietet als die EMRK und deswegen nach Art. 52 Abs. 1 GRC doch ein förmliches Gesetz für die Einschränkung von Gemeinschaftsgrundrechten zu verlangen ist. Plausibel ist dieses Ergebnis jedoch nicht, weil die allgemeine Vorschrift des Art. 52 Abs. 1 GRC, die den Mindeststandard der Charta formuliert,204 dann einen spezielleren Gesetzesvorbehalt aufwiese, als es bei einem Schrankentransfer aus der EMRK nach der besonderen Bestimmung des Art. 52 Abs. 3 GRC der Fall wäre. Ohnehin ist der Europäischen Gemeinschaft im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten die Kategorie eines Gesetzes fremd, da Art. 249 EG nur Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen und Stellungnahmen als Handlungsformen der Gemeinschaft benennt.205 Die wechselvolle Entstehungsgeschichte des Art. 52 Abs. 1 GRC206 lässt ebenfalls nicht auf ei200 Bereits in einigen vorhergehenden Entscheidungen hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Rechtsprechung der staatlichen Gerichte zur Begründung dafür herangezogen, dass der Eingriff in das Konventionsrecht vom nationalen Recht vorgesehen gewesen ist: EGMR, 24.5.1988, App. 10737/84, Rn. 29 (Müller); 7.10.1988, App. 10519/83, Rn. 29 (Salabiaku); 20.11.1989, App. 10572/83, Rn. 30 (Markt Intern Verlag GmbH & Beermann). 201 Zu Recht hält sich der Gerichtshof für Menschenrechte in Bezug auf die einzelstaatliche Kompetenzordnung mit den formellen Anforderungen für eine Einschränkung von Konventionsgrundrechten zurück, weil er als supranationales Gericht im Gegensatz zum deutschen Bundesverfassungsgericht nicht über die Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Bundesrepublik letztverbindlich zu entscheiden hat. 202 EKMR, 13.7.1995, App. 18139/91, Rn. 37 (Miloslavky). 203 EGMR (GrK), 22.3.2001, App. 34044/96, 35532/97, 44801/98, Rn. 57 (Streletz, Keßler, Krenz). 204 Goldsmith, CML Rev 2001, S. 1201 (1214).
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nen Parlamentsvorbehalt schließen, was etwa die Äußerung des Konventsmitglieds Friedrich (EP; D) belegt. Der deutsche Abgeordnete setzte sich gegen die Verwendung des Wortes „Gesetz“ in Art. 52 Abs. 1 GRC ein, weil darunter ein Gesetz im formellen Sinne gemeint sein könnte und es auf der Gemeinschaftsebene wegen der nur unvollkommenen Gewaltenteilung zwischen Rat, Kommission und Parlament gar kein Konzept eines formellen Gemeinschaftsgesetzes geben könne.207 Seinem Wortlaut nach stellt Art. 52 Abs. 1 GRC denn auch nur die Voraussetzung auf, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen sein muss. Das lässt ohne weiteres eine materielle Auslegung des Gesetzesbegriffs zu, nach dem jede gemeinschaftliche Rechtsnorm mit Außenwirkung für die Beschränkung von Gemeinschaftsgrundrechten in Betracht kommt.208 Im Ergebnis ist die Voraussetzung einer gesetzlich vorausgesehen Grundrechtsschranke in Art. 52 Abs. 1 GRC daher ebenso wie der vom EGMR entwickelte Gesetzesvorbehalt zu verstehen.209 Auf jeden Fall genügen Europäische Verordnungen und Richtlinien sowohl dem in Art. 52 Abs. 1 GRC genannten als auch dem aus Art. 11 Abs. 1 EMRK auf Art. 28 Var. 2 GRC zu übertragenden Gesetzesvorbehalt.210
205 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 456; Triantafyllou, CML Rev 2002, S. 53 (59). 206 Siehe hierzu: Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 225 ff. 207 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 176. 208 Bloß interne Verwaltungsvorschriften können dem Gesetzesvorbehalt in Art. 52 Abs. 1 GRC insbesondere wegen ihrer unzureichenden Publizität hingegen nicht genügen; vgl. EGMR, 25.3.1983, App. 5947/72, 6205/73, 7052/75, 7061/75, 7107/75, 7113/75, 7136/75, Rn. 86 (Silver), Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 248. 209 In weiten Teilen des Schrifttums wird diese Voraussetzung in Art. 52 Abs. 1 GRC zutreffend als „allgemeiner Rechtsnormvorbehalt“ verstanden; Meyer – Borowsky, GRC, Art. 52, Rn. 20; Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 246; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 440, 456; vgl. auch Weber, NJW 2000, S. 537 (543); a. A.: Ehlers – Calliess, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20, Rn. 15; Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, S. 139. 210 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 456; Triantafyllou, CML Rev 2002, S. 53 (60). Dabei sollte nicht verlangt werden, dass die betreffende Regelung in einem Mitentscheidungsverfahren nach Art. 251 EG erlassen worden ist; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 457; kritisch hingegen: Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 250. Exkurs zum Europäischen Verfassungsvertrag: Nach dem Europäischen Verfassungsvertrag werden die bisherigen Verordnungen und Richtlinien gemäß Art. I-33 Abs. 1 EVV durch „Europäische Gesetze“ und „Europäische Rahmengesetze“ ersetzt, so dass diese beiden Handlungsinstrumente der Union dann dem Wortlaut des Art. II112 Abs. 1 EVV entsprechend gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Unions-
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b) Die sonstigen Voraussetzungen einer gemeinschaftsrechtlichen Beschränkung des Art. 28 Var. 2 GRC Im Übrigen stellen die ansonsten in Art. 52 Abs. 1 GRC genannten Schranken-Schranken, wie das Konventspräsidium in den Erläuterungen zu Art. 52 GRC zutreffend ausgeführt hat,211 keine Neuerungen im dogmatischen Gefüge des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes dar.212 Die Achtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Wesensgehaltsgarantie sind für die Begrenzung von Gemeinschaftsgrundrechten in der gefestigten Rechtsprechung des EuGH anerkannt. Insbesondere im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation können die Gemeinschaftsgrundrechte nach der Rechtsprechung des EuGH Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienen Zwecken der Gemeinschaft entsprechen und keinen in Hinblick auf diese Zwecke unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die Grundrechte in ihrem Wesensgehalt antastet.213 Wegen Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC in Verbindung mit Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK ist allerdings zu verlangen, dass die Grundrechtsbegrenzung in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral notwendig ist, und nicht nur dem abstrakteren, in Art. 52 Abs. 1 GRC genannten Gemeinwohl dient. Als kollidierendes Grundrecht Dritter, das im Sinne des Art. 52 Abs. 1 GRC die Beschränkung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen rechtfertigen kann,214 kommt insbesondere die in Art. 16 GRC geschützte unternehmerische Freiheit in Betracht.215 2. Die Voraussetzungen für die mitgliedstaatliche Beschränkung des Art. 28 Var. 2 GRC Neben den gemeinschaftsrechtlichen Schranken kann Art. 28 Var. 2 GRC aufgrund einzelstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten eingeschränkt werden. Die nationale Grundrechtsschranke unterliegt im Gegensatz zu Grundrechtsbegrenzungen im Gemeinschaftsrecht nicht den in Art. 52 GRC genannten Voraussetzungen, so dass die Mitgliedstaaten in Übereinstimmung mit grundrechte enthalten können; vgl. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, S. 139 ff. 211 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 48; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 456. 212 Zu diesen allgemeinen Voraussetzungen siehe: Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 440 ff. 213 Vgl. statt aller: EuGH, 13.4.2000, Rs. C-292/97, Rn. 45 (Karlsson). 214 Auch diese Einschränkungsmöglichkeit ist in der Rechtssprechung des EuGH (23.10.2003, Rs. C-245/01, Rn. 70 f. – RTL) bereits ausdrücklich anerkannt worden. 215 Däubler, AuR 2001, S. 380 (383).
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der in Art. 137 Abs. 5 EG vorgesehenen Kompetenzverteilung darüber disponieren können, inwieweit die gemeinschaftliche Grundrechtsverbürgung in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet ausgeübt werden darf. Deswegen können die an einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten zu stellenden Anforderungen ausschließlich formeller Natur sein. a) Einzelstaatliche Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC Ein Vergleich zwischen den in Art. 28 Var. 2 GRC genannten einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und der Vorschrift des Art. 52 Abs. 1 GRC, nach welcher Beschränkungen der Gemeinschaftsgrundrechte gesetzlich vorgesehen sein müssen, lässt zunächst wenig Gemeinsamkeiten erkennen. Nach dem deutschen Sprachverständnis scheint Art. 52 Abs. 1 GRC für die Beschränkung eines Gemeinschaftsgrundrechts ein Gesetz und Art. 28 Var. 2 GRC eine im Vergleich dazu niederrangige Rechtsvorschrift zu fordern. In der französischen Fassung der Grundrechtecharta lässt sich diese Divergenz allerdings schon nicht mehr nachweisen, weil dort in Art. 52 Abs. 1 GRC und Art. 28 Var. 2 GRC übereinstimmend ein Legislativakt gefordert wird,216 und in der englischen Version der Grundrechtecharta besteht nicht einmal ein sprachlicher Unterschied zwischen den in Art. 52 Abs. 1 GRC und den in Art. 28 Var. 2 GRC genannten nationalen Vorschriften, die als Grundrechtsschranke in Betracht kommen, da beide Bestimmungen das Wort „law“217 enthalten. Die im französischen und englischen Text der Grundrechtecharta vorfindbare Übereinstimmung zwischen dem Gesetzesvorbehalt in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC und dem Erfordernis nationaler Rechtsvorschriften in Art. 28 Var. 2 GRC findet sich im deutschen Normtext insofern wieder, als dass der Vorbehalt des Gemeinschaftsrechts in Art. 28 Var. 2 GRC auf die Regelung in Art. 52 GRC verweist und also jedenfalls der Begriff des Gemeinschaftsrechts in Art. 28 Var. 2 GRC mit dem Inhalt des Gesetzesvorbehalts aus Art. 52 GRC übereinstimmt. Für die neben dem Gemeinschaftsrecht in Art. 28 Var. 2 GRC stehenden nationalen Rechtsvorschriften 216 Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC lautet in seiner französischen Fassung wie folgt: „Toute limitation de l’exercice des droits et libertés reconnus par la présente Charte doit être prévue par la loi et respecter le contenu essentiel desdits droits et libertés.“ – Hervorhebungen vom Verfasser. Art. 28 Var. 2 GRC verlangt in seiner französischen Fassung ebenfalls ein Legislativakt: „Les travailleurs et les employeurs, ou leurs organisations respectives, ont, conformément au droit communautaire et aux législations et pratiques nationales, le droit de négocier et de conclure des conventions collectives aux niveaux appropriés et de recourir, en cas de conflits d’intérêts, à des actions collectives pour la défense de leurs intérêts, y compris la grève.“ – Hervorhebungen vom Verfasser. 217 In der englischen Sprachfassung heißt es in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC „provided for by law“ und in Art. 28 Var. 2 GRC „in accordance with Community law and national laws and practices“ – Hervorhebungen jeweils vom Verfasser.
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kann insofern nichts anderes gelten. Der Vorbehalt nationaler Rechtsvorschriften ist daher im Ergebnis ebenso zu verstehen, wie der gemeinschaftsrechtliche Gesetzesvorbehalt nach Art. 52 Abs. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK.218 Jedenfalls kann für die mitgliedstaatliche Einschränkung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen kein strengerer Gesetzesvorbehalt gelten als für die Gemeinschaft. Deshalb ist es aus systematischen und teleologischen Gründen angezeigt, den Begriff der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften unter Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR zum Gesetzesvorbehalt in der EMRK auszulegen. In Anlehnung an diese Rechtsprechung sind unter einer nationalen Rechtsvorschrift im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC daher alle materiellen Gesetze mit Außenwirkung sowie ständige Rechtsprechungen nationaler Gerichte zu verstehen. b) Einzelstaatliche Gepflogenheiten im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC Sehr viel schwieriger ist hingegen die Frage zu beantworten, was unter einzelstaatlichen Gepflogenheiten im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC zu verstehen ist. Gleichwohl ist dieser unbestimmte Rechtsbegriff dem europäischen Gemeinschaftsrecht nicht fremd. Art. 136 EG, der die sozialpolitischen Zielsetzungen der Gemeinschaft enthält, bestimmt, dass die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten der Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten Rechnung tragen.219 Art. 136 EG verweist zudem insbesondere auf vertragliche Beziehungen als Teil der zu wahrenden Gepflogenheiten. Nach allgemeiner Auffassung sind damit die kollektivvertraglichen Beziehungen der Tarifparteien gemeint.220 Eine weitere Bezugnahme auf einzelstaatliche Gepflogenheiten findet sich in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG, der die Durchführung europäischer Sozialpartnervereinbarungen nach den Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner und der Mitgliedstaaten vorsieht. In diesem Zusammenhang geht es um die Umsetzung europäischer Vereinbarungen in das nationale Recht durch den Abschluss von Tarifverträgen.221 Im Gemeinschaftsvertrag sind also mit Gepflogenheiten vor allem die mitgliedstaatlichen Tarifvertragssysteme gemeint. 218 Zum gleichen Ergebnis kommt man, wenn man den Vorbehalt einzelstaatlicher Rechtsvorschriften statt dessen parallel zum Gesetzesvorbehalt des Art. 52 Abs. 1 GRC auslegt. 219 Damit wird das in Art. 5 Abs. 2 EG niedergelegte Subsidiaritätsprinzip angesprochen, das im Rahmen des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC berücksichtigt wird. 220 Lenz/Borchardt – Coen, Art. 136 EGV, Rn. 3; Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 136 EGV, Rn. 9; Schwarze – Rebhahn, Art. 136 EGV, Rn. 15. 221 Vgl. statt aller: Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 23 (m.w. N.).
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Obwohl der Begriff der einzelstaatlichen Gepflogenheiten mehrfach auch im sekundären Gemeinschaftsrecht, etwa in Art. 2 der Richtlinie 95/45/EG oder Art. 2 der Richtlinie 92/85/EWG222 verwendet wird, fehlt es hierzu – soweit ersichtlich – an einer genaueren Begriffsbestimmung. Aufschlussreicher ist hingegen der Wortlaut des Art. 12 EG-SC, nach dem die Arbeitgeber und die Arbeitgebervereinigungen einerseits und die Arbeitnehmervereinigungen andererseits das Recht haben, unter den Bedingungen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen. Das ist mit der in Art. 28 GRC enthaltenen Formulierung identisch. Bezeichnenderweise findet sich in der EG-SC der Vorbehalt einzelstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten innerhalb des Kapitels „Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungen“ ausschließlich bei der Tarifautonomie wieder. Das lässt ebenfalls darauf schließen, dass mit der Bezugnahme auf nationale Gepflogenheiten die Tarifvertragssysteme der Mitgliedstaaten gemeint sind. Der Zweck des nationalen Vorbehalts in Art. 28 GRC kann es nur sein, den sozialpolitischen Akteuren auf der mitgliedstaatlichen Ebene den ihnen vom nationalen Verfassungsrecht eingeräumten Spielraum zu belassen. Damit sind insbesondere die nationalen Tarifvertragsparteien gemeint, die beispielsweise in Deutschland nach Art. 9 Abs. 3 GG zur Regelung der Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen berufen sind. Tatsächlich werden diejenigen Sachbereiche, auf die sich die unter dem Vorbehalt einzelstaatlicher Gepflogenheiten stehenden Gemeinschaftsgrundrechte beziehen, in den Mitgliedstaaten von den nationalen Koalitionen geregelt.223 In den betreffenden Grundrechten des vierten Kapitels der Grundrechtecharta werden etwa mit dem Recht auf Schutz vor ungerechtfertigter Kündigung nach Art. 30 GRC oder dem Grundsatz des sozialen Schutzes bei Mutterschaft oder Pflegebedürftigkeit nach Art. 34 Abs. 1 GRC Materien behandelt, die in vielen Mitgliedstaaten in die Tarifzuständigkeit der Koalitionen fallen. Das gilt ebenfalls für die unternehmerische Freiheit nach Art. 16 GRC, weil die sozialpolitischen Entscheidungen der nationalen Arbeitgeberund Arbeitnehmervereinigungen die wirtschaftliche Freiheit durchaus beschränken können.224
222 Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (ABl. Nr. L 348, 28.11.1992, S. 1 ff.). 223 Dazu gehören die Grundrechte aus den Art. 16, 27, 28, 30, 34 Abs. 1 bis 3, 35 und 36 GRC. 224 Vgl. Streinz – Eichenhofer, Art. 136 EGV, Rn. 24. In Art. 136 EG bringt der EG-Vertrag diesen Zusammenhang dadurch zum Ausdruck, dass ein sozialpolitisches Vorgehen der Gemeinschaft durch die Pflicht zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen begrenzt wird.
180
1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
Insbesondere für Art. 28 Var. 2 GRC ist die Auslegung des Begriffs der einzelstaatlichen Gepflogenheiten in Zusammenhang mit den nationalen Tarifsystemen wegen der Norminhalte des Art. 6 Nr. 4 ESC und des Art. 13 EG-SC plausibel. In Art. 6 Nr. 4 ESC wird das Recht auf kollektive Maßnahmen nur unter dem Vorbehalt entgegenstehender „Gesamtarbeitsverträge“ gewährleistet. Das bezieht sich insbesondere auf die tarifliche Friedenspflicht und versagt allen Arbeitskämpfen den Schutz des Art. 6 Nr. 4 ESC, die unter Verletzung einer tariflichen Bestimmung geführt werden.225 Ebenso ist in Art. 13 EG-SC vorgesehen, dass das Recht auf kollektive Maßnahmen aufgrund einer tariflichen Verpflichtung ausgeschlossen sein kann. Daraus ergibt sich, dass auch das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen durch den Abschluss von Tarifverträgen begrenzt und ausgeschlossen werden kann. Im Tatbestand des Art. 28 Var. 2 GRC lässt sich diese Beschränkungsmöglichkeit lediglich im Merkmal der einzelstaatlichen Gepflogenheiten verorten. Es spricht somit zunächst alles dafür, jedenfalls nationale Tarifverträge als einzelstaatliche Gepflogenheit anzusehen.226 Der Wortlaut des Art. 28 GRC, der aber nicht von Tarifverträgen, sondern von einzelstaatlichen Gepflogenheiten spricht, zwingt dazu, einzelstaatliche Gepflogenheiten nicht mit Tarifverträgen gleichzusetzen. Daher gilt es zu bedenken, dass die Beschränkung von Gemeinschaftsgrundrechten aufgrund der Rechtssetzung nationaler Tarifvertragsparteien eine Ausübung des in Art. 28 Var. 1 GRC beschriebenen Verhaltens erfordert. Der Eingriff der Tarifparteien in den Schutzbereich eines Gemeinschaftsgrundrechts, das unter dem Vorbehalt einzelstaatlicher Gepflogenheiten steht, setzt also ein Verhalten voraus, das seinerseits in den Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen fällt. Damit handelt es sich insoweit um eine Kollision zwischen der Geltung eines unter dem Vorbehalt einzelstaatlicher Gepflogenheiten stehenden Gemeinschaftsgrundrechts einerseits und dem grundrechtlich geschützten Regelungsanspruch der Tarifparteien andererseits. Eine derartige Grundrechtskollision ist allerdings keine Besonderheit, sondern in Art. 52 Abs. 1 GRC ausdrücklich geregelt. Die Bestimmung nennt den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer als zulässigen Grund für die Begrenzung von Gemeinschaftsgrundrechten. Soweit in der Charta also bestimmte Gemeinschaftsgrundrechte unter den Vorbehalt einzelstaatlicher Gepflogenheiten gestellt sind, wird damit die typische Kollision zwischen dem Recht auf kollektive Verhandlungen aus Art. 28 Var. 1 GRC und dem entsprechenden Gemeinschaftsgrundrecht einseitig zugunsten des Rechts auf kollektive Verhandlungen aufgelöst. Soweit der Vorbehalt einzelstaatlicher Gepflogenheiten über die Einschränkung der betreffenden Grundrechte durch Tarifverträge hinausgeht, ist demnach 225 226
Vgl. Agnelli – Däubler, Die Europäische Sozialcharta, S. 103 (116 f.). Vgl. Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 102.
§ 3 Die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
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zu verlangen, dass eine vergleichbare Grundrechtskollision vorliegt. Auch aus der Gegenüberstellung von einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und einzelstaatlichen Gepflogenheiten ergibt sich, dass sich der Vorbehalt einzelstaatlicher Rechtsvorschriften auf die Einschränkung durch staatlich-hoheitlich gesetztes Recht bezieht und der Vorbehalt einzelstaatlicher Gepflogenheiten Einschränkungen des jeweiligen Grundrechts aufgrund grundrechtlich-autonom gesetzten Rechts gestattet.227 Versteht man den Vorbehalt einzelstaatlicher Gepflogenheiten auf diese Weise, lässt er sich nicht nur bruchlos in die Dogmatik des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes einfügen, sondern erlaubt darüber hinaus eine klare Grenzziehung hinsichtlich der Frage, welche Bestimmungen neben Tarifverträgen nationale Gepflogenheiten darstellen können.228 Dafür kommen sämtliche Regelungen in Frage, die ihrerseits in Ausübung eines Verhaltens geschaffen worden sind, das in den Schutzbereich eines Gemeinschaftsgrundrechts fällt. Eine nach deutschem Recht abgeschlossene Betriebsvereinbarung stellt folglich keine Gepflogenheit im Sinne des Art. 28 GRC dar, weil ihr Abschluss weder vom Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen noch von einem anderen Gemeinschaftsgrundrecht geschützt wird. Demgegenüber kommt ein unter Ausübung der in Art. 15 GRC und 16 GRC geschützten Arbeitsvertragsfreiheit zustande gekommener Arbeitsvertrag durchaus als einzelstaatliche Gepflogenheit in Betracht. Jedoch wird man Arbeitsverträge nicht als Gepflogenheiten im Sinne des Art. 28 GRC anerkennen können, weil sowohl das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen als auch das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen dem Ausgleich des Kräfteungleichgewichts im Arbeitsvertragsverhältnis dienen. Es widerspräche dem besonderen Zweck dieser Grundrechte, wenn ihre Geltung zur Disposition der Arbeitsvertragsparteien stünde. Anders verhält es sich hingegen bei den von den jeweiligen nationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen erlasse227 Im Unterschied zum nationalen deutschen Recht, nach dem die Tarifparteien ihrerseits an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden sind (vgl. Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 227, m.w. N.), steht die Wirksamkeit der entsprechend einschränkbaren Gemeinschaftsgrundrechte damit zur Disposition der nationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen. In Bezug auf diejenigen Chartarechte, die keinen Vorbehalt einzelstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten aufweisen, kann man Tarifverträge gegebenenfalls als „Gesetze“ im Sinne der Grundrechtecharta auffassen. Das hat dann aber zur Folge, dass die betreffenden Tarifparteien bei deren Begrenzung an die Schranken-Schranken des Art. 52 GRC gebunden sind. 228 Demgegenüber können Interpretationen dieses Begriffs, die unter Gepflogenheiten etwa Gewohnheitsrecht – das richtigerweise zu den ungeschriebenen Rechtsvorschriften der Einzelstaaten zu zählen ist –, sämtliche Maßnahmen der Exekutive (vgl. Triantafyllou, CML Rev 2001, S. 53, 61 f.) oder überkommene Bräuche verstehen wollen, schon wegen der Unbestimmtheit derartiger Begriffe nicht überzeugen. Zudem ist nicht ersichtlich, weshalb bloß tatsächliche Gegebenheiten zur Einschränkung von Grundrechten führen sollten.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
nen Satzungen, die unter dem Schutz der gemeinschaftsrechtlichen Vereinigungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GRC stehen. Sie sind als einzelstaatliche Gepflogenheiten im Sinne des Art. 28 GRC anzusehen.
§ 4 Verfassungsexkurs: Das Unionsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa Im Folgenden soll auf die Anerkennung und die Konkretisierung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen im Vertrag über eine Verfassung für Europa1 eingegangen werden. I. Zur Entstehungsgeschichte des Europäischen Verfassungsvertrages Die Idee einer „Europäischen Verfassung“, die bereits in den Jahren des Zweiten Weltkriegs in mehreren europäischen Staaten aufkam,2 ist älter als die mit den Römischen Verträgen am 25. März 1957 gegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Obwohl die mit diesen Verträgen geschaffenen supranationalen Einrichtungen keinen „europäischen Superstaat“ begründet haben, hat der Europäische Gerichtshof das Gemeinschaftsrecht in einem ersten Schritt als jeglichem nationalen Recht vorgehende autonome Rechtsordnung interpretiert.3 Folgerichtig hat der EuGH diese Konzeption der Gemeinschaft auf das europäische Vertragsrecht übertragen und bezeichnet den Gemeinschaftsvertrag in ständiger Rechtsprechung als Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft.4 Innerhalb der Integrationsgeschichte der europäischen Rechtsgemeinschaft gab es immer wieder Bemühungen, das primäre Gemeinschaftsrecht auch dem Namen nach zu einem „Europäischen Verfassungsrecht“ weiterzuentwickeln.5 Dazu gehört beispielsweise die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Februar 1994 über die Verabschiedung einer Verfassung der Europäischen Union.6 Gleichwohl erhielten alle diesbezüglichen Initiativen und Bemühungen wenig Beachtung und blieben letztlich vergebens. Einen Impuls bekam die Frage nach einer Europäischen Verfassung mit dem Vertrag von Nizza. In der Schlussakte der Gipfelkonferenz legten die Mitglied1
ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 1 ff. Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 3. 3 EuGH, 15.7.1964, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (Costa/E.N.E.L.); 9.3.1978, Rs. 106/ 77, Slg. 1978, 629, Rn. 17/18 (Simmenthal). 4 EuGH, 23.4.1986, Rs. 296/83, Rn. 23 (Les Verts); 10.7.2003, Rs. C-15/00, Rn. 75 (Niederlande/Europäische Investitionsbank); EuG, 21.9.2005, Rs. T-306/01, Rn. 260 (Yusuf). 5 Vgl. Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 1 ff. (m.w. N.). 6 ABl. Nr. C 61, 28.2.1994, S. 155. 2
§ 4 Exkurs zum EVV: Das Unionsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen
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staaten in der Erklärung zur Zukunft der Union fest, dass über die künftige Entwicklung der Europäischen Union eine breit angelegte Diskussion aufgenommen werden solle und leiteten damit den so genannten Post-Nizza-Prozess ein. In diesem sollte insbesondere die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, der Status der Grundrechtecharta, die Vereinfachung der Verträge und die Stellung der nationalen Parlamente geklärt werden.7 Wie bereits auf dem Gipfel in Nizza angekündigt, beschloss der Europäische Rat beim Gipfeltreffen in Laeken am 14./15. Dezember 2001 die Europäischen Verträge mit dem Ziel, die Union demokratischer, transparenter und effizienter zu gestalten, grundlegend überarbeiten zu lassen.8 Da sich die einst als wirtschaftliche und technische Interessengemeinschaft gegründete Gemeinschaft im Laufe der Zeit zu einer politischen Union mit einer gemeinsamen Währung entwickelt habe, die auf den Gebieten Sozialpolitik, Beschäftigung, Asyl, Migration, Polizei, Justiz, Außenpolitik sowie einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zusammenarbeite, war nach der Auffassung des Rates die Überarbeitung der Europäischen Verträge nötig geworden. Fünfzig Jahre nach ihrer Gründung habe sich die Gemeinschaft zudem um mehr als zehn neue, vor allem mittel- und osteuropäische Staaten erweitert. Das mache eine grundlegende Neuordnung erforderlich, die ein anderes Konzept verlange als das bei der Gründung der Gemeinschaft verfolgte. Zur Umsetzung dieses Ziels beschloss der Rat in Laeken, einen „Konvent zur Zukunft Europas“ einzuberufen. Die Arbeitsweise dieses Gremiums, das in der Folgezeit auch „Europäischer Konvent“ genannt wurde, ist derjenigen des Grundrechtskonvents nachempfunden worden. Zum Vorsitzenden des Europäischen Konvents bestellte der Rat Valéry Giscard d’Estaing sowie Giuliano Amato und Jean-Luc Dehaene zu dessen Stellvertretern.9 Die Aufgabe des Konvents war allerdings äußerst vage gefasst. Er sollte nach der Erklärung des Rates von Laeken die sich stellenden Fragen prüfen und könne ein Abschlussdokument erstellen, das entweder verschiedene Optionen mit der Angabe, inwieweit diese Optionen im Konvent Unterstützung gefunden haben, oder – im Falle eines Konsenses – Empfehlungen enthalten. Zusammen mit den Ergebnissen der Debatten in den einzelnen Staaten über die Zukunft der Union sollte das Abschlussdokument als Ausgangspunkt für die Arbeiten der künftigen Regierungskonferenz dienen, die sich die endgültige Beschlussfassung vorbehielt.10
7
ABl. Nr. C 80, 10.3.2001, S. 85 f. Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, Bulletin der Europäischen Union 2001, Heft 12, S. 21 ff.; ebenfalls abgedruckt bei: Blank, Soziale Grundrechte in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 49 ff. 9 Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, Bulletin der Europäischen Union 2001, Heft 12, S. 25 ff. 10 Vgl. zum Europäischen Konvent: Oppermann, DVBl. 2003, S. 1165 ff. 8
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
Der Europäische Konvent, der seine Arbeit am 1. März 2002 aufgenommen hatte, beschränkte sich mit dem Abschlussdokument aber nicht auf Optionen oder Empfehlungen, sondern legte dem Europäischen Rat bei der Tagung am 19./20. Juni 2003 im griechischen Thessaloniki den Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa11 vor. Der Europäische Rat begrüßte den Entwurf als historischen Schritt zur Förderung der Ziele der europäischen Integration,12 sah ihn als Ausgangsbasis für die künftige Regierungskonferenz und ersuchte den italienischen Ratsvorsitz, das Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 EU einzuleiten. Der erste Anlauf des Europäischen Rates, den Verfassungsvertrag auf dem Gipfeltreffen von Brüssel unter italienischer Ratspräsidentschaft am 12. Dezember 2003 anzunehmen, scheiterte, weil insbesondere kein Einvernehmen über die Frage der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit erzielt werden konnte.13 Erst bei der Tagung des Europäischen Rates am 17./18. Juni 2004 konnte unter irischer Ratspräsidentschaft und nach mehreren Änderungen am Verfassungsentwurf Einigkeit hergestellt werden,14 so dass am 29. Oktober 2004 die endgültige Fassung des Vertrages über eine Verfassung für Europa von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet und im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht werden konnte.15 Gemäß Art. IV-447 EVV sollte das Inkrafttreten der EU-Verfassung davon abhängen, dass alle EU-Mitgliedstaaten das Vertragswerk nach ihren jeweiligen nationalverfassungsrechtlichen Vorschriften ratifizieren. Seinen Erläuterungen zum Ratifikationsverfahren zufolge wollte sich der Europäische Rat im Jahre 2006 erneut mit der Verfassung befassen, wenn sie bis dahin wenigstens von vier Fünfteln der Mitgliedstaaten ratifiziert worden sei und bei der Ratifikation in einem oder mehreren Mitgliedstaaten Schwierigkeiten aufgetreten sein sollten. Zu Beginn des Ratifikationsprozesses konnte von Schwierigkeiten gar keine Rede sein. Bis zum Sommer 2005 hatten bereits Deutschland, Griechenland, Italien, Lettland, Litauen, Malta, Österreich, die Slowakei, Slowenien, Spanien sowie Ungarn die EU-Verfassung ratifiziert. Die vom Europäischen Rat genannten Schwierigkeiten stellten sich dann aber bei den in Frankreich am 29. Mai 2005 und in den Niederlanden am 1. Juni 2005 abgehaltenen Referenden zum Europäischen Verfassungsvertrag ein, bei denen sich die Bevölkerungen der beiden Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft mit deutlichen Mehrheiten von 55 % in Frankreich und 62 % in den Niederlanden gegen die 11 Konventsdokument CONV 850/3, 18.07.2003; ABl. Nr. C 169, 18.07.2003, S. 1 ff. 12 Bulletin der Europäischen Union 2003, Heft 6, S. 10. 13 Bulletin der Europäischen Union 2003, Heft 12, S. 27. 14 Bulletin der Europäischen Union 2004, Heft 6, S. 25. 15 ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 1 ff.
§ 4 Exkurs zum EVV: Das Unionsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen
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Annahme der Europäischen Verfassung ausgesprochen haben. Anschließend haben aber dennoch Zypern, Luxemburg, Belgien und Estland die Europäische Verfassung angenommen. Ferner haben die beiden jüngsten EU-Mitglieder, Bulgarien und Rumänien, mit ihrem Beitritt den Verfassungsvertrag akzeptiert. Damit haben letztlich 17 der 27 Mitgliedstaaten die Verfassung ratifiziert.16 Aufgrund der Referenden in Frankreich und den Niederlanden beschloss der Europäische Rat unter britischer Präsidentschaft am 16./17. Juni 2005, in allen Mitgliedstaaten zunächst eine intensive und breite Debatte über die Verfassung sowie die Wünsche und Sorgen der Bürger zu führen und aus dieser gemeinsamen Reflexionsphase im ersten Halbjahr 2006 Schlussfolgerungen zu ziehen.17,18 II. Das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen im Europäischen Verfassungsvertrag Obwohl die Konturen des künftig geltenden europäischen Vertragsrechts noch nicht mit Sicherheit im Einzelnen abzusehen sind, soll im Folgenden ein Blick darauf geworfen werden, welchen Grundrechtsschutz die Union nach dem Europäischen Verfassungsvertrag gewährleistet und wie sich die Verfassung zum Grundrecht auf kollektive Maßnahmen verhält.19
16 Eine ausführliche Dokumentation des Ratifikationsprozesses findet sich auf dem Internetportal der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb.de/themen/R9O5GA,0,0, Ratifizierung_der_Verfassung.html). 17 Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zur Ratifizierung des Vertrages über eine Verfassung für Europa, Bulletin der Europäischen Union 2005, Heft 6, S. 27 f. 18 Nach einer etwa zweijährigen Stagnation hat sich der Europäische Rat unter deutscher Präsidentschaft mittlerweile auf dem Brüsseler Gipfel vom 21./22. Juni 2007 auf die Einsetzung einer Regierungskonferenz geeinigt, die einen neuen „Reformvertrag“ nach Art. 48 EU erarbeiten soll. 19 Selbst wenn nicht mehr mit einem Inkrafttreten des Verfassungsvertrages gerechnet werden kann, ist diese Betrachtung ein lohnendes Unterfangen. Denn nach dem Mandat der Regierungskonferenz 2007 soll der Reformvertrag in Bezug auf den Schutz der Grundrechte im Wesentlichen auf die Bestimmungen des Verfassungsvertrages zurückgreifen; vgl. Rat der Europäischen Union, 26.6.2007, 11218/07, POLGEN 74, S. 4. Die Regelungen des Verfassungsvertrages zu den Grundrechten haben daher in der Sache nach wie vor das Potential, in absehbarer Zeit geltendes europäisches Primärrecht zu werden. Das Vereinigte Königreich sowie zwei weitere Mitgliedstaaten haben sich allerdings eine eingeschränkte Geltung der Grundrechtecharta vorbehalten und die Republik Polen hat eine einschränkende einseitige Erklärung zu Protokoll gegeben, die sich auf das Recht der Mitgliedstaaten bezieht, „in den Bereichen der öffentlichen Sittlichkeit, des Familienrechts sowie des Schutzes der Menschenwürde und der körperlichen und moralischen Unversehrtheit Recht zu setzen“, vgl. Rat der Europäischen Union, 26.6. 2007, 11218/07, POLGEN 74, S. 12.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
1. Die Implementierung der Grundrechtecharta und der Beitritt zur EMRK Bereits im Beschluss zur Einsetzung des Grundrechtskonvents auf dem Kölner Gipfel im Juni 1999 hatte der Rat entschieden, dass die Frage nach der Aufnahme der Charta in die Verträge und damit die Frage nach ihrer rechtlichen Verbindlichkeit erst nach dem Abschluss der Arbeiten an der Charta geklärt werden solle.20 Daran hielt der Rat in seiner Erklärung von Nizza im Dezember 2000 fest und überließ diese Entscheidung einer späteren Regierungskonferenz.21 Bei der Einsetzung des Europäischen Konvents im Dezember 2001 gab der Rat dem Konvent dann aber auf, darüber nachzudenken, ob die Charta in die Verträge aufgenommen werden und die Union der EMRK beitreten solle.22 Mit beiden Fragestellungen hatte sich innerhalb des Europäischen Konvents die Arbeitsgruppe II (Einbeziehung der Charta/Beitritt zur EMRK) unter dem Vorsitz von António Vitorino zu beschäftigen, der als Vertreter der Kommission schon im Grundrechtskonvent an der Ausarbeitung der Charta mitgewirkt hatte. Zu der ersten Frage schlug die Arbeitsgruppe die Aufnahme der Grundrechtecharta in den Verfassungsvertrag vor und setzte sich mit diesem Vorschlag im Plenum des Europäischen Konvents durch. Die späteren Regierungskonferenzen ließen diese Entscheidung unberührt, so dass sich im ersten Teil des Verfassungsvertrages, der die Grundentscheidungen des europäischen Primärrechts enthält, unter Art. I-9 Abs. 1 EVV die folgende – im Gegensatz zu Art. 6 EU eigens den Grundrechten gewidmete – Bestimmung findet: „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte, die den Teil II bildet, enthalten sind.“23
Der zweite Teil der Europäischen Verfassung enthält dementsprechend die in Nizza feierlich proklamierte Grundrechtecharta, die lediglich einigen sprachlichen Anpassungen an den Verfassungsvertrag unterzogen24 und deren Art. 52 GRC als Art. II-112 EVV um vier weitere Absätze ergänzt wurde. 20 Beschluss des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Bulletin der Europäischen Union 1999, Heft 6, S. 40. 21 Bulletin der Europäischen Union 1999, Heft 12, S. 8. 22 Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, Bulletin der Europäischen Union 2001, Heft 12, S. 24. 23 Anders als in der Europäischen Verfassung vorgesehen soll die Charta mit dem künftigen Reformvertrag nicht in den EU-Vertrag aufgenommen werden. Vielmehr soll Art. 6 Abs. 1 Satz 1 des neuen EU-Vertrages auf die Grundrechtecharta in der Fassung, die sie in der Europäischen Verfassung erhalten hat, verweisen und sie dadurch rechtsverbindlich machen; vgl. Rat der Europäischen Union, 26.6.2007, 11218/ 07, POLGEN 74, Anlage 1: Änderungen des EU-Vertrages, S. 12. 24 Da die Union nach Art. IV-3 EVV die Rechtsfolge der Gemeinschaft antreten sollte, musste beispielsweise das Wort „Gemeinschaft“ durchgehend durch „Union“ er-
§ 4 Exkurs zum EVV: Das Unionsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen
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Die weitere Frage nach einem Beitritt der Union zur EMRK, die sich die Arbeitsgruppe II zu stellen hatte, geht auf eine Diskussion zurück, die bereits mit einer Entschließung des Europäischen Parlaments vom 27. April 197925 ausgelöst wurde. Erst ein 1996 erstelltes Gutachten des Europäischen Gerichtshofs, das der Gemeinschaft eine Kompetenz zum EMRK-Beitritt absprach und hierfür eine Vertragsänderung verlangte,26 sowie die Ausarbeitung der Grundrechtecharta als eigenständiger Grundrechtskatalog der Gemeinschaft schienen der Diskussion ein Ende bereitet zu haben.27 Die Arbeitsgruppe II des Verfassungskonvents befürwortete dennoch die Schaffung der vom EuGH geforderten Rechtsgrundlage, die den Beitritt der Union zur EMRK ermöglichen sollte. Damit sollte Kohärenz zwischen der Union und dem gesamteuropäischen Menschenrechtssystem des Europarats geschaffen, der unionale mit dem mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutz harmonisiert und der Gleichklang der Rechtsprechung des EuGH mit derjenigen des EGMR sichergestellt werden.28 Auch damit konnte sich die Arbeitsgruppe II im Plenum durchsetzen. Zunächst sah Art. 7 Abs. 2 des vom Konvent vorgelegten Verfassungsentwurfs lediglich vor, dass die Union den Beitritt zur EMRK anstrebe.29 Diese Bestimmung wurde vom Europäischen Rat abgeändert und erhielt als Art. I-9 Abs. 2 EVV einen unzweideutigen Wortlaut: „Die Union tritt der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei. Dieser Beitritt ändert nicht die in der Verfassung festgelegten Zuständigkeiten der Union.“30
Zu diesem Beitritt der Europäischen Union, der vor allem die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem EGMR und dem EuGH aufwirft,31 bemerkte die Regierungskonferenz in ihrer Erklärung zu Art. I-9 Abs. 2 EVV recht lapidar, dass durch den Beitritt der Union zur EMRK der Dialog zwischen den beiden Gerichtshöfen intensiviert werden könnte.32 Es ist anzunehmen, dass Entscheisetzt werden; vgl. zu dieser und den übrigen Änderungen den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II, CONV 354/04, WG II 16, 22.10.2002, S. 2 ff. 25 Abgedruckt in: EuGRZ 1979, 257. 26 EuGH, 28.3.1996, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759 (EMRK-Beitritt). 27 Vgl. Ehlers – Walter, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 1, Rn. 29. 28 CONV 354/04, WG II 16, 22.10.2002, S. 11 f. 29 Vgl. Lenaerts/Gerard, European Law Review 2004, S. 289 (318); Oppermann, DVBl. 2003, S. 1234 (1243); J. Schwarze, EuR 2003, S. 535 (541). 30 Der Beitritt zur EMRK soll nach dem Mandat der Regierungskonferenz 2007 als Art. 6 Abs. 2 in den künftigen EU-Vertrag übernommen werden; vgl. Rat der Europäischen Union, 26.6.2007, 11218/07, POLGEN 74, Anlage 1: Änderungen des EU-Vertrages, S. 13. 31 Siehe dazu: Busek/Hummer – Grabenwarter, Der Europäische Konvent und sein Ergebnis – eine Europäische Verfassung, S. 71 (85 ff.). Vgl. zum Ganzen: Beckmann/ Dieringer/Hufeld – Gündisch, Eine Verfassung für Europa, S. 429 (438). 32 ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 420; zum Verhältnis zwischen dem EGMR und dem EuGH siehe: Canor, European Law Review 2000, S. 3 ff.
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1. Teil: Die Begründung und die Ausgestaltung des Grundrechts
dungen des EuGH nach der Verfassungsbestimmung in Art. I-9 Abs. 2 EVV der Überprüfung durch den EGMR unterliegen und der Europäische Gerichtshof insofern das Schicksal des deutschen Bundesverfassungsgerichts oder des französischen Conseil d’Etat teilt.33 Schließlich hat der Inhalt des Art. 6 Abs. 2 EU Eingang in Art. I-9 Abs. 3 EVV gefunden: „Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.“34
Diese Bestimmung erlaubt es dem EuGH, unabhängig von der Grundrechtecharta auch weiterhin aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen Grundrechte auf der europäischen Ebene zu gewinnen.35 Dass daneben auch sämtliche sonstigen internationalen Vereinbarungen der Mitgliedstaaten zum Schutz der Menschenrechte unter Art. I-9 Abs. 3 EVV fallen, ergibt sich zum einen daraus, dass der EuGH schon bislang andere Verträge als die EMRK zur Begründung von Grundrechten herangezogen hat, und zum anderen aus dem Umstand, dass dieser Teil des Art. I-9 Abs. 3 EVV sonst wegen des Beitritts der Union zur EMRK nach Art. I-9 Abs. 2 EVV leer liefe. 2. Der Schutz des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen In Bezug auf das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen bedeutet die Regelung in Art. I-9 Abs. 2 Satz 1 EVV, dass Art. 11 EMRK und damit auch das sich aus der Konvention ergebende Recht auf kollektive Maßnahmen (unmittelbar) europäisches Primärrecht darstellt. Ebenso wie Art. 51 Abs. 2 GRC bzw. Art. II-111 Abs. 2 EVV legt Art. I-9 Abs. 2 Satz 2 EVV aber fest, dass sich daraus keine Veränderungen im Kompetenzgefüge zwischen der Union und den Mitgliedstaaten ergeben. Darüber hinaus findet sich das Chartagrundrecht auf kollektive Maßnahmen in Übereinstimmung mit Art. I-9 Abs. 1 EVV als Art. II-88 Var. 2 EVV in der Europäischen Verfassung wieder, womit die ohnehin zu bejahende Frage nach 33 So die Einschätzung von Skouris (in: BMA, Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 47, 54); ähnlich: Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 68. 34 Die Bestimmung des Art. I-9 Abs. 3 EVV soll nach dem Willen des Europäischen Rates dem künftigen Art. 6 EU als dritter Absatz angefügt werden; vgl. Rat der Europäischen Union, 26.6.2007, 11218/07, POLGEN 74, Anlage 1: Änderungen des EU-Vertrages, S. 13. 35 Lenaerts/Gerard, European Law Review 2004, S. 289 (317); Busek/Hummer – Grabenwarter, Der Europäische Konvent und sein Ergebnis – eine Europäische Verfassung, S. 71 (83); deswegen kritisch: Schmitz, EuR 2004, S. 691 (697).
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der Existenz eines Grundrechts auf kollektive Maßnahmen auf der europäischen Ebene endgültig erledigt wird. Die Problematik des Grundrechtsschutzes bei fehlender sachlicher Zuständigkeit der Union besteht indes auch nach dem Europäischen Verfassungsvertrag unverändert fort. Denn nicht nur Art. 28 Var. 2 GRC, sondern auch Art. 137 Abs. 5 EG fand als Art. III-210 Abs. 6 EVV Eingang in die Europäische Verfassung und bestimmt, dass die Union für die Bereiche des Arbeitsentgelts, des Koalitionsrechts sowie des Streik- und Aussperrungsrechts keine Zuständigkeit aus Art. III-210 EVV für sich herleiten kann. Daher bleibt es vollumfänglich bei der bereits geschilderten Divergenz zwischen dem Schutz des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen und der Unzuständigkeit der Union für das Arbeitskampfrecht sowie den daraus zu ziehenden Konsequenzen. 3. Die Auslegung und Beschränkung von Art. II-88 Var. 2 EVV nach Art. II-112 EVV Deswegen kommt es im Weiteren nur noch darauf an, welche Änderungen sich für die Auslegung und die Einschränkung des Unionsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen aus den in Art. II-112 EVV vorgenommenen Modifikationen ergeben. a) Die Ergänzungen des Art. II-112 EVV Die erste Änderung, die Art. II-112 EVV gegenüber Art. 52 GRC bei der Ausarbeitung der Europäischen Verfassung erfahren hat, betrifft den Inhaltsund Schrankentransfer des Art. II-112 Abs. 3 EVV. Die in dieser Vorschrift vorgesehene Konzeption eines kohärenten Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene wird durch den Beitritt der Union zur EMRK in Art. I-9 Abs. 2 EVV konterkariert. Die Regelung des Art. II-112 Abs. 3 EVV macht ersichtlich nur im Falle zweier konkurrierender Grundrechtssysteme in Europa Sinn und wird durch den Beitritt der Union zur EMRK, mit dem die Konvention in das Unionsrecht inkorporiert wird, obsolet. Es ist nicht ersichtlich, wozu der Inhaltsund Schrankentransfer nützlich sein soll, wenn sich die betreffenden Grundrechtsträger gegenüber der Union wahlweise auf die Grundrechtecharta oder die EMRK berufen können. Gleichwohl haben der Konvent und der Rat von einer Änderung des Art. II-112 Abs. 3 EVV aufgrund des Beitritts der Union zur EMRK abgesehen und am Konzept des Transfers festgehalten, weswegen sich für den nach Art. II-112 Abs. 3 EVV vorgesehenen Inhalts- und Schrankentransfer von Art. 11 EMRK auf Art. II-88 Var. 2 EVV im Vergleich zu den Regelungen in der Grundrechtecharta insofern keine Änderungen ergeben. Des Weiteren wurde Art. II-112 EVV aufgrund der von der Arbeitsgruppe II in ihrem Schlussbericht vom 22. Oktober 200236 unterbreiteten Vorschläge ge-
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genüber der vom Europäischen Rat in Nizza am 7. Dezember 2000 proklamierten Fassung der Grundrechtecharta um die Absätze vier bis sechs37 und in den Beratungen des Europäischen Rates schließlich noch um einen siebten Absatz38 erweitert. Art. II-112 Abs. 4 EVV legt fest, dass diejenigen Chartagrundrechte, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, im Einklang mit diesen Überlieferungen auszulegen sind. Nach Art. II112 Abs. 5 EVV bedürfen die in der Charta enthaltenen Grundsätze der Durchführung und finden nur auf die zu ihrer Umsetzung vorgesehenen Maßnahmen Anwendung. Art. II-112 Abs. 6 EVV bestimmt, dass nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in vollem Umfang Rechnung zu tragen ist. Schließlich schreibt Art. II-112 Abs. 7 EVV eine gebührende Berücksichtigung der Erläuterungen zur Grundrechtecharta vor. b) Art. II-112 Abs. 7 EVV: Die Erläuterungen zur Grundrechtecharta Nach Art. II-112 Abs. 7 EVV ist bei der Auslegung aller Chartagrundrechte auf die Erläuterungen zur Charta zurückzugreifen.39 Diese Erläuterungen wurden erstmals vom Präsidium des Grundrechtskonvents nach dem Abschluss seiner Arbeit im Jahr 2000 veröffentlicht.40 Bei der Implementierung der Charta in den Europäischen Verfassungsvertrag wurden nicht nur die Chartabestimmungen, sondern auch die betreffenden Erläuterungen überarbeitet und in der novellierten Fassung gemeinsam mit dem Text der Europäischen Verfassung veröffentlicht.41 Neben Art. II-112 Abs. 7 EVV verpflichtet die Präambel der Grundrechtecharta, die den zweiten Teil der Verfassung einleitet, zur gebührenden Berücksichtigung der Erläuterungen bei der Auslegung der Chartagrundrechte. Im Gegensatz zu Art. II-112 Abs. 7 EVV nimmt die Präambel ausdrücklich auf die vom Europäischen Konvent aktualisierte Fassung der Erläuterungen Bezug. Gleichwohl sind gemäß Art. II-112 Abs. 7 EVV die vom Europäischen Rat mit der Entscheidung über die Verfassung gebilligten und zusammen mit ihr veröffentlichten Erläuterungen, die nach Art. 48 EU Gegenstand des Ratifikationsverfahrens sind, bei der Auslegung der Unionsgrundrechte zu berücksichtigen.42 Da die Europäische Verfassung den Erläuterungen keine rechtliche Bindungs36
CONV 354/04, WG II 16, 22.10.2002, S. 17. CONV 850/3, 18.07.2003, S. 33; vgl. dazu: J. Schwarze, EuR 2003, S. 535 (561 f.). Eine entsprechende Regelung soll der Reformvertrag als Art. 6 Abs. 1 Satz 3 in den EU-Vertrag einfügen; vgl. Rat der Europäischen Union, 26.6.2007, 11218/07, POLGEN 74, Anlage 1: Änderungen des EU-Vertrages, S. 13. 38 ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 54. 39 Lenaerts/Gerard, European Law Review 2004, S. 289 (317). 40 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000. 41 ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 424 ff. 42 A. A.: Bercusson, The trade union movement and the European Constitution, S. 23. 37
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wirkung verliehen hat, sondern nur ihre Berücksichtigung verlangt, wird man im Ergebnis mitunter vollständig von der in den Erläuterungen dargelegten Rechtsauffassung abweichen können. Das dürfte im Einzelfall allerdings einer besonderen Begründung bedürfen. Die Erläuterungen sind demnach keine verbindliche Rechtsquelle, sondern eine nützliche Interpretationshilfe.43 Sie spielen vor allem bei der historischen Auslegung des zweiten Teils der Verfassung eine wesentliche Rolle. Gegenüber den Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtkonvents ergibt sich aus der überarbeiteten Fassung der Erläuterungen zur Grundrechtecharta für das Grundrecht aus Art. II-88 Var. 2 EVV, dass sich die Modalitäten und Begrenzungen des Rechts auf kollektive Maßnahmen aus den nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten ergeben sollen.44 c) Art. II-112 Abs. 5 EVV: Art. II-88 Var. 2 EVV als Grundrecht Mit Art. II-112 Abs. 5 EVV greift die Europäische Verfassung die Unterscheidung zwischen Grundrechten und Grundsätzen nicht mehr nur im letzten Satz der Charta-Präambel, sondern auch in der allgemeinen Schrankenbestimmung des Art. II-112 Abs. 5 EVV auf. Nach der Chartapräambel erkennt die Union die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze an und in Bezug auf den Anwendungsbereich der Charta bestimmt Art. II-111 Abs. 1 Satz 2 EVV, dass die Union und die Mitgliedstaaten die in der Charta enthaltenen Rechte achten und sich an deren Grundsätze halten. Die Unterscheidung zwischen Grundrechten und Grundsätzen geht auf einen Vorschlag des britischen Mitglieds des Grundrechtskonvents Lord Goldsmith im Streit über die Aufnahme sozialer Rechte in die Grundrechtecharta zurück. Nach Goldsmith sollte im Bereich der sozialen Grundrechte zwischen Rechten und Grundsätzen unterschieden werden.45 Die Konventsmehrheit lehnte die Differenzierung jedoch ab, weil man eine Abwertung und Verwässerung der sozialen Grundrechte befürchtete.46 Sie wurde dennoch nicht gänzlich gestrichen, sondern in die allgemeine Bestimmung des Art. 51 Abs. 1 GRC überführt und dadurch auf alle Chartabestimmungen ausgeweitet.47 Obwohl die Arbeitsgrup43
ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 424. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 442. 45 de Witte – de Búrca, Ten Reflections on the Constitutional Treaty for Europe, S. 11 (23). Art. 31 des Chartaentwurfs vom 16.5.2000 unterschied noch zwischen „social rights“ einerseits und „social principals“ andererseits; vgl. CHARTE 4316/00, CONVENT 34, 16.5.2000, S. 2. 46 Meyer – Borowsky, GRC, Art. 51, Rn. 13; vgl. BMA – Braibant, Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 259 (260). 47 Kingreen (in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18, Rn. 58) will trotz der Grundsätze in den Art. 25 und 26 GRC lediglich innerhalb der sozialen 44
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pe II in ihrem Abschlussbericht die Auffassung vertreten hat, dass sich die Unterscheidung zwischen einem Recht und einem Grundsatz aus der Formulierung der jeweiligen Chartavorschrift ergebe, soll es der Rechtsprechung überlassen bleiben, die genauere Zuordnung vorzunehmen.48 Entgegen dem ersten Eindruck, den Art. II-112 Abs. 5 EVV erweckt, unterscheiden sich Grundrechte von Grundsätzen nicht hinsichtlich ihrer Justiziabilität. Grundsätze bedürfen im Gegensatz zu Grundrechten für ihre Anwendung vielmehr eines Durchführungsrechtsakts, auf dessen Erlass der entsprechende Grundsatz keinen Anspruch gewährt.49 Das folgt unmittelbar aus Art. II-112 Abs. 5 Satz 1 EVV, nach dem die in der Charta enthaltenen Grundsätze durch Gesetzgebungs- und Ausführungsakte umgesetzt werden können.50 Die Grundsätze können nach Art. II-112 Abs. 5 Satz 2 EVV vor Gericht allerdings im Gegensatz zu Grundrechten nur bei der Auslegung dieser Akte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden. Dass sich die einzelnen Rechtsträger unter diesen Voraussetzungen auf eine Verletzung von Grundsätzen berufen können, folgt nicht nur aus den Erläuterungen zu Art. II112 Abs. 5 EVV,51 sondern auch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts erster Instanz52. Die in der Charta enthaltenen Grundsätze stehen in ihrem abwehrrechtlichen Gehalt gegenüber Eingriffen aufgrund von Durchführungsakten dem Abwehranspruch aus Chartagrundrechten in nichts nach. Aus den Grundsätzen kann lediglich kein Schutzgewähranspruch und auch kein sonstiges subjektives Leistungsrecht entnommen werden. Auf den ersten Blick scheint Art. II-88 Var. 2 EVV unzweifelhaft ein Grundrecht darzustellen, weil bereits die Überschrift der Verfassungsbestimmung von einem Recht auf Kollektivmaßnahmen spricht und auch in Art. II-88 Var. 2 EVV von einem Recht auf kollektive Maßnahmen die Rede ist. Dieser erste Eindruck wird dadurch in Frage gestellt, dass Art. II-85 EVV nach der Auffassung des Konventspräsidiums einen Grundsatz enthalten soll,53 obwohl die BeGrundrechte des vierten Kapitels der Grundrechtecharta zwischen Grundrechten und Grundsätzen unterscheiden. 48 CONV 354/04, WG II 16, 22.10.2002, S. 8. 49 KOM (2000) 559 endg., S. 8; Goldsmith, CML Rev 2001, S. 1201 (1212 f.); Kenner, EU Employment Law, S. 520; Lenaerts/Gerard, European Law Review 2004, S. 289 (317 f.); vgl. auch die Entscheidung des Französischen Verfassungsrates (in: EuR 2004, S. 911, 914) vom 19.11.2004 über den Europäischen Verfassungsvertrag; a. A.: Ehlers – Kingreen, Europäische Grundfreiheiten und Grundrechte, § 18, Rn. 58. Ein grundlegend anderes Normverständnis liegt der Auffassung von Ladenburger (in: Tettinger/Stern, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 86 ff.) zugrunde, nach welcher die Grundsätze der Charta keine subjektive Schutzwirkung entfalten, sondern nur im Rahmen „objektiver Verfassungsrechtskontrolle“ zum Zuge kommen sollen. 50 Meyer – Borowsky, GRC, Art. 51, Rn. 34. 51 Vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 458. 52 EuG, Rs. T-13/99, 11.9.2002, Rn. 107, 114 f., 125 (Pfizer).
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stimmung nach ihrer Überschrift und ihrem Wortlaut von den Rechten älterer Menschen handelt. Gleichwohl ist und bleibt der Wortlaut des Art. II-88 Var. 2 EVV ein gewichtiges Argument dafür, dass die Vorschrift ein Grundrecht auf kollektive Maßnahmen enthält.54 Für Grundsätze ist es nämlich charakteristisch, dass sie keinen besonderen Grundrechtsträger benennen, sondern unpersönlich an die Union adressiert sind. Sie werden typischerweise mit den Worten „Die Union achtet und anerkennt“ eingeleitet55 oder mit Bezug auf die „Politiken der Union“ formuliert56. 57 Daher wird man verlangen können und müssen, dass sich die Einordnung einer Vorschrift der Grundrechtecharta als Grundsatz ihrem Wortlaut entnehmen lässt.58 Art. II-88 Var. 2 EVV wendet sich ausdrücklich an Arbeitnehmer, Arbeitgeber und ihre jeweiligen Organisationen und damit an bestimmte Grundrechtsberechtigte, so dass dessen Wortlaut auf ein Grundrecht schließen lässt.59 Im Grundrechtskonvent ist für die Aufnahme eines Streikrechts in die Charta zudem angeführt worden, dass es sich als klassisches Freiheitsrecht formulieren lasse und im Gegensatz zu anderen sozialen Grundrechten nicht nur als Grundsatz gewährleistet werden könne.60 Demnach hat der Grundrechtskonvent mit dem Grundrecht auf kollektive Maßnahmen ein Recht und keinen Grundsatz schaffen wollen. Wenn an dieser Entscheidung im Zuge der Verfassungsgebung eine Änderung hätte vorgenommen werden sollen, hätte dies einen deutlicheren Niederschlag in Art. II-88 Var. 2 EVV und den betreffenden Erläuterungen finden müssen. Dort wird hingegen nicht von einem Grundsatz gesprochen, vielmehr ist explizit von einem „Recht auf kollektive Maßnahmen“ die Rede.61 Bei Art. II-83, II-86, II-94, II-96, II-97, II-98 EVV und damit dem weit überwiegenden Teil der Grundsätze weisen die Erläuterungen demgegenüber ausdrücklich auf die rechtliche Qualität der Verbürgung hin.62 Zudem widerspräche es dem Zweck des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen, wenn die Union nach Art. II-112 Abs. 5 EVV ausschließlich bei dem Erlass von Durchführungsrechtsakten an Art. II-88 Var. 2 EVV gebunden wäre,
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ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 459. Vgl. Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 98. 55 So die Art. II-85, II-86, II-94, II-96 EVV. 56 So die Art. II-97 und II-98 EVV. Die einzige Ausnahme bildet Art. II-83 EVV. Dort ist jedoch ausdrücklich vom Grundsatz der Gleichheit die Rede. 57 Zutreffend: Jarass, EU-Grundrechte, § 7, Rn. 26; Ehlers – Kingreen, Europäische Grundfreiheiten und Grundrechte, § 18, Rn. 58; vgl. auch Goldsmith, CMLRev 2001, S. 1201 (1213). 58 Dementsprechend ist auch Art. II-82 EVV als Grundsatz einzuordnen. 59 Im Ergebnis übereinstimmend: Bercusson, The trade union movement and the European Constitution, S. 18. 60 Vgl. Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 324. 61 ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 442. 62 ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 439, 441, 444, 445, 446. 54
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weil sie nach der Kompetenzverteilung zwischen ihr und den Mitgliedstaaten zum Erlass einschlägiger Regelungen gar nicht befugt wäre. Zudem müssen Eingriffe der Union, wie Art. 2 VO 2679/98/EG zeigt, gerade dann mit dem Grundrecht auf kollektive Maßnahmen abgewehrt werden können, wenn die Union bei der Wahrnehmung ihr zustehender Kompetenzen in die Arbeitskampffreiheit eingreift. Deswegen handelt es sich bei Art. II-88 Var. 2 EVV um ein Grundrecht,63 auf welches Art. II-112 Abs. 5 EVV keine Anwendung findet. d) Art. II-112 Abs. 4 EVV: Die Berücksichtigung der nationalen Verfassungen In Art. II-112 Abs. 4 EVV wird angeordnet, dass diejenigen Chartarechte, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, im Einklang mit diesen Überlieferungen auszulegen sind. Ob diese Bestimmung auf das Unionsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen Anwendung finden kann, ist trotz des Umstandes, dass zahlreiche Mitgliedstaaten ein verfassungsmäßiges Streikrecht kennen, äußerst zweifelhaft.64 Denn aus Art. II-112 Abs. 4 EVV geht nicht hervor, in wie vielen Mitgliedstaaten ein Grundrecht gewährleistet sein muss, um die verbindliche Auslegung anhand der nationalverfassungsrechtlichen Grundrechte auszulösen.65 Bejahte man die Anwendung der Verfassungsbestimmung auf das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen, würde sich dessen Auslegung zu Lasten der übrigen Mitgliedstaaten, die entweder keine oder aber keine verfassungskräftige Vorschrift zum Streikrecht aufweisen, vorrangig an den verfassungsmäßigen Garantien dieser Staaten orientieren. Damit würden diejenigen Rechtsordnungen, die eine verfassungsmäßige Arbeitskampfgarantie kennen, die Auslegung des Art. II-88 Var. 2 EVV dominieren, weil die Rechtslage in den anderen Mitgliedstaaten nicht ohne Verstoß gegen den Wortlaut des Art. II-112 Abs. 4 EVV berücksichtigt werden könnte.66 In diesem Zusammenhang ist eine Parallele zu der Rechtsprechung des EuGH, nach der Grundrechte auf europäischer Ebene auch dann anzuerkennen sind, wenn sie 63 Jarass, EU-Grundrechte, § 29, Rn. 10; Kenner, EU Employment Law, S. 526; von Bogdandy – Kühling, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (595); Losch/Radau, NVwZ 2003, S. 1440 (1445); vgl. Streinz – Streinz, GRC, Kapitel IV, Rn. 3. 64 Zur Auslegung der Begrifflichkeiten des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen anhand der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung siehe § 2 IV. 3. b) bb) (1). 65 Wegen der Schwierigkeiten bei der Feststellung, welche Grundrechte sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, kritisch: Pietsch, ZRP 2003, S. 1 (3). 66 Der Wortlaut des Art. II-112 Abs. 4 EVV spricht eindeutig von den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, womit nach der Rechtsprechung des EuGH die Verfassungsnormen und die Verfassungspraxis der Mitgliedstaaten bezeichnet werden; vgl. EuGH, 14.5.1974, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491, Rn. 13 (Nold); 13.12.1979, Rs. 44/ 79, Slg. 1979, 3727, Rn. 20 (Hauer).
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sich nicht in allen Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten nachweisen lassen,67 problematisch. Bei der Annerkennung von Gemeinschaftsgrundrechten müssen einzelne mitgliedstaatliche Rechtsordnungen nur deswegen unberücksichtigt bleiben, damit sich nicht nur der kleinste gemeinsame Nenner des Grundrechtsschutzes auf der Gemeinschaftsebene durchsetzt. Dieses Argument gilt nicht für die Auslegung der im zweiten Teil der Europäischen Verfassung kodifizierten Grundrechte. Gegen die Annahme, dass sich das Unionsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen im Sinne des Art. II-112 Abs. 4 EVV aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten ergibt, spricht zudem, dass es vom Grundrechtskonvent nicht nationalstaatlichen Gewährleistungen, sondern den internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus Art. 11 EMRK und Art. 6 Nr. 4 ESC sowie Art. 13 EG-SC nachgebildet worden ist.68 Da diese internationalen Vorschriften in der Präambel der Grundrechtecharta neben den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als eigenständige Quelle europäischer Grundrechte genannt werden, ist der Rückgriff auf das nationale Recht zur Auslegung des Unionsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen fragwürdig. Art. II-112 Abs. 4 EVV soll zudem bei der Auslegung europäischer Grundrechte den divergierenden Verfassungsrechtslagen in den Mitgliedstaaten Rechnung tragen.69 Mit dem Ausdruck der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen wird in Art. II-112 Abs. 4 EVV auf die in Art. 6 Abs. 2 EU genannten Rechtserkenntnisquellen Bezug genommen, aus welcher der EuGH bisher Grundrechte für die europäische Ebene gewonnen hat.70 Demnach soll Art. II-112 Abs. 4 EVV also aus Gründen der Rechtssicherheit dazu dienen, dass die vom EuGH aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gewonnen und konkretisierten Grundrechte nach ihrer Kodifizierung im Verfassungsvertrag nach wie vor diejenige Ausgestaltung behalten, die sie bereits in der Rechtsprechung des EuGH erfahren haben.71 Deshalb ist Art. II-112 Abs. 4 EVV nur auf diejenigen Grundrechte anzuwenden, die schon vor dem Inkrafttreten der Europäischen Verfassung vom EuGH aus den einzelstaatlichen Verfassungen geschöpft worden sind und gilt daher beispielsweise für die Berufsfreiheit aus Art. II-75 EVV72 oder das Gleichheitsgebot aus Art. II-80 EVV73.74 Diese Schlussfolgerung ergibt sich auch aus dem Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II, nach dem 67
Grabitz/Hilf – Pernice/Meyer, nach Art. 6 EUV, Rn. 16. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 442. 69 Meyer – Borowsky, GRC, Art. 52, Rn. 44; de Witte – de Búrca, Ten Reflections on the Constitutional Treaty for Europe, S. 11 (22). 70 Mantl/Puntscher-Riekmann/Schweitzer – Vranes, Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union, S. 57 (68); vgl. auch Pietsch, ZRP 2003, S. 1 (3). 71 Tettinger/Stern – von Danwitz/Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 52, Rn. 5; kritisch hierzu: Pietsch, ZRP 2003, S. 1 (3). 72 EuGH, 13.12.1979, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 32 (Hauer). 68
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Art. II-112 Abs. 4 EVV nur für die Auslegung derjenigen Grundrechte gelten soll, die der Gerichtshof bereits aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen abgeleitet hat.75 Das sind dem Abschlussbericht zufolge zahlreiche, aber eben nicht alle in der Grundrechtecharta genannten Grundrechte76 und jedenfalls nicht Art. II-88 Abs. 2 EVV. e) Art. II-112 Abs. 6 EVV: Die Schranke nationaler Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Mit seinem Wortlaut nimmt Art. II-112 Abs. 6 EVV Bezug auf eine Reihe von Chartagrundrechten, die unter dem Vorbehalt einzelstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten stehen, und bestimmt, dass diesen in vollem Umfang Rechnung zu tragen ist. Art. II-112 Abs. 6 EVV findet demnach auf die Art. II-76, II-87, II-88, II-90, II-94, II-95, II-96 EVV Anwendung. Im Schrifttum wird Art. II-112 Abs. 6 EVV zum Teil ohne nähere Begründung und zu Unrecht der Charakter einer bloß deklaratorischen Vorschrift beigemessen77 oder der Stellenwert des Art. II-112 Abs. 6 EVV für gering gehalten, weil die Bestimmung Selbstverständlichkeiten einfordere78.79 Die Entstehungsgeschichte des Art. II-112 Abs. 6 EVV im Europäischen Konvent belegt hingegen, dass es für die Aufnahme der Regelung einen handfesten Grund gab. Die Vertreterin der britischen Regierung im Konvent, die Baronesse Scotland of Ashtal, führte als Mitglied der Arbeitsgruppe II aus, dass in Art. 52 GRC eine horizontale Schrankenbestimmung für diejenigen Grundrechte fehle, die auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Bezug nehmen und zählte hierzu auch das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen.80 Sie schlug daher vor, in Art. 52 GRC eine sich auf diese Gruppe von Grundrechten beziehende Bestimmung aufzunehmen, aus der hervorgehe, dass die übrigen in Art. 52 GRC genannten Schrankenbestimmungen nicht auf den Vorbehalt nationaler Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten angewendet werden können.81 Der Präsident
73 EuGH, 7.7.1993, Rs. C-217/91, Slg. 1993, I-3923, Rn. 37 (Spanien/Kommission). 74 Anders: Dorf, JZ 2005, S. 126 (129). 75 CONV 354/02, WG II 16, S. 7. 76 CONV 354/02, WG II 16, S. 7. 77 Streinz – Streinz, Art. 52 GRC, Rn. 13. 78 Meyer – Borowsky, GRC, Art. 52, Rn. 46 (m.w. N.); vgl. auch Meyer/Hölscheidt, EuZW 2003, S. 613 (619), Pietsch, ZRP 2003, S. 1 (4). 79 Ebenfalls kritisch: Mantl/Puntscher-Riekmann/Schweitzer – Vranes, Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union, S. 57 (71); zu Recht anderer Auffassung: Dorf, JZ 2005, S. 126 (130). 80 Working Group II, Working document 4, 9.7.2002, S. 6. 81 Working Group II, Working document 16, 13.9.2002, S. 4 f.
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der Arbeitsgruppe II nahm diesen Vorschlag auf und formulierte die heute in Art. II-112 Abs. 6 EVV befindliche Bestimmung.82 Art. II-112 Abs. 6 EVV ist damit ein weiterer Beleg dafür, dass die Bezugnahme auf nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten weder als konstitutiver Verweis auf das nationale Recht noch als doppelte Schranke zu verstehen ist. Die Auffassung, nach welcher das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen eine Verweisungsnorm ist, vermag nicht zu erklären, warum im Rahmen der Implementierung der Grundrechtecharta in den Europäischen Verfassungsvertrag Anlass für die Aufnahme des Art. II-112 Abs. 6 EVV bestand. Wäre es an den Mitgliedstaaten, den Schutzbereich des Grundrechts zu bestimmen, wäre die Vorschrift überflüssig und deren Einfügung in den Verfassungsvertrag unerklärlich. Die Annahme, Einschränkungen des Unionsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen aufgrund nationaler Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten bedürften nach Art. II-112 Abs. 3 EVV oder Art. II-112 Abs. 1 EVV einer Rechtfertigung, ist nach der Europäischen Verfassung ebenfalls nicht haltbar. Nur die Einschränkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen durch das Unionsrecht und mitgliedstaatliche Beschränkungen bei der Durchführung des Unionsrechts gemäß Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 EVV unterliegen nach dem Verfassungsvertrag der Schrankenregelung des Art. II-112 Abs. 3 EVV in Verbindung mit Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK bzw. Art. II-112 Abs. 1 EVV. Demgegenüber unterliegen die dem Grundrecht aus Art. II-88 Var. 2 GRC durch mitgliedstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten gezogenen Grenzen gemäß Art. II112 Abs. 6 EVV keiner weiteren Schrankenregelung. Damit steht allein die Einordnung der Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten als vorbehaltlose Grundrechtsschranke im Einklang mit der Europäischen Verfassung.
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Working Group II, Working document 23, 4.10.2002, S. 2.
Zweiter Teil
Die Auswirkungen des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen Erster Abschnitt
Die europäische Ebene Hinsichtlich einer Anwendung des Gemeinschaftsrechtsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen ist zwischen einer Anwendung auf der europäischen, der nationalen und der transnationalen Ebene zu unterschieden. Zunächst kommt eine Anwendung auf der europäischen Ebene in Betracht.
§ 5 Die gemeinschaftsinterne Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen Auf der europäischen Ebene stellt sich die Frage, ob sich die bei der Gemeinschaft beschäftigten Personen auf Art. 28 Var. 2 GRC berufen können. I. Das Recht der europäischen Beamten auf kollektive Maßnahmen Bei der Begründung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen hat vor allem die Divergenz von Grundrechtsschutz und Zuständigkeit der Gemeinschaft eine Rolle gespielt. In Bezug auf die bei der Gemeinschaft tätigen Beamten und sonstigen Bediensteten taucht dieses Problem nicht auf, weil die Gemeinschaft nach Art. 283 EG ausdrücklich berechtigt ist, die Anstellungsverhältnisse der bei ihr beschäftigten Personen zu regeln. Der Ausschluss gemeinschaftlicher Kompetenzen für das Streik- und Aussperrungsrecht nach Art. 137 Abs. 5 EG findet insoweit keine Anwendung. 1. Die Rechtsstellung der Beamten der Europäischen Gemeinschaft In Bezug auf die europäischen Beamten ist festzustellen, dass der Rat auf der Grundlage des Art. 283 EG auf Vorschlag der Kommission das Statut der Beamten der Europäischen Gemeinschaften (EBSt)1 erlassen hat, in dem die Rechtsstellung der europäischen Beamten umfassend geregelt wird. Ebenso wie
§ 5 Die gemeinschaftsinterne Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC
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alle vormaligen Fassungen enthält das geltende Beamtenstatut allerdings keine Antwort auf die Frage nach einem Streikrecht der europäischen Beamten. Gleichwohl ist es in der Vergangenheit bereits mehrfach zu Arbeitsniederlegungen europäischer Bediensteter unter Beteiligung von Beamten gekommen. In Brüssel fanden im April 1964, Februar 1965, März 1966, Oktober 1969, Dezember 1970 sowie in den Jahren 1971 und 1972 jeweils mehrtätige Streikaktionen bei Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaften statt.2 Nachdem die Versuche der betroffenen Organe, die damaligen Arbeitsniederlegungen beizulegen, gescheitert waren, ging insbesondere die Kommission dazu über, die Streiks zu dulden und die wegen der Arbeitsniederlegungen entfallenen Arbeitstage nicht mehr zu vergüten. Nachdem ein Vorschlag der Kommission zur Aufnahme des Streikrechts für europäische Beamte in das Beamtenstatut vom 13. Juni 1974 am Widerstand des Rates gescheitert war, schloss die Kommission am 20. September 1974 mit den betreffenden Gewerkschaften ein Abkommen für den Fall, dass es zu weiteren Arbeitsniederlegungen kommen sollte. Nach dieser Übereinkunft kommt die Ergreifung kollektiver Maßnahmen als ultima-ratio in Betracht, bedarf aber der vorherigen Ankündigung durch die Gewerkschaften oder Beamtenvertretungen.3 Der Europäische Gerichtshof hatte im Nachgang der Arbeitsniederlegungen darüber zu entscheiden, ob die Anstellungsbehörden berechtigt gewesen sind, den auf die Streiktage entfallenen Teil der Beamtenbezüge einzubehalten. Der EuGH ließ in seinem hierzu ergangenen Urteil vom 18. März 1975 die Frage nach einem Streikrecht der europäischen Beamten ausdrücklich offen und beschied sich mit der Aussage, dass der streitgegenständliche Lohnabzug jedenfalls einem allgemeinen Grundsatz des Arbeitsrechts entspreche und deswegen zu Recht erfolgt sei.4 Auf der Grundlage dieser Geschehnisse ist im Schrifttum ein nach wie vor offener Streit darüber entbrannt, ob den europäischen Beamten das Streikrecht zusteht und auf welche rechtliche Grundlage sich dieses Recht gegebenenfalls stützen kann. Schon frühzeitig wurde die Auffassung vertreten, dass die Gemeinschaftsorgane die Arbeitsniederlegung geduldet und damit faktisch anerkannt hätten. Demnach soll sich das Streikrecht der Beamten aus gewohnheitsrechtlicher Anerkennung ergeben.5 Dem ist vor allem mit dem Argument entge1
ABl. Nr. L 124, 27.4.2004, S. 1 ff. Vgl. Kitschenberg, ZBR 1979, S. 144; eine detaillierte Schilderung der damaligen Ereignisse findet sich bei: Leistner, DVBl. 1975, S. 281, 282 ff. 3 Schröder, ZBR 1984, S. 1. Zudem sollte es den jeweils bestreikten Gemeinschaftsorganen erlaubt sein, für die Zeit der Arbeitsniederlegung entsprechende Abzüge von den Dienstbezügen der streikenden Arbeitnehmer vorzunehmen. 4 EuGH, 18.3.1975, verb. Rs. 44/74, 46/74, 49/74, Slg. 1975, 383, Rn. 11/16 (Acton); vgl. Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 12, Rn. 2. 5 Weber, ZBR 1978, S. 326 (330). 2
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
gengetreten worden, dass der Rat die Anerkennung des Streikrechts für Beamte, wie die Kommission es vorgeschlagen hat, abgelehnt habe und es deswegen nicht als europäisches Gewohnheitsrecht gelten könne.6 Auch im neueren Schrifttum herrscht keine Einigkeit über die Existenz eines Rechts der europäischen Beamten zu streiken. Kalbe7 ist der Ansicht, dass sich das Streikrecht der europäischen Beamten praktisch durchgesetzt habe. Rogalla8 nimmt eine gewohnheitsrechtliche Anerkennung desselben an. Riegel9 und wohl auch Hergenröder10 lehnen demgegenüber ein Streikrecht für europäische Beamte ab, treten aber gleichwohl für eine ausdrückliche Regelung ein. 2. Art. 28 Var. 2 GRC als Rechtsgrundlage europäischer Beamtenstreiks Der Streit über die Frage nach einem Streikrecht der europäischen Beamten ist mit der Anerkennung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen zugunsten eines Rechts der europäischen Beamten auf kollektive Maßnahmen zu entscheiden. Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte nicht wegen der Rechtsstellung der europäischen Beamten ausgeschlossen wird. Wie der EuGH mehrfach entschieden hat, ist die Gemeinschaft auch gegenüber ihren Beamten an die Grundrechte gebunden. Die besondere Stellung der Beamten rechtfertigt erforderlichenfalls eine Einschränkung der Grundrechtsgeltung, schließt sie aber nicht kategorisch aus.11 Darüber hinaus finden mehrere Chartagrundrechte eine Entsprechung im Europäischen Beamtenstatut. Das gilt etwa für die Vereinigungsfreiheit der europäischen Beamten, die der EuGH bereits frühzeitig anerkannt hat.12 Eine dementsprechende Regelung enthält Art. 24b EBSt, der den europäischen Beamten die Bildung von Gewerkschaften bzw. Berufsverbänden gestattet und den einzelnen Beamten das Recht einräumt, einer Gewerkschaft oder einem Berufsverband anzugehören. Insofern stellt sich Art. 24b EBSt als sekundärrechtliche Wiederholung des in Art. 12 Abs. 1 GRC geschützten Rechts jeder Person dar, sich zum Schutz ihrer Interessen mit anderen zu einer Gewerkschaft zusammen-
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Kitschenberg, ZBR 1979, S. 144 (145); Schröder, ZBR 1984, S. 1 (4 f.). In: von der Groeben/Schwarze, Art. 283 EG, Rn. 135. 8 In: Grabitz/Hilf, Art. 283 EGV, Rn. 95. 9 In: ZTR 1993, S. 223 (227 f.). 10 In: Oetker/Preis, EAS, B 8400, Rn. 58 ff. 11 EuGH, 16.12.1999, Rs. C-150/98 P, Rn. 12 (Wirtschafts- und Sozialausschuss/ Europäisches Parlament). 12 Vgl. EuGH, 8.10.1974, Rs. 18/77, Slg. 1974, 933, Rn. 5/9 (Allgemeine Gewerkschaft). 7
§ 5 Die gemeinschaftsinterne Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC
201
zuschließen oder einer Gewerkschaft beizutreten.13 Eine Notwendigkeit, die Anwendung dieses Grundrechts auf die europäischen Beamten aufgrund ihrer Dienststellung zu beschränken, ist nicht ersichtlich, weil Art. 12 Abs. 1 GRC insoweit nicht weiter reicht als Art. 24b EBSt. In Art. 9 EBSt sieht das europäische Beamtenrecht unter anderem die Einrichtung einer Personalvertretung, eines Paritätischen Ausschusses sowie eines Disziplinarrates und damit mehrerer Arbeitnehmervertretungen vor, die die Interessen und Rechte der europäischen Beamten gegenüber den Anstellungsbehörden vertreten. Die diesen Vertretungen der europäischen Beamten zustehenden Rechte genügen in qualitativer und quantitativer Hinsicht, um von einem Personalvertretungsrecht sprechen zu können.14 Mithin bestehen im europäischen Beamtenrecht Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren im Sinne des Art. 27 GRC. Darüber hinaus kann jedes Gemeinschaftsorgan gemäß Art. 10c EBSt mit den nach Art. 24b EBSt gebildeten Gewerkschaften und Berufsverbänden für sein gesamtes Personal geltende Vereinbarungen abschließen. Aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Heqc“15 wird im Schrifttum auf die rechtliche Verbindlichkeit der nach Art. 10c EBSt abgeschlossenen Vereinbarungen geschlossen.16 Noch weiter ging das EuG im Fall „Lebedef“ im Jahr 2001, in dem das Gericht erster Instanz feststellte, dass zwischen den Gewerkschaften der europäischen Beamten und der Kommission geschlossene Vereinbarungen auch rechtlich nachteilige Wirkungen auf die Rechtsstellung der Beamten haben können.17 Damit können die jeweiligen Gewerkschaften und Berufsverbände die Rechte und Pflichten der europäischen Beamten im Verhältnis zu ihrer Anstellungsbehörde regeln und Einfluss auf die individuelle Rechtsstellung der Beamten nehmen. Die Verhandlungen zwischen den europäischen Beamtenverbänden und den Gemeinschaftsorganen nach Art. 10c EBSt erfüllen daher alle denkbaren Anforderungen, die man an ein in den Schutzbereich des Art. 28 Var. 1 GRC fallendes Verhalten stellen kann. Nicht nur die Handhabung des europäischen Beamtenrechts in der Praxis, sondern auch die Vorschrift des Art. 10c EBSt belegt, dass das Aushandeln und das Abschließen von Vereinbarungen auf 13 Da das Chartarecht ohnehin nicht nur für Arbeitnehmer gilt, kommt insoweit nicht einmal der Frage nach der Arbeitnehmereigenschaft der europäischen Beamten Bedeutung zu. 14 von der Groeben/Schwarze – Kalbe, Art. 283 EG, Rn. 128. 15 EuGH, 7.3.1990, Rs. C-116/88, Slg. 1990, I-599, Rn. 28 ff. (Hecq). 16 von der Groeben/Schwarze – Kalbe, Art. 283 EG, Rn. 134. Der Kläger hatte in dem betreffenden Rechtsstreit geltend gemacht, dass die Kommission ihn wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft benachteilige und damit gegen eine von ihr geschlossene Vereinbarung verstoße. Dem widersprach der EuGH nicht etwa mit der Begründung, dass die Vereinbarung keine Wirkung auf die Rechtsstellung der Beamten hat, sondern monierte lediglich den Sachvortrag des Klägers. 17 EuG, 15.11.2001, Rs. T-349/00, Rn. 30 (Lebedef).
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
der Grundlage des Art. 10c EBSt als ein von Art. 28 Var. 1 GRC geschütztes Verhalten anzusehen ist.18 Vor diesem Hintergrund ist es vor allem aus systematischen Gründen konsequent, auch das Recht auf kollektive Maßnahmen aus Art. 28 Var. 2 GRC auf die europäischen Beamten anzuwenden. Sie stehen zu ihrer Anstellungsbehörde in einem Rechtsverhältnis, aus welchem sie für eine bestimmte Zeit nach deren Weisung eine Leistung zu erbringen verpflichtet sind, und erhalten für diese Tätigkeit eine Vergütung, so dass sie Arbeitnehmer im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC sind.19 Ein weiteres Argument für die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen auf die europäischen Beamten liefert die Entstehungsgeschichte der Grundrechtecharta. Zum einen ist im Grundrechtskonvent darauf hingewiesen worden, dass das Streikrecht auf Beamte Anwendung finden kann.20 Zum anderen ist der Einwand, es könne wegen der Unzuständigkeit der Gemeinschaft für das Arbeitskampfrecht kein Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen geben, vom Konventspräsidium mit dem Hinweis zurückgewiesen worden, dass die Gemeinschaft jedenfalls das Streikrecht der bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer regeln dürfe.21 Damit ist das Streikrecht der europäischen Beamten im Grundrechtskonvent ein maßgebliches Argument für die Aufnahme des Rechts auf kollektive Maßnahmen in die Charta gewesen. Schließlich hat der EuGH bereits 1974 in zwei Entscheidungen festgestellt, dass sich die von den europäischen Beamten gebildeten Gewerkschaften jeder erlaubten Tätigkeit zur Verteidigung der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder widmen können.22 Da der Arbeitskampf auch im Gemeinschaftsrecht ein grundrechtlich geschütztes Verhalten der Arbeitnehmer darstellt, sind die Organisationen der europäischen Beamten aus Art. 28 Var. 2 GRC berechtigt, kollektive Maßnahmen zu ergreifen.23 3. Die Einschränkungen des Rechts der europäischen Beamten auf kollektive Maßnahmen Gleichwohl ist das Recht der europäischen Beamten auf kollektive Maßnahmen nicht grenzenlos gewährleistet. Als gemeinschaftsrechtliche Schranke im 18
Anscheinend a. A.: Grabitz/Hilf – Rogalla, Art. 283 EG, Rn. 90. Vgl. § 3 II. 1. a). 20 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 372 f. 21 CHARTE 4192/00, CONVENT 18, 27.3.2000, S. 7. 22 EuGH, 8.10.1974, Rs. 175/73, Slg. 1974, 917, Rn. 14/16 (Massa & Kortner); 8.10.1974, Rs. 18/74, Slg. 1974, 933, Rn. 10/12 (Allgemeine Gewerkschaft). 23 Nach Art. 28 Var. 2 GRC kommen zwar auch die europäischen Beamten als Träger des Rechts auf kollektive Maßnahmen in Betracht. Jedoch geht aus der bisherigen Praxis und insbesondere dem Abkommen vom 20. September 1974 hervor, dass das Streikrecht den Vereinigungen der europäischen Beamten zustehen soll. 19
§ 5 Die gemeinschaftsinterne Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC
203
Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC kommt vor allem das europäische Beamtenstatut in Betracht. Von seiner Rechtsnatur her ist es eine Verordnung der Europäischen Gemeinschaft,24 die damit dem gemeinschaftsrechtlichen Gesetzesvorbehalt des Art. 52 GRC genügt. Eine das Streikrecht begrenzende Norm ist beispielsweise Art. 49 EBSt. Nach dieser Vorschrift kann ein europäischer Beamter von Amts wegen aus dem Dienst entlassen werden, wenn besondere, im Statut im Einzelnen geregelte Bedingungen erfüllt sind. Dazu ist sowohl der Paritätische Ausschuss als auch der betroffene Beamte zu hören. Eine Entlassung von Amts wegen ist nur unter besonderen gesetzlichen Voraussetzungen möglich, bei deren Vorliegen die Anstellungsbehörde nach dem Beamtenstatut zum Ausspruch einer Entlassung berechtigt, aber nicht verpflichtet ist. Daraus ergibt sich, dass ein Streik, der mit dem Ziel geführt wird, die Entlassung eines bestimmten Beamten zu erzwingen, ein Verhalten sein mag, das zwar grundsätzlich in den Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC fällt. Jedenfalls genießt es wegen der Bestimmung des Art. 49 EBSt keinen grundrechtlichen Schutz, weil die Ausübung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen von Art. 49 EBSt in einer dem Art. 52 GRC entsprechenden Weise begrenzt wird. II. Das Recht der sonstigen Gemeinschaftsbediensteten auf kollektive Maßnahmen Gemäß Art. 283 EG unterscheidet das Dienstrecht der Europäischen Union zwischen Beamten und sonstigen Bediensteten. Die Dienstverhältnisse der sonstigen Bediensteten sind nicht im Beamtenstatut, sondern in Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften (EBB)25 geregelt. Die dort enthaltenen Einstellungsbedingungen für sonstige Bedienstete der Gemeinschaft sind mit denjenigen für Beamte nahezu identisch und stimmen teilweise sogar im Wortlaut überein.26 Darüber hinaus verweist Art. 11 EBB hinsichtlich der Reche und Pflichten der Zeitbediensteten auf die Art. 11–26 EBSt und Art. 54 EBB für die Rechte und Pflichten der Hilfskräfte auf die Art. 11–25 EBSt. Deswegen finden diese Vorschriften des europäischen Beamtenrechts auf die sonstigen Bediensteten entsprechende Anwendung. Da die Rechtsstellung der sonstigen Bediensteten daher mit derjenigen der europäischen Beamten vergleichbar ist und es im Übrigen keine mit Art. 33 Abs. 4 und 5 GG vergleichbare Bestimmung für die Beamten und sonstigen Bedienste24 Schwarze – Hatje, Art. 283 EGV, Rn. 3; Calliess/Ruffert – Kallmeyer, Art. 283 EGV, Rn. 5; Streinz – Steinle, Art. 283 EG, Rn. 5. 25 ABl. Nr. L 124, 27.4.2004, S. 93 ff. 26 Vgl. Art. 27 ff. EBSt einerseits und Art. 12 ff. EBB andererseits.
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
ten der Union gibt, ist die Unterscheidung zwischen diesen beiden Gruppen bezüglich ihres Rechts auf kollektive Maßnahmen entbehrlich.27 Da zudem kein Gesichtspunkt ersichtlich ist, aus dem sich ergeben würde, dass den sonstigen Bediensteten in dieser Hinsicht weniger Rechte zustehen sollten als den europäischen Beamten, steht auch den von ihnen gebildeten Vereinigungen das Recht auf kollektive Maßnahmen aus Art. 28 Var. 2 GRC zu.
§ 6 Europäische Tarifverträge als Ziel gesamteuropäischer Arbeitskämpfe Neben der gemeinschaftsinternen Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC auf die bei der Europäischen Gemeinschaft beschäftigten Arbeitnehmer kommt die weitergehende Möglichkeit eines grenzüberschreitenden Arbeitskampfes im gesamten Gebiet der Europäischen Gemeinschaft in Betracht. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, mit welchem Ziel ein solcher europäischer Arbeitskampf geführt werden könnte. I. Der Tarifvertragsschluss als Arbeitskampfziel im nationalen und internationalen Arbeitskampfrecht Zur Klärung dieser Frage bietet sich zum einen ein Vergleich mit Arbeitskämpfen auf der Grundlage des Art. 9 Abs. 3 GG und zum anderen ein Vergleich mit denjenigen internationalen Bestimmungen an, denen Art. 28 Var. 2 GRC nachgebildet ist. 1. Das Ziel nationaler Arbeitskämpfe in Deutschland Ausgehend von der Rechtsentwicklung in Deutschland unter der in Art. 9 Abs. 3 GG verbürgten Koalitionsfreiheit ist zunächst festzustellen, dass das Grundgesetz im Gegensatz zur Grundrechtecharta weder eine ausdrückliche Gewährleistung der Tarifautonomie noch ein ausdrückliches Recht auf Arbeitskampfmaßnahmen enthält. Der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG erlaubt lediglich die Bildung von Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Dem entspricht auf der Gemeinschaftsebene der Grundrechtsinhalt der Vereinigungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GRC. Das Bundesverfassungsgericht hat indes in einer frühen Entscheidung ausgeführt, dass das Grundrecht der Koalitionsfreiheit den Zusammenschluss von Arbeitgebern oder Arbeitnehmern nicht nur als solchen, sondern den Zusammenschluss zur aktiven Wahrnehmung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen 27 Oetker/Preis – Hergenröder, EAS, B 8400, Rn. 57; Riegel, ZTR 1993, S. 223 (226 f.).
§ 6 Europäische Tarifverträge als Ziel europäischer Arbeitskämpfe
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schützt.1 Da der Interessengegensatz zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern aufgrund der historischen Entwicklung von frei gebildeten Organisationen in normativ wirkenden Gesamtvereinbarungen ausgeglichen werde, müsse in dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Bereitstellung eines Tarifvertragssystems liegen.2 Diese Rechtsprechung baute das Bundesverfassungsgericht aus, als es feststellte, dass die selbständige Regelung des Arbeitslebens und insbesondere der Höhe der Arbeitsvergütung durch den Abschluss von Tarifverträgen im öffentlichen Interesse liege.3 Diese Materie sei der staatlichen Rechtssetzung nicht zugänglich und es obliege den Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die Gesellschaft sozial zu befrieden. Daher gewährleiste die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG die Tarifautonomie.4 Später erkannte das Bundesverfassungsgericht die Tarifautonomie als von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsbetätigung an.5 Anknüpfend daran, dass die Koalitionen selbst, eigenverantwortlich und grundsätzlich frei von staatlicher Einflussnahme über die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bestimmen sollen, stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass Art. 9 Abs. 3 GG die diesem Zweck dienenden spezifischen Betätigungen der Koalitionen garantiere. Zu den geschützten spezifischen Koalitionsbetätigungen zählte es insbesondere den Abschluss von Tarifverträgen.6 Das Bundesarbeitsgericht hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Tarifautonomie und die damit verbundenen verfassungsrechtlichen Implikationen für das Arbeitskampfrecht fruchtbar gemacht. Wenn es so sei, dass die Tarifautonomie der Koalitionsfreiheit entspringe und es deren Zweck sei, das Arbeitsleben ohne staatliche Einflussnahme zu ordnen, müssen die Tarifvertragsparteien nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bei den Tarifverhandlungen in der Lage sein, einen fühlbaren Druck auf die Gegenseite auszuüben. Denn ansonsten wären sie letztlich vom guten Willen ihres Gegenspielers abhängig und könnten die ihnen in Art. 9 Abs. 3 GG zugedachte Aufgabe nicht sinnvoll erfüllen. Wirksamer Druck und Gegendruck seien daher die notwendigen Mittel zur Herstellung einer sozialen Friedensordnung.7 In aller Regel wollen nämlich die Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder herbeiführen. Da sie für den Abschluss eines Tarifvertrages aber auf die Zustimmung der Arbeitgeberseite angewiesen seien, könne sich die Arbeitgeberseite auf die Ablehnung einer Ver1
BVerfGE 4, 96 (106). BVerfGE 4, 96 (106); freilich hat das Bundesverfassungsgericht anfänglich nur einen Kernbereich der Tarifautonomie als von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt angesehen. 3 BVerfGE 18, 18 (28). 4 BVerfGE 18, 18 (28). 5 BVerfGE 50, 290 (367). 6 BVerfGE 50, 290 (367). 7 BAGE 21, 98 (101 ff.). 2
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
einbarung beschränken, um ihre Interessen durchzusetzen. Wegen dieses Interessengegensatzes seien Tarifverhandlungen ohne das Recht zu streiken nicht mehr als „kollektives Betteln“.8 Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist der Arbeitskampf daher ein Hilfsinstrument zur Sicherung einer funktionsfähigen Tarifautonomie,9 das der Herstellung gleicher Verhandlungschancen in den Tarifverhandlungen dient.10 Da sich Tarifkonflikte zudem wegen der grundrechtlichen Gewährleistung der Koalitionsfreiheit einer staatlichen Zwangsschlichtung entzögen,11 dienten Arbeitskämpfe darüber hinaus dem Ausgleich sonst nicht lösbarer Konflikte.12 Das Bundesverfassungsgericht hat seinerseits die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts verfassungsrechtlich gestützt und entschieden, dass Art. 9 Abs. 3 GG nicht nur die spezifischen Betätigungen der Koalitionen schütze, sondern den betreffenden Grundrechtsträgern grundsätzlich auch die Auswahl des hierfür geeigneten Mittels garantiere.13 Zu den verfassungsrechtlich geschützten Mitteln gehörten jedenfalls die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichteten Arbeitskampfmaßnahmen, soweit sie zur Herstellung des Verhandlungsgleichgewichts der Tarifparteien erforderlich sind.14 Das national-rechtliche Pendant zum Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen findet sich daher in der Koalitionsbetätigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG, und dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen entspricht die ebenfalls von Art. 9 Abs. 3 GG umfasste Koalitionsmittelfreiheit. In Deutschland sind Tarifautonomie und Arbeitskampf damit anerkanntermaßen verfassungsrechtlich verknüpft. Der Abschluss eines Tarifvertrages ist sogar das einzige Ziel, für das das Mittel des Arbeitskampfes rechtmäßig eingesetzt werden darf.15 Aus der Perspektive des deutschen Verfassungsrechts kommt damit ein Arbeitskampf auf der europäischen Ebene am ehesten dann in Betracht, wenn mit ihm unter vergleichbaren Umständen der Abschluss eines ebenfalls gemeinschaftsgrundrechtlich geschützten europäischen Tarifvertrages erzwungen werden soll. Wenn den Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen auf der Gemeinschaftsebene in ähnlicher Weise wie in Deutschland das Recht zusteht, das Arbeitsleben selbständig, eigenverantwortlich und grundsätzlich frei von hoheitlicher Einflussnahme durch den Abschluss von europäischen Tarifverträgen zu 8
BAGE 33, 140 (150); 46, 322 (346). BAGE 48, 160 (168); 58, 343 (348). 10 BAGE (GS) 23, 292 (308). 11 BAGE (GS) 23, 292 (308). 12 BAGE 58, 343 (348). 13 BVerfGE 84, 212. 14 BVerfGE 84, 212 (229). 15 Erfurter Kommentar – Dieterich, Art. 9 GG, Rn. 111 (m.w. N.). 9
§ 6 Europäische Tarifverträge als Ziel europäischer Arbeitskämpfe
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regeln, könnte die Ausübung von Druck und Gegendruck erforderlich sein, um ein Verhandlungsgleichgewicht zwischen den Tarifparteien auf der Gemeinschaftsebene herzustellen. 2. Der Bezug internationaler Arbeitskampfgarantien zur Tarifvertragsfreiheit Bei den Bestimmungen des Art. 6 Nr. 4 ESC und des Art. 13 EG-SC, die beide der Formulierung des Gemeinschaftsgrundrechts aus Art. 28 Var. 2 GRC zugrunde lagen,16 lässt sich ebenfalls ein Zusammenhang zwischen dem Recht auf kollektive Maßnahmen und dem Recht auf kollektive Verhandlungen nachweisen. Nach dem Wortlaut des Art. 6 Nr. 4 ESC erkennen die Vertragsparteien der Europäischen Sozialcharta das Recht auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts an, um die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten. Aufgrund dieses Wortlauts ist lebhaft umstritten, ob das Recht auf kollektive Maßnahmen in der Europäischen Sozialcharta auch Arbeitskämpfe gestattet, die anderen Zwecken als der Ausübung des Rechts auf kollektive Verhandlungen dienen.17 Jedenfalls steht ein Arbeitskampf dann unter dem Schutz des Art. 6 Nr. 4 ESC, wenn er auf die Ausübung des Rechts auf kollektive Verhandlungen und mithin auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtet ist. Diesen Schluss haben der Europäische Ausschuss für Soziale Rechte18 sowie das Bundesarbeitsgericht19 bereits gezogen und anerkannt, dass Art. 6 Nr. 4 ESC den tarifbezogenen Streik gewährleistet.
16 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 442. 17 Vgl. Agnelli – Däubler, Die Europäische Sozialcharta, S. 103 (123 f.); Fabricius, Streik und Aussperrung im Internationalen Recht, S. 32; ders., Menschenrechte und Europäische Politik, S. 116 f.; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 24, Rn. 8; Münchener Handbuch – Otto, § 284, Rn. 54. Das Ministerkomitee des Europarats (in: Die Europäische Sozialcharta, S. 138) und der Europäische Ausschuss für soziale Rechte (in: Digest of the Case Law, S. 36) halten die einzelstaatliche Voraussetzung, nach welcher Streiks auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtet sein müssen, für mit Art. 6 Nr. 4 ESC unvereinbar. Die deutsche Bundesregierung sah trotz der Empfehlung des Ministerkomitees vom 3.2.1998 (abgedruckt in: AuR 1998, S. 156) keinen Handlungsbedarf für eine gesetzliche Regelung oder Änderung des geltenden Streikrechts (vgl. BT-Drucks. 13/11415, 3.9.1998, S. 17 f.). Gleichwohl hat das Bundesarbeitsgericht (BAGE 104, 155, 166 f.) konzediert, dass die generalisierende Aussage, Arbeitskämpfe seien stets nur zur Durchsetzung tarifvertraglich regelbarer Ziele zulässig, in Hinblick auf Art. 6 Nr. 4 ESC und die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats einer erneuten Überprüfung bedürfe. Siehe zum Ganzen: Bepler, FS-Wissmann, S. 97 (104 ff.). 18 ECSR, Digest of the Case Law, S. 36. 19 Vgl. BAGE 48, 160 (170).
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
In Art. 13 EG-SC wird der Bezug zwischen dem Recht, Tarifverträge zu schließen, und dem Recht, kollektive Maßnahmen zu ergreifen, dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Bestimmung das Recht zu streiken nur unter dem Vorbehalt geltender Tarifverträge gewährleistet. In vergleichbarer Weise verhält es sich beim Streikrecht aus Art. 6 Nr. 4 ESC, das nur vorbehaltlich entgegenstehender Tarifverträge20 ausgeübt werden darf. Beide Vorschriften nehmen daher Rücksicht auf etwaige tarifvertragliche Friedensverpflichtungen.21 Als der Verpflichtung der Tarifparteien, während der Geltungsdauer eines Tarifvertrages keine Arbeitskämpfe über die in ihm geregelten Gegenstände zu führen, ist die tarifliche Friedenspflicht das klassische Bindeglied zwischen Tarifvertrag und Arbeitskampf. Auch ohne eine ausdrückliche Vereinbarung ist sie Teil jedes Tarifvertrages.22 Suspendiert ein geltender Tarifvertrag für die Dauer seiner Geltung die Rechte aus Art. 13 EG-SC und Art. 6 Nr. 4 ESC, muss der erneute Tarifabschluss im Umkehrschluss nach dem Außerkraftteten eines Tarifvertrages unter Einsatz kollektiver Maßnahmen erstritten werden dürfen. 3. Folgerungen für Art. 28 Var. 2 GRC Interpretiert man Art. 28 Var. 2 GRC in Entsprechung mit Art. 6 Nr. 4 ESC, muss das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen jedenfalls solche Arbeitskämpfe gestatten, die zur wirksamen Ausübung des Rechts auf kollektive Verhandlungen nach Art. 28 Var. 1 GRC erfolgen. Darüber hinaus umfasst der in Art. 6 Nr. 4 ESC verwendete Begriff des Interessenkonflikts – ungeachtet aller damit verbundenen Zweifelsfragen – jedenfalls Tarifkonflikte.23 Da das Merkmal des Interessenkonflikts in Art. 28 Var. 2 GRC auf Art. 6 Nr. 4 ESC zurückgeht, ist es ebenso auszulegen wie in der Europäischen Sozialcharta. Das spricht dafür, tarifliche Auseinandersetzungen als Interessenkonflikte im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC anzusehen. Damit ergibt sich sowohl aus dem nationalen als auch aus dem internationalen Arbeitskampfrecht ein systematischer und funktionaler Zusammenhang zwischen dem Recht auf kollektive Verhandlungen und dem Recht auf kollektive Maßnahmen. Das führt zu dem Schluss, dass zwischen den beiden in Art. 28 GRC enthaltenen Gemeinschaftsgrundrechten ein entsprechender Zusammenhang besteht. Die sprachliche Verknüpfung der beiden Grundrechte in Art. 28 20 Mit dem in Art. 6 Nr. 4 ESC verwendeten Begriff der „Gesamtarbeitsverträge“ sind ebenso wie in Art. 13 EG-SC Tarifverträge gemeint; vgl. Agnelli – Däubler, Die Europäische Sozialcharta, S. 103 (116 f.). 21 Vgl. zu Art. 6 Nr. 4 ESC: ECSR, Digest of the Case Law, S. 37; Agnelli – Däubler, Die Europäische Sozialcharta, S. 103 (117). 22 Vgl. zum deutschen Recht: BAGE 41, 209 (219); 62, 171 (178 f.). 23 Vgl. Agnelli – Däubler, Die Europäische Sozialcharta, S. 103 (117); Fabricius, Streik und Aussperrung im Internationalen Recht, S. 32.
§ 6 Europäische Tarifverträge als Ziel europäischer Arbeitskämpfe
209
GRC mit dem Wort „sowie“ schließt lediglich einen Abhängigkeitszusammenhang zwischen dem Recht auf kollektive Maßnahmen und dem Recht auf kollektive Verhandlungen, wie er in Deutschland besteht, aus.24 Deswegen wird man nicht annehmen können, dass das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen auf der europäischen Ebene nur dann ausgeübt werden dürfte, wenn die kollektive Maßnahme auf den Abschluss eines von Art. 28 Var. 1 GRC geschützten Tarifvertrages gerichtet ist. Da aber inbesondere ein Konflikt über den Abschluss eines Tarifvertrages nach Art. 28 Var. 1 GRC als Interessenkonflikt im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC angesehen werden kann, kommt ein grundrechtlicher Schutz kollektiver Maßnahmen vor allem dann in Betracht, wenn mit diesen der Abschluss eines von Art. 28 Var. 1 GRC geschützten Tarifvertrages erzwungen werden soll. Da der Europäische Gerichtshof aber noch nicht ausdrücklich zu der Frage nach einem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen Stellung genommen hat,25 ist die Reichweite des Grundrechts auf kollektive Verhandlungen bislang weitgehend unklar. Insofern steht lediglich fest, dass Art. 28 Var. 1 GRC im Gegensatz zu Art. 28 Var. 2 GRC das Recht auf kollektive Verhandlungen nach dem Wortlaut der Grundrechtecharta „auf den geeigneten Ebenen“ gewährleistet und deswegen Kollektivverhandlungen auf der „europäischen Ebene“ bereits im Wortlaut des Chartarechts angelegt sind.26 Sofern im Übrigen mit Art. 28 Var. 1 GRC den betreffenden Grundrechtsträgern auf der Gemeinschaftsebene ein Freiraum geschaffen wird, innerhalb dessen sie in einem weiteren Sinne die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in der Gemeinschaft selbständig regeln dürfen, müssten sie folgerichtig auch das Recht haben, den zwischen ihnen bestehenden Interessengegensatz kampfweise unter dem Schutz des Art. 28 Var. 2 GRC auszutragen. Eine hoheitliche Zwangsschlichtung ist mit dem Bekenntnis zur Tarifautonomie in Art. 28 Var. 1 GRC jedenfalls unvereinbar.27 Deswegen müsste ein gesamteuropäischer Arbeitskampf als Hilfsmittel der europäischen Tarifautonomie anerkannt werden, wenn bei Tarifverhandlungen auf der europäischen Ebene nach Art. 28 Var. 1 GRC zwischen den beteiligten Parteien ein Verhandlungsgleichgewicht hergestellt werden muss, damit es zu einem ausgewogenen und interessengerechten Verhandlungsergebnis
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Vgl. § 2 II. 1. c). Vgl. EuGH, 21.9.1999, Rs. C-67/96 (Albany). 26 Gallner (in: ArbRGeg. 41 (2004), S. 21, 37) entnimmt der inhaltsgleichen Bestimmung des Art. II-88 EVV die Garantie einer europäischen Tarifautonomie, die wegen des Vorbehalts einzelstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten zwar eine gemeinschaftsweite, aber uneinheitliche Wirkung habe. 27 Vgl. Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 434. In Deutschland wird die staatliche Zwangsschlichtung ebenfalls für mit Art. 9 Abs. 3 GG unvereinbar gehalten; vgl. BAGE 12, 184 (190); Kissel, Arbeitskampfrecht, § 70, Rn. 36; Münchener Handbuch – Otto, § 296, Rn. 14. 25
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
kommen kann.28 Das wird man vor allem dann zu bejahen haben, wenn sich auf der europäischen Ebene eine der verhandelnden Parteien mit dem Verharren auf dem status quo begnügen kann, während die andere in aller Regel eine Veränderung desselben zu ihren Gunsten anstrebt. Auch auf der europäischen Ebene gilt der vom Bundesarbeitsgericht zitierte Satz: „Collective bargaining without the right to strike amounts to collective begging.“29 II. Die Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen auf der europäischen Ebene Kommt in erster Linie der Abschluss eines europäischen Tarifvertrages als mögliches Ziel eines europäischen Arbeitskampfes in Betracht, rückt damit die Frage, unter welchen Umständen Art. 28 Var. 1 GRC einen europäischen Tarifabschluss garantiert, ins Zentrum der Überlegungen. Dabei ist von der Erkenntnis auszugehen, dass das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen wegen des Merkmals der geeigneten Ebene nur in Abhängigkeit vom sonstigen gemeinschaftlichen und mitgliedstaatlichen Recht gewährleistet wird.30 Auf der europäischen Ebene kann es nur ausgeübt werden, soweit gemeinschaftsrechtliche Vorschriften kollektive Verhandlungen bzw. den Abschluss von Tarifverträgen gestatten. Demgegenüber ist es ausgeschlossen, dass sich europäische Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen die Abwesenheit sekundären Gemeinschaftsrechts, das den Abschluss von Tarifverträgen regelt, zu Nutze machen und auf der Grundlage des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen selbst die Ausgestaltung der gemeinschaftlichen Tarifautonomie in die Hand nehmen.31 1. Das Merkmal der geeigneten Ebene in Art. 28 Var. 1 GRC Entscheidend für die Möglichkeit, unter dem Schutz des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen europäische Tarifverträge abzuschließen, ist zunächst die Frage, was überhaupt unter einer „Ebene“ im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC und einem dementsprechenden Tarifvertragsschluss auf der 28 Vgl. Lecher/Platzer – Coen, Europäische Union – Europäische Arbeitsbeziehungen?, S. 175 (182); Heinemann – Jacobs, Das kollektive Arbeitsrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 107; Zachert, FS-Schaub, S. 811 (827); Weiss, FS-Kissel, S. 1253 (1266). 29 Blanpain, European Labour Law, Rn. 225; vgl. auch Blank, FS-Gnade, S. 649 (657). 30 Zur Akzessorietät des Art. 28 Var. 1 GRC siehe: § 2 II. 1. b). 31 Im Ergebnis übereinstimmend: Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 471 f.; zur Entwicklung von Kollektivvertragssystemen unter Abwesenheit positiven Rechts siehe: Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 61 ff. (m.w. N.).
§ 6 Europäische Tarifverträge als Ziel europäischer Arbeitskämpfe
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„europäischen Ebene“ zu verstehen ist. Insbesondere gilt es zu klären, unter welchen Bedingungen die europäische Ebene für den Abschluss von Tarifverträgen gemäß Art. 28 Var. 1 GRC geeignet ist. a) Der Ebenenbegriff der Grundrechtecharta Die Verwendung des Ebenenbegriffs in der Präambel der Grundrechtecharta ist in diesem Zusammenhang wenig aufschlussreich, da dort lediglich von der Verteilung mitgliedstaatlicher Staatsgewalt auf die nationale, die regionale und die lokale Ebene die Rede ist. Eine erste Näherung an den Inhalt des Ebenenbegriffs ergibt sich hingegen aus dem Gemeinschaftsgrundrecht der Vereinigungsfreiheit.32 Art. 12 Abs. 1 GRC garantiert das Recht, sich „auf allen Ebenen“ frei mit anderen zusammenzuschließen. Das umfasst das Recht, Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten. Art. 12 Abs. 2 GRC konkretisiert für das Recht zur Parteigründung, dass die politischen Parteien „auf der Ebene der Union“33 dazu beitragen, den politischen Willen der Unionsbürger zum Ausdruck zu bringen.34 Der Wortlaut des Art. 12 Abs. 2 GRC geht auf einen Vorschlag des Präsidiums des Grundrechtskonvents zurück, in dem das besondere Recht, Parteien auf der europäischen Ebene zu gründen, noch eigens neben der allgemeinen Vereinigungsfreiheit stand.35 Damit sollte klargestellt werden, dass das Recht zur Gründung von Parteien erstmals auch auf der Ebene der Europäischen Union garantiert wird.36 Daraus lässt sich in Bezug auf den in der Grundrechtecharta verwendeten Ebenenbegriff entnehmen, dass in der Charta grundsätzlich zwischen einer europäischen und gegebenenfalls mehreren mitgliedstaatlichen Ebenen unterschieden wird. In den Erläuterungen zu Art. 28 GRC hat das Präsidium des Grundrechtskonvents hingegen nicht im Einzelnen dargelegt, worauf sich das Merkmal der geeigneten Ebenen beziehen soll, sondern hat lediglich auf seine Erläuterungen zu Art. 27 GRC verwiesen.37 Mit Art. 28 Var. 1 GRC hat das sich aus Art. 27 GRC ergebende Grundrecht der Arbeitnehmer auf Anhörung und Unterrichtung im Unternehmen gemein, dass es nur auf den geeigneten Ebenen verwirklicht werden darf.38 Deswegen ist das Verständnis der Bezugnahme auf die geeigne32
Vgl. dazu: Vitorino, Revue de Droit de l’Union Européenne 2001, S. 27 (54). Der Unterscheidung zwischen Union und Gemeinschaft ist an dieser Stelle bedeutungslos, da es sich in beiden Fällen um die europäische Ebene handelt. 34 Vgl. Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 12, Rn. 12. 35 Vgl. Art. 17 und 24 in: CHARTE 4284/00, CONVENT 28, 5.5.2000, S. 18, 24. 36 Meyer – Bernsdorff, GRC, Art. 12, Rn. 8. 37 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 442. 38 Vgl. § 2 II. 1. b). 33
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
ten Ebenen in Art. 27 GRC von entscheidender Bedeutung für die Auslegung des Art. 28 Var. 1 GRC. Aus den Erläuterungen des Konventspräsidiums folgt zudem, dass sich die geeignete Ebene nicht aus Art. 27 GRC selbst ergibt, sondern ausschließlich durch die im Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer vorgesehenen Ebenen bestimmt wird.39 Die europäische Ebene sei nur geeignet, wenn das Gemeinschaftsrecht dies vorsehe.40 Ferner hat das Präsidium des Grundrechtskonvents bzw. das Präsidium des Verfassungskonvents darauf hingewiesen, dass die Gemeinschaft hinsichtlich des Rechts der Arbeitnehmer auf Unterrichtung und Anhörung über einen beachtlichen Besitzstand verfüge.41 Hierzu zählt es die Massenentlassungsrichtlinie, die Betriebsübergangsrichtlinie, die Unterrichtungsund Anhörungsrahmenrichtlinie,42 die Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat sowie die Art. 138 und 139 des Gemeinschaftsvertrages.43 Ebenso wie das Grundrecht auf kollektive Verhandlungen wird der Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 27 GRC mit dem Merkmal der geeigneten Ebene an das sonstige gemeinschalftliche und nationale Recht gekoppelt. Ein von Art. 27 GRC grundrechtlich geschützter Anspruch auf Unterrichtung und Anhörung steht den Arbeitnehmern nur unter der Voraussetzung zu, dass auch in sonstigen Rechtsvorschriften ein entsprechendes Recht auf Unterrichtung und Anhörung vorgesehen ist. Auf der europäischen Ebene können die Arbeitnehmer und ihre Vertretungen das Grundrecht auf Unterrichtung und Anhörung nur in dem im sonstigen Gemeinschaftsrecht begründeten Umfang ausüben. Das Gemeinschaftsgrundrecht aus Art. 27 GRC ist daher ebenso wie das Grundrecht aus Art. 28 Var. 1 GRC gemeinschafts- bzw. nationalrechtsakzessorisch.44
39 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 441. 40 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 441. 41 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 441. 42 Die Unterrichtungs- und Anhörungsrahmenrichtlinie wurde erst nach dem Abschluss der Arbeiten an der Grundrechtecharta erlassen und ist erst in den Erläuterungen des Verfassungskonvents zu Art. II-87 EVV, dem früheren Art. 27 GRC, hinzugefügt worden; vgl. Working Group II, Working document 27, 3.6.2003, S. 33; ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 441. 43 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S 27; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 441. 44 Vgl. § 2 II. 1. b).
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b) Die Konkretisierung des Ebenenbegriffs Eine mögliche Interpretation des Ebenenbegriffs in Art. 27 GRC besteht darin, ihn auf die Unterscheidung zwischen der gemeinschaftlichen Rechtsordnung und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu beziehen. Dann wäre anzunehmen, dass mit der Ebene darüber entschieden wird, ob sich das entsprechende Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren nach dem Gemeinschaftsrecht oder nach einzelstaatlichem Recht richtet und damit die Frage betrifft, welche der beiden Rechtsordnungen ein entsprechendes Verfahren regeln muss. Die Eignung der Ebene würde dann darüber entscheiden, ob sich der Anspruch aus Art. 27 GRC gegen die Gemeinschaft oder die Mitgliedstaaten richtet, und bezöge sich daher auf den Grundrechtsadressaten. Gegen diesen Auslegungsansatz spricht, dass sich die Eignung einer Ebene nach den Erläuterungen des Konventspräsidiums sowohl aus dem nationalen als auch aus gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften ergeben kann.45 Wenn aber das mitgliedstaatliche Recht unter mehreren Ebenen über die geeignete entscheiden soll und sich die Eignung der europäischen Ebene nur aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben kann, muss es in den Mitgliedstaaten mehrere Ebenen im Sinne des Art. 27 GRC geben.46 Bereits deswegen können die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht als Ebene im Sinne des Art. 27 GRC verstanden werden. Im Übrigen regelt Art. 51 Abs. 1 GRC die Frage danach, unter welchen Voraussetzungen die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten an die Chartarechte gebunden sind, so dass das Merkmal der geeigneten Ebene innerhalb des Art. 27 GRC nicht die gleiche Funktion haben kann. Der Vertreter der Kommission im Grundrechtskonvent und spätere Präsident der Arbeitsgruppe II (Charta/Beitritt zur EMRK) im Verfassungskonvent, António Vitorino47, ist demgegenüber der Auffassung, dass die geeigneten Ebenen in Art. 27 GRC die Frage betreffen, ob die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer auf der Ebene des Unternehmens, der Unternehmensgruppe, der Branche oder auf der europäischen Ebene stattzufinden hat.48 Dabei soll die letztere nur dann die geeignete Ebene sein, wenn das Gemeinschaftsrecht dies vorsehe. Im Gegensatz zur Rechtsordnungsebene bezeichnet der in Art. 27 GRC verwendete Begriff nach Vitorino also diejenige Hierarchiestufe des „Unternehmens“, auf welcher die Unterrichtung und Anhörung stattzufinden 45 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 26; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 441. 46 Insofern weist Art. 27 GRC eine Übereinstimmung zum Ebenenbegriff in der Präambel der Charta auf. 47 In: Revue de Droit de l’Union Européenne 2001, S. 27 (54 f.); vgl. Meyer – Riedel, GRC, Art. 27, Rn. 26. 48 Ähnlich: Tettinger/Stern – Lang, Kölner GK-GRC, Art. 27, Rn. 24 [„Beteiligungsebenen“].
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
hat, und betrifft in einem weiteren Sinne den Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 27 GRC. Denn mit der Bestimmung der betreffenden Unternehmensebene werden zugleich die dieser Ebene zugeordnete Arbeitnehmervertretung und der sachliche Inhalt des Art. 27 GRC konkretisiert. Derselbe Ebenenbegriff soll nach Vitorino49 auch für das Grundrecht auf kollektive Verhandlungen nach Art. 28 Var. 1 GRC gelten. Das entspricht in etwa der in Belgien geltenden Rechtslage. Dort können nach dem „Gesetz über die Arbeitsverträge und paritätische Kommissionen“ Tarifverträge die Rechte und Pflichten der Arbeitsvertragsparteien innerhalb einzelner Betriebe oder ganzer Berufssparten bestimmen.50 In der von Vitorino vorgeschlagenen Weise ist der Ebenenbegriff des Art. 27 GRC im Grundrechtskonvent verstanden worden, wie sich aus an dem Chartaentwurf vom 21.9.2000 ergibt, dessen Art. 26 wie folgt lautete: „Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder ihre Vertreter muss auf allen Ebenen eine rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung zu den sie betreffenden Fragen im Unternehmen in den Fällen und unter den Voraussetzungen gewährleistet sein, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind.“51
Daran wird deutlich, dass man bei der Diskussion des Art. 27 GRC im Grundrechtskonvent davon ausging, dass sich der Verweis auf die geeigneten Ebenen auf die Untergliederung eines Unternehmens bezieht, auf welcher die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer stattzufinden hat. Das belegen auch die beiden vom Konventspräsidium im Zusammenhang mit Art. 27 GRC genannten Richtlinien 2002/14/EG und 94/45/EG. Die Richtlinie 2002/14/EG garantiert gemäß Art. 4 RL 2002/14/EG ebenso wie Art. 27 GRC ein Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren auf den geeigneten Ebenen, womit, wie aus Art. 5 RL 2002/14/EG hervorgeht, die jeweils einschlägige Unternehmens- oder Betriebsebene gemeint ist. Zudem ordnet Art. 4 Abs. 2 RL 2002/14/EG an, dass die Anhörung auf derjenigen arbeitgeberseitigen Leitungsebene zu erfolgen hat, die für die Entscheidung über die zu behandelnden Maßnahmen verantwortlich ist. Art. 1 Abs. 3 RL 94/45/EG schreibt für den Fall, dass mehrere Unternehmen gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchstaben b) und c) RL 94/45/EG eine Gruppe bilden, die Einrichtung des Europäischen Betriebsrats grundsätzlich nur auf der Ebene der Unternehmensgruppe vor.52 Damit stellt die Richtlinie 94/45/EG sicher, dass die Arbeitnehmervertreter auf der höchsten 49
In: Revue de Droit de l’Union Européenne 2001, S. 27 (54). Vgl. Henssler/Braun – Matray/Hübinger, Arbeitsrecht in Europa, Belgien, Rn. 189. 51 CHARTE 4470/1/00, CONVENT 47, 21.9.2000, S. 12 – Hervorhebungen vom Verfasser. 52 Dem entspricht die Regelung in § 7 EBRG; vgl. Müller, EBRG, § 7, Rn. 1. 50
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Führungsstufe des Unternehmensverbandes unterrichtet und angehört werden, und bezeichnet diese als Ebene. Eine teleologische Betrachtung des Art. 27 GRC bestätigt, dass sich der Ebenenbegriff in Übereinstimmung mit der Auffassung von Vitorino auf den Schutzbereich des Grundrechts bezieht. Alle vom Präsidium genannten Richtlinien sehen eine Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer vor, wenn ein Unternehmen Maßnahmen durchzuführen beabsichtigt, die mit Nachteilen für die Arbeitnehmer verbunden sind.53 Dass hat den Zweck, dass die Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmervertreter im Zeitpunkt der Unterrichtung bzw. im Zeitpunkt der Anhörung entweder die ausstehenden Maßnahmen noch verhindern oder über deren Durchführung eine Einigung mit dem Arbeitgeber erzielen können.54 Dieser Zweck lässt sich zudem aus Art. 21 der revidierten Europäischen Sozialcharta (R-ESC) sowie Art. 17 und 18 EG-SC ableiten, denen Art. 27 GRC nachgebildet ist.55 Art. 21 Buchstabe b) R-ESC verlangt, dass die Anhörung der Arbeitnehmer rechtzeitig vor einer beabsichtigten Entscheidung stattfindet, die die Interessen der Arbeitnehmer erheblich berühren kann. Ebenso fordert Art. 18 EG-SC, dass die Anhörung der Arbeitnehmer rechtzeitig vor bestimmten, in Art. 18 EG-SC aufgezählten Maßnahmen zu erfolgen hat. Diese Anforderung hat dementsprechend Eingang in Art. 27 GRC gefunden. Das Gemeinschaftsgrundrecht sieht ausdrücklich vor, dass die Unterrichtung und Anhörung rechtzeitig zu erfolgen hat, und verlangt demnach ebenfalls, dass die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in einem Zeitpunkt stattfindet, in dem die Entscheidung des Arbeitgebers über das Ob und Wie einer geplanten Maßnahme noch nicht irreversibel gefallen ist.56 Wenn dieser Zweck sinnvoll verfolgt werden soll, dann muss sichergestellt sein, dass die von einer belastenden Maßnahme des Arbeitgebers betroffenen Arbeitnehmer auch auf derjenigen Leitungsebene im Unternehmen oder Unternehmensverband unterrichtet und angehört werden, die befugt ist, über die in Aussicht stehenden Maßnahmen zu disponieren. Andernfalls würde das Anhörungs- und Unterrichtungsverfahren seinen Zweck verfehlen und der Grundrechtsschutz des Art. 27 GRC bliebe wirkungslos. Vor allem können die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber nur bei einer schutzbereichsbezogenen Auslegung des Merkmals der geeigneten Ebene nicht frei über die Unternehmensebene verfügen, auf der sie ein Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren einrichten. Vielmehr sind sie insoweit an 53 Art. 2 Abs. 1, 2 RL 98/59/EG; Art. 7 Abs. 3 RL 2001/23/EG; Art. 4 Abs. 3 RL 2002/14/EG; Nr. 3 des Anhangs zu Art. 7 RL 94/45/EG. 54 So zu Art. 2 Abs. 2 RL 98/59/EG: EuGH, 27.1.05, Rs. C-118/03, Rn. 38 (Junk). Vgl. auch Tettinger/Stern – Lang, Kölner GK-GRC, Art. 27, Rn. 6; Losch/Radau, NVwZ 2003, S. 1440 (1442). 55 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 441. 56 Vgl. Tettinger/Stern – Lang, Kölner GK-GRC, Art. 27, Rn. 20.
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das in Art. 27 GRC geschützte Grundrecht gebunden. Wenn beispielsweise ein von den Mitgliedstaaten im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRC durchzuführender Rechtsakt der Gemeinschaft ein Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren auf der höchsten Unternehmensstufe vorschreibt, können die Arbeitnehmer aus Art. 27 GRC von ihrem Mitgliedstaat verlangen, dass er den europäischen Rechtsakt unter Bindung an das Gemeinschaftsgrundrecht aus Art. 27 GRC ordnungsgemäß umsetzt und das betreffende Verfahren auf der höchsten Unternehmensebene einrichtet. Nur unter diesen Voraussetzungen macht im Übrigen die zusätzliche Einschränkbarkeit des Gemeinschaftsgrundrechts durch einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Sinn. Bestünde nach Art. 27 GRC nur eine Verpflichtung zur Einführung eines Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts oder des Rechts der Mitgliedstaaten, wäre die weitere Beschränkbarkeit des Rechts aus Art. 27 GRC durch nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten überflüssig und widersprüchlich.57 Bezieht man den Ebenenbegriff hingegen auf die Ebenen innerhalb eines Unternehmens, kommen einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten beispielsweise dann zum Tragen, wenn den Mitgliedstaaten bei der Durchführung eines Gemeinschaftsrechtsaktes ein Auswahlermessen hinsichtlich der Unternehmensebene zusteht, auf welcher sie ein Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren einführen, und sie bei dieser Entscheidung an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind.58 2. Die Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren auf der europäischen Ebene Da somit festzustellen ist, dass der Begriff der Ebene sich nicht auf die Unterscheidung zwischen gemeinschaftlichem und mitgliedstaatlichem Recht, sondern auf den Schutzbereich des jeweiligen Grundrechts bezieht, bleibt zu klären, ob sich unter den vom Konventspräsidium genannten Bestimmungen Vorschriften befinden, die ein Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren auf europäischer Ebene vorsehen. Im Anschluss daran ist zu überlegen, aus welchen Umständen sich die Zugehörigkeit zur europäischen Ebene ergibt und inwiefern diese Umstände Rückschlüsse auf die Auslegung des Ebenenbegriffs in Art. 28 Var. 1 GRC erlauben. 57 Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 10 EG bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts an die europarechtlichen Vorgaben gebunden. Einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten können die Mitgliedstaaten daher nicht von der gemeinschaftsvertraglichen Durchführungsverpflichtung befreien. Es ist nicht sinnvoll, den Grundrechtsschutz aus Art. 27 GRC hinter die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur ordnungsgemäßen Durchführung des Gemeinschaftsrechts zurückfallen zu lassen; vgl. zu dieser Problematik: Meyer – Riedel, GRC, Art. 27, Rn. 26. 58 Ein Beispiel hierfür findet sich etwa in Art. 2 Abs. 1 Buchstabe c) RL 2001/23/ EG.
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a) Die Massenentlassungsrichtlinie Die Richtlinie 98/59/EG enthält in ihrem Art. 2 die Pflicht des Arbeitgebers zur Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter bevor er Massenentlassungen im Sinne des Art. 1 RL 98/59/EG ausspricht.59 Nach Art. 1 Abs. 1 Buchstabe b) RL 98/59/EG bestimmt jedoch das Recht oder die Praxis der Mitgliedstaaten, wer als Arbeitnehmervertreter im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie anzusehen ist. Das gleiche gilt entsprechend für das in Art. 3 f. RL 98/59/EG vorgesehene Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen, bei welchem das mitgliedstaatliche Recht darüber entscheidet, welche Behörde im Sinne der Art. 3 RL 98/59/EG zuständig ist.60 Nach der Massenentlassungsrichtlinie gibt es keine Unterrichtung oder Anhörung der Arbeitnehmer auf der europäischen Ebene. b) Die Betriebsübergangsrichtlinie Das trifft auch auf die Richtlinie 2001/23/EG zu. Art. 7 RL 2001/23/EG sieht zwar ein Informations- und Konsultationsverfahren zwischen dem Veräußerer, dem Erwerber und den entsprechenden Arbeitnehmervertretungen vor, doch richtet sich auch hier die Frage nach den zuständigen Arbeitnehmervertretungen gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchstabe c) RL 2001/23/EG nach den Rechtsvorschriften und der Praxis der Mitgliedstaaten. c) Die Unterrichtungs- und Anhörungsrahmenrichtlinie Mit der Richtlinie 2002/14/EG wird ein allgemeiner Rahmen für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft geschaffen. Nach Art. 2 Abs. 1 Buchstabe c) RL 2002/14/EG erfolgt die Durchführung des Informations- und Konsultationsverfahrens auf der Grundlage bereits existierender innerstaatlicher Systeme.61 Art. 4 Abs. 1 RL 2002/14/EG überlässt die Modalitäten der Unterrichtung und Anhörung einzelstaatlichen Bestimmungen. Daher ist die Richtlinie 2002/14/EG insgesamt als ein an die Mitgliedstaaten gerichteter Rechtsakt zu verstehen, der für die nationalen Rechtssysteme Mindeststandards bei der Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer vorsieht,62 und deswegen keinen europäischen Anwendungsbereich aufweist.
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Vgl. EuGH, 27.1.2005, Rs. C-118/03 (Junk). Beispielsweise ist in Deutschland nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG die Agentur für Arbeit zuständig. 61 Deinert, NZA 1999, S. 800 (801). 62 Hanau/Steinmeyer/Wank – Hanau, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 19, Rn. 101. 60
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d) Die Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat Im Gegensatz zu den übrigen Richtlinien ist bereits nach dem Titel der Richtlinie 94/45/EG, der von Europäischen Betriebsräten spricht, von einem Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren auf der europäischen Ebene auszugehen. Bei einem Europäischen Betriebsrat handelt es sich um ein transnational zu besetzendes Gremium, welches gemäß Art. 1 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 3 RL 94/45/EG für die Vertretung aller Arbeitnehmer zuständig ist, die in einem Unternehmen beschäftigt werden, das die Voraussetzungen des Art. 2 RL 94/45/EG erfüllt.63 Aufschlussreich für die Auslegung des Art. 27 GRC sind die Voraussetzungen, unter denen die Richtlinie 94/45/EG die Errichtung eines Europäischen Betriebsrats und damit einer Unterrichtung und Anhörung auf der europäischen Ebene vorsieht. Nach ihrem Art. 1 dient die Richtlinie 94/45/EG dem Ziel, die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen zu stärken, wozu gemäß Art. 6 RL 94/45/EG Europäische Betriebsräte gebildet werden können.64 Nach Art. 2 RL 94/45/EG ist eine gemeinschaftsweite Tätigkeit eines Unternehmens gegeben, wenn es in mehr als einem Mitgliedstaat eine bestimmte Mindestzahl von Arbeitnehmern beschäftigt.65 Die Richtlinie setzt folglich – vom Umfang der Tätigkeit abgesehen – für die Bildung eines Europäischen Betriebsrats lediglich voraus, dass das betreffende Unternehmen grenzüberschreitend tätig ist. Es ist also die grenzüberschreitende Tätigkeit eines Unternehmens, die zur Errichtung eines Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens auf der europäischen Ebene führt.66 63 Vgl. Hanau/Steinmeyer/Wank – Hanau, Handbuch des europäischen Arbeitsund Sozialrechts, § 19, Rn. 22; Jaeger/Röder/Heckelmann – Heckelmann, Betriebsverfassungsrecht, Kap. 32, Rn. 2; Müller, EBRG, Einl., Rn. 11; Preis/Oetker – Oetker, EAS, B 8300, Rn. 144. 64 Art. 1 Abs. 3 RL 94/45/EG bestimmt, dass bei einer Gruppe mehrerer gemeinschaftsweit operierender Unternehmen der Europäische Betriebsrat bei der Konzernspitze zu errichten ist. Damit legt die Richtlinie innerhalb von gemeinschaftsweiten Unternehmensstrukturen fest, auf welcher konkreten Ebene der Europäische Betriebsrat gebildet wird, und ordnet ihn zugleich der europäischen Unternehmensebene zu. 65 Auch inhaltlich erstreckt sich das Unterrichtungs- und Anhörungsrecht des Europäischen Betriebsrats nach Art. 6 Abs. 3 RL 94/45/EG auf die sich aus der gemeinschaftsweiten Tätigkeit des Unternehmens ergebenden Angelegenheiten. 66 An diesem Ergebnis ändert sich nichts dadurch, dass sich das Recht des Europäischen Betriebsrats auf Unterrichtung und Anhörung nicht unmittelbar aus der RL 94/ 45/EG, sondern aus den hierzu erlassenen nationalen Umsetzungsbestimmungen, wie etwa dem deutschen Gesetz über Europäische Betriebsräte, ergibt. Denn die europäische Ebene ist schon dann die geeignete, wenn das Gemeinschaftsrecht sie für die Unterrichtung und Anhörung vorsieht. Dafür ist keineswegs eine unmittelbar zwischen den beteiligen Privatrechtssubjekten anwendbare Verordnung der Gemeinschaft erforderlich. Vielmehr enthält die RL 94/45/EG alle Bestimmungen, die die Zugehörigkeit des in ihr geregelten Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens zur europäischen Ebene begründen.
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e) Art. 27 GRC und der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene Die weitere Aussage des Konventspräsidiums, dass es sich beim Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene nach Art. 138 und 139 EG um einen Teil des gemeinschaftlichen Besitzstandes hinsichtlich der Unterrichtung- und Anhörung von Arbeitnehmern handeln soll,67 befremdet bereits auf den ersten Blick. Art. 27 GRC enthält ausweislich seiner amtlichen Überschrift das Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung und Anhörung im Unternehmen und hat die betriebsverfassungsrechtliche Stellung der Arbeitnehmer im Gemeinschaftsrecht zum Gegenstand.68 Das wird besonders deutlich, wenn man Art. 27 GRC mit den parallelen Vorschriften in Art. 21 R-ESC sowie Art. 17 und 18 EG-SC vergleicht. Beide Vorschriften befassen sich ebenso wie Art. 27 GRC mit Verfahren, bei denen die Arbeitnehmer von dem sie beschäftigenden Arbeitgeber unterrichtet und angehört werden. Mit einem derartigen Verfahren innerhalb eines Unternehmens hat der Soziale Dialog, in dessen Rahmen lediglich die Kommission die europäischen Sozialpartner gemäß Art. 138 Abs. 2 und 3 EG anhört, nichts zu tun. Daran ändert sich auch nichts, wenn man die Art. 138 und 139 EG für „umsetzungsbedürftig“ hält,69 weil die umsetzungsbedürftigen Vereinbarungen der europäischen Sozialpartner nicht notwendigerweise den Schutzbereich des Art. 27 GRC betreffen.70 Gegen die vom Konventspräsidium geäußerte Rechtsauffassung spricht mit entscheidendem Gewicht, dass die Kommission bei den Anhörungen der europäischen Sozialpartner gemäß Art. 138 Abs. 1 EG zur Neutralität verpflichtet ist und deswegen nicht Partei für eine Seite der beteiligten Sozialpartner ergreifen darf. Art. 27 GRC ist hingegen ein Grundrecht, das nur den Arbeitnehmern und ihren Vertretungen zusteht. Die Teilnahme der arbeitnehmerseitigen Sozialpartner am Sozialen Dialog, unter den grundrechtlichen Schutz des Art. 27 GRC zu stellen und der Beteiligung der Arbeitgeberseite einen äquivalenten grundrechtlichen Schutz vorzuenthalten, verstößt offensichtlich gegen das Neutralitätsgebot des Art. 138 Abs. 1 EG. Obwohl die Erläuterungen des Konventspräsidiums zu Art. 27 GRC bei dessen Auslegung zu berücksichtigen sind, treten sie an dieser Stelle in offenen Widerspruch zum eindeutigen Wortlaut des Art. 27 GRC und stehen dem Sinn und Zweck des Art. 138 Abs. 1 EG entgegen. Insoweit müssen sie daher bei der Interpretation des Grundrechts der Arbeitnehmer auf Unterrichtung und Anhörung unberücksichtigt bleiben.
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ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 441. Meyer – Riedel, GRC, Art. 27, Rn. 19. 69 So aber: Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 1005. 70 Ebenfalls einschränkend: Hervey/Kenner – Kenner, Economic and Social Rights under the EU Charter of Fundamental Rights, S. 1 (19). 68
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
f) Exkurs: Das Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren innerhalb der Societas Europaea Zu den in den Erläuterungen des Konventspräsidiums zu Art. 27 GRC genannten Richtlinien ist die Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer71 hinzuzufügen.72 In ihr ist ebenfalls eine Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer auf der europäischen Ebene vorgesehen. Für die Entstehung einer Societas Europaea (SE) wird gemäß Art. 2 VO (EG) Nr. 2157/200173 ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorausgesetzt, weil die Vorschrift verlangt, dass die beteiligten Unternehmen dem Recht verschiedener Mitgliedstaaten unterliegen. Damit wird eine grenzüberschreitende europäische Unternehmensebene vorausgesetzt. Darüber hinaus hat das jeweils zuständige Organ der beteiligten Gesellschaften entweder aufgrund einer Vereinbarung gemäß Art. 4 Abs. 2 Buchstabe f) RL 2001/86/EG oder gemäß Teil 2 der im Anhang zu dieser Richtlinie befindlichen Auffangregelung, das für die Arbeitnehmer der SE zuständige Vertretungsorgan der Arbeitnehmer zu unterrichten und anzuhören. 3. Die Übertragung des Ebenenbegriffs von Art. 27 GRC auf Art. 28 Var. 1 GRC Überträgt man die zu Art. 27 GRC gewonnenen Erkenntnisse auf das Grundrecht auf kollektive Verhandlungen, ist zunächst festzustellen, dass europäische Tarifverträge nur im Gemeinschaftsrecht selbst vorgesehen sein können. Ebenso wie für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer kann die europäische Ebene für kollektive Verhandlungen nur dann einschlägig sein, wenn das Gemeinschaftsrecht dies vorsieht. Allerdings ist es für den Abschluss eines Tarifvertrages auf der europäischen Ebene im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC nicht schon ausreichend, dass im europäischen Recht überhaupt der Abschluss eines Tarifvertrages vorgesehen ist. Die darüber hinaus erforderlichen Kriterien lassen sich aus einer Übertragung des Ebenenbegriffs von Art. 27 GRC auf das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen erschließen. Bei jeder gesetzlichen Ausgestaltung eines Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens im Sinne des Art. 27 GRC legt der betreffende Normgeber notwendigerweise zugleich fest, welcher Arbeitnehmervertretung das Unterrichtungsund Anhörungsrecht zustehen soll und gegenüber welcher Unternehmensebene
71
ABl. Nr. L 294, 10.11.2001, S. 22 ff. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 1005. 73 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (ABl. Nr. L 294, 10.11.2001, S. 1 ff.). 72
§ 6 Europäische Tarifverträge als Ziel europäischer Arbeitskämpfe
221
es geltend gemacht werden kann. Aus der Bestimmung der geeigneten Ebene geht folglich die Bestimmung des jeweiligen Grundrechtsträgers hervor. Da an kollektiven Verhandlungen nach Art. 28 Var. 1 GRC sowohl Arbeitnehmer- als auch Arbeitgeberorganisationen teilnehmen, sind insofern im Gegensatz zum Gemeinschaftsgrundrecht der Arbeitnehmer aus Art. 27 GRC beide Verhandlungsparteien zu berücksichtigen. Betrachtet man den persönlichen Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 28 Var. 1 GRC ist dementsprechend die europäische Ebene einschlägig, wenn grenzüberschreitende Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen kollektive Verhandlungen führen. Da sich derartige Verhandlungen einer einzelstaatlichen Regelung entziehen, bedürfen sie in Übereinstimmung mit den Erläuterungen des Konventspräsidiums einer gemeinschaftsrechtlichen Grundlage. Da das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GRC die Bildung von Arbeitgebervereinigungen und Gewerkschaften auf der europäischen Ebene erlaubt, können die unter dem Schutz des Art. 12 Abs. 1 GRC auf europäischer Ebene gebildeten Organisationen dementsprechend nach Art. 28 Var. 1 GRC Tarifverträge auf europäischer Ebene schließen. Eine auf die Grundrechtsträger abstellende Interpretation des Ebenenbegriffs des Art. 28 Art. 1 GRC harmoniert also mit Art. 12 Abs. 1 GRC. Das Ergebnis lässt sich ergänzen, wenn man zusätzlich zu den am Tarifschluss beteiligten Organisationen die Rangstufe des Tarifabschlusses und damit den sachlichen Schutzbereich des Art. 28 Var. 1 GRC einbezieht. Das Kriterium, das eine dem Ebenenbegriff des Art. 28 Var. 1 GRC entsprechende hierarchische Ordnung von Tarifverträgen erlaubt, ist der territoriale Geltungsbereich von Tarifverträgen. Demnach ist ein Tarifvertrag der europäischen Ebene zuzuordnen, wenn er einen grenzüberschreitenden räumlichen Geltungsbereich aufweist. Auch insofern ist wiederum ein europäischer Rechtsakt erforderlich, weil die Regelung eines Tarifvertrages mit grenzüberschreitendem räumlichem Geltungsbereich einer Rechtssetzung der Mitgliedstaaten nicht zugänglich ist. Im Ergebnis liegt ein Tarifvertrag auf europäischer Ebene im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC vor, wenn eine gemeinschaftliche Rechtsvorschrift den Abschluss eines Tarifvertrages mit grenzüberschreitendem räumlichen Geltungsbereich in den Willen europäischer Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen stellt. 4. Kollektive Verhandlungen auf der europäischen Ebene Da das Konventspräsidium in seinen Erläuterungen zu Art. 28 Var. 1 GRC bezüglich der für Tarifvertragsschlüsse geeigneten Ebenen auf seine Erläuterungen zu Art. 27 GRC verwiesen hat, beziehen sich die dort aufgelisteten Rechtsvorschriften auch auf das Grundrecht auf kollektive Verhandlungen. Deswegen ist danach zu fragen, inwieweit sie den Abschluss europäischer Tarifverträge im soeben genannten Sinne ermöglichen.
222
2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
a) Die vom Konventspräsidium genannten Richtlinien Weder in den vier vom Konventspräsidium in den Erläuterungen zu Art. 27 GRC genannten Richtlinien noch in der RL 2001/86/EG zur Beteiligung der Arbeitnehmer einer SE findet sich ein Hinweis auf ein derartiges kollektives Verhandlungssystem.74 Dies gilt insbesondere auch für die RL 94/45/EG über die Einrichtung Europäischer Betriebsräte. Denn in der RL 94/45/EG findet sich keine Vorschrift, aus der sich ergibt, dass ein Europäischer Betriebsrat zum Abschluss verbindlicher Vereinbarungen fähig bzw. berechtigt ist. Aber selbst wenn man dies einmal unterstellen wollte,75 könnten die von Europäischen Betriebsräten geschlossenen Vereinbarungen keine Tarifverträge nach Art. 28 Var. 1 GRC darstellen. Denn ein Europäischer Betriebsrat geht aufgrund eines Gesetzes bzw. einer Vereinbarung mit der zentralen Unternehmensleitung aus einem Wahlvorgang hervor und kommt damit nicht, wie Art. 28 Var. 1 GRC es in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GRC erfordert, durch einen freiwilligen Zusammenschluss zustande.76 Deswegen sind Europäische Betriebräte keine Arbeitnehmerorganisationen nach Art. 28 GRC, sondern Arbeitnehmervertretungen im Sinne des Art. 27 GRC.77 Sie können keines der beiden in Art. 28 GRC genannten Gemeinschaftsgrundrechte für sich in Anspruch nehmen. Der EGMR hat im Übrigen bereits entschieden, dass die Wahl zum Betriebsrat nach dem in Österreich geltenden Recht keine Ausübung der Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 Abs. 1 EMRK darstellt und dem betreffenden Betriebsrat die kollektiven Rechte aus Art. 11 Abs. 1 EMRK nicht zustehen.78 Das gleiche hat für den Europäischen Betriebsrat und die dem Konventionsrecht im Sinne des Art. 52 Abs. 3 GRC entsprechenden Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und 28 GRC zu gelten. b) Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene Neben den genannten Richtlinien hat das Konventspräsidium auf den Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene nach den Art. 138 und 139 EG-Vertrag verwiesen. Im Gegensatz zur einer Anwendung des Art. 27 GRC erfüllt der Soziale Dialog schon prima vista alle Anforderungen, die Art. 28 Var. 1 GRC an kollektive Verhandlungen auf der europäischen Ebene stellt.
74
Rebhahn, GS-Heinze, S. 649 (659). Vgl. Schiek, RdA 2001, S. 218; Däubler – dies., TVG, Einleitung, Rn. 743 f. 76 Vgl. Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 12, Rn. 10. 77 Zu Unrecht will Krebber (in: Calliess/Ruffert, Art. 28 GRCh, Rn. 5) Betriebsräte hingegen unter den Begriff der Arbeitnehmerorganisation im Sinne des Art. 28 GRC subsumieren. 78 EGMR, 14.9.1999, App. 32441/96 (Karakurt). 75
§ 7 Der Soziale Dialog und Art. 28 Var. 1 GRC
223
Der Soziale Dialog und die damit verbundenen Rechte werden im EG-Vertrag und damit, wie das Konventspräsidium für die Zugehörigkeit zur europäischen Ebene verlangt hat, im Gemeinschaftsrecht geregelt. Der Soziale Dialog findet nach Art. 138 Abs. 1 und 139 Abs. 1 EG zudem auf der Gemeinschaftsebene statt. Insofern ist zu bemerken, dass sich der Ausdruck „Ebene“, mit dem das Recht auf kollektive Verhandlungen aus Art. 28 Var. 1 GRC an Rechtsvorschriften außerhalb der Charta gekoppelt wird, wörtlich in Art. 138 Abs. 1 und 139 Abs. 1 EG wiederfindet. Das legt einen Zusammenhang zwischen dem Recht auf kollektive Verhandlungen und dem Sozialen Dialog zusätzlich nahe. Weiterhin setzt die Teilnahme am Sozialen Dialog auf europäischer Ebene voraus, dass die jeweiligen Sozialpartner nicht nur über eine Struktur auf europäischer Ebene verfügen, sondern auch, dass sie so weit wie möglich alle Mitgliedstaaten vertreten.79 Die teilnehmenden europäischen Sozialpartner sind daher grenzüberschreitend organisiert und mithin der europäischen Ebene zuzuordnen. Schließlich sind die europäischen Sozialpartner nach Art. 139 Abs. 1 EG befugt, über den Abschluss von Vereinbarungen zu disponieren. Diese Vereinbarungen können dann gemäß Art. 139 Abs. 2 EG auf europäischer oder nationaler Ebene umgesetzt werden und dadurch grenzüberschreitende Wirkung entfalten. Das spricht bereits mit erheblichem Gewicht dafür, dass es sich bei den Sozialpartnervereinbarungen nach Art. 139 Abs. 1 EG um europäische Tarifverträge handelt, die von Art. 28 Var. 1 GRC geschützt werden. War der Hinweis des Konventspräsidiums auf die Art. 138 und 139 EG hinsichtlich des Grundrechts aus Art. 27 GRC auch verfehlt, so ist er in Bezug auf Art. 28 Var. 1 GRC ohne weiteres einschlägig. Da man die Erläuterungen zur Charta bei ihrer Auslegung so weit wie möglich zu berücksichtigen hat und die Bezugnahme des Präsidiums auf die Art. 138 und 139 EG hinsichtlich Art. 27 GRC keine Rolle spielen kann, weisen sie um so mehr auf eine Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen auf den Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene hin.
§ 7 Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene und das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen Neben den Erläuterungen zur Grundrechtecharta können zudem sachliche Gesichtspunkte für die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen auf den Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene sprechen.
79
KOM (96) 448 endg.
224
2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
I. Die rechtlichen Grundlagen des Sozialen Dialogs nach Art. 138 und 139 EG Vor der Erörterung dieser Frage sei ein kurzer Blick auf die rechtliche Ausgestaltung des Sozialen Dialogs in den Art. 138 und 139 EG1 geworfen.2 1. Die Aufgaben der Kommission beim Sozialen Dialog nach Art. 138 Abs. 1 EG Gemäß Art. 138 Abs. 1 EG hat die Kommission zum einen die Aufgabe, die Anhörung der Sozialpartner auf der Gemeinschaftsebene zu fördern, und zum anderen, den Dialog zwischen den Sozialpartnern zu erleichtern. Die Verschiedenheit der beiden Aufgaben verdeutlicht die „doppelte Struktur“3 des Sozialen Dialogs. Einerseits geht es um die Anhörung der Sozialpartner durch die Organe der Gemeinschaft (so genannter vertikaler oder dreiseitiger Sozialdialog) und andererseits um das Verhältnis der Sozialpartner zueinander (so genannter horizontaler oder zweiseitiger Sozialdialog).4 Zudem unterscheidet man im Rahmen der Art. 138 f. EG zwischen dem branchenübergreifenden Sozialen Dialog, der die allgemeinen Aspekte der europäischen Sozialpolitik zum Gegenstand
1 Die Art. 138 und 139 EG gehen in ihrer heutigen Form auf die Art. 3 und 4 des Abkommens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland über die Sozialpolitik (ASP) zurück, das im Zuge der Vertragsrevision von Maastricht als Teil des Protokolls über die Sozialpolitik (ABl. Nr. C 224, 31.8.1992, S. 126 f.) abgeschlossen worden ist. Mit dem Vertrag von Amsterdam (ABl. Nr. C 340, 10.11.1997, S. 1 ff.) sind die Vorschriften dann inhaltsgleich in den Gemeinschaftsvertrag übernommen worden. Im Folgenden werden daher alle Nachweise ausschließlich auf die Art. 138 und 139 EG bezogen. 2 In einem weiteren Sinne bezeichnet der Begriff des Sozialen Dialogs sämtliche Kontakte zwischen den Sozialpartnern und den Gemeinschaftsorganen; sog. informeller Sozialer Dialog. Zudem versteht man unter dem „institutionellen Sozialdialog“ den im Gemeinschaftsvertrag etwa in den Art. 130, 144 und 147 EG geregelten Austausch zwischen den Institutionen der Gemeinschaft, den Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern. Zum institutionellen Sozialdialog zählt auch der mit dem Ratsbeschluss 2003/ 174/EG vom 6.3.2003 (ABl. Nr. L 70, 14.3.2003, S. 31) eingerichtete Dreigliedrige Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung, bei dem die europäischen Sozialpartner vertreten sind. Im Folgenden soll mit dem Begriff des Sozialen Dialogs aber ausschließlich der auf den Vorschriften der Art. 138 und 139 EG beruhende Soziale Dialog im engeren Sinne gemeint sein. Vgl. zur Terminologie: von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 138 EG, Rn. 7 ff.; Waas, ZESAR 2004, S. 443. 3 Gold – Carley, The Social Dimension, S. 105; Langenbrinck, ZTR 2001, S. 145 (149); Mégret – Zorbas, Le droit de la CE et de l’Union Européenne VII, Rn. 1; vgl. auch KOM (93) 600 endg., S. 12; KOM (2002) 341 endg., S. 8. 4 Münchener Handbuch – Birk, § 18, Rn. 85; Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 1.
§ 7 Der Soziale Dialog und Art. 28 Var. 1 GRC
225
hat, und dem sektoralen Sozialen Dialog, der sich auf die Beschäftigungsbedingungen in bestimmten Branchen bezieht. Wegen des proklamatorischen Charakters des Art. 138 Abs. 1 EG verleiht die Vorschrift der Kommission lediglich die Befugnis, zur Ausgestaltung des Sozialen Dialogs auf der Gemeinschaftsebene rechtssetzend tätig zu werden.5 Sie ermächtigt die Kommission weder zu einer über die in Art. 138 und 139 EG hinausgehenden Normgebung noch verpflichtet sie diese zur Vornahme bestimmter Maßnahmen zugunsten der Sozialpartner.6 Der Kommission steht nach Art. 138 Abs. 1 EG zudem das Recht zu, zweckdienliche Maßnahmen vorzunehmen, um die Sozialpartner organisatorisch und technisch, nicht aber finanziell zu unterstützen. Soweit die Kommission von diesem Recht Gebrauch macht, greift das ebenfalls in Art. 138 Abs. 1 EG enthaltene Neutralitätsgebot ein, das die Kommission zur Ausgewogenheit bei der Unterstützung der europäischen Sozialpartner verpflichtet.7 2. Die Anhörung der Sozialpartner nach Art. 138 Abs. 2 und 3 EG Die Art. 138 Abs. 2 und 3 EG beziehen sich auf den zwischen der Kommission, den Arbeitgeber- und den Arbeitnehmervereinigungen auf der Gemeinschaftsebene stattfindenden, so genannten dreiseitigen Sozialen Dialog und verpflichten die Kommission zur Anhörung der europäischen Sozialpartner bei Rechtssetzungsinitiativen im Bereich der Sozialpolitik. Die Anhörungsverpflichtungen bestehen jedenfalls bei Rechtssetzungsverfahren der Gemeinschaft, für die sie eine Zuständigkeit aus Art. 137 EG in Anspruch nimmt und bei denen die Kommission, einen Vorschlag nach Art. 137 Abs. 2 Sätze 2 und 3 EG zu unterbreiten beabsichtigt.8 Bei diesen Rechtssetzungsvorhaben muss die Kommission die Sozialpartner nach Art. 138 Abs. 2 EG ein erstes Mal zur Zweckmäßigkeit einer Gemeinschaftsmaßnahme und ihrer möglichen inhaltlichen Aus5 Wiedemann – Wiedemann, TVG, (6. Aufl.), § 1 Rn. 104; a. A. wohl: Preis/Oetker – Preis/Gotthardt, EAS, B 1100, Rn. 45. Zur normativen Ausgestaltung des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene innerhalb des von den Art. 138 und 139 EG gesteckten Rahmens kann nur die Gemeinschaft und mithin nur die Kommission ermächtigt sein. Nach der gegenteiligen Auffassung müsste man den Kommissionsbeschluss 98/500/EG vom 20.5.1998 (ABl. Nr. L 225, 12.8.1998, S. 27 ff.) für nichtig halten. Da aber eine Ausgestaltungsbefugnis der Kommission zu bejahen ist, liegt es näher, eine implizite Ermächtigung der Kommission aus Art. 138 Abs. 1 EG anzunehmen als hierfür Art. 308 EG heranzuziehen. 6 Abweichend: Heinemann – Hergenröder, Das kollektive Arbeitsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 49 (58). 7 Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 138 EGV, Rn. 26; Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 138 EGV, Rn. 3; Schwarze – Rebhahn, Art. 138 EGV, Rn. 3; Waas, ZESAR 2004, S. 443 (445). 8 Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 138 EGV, Rn. 29.
226
2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
richtung anhören.9 Bejaht sie nach dieser Anhörung die Zweckmäßigkeit der Gemeinschaftsmaßnahme, muss sie die Sozialpartner nach Art. 138 Abs. 3 EG ein zweites Mal zum Inhalt der konkret in Aussicht genommenen Maßnahme anhören.10 Die Sozialpartner übermitteln der Kommission anschließend gemäß Art. 138 Abs. 3 Satz 2 EG eine Stellungnahme oder eine Empfehlung. 3. Der Abschluss und die Durchführung von Sozialpartnervereinbarungen nach Art. 139 EG Art. 139 Abs. 1 EG sieht die Herstellung vertraglicher Beziehungen und den Abschluss von Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern auf Gemeinschaftsebene vor, ohne das Zustandekommen einer solchen Sozialpartnervereinbarung näher zu regeln. Lediglich aus dem Umstand, dass in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG von den Unterzeichnerparteien die Rede ist, lässt sich schließen, dass die Vereinbarungen europäischer Sozialpartner der Schriftform bedürfen.11 Zudem ergibt sich aus der Vorschrift, dass der Abschluss einer Sozialpartnervereinbarung auf einer Willenseinigung der verhandelnden Parteien beruht.12 Beim Abschluss einer Vereinbarung haben die europäischen Sozialpartner zu entscheiden, ob diese gemäß Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG nach den Verfahren und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten und der Sozialpartner auf der nationalen Ebene oder durch einen Beschluss des Rates gemäß Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG auf der Gemeinschaftsebene durchgeführt werden soll. Entscheiden sich die europäischen Sozialpartner für eine Durchführung auf der Ebene der Mitgliedstaaten, kommt eine Umsetzung durch mitgliedstaatliche Rechtssetzung oder durch den Abschluss dem einzelstaatlichen Recht unterliegender Tarifverträge in Betracht.13 Dabei entscheidet insbesondere das nationale Recht darüber, inwieweit der Inhalt einer europäischen Sozialpartnervereinbarung aufgrund von Tarifabschlüssen innerstaatlich zur Anwendung gebracht werden kann. Auf der Gemeinschaftsebene erfolgt die Durchführung der Sozialpartnervereinbarung hingegen durch einen Rechtssetzungsakt der Gemeinschaft, 9 Dem Wortlaut des Art. 138 Abs. 2 EG widersprechend nehmen Buchner (in: FSSöllner, S. 175, 179) und Waas (in: ZESAR 2004, S. 443, 445) an, dass es bei der ersten Anhörung nur auf die Frage nach dem Ob einer Gemeinschaftsmaßnahme ankomme. 10 Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 138 EGV, Rn. 6. 11 Birk, EuZW 1997, S. 453 (455 f.); Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 7; Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 5; Waas, ZESAR 2004, S. 443 (448); einschränkend: Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner; Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 106; ablehnend: Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 769. 12 Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 211; Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 7. 13 Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 159.
§ 7 Der Soziale Dialog und Art. 28 Var. 1 GRC
227
aufgrund dessen der Inhalt der Sozialpartnervereinbarung als Teil des europäischen Rechts gemeinschaftsweit verbindlich wird. Dieses Durchführungsverfahren wird mit einem gemeinsamen Antrag der Vereinbarungsparteien bei der Kommission eingeleitet. Diese prüft daraufhin unter anderem, ob die Vereinbarung rechtmäßig zustande gekommen ist und ob für die Umsetzung auf der europäischen Ebene eine Zuständigkeit der Gemeinschaft zur Regelung des Vereinbarungsinhalts nach Art. 137 EG besteht.14 Bejaht sie die beiden Voraussetzungen, leitet die Kommission die Sozialpartnervereinbarung nach freiwilliger Unterrichtung des Europäischen Parlaments15 an den Rat weiter, der dann Beschluss über die Durchführung der Vereinbarung zu fassen hat. Das dabei erforderliche Quorum entspricht gemäß Art. 139 Abs. 2 Satz 2 EG den in Art. 137 EG enthaltenen Regelungen. Deswegen kann der Rat die Durchführung der Sozialpartnervereinbarung in Übereinstimmung mit Art. 137 Abs. 2 EG nur einstimmig beschließen, wenn wenigstens eine Bestimmung der Sozialpartnervereinbarung einen der in Art. 137 Abs. 1 Buchstabe c), d), f) oder g) EG bezeichneten Bereiche betrifft. Unklar ist hingegen, welche Rechtsqualität der Ratsbeschluss nach Art. 139 EG hat, da er keiner der in Art. 249 EG vorgesehenen Handlungskategorien entspricht.16 Nach allgemeiner Auffassung kann der Rat seinen Beschluss jedenfalls in Form einer Richtlinie fassen, wohingegen umstritten ist, ob auch der Erlass einer Verordnung in Betracht kommt.17 4. Die Verknüpfung des Anhörungsverfahrens mit den Sozialpartnerverhandlungen in Art. 138 Abs. 4 EG Art. 138 Abs. 4 EG verknüpft das Anhörungsverfahren nach Art. 138 Abs. 2 und 3 EG mit den Sozialpartnerverhandlungen nach Art. 139 EG. Nach dieser Bestimmung können die europäischen Sozialpartner der Kommission bei der zweiten Anhörung nach Art. 138 Abs. 3 EG mitteilen, dass sie über die in Aussicht gestellte Regelung in Verhandlungen über eine Vereinbarung treten wollen.18 Damit ziehen sie das Rechtssetzungsvorhaben an sich und haben nach der Ankündigung der Verhandlungen wenigstens neun Monate lang die Möglichkeit, 14
Vgl. Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 779 f. KOM (93) 600 endg., S. 15, 17. 16 In der englischen Fassung des Art. 139 EG findet sich das Wort „decision“. Damit ist aber keine Entscheidung im Sinne des Art. 249 EG gemeint, weil sie nur für den jeweiligen Adressaten rechtlich verbindlich ist und damit in etwa einem Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG entspricht. 17 Vgl. Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 29 (m.w. N.); Wiedemann – Thüsing, TVG, § 1, Rn. 129. 18 Nach dem Wortlaut des Art. 138 Abs. 4 EG können die europäischen Sozialpartner nicht schon bei der erstmaligen Anhörung nach Art. 138 Abs. 2 EG den Prozess nach Art. 139 EG in Gang setzen, sondern müssen den konkreten Vorschlag der Kommission abwarten; vgl. Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 138 EGV, Rn. 36. 15
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
eine Vereinbarung abzuschließen.19 Um die Verhandlungen der europäischen Sozialpartner nicht zu behindern, darf die Kommission nach nahezu allgemeiner Auffassung in diesem Zeitraum keine weiteren förmlichen Schritte im Rechtssetzungsverfahren mehr vornehmen.20 Das ergibt sich daraus, dass die in Art. 138 Abs. 4 EG vorgesehene Befristung der Verhandlungsphase überflüssig wäre, wenn das Rechtssetzungsverfahren der Kommission ohne Rücksicht auf die Sozialpartnerverhandlungen fortgesetzt werden könnte.21 Im Übrigen wäre nicht ersichtlich, warum die Kommission nach Art. 138 Abs. 4 EG an der Entscheidung über die Fristverlängerung beteiligt werden sollte, wenn das von ihr betriebene Rechtssetzungsverfahren durch die Sozialpartnerverhandlungen nicht unterbrochen werden würde.22 II. Der Soziale Dialog zwischen Beteiligung der Sozialpartner an der gemeinschaftlichen Rechtssetzung und autonomen Tarifverhandlungen Es ist offensichtlich ausgeschlossen, das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen auf die Anhörungen nach Art. 138 Abs. 2 und 3 EG anzuwenden. Dabei handelt es sich weder um kollektive Verhandlungen noch werden 19 Art. 138 Abs. 4 EG erfordert nicht, dass die Sozialpartnervereinbarung innerhalb von neun Monaten bei der Kommission eingegangen oder gar ein Beschluss des Rates nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG erfolgt sein muss; vgl. Kliemann, Die europäische Sozialintegration nach Maastricht, S. 123; Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 138 EGV, Rn. 38. Weiss (in: FS-Gnade, S. 583, 594) hält es hingegen für denkbar, dass die Sozialpartner innerhalb von neun Monaten einen Antrag nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG stellen müssen, um die Frist des Art. 138 Abs. 4 EG zu wahren. Dagegen spricht, dass die vereinbarungsschließenden Parteien nicht dazu verpflichtet sind, einen Antrag nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG zu stellen, sondern sich für eine Umsetzung in den Einzelstaaten entscheiden können. Zudem muss eine anfänglich auf der nationalen Ebene durchgeführte Vereinbarung auch nach dem Ablauf der Neunmonatsfrist einem Ratsbeschluss nach Art. 139 Abs. 2 EG zugeführt werden können, ohne dass die beteiligten Sozialpartner ex-post die Frist aus Art. 138 Abs. 4 EG versäumen. 20 Heinze, ZfA 1997, S. 505 (514); Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 138 EGV, Rn. 34; Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 138 EGV, Rn. 12; Schwarze – Rebhahn, Art. 138 EGV, Rn. 13; Vaughan-Whitehead, EU Enlargement versus Social Europe?, S. 222; Mégret – Zorbas, Le droit de la CE et de l’Union Européenne VII, Rn. 32; anders: Höland, ZIAS 1995, S. 425 (441). Anfänglich wollte die Kommission (in: KOM (93) 600 endg., S. 22) die hemmende Wirkung der Sozialpartnerverhandlungen nur auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung anerkennen. Mittlerweile hat sie sich (in: KOM (2004) 557 endg., S. 11) der herrschenden Meinung angeschlossen und setzt ein von ihr eingeleitetes Legislativverfahren vorübergehend aus, wenn sich die europäischen Sozialpartner dazu entschließen, Verhandlungen über den Abschluss einer Vereinbarung aufzunehmen. 21 Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 111. 22 Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 140; Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 195.
§ 7 Der Soziale Dialog und Art. 28 Var. 1 GRC
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dabei Tarifverträge im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC abgeschlossen. Daher kommt lediglich die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf die in Art. 139 EG vorgesehenen Verhandlungen und Vereinbarungen der europäischen Sozialpartner in Betracht. 1. Zum Schutzbereich der Tarifvertragsfreiheit Ob bei diesen Verhandlungen tatsächlich das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen ausgeübt wird, hängt neben der Ausgestaltung der Verhandlungen vor allem davon ab, wie man den Inhalt des in Art. 28 Var. 1 GRC geschützten Gemeinschaftsgrundrechts der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen, versteht. In persönlicher Hinsicht unterscheidet sich der Schutzbereich der ersten Variante des Art. 28 GRC nicht von seiner zweiten. Das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen kann von denselben Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen ausgeübt werden, denen auch das Recht auf kollektive Maßnahmen aus Art. 28 Var. 2 GRC zusteht. In sachlicher Hinsicht ist jedoch weitestgehend unklar, unter welchen Voraussetzungen ein Verhalten als kollektives Verhandeln aufzufassen ist und unter welchen Bedingungen von einem Tarifvertrag im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC gesprochen werden kann. Denn die Art und Weise, in der kollektive Verhandlungen in den Mitgliedstaaten geführt werden, unterscheidet sich so erheblich voneinander,23 dass sich daraus keine exakten Voraussetzungen für das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen entnehmen lassen. Zu dem Umstand, dass die einzelstaatlichen Tarifsysteme und die jeweiligen nationalen Verfassungsgewährleistungen so sehr voneinander abweichen, dass sich aus ihnen kein gemeinsamer Standard für das Gemeinschaftsrecht entwickeln lässt, kommt erschwerend hinzu, dass dem jeweiligen Normgeber ein weites Ermessen bei der rechtlichen Ausgestaltung des Grundrechts der Tarifautonomie zusteht.24 Gleichwohl lassen sich unter den zahlreichen Möglichkeiten der Ausgestaltung kollektiver Verhandlungssysteme bezüglich der Frage nach der Qualität des grundrechtlichen Schutzes mit der Differenzierung zwischen korporatistischen und tarifautonomen Systemen zwei Extrempositionen voneinander unterscheiden. In korporatistischen Verhandlungssystemen handeln ausschließlich 23 Rechtsvergleichend zu den einzelstaatlichen Tarifvertragsordnungen: Rebhahn, NZA 2001, S. 763 (764 ff.). 24 Vgl. zur Ausgestaltung der kollektiven Befugnisse der Gewerkschaften aus Art. 11 Abs. 1 EMRK: EGMR, 27.10.1975, App. 4464/70, Rn. 39 (National Union of Belgian Police); 6.2.1976, App. 5614/72, Rn. 40 (Swedish Engine Drivers’ Union); 6.2.1976, App. 5589/72, Rn. 36 (Schmidt & Dahlström); (GrK) 25.4.1996, App. 15573/89, Rn. 45 (Gustafsson); 2.7.2002, App. 30668/96, Rn. 42 (Wilson aO); ebenso zur Koalitionsbetätigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG: BVerfGE 50, 290 (369); 88, 103 (115); 94, 268 (284).
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
staatlich anerkannte Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in enger Verbindung mit staatlichen Stellen Regelungen aus, die hoheitlich in Kraft gesetzt werden. Die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen werden als Sonderinteressenvertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den politischen Willensbildungsprozess einbezogen, dessen Ergebnis jedoch stets staatliche Rechtssetzung ist. Eine autonome Grundrechtssphäre der nur zur Interessenvertretung berufenen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen existiert nicht. Insbesondere können die Zusammenschlüsse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern für ihre Mitglieder nicht in eigener Verantwortung Recht setzen.25 Für die Anwendung eines Grundrechts auf kollektive Verhandlungen besteht insoweit wegen der allein möglichen Teilnahme an einem staatlich organisierten und beherrschten Verfahren kein Raum. Im Gegensatz dazu wird der Staat bei kollektiven Verhandlungen, die nach dem Prinzip der Tarifautonomie ausgestaltet sind, von der Regelung der Arbeitsbedingungen ausgeschlossen und die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen ordnen das Arbeitsleben mit zwischen ihnen abgeschlossenen Kollektivverträgen selbständig. Dabei findet das Grundrecht auf kollektive Verhandlungen seine größtmögliche Entfaltung, da den Tarifparteien das Recht eingeräumt wird, Eingriffe des Staates in den autonomen Verhandlungs- und Rechtssetzungsprozess abzuwehren. Die Rechtslage in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft variiert zwischen kollektiven Verhandlungssystemen, die den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen äußerst weitgehende Tarifautonomie gewährleisten, und solchen, die korporatistische Tendenzen aufweisen. Während sich beispielsweise der dänische Staat jeglicher Regelung des Tarifvertragsrechts enthält und die Tarifparteien mit dem Abschluss so genannter Manteltarifverträge die Durchführung, Einhaltung und Änderung der sonstigen Tarifvereinbarungen selbständig regeln,26 wird in Belgien die Mehrheit der Tarifverträge in paritätischen Organen geschlossen, denen ausschließlich vom König ernannte Mitglieder repräsentativer Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen angehören.27 Dazwischen liegen diejenigen Staaten, in denen Tarifverträge zwar autonom von den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden ausgehandelt werden, aber von staatlichen Stellen, wie etwa in den Niederlanden vom Ministerium für Soziales und Arbeit, für allgemeinverbindlich erklärt werden können.28 Für die Abgrenzung zwischen korporatistischen und tarifautonomen Verhandlungssystemen ist insbesondere die Wirkung, die ein von den Tarifparteien geschlossener Tarifvertrag entfaltet, von maßgeblicher Bedeutung. Auch insoweit 25 Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 164 f.; Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 693. 26 Henssler/Braun – Steinrücke/Würtz, Arbeitsrecht in Europa, Dänemark, Rn. 136. 27 Deinert, RdA 2004, S. 211 (213). 28 Henssler/Braun – van Gijzen, Arbeitsrecht in Europa, Niederlande, Rn. 180.
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weichen die betreffenden tarifvertragsrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten erheblich voneinander ab. Zwar ist allen Tarifverträgen ein drittgerichteter Regelungsanspruch eigen, da die tarifschließenden Vereinigungen mit ihrem Vertrag auf die zwischen ihren jeweiligen Mitgliedern bestehenden Arbeitsbedingungen Einfluss nehmen. Die Ausgestaltung dieser Drittwirkung von Tarifverträgen, ist in den Mitgliedstaaten jedoch höchst unterschiedlich geregelt. Insoweit ist zwischen Ländern, in denen Tarifverträge grundsätzlich keine verbindliche Wirkung für die Rechtsverhältnisse der Arbeitsvertragsparteien haben, und Ländern, in denen die in Tarifverträgen geregelten Rechte und Pflichten vor den nationalen Gerichten eingeklagt werden können, zu unterscheiden. Zu der ersteren Gruppe gehört beispielsweise Irland, wo kollektivvertragliche Pflichten nicht einmal von der tarifschließenden Gewerkschaft gegenüber dem Arbeitgeberverband gerichtlich durchgesetzt werden können.29 Zu der letzteren Gruppe zählt etwa Griechenland, wo die normativen Regelungen eines Tarifvertrages unmittelbare und zwingende Wirkung auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse entfalten.30 Obwohl für die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen also keine starren begrifflichen Grenzen gezogen werden können, ist festzustellen, dass es um so einschlägiger ist, je autonomer, freiheitlicher und obrigkeitsfreier ein im europäischen Gemeinschaftsrecht vorgesehenes Verhandlungssystem auf der europäischen Ebene ausgestaltet ist. Je autonomer die kollektiven Verhandlungen geführt werden und je mehr Einfluss die beteiligten Parteien durch den Abschluss von Verträgen auf die Arbeitsbedingungen nehmen können, desto eher kommt eine Anwendung des Art. 28 Var. 1 GRC in Betracht. Je näher die Verhandlungsumstände hingegen einer korporatistischen Rechtssetzung stehen und je unverbindlicher die Wirkung der jeweiligen Vertragsabschlüsse ausfällt, desto weniger Grund besteht für die Anwendung des Art. 28 Var. 1 GRC. 2. Die Einordnung des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene Dem tradierten Verständnis des Sozialen Dialogs auf der Gemeinschaftsebene entspricht es, die Verhandlungen der europäischen Sozialpartner vornehmlich als Beteiligung an der Gesetzgebung der Gemeinschaft zu charakterisieren, bei der die europäischen Sozialpartner die Kommission in ihrer Position als Initiativorgan im gemeinschaftlichen Rechtssetzungsprozess ablösen.31 Gängig ist 29
Henssler/Braun – Erken, Arbeitsrecht in Europa, Irland, Rn. 120. Henssler/Braun – Kerameos/Kerameus, Arbeitsrecht in Europa, Griechenland, Rn. 198. 31 Arnold, NZA 2002, S. 1261; Birk, FS-Rehbinder, S. 3 (10); Buchner, RdA 1993, S. 193 (200); ders., FS-Söllner, S. 175 (179); Streinz – Eichenhofer, Art. 138 EGV, Rn. 1; Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 138 EGV, Rn. 4; Langenbucher, ZEuP 2002, 30
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
auch die Beschreibung des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene als „institutionalisierte Mitwirkung der Sozialpartner an der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft“32 oder als „Modifikation des Gesetzgebungsverfahrens“33 der Europäischen Gemeinschaft. Verbreitet ist ferner die Auffassung, dass die Ergebnisse des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene „verhandelte Gesetzgebung“ darstellen.34 Gelegentlich wird darauf verwiesen, dass mit dem Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene ein „korporatisitsches Rechtssetzungsmodell“ verwirklicht worden sei35 bzw. ihn „ein Hauch Korporatismus“ durchwehe36. Besonders pointiert formulieren Löwisch/Rieble37, dass es sich beim Sozialen Dialog um ein Verfahren staatlicher Rechtssetzung mit Sozialpartnerhilfe und nicht um tarifliche Sozialpartnerrechtssetzung mit Staatshilfe handele. Freilich liegt bei einer Einordnung des Sozialen Dialogs als organisationsrechtlicher Modifikation des gemeinschaftlichen Rechtssetzungsverfahrens die Anwendung von Gemeinschaftsgrundrechten fern.38 Die Einordnung des Sozialen Dialogs als Beteiligung der europäischen Sozialpartner an der Rechtssetzung der Gemeinschaft im Bereich der Sozialpolitik ist sicherlich für das in Art. 138 Abs. 2 und 3 EG geregelte Anhörungsverfahren zutreffend. Hinsichtlich der Verhandlungen europäischer Sozialpartner nach Art. 139 EG stößt sie hingegen schon wegen des Wortlauts der Bestimmungen zum Sozialen Dialog im EG-Vertrag auf Bedenken. Denn insbesondere im Fall des Art. 138 Abs. 4 EG unterbrechen die Sozialpartnerverhandlungen das Rechtssetzungsverfahren der Gemeinschaft, das die Kommission nach einer entsprechenden Mitteilung der Sozialpartner fortzusetzen vorübergehend nicht S. 265 (266); Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 139 EGV, Rn. 1; Oetker/Preis – Preis/ Gotthardt, EAS, B 1100, Rn. 45; Röthel, NZA 2000, S. 65; Schwarze – Rebhahn, Art. 138 EGV, Rn. 1; von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 138 EG, Rn. 10; Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 741; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 48; Steinmeyer, RdA 2001, S. 10 (20); Waas, ZESAR 2004, S. 443. 32 Britz/Schmidt, EuR 1999, S. 467. 33 Schwarze – Rebhahn, Art. 139 EGV, Rn. 5; Waas, ZESAR 2004, S. 443 (445); ähnlich: Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 124 [„modifiziertes Rechtssetzungsverfahren“]; Schmähl/Rische – R. Thüsing, Europäische Sozialpolitik, S. 123 (124) [„substituierende Vorarbeit im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens“]; Blank, FS-Gnade, S. 649 (660) [„Politikberatung“]. 34 ZEW – Hornung-Draus, Der Soziale Dialog in Europa, S. 123 (134); von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 138 EG, Rn. 84; vgl. Zachert, FS-Schaub, S. 811 (814). 35 Weiss, FS-Wiese, S. 633 (639). 36 Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 13; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 46. 37 In: TVG, Grundl., Rn. 107. 38 Das wird insbesondere an der von Leidenmühler (in: WISO 2000, S. 101) aufgeworfenen Frage deutlich, ob es sich bei den Vereinbarungen der europäischen Sozialpartner um „europäische Kollektivverträge“ oder „demokratisch nicht legitimierte Rechtsnormerzeugung“ handelt.
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mehr berechtigt ist. Zudem steht am Ende der Sozialpartnerverhandlungen nicht notwendigerweise ein Rechtsakt der Gemeinschaft, sondern gegebenenfalls eine gemäß der Bestimmung des Art. 139 Abs. 2 EG durchzuführende Sozialpartnervereinbarung. Jedenfalls der EuGH scheint im Gegensatz zur herrschenden Meinung im deutschen Schrifttum das Verfahren des Sozialen Dialogs als eine Form autonomer Kollektivverhandlungen auf europäischer Ebene zu qualifizieren. In der Rechtssache „Albany“, in der es um die Vereinbarkeit der kartellierenden Wirkung nationaler Tarifverträge mit den Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft ging, hat der Gerichtshof zwanglos den Sozialen Dialog zwischen den Sozialpartnern auf Gemeinschaftsebene zur Begründung dafür angeführt, dass der Gemeinschaft kollektive Verhandlungen sozialer Gegenspieler nicht fremd sind.39 Damit hat der EuGH eine Parallele zwischen dem Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene und den Tarifverhandlungen auf der nationalen Ebene hergestellt.40 Im Übrigen hat er die europäischen Sozialpartnervereinbarungen unlängst indirekt als „Kollektivvereinbarungen zur Verbesserung der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen“ bezeichnet.41 Das Europäische Gericht erster Instanz und die Europäische Kommission bezeichnen die Sozialpartnervereinbarungen nach Art. 139 Abs. 1 EG ohnehin als „Tarifverträge“.42 Der vom EuGH vorgenommene Vergleich des Sozialen Dialogs mit nationalen Tarifverhandlungen liegt nahe, weil der EG-Vertrag zwar nicht ausdrücklich von Sozialen Dialogen auf der Ebene der Mitgliedstaaten spricht, dennoch aber Soziale Dialoge auf nationaler Ebene voraussetzt. So ist etwa in Art. 136 EG allgemein vom Ziel des Sozialen Dialogs die Rede, womit im Gegensatz zu Art. 139 Abs. 1 EG sowohl der Soziale Dialog auf der Gemeinschaftsebene als auch die jeweiligen Dialoge nationaler Sozialpartner gemeint sind.43 Dass es sich bei den nationalen Sozialdialogen um Tarifverhandlungen handelt, verdeutlicht neben der Bestimmung des Art. 137 Abs. 3 EG beispielsweise die Vorschrift des Art. 11 Abs. 1 der Gemeinschaftsrichtlinie 2000/43/EG44, wonach der soziale Dialog zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den Mitgliedstaaten zum Abschluss von Tarifverträgen führen soll.45 Deswegen legt die Sys39
EuGH, 21.9.1999, Rs. C-67/96, Rn. 58 (Albany). Deinert, RdA 2004, S. 211 (220); vgl. auch Waas, ZESAR 2004, S. 443 (444). 41 EuGH, 12.9. 2000, verb. Rs. C-180/98, C-181/98, C-182/98, C-183/98, C-184/ 98, Rn. 69 (Pavlov). 42 EuG, 17.6.1998, Rs. T-135/96, Rn. 86 (UEAPME) und KOM (98) 322 endg., S. 18. 43 Ricken, DB 200, S. 874 (874 f.). 44 Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. Nr. L 180, 19.07.2000, S. 22 ff.). 45 Kempen/Zachert – Kocher, TVG, § 1, Rn. 711. 40
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tematik des EG-Vertrages es nahe, die Vorschrift des Art. 139 EG als gemeinschaftsrechtliche Verlängerung der nationalen Tarifsysteme einzuordnen.46 Im Schrifttum betont eine Reihe von Stimmen die autonomen Gestaltungsmöglichkeiten der Sozialpartner im Rahmen des Sozialen Dialogs. Wank47 unterscheidet zwischen der Einbeziehung der europäischen Sozialpartner in den Rechtssetzungsprozess nach Art. 138 Abs. 2 und 3 EG und ihrer Möglichkeit, selbst rechtssetzend tätig zu werden. Steinmeyer48 sieht im Sozialen Dialog den Grundstein für ein System von europäischen Kollektivvereinbarungen und Fuchs/Marhold49 verstehen ihn als Grundstein für ein neues Modell der Gestaltung kollektiver Arbeitsbeziehungen und ein neues Modell arbeitsrechtlicher Rechtssetzung auf europäischer Ebene. Kort50 charakterisiert den Sozialen Dialog als möglichen Ausgangspunkt der zukünftigen Entwicklung eines europäischen Tarifvertragssystems und Coen51 ist sogar der Auffassung, dass mit den Vorschriften zum Sozialen Dialog ein europäischer Verhandlungs- und Tarifraum begründet worden sei. Im Zusammenhang mit der Grundrechtecharta hat Ryan52 darauf aufmerksam gemacht, dass sich die bisherige Einordnung des Sozialen Dialogs als Teil des gemeinschaftlichen Rechtssetzungsverfahrens als verfehlt herausstellen könnte, und unter dem Eindruck des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen aus Art. 28 Var. 1 GRC als Tarifvertragssystem auf der europäischen Ebene anzuerkennen sein könnte. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen auf die Sozialpartnerverhandlungen im Rahmen des Sozialen Dialogs nichts an den hierfür im Gemeinschaftsvertrag vorgesehenen rechtlichen Vorgaben ändert. Da diese Verhandlungen gemeinschaftsvertraglich geregelt werden, gelten die dort vorgesehen Beschränkungen für die Rechte und Pflichten der beteiligten Akteure wegen der Bestimmung des Art. 52 Abs. 2 GRC auch dann, wenn sie unter dem Schutz des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen stehen. Für die Reichweite des auf der europäischen Ebene ohnehin gemeinschaftsrechtsakzessorischen Grundrechts aus Art. 28 Var. 1 GRC ergeben sich die Bedingungen und Grenzen gemäß Art. 52 Abs. 2 GRC vor allem aus den Art. 138 und 139 EG, weil das 46
Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 40. In: RdA 1995, S. 10 (19). 48 In: Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 7, Rn. 23. 49 In: Europäisches Arbeitsrecht, S. 203; vgl. auch Blanpain, European Labour Law, Rn. 1026 ff.; Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 5; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 4. 50 In: JZ 2004, S. 267 (274). 51 In: Lenz/Borchardt, Art. 138 EGV, Rn. 5. 52 In: Hervey/Kenner, Economic and Social Rights under the EU Charter of Fundamental Rights, S. 67 (88 f.). 47
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Recht der europäischen Sozialpartner auf kollektive Verhandlungen im Gemeinschaftsvertrag begründet wird.53 Keinesfalls können über die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts aus Art. 28 Var. 1 GRC auf den Sozialen Dialog die Befugnisse der daran Beteiligten zu Lasten der Mitgliedstaaten, der nationalen Sozialpartner oder der Gemeinschaftsorgane verschoben werden. Vielmehr ist zunächst nach der in Art. 139 EG enthaltenen Regelung zu entscheiden, ob es sich dabei um Verhandlungen im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC handelt. Die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts führt in einem weiteren Schritt gegebenenfalls dazu, dass die bereits nach dem geltenden Gemeinschaftsrecht bestehenden Rechtspositionen der Sozialpartner zusätzlichen Grundrechtsschutz erfahren. Es kann folglich nicht darum gehen, unter dem Einfluss des Art. 28 Var. 1 GRC aus Art. 139 EG ein europäisches Tarifvertragssystem zu konstruieren. Vielmehr steht allein die grundrechtsdogmatisch zutreffende Einordnung des Sozialen Dialogs auf der Gemeinschaftsebene zur Diskussion. Ob das Grundrecht auf kollektive Verhandlungen im Ergebnis auf die Verhandlungen der europäischen Sozialpartner im Rahmen des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene anzuwenden ist, soll daher im Folgenden anhand von vier Kriterien untersucht werden, bei deren Bejahung von einem autonomen Tarifvertragssystem auf der europäischen Ebene und einer Anwendung des Art. 28 Var. 1 GRC auszugehen ist: – Erstens muss es sich bei den europäischen Sozialpartnern um Arbeitgeberund Arbeitnehmerorganisationen im Sinne des Art. 28 GRC handeln. – Zweitens müssen die Verhandlungen, die zu einer Vereinbarung nach Art. 139 Abs. 1 EG führen, der autonomen Gestaltung der europäischen Sozialpartner unterliegen und frei vom Einfluss europäischer Gemeinschaftsorgane erfolgen, wenn sie als Ausprägung einer gemeinschaftsgrundrechtlichen Tarifautonomie angesehen werden sollen. – Drittens ist nach dem Verhältnis zwischen den Sozialpartnervereinbarungen und der gemeinschaftlichen Rechtssetzung zu fragen, weil nationale Tarifverhandlungen typischerweise den Tarifparteien eine Normsetzungsprärogative einräumen.
53 Vgl. zu Art. 52 Abs. 2 GRC: Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 268 ff. Im Gegensatz dazu will Jarass (in: EU-Grundrechte, § 2, Rn. 7) über Art. 52 Abs. 2 GRC nur die sich aus den europäischen Verträgen ergebenden Begrenzungsmöglichkeiten übertragen. Eisner (in: Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, S. 146 ff.) will im Widerspruch zum Wortlaut und zur Regelungsintention des Art. 52 Abs. 2 GRC auf die im europäischen Primärrecht begründeten Rechte die Schranken-Schranken des Art. 52 Abs. 1 GRC anwenden, weil allein auf diese Weise ein einheitlicher Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene mit einheitlichen Maßstäben gewährleistet werden könne.
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– Viertens ist zu untersuchen, ob die europäischen Sozialpartnervereinbarungen europäische Tarifverträge im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC darstellen und insbesondere, ob sie die für Tarifverträge charakteristische Drittwirkung entfalten. III. Die Verhandlungen europäischer Sozialpartner nach Art. 139 EG und deren Verhältnis zur gemeinschaftlichen Rechtssetzung Zunächst gilt es, die Befugnis zur Teilnahme an den Sozialpartnerverhandlungen, ihren Ablauf und ihr Verhältnis zur Rechtssetzung der Gemeinschaft zu klären. 1. Die europäischen Sozialpartner als Träger des Grundrechts aus Art. 28 Var. 1 GRC Die am Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene beteiligten europäischen Sozialpartner erfüllen zunächst alle Voraussetzungen, die Art. 28 Var. 1 GRC an eine Arbeitgeber- bzw. Arbeitnehmerorganisation stellt.54 Für den Bereich der Anhörungsrechte aus Art. 138 Abs. 2 und 3 EG hat die Kommission den Begriff des Sozialpartners dahingehend konkretisiert, dass darunter jede Organisation zu verstehen ist, die branchenübergreifend, sektor- oder berufsspezifisch ist und über eine Organisation auf europäischer Ebene verfügt, aus Verbänden besteht, die ihrerseits integraler und anerkannter Bestandteil des Systems der Arbeitsbeziehungen sind, Vereinbarungen aushandeln kann und soweit wie möglich alle Mitgliedstaaten vertritt sowie über die geeigneten Strukturen verfügt, um effektiv am Anhörungsprozess teilzunehmen.55 Der von der Kommission entwickelte Sozialpartnerbegriff ist grundsätzlich auf die Verhandlungen nach Art. 139 EG zu übertragen.56 Lediglich an die Repräsentativität der Beteiligten sind insofern höhere Anforderungen zu stellen.57
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Zweifelnd hingegen: Birk, EuZW 1997, S. 453 (455). KOM (93) 600 endg., S. 19; KOM (98) 322 endg., S. 5. Jedenfalls für den sektoralen Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene hat die Kommission die Anforderungen abgesenkt. Selbstverständlich können die sektoralen Sozialpartner nicht branchenübergreifend organisiert sein und im Gegensatz zu den branchenübergreifenden Sozialpartnern genügt es, wenn sie in mehreren Mitgliedstaaten repräsentativ sind; vgl. Art. 1 des Beschlusses der Kommission 98/500/EG vom 20.5.1998 über die Einsetzung von Ausschüssen für den sektoralen Dialog zur Förderung des Dialogs zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene. Inwiefern die Vertretung mehrerer Mitgliedstaaten zur Teilnahme am branchenübergreifenden Sozialen Dialog berechtigt, ist bislang ungeklärt. 56 Kempen/Zachert – Kocher, TVG, § 1, Rn. 720; Konzen, EuZW 1995, S. 39 (46); Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 65. 55
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Zutreffend geht die Kommission im Übrigen davon aus, dass die Fähigkeit zur Teilnahme am Sozialen Dialog auf dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit beruht.58 Dementsprechend gehen die europäischen Sozialpartner aus einem Zusammenschluss mehrerer nationaler Arbeitgeber- oder Arbeitnehmervereinigungen hervor, durch den eine für die gesamte Gemeinschaft repräsentative Organisation auf europäischer Ebene entsteht.59 Bei diesen Vereinigungen handelt es sich demnach begriffsnotwendig um freiwillige und repräsentative Zusammenschlüsse von Arbeitgeber- bzw. Arbeitnehmervereinigungen im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GRC, die zur Verfolgung wirtschaftlicher und sozialer Interessen im Rechtsverkehr als verantwortliche Einheiten auftreten, und mithin um Arbeitgeber- bzw. Arbeitnehmerorganisationen im Sinne des Art. 28 GRC.60 Dass es sich bei den europäischen Sozialpartnern in aller Regel um Verbände von Verbänden handelt, ist in Bezug auf Art. 28 GRC belanglos, weil Art. 12 Abs. 1 GRC gerade auch deren Zusammenschluss auf der europäischen Ebene schützt. Auch der Zusammenschluss mehrerer nationaler Vereinigungen auf der europäischen Ebene steht unter dem Schutz der gemeinschaftsrechtlichen Vereinigungsfreiheit. Der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GRC umfasst nicht etwa nur grenzüberschreitende Zusammenschlüsse von Arbeitnehmern, sondern auch transnationale Vereinigungen von Gewerkschaften. Es widerspräche dem Schutzzweck der gemeinschaftsrechtlichen Vereinigungsfreiheit, wenn man an die interne Organisationsstruktur einer Arbeitgeber- oder Arbeitnehmervereinigung auf der europäischen Ebene eine dem entgegenstehende Anforderung stellte, die sich Art. 12 Abs. 1 GRC nicht entnehmen lässt. Art. 12 Abs. 1 GRC überlässt den jeweiligen Grundrechtsträgern die Entscheidung darüber, in welcher Weise sie sich auf der europäischen Ebene zusammenschließen wollen.
57 Vgl. KOM (2002) 341 endg., S. 9; Schwarze – Rebhahn, Art. 138 EGV, Rn. 12; von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 138 EG, Rn. 146; zweifelnd: Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 138 EGV, Rn. 7; ablehnend: Buchner, RdA 1993, S. 193 (203). 58 KOM (2004) 557 endg., S. 10; übereinstimmend: Heinze, ZfA 1997, S. 505 (510). 59 Um die Repräsentativität der europäischen Organisationen beurteilen zu können, hat die Kommission das Institut für Arbeitswissenschaften der katholischen Universität Löwen (UCL-IST; Université catholique de Louvain, Institut des Sciences du Travail) damit beauftragt, die Repräsentativität der bestehenden europäischen Organisationen auf branchenübergreifender und auf sektoraler Ebene zu untersuchen; vgl. Kempen/ Zachert – Kocher, TVG, § 1, Rn. 721. Die Studien des UCL-IST werden auf der Internetseite des Instituts (www.trav.ucl.ac.be) veröffentlicht. Auf der Grundlage der Berichte des Instituts erstellt und publiziert die Kommission regelmäßig Verzeichnisse derjenigen europäischen Organisationen, die sie als europäische Sozialpartner anerkennt und zum Konsultationsverfahren gemäß Art. 138 EG zulässt. Die aktuelle Übersicht ist der Kommissionsmitteilung KOM (2004) 557 endg. als Anlage 5 beigefügt. 60 Zum Begriff der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberorganisationen im Sinne des Art. 28 GRC siehe: § 3 II. 2. und 3.
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2. Der Ablauf von Sozialpartnerverhandlungen nach Art. 139 Abs. 1 EG Das Gemeinschaftsgrundrecht des Art. 28 Var. 1 GRC setzt darüber hinaus autonom geführte Kollektivverhandlungen voraus. Die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts wäre also ausgeschlossen, wenn die europäischen Sozialpartner bei den Verhandlungen nach Art. 139 Abs. 1 EG von den Gemeinschaftsorganen abhängen würden. Nur unter der Voraussetzung, dass die betreffenden Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen sich beim Sozialen Dialog als selbständige Verhandlungsparteien gegenübertreten, die frei über den Abschluss von Vereinbarungen entscheiden können, kommt eine Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen in Betracht. a) Die Einleitung von Sozialpartnerverhandlungen Die europäischen Sozialpartner können jederzeit und ohne Mitwirkung der Gemeinschaftsorgane in Verhandlungen nach Art. 139 Abs. 1 EG treten und Vereinbarungen abschließen.61 Der gegenteiligen Auffassung, nach der eine Sozialpartnervereinbarung nur im Anschluss an eine Anhörung der Sozialpartner und eine Übernahme des Verfahrens nach Art. 138 Abs. 4 EG erfolgen könne,62 ist entgegenzuhalten, dass der Wortlaut des Art. 139 EG eine derartige Einschränkung nicht erkennen lässt. Aus Art. 139 Abs. 1 EG ergibt sich vielmehr, dass sich der Abschluss einer Vereinbarung aus den vertraglichen Beziehungen der europäischen Sozialpartner ergeben kann und nicht aus einer Initiative der Kommission hervorgehen muss.63 Zudem stand den europäischen Sozialpartnern schon nach der älteren Vorschrift des Art. 118b EWG-V das Recht zu, unabhängig von der Kommission vertragliche Beziehungen aufzunehmen. Durch die Einführung des im Vergleich zu Art. 118b EWG-V weitergehenden Art. 139 EG sollte ihre Rechtsstellung nicht geschmälert werden.64 Ergreift die Kommission die Initiative und beabsichtigt, einen Vorschlag im Bereich der Sozialpolitik auszuarbeiten, muss sie die Sozialpartner nach Art. 138 Abs. 2 und 3 EG anhören. Leiten die europäischen Sozialpartner daraufhin nach Art. 138 Abs. 4 EG Verhandlungen über den Abschluss einer Ver-
61 KOM (98) 322 endg., S. 18; Hailbronner/Wilms – Boecken, Art. 139 EGV, Rn. 1; Kliemann, Die europäische Sozialintegration nach Maastricht, S. 126; Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 1; Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 139 EGV, Rn. 1; Poschke, ZTR 2005, S. 390 (393); Schwarze – Rebhahn, Art. 139 EGV, Rn. 1. 62 Birk, EuZW 1997, S. 453 (455); Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 101 ff., 107; Schnorr, DRdA 1994, S. 193 (197). 63 Vgl. Streinz – Eichenhofer, Art. 139, EGV, Rn. 8; Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 753 f. (m.w. N.). 64 Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 195 f.
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einbarung ein, erfolgt dies ebenfalls aufgrund eines autonomen Willensentschlusses der angehörten Sozialpartner. b) Die Durchführung der Sozialpartnerverhandlungen Die Art und Weise, in der die Verhandlungen nach Art. 139 Abs. 1 EG zu führen sind, hat im Schrifttum bislang wenig Beachtung gefunden. In aller Regel wird zu Recht darauf hingewiesen, dass der EG-Vertrag kaum Vorschriften über den Ablauf der Verhandlungen und das Zustandekommen einer Vereinbarung enthalte.65 Das ist indes keine systemwidrige Lücke im EG-Vertrag. Das Schweigen des EG-Vertrages drückt vielmehr aus, dass die Gemeinschaftsorgane nicht berechtigt sind, auf die Verhandlungen der europäischen Sozialpartner Einfluss zu nehmen. Ähnlich wie das dänische Tarifrecht überlässt das Gemeinschaftsrecht die Ausgestaltung der Verhandlungsphase völlig den an ihr beteiligten Parteien. Darin manifestiert sich die Unabhängigkeit der europäischen Sozialpartner von den Gemeinschaftsorganen. Im Falle einer Mitteilung gemäß Art. 138 Abs. 4 EG sind die Gemeinschaftsorgane dazu verpflichtet, den Erfolg der Sozialpartnerverhandlungen abzuwarten, und können gegebenenfalls erst wieder tätig werden, wenn die Sozialpartner nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG einen Antrag auf Durchführung einer von ihnen abgeschlossenen Vereinbarung bei der Kommission stellen oder nach dem Ablauf von neun Monaten keine Vereinbarung zustande gebracht haben. Unerheblich ist hingegen, dass die Kommission bei den Sozialpartnerverhandlungen als Moderatorin auftritt.66 Das Gemeinschaftsorgan ist nicht befugt, in den autonomen Verhandlungsprozess der europäischen Sozialpartner einzugreifen und hat die sich aus Art. 138 Abs. 1 EG ergebende Neutralitätspflicht einzuhalten. Die Kommission darf auch nach ihrer eigenen Auffassung grundsätzlich nicht in die Verhandlungen eingreifen und auf gar keinen Fall zugunsten einer Seite intervenieren.67 Die Verhandlungspartner sollen selbständig und von der Kommission unbehelligt zu einer eigenen Regelung kommen. c) Der Gegenstand der Sozialpartnerverhandlungen Vereinzelt ist vorgebracht worden, dass es sich beim Sozialen Dialog nach Art. 139 EG nicht um ein autonomes Kollektivverhandlungsmodell handeln könne, weil die Sozialpartner den Inhalt ihrer Vereinbarungen nicht frei bestimmen könnten. Sie seien insbesondere wegen der Verweisung des Art. 139 Abs. 2 65 66 67
Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 5. Vgl. Poschke, ZTR 2005, S. 390 (391). KOM (98) 322 endg., S. 14.
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
EG auf die in Art. 137 EG genannten Bereiche thematisch begrenzt, wenn sie über den Abschluss einer auf der europäischen Ebene durchzuführenden Vereinbarung verhandeln würden.68 Gleichwohl finden sich inhaltliche Begrenzungen der Befugnis zum Abschluss von Tarifverträgen auch auf der nationalen Ebene. Beispielsweise sind die Tarifparteien in Deutschland nach Art. 9 Abs. 3 GG auf die Regelung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen beschränkt und können aufgrund der einfachgesetzlichen Regelung in § 1 TVG ausschließlich den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen tariflich regeln. Sie können ebenfalls nicht jeden beliebigen Gegenstand zum Inhalt eines normativ wirkenden Tarifvertrages machen. Betrachtet man zudem die gemäß Art. 139 EG möglichen Gegenstände einer Sozialpartnervereinbarung, lässt sich feststellen, dass sich die inhaltliche Reichweite der europäischen Sozialpartnervereinbarungen immerhin auf alle der Gemeinschaft nach Art. 137 EG zustehenden Kompetenzen erstreckt. Der dort aufgeführte Zuständigkeitskatalog reicht von der Regelung der Arbeitsbedingungen über den sozialen Schutz der Arbeitnehmer bis hin zur Mitbestimmung.69 Wenn man bedenkt, dass auf dieser Grundlage beispielsweise die Gemeinschaftsrichtlinien zum Europäischen Betriebsrat, zu Massenentlassungen, zum Betriebsübergang und der Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit erlassen worden sind, stellt man fest, dass die inhaltliche Reichweite der Vereinbarungen nach Art. 139 Abs. 1 EG zentrale Bereiche der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen in Europa umfasst. Schließlich gilt es zu bedenken, dass es sich bei der Gemeinschaft um einen begrenzt einzelermächtigten Staatenverbund handelt, der die Reichweite seiner eigenen Kompetenzen nicht selbst bestimmen kann. Deswegen kann man für eine Anwendung des Art. 28 Var. 1 GRC schlechterdings nicht verlangen, dass die Gestaltungsmöglichkeiten der europäischen Sozialpartner über die auf Gemeinschaftsebene bestehenden Kompetenzen hinausgehen. Innerhalb der den europäischen Sozialpartnern vom Gemeinschaftsrecht gezogenen Grenzen entscheiden sie selbständig über den Inhalt ihrer Verhandlungen. Das gilt zweifelsfrei für den Fall, dass sie die Verhandlungen nach Art. 139 Abs. 1 EG ohne eine vorherige Anhörung seitens der Kommission einleiten. Für den Fall des Art. 138 Abs. 4 EG sollen die europäischen Sozialpartner nach der Auffassung der Kommission allerdings auf das Thema des Kommissionsvorschlags begrenzt sein.70 Da die Sozialpartner aber auch außerhalb eines nach Art. 138 Abs. 4 EG initiierten Verfahrens jederzeit das Recht haben, Verhandlungen über einen bestimmten Gegenstand aufzunehmen, kann dem nicht zuge68
Münchener Handbuch – Birk, § 19, Rn. 437. Vgl. Däubler, FS-Hanau, S. 489 (499). 70 KOM (93) 600 endg., S. 22; zustimmend: Hailbronner/Wilms – Boecken, Art. 138 EGV, Rn. 42; Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 55; Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 114. 69
§ 7 Der Soziale Dialog und Art. 28 Var. 1 GRC
241
stimmt werden.71 Sofern die Kommission die Befürchtung hegen sollte, dass die Verhandlungen bei einer Ausweitung ihres Gegenstandes verzögert würden, ist dem zu entgegnen, dass die in Art. 138 Abs. 4 EG angeordnete neunmonatige Frist unabhängig von einer Ausweitung des jeweiligen Verhandlungsgegenstandes abläuft. Daher sind die europäischen Sozialpartner auch bei Verhandlungen, die über eine Mitteilung nach Art. 138 Abs. 4 EG eingeleitet worden sind, nicht an die Vorgaben der Kommission gebunden, sondern können über den Gegenstand der Verhandlungen disponieren. d) Der Abschluss einer Sozialpartnervereinbarung Bezüglich des Abschlusses einer Sozialpartnervereinbarung ist Art. 139 Abs. 1 EG zu entnehmen, dass eine Vereinbarung nur durch eine Willenseinigung der beteiligten Parteien zustande kommt.72 Dass die Kommission darauf keinen Einfluss nehmen darf, ergibt sich aus Art. 139 Abs. 1 EG. Die Vorschrift stellt den Abschluss von Vereinbarungen in den freien Willen der Sozialpartner, indem sie bestimmt, dass der Dialog zwischen den Sozialpartnern auf Gemeinschaftsebene nur zum Abschluss einer Vereinbarung führt, falls sie es wünschen. e) Die Teilnahme an den Verhandlungen der Sozialpartner nach Art. 139 Abs. 1 EG Die europäischen Sozialpartner entscheiden ferner selbständig über die Frage, wer an den Verhandlungen über den Abschluss einer Vereinbarung gemäß Art. 139 Abs. 1 EG teilnimmt. Das hat das Europäische Gericht erster Instanz im Jahre 1998 auf der Grundlage folgenden Sachverhalts entschieden:73 Nachdem die Kommission die europäischen Sozialpartner gemäß Art. 138 Abs. 2 und 3 EG bezüglich einer möglichen Gemeinschaftsmaßnahme im Bereich der Abstimmung des Arbeits- und Familienlebens angehört hatte, teilten die Union der europäischen Industrie- und Arbeitgeberverbände (UNICE74), der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP75) und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB76) der Kommission nach Art. 138 Abs. 4 EG mit, dass sie Verhandlungen über eine Regelung des Elternurlaubs aufnehmen woll71 Zutreffend: Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 196; Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 138 EGV, Rn. 11. 72 Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 7. 73 EuG, 17.6.1998, Rs. T-135/96 (UEAPME). 74 Union des Confédérations de l’Industrie et des Employeurs d’Europe. 75 Centre Européen de l’Entreprises Public. 76 Häufig auch mit „ETUC“ (European Trade Union Confederation) oder „CES“ (Confédération européenne des syndicats) abgekürzt.
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
ten. Die an beiden Anhörungen beteiligte spätere Klägerin, die Europäische Union des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe (UEAPME77), wurde von den übrigen Sozialpartnern hingegen nicht an den Verhandlungen beteiligt. Deswegen machte die UEAPME vor dem EuG die Nichtigkeit der Richtlinie 96/34/EG78 geltend, mit der die zwischen der UNICE, dem CEEP und dem EGB ausgehandelte Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG beschlossen und durchgeführt worden ist. Sie, die UEAPME, sei als anerkannte repräsentative Organisation von den Sozialpartnerverhandlungen willkürlich ausgeschlossen worden. Das EuG ist der Ansicht der UEAPME nicht gefolgt und hat entschieden, dass die Vorschriften zum Sozialen Dialog keinem Sozialpartner, gleich welche Interessen er zu vertreten behauptet, ein Recht auf Teilnahme an bestimmten Sozialpartnerverhandlungen verleihe. Die Kommission sei nicht verpflichtet, die Teilnahme einzelner Sozialpartner an diesen Verhandlungen sicherzustellen. Die Herrschaft über die Verhandlungsphase liege vielmehr ausschließlich bei den betreffenden Sozialpartnern und nicht bei der Kommission.79 Die Kommission hat aus der Entscheidung des EuG die Konsequenz gezogen, dass sie keine Entscheidung darüber treffen dürfe, welche Organisationen Vereinbarungen auf europäischer Ebene abschließen können. Es sei allein Sache der jeweiligen Sozialpartner, in gegenseitiger Anerkennung darüber zu entscheiden, mit wem sie in Verhandlungen eintreten wollen.80 Folglich entscheiden die europäischen Sozialpartner bei den Verhandlungen im Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene frei über die Einleitung, den Verhandlungsgegenstand, den Abschluss einer Vereinbarung und die Beteiligung an den Verhandlungen. Sie gestalten die Verhandlungen mithin vollständig autonom.81 Die Kommission erkennt an, dass die Eröffnung von Verhandlungen ausschließlich bei den Sozialpartnern liegt und der unabhängige Verhandlungsprozess der Sozialpartner82 auf dem Grundsatz ihrer Autonomie beruht.83 Ihnen sei die vertraglich anerkannte Möglichkeit verliehen worden, einen eigenständigen Dialog zu führen und unabhängig Vereinbarungen auszuhandeln.84 Der Ab77
Union européenne de l’artisanat et des petites et moyennes entreprises. Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3.6.1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub (ABl. Nr. L 145, 19.6. 1996, S. 4 ff.). 79 EuG, 17.6.1998, Rs. T-135/96, Rn. 79 (UEAPME). 80 KOM (98) 322 endg., S. 14; vgl. von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 138 EG, Rn. 143, 147. 81 Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 203; Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 769; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 12. 82 KOM (93) 600 endg., S. 22. 83 KOM (98) 322 endg., S. 16; vgl. Hailbronner/Wilms – Boecken, Art. 139 EGV, Rn. 6. 78
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lauf der Sozialpartnerverhandlungen entspricht daher allen Anforderungen, die das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen insoweit stellt. 3. Das Verhältnis zwischen europäischen Sozialpartnervereinbarungen und gemeinschaftlicher Rechtssetzung Bei einem Vergleich der Tarifordnungen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft lässt sich kein allgemeiner Rechtssatz feststellen, nach dem der Abschluss eines Tarifvertrages den Erlass eines staatlichen Gesetzes ausschließt.85 Beispielsweise lässt das Bundesverfassungsgericht in Deutschland staatliche Gesetze über tariflich geregelte Arbeitsbedingungen zu, wenn es sich um einen verhältnismäßigen Eingriff in die Koalitionsfreiheit zum Schutz von Grundrechten Dritter86 oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtsgüter87 handelt. Art. 9 Abs. 3 GG verleiht den Koalitionen mithin kein Normsetzungsmonopol. Gleichwohl wurde der in einigen Mitgliedstaaten geltende Vorrang nationaler Tarifverträge gegenüber staatlicher Gesetzgebung zunächst in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt88 und findet sich mittlerweile in der Regelung des Art. 137 Abs. 3 EG.89 Danach ist es den Mitgliedstaaten erlaubt, die Umsetzung gemeinschaftlicher Richtlinien den nationalen Tarifvertragsparteien zu überlassen, weil ansonsten einige Mitgliedstaaten wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts mitunter gezwungen wären, in die Sphäre der nationalen Koalitionen einzudringen und gegebenenfalls entgegenstehende Vorschriften des einzelstaatlichen Verfassungsrechts unangewendet zu lassen. Obwohl sich aus Art. 137 Abs. 3 EG nicht ergibt, dass Art. 28 Var. 1 GRC nur solche Tarifverträge auf der europäischen Ebene schützt, die eine Rechtssetzung der Gemeinschaft verhindern, kann man der Bestimmung die Wertung entnehmen, dass europäische Sozialpartnervereinbarungen jedenfalls dann als Ausprägung der gemeinschaftsrechtlichen Tarifautonomie anzusehen sind, wenn sie Vorrang vor dem Erlass eines Rechtssetzungsakts der Gemeinschaft haben.90 84
KOM (2002) 341 endg., S. 8. Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 433 ff.; vgl. auch Birk, FS-Rehbinder, S. 1 (4). 86 BVerfGE 94, 268 (285). 87 BVerfGE 100, 271 (284); 103, 293 (306). 88 EuGH, 30.1.1985, Rs. 143/83, Slg. 1985, 427, Rn. 8 (Kommission/Dänemark); 10.6.1986, Rs. 235/84, Slg. 1986, 2291, Rn. 10 (Kommission/Italien). 89 Eine ähnliche Bestimmung findet sich in Art. 33 Abs. 1 ESC. Danach können die Mitgliedstaaten ihre Verpflichtungen aus bestimmten, in Art. 33 Abs. 1 ESC aufgezählten Artikeln der Europäischen Sozialcharta dadurch erfüllen, dass diese Bestimmungen aufgrund von Tarifverträgen auf die überwiegende Mehrheit der betreffenden Arbeitnehmer zur Anwendung gebracht werden; vgl. Birk, FS-Rehbinder, S. 1 (4 ff.). 90 Vgl. Wisskirchen, FS-Arbeitsgerichtsverband, S. 653 (658 f.). 85
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
a) Der Grundsatz der „doppelten Subsidiarität“ Entgegen der Annahme, die europäischen Sozialpartner würden beim Sozialen Dialog auf der Gemeinschaftsebene lediglich an der Rechtssetzung der Gemeinschaft beteiligt, ist festzustellen, dass ihnen nach Art. 138 Abs. 4 EG das Recht zusteht, ein von der Kommission betriebenes Rechtssetzungsverfahren zu unterbrechen. Die Sozialpartner beteiligen sich also nicht an dem Legislativverfahren der Gemeinschaft, sondern zwingen die Gemeinschaftsorgane dazu, vorübergehend ihre Rechtssetzungsaktivitäten zugunsten der autonomen Verhandlungen der Sozialpartner auszusetzen. Das gemeinschaftliche Rechtssetzungsverfahren ist daher ein von den Sozialpartnerverhandlungen wesensverschiedenes aliud.91 Darüber hinaus ergibt sich unmittelbar aus Art. 138 Abs. 4 EG, dass die in Art. 139 EG vorgesehene Durchführung einer zwischen den Sozialpartnern abgeschlossenen Vereinbarung Vorrang vor einem Rechtssetzungsvorschlag der Kommission hat. Die Kommission bezeichnet diesen Umstand zutreffend mit dem Begriff der doppelten Subsidiarität.92 Zusätzlich zu der sich aus Art. 5 EG für die Gemeinschaft ergebenden Subsidiaritätsverpflichtung gegenüber den Mitgliedstaaten muss die Gemeinschaft im Bereich der Sozialpolitik die Subsidiarität gemeinschaftlicher Rechtssetzung gegenüber den Verhandlungen bzw. den Verhandlungsergebnissen der europäischen Sozialpartner beachten. Der Abschluss einer Sozialpartnervereinbarung führt mithin dazu, dass ein gemäß Art. 138 Abs. 3 EG zur Anhörung gebrachter Vorschlag der Kommission endgültig hinfällig wird. Die Kommission wird ihren alten Vorschlag nach eigenem Bekunden selbst dann nicht wieder aufgreifen, wenn eine nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG beantragte Durchführung der Sozialpartnervereinbarung bei der Abstimmung im Rat scheitern sollte.93 Den europäischen Sozialpartnern steht daher nach Art. 138 Abs. 4 EG auf der Gemeinschaftsebene eine Normausgestaltungsprärogative zu.94
91
Vgl. Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 201 f. KOM (93) 600 endg., S. 7 f.; Birk, FS-Rehbinder, S. 1 (10); Blanpain/Schmidt/ Schweibert, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 499; Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 244; Oetker/Preis – Goos, EAS, B 8110, Rn. 15; Kempen/Zachert – Kocher, TVG, § 1, Rn. 712; Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 138 EGV, Rn. 2; Schaub, FS-Dieterich, S. 519 (537); ähnlich: KOM (2002) 341 endg., S. 9 [„Grundsatz der sozialen Subsidiarität“]; zweifelnd: Buchner, FS-Söllner, S. 175 (185); kritisch hingegen: Hailbronner/Wilms – Boecken, Art. 138 EGV, Rn. 46 ff., 49. Clever (in: Schmähl/Rische, Europäische Sozialpolitik, 111, 112 f.) spricht anschaulich von einer „Vorfahrtsregel“ zugunsten der europäischen Sozialpartner. 93 KOM (93) 600 endg., S. 26. 94 Münchener Handbuch – Birk, § 18, Rn. 88. 92
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b) Die rechtliche Absicherung des Übernahmerechts aus Art. 138 Abs. 4 EG Dieses Vorrecht der europäischen Sozialpartner wird mit den Anhörungsrechten95 nach Art. 138 Abs. 2 und 3 EG zusätzlich verstärkt, da eine unterbliebene oder unzureichende Anhörung der europäischen Sozialpartner grundsätzlich zur Nichtigkeit des betreffenden Gemeinschaftsrechtsaktes führt.96 Das gilt jedenfalls dann, wenn das Rechtssetzungsverfahren im Anschluss an die fehlerhafte Anhörung ausschließlich von den Gemeinschaftsorganen fortgesetzt wird. Nehmen hingegen die europäischen Sozialpartner nach der zweiten Anhörung Verhandlungen auf und schließen eine Vereinbarung ab, richtet sich die Wirksamkeit eines gemeinschaftlichen Durchführungsaktes allein danach, ob die Vereinbarung ordnungsgemäß und unter ausreichender Beteiligung europäischer Sozialpartner abgeschlossen worden ist. Eine hinreichende Beteiligung am Abschluss der Vereinbarung heilt mithin Beteiligungsmängel beim Anhörungsverfahren, weil die betreffende Vereinbarung auch dann ordnungsgemäß zustande gekommen wäre, wenn sie gänzlich unabhängig von den Konsultationen nach Art. 138 EG abgeschlossen worden wäre.97 Die rechtmäßige Sozialpartnervereinbarung genießt damit gegenüber dem fehlerhaften gemeinschaftsrechtlichen Rechtssetzungsverfahren den Vorrang.
95 Nach der zutreffenden herrschenden Meinung und in Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung der Kommission haben die europäischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen ein subjektives Recht darauf, an den Anhörungen beteiligt zu werden, das sie gegebenenfalls gemäß Art. 230 Abs. 4 EG mit einer Klage vor dem EuGH geltend machen können: KOM (93) 600 endg., S. 19; KOM (98) 322, S. 5; Lenz/Borchardt – Coen, Art. 138 EGV, Rn. 7; Hailbronner/Wilms – Boecken, Art. 138 EGV, Rn. 39; Höland, ZIAS 1995, S. 425 (448); Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 138 EGV, Rn. 25; Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 138 EGV, Rn. 8; von der Groeben/ Schwarze – Rust, Art. 138 EG, Rn. 138; a. A.: Streinz – Eichenhofer, Art. 138 EGV, Rn. 10. 96 Heinze, ZfA 1997, S. 505 (513); Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 138 EGV, Rn. 33; Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 138 EGV, Rn. 9; vgl. auch Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 87; Wank, RdA 1995, S. 10 (19); einschränkend: Streinz – Eichenhofer, Art. 138 EGV, Rn. 10; Schwarze – Rebhahn, Art. 138 EGV, Rn. 8. Entgegen einzelnen Stimmen im Schrifttum (vgl. Waas, ZESAR 2004, S. 443, 446) ergibt sich die Nichtigkeitsfolge nicht aus dem Urteil des EuG vom 17.6.1998 in der Rechtssache T-135/96 (UEAPME), weil sich das Gericht nicht zu Verstößen gegen das Anhörungsrecht der UEAPME, die unstreitig zweimal von der Kommission angehört worden war (vgl. Rn. 72 des Urteils), geäußert hat. 97 Krebber (in: Calliess/Ruffert, Art. 138 EGV, Rn. 33) und Langenfeld (in: Grabitz/Hilf, Art. 138 EGV, Rn. 9) weisen in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass die Beteiligung an den Verhandlungen nicht auf die zuvor angehörten Sozialpartner beschränkt ist. Deswegen kann die betreffende Vereinbarung trotz unzureichender Beteiligung am Anhörungsverfahren von einer hinreichenden Zahl europäischer Sozialpartner geschlossen worden sein.
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
Kommt es nach einer unzureichenden Anhörung allerdings nicht zu Sozialpartnerverhandlungen und erfolgt die Rechtssetzung daher im gewöhnlichen Rechtssetzungsverfahren der Gemeinschaft unter Beteiligung des Europäischen Parlaments,98 ist die Nichtigkeitsfolge des daraufhin verabschiedeten Rechtsakts die alleinige Sanktion für die Verletzung des Anhörungsrechts der Sozialpartner aus Art. 138 EG.99 Die zur Begründung dieses Ergebnisses im Schrifttum gezogene Parallele zur Rechtsprechung des EuGH bei der Verletzung von Anhörungsrechten des Europäischen Parlaments100 ist sicherlich richtig.101 Denn die europäischen Sozialpartner können im Rahmen des Anhörungsverfahrens ähnlich wie das Europäische Parlament mit Stellungnahmen auf den Rechtssetzungsprozess der Gemeinschaft einwirken. Daneben lässt sich aber auch darauf verweisen, dass die Kommission bei einem fehlerhaften Anhörungsverfahren, notwendigerweise eine mögliche Ausübung des Übernahmerechts aus Art. 138 Abs. 4 EG vereitelt, weil nur den angehörten Sozialpartnern das Recht zusteht, mit der Aufnahme von Verhandlungen den Rechtssetzungsprozess der Kommission zu unterbrechen. Die Kommission verkürzt mit jeder Verletzung des Anhörungsrechts zugleich das Recht der Sozialpartner nach Art. 138 Abs. 4 EG Verhandlungen zu eröffnen, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei ordnungsgemäßer Beteiligung an der Anhörung Verhandlungen aufgenommen worden wären. Ein unter unzureichender Anhörung erlassener Rechtsakt muss daher nichtig sein, damit die Kommission nicht die Möglichkeit hat, das Übernahmerecht der Sozialpartner zu unterlaufen. Die Anhörungen nach Art. 138 Abs. 2 und 3 EG haben dementsprechend nicht nur den Zweck, der Kommission die Ansicht der Sozialpartner zu einem abstrakten (Art. 138 Abs. 2 EG) bzw. zu einem konkreten (Art. 138 Abs. 3 EG) Rechtssetzungsvorhaben zur Kenntnis zu bringen, sondern vor allem auch den Sozialpartnern, eine Entscheidung über die Ausübung ihres Rechts aus Art. 138 Abs. 4 EG zu ermöglichen.102 Ein Verstoß der Kommission gegen die Anhörungsrechte aus Art. 138 EG ist damit wegen des Verstoßes gegen das soziale Subsidiaritätsprinzip des Art. 138 Abs. 4 EG ebenso nichtig, wie ein Gemeinschaftsakt, der nicht im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 EG steht. Diese gravierende Konsequenz, die bei einer Verletzung des Anhörungsrechts der Sozialpartner und im Übrigen ebenfalls bei einer Verletzung des Art. 138 Abs. 4 EG eintritt, lässt auf die grundrechtliche Qualität der Vorrechts der euro-
98 Zutreffend: Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 87; vgl. auch Hailbronner/Wilms – Boecken, Art. 139 EGV, Rn. 29. 99 Vgl. Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 64 f. 100 EuGH, 29.10.1980, Rs. 138/79, Slg. 1980, 3333, Rn. 33 (Roquette Frères). 101 Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 132; Heinze, ZfA 1997, S. 505 (513); Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 87. 102 Deinert, RdA 2004, S. 211 (220); vgl. auch KOM (2002) 341 endg., S. 9.
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päischen Sozialpartner bei der Ausgestaltung gemeinschaftlicher Rechtsakte im Bereich der Sozialpolitik schließen.103 c) Die Sperrwirkung europäischer Sozialpartnervereinbarungen für die Rechtssetzung der Gemeinschaft Schließlich verhindert der Abschluss einer Sozialpartnervereinbarung grundsätzlich den Erlass eines gemeinschaftlichen Rechtsaktes zum selben Gegenstand. Teilweise wird insbesondere in Bezug auf Sozialpartnervereinbarungen, die nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG auf der nationalen Ebene durchgeführt werden, allerdings die Ansicht vertreten, dass ihr Abschluss die Kommission nicht binde. Es sei nicht absehbar, ob sie in den Mitgliedstaaten tatsächlich durchgeführt werde und die europäischen Sozialpartner besäßen kein Rechtsetzungsmonopol.104 Dieser Argumentation ist einerseits entgegenzuhalten, dass den europäischen Sozialpartnern nach dem Prinzip der doppelten Subsidiarität der Vorrang bei der Ausarbeitung eines konkreten Rechtssetzungsvorschlages zukommt und die Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung deshalb einem Vorschlag der Kommission vorgeht. Die Gestaltungsprärogative der europäischen Sozialpartner liefe leer, wenn die Kommission die Einigung der Sozialpartner mit einem gemeinschaftlichen Rechtssetzungsverfahren konterkarieren dürfte.105 Ein solches Vorgehen der Kommission lässt sich nicht mit ihrer in Art. 138 Abs. 1 EG normierten Pflicht zur Förderung des Sozialen Dialogs vereinbaren, weil die mit der Sozialpartnervereinbarung konkurrierende Rechtssetzung der Gemeinschaft einer Boykottierung des Sozialen Dialogs gleichkommt, die dazu geeignet ist, die Sozialpartner in Zukunft vom Abschluss von Vereinbarungen abzuhalten.106 Ferner geht aus dem Antragserfordernis in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG hervor, dass die Gemeinschaft für die Durchführung der Sozialpartnervereinbarung auf der europäischen Ebene durch Beschluss des Rates auf den gemeinsamen Antrag der Unterzeichnerparteien angewiesen ist. 103 In Deutschland kann nur die Verletzung des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG zur Nichtigkeit eines einzelstaatlichen Gesetzes führen, mit dem der Gesetzgeber eine Materie regelt, die ausschließlich einer tarifvertraglichen Regelung zugänglich ist. 104 Höland, ZIAS 1995, S. 425 (441); Schwarze – Rebhahn, Art. 139 EGV, Rn. 13; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 54. Rust (in: von der Groeben/Schwarze, Art. 139 EG, Rn. 12) will nur den auf europäischer Ebene durchgeführten Sozialpartnervereinbarungen eine Sperrwirkung gegenüber der gemeinschaftlichen Rechtssetzung zubilligen. 105 Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 66; im Ergebnis übereinstimmend: Heinze, ZfA 1997, S. 505 (515). 106 Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 125; vgl. auch Schmähl/Rische – R. Thüsing, Europäische Sozialpolitik, S. 123 (125); AGVBanken – Thau, Tarifpolitik auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft, S. 82 (91).
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Wenn die Gemeinschaftsorgane also eine zwischen den Parteien abgeschlossene Vereinbarung nicht gegen deren Willen übernehmen dürfen, können sie erst recht nicht gegen den Willen der Sozialpartner einen davon inhaltlich abweichenden eigenen Vorschlag als Richtlinie erlassen. Andererseits können die europäischen Sozialpartner keinen Anspruch darauf haben, dass eine zwischen ihnen geschlossene Vereinbarung eine gemeinschaftliche Rechtssetzung ad infinitum blockiert und die Kommission ohne zeitliche Begrenzung von einer gemeinschaftlichen Rechtssetzung abgehalten wird. Die Grenzziehung zwischen den beiden widerstreitenden Gesichtspunkten folgt aus einem Vergleich mit der ausnahmsweisen Befugnis der Gemeinschaft zur Rechtssetzung trotz einer Mitteilung nach Art. 138 Abs. 4 EG während der neunmonatigen Verhandlungsphase. Zwar ist die Kommission mit dem Zugang einer ordnungsgemäßen Mitteilung nach Art. 138 Abs. 4 EG grundsätzlich vorübergehend nicht mehr berechtigt, das von ihr eröffnete Rechtssetzungsverfahren weiter zu betreiben und hat es wenigstes für neun Monate zu unterbrechen. Gleichwohl ermächtigt Art. 138 Abs. 4 EG die europäischen Sozialpartner auch für diesen vergleichsweise kurzen Zeitraum nicht dazu, die Rechtssetzung der Gemeinschaft mutwillig zu blockieren. Sofern sich die europäischen Sozialpartner in nichts anderem einig sind als darin, eine gemeinschaftliche Rechtssetzung zu verhindern oder zu verzögern, und führen sie deswegen nur zum Schein Verhandlungen, missbrauchen sie ihr Recht aus Art. 138 Abs. 4 EG. In diesem Fall bleibt die Kommission befugt das Rechtssetzungsverfahren fortzuführen oder gewinnt diese Befugnis gegebenenfalls schon während der neunmonatigen Frist des Art. 138 Abs. 4 EG zurück.107 Die gleichen Grundsätze gelten nach dem Abschluss und der Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung. Die Kommission nimmt zu Recht an, dass ihre Befugnis, einen den Sozialpartnern bereits zur Anhörung gebrachten Rechtsetzungsvorschlag weiterzuleiten, durch den Abschluss einer Vereinbarung eingeschränkt wird. Nur wenn sich entweder herausstellen sollte, dass die Vereinbarung der europäischen Sozialpartner zur Verwirklichung der Zielsetzungen der Gemeinschaft nicht geeignet ist, oder die Arbeitgeber bzw. die Arbeitnehmer eine von ihnen gewählte Umsetzung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG verzögern, nimmt die Kommission für sich das Recht in Anspruch, ihren vormaligen Vorschlag wieder aufzugreifen.108
107 Vgl. Hailbronner/Wilms – Boecken, Art. 138 EGV, Rn. 44; Heinze, ZfA 1997, S. 505 (515); Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 63; Kliemann, Die europäische Sozialintegration nach Maastricht, S. 123 ff.; ähnlich: Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 138 EGV, Rn. 36; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 76. 108 KOM (2004) 557 endg., S. 12; ähnlich: Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1746, Kliemann, Die europäische Sozialintegration nach Maastricht, S. 139 f.
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In der ersten von der Kommission genannten Fallgestaltung leben die Rechtssetzungskompetenzen der Gemeinschaftsorgane wieder auf, wenn der Inhalt der Sozialpartnervereinbarung offensichtlich sachwidrig ist und nur auf eine Obstruktion der gemeinschaftlichen Rechtssetzung gerichtet sein kann. In der zweiten Fallgestaltung arbeiten entweder die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer kollusiv zusammen, um eine Rechtssetzung der Gemeinschaft zu verhindern, oder eine der beiden Seiten verhält sich widersprüchlich, indem sie die Umsetzung einer von ihr auf der europäischen Ebene abgeschlossen Vereinbarung auf der nationalen Ebene hintertreibt.109 In allen genannten Konstellationen missbrauchen die europäischen Sozialpartner ihre Rechte aus dem Gemeinschaftsvertrag, was die Kommission ebenso wie bei einer missbräuchlichen Ausübung des Rechts aus Art. 138 Abs. 4 EG dazu berechtigt, ein gemeinschaftliches Rechtssetzungsverfahren einzuleiten oder ein unterbrochenes Verfahren fortzusetzen.110 Unterhalb der Missbrauchsschwelle ist die Kommission jedoch unabhängig vom jeweiligen Durchführungsmodus an eine europäische Sozialpartnervereinbarung gebunden und darf keine Initiative zu einer zwischen den Sozialpartnern geregelten Thematik entfalten oder gar an einem zur Anhörung gebrachten Vorschlag festhalten, zu dessen Verhinderung die Sozialpartner eine Vereinbarung geschlossen haben. Kommt die Kommission einige Zeit nach dem Abschluss einer Sozialpartnervereinbarung zu der Auffassung, dass ein Wandel der Umstände eine neue Rechtssetzung auf Gemeinschaftsebene erforderlich macht, hat sie nach Art. 138 Abs. 2 und 3 EG hierzu die Sozialpartner anzuhören. Üben die dabei angehörten Organisationen bei der zweiten Anhörung ihr Recht auf Übernahme der Rechtssetzungsverfahrens nach Art. 138 Abs. 4 EG nur dazu aus, damit es bei der inzwischen überholten Vereinbarung bleibt, kommt wiederum ein Rechtsmissbrauch in Betracht, der den Gemeinschaftsorganen die Fortsetzung des Legislativverfahrens erlaubt.111 Im Ergebnis lässt sich damit ein grundsätzlicher Vorrang der Durchführung europäischer Sozialpartnervereinbarungen gegenüber der gemeinschaftlichen Rechtssetzung feststellen, der dafür spricht, dass es sich beim Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene um grundrechtlich geschützte Tarifvertragsverhandlungen auf der europäischen Ebene handelt.
109
Ähnlich: Poschke, ZTR 2005, S. 390 (392). Die damit in Verbindung stehenden Rechtsfragen sind entgegen der Auffassung von Heller (in: Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 68) einer gerichtlichen Überprüfung vor dem Europäischen Gerichtshof zugänglich. 111 Anscheinend a. A.: Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 124. 110
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IV. Europäische Sozialpartnervereinbarungen als europäische Tarifverträge Damit hängt die Frage nach der Anwendung des Art. 28 Var. 1 GRC auf die Sozialpartnerverhandlungen nach Art. 139 EG davon ab, ob die im Rahmen des Sozialen Dialogs geschlossenen Vereinbarungen als Tarifverträge im Sinne dieses Grundrechts anzusehen sind. 1. Die Diskussion im Schrifttum und die Fragestellung aus der Perspektive des Art. 28 Var. 1 GRC Bei der Diskussion über die Rechtsnatur der Vereinbarungen der europäischen Sozialpartner nach Art. 139 EG stand bislang die Frage im Zentrum, ob die Vorschrift die europäischen Sozialpartner dazu ermächtigt, auf der europäischen Ebene Kollektivverträge mit normativer Wirkung abzuschließen und damit unmittelbar und zwingend auf die zwischen den Arbeitsvertragsparteien bestehenden Rechte und Pflichten einzuwirken. Das wird nahezu einhellig verneint. Von der ganz überwiegenden Meinung im Schrifttum wird vielmehr angenommen, dass eine Sozialpartnervereinbarung lediglich schuldrechtliche Pflichten zwischen den abschließenden Parteien erzeuge.112 112 Birk, EuZW 1997, S. 453 (456 f.); Blank, FS-Gnade, S. 649 (655); Hailbronner/ Wilms – Boecken, Art. 139 EGV, Rn. 9; Buchner, RdA 1993, S. 193 (200); ders., FSSöllner, S. 175 (187); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1728, 1743; ders., EuZW 1992, S. 329 (331); Dötsch, AuA 1998, S. 262 (264); Heinze, ZfA 1997, S. 505 (510); Konzen, EuZW 1995, S. 39 (46 f.); Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 16 f.; Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 139 EGV, Rn. 3; Oetker/Preis – Preis/Gotthardt, EAS, B 1100, Rn. 99; Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 106; Schwarze – Rebhahn, Art. 139 EGV, Rn. 14; von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 139 EG, Rn. 19; Schnorr, DRdA 1994, S. 193 (197); Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 24; Steinmeyer, RdA 2000, S. 10 (20); Wank, RdA 1995, S. 10 (20); Weiss, FS-Gnade, S. 583 (593); vgl. auch: Schmähl/Rische – Clever, Europäische Sozialpolitik, S. 111 (117); AR-Blattei – Hergenröder, SD-1550.15, Rn. 34 f.; Schaub/Koch/Linck – Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, § 198, Rn. 70. Dezidiert für die Einordnung der Sozialpartnervereinbarungen als europäische Tarifverträge: Blanpain/Schmidt/Schweibert, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 489 ff.; 491; ebenso: Hanau/Steinmeyer/Wank – Hanau, Handbuch der europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 19, Rn. 7. Nach Heinze soll der Soziale Dialog einerseits den Weg zu europarechtlich zu würdigenden Tarifverträgen prinzipiell eröffnet haben (in: FS-Kissel, S. 363, 381), andererseits sei es aber abwegig, die vertraglichen Beziehungen der europäischen Sozialpartner im Sinne europäischer Tarifverträge zu qualifizieren (in: ZfA 1997, S. 505, 510). Bödding (in: Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 76 ff., 82) lehnt sogar eine aus der Sozialpartnervereinbarung resultierende schuldrechtliche Verpflichtung der europäischen Sozialpartner ab, weil es kein gemeinschaftliches Schuldrecht und keine Zuständigkeit des EuGH zur Durchsetzung der schuldrechtlichen Rechte und Pflichten gebe. Vielmehr handle es sich um eine „gemeinschaftsrechtlich relevante Willenseinigung ohne bindende Wirkung“; im Ergebnis übereinstimmend:
§ 7 Der Soziale Dialog und Art. 28 Var. 1 GRC
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Gegen die Annahme, Art. 139 EG etabliere ein gemeinschaftliches Tarifvertragssystem, spreche der Wortlaut der Bestimmung, der nur den Abschluss von Vereinbarungen als Unterfall113 von vertraglichen Beziehungen vorsehe und eben nicht von Tarif- oder Kollektivverträgen spreche.114 Der gegenteiligen Annahme soll zudem die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten nach Art. 137 Abs. 5 EG entgegenstehen.115 Bei Sozialpartnervereinbarungen könne es sich auch deshalb nicht um europäische Tarifverträge handeln, weil ihr Verhältnis zum nationalen Recht völlig unklar sei.116 Im Übrigen besäßen die beteiligten Sozialpartner kein tarifpolitisches Mandat, weswegen ihnen die für den Abschluss europäischer Tarifverträge notwendige „Tariffähigkeit“ fehle.117 Die nach Art. 139 Abs. 1 EG abgeschlossenen Sozialpartnervereinbarungen haben in der Tat keine normative Wirkung in dem Sinne, dass sie etwa mit unmittelbarer und zwingender Wirkung die Rechte zwischen den Arbeitsvertragsparteien regeln würden. Die Rechtsfolgen einer Sozialpartnervereinbarung ergeben sich allein aus der Vorschrift des Art. 139 Abs. 2 EG und darin ist keine normative Wirkung auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse, sondern die Durchführung der Vereinbarung nach den jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten
Buchner, FS-Söllner, S. 175 (180); Weiss, FS-Kissel, S. 1253 (1263) und anscheinend auch Waas, ZESAR 2004, S. 443 (447 f.). Gegen das erstere Argument spricht der Wortlaut des Art. 139 Abs. 1 EG, der die Vereinbarung als Unterfall einer vertraglichen Beziehung aufführt. Deshalb müssen mit ihr wenigstens schuldrechtliche Rechtswirkungen verbunden sein; vgl. Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 757. Die sich aus dem Fehlen einer gemeinschaftlichen Vertragsordnung ergebenden Lücken, können dem Rechtsgedanken des Art. 288 EG entsprechend unter Rückgriff auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen richterrechtlich gefüllt werden; vgl. Birk, EuZW 1997, S. 453 (457); Däubler, EuZW 1992, S. 329 (332); Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 84 f.; kritisch hierzu: Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 6. Aus der Unzuständigkeit des EuGH kann ebenfalls nicht auf das Fehlen einer schuldrechtlichen Wirkung der europäischen Sozialpartnervereinbarungen geschlossen werden, weil insofern eine Zuständigkeit der einzelstaatlichen Gerichte angenommen werden kann; vgl. Höland, ZIAS 1995, S. 425 (434). Ojeda Avilés (in: FS-Däubler, S. 519, 526) weist in diesem Zusammenhang auf die Vereinbarungen der International Transport Workers’ Federation (ITF) hin, die von verschiedenen nationalen Arbeitsgerichten angewendet werden. Der EuGH kann erforderlichenfalls über das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG eingeschaltet werden, weil sich Rechtsstreitigkeiten zwischen den Sozialpartnern regelmäßig als Streit über die Auslegung des Art. 139 EG darstellen lassen; vgl. Zachert, FS-Schaub, S. 811 (827); a. A.: Blanpain/ Schmidt/Schweibert, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 502. 113 Vgl. Waas, ZESAR 2004, S. 443, 447 (m.w. N.). 114 Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 3; vgl. Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 74; Däubler, EuZW 1992, S. 329 (331). 115 Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 3. 116 Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 139 EGV, Rn. 3. 117 Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 139 EGV, Rn. 3; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 3, 41; Weiss, FS-Kissel, S. 1253 (1256 f.).
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
der Sozialpartner und der Mitgliedstaaten oder durch einen Beschluss des Rates vorgesehen.118 Dennoch ist mit der Erkenntnis, dass Sozialpartnervereinbarungen keine unmittelbaren Wirkungen auf die Arbeitsvertragsverhältnisse entfalten, keineswegs entschieden, dass die nach Art. 139 EG abgeschlossenen und durchgeführten Vereinbarungen der Sozialpartner keine europäischen Tarifverträge im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC darstellen. Es ist nicht ersichtlich, warum das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen nur solche Kollektivverträge schützen sollte, die unmittelbare und zwingende Wirkung auf die Arbeitsvertragsverhältnisse entfalten. Aus der Perspektive des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen spricht daher keines der im Schrifttum vorgebrachten Argumente gegen eine Subsumtion der Sozialpartnervereinbarungen unter den in Art. 28 Var. 1 GRC verwendeten Begriff „Tarifvertrag“. Die Tatsache, dass in Art. 139 Abs. 1 EG nicht von „Tarifverträgen“, sondern von Vereinbarungen die Rede ist, mag zwar der Annahme entgegenstehen, dass die Vereinbarungen europäischer Sozialpartner normative Wirkung haben. Für die hier in Rede stehende Frage ergibt sich die maßgebliche Wortlautgrenze aber nicht aus Art. 139 Abs. 1 EG, sondern aus Art. 28 Var. 1 GRC. Auf das darin verwendete Wort „Tarifvertrag“ darf man nicht den in der deutschen Rechtsterminologie durch § 4 Abs. 1 TVG geprägten Begriffsinhalt und die Vorstellung eines unmittelbar und zwingend wirkenden Normenvertrages hineinlesen.119 Da die englische Fassung des Art. 28 Var. 1 GRC von „collective agreements“ und Art. 139 Abs. 1 EG insoweit übereinstimmend von „agreements“ spricht, wird man nicht behaupten können, dass der Wortlaut des Art. 28 Var. 1 GRC Sozialpartnervereinbarungen nach Art. 139 Abs. 1 EG nicht umfassen könne.120 Richtig ist zudem, dass der Gemeinschaft eine Zuständigkeit für die Regelung des Tarifvertragsrechts fehlt.121 Das spricht in der Tat dagegen, Sozialpart118
Waas, ZESAR 2004, S. 443 (447). Vgl. Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 15. Dass die Verwendung des Wortes „Tarifvertrag“ zu dem methodisch unhaltbaren Transfer nationaler Begriffsinhalte auf Art. 28 Var. 1 GRC reizt, ist nicht von der Hand zu weisen. Für deutsche Rechtsanwender wäre eine Formulierung, nach welcher Art. 28 Var. 1 GRC den betreffenden Grundrechtsträgern ein Recht zum Abschluss von „Kollektivverträgen“ gewährleisten würde, wohl zugänglicher gewesen. Der im Vergleich zum Tarifvertrag allgemeinere Begriff des Kollektivvertrages würde jedenfalls mit dem Titel des Grundrechts auf „kollektive Verhandlungen“ harmonieren. Deinert (in: RdA 2004, S. 211, 212) hat für Sozialpartnervereinbarungen die Bezeichnung als „europäische Kollektivverträge“ vorgeschlagen. Das hat den misslichen Nachteil, dass Art. 28 Var. 1 GRC ausdrücklich von „Tarifverträgen“ spricht. Um den terminologischen Differenzen dennoch Rechnung zu tragen und den Unterschied zum nationalen Recht wenigstens ansatzweise zu verdeutlichen, soll hier der Begriff „europäischer Tarifvertrag“ verwendet werden. 120 Zutreffend: Rebhahn, GS-Heinze, S. 649 (657). 119
§ 7 Der Soziale Dialog und Art. 28 Var. 1 GRC
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nervereinbarungen eine über Art. 139 Abs. 2 EG hinausgehende normative Wirkung zuzusprechen. Richtig ist aber auch, dass Art. 137 Abs. 5 EG sich nur auf die Kompetenzen der Gemeinschaft aus Art. 137 EG bezieht und die Bestimmungen zum Sozialen Dialog daher unberührt lässt. Unabhängig hiervon schließt die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten es jedenfalls nicht aus, Sozialpartnervereinbarungen gerade wegen der in Art. 139 Abs. 2 EG vorgesehenen Durchführungsmöglichkeiten als europäische Tarifverträge nach Art. 28 Var. 1 GRC zu qualifizieren. Für die Beantwortung dieser Frage lassen sich aus Art. 137 Abs. 5 EG keine Rückschlüsse ziehen.122 Da Art. 52 Abs. 2 GRC zudem jegliche Kompetenzverschiebung bei der Anwendung des Art. 28 Var. 1 GRC auf die europäischen Sozialpartnerverhandlungen ausschließt, kann Art. 137 Abs. 5 EG insoweit keine Bedeutung haben. Schließlich ist für die Beantwortung der Frage, ob es sich bei Verhandlungen im Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene um Tarifverhandlungen im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC handelt, auch der Einwand, die europäischen Sozialpartner seien nicht allgemein zum Abschluss von Vereinbarungen nach Art. 139 Abs. 1 EG ermächtigt, belanglos.123 Diese Aussage bezieht sich ausschließlich auf das Zustandekommen und nicht auf die rechtliche Qualifikation einer Sozialpartnervereinbarung. Unter Anerkennung eines Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen ist vielmehr danach zu fragen, welche Wirkungen Sozialpartnervereinbarungen entfalten und ob diese genügen, um von einem europäischen Tarifvertrag im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC sprechen zu können.124 Da sich die Wirkungen einer Sozialpartnervereinbarung ausschließlich aus Art. 139 Abs. 2 EG ergeben, gilt es zunächst diese zu klären. Im Anschluss daran ist zu entscheiden, ob diese Wirkungen die Annahme rechtfertigen, dass es sich bei den Sozialpartnervereinbarungen um europäische Tarifverträge handelt.
121
§ 2 II. 1. a). Entgegen der Auffassung von Langenbucher (in: ZEuP 2002, S. 265, 269 f.), lässt sich Art. 137 Abs. 5 EG keineswegs entnehmen, dass der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene kein autonomes Normsetzungsverfahren für Tarifvertragsparteien schaffe. 123 Vgl. Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 213 f. 124 Im Zusammenhang mit der Annahme, dass Sozialpartnervereinbarungen nur schuldrechtliche Wirkungen entfalten, ist vereinzelt angenommen worden, dass es sich dabei um „Individualverträge“ handle; vgl. Däubler, EuZW 1992, S. 329 (331). Träfe das zu, könnte der Abschluss einer europäischen Sozialpartnervereinbarung nicht unter dem Schutz des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen stehen. Unabhängig von der Frage, ob nicht auch eine Einordnung als „schuldrechtlicher Kollektivvertrag“ in Betracht kommt (dafür: Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 23), haben die Sozialpartnervereinbarungen jedenfalls dann einen kollektivrechtlichen Charakter, wenn sie eine für Tarifverträge typische Drittwirkung entfalten. 122
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
2. Die Durchführung von Sozialpartnervereinbarungen auf der nationalen Ebene Als erste Alternative nennt Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG die Umsetzung der Sozialpartnervereinbarung nach den jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner und der Mitgliedstaaten. Entscheiden sich die europäischen Sozialpartner dafür, eine zwischen ihnen geschlossene Vereinbarung in dieser Form durchzuführen, richtet sich die Umsetzung somit vor allem nach dem jeweils anwendbaren nationalen Recht. Gleichwohl gehören die nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG durchzuführenden Sozialpartnervereinbarungen dennoch der gemeinschaftlichen Rechtsordnung an.125 Die Begrenzung ihrer Durchführung durch mitgliedstaatliche Verfahren und Gepflogenheiten kann nicht dazu führen, die Wirkungen der auf der Grundlage des Art. 139 EG geschlossenen Vereinbarungen den einzelstaatlichen Rechtsordnungen zu unterwerfen. Die Rechte und Pflichten, die sich aus einer auf der nationalen Ebene umzusetzenden Vereinbarung ergebenen, können sich unbeschadet der Einschränkung durch nationale Verfahren und Gepflogenheiten nur nach dem Gemeinschaftsrecht richten.126 Im Übrigen kommt es bei der Durchführung auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht zu einer Mitwirkung der Gemeinschaftsorgane.127 Die Kommission bezeichnet die auf der nationalen Ebene durchzuführenden Sozialpartnervereinbarungen deshalb als autonome Vereinbarungen.128 a) Das Erfordernis eines Durchführungsrechtsakts auf nationaler Ebene Auf welche Weise autonome Sozialpartnervereinbarungen Geltung in den Mitgliedstaaten erlangen, ist Gegenstand einer im Schrifttum geführten Auseinandersetzung. Nach einer in der Literatur vertretenen Meinung soll es hierfür keiner Mitwirkung der Einzelstaaten oder der nationalen Sozialpartner bedürfen. Die Vereinbarung soll vielmehr ohne jeglichen Durchführungsrechtsakt in den Mitgliedstaaten unmittelbar diejenigen Wirkungen entfalten, die Tarifverträgen nach dem jeweiligen einzelstaatlichen Recht zukommt; so genanntes Modell der 125 A. A.: Birk, FS-Rehbinder, S. 3 (11); Schwarze – Rebhahn, Art. 139 EGV, Rn. 14; Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 803. 126 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1729; Höland, ZIAS 1995, S. 425 (434); Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 756; Oetker/Preis – R. Schwarze, B 8100, Rn. 25. 127 Schwarze – Rebhahn, Art. 139 EGV, Rn. 12; von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 139 EG, Rn. 36; vgl. Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 20. 128 KOM (2004) 557 endg., S. 17. Allerdings bezieht sich der Begriff „autonom“ ausschließlich auf die Durchführung der Vereinbarung und nicht etwa auch auf die Verhandlungen, die zu ihrem Abschluss geführt haben. Die Verhandlungen über eine nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG durchzuführende Vereinbarung werden von den Sozialpartnern ebenfalls autonom geführt.
§ 7 Der Soziale Dialog und Art. 28 Var. 1 GRC
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parallelen Wirkungsstatute.129 Demzufolge soll die Sozialpartnervereinbarung beispielsweise in Deutschland die in § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG vorgesehene unmittelbare und zwingende Wirkung haben. In Frankreich soll sie nach Art. L. 1352 Code du Travail130 vorbehaltlich günstigerer Regelungen auf Arbeitsverträge tarifgebundener Arbeitgeber angewendet werden und in Großbritannien nach der Vermutungswirkung des sec. 179 TULR(C)A131 keinen rechtlich verbindlichen Charakter haben. Zu Recht vertritt die herrschende Meinung im Gegensatz dazu die Ansicht, dass die autonomen Sozialpartnervereinbarungen keine unmittelbare Anwendung in den Mitgliedstaaten finden. Hierfür ist vielmehr der Abschluss eines nationalen Tarifvertrages oder ausnahmsweise der Erlass eines staatlichen Gesetzes erforderlich, mit dem der Vereinbarungsinhalt umgesetzt wird; so genanntes Modell des mehrstufigen Tarifvertrags.132 Schon der Wortlaut des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG liefert keinen Hinweis auf eine unmittelbare Wirkung der Sozialpartnervereinbarungen in den Mitgliedstaaten. Ganz im Gegenteil lässt das Wort „Durchführung“ in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG darauf schließen, dass ein Umsetzungsakt der Mitgliedstaaten oder der nationalen Sozialpartner ebenso notwendig ist, wie es bei der in Art. 137 Abs. 3 EG vorgesehenen sozialpartnerschaftlichen „Durchführung“ ge-
129 Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 440 ff., 450; ähnlich: Blank, FSGnade, S. 649 (655). Eine ähnliche Ansicht vertritt Karthaus (in: AuR 1997, S. 221, 223), der zu dem Ergebnis kommt, dass die Sozialpartner autonome Vereinbarungen in freier Rechtswahl dem Tarifvertragsrecht eines EG-Mitgliedstaates unterwerfen können. Die Vereinbarung soll dann nach der Maßgabe dieses Rechts und insbesondere ohne Rücksicht auf die Vorschriften des Internationalen Privatrechts einheitliche Wirkungen in der ganzen Gemeinschaft entfalten. Schließlich sollen die in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG geregelten Wirkungen autonomer Vereinbarungen nach Schiek (in: Däubler, TVG, Einleitung, Rn. 809, 812) zur Disposition der europäischen Sozialpartner stehen und es ihnen sogar ermöglichen, eine im EG-Vertrag nicht vorgesehene normative Wirkung zu vereinbaren. 130 „Lorsqu’un employeur est lié par les clauses d’une convention ou d’un accord collectif de travail, ces clauses s’appliquent aux contrats de travail conclus avec lui, sauf dispositions plus favorables.“ 131 „A collective agreement shall be conclusively presumed not to have been intended by the parties to be a legally enforceable contract unless the agreement – (a) is in writing, and (b) contains a provision which (however expressed) states that the parties intend that the agreement shall be a legally enforceable contract.“ 132 Lenz/Borchardt – Coen, Art. 139 EGV, Rn. 3; Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 15; Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 206; Höland, ZIAS 1995, S. 425 (440 ff.); Konzen, EuZW 1995, S. 39 (47); Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 22 f.; Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 139 EGV, Rn. 6; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 39; Hanau/Steinmeyer/Wank – Steinmeyer, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 12, Rn. 128; Wiedemann – Thüsing, TVG, § 1, Rn. 106; Zachert, FS-Schaub, S. 811 (827); vgl. auch Birk, EuZW 1997, S. 453 (457 f.).
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
meinschaftlicher Richtlinien der Fall ist.133 Die Annahme paralleler Wirkungsstatute ist darüber hinaus nicht mit dem Wortlaut des Art. 139 Abs. 2 EG vereinbar, weil sich das Wort „Durchführung“ ebenso auf einen Beschluss des Rates nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG bezieht. Da bei dieser Durchführungsmodalität ein die Vereinbarung umsetzender Beschluss des Rates erforderlich ist, kann bei einer Durchführung auf der nationalen Ebene ein weiterer Umsetzungsakt nicht überflüssig sein. Die parallele Stellung der beiden in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG genannten Alternativen spricht folglich dafür, dass bei beiden Varianten ein Durchführungsakt erforderlich ist.134 Darauf weist zudem die Entstehungsgeschichte der Vorschrift im EG-Vertrag hin. Als die in Art. 139 Abs. 2 EG befindliche Regelung erstmals als Art. 4 Abs. 2 des Abkommens über die Sozialpolitik (ASP) in das europäische Primärrecht135 aufgenommen wurde, haben die Regierungsvertreter der Mitgliedstaaten hierzu eine Erklärung abgegeben.136 Darin heißt es, dass der erste in der Bestimmung genannte Durchführungsmodus die Erarbeitung des Inhalts der Vereinbarung durch Tarifverhandlungen auf nationaler Ebene betrifft. Unabhängig von der umstrittenen Frage, ob diese Erklärung integraler Bestandteil des Gemeinschaftsrechts geworden ist,137 stellt sie jedenfalls ein zu berücksichtigendes Interpretationsinstrument für die Auslegung des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG dar.138 Aus diesem geht hervor, dass die Anwendung autonomer Sozialpartnervereinbarungen in den Mitgliedstaaten nach dem Willen der Regierungsvertreter vom Abschluss nationaler Tarifverträge abhängen sollte.139 Der angebliche Vorzug des Modells der parallelen Wirkungsstatute, das eine Zustimmung der nationalen Tarifparteien für die Anwendung der Sozialpartner133 Entgegen der Annahme Deinerts (in: Der europäische Kollektivvertrag, S. 444) weckt die französische Sprachfassung des Art. 139 Abs. 2 EG, in der das Verb „mettre en œuvre“ verwendet wird, hieran keinen Zweifel, da Art. 137 Abs. 3 EG in seiner französischen Fassung dasselbe Verb verwendet und deswegen davon auszugehen ist, dass in beiden Fällen gleichermaßen ein Durchführungsakt in den Mitgliedstaaten erforderlich ist. 134 Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 98. 135 Vgl. zur Rechtsnatur des ASP: Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 31 ff.; Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 61 ff. 136 Abgedruckt in: BGBl. II 1992, S. 1253 (1315). 137 Heinze, ZfA 1997, S. 505 (516); a. A.: Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 197; von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 139 EG, Rn. 34; differenzierend: Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 121 ff. 138 Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 197; Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 124; von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 139 EG, Rn. 34; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 39. 139 Deinert (in: Der europäische Kollektivvertrag, S. 445) kommt nur zu einem abweichenden Ergebnis, weil er den in der Erklärung verwendeten Begriff „Tarifverhandlung“ ohne überzeugende Begründung als „sprachliche Ungenauigkeit“ ansieht und darin „in Wirklichkeit“ einen Hinweis auf die Regeln des „Tarifrechts“ erkennen will.
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vereinbarung in den Mitgliedstaaten überflüssig machen soll, ist ein entscheidender und gegen diese Interpretation des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG sprechender Nachteil. Entfiele das Erfordernis eines nationalen Umsetzungsaktes, müssten sich die europäischen Sozialpartner beim Abschluss der Vereinbarung auf einen Inhalt verständigen, der zugleich 27 mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gerecht würde. Dass unter diesen Voraussetzungen eine interessengerechte Einigung auf der europäischen Ebene zustande kommen kann, ist praktisch ausgeschlossen. Wegen der Divergenz der einzelnen mitgliedstaatlichen Tarifvertragsregelungen ist es zudem äußerst unwahrscheinlich, dass die europäischen Sozialpartner überhaupt eine in allen 27 Mitgliedstaaten verbindliche Vereinbarung abschließen könnten. Nach dem Modell der parallelen Wirksamkeitsstatute müsste eine Sozialpartnervereinbarung beispielsweise für ihre Wirksamkeit in Deutschland wegen § 1 Abs. 2 TVG die Schriftform des § 126 BGB einhalten.140 In Frankreich müsste sie nach Art. L. 132-10 Code du Travail hinterlegt werden.141 Die Kumulation sämtlicher für einen Tarifvertrag nach dem Recht der Einzelstaaten geltenden Wirksamkeitsvoraussetzungen schließt den wirksamen Abschluss einer Vereinbarung auf der europäischen Ebene aus. Diese Konsequenz lässt sich auch nicht dadurch verhindern, dass man das nationale Recht bei der Durchführung einer autonomen Sozialpartnervereinbarung nur insoweit zur Anwendung bringt als es die Wirksamkeit der Vereinbarung nicht beeinträchtigt.142 Das widerspricht Art. 139 Abs. 2 EG, aus dem hervorgeht, dass eine europäische Sozialpartnervereinbarung nur bei einer Durchführung durch Ratsbeschluss am Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts teilhat und nur unter dieser Voraussetzung die Vorschriften des nationalen Rechts verdrängen kann. Darüber hinaus sieht Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG vor, dass die Durchführung autonomer Vereinbarungen nach den einzelstaatlichen Verfahren und Gepflogenheiten erfolgt. Deswegen kann das nationale Recht nicht mit dem Modell der parallelen Wirkungsstatute zur Disposition der europäischen Sozialpartner gestellt werden. Das Recht der Mitgliedstaaten hat nicht der effektiven Umsetzung der europäischen Sozialpartnervereinbarung zu dienen, sondern vielmehr hat sich umgekehrt die Durchführung der Sozialpartnervereinbarung, nach den mitgliedstaatlichen Verfahren und Gepflogenheiten zu richten.143
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Vgl. BAGE 28, 225 (230). Abweichend: Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 451. 142 Nach Deinert (in: Der europäische Kollektivvertrag, S. 452 f.) soll eine europäische Sozialpartnervereinbarung aber beispielsweise in Irland die Wirkungen eines nationalen Tarifvertrages entfalten, obwohl keiner der europäischen Sozialpartner die für den Abschluss von Tarifverträgen nach irischem Recht erforderliche staatliche Lizenz besitzt; zu Recht a. A.: Ojeda Avilés, FS-Däubler, S. 519 (541). 143 Vgl. Hanau/Steinmeyer/Wank – Hanau, Handbuch des europäischen Arbeitsund Sozialrechts, § 19, Rn. 17. 141
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
Schließlich fingiert das Modell der parallelen Wirkungsstatute die Fähigkeit der beim Abschluss der europäischen Vereinbarung vertretenen nationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen, in den Einzelstaaten wirksam Tarifverträge schließen zu können. Die europäische Sozialpartnervereinbarung soll nämlich auch in denjenigen Mitgliedstaaten als Tarifvertrag nationalen Rechts gelten, in denen die beim Vereinbarungsschluss auf europäischer Ebene repräsentierten nationalen Sozialpartner zum Abschluss eines nationalen Tarifvertrages gar nicht in der Lage sind.144 Beispielsweise kann eine im branchenübergreifenden Sozialdialog zwischen der UNICE und dem EGB geschlossene Vereinbarung in Deutschland jedenfalls nicht mit einem zwischen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) abzuschließenden Tarifvertrag umgesetzt werden, weil keiner der drei Spitzenverbände über die gemäß § 2 Abs. 2 TVG erforderliche Vollmacht für den Abschluss von Tarifverträgen verfügt. Dennoch soll der europäische Abschluss nach dem Modell der parallelen Wirkungsstatute in Deutschland als nationaler Tarifvertrag die in § 4 Abs. 1 TVG bezeichneten rechtlichen Wirkungen entfalten. Die mitunter fehlende Tariffähigkeit der nationalen Sozialpartner kann jedoch nicht durch die Vereinbarungsfähigkeit der europäischen Sozialpartner substituiert werden.145 b) Der Ausschluss mitgliedstaatlicher Mitwirkungspflichten Bedarf es mithin für die Anwendung der Sozialpartnervereinbarung bei einer Durchführung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG eines Umsetzungsaktes auf der nationalen Ebene, kommen zu dessen Vornahme zum einen die Mitgliedstaaten und zum anderen die nationalen Mitglieder der europäischen Sozialpartner in Frage. Vereinzelt ist die Garantenstellung der Mitgliedstaaten, die sie im Falle des Art. 137 Abs. 3 EG bei der sozialpartnerschaftlichen Durchführung europäischer Richtlinien haben, auf das Verfahren nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG übertragen worden.146 Jedoch haben die Regierungsvertreter der Mitgliedstaaten in ihrer Erklärung zu Art. 4 Abs. 2 ASP klargestellt, dass die Bestimmung weder eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten enthält, Sozialpartnervereinbarungen unmittelbar anzuwenden oder diesbezügliche Umsetzungsregeln zu erarbeiten noch eine Verpflichtung beinhaltet, zur Erleichterung ihrer Anwendung geltende innerstaatliche Vorschriften zu ändern. Daraus geht hervor, dass die 144 145 146
(516).
Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 465 [Fn. 2575]. Anscheinend a. A.: Deinert, RdA 2004, S. 211 (222 f.). Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 16; a. A. Heinze, ZfA 1997, S. 505
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Mitgliedstaaten in keiner Weise zur Mitwirkung bei der Durchführung einer autonomen Sozialpartnervereinbarung verpflichtet und an deren Inhalt nicht gebunden sind.147 Das folgt zudem aus der Überlegung, dass lediglich verbandlich legitimierte Verbände die nationalen Gesetzgeber nicht inhaltlich binden können148 und Sozialpartnervereinbarungen nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG für die Entfaltung bindender Rechtswirkungen gegenüber den Mitgliedstaaten einer Durchführung durch Beschluss des Rates bedürfen.149 c) Die Durchführungspflicht der nationalen Sozialpartner Eine autonome Vereinbarung findet daher weder auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse unmittelbare Anwendung noch besteht nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG eine Pflicht der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Vereinbarung. Die Verbindlichkeit ihrer Durchführung hängt daher davon ab, ob und gegebenenfalls inwiefern die einzelstaatlichen Mitglieder der vereinbarungsschließenden Sozialpartnerorganisationen verpflichtet sind, den Inhalt der Vereinbarung durch den Abschluss von Tarifverträgen innerstaatlich zur Anwendung zu bringen.150 Die autonomen Sozialpartnervereinbarungen können mithin nur dann eine für die Anwendung des Art. 28 Var. 1 GRC relevante Drittwirkung entfalten, wenn die jeweiligen nationalen Sozialpartner zur Umsetzung auf einzelstaatlicher Ebene verpflichtet sind. Anders als die in § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG vorgesehene Wirkung nationaler Tarifverträge, die die Arbeitsvertragsparteien unmittelbar zur Anwendung eines Tarifvertrags zwingt, könnte eine autonome Sozialpartnervereinbarung die Mitglieder der vertragsschließenden Parteien dazu verpflichten, deren Inhalt, soweit einzelstaatliche Verfahren und Gepflogenheiten nicht entgegenstehen, auf der Ebene der Mitgliedstaaten durch den Abschluss eines entsprechenden nationalen Tarifvertrages zur Anwendung zu bringen. In diesem Rahmen hätte die europäische Vereinbarung für die nationalen Sozialpartner dann unmittelbaren und zwingenden Charakter. Sie würde damit zugleich mittelbar auf die Rechte und Pflichten zwischen den Arbeitgebern und 147
A. A.: Kempen/Zachert – Kocher, TVG, § 1, Rn. 719. Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 43. 149 Birk, EuZW 1997, S. 453 (458); ders., FS-Rehbinder, S. 3 (11); Buchner, RdA 1993, S. 193 (201); Lenz/Borchardt – Coen, Art. 139 EGV, Rn. 3; Heinze, ZfA 1997, S. 505 (516); Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 21 f.; Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 139 EGV, Rn. 6; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 43; Hanau/Steinmeyer/Wank – Steinmeyer, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 12, Rn. 128; ders., RdA 2001, S. 10 (20); Mégret – Zorbas, Le droit de la CE et de l’Union Européenne VII, Rn. 33. 150 Sofern im Folgenden von „nationalen Sozialpartnern“ die Rede ist, bezieht sich dies auf diejenigen Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerorganisationen, die einer europäischen Sozialpartnerorganisation als Mitglied angehören. 148
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Arbeitnehmern einwirken, die beiderseits einem umsetzungsverpflichteten nationalen Sozialpartner angehören. Auch eine einseitige Bindung der Arbeitgeberseite nach dem Vorbild des französischen Tarifrechts151 würde ausreichen, um eine Durchführungsverpflichtung der nationalen Sozialpartner der Arbeitgeberseite zu erzeugen, die ebenfalls mittelbar auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse durchschlagen würde.152 aa) Die Durchführungsverpflichtung der nationalen Sozialpartner im Schrifttum In der Literatur wird die Frage, inwieweit die nationalen Sozialpartner nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG zum Abschluss von nationalen Tarifverträgen zur Durchführung einer europäischen Vereinbarung verpflichtet sind, unterschiedlich beantwortet. (1) Die Auffassung der herrschenden Meinung Unter denjenigen Stimmen in Schrifttum, die Vereinbarungen europäischer Sozialpartner als schuldrechtliche Verträge einordnen, herrscht die – zwar in sich stimmige, aber in aller Regel nicht näher begründete – Ansicht vor, dass keine wie auch immer geartete Pflicht der nationalen Mitgliedsverbände besteht, zur Durchführung autonomer Sozialpartnervereinbarungen nationale Tarifverträge abzuschließen.153 Vielmehr sollen sich die europäischen Sozialpartner mit einer zwischen ihnen geschlossenen Vereinbarung lediglich dazu verpflichten, ihre Mitgliedsverbände nach Maßgabe der jeweiligen satzungsmäßigen Möglichkeiten zur Übernahme der europäischen Regelungen in die einzelstaatlichen Tarifverträge zu veranlassen.154
151 Art. L. 135-2 Code du Travail; vgl. dazu Fudickar, Parteiautonome Anknüpfung grenzüberschreitender Tarifverträge in der EU, S. 60. 152 Vgl. Ojeda Avilés, FS-Däubler, S. 519 (539). 153 Birk, FS-Rehbinder, S. 3 (11) [anders hingegen noch in: EuZW 1997, S. 453 (457)]; Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 100; Däubler, EuZW 1992, S. 329 (331); Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 15; Heinze, ZfA 1997, S. 505 (510 f.); Oetker/Preis – Hergenröder, EAS, B 8400, Rn. 48; Konzen, EuZW 1995, S. 39 (47); Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 21; Leidenmühler, WISO 2000, S. 101 (107); Schwarze – Rebhahn, Art. 139 EGV, Rn. 14; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 40; Hanau/Steinmeyer/Wank – Steinmeyer, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 12, Rn. 128; ders., RdA 2001, S. 10 (20); Wiedemann – Thüsing, TVG, § 1, Rn. 128; Weiss, FS-Gnade, S. 583 (593); ders., FS-Kissel, S. 1253 (1264); ders., FS-Wiese, S. 633 (640); Gaitanides/Kadelbach/Iglesias – ders., Europa und seine Verfassung, S. 589 (600); Wisskirchen, FS-Arbeitsgerichtsverband, S. 653 (672 f.). 154 Höland, ZIAS 1995, S. 425 (439 f.); Schnorr, DRdA 1994, S. 193 (197).
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(2) Die Auffassung der Kommission Demgegenüber vertritt die Europäische Kommission schon seit ihrer ersten Mitteilung zum Sozialen Dialog vom 14. Dezember 1993 einen gegenteiligen Standpunkt und nimmt an, dass die betreffenden nationalen Sozialpartner an eine auf der einzelstaatlichen Ebene umzusetzende Vereinbarung gebunden sind: „In the event of negotiations resulting in an agreement that the social partners decide to implement via the voluntary route, the terms of this agreement will bind their members and will affect only them and only in accordance with the practices and procedures specific to them in their respective Member States.“155
Diese Äußerung der Kommission ist bislang im deutschen Schrifttum schlicht unbeachtet geblieben.156 In ihrer jüngsten Mitteilung zum Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene vom 12. August 2004 hält die Kommission nach wie vor daran fest, dass die autonomen Vereinbarungen nach Art. 139 EG im Gegensatz zu den unverbindlichen „prozessorientierten Texten“ der europäischen Sozialpartner bis zu einem bestimmten Datum von den Sozialpartnern in den Einzelstaaten umgesetzt sein müssen.157 Im Gegensatz zur herrschenden Meinung ist denn auch im Schrifttum vereinzelt eine Pflicht der nationalen Sozialpartner zur Durchführung der europäischen Vereinbarungen aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG angenommen worden. Schiek158 ist der Ansicht, dass sich eine solche Durchführungsverpflichtung unmittelbar aus einer europäischen Sozialpartnervereinbarung ergeben könne und verlangt hierfür, dass die betreffenden europäischen Sozialpartner über ein Verhandlungsmandat ihrer Mitglieder verfügen und zu deren rechtsgeschäftlicher Vertretung befugt sind. Thau159 nimmt ebenfalls eine Umsetzungspflicht der nationalen Sozialpartner an, wenn sie in der europäischen Vereinbarung ausdrücklich vorgesehen ist und die nationalen Organisationen dem ausdrücklich zugestimmt haben. Hanau160 vertritt die Auffassung, dass die europäischen Sozialpartner ihre Mitgliedsverbände mit dem Abschluss einer Vereinbarung zu deren Durchführung in den Mitgliedstaaten verpflichten können. Zachert161 kommt zu dem Ergebnis, dass die europäischen Sozialpartner beim Abschluss von Vereinbarungen Durchführungsverpflichtungen für die na155
KOM (93) 600 endg., S. 25 – Hervorhebungen vom Verfasser. Soweit ersichtlich setzt sich lediglich Ojeda Avilés (in: FS-Däubler, S. 519, 523) mit der Rechtsauffassung der Kommission auseinander. 157 KOM (2004) 557 endg., S. 8. 158 In: Däubler, TVG, Einleitung, Rn. 793. 159 In: AGVBanken, Tarifpolitik auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft, S. 82 (88). 160 In: Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 19, Rn. 17. 161 In: FS-Schaub, S. 811 (819). 156
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tionalen Mitgliedsverbände vorsehen können. Schließlich vertritt Kocher162 die Ansicht, dass europäische Sozialpartnervereinbarungen die innerstaatlichen Sozialpartner obligatorisch verpflichten können. (3) Durchführungsverpflichtungen nach der Satzung der europäischen Sozialpartner Eine im Vordringen befindliche Ansicht nimmt hingegen an, dass die nationalen Sozialpartner jedenfalls im Innenverhältnis zu der europäischen Sozialpartnerorganisation, der sie angehören, zur Umsetzung der europäischen Vereinbarung auf nationaler Ebene verpflichtet sind, wenn nach der Satzung der europäischen Sozialpartnerorganisation eine Pflicht ihrer Mitglieder zur Durchführung der europäischen Vereinbarungen besteht.163 Unter dieser Voraussetzung würden die autonomen Sozialpartnervereinbarungen ebenfalls über die Verpflichtung der mitgliedstaatlichen Sozialpartner zum Tarifschluss mittelbar auf die arbeitsvertraglichen Rechtsbeziehungen einwirken.164 Dabei wird im Ansatz zutreffend danach gefragt, woraus sich die Befugnis der europäischen Sozialpartner ergeben soll, durch den Abschluss von Vereinbarungen ihre Mitglieder rechtlich zu binden. Die dafür aufgestellte Voraussetzung einer satzungsmäßigen Ermächtigung der europäischen Sozialpartner ist allerdings nichts anderes, als eine Projektion der in Deutschland geltenden Rechtslage auf die Bestimmung des Art. 139 EG. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts setzt die Tariffähigkeit voraus, dass sich die jeweilige Arbeitgeber- oder Arbeitnehmervereinigung den Abschluss von Tarifverträgen zur satzungsmäßigen Aufgabe gemacht hat.165 Nach der in Deutschland vorherrschenden Auffassung wird die tarifliche Rechtssetzungsbefugnis daher aus der Verbandszugehörigkeit der Arbeitgeber und Arbeitnehmer abgeleitet.166 Das ist indes nicht in allen europäischen Mitgliedstaaten der Fall. In anderen Mitgliedstaaten wird die Befugnis zur tariflichen Rechtssetzung nicht
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In: Kempen/Zachert, TVG, § 1, Rn. 718. Balze, Die sozialpolitischen Kompetenzen der Europäischen Union, S. 271; Blanpain, European Labour Law, Rn. 1032; Blanpain/Schmidt/Schweibert, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 519 f.; Hailbronner/Wilms – Boecken, Art. 139 EGV, Rn. 17; Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 15; Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 81; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 41; vgl. auch Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 21. 164 Jedoch verfügt soweit ersichtlich derzeit keine europäische Sozialpartnerorganisation über eine satzungsmäßige Ermächtigung zum Abschluss von Vereinbarungen. 165 BAGE 49, 322 (330); 53, 347 (355). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 58, 233, 247) setzt die Ausübung der verfassungsrechtlichen Tarifautonomie ebenfalls voraus, dass die jeweiligen Koalitionen das geltende Tarifrecht als für sich verbindlich anerkennen. 166 Vgl. statt aller: Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 70. 163
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aus der Verbandszugehörigkeit, sondern aus gänzlich anderen privatrechtlichen Konstruktionen hergeleitet. Beispielsweise wird sie in Italien nach der dort anerkannten Lehre mit einem der jeweiligen Vereinigung erteilten Auftrag (so genannte „teoria dil mandato“) und von der britischen Gerichtsbarkeit mit einer Stellvertretung der betreffenden Arbeitsvertragspartei (so genannte „agency“) begründet.167 Da sich die Begründungen für die Befugnis zum Tarifschluss in den Mitgliedstaaten voneinander unterscheiden, kann man nicht eine einzelne auf Art. 139 Abs. 2 EG übertragen. Da die Durchführungsverpflichtung der nationalen Sozialpartner aber auch nicht unmittelbar aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG hergeleitet werden kann,168 muss es insoweit genügen, wenn der Abschluss auf der europäischen Ebene auf einen Willensakt der nationalen Mitglieder eines europäischen Sozialpartners zurückgeführt werden kann.169 In der Praxis des Sozialen Dialogs nehmen die europäischen Sozialpartner nach ihren jeweiligen Satzungen die sich aus den Art. 138 und 139 EG ergebenden Rechte wahr. Gemäß Art. 3 der Satzung des CEEP vom 24. November 1994 nimmt beispielsweise der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft sämtliche Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit seinem Status als Sozialpartner wahr und baut die Zusammenarbeit mit anderen europäischen Sozialpartnern aus.170 Gemäß der Satzung vom 29. November 1996 hat UNICE die Aufgabe, ihre Mitglieder im Dialog der Sozialpartner zu vertreten.171 Der EGB richtet seine Aktivitäten nach der Präambel seiner Satzung vom Mai 1995 auf die europäischen Arbeitgeberorganisationen aus, um über den Sozialen Dialog und Verhandlungen dauerhafte soziale Beziehungen auf europäischer Ebene herzustellen.172 Allerdings verfügt keine der genannten Organisationen über eine allgemeine, satzungsmäßige Befugnis zum Abschluss von Vereinbarungen. Hierfür ist in den Satzungen von UNICE, CEEP und EGB eine Ermächtigung seitens ihrer Mitglieder vorgesehen.173 UNICE wurde von ihren Mitgliedern bereits 1992 das grundsätzliche Recht erteilt, auf europäischer Ebene Verhandlungen zu führen. Vor der Aufnahme von Verhandlungen ist aber in jedem Einzelfall vom Rat der Präsidenten die Erteilung eines Verhandlungs167
Ojeda Avilés, FS-Däubler, S. 519 (528 f.). A. A.: Wiedemann – Wiedemann, TVG, (6. Aufl.), § 1, Rn. 105. 169 Der von Schiek (in: Däubler, TVG, Einleitung, Rn. 793) vorgenommenen Kumulation nationaler Erfordernisse ist nicht zu folgen, weil nicht ersichtlich ist, warum eine zweifache Ermächtigung des europäischen Verbandes durch Erteilung einer Vollmacht und eines zusätzlichen Verhandlungsmandats erforderlich sein sollte. 170 Vgl. UCL-IST, Bericht über die Repräsentativität der Verbände der europäischen Sozialpartner, Erster Teil, 1999, S. 35. 171 Vgl. UCL-IST, Bericht über die Repräsentativität der Verbände der europäischen Sozialpartner, Erster Teil, 1999, S. 40. 172 Vgl. UCL-IST, Bericht über die Repräsentativität der Verbände der europäischen Sozialpartner, Erster Teil, 1999, S. 47. 173 Vgl. Hailbronner/Wilms – Boecken, Art. 138 EGV, Rn. 28. 168
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mandats erforderlich.174 Entscheidet sich dieses ranghöchste und aus den Präsidenten der einzelnen Mitgliedsverbände von UNICE bestehende Gremium für die Aufnahme von Verhandlungen, stellt das UNICE-Sekretariat ein Team zusammen, das in enger Abstimmung mit den Mitgliedern von UNICE die Verhandlungen führt.175 Dem CEEP wird seit 1996 das Mandat zur Aufnahme von Sozialpartnerverhandlungen auf der europäischen Ebene von der Mehrheit der Mitglieder der CEEP-Generalversammlung erteilt.176 Jedes Verhandlungsergebnis muss ebenfalls von den Mitgliedern des CEEP gebilligt werden.177 Nach der Satzung des EGB entscheidet der Exekutivausschuss mit einer 2/3-Mehrheit über die Erteilung eines Verhandlungsmandats sowie über dessen Reichweite und die konkreten Verhandlungsergebnisse.178 Mit einem Verhandlungsmandat wird also der jeweilige europäische Sozialpartnerverband von seinen Mitgliedern ermächtigt, eine Vereinbarung im Sinne des Art. 139 EG abzuschließen. Einigen sich die Verhandlungsparteien darauf, dass eine zwischen ihnen geschlossene Vereinbarung rechtlich bindend sein soll, richtet sich deren Durchführung, ohne dass es hierfür einer besonderen Abrede bedürfen würde, nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG.179 Das von den europäischen Sozialpartnern praktizierte Verfahren ist ohne weiteres dazu geeignet, Durchführungspflichten der nationalen Sozialpartner nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG zu erzeugen. Im Gegensatz zu den Stimmen im deutschen Schrifttum, die hierfür eine satzungsmäßige Ermächtigung der europäischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen verlangen, reicht es aus, dass die jeweilige Satzung der europäischen Sozialpartner ein Verfahren vorsieht, mit dem die einzelnen Mitglieder die europäische Sozialpartnervereinigung zu Verhandlungen über ein bestimmtes Thema bzw. zum Abschluss einer bestimmten Vereinbarung ermächtigen können. Der Unterschied zwischen der im Schrifttum geforderten generellen Verhandlungsermächtigung in der jeweiligen Satzung und der Erteilung eines konkreten Verhandlungsmandats aufgrund eines in der jeweiligen Satzung vorgesehenen Verfahrens ist ausschließlich formaler Natur. Er kann innerhalb des Ermessensspielraums, der bei der Ausgestaltung kollektiver Verhandlungssysteme und des Grundrechts aus Art. 28 Var. 1 GRC besteht, keine Rolle spielen.
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Hartenberger, Europäischer sozialer Dialog nach Maastricht, S. 161. Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 51. 176 Hartenberger, Europäischer sozialer Dialog nach Maastricht, S. 163. 177 Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 53. 178 Hartenberger, Europäischer sozialer Dialog nach Maastricht, S. 166; Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 56. 179 Selbstverständlich können sich die europäischen Sozialpartner über die Unverbindlichkeit einer zwischen ihnen geschlossenen Vereinbarung einigen. Dabei handelt es sich dann um unverbindliche Empfehlungen, Stellungnahmen oder Leitlinien; vgl. KOM (2004) 557 endg., Anhang 3, S. 22. 175
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Zudem ist zu bedenken, dass mehrere der europäischen Sozialpartner – UNICE stellt insoweit das prominenteste Beispiel dar – die verbandsinterne Abstimmung über den Abschluss einer Vereinbarung nach ihrer Satzung nur einstimmig treffen können.180 Daran wird deutlich, dass es keiner allgemeinen satzungsmäßigen Ermächtigung eines europäischen Sozialpartners zum Abschluss von Vereinbarungen bedarf, um eine Durchführungspflicht der nationalen Sozialpartner aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG anzunehmen. In diesem Fall haben nämlich alle einzelstaatlichen Mitglieder der europäischen Sozialpartnerorganisation dem Abschluss der Vereinbarung zugestimmt. bb) Die Auslegung des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG Damit kommt es für die Annahme einer Verpflichtung der nationalen Sozialpartner zur Durchführung einer autonomen Vereinbarung jedenfalls nicht auf eine satzungsmäßige Ermächtigung der europäischen Sozialpartner zum Abschluss von Vereinbarungen an. Deshalb ist im Folgenden danach zu fragen, ob sich entgegen der herrschenden Meinung im Schrifttum aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG eine solche Verpflichtung der nationalen Sozialpartner ergibt. (1) Der Wortlaut des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG Eine Durchführungspflicht lässt sich zunächst ohne weiteres dem Wortlaut des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG entnehmen. Aus der indikativischen Formulierung des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG, nach welcher die Durchführung der auf Gemeinschaftsebene geschlossenen Vereinbarungen nach den jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner „erfolgt“, ergibt sich eine Pflicht zur Umsetzung der Vereinbarung auf der nationalen Ebene. Im englischen Wortlaut des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG folgt dies aus der Verwendung des eine Pflicht ausdrückenden Verbs „shall“: „Agreements concluded at Community level shall be implemented (. . .) in accordance with the procedures and practices specific to management and labour and the Member States (. . .).“181
Nach dem Wortlaut des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG ist die Umsetzung der europäischen Sozialpartnervereinbarung auf nationaler Ebene daher, worauf die Kommission zu Recht hingewiesen hat, zwingend.182
180 Vgl. Hartenberger, Europäischer sozialer Dialog nach Maastricht, S. 160; Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 14; Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 50 f. 181 Hervorhebungen vom Verfasser. 182 KOM (2004) 557 endg., S. 17; zweifelnd hingegen: Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 40.
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Aus einem Vergleich mit den sonstigen Durchführungsmöglichkeiten, die in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG für europäische Sozialpartnervereinbarungen vorgesehen sind, geht die Durchführungsverpflichtung der Sozialpartner ebenfalls hervor. Der Freiwilligkeitsvorbehalt für eine Durchführung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG ergibt sich aus den für die Abstimmung im Rat vorgeschriebenen Mehrheitserfordernissen. Aus ihnen folgt, dass der Rat durch den Antrag der Unterzeichnerparteien nicht zur Umsetzung ihrer Vereinbarung verpflichtet sein kann. Für die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber ergibt sich dieselbe Konsequenz aus der Erklärung der Regierungsvertreter zu Art. 4 Abs. 2 ASP. Dass aber ein vergleichbarer Freiwilligkeitsvorbehalt für die Sozialpartner existiert, geht aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG nicht hervor. Folglich muss sich die aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG resultierende Umsetzungsverpflichtung gegen die Sozialpartner richten. Insoweit spricht Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG im Gegensatz zu Art. 139 Abs. 1 EG aber nicht nur von den „Sozialpartnern auf Gemeinschaftsebene“, sondern umfassend von „den Sozialpartnern“ und bezieht sich damit sowohl auf die europäischen als auch auf die nationalen Sozialpartner.183 Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG wendet sich sogar vornehmlich an die nationalen Sozialpartner, weil die Durchführung einer europäischen Sozialpartnervereinbarung auf der nationalen Ebene nicht den europäischen Sozialpartnern obliegen kann. Die europäischen Sozialpartner verfügen nämlich nicht über eigene Verfahren und Gepflogenheiten im Sinne des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG, mittels derer sie eine zwischen ihnen geschlossene Vereinbarung durchführen könnten.184 Deswegen sind bei der Durchführung autonomer Sozialpartnervereinbarungen die nationalen Sozialpartner die Adressaten der Durchführungsverpflichtung aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG.185 (2) Die systematische Auslegung des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG Eine Durchführungspflicht der nationalen Sozialpartner ergibt sich auch aus einem Vergleich mit der Wirkung eines Ratsbeschlusses nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG. Wird eine europäische Sozialpartnervereinbarung durch einen Beschluss des Rates auf der europäischen Ebene als Richtlinie erlassen, sind die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber nach Art. 249, 10 EG zur Implementierung des Vereinbarungsinhalts in das nationale Recht verpflichtet. Dementsprechend müssen die nationalen Mitgliedsverbände zur Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung rechtlich verpflichtet sein, wenn die Umsetzung nach 183
Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 803. Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 101; Buchner, RdA 1993, S. 193 (200); Steinmeyer, RdA 2001, S. 10 (20). 185 Vgl. Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 15. 184
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Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG auf der Ebene der Mitgliedstaaten erfolgen soll.186 Dass die nationalen Sozialpartner nach dem Gemeinschaftsvertrag zum Abschluss von Tarifverträgen verpflichtet sein können, zeigt zudem Art. 137 Abs. 3 EG, nach dem die Umsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien den Sozialpartnern in den Mitgliedstaaten überlassen werden kann. Die „Durchführung“ von Sozialpartnervereinbarungen nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG entspricht insoweit wörtlich der „Durchführung“ europäischer Richtlinien durch einzelstaatliche Tarifverträge nach Art. 137 Abs. 3 EG.187 Da die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung autonomer Sozialpartnervereinbarungen aber im Gegensatz zum Fall des Art. 137 Abs. 3 EG keine Garantenstellung trifft, müssen folglich die nationalen Sozialpartner zur Umsetzung der europäischen Vereinbarung verpflichtet sein. Das Verständnis der herrschenden Meinung, nach welcher die auf mitgliedstaatlicher Ebene durchzuführenden Sozialpartnervereinbarungen nicht mehr als unverbindliche Absichtserklärungen darstellen, verstößt darüber hinaus gegen elementare Auslegungsprinzipien, weil es die Vorschrift des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG überflüssig werden lässt.188 Für die Abgabe unverbindlicher Appelle an die nationalen Sozialpartner bedarf es keiner Rechtsgrundlage im EG-Vertrag.189 Zu einer Auslegung des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG, die dazu führt, dass die Bestimmung keine praktische Wirksamkeit hat, darf man aus Respekt vor dem Normgeber erst kommen, wenn jede andere Auslegungsmöglichkeit ausgeschlossen ist. (3) Die historische Auslegung des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG Entgegen der Ansicht von Schnorr190, nach der sich die Unverbindlichkeit der Vereinbarungen aus der Erklärung der Regierungsvertreter zu Art. 4 Abs. 2 ASP ergeben soll, haben die Regierungsvertreter mit dieser Erklärung lediglich klargestellt, dass die Mitgliedstaaten nicht aus Art. 139 Abs. 2 EG zur Durchführung von Sozialpartnervereinbarungen verpflichtet sind. Ganz im Gegenteil sind sie in der genannten Erklärung sogar davon ausgegangen, dass der Inhalt der europäischen Sozialpartnervereinbarungen in nationalen Tarifverhandlungen
186 Vgl. Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 251 [„Prinzip der qualitativen Äquivalenz beider Durchführungsalternativen“ des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG]. 187 Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 117. 188 Diesen Schluss will Birk (in: FS-Rehbinder, S. 3, 11) tatsächlich ziehen; ebenso: Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 102; Oetker/ Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 43; Weiss, FS-Gnade, S. 583 (593). 189 So zu Recht: Kempen/Zachert – Kocher, TVG, § 1, Rn. 718. 190 In: DRdA 1994, S. 193 (197); ebenso: Leidenmühler, WISO 2000, S. 101 (107).
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erarbeitet wird. Das spricht mehr für denn gegen eine Verpflichtung der nationalen Sozialpartner zur Umsetzung autonomer Sozialpartnervereinbarungen. R. Schwarze191 lehnt dies hingegen mit der Begründung ab, dass es dem Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers widerspreche, den nationalen Sozialpartnern aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG eine Umsetzungsverpflichtung aufzuerlegen. Im Vorfeld des Vertrages von Maastricht habe man sich gerade nicht zur Schaffung eines europäischen Tarifvertrages entschließen können. Dabei unterstellt R. Schwarze jedoch im Widerspruch zum Wortlaut des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG und zu seinen eigenen Ausführungen, dass die Durchführung der auf europäischer Ebene geschlossenen Vereinbarungen in den Mitgliedstaaten keinem nationalen Vorbehalt unterläge.192 Zudem sah Art. 139 Abs. 1 EG nach dem gemeinsamen Vorschlag der europäischen Sozialpartner vom 31. Oktober 1991, auf den die Regelung in Art. 139 EG im Wesentlichen zurückgeht, jedenfalls in seinem deutschen Wortlaut ausdrücklich die Möglichkeit zur Herstellung „tarifvertraglicher Beziehungen“ auf der Gemeinschaftsebene vor.193 Obwohl der Wortlaut des Art. 139 Abs. 1 EG insofern abgeändert wurde, als dass dort nur noch von „vertraglichen Beziehungen“ die Rede ist, hat sich zwischen dem Sozialpartnervorschlag zu Art. 139 Abs. 2 EG und der Fassung, die tatsächlich Eingang in den EG-Vertrag gefunden hat, keine Änderung in der Sache ergeben. Damit sollte Art. 139 Abs. 2 EG nach der Vorstellung der Sozialpartner auf tarifvertragliche Beziehungen Anwendung finden und ist daher nach seiner Entstehungsgeschichte auf tarifvertragliche Beziehungen auf der Gemeinschaftsebene zugeschnitten.194 Dem weiteren von R. Schwarze195 vorgebrachten Argument, eine staatlich verordnete Umsetzungspflicht der nationalen Mitgliedsverbände aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG widerspreche dem „autonomen Wesen der Sozialpartnerschaft“, ist zu entgegnen, dass die Begründung der Durchführungsverpflichtung von einer entsprechenden Ermächtigung der europäischen Sozialpartner seitens ihrer jeweiligen Mitglieder abhängt. Der Abschluss auf der europäischen Ebene ist daher auf den autonomen Willen der mitgliedstaatlichen Sozialpartner und die ebenso autonome Einigung der europäischen Sozialpartner zurückzuführen. Eine Auslegung des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG, die zur Unverbindlichkeit der Sozialpartnervereinbarungen führt, die auf der Ebene der Mitglied191
In: Oetker/Preis, EAS, B 8100, Rn. 40. An anderer Stelle führt R. Schwarze (in: Oetker/Preis, EAS, B 8100, Rn. 29, 39) zutreffend aus, dass die nationalen Arbeitsordnungen über die Umsetzbarkeit der europäischen Vereinbarungen entscheiden und die nationalen Sozialpartner die europäischen Vereinbarungen nur nach Maßgabe ihrer einzelstaatlichen Handlungsmöglichkeiten umsetzen können. 193 Vgl. Heinze, ZfA 1997, S. 505 (508). 194 Vgl. Coen, BB 1992, S. 2068 (2070). 195 In: Oetker/Preis, EAS, B 8100, Rn. 40. 192
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staaten umgesetzt werden sollen, läuft dem „Wesen der Sozialpartnerschaft“ um ein Vielfaches mehr zuwider als die Annahme, die mitgliedstaatlichen Sozialpartner seien zur Durchführung der Vereinbarungen verpflichtet. Da sie jedenfalls der Aufnahme von Verhandlungen zugestimmt haben, ist es nur konsequent, sie auch an deren Ergebnis für gebunden zu halten. Andernfalls würde das gegenseitige Vertrauen der europäischen Sozialpartner darauf, dass die zwischen ihnen geschlossene Vereinbarung auf der Ebene der Mitgliedstaaten effektiv umgesetzt wird, enttäuscht. (4) Die Sperrwirkung autonomer Sozialpartnervereinbarungen Wenn man die Wirkung, die eine Einigung der europäischen Partner nach Art. 139 Abs. 1 EG auf der europäischen Ebene erzeugt, berücksichtigt, sprechen zudem gewichtige teleologische Erwägungen für eine Durchführungsverpflichtung der nationalen Sozialpartner aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG. Auf der Grundlage einer Mitteilung nach Art. 138 Abs. 4 EG eingeleitete Verhandlungen der europäischen Sozialpartner unterbrechen das Rechtssetzungsverfahren der Gemeinschaft, und der Abschluss einer europäischen Sozialpartnervereinbarung schließt darüber hinaus die Fortführung des unterbrochenen ebenso wie die Einleitung eines neuen Rechtssetzungsverfahrens der Gemeinschaft zum gleichen Thema grundsätzlich aus.196 Daraus folgt insbesondere, dass die Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG den Erlass eines Gemeinschaftsrechtsakts ersetzt.197 Denn den europäischen Sozialpartnern steht es frei, sich nach der Übernahme des gemeinschaftlichen Rechtssetzungsverfahrens für die Durchführung einer zwischen ihnen geschlossenen Vereinbarung auf der Ebene der Mitgliedstaaten zu entscheiden.198 Als funktionales Äquivalent eines Rechtsakts der Gemeinschaft darf sich 196
Vgl. § 7 I. 4. und § 7 III. 3. c). Birk, EuZW 1997, S. 453 (459); Buchner, RdA 1993, S. 193 (201); ZEW – Tegtmeier, Der Soziale Dialog in Europa S. 13 (23). 198 Krebber (in: Calliess/Ruffert, Art. 139 EGV, Rn. 19) und wohl auch Waas (in: ZESAR 2004, S. 443, 448) nehmen hingegen an, dass die europäischen Sozialpartner in den Fällen des Art. 138 Abs. 4 EG eine zwischen ihnen geschlossene Vereinbarung nur auf der europäischen Ebene durchführen lassen können; ähnlich: Weiss, FS-Gnade, S. 583 (594); zu Recht a. A.: Heinze, ZfA 1997, S. 505 (515). Eine solche Einschränkung lässt sich Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG nicht entnehmen. Zudem widerspricht es dem Sinn des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG, die europäischen Sozialpartner zur Stellung eines Antrags auf Durchführung einer zwischen ihnen geschlossenen Vereinbarung durch einen Beschluss des Rates für verpflichtet zu halten. Aus dem Antragserfordernis in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG geht vielmehr hervor, dass die Durchführung einer Vereinbarung auf der Gemeinschaftsebene vom freien Willen der Unterzeichnerparteien abhängen soll. Ebenfalls abzulehnen ist die Auffassung von Schnorr (in: DRdA 1994, S. 193, 194), nach der sogar alle Vereinbarungen zu den in Art. 137 EG erfassten Bereichen auf der Gemeinschaftsebene durchgeführt werden müssen und nur darüber hinausgehende Ver197
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
eine autonome Sozialpartnervereinbarung daher hinsichtlich ihrer rechtlichen Verbindlichkeit gegenüber den nationalen Sozialpartnern nicht von der Wirkung einer Gemeinschaftsrichtlinie auf die Mitgliedstaaten unterscheiden.199 Bereits die Hemmung des gemeinschaftlichen Rechtssetzungsverfahrens kann nur hingenommen werden, wenn eine am Ende von Sozialpartnerverhandlungen stehende Vereinbarung zu rechtsverbindlichen Ergebnissen führt.200 Völlig zu Recht ist die Kommission in diesem Zusammenhang der Auffassung, dass bei der Durchführung einer europäischen Sozialpartnervereinbarung auf der mitgliedstaatlichen Ebene insbesondere dann eine effektive Umsetzung gewährleistet sein muss, wenn die europäischen Sozialpartner im Anschluss an eine Anhörung gemäß Art. 138 Abs. 4 EG in Verbindung mit Art. 139 Abs. 1 EG eine Vereinbarung abgeschlossen und damit eine gemeinschaftliche Rechtssetzung verhindert haben.201 Demnach kann die Umsetzung einer autonomen Sozialpartnervereinbarung nicht im Belieben der nationalen Sozialpartner stehen. Stünde die Durchführung der europäischen Vereinbarung zur Disposition der nationalen Mitgliedsverbände, wäre diese Durchführungsmodalität zur Verfolgung der Zwecke europäischer Sozialpolitik unbrauchbar und es ist kein Grund dafür ersichtlich, warum eine unverbindliche Empfehlung der europäischen Sozialpartner an ihre Mitglieder, die Rechtssetzungszuständigkeit der Kommission beschränken sollte. Die lediglich reale Umsetzungschance, die eine nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG durchzuführende Sozialpartnervereinbarung nach der herrschenden Meinung zukommen soll,202 rechtfertigt diese massiv in das Organisationsgefüge der Gemeinschaft eingreifende Rechtsfolge jedenfalls nicht. (5) Die Erteilung des Verhandlungsmandats Nach der Praxis der europäischen Sozialpartner setzt die Aufnahme von Verhandlungen nach Art. 139 Abs. 1 EG die Erteilung eines besonderen Mandats seitens der einzelstaatlichen Mitglieder der europäischen Sozialpartnerorganisationen voraus.203 Dieses Verfahren weist ebenfalls darauf hin, dass mit dem Abeinbarungen einer Durchführung auf der Ebene der Mitgliedstaaten zugänglich sein sollen. Diese Annahme findet ebenfalls keine Stütze in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG, der die Durchführung der Vereinbarung entweder auf der mitgliedstaatlichen oder der europäischen Ebene vorsieht und die Entscheidung hierüber den Unterzeichnerparteien überlässt. 199 Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 248; Kempen/Zachert – Kocher, TVG, § 1, Rn. 718; vgl. auch Buchner, RdA 1993, S. 193 (201); anscheinend a. A.: Konzen, EuZW 1995, S. 39 (47). 200 Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 775. 201 KOM (2002) 341 endg., S. 21; KOM (2004) 557 endg., S. 17; vgl. auch Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 182. 202 So etwa: Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 28.
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schluss einer Vereinbarung und ihrer Durchführung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 GRC Rechtspflichten für die einzelstaatlichen Mitglieder der vereinbarungsschließenden Parteien verbunden sind. Ginge man mit der herrschenden Meinung davon aus, dass eine Sozialpartnervereinbarung nur aufgrund eines Ratsbeschlusses nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG rechtliche Wirkungen gegenüber Dritten entfalten könne, müssten sich die nationalen Mitgliedsverbände europäischer Sozialpartner lediglich das satzungsmäßige Recht vorbehalten, über die Beantragung eines Ratsbeschlusses nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG zu entscheiden. Für die Erteilung eines besonderen Verhandlungsmandats bestünde kein Anlass, wenn die aus diesen Verhandlungen hervorgehenden Vereinbarungen nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG keine Pflichten für die nationalen Sozialpartner begründen würden. Dass die europäischen Sozialpartner von ihrem Mitgliedern aber kein Antragsmandat für die Durchführung einer Vereinbarung auf der europäischen Ebene, sondern ein Verhandlungsmandat für den Abschluss jeglicher Vereinbarung nach Art. 139 EG benötigen, zeigt, dass bei autonomen Vereinbarungen auf der nationalen Ebene Umsetzungspflichten der nationalen Sozialpartner entstehen. (6) Die Umsetzungsverpflichtung der mitgliedstaatlichen Sozialpartner in der Praxis Die im Schrifttum mehrheitlich vertretene Meinung ist schließlich vor dem Hintergrund der Handhabung autonomer Sozialpartnervereinbarungen in der Praxis als überholt anzusehen. Die ersten Vereinbarungen, die zwischen europäischen Sozialpartnern nach Art. 139 Abs. 1 EG geschlossen wurden und auf der Ebene der Mitgliedstaaten umgesetzt werden sollten, waren in der Tat nicht mehr als unverbindliche Stellungnahmen ohne Bindungswirkung für die nationalen Sozialpartner. Eine der ersten in diese Kategorie fallende Vereinbarung europäischer Sozialpartner ist die am 24. Juli 1997 zwischen dem Zusammenschluss der Arbeitgeber der Berufsständischen Landwirtschaftlichen Organisationen in der Europäischen Union (GEOPA/COPA) und der Europäischen Föderation der Gewerkschaften des Agrarsektors (EFA/EGB) geschlossene Rahmenvereinbarung zur Verbesserung der entlohnten Beschäftigung in der Landwirtschaft in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.204 Die durchweg als Rahmenempfehlung ausgestaltete Vereinbarung hat nur proklamatorischen Charakter.205 Obwohl die Unterzeich203
Siehe dazu: § 7 IV. 2. c) aa) (3). Abrufbar auf der Internetseite der Kommission zum Sozialen Dialog (europa. eu.int/comm/employment_social/social_dialogue/index_de.htm). 205 Anscheinend a. A.: Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 18. Dem Umstand, dass im deutschen Wortlaut der Vereinbarung von einem „europäischen Rahmentarifvertrag“ die Rede ist, hat keine Bedeutung, da nur die französische 204
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nerparteien in Ziffer 17 den Paritätischen Ausschuss für die sozialen Probleme der Arbeitnehmer zu einer regelmäßigen Überprüfung, inwieweit die Vereinbarung in den Mitgliedstaaten umgesetzt wird, aufgerufen haben, enthält die Vereinbarung keinen Hinweis auf eine Durchführungsverpflichtung der mitgliedstaatlichen Sozialpartner. Die in der Folgezeit geschlossenen Sozialpartnervereinbarungen lassen ebenfalls keinen Schluss auf eine Durchführungsverpflichtung der nationalen Mitgliedsverbände zu. Hierfür lassen sich zum Beispiel die Vereinbarung der Sozialpartner des Postsektors über die Beschäftigungsförderung im europäischen Postsektor vom 1. Juni 1998, die zwischen dem Europäischen Verband der Telekommunikationsbetreiber (ETNO) und Union Network International-Europa (UNI-Europa) vereinbarten Leitlinien für Telearbeit in Europa vom 7. Februar 2001 und die zwischen EuroCommerce und UNI-Europa am 26. April 2001 geschlossene Europäische Rahmenvereinbarung über Leitlinien zur Telearbeit im Handel nennen.206 Mit der am 12. Juli 2002 geschlossenen Rahmenvereinbarung über Telearbeit207 ist dann aber zwischen der UNICE/UEAPME, dem CEEP und dem EGB erstmals eine autonome Sozialpartnervereinbarung abgeschlossen worden, die nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG die jeweiligen Mitgliedsverbände zur Durchführung verpflichtet.208 Unter Ziffer 12 der Rahmenvereinbarung verweisen die vertragsschließenden Parteien auf die zwingende Durchführung der Vereinbarung nach Art. 139 EG und gehen davon aus, dass sie innerhalb von drei Jahren von den jeweiligen Mitgliedsverbänden der Sozialpartner nach den spezifischen Verfahren und Gepflogenheiten in den Mitgliedstaaten umgesetzt wird.209 Sofern die verpflichtende Wirkung der Vereinbarung nach dem deutschen Wortlaut bezweifelt werden könnte, geht sie aus der englischen Fassung der Vereinbarung, in der das Verb „shall“ verwendet wird, unzweifelhaft her-
Originalfassung der Vereinbarung rechtsgültig ist und in dieser der Ausdruck „cadre conventionel européen“ verwendet wird, was gleichbedeutend mit „europäische Rahmenvereinbarung“ ist. 206 Vgl. von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 139 EG, Rn. 37. Eine weitergehende Zusammenstellung der bislang abgeschlossenen Vereinbarungen findet sich bei: KOM (2004) 557 endg., S. 19. 207 Der Wortlaut der Vereinbarung wird wiedergegeben bei: Prinz, NZA 2002, S. 1268. 208 Kempen/Zachert – Kocher, TVG, § 1, Rn. 718; vgl. auch Lörcher, NZA 2003, S. 184 (192); a. A.: Gaitanides/Kadelbach/Iglesias – Weiss, Europa und seine Verfassung, S. 589 (600). 209 Ziffer 12 Abs. 1 der Rahmenvereinbarung über Telearbeit lautet: „Diese europäische Rahmenvereinbarung wird im Hinblick auf Art. 139 des Vertrages von den Mitgliedern von UNICE/UEAPME, CEEP und EGB (und des EUROCADRES-CEC-Verbindungsausschusses) entsprechend den spezifischen Verfahren und Gepflogenheiten in den Mitgliedstaaten umgesetzt.“
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vor.210 In seinen Anmerkungen zu der Vereinbarung vom 12. Juli 2002 hat der EGB darauf hingewiesen, dass er von einer Umsetzungsverpflichtung der nationalen Sozialpartner ausgeht.211 Bemerkenswert an der Vereinbarung ist zudem, dass sie nicht nur eine Durchführungsverpflichtung für die nationalen Sozialpartner begründet, sondern diese Pflicht aus der Bestimmung des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG herleitet.212 Zudem überwachen und kontrollieren die europäischen Sozialpartner den Umsetzungsprozess mittels der eigens zu diesem Zweck eingesetzten so genannten Ad-hoc-Gruppe, der die mitgliedstaatlichen Verbände Bericht über den Stand der Umsetzungsbemühungen zu erstatten haben.213 Da sich die mitgliedstaatlichen Sozialpartner darüber hinaus mit Fragen zum Inhalt der Vereinbarung an die unterzeichnenden Parteien wenden können,214 erinnert das sozialpartnerschaftliche Durchführungsverfahren nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG insgesamt an die einzelstaatliche Umsetzung europäischer Richtlinien in das nationale Recht. Die Europäische Transportarbeiter-Föderation (ETF) und die Gemeinschaft der Europäischen Bahnen (CER) sind dem Beispiel der branchenübergreifenden europäischen Sozialpartner gefolgt und haben am 27. Januar 2004 eine Vereinbarung über eine europäische Fahrerlaubnis für Zugführer in grenzüberschreitenden interoperablen Verkehrsdiensten geschlossen. Darin ist eine dem französischen Tarifvertragsrecht entsprechende215 einseitige Bindung der Arbeitgeberunternehmen an die Vereinbarung vorgesehen, die die Mitglieder der CER zur Umsetzung der Vereinbarung verpflichtet.216 Dabei gehören der CER insgesamt 45 Bahn- und Infrastrukturunternehmern an,217 die sämtlich wie etwa die Société Nationale des Chemins der Fer Francais (SNCF), das nationale polnische Bahnunternehmen PKP (Polskie Koleje Pañstwowe) oder die Deutsche Bahn 210 In der englischen Fassung lautet die Bestimmung: „In the context of article 139 of the Treaty, this European framework agreement shall be implemented by the members of UNICE/UEAPME, CEEP and ETUC (and the liaison committee EUROCADRES/CEC) in accordance with the procedures and practices specific to management and labour in the Member states.“ 211 ETUC, Voluntary agreement on telework, S. 26: „There really is an obligation to get results in the implementation of the principles set out in the European framework agreement even if the implementation will take place according to procedures and practices in the Member States (. . .).“ 212 Kempen/Zachert – Kocher, TVG, § 1, Rn. 718; vgl. auch Lörcher, NZA 2003, S. 184 (192). 213 Vgl. Ziffer 12 Abs. 3 der Rahmenvereinbarung über Telearbeit. 214 Ziffer 12 Abs. 4 der Rahmenvereinbarung über Telearbeit. 215 Vgl. Art. L. 135-2 Code du Travail. 216 „L’accord sera mis en œuvre par les compagnies membres de la CER dans l’attente d’une directive européenne.“, heißt es in der französischen Originalfassung der Vereinbarung bzw. „The agreement shall be implemented by CER-affiliated companies pending a European Directive.“ in der englischen Version. 217 Vgl. den Internetauftritt der CER (www.cer.be).
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AG unmittelbar in der ein oder anderen Weise kollektive Verhandlungen in den Mitgliedstaaten führen.218 Daher werden die Mitglieder der CER durch die europäische Vereinbarung dazu verpflichtet, deren Inhalt durch den Abschluss von Tarifverträgen oder gegebenenfalls durch den Erlass einseitiger Dienstanweisungen innerstaatlich zur Anwendung zu bringen.219 Das dritte und jüngste Beispiel einer die nationalen Mitgliedsverbände zur Durchführung verpflichtenden Sozialpartnervereinbarung stellt die am 8. Oktober 2004 zwischen der UNICE/UEAPME, dem CEEP und dem EGB abgeschlossene Rahmenvereinbarung über arbeitsbedingten Stress dar. In der deutschen Fassung entspricht die Durchführungsklausel in Ziffer 7 dieser Vereinbarung der Regelung in Ziffer 12 der Rahmenvereinbarung über Telearbeit. In der englischen Version geht sie über diese hinaus, indem sie mit der Verwendung des Verbs „to commit“ die Umsetzungsverpflichtung der nationalen Sozialpartner unmittelbar zum Ausdruck bringt.220 Damit ist festzustellen, dass autonome Sozialpartnervereinbarungen die jeweiligen Mitglieder der vereinbarungsschließenden Organisationen nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG grundsätzlich zur Umsetzung der Vereinbarung durch den Abschluss nationaler Tarifverträge verpflichten.221 218 Vgl. UCL-IST, Rapport annuel sur al concertation et la négation, Les organisations d’employeurs et de salariés dans le secteur du transport ferroviaire au sein de l’UE, 2000, S. 19. 219 In der Sache macht die Einführung eines europäischen Lokomotivführerscheins nur dann Sinn, wenn er von allen oder doch wenigstens von einer weit überwiegenden Mehrzahl der von der CER repräsentierten europäischen Bahnunternehmen unter den gleichen Voraussetzungen ausgestellt wird. 220 Die Durchführungsbestimmung lautet im englischen Wortlaut der Vereinbarung: „In the context of article 139 of the Treaty, this voluntary European framework agreement commits the members of UNICE/UEAPME, CEEP and ETUC (and the liaison committee EUROCADRES/CEC) to implement it in accordance with the procedures and practices specific to management and labour in the Member states and the countries of the European Economic Area.“ – Hervorhebung vom Verfasser. Das Verb „to commit“ ist im juristischen Sprachgebrauch mit „verpflichten“ zu übersetzen; vgl. Dietl/Lorenz, Wörterbuch für Recht, Wirtschaft und Politik, Teil I, 6. Aufl., 2000, S. 139. In der französischen Fassung der Vereinbarung über arbeitsbedingten Stress wird die Verpflichtung der Mitgliedsorganisationen durch das ebenfalls eine Pflicht ausdrückende Verb „engager“ hervorgehoben, vgl. Doucet/Fleck, Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache, Teil I, 5. Aufl., 1997, S. 294. Zum Europäischen Wirtschaftsraum („European Economic Area“) gehören auf der Grundlage des am 2. Mai 1992 unterzeichneten Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (ABl. Nr. L 1, 3.1.1994, S. 3 ff.) die drei EFTA-Staaten Island, Norwegen und Liechtenstein. Gemäß Art. 71 dieses Abkommens bemühen sich die Vertragsparteien darum, den Dialog zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene zu fördern. 221 Mit dem Abschluss des Übereinkommens über den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer durch gute Handhabung und Verwendung von kristallinem Siliziumdioxid und dieses enthaltender Produkte vom 25.4.2006 (abrufbar auf der Internetpräsenz der Kommission zum Sozialen Dialog: „ec.europa.eu/employment_social/social_dialogue/
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cc) Die rechtlichen Folgen der Durchführungsverpflichtung Allerdings ist damit noch nicht entschieden, wie weit die Durchführungspflicht aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG reicht und wie sie gegebenenfalls durchgesetzt werden kann. (1) Die Beschränkung der Durchführungsverpflichtung aufgrund nationaler Verfahren und Gepflogenheiten Gegen die Annahme einer normativen Wirkung europäischer Sozialpartnervereinbarungen auf die Arbeitsvertragsverhältnisse in der Gemeinschaft ist verschiedentlich geltend gemacht worden, dass das Konkurrenzverhältnis zwischen den gemeinschaftsrechtlichen Sozialpartnervereinbarungen und den nach nationalem Recht geschlossenen Tarifverträgen ungeklärt sei.222 Für die Durchführungsverpflichtung der nationalen Sozialpartner gemäß Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG kann das hingegen nicht gelten, weil die Norm die einzelstaatlichen Sozialpartner ausdrücklich nur nach den jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner und der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der europäischen Sozialpartnervereinbarung verpflichtet. Die Bezugnahme auf die einzelstaatlichen Verfahren und Gepflogenheiten regelt nicht nur den Durchführungsmodus auf der nationalen Ebene, sondern beschränkt zugleich die Durchführungsverpflichtung der nationalen Sozialpartner. Die sich aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG für sie ergebende Verpflichtung unterliegt folglich dem Vorbehalt entgegenstehender einzelstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.223 Insbesondere ist eine Umsetzungspflicht ausgeschlossen, wenn der Abschluss eines die Sozialpartnervereinbarung durchführenden Tarifvertrages
index_de.htm“) existiert mittlerweile eine europäische Sozialpartnervereinbarung, die unmittelbar Rechte und Pflichten zwischen den Arbeitsvertragsparteien begründen soll. So werden die Arbeitgeber etwa in Art. 5 Abs. 4 der Vereinbarung dazu verpflichtet, regelmäßige Schulungen durchzuführen, und aus Art. 3 Abs. 1 der Vereinbarung ergibt sich, dass mit der Bezeichnung „Arbeitgeber“ die einzelnen Unternehmen gemeint sind, die direkt oder indirekt von den die Industrie vertretenden Unterzeichnerparteien repräsentiert werden. Im elften Erwägungsgrund zu der Vereinbarung weisen die Vertragsparteien ausdrücklich darauf hin, dass sie mit dem Abschluss gemäß Art. 139 EG handeln. Nach der hier vertretenen Auffassung ermächtigt Art. 139 EG die europäischen Sozialpartner allerdings nicht ohne weiteres dazu, die Rechte und Pflichten zwischen den Arbeitsvertragsparteien unmittelbar selbst zu regeln. Auf die Arbeitsvertragsverhältnisse entfaltet die Vereinbarung lediglich die im jeweiligen Tarifvertragsrecht der Einzelstaaten angeordneten Wirkungen, wenn die beteiligten europäischen Sozialpartner von den einzelstaatlichen Tarifvertragsparteien entsprechend bevollmächtigt worden sind. 222 Blank, FS-Gnade, S. 649 (650); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1743; Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 73. 223 KOM (93) 600 endg., S. 25; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 35.
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nach dem einzelstaatlichen Tarifvertrags- und Koalitionsrecht ausgeschlossen ist.224 Die Mitgliedsverbände der vereinbarungsschließenden europäischen Sozialpartner übernehmen keineswegs eine Garantie dafür, dass der Inhalt der Vereinbarung im jeweiligen Mitgliedstaat durch den Abschluss nationaler Tarifverträge zur Anwendung gebracht wird. Inwieweit eine Umsetzung in den Mitgliedstaaten möglich ist, richtet sich vielmehr nach dem einzelstaatlichen Recht, insbesondere nach dem nationalen Tarifvertragsrecht. In persönlicher Hinsicht setzt die Durchführung auf einzelstaatlicher Ebene vor allem voraus, dass die nationalen Mitgliedsverbände die Fähigkeit besitzen, wirksam Tarifverträge zu schließen. In sachlicher Hinsicht ist darüber hinaus erforderlich, dass die jeweilige Materie, über die eine Einigung auf europäischer Ebene erzielt wurde, in den Zuständigkeitsbereich der nationalen Sozialpartner fällt und sie somit zu einer tarifvertraglichen Regelung des betreffenden Vereinbarungsgegenstandes berechtigt sind.225 Ferner fallen unter den Begriff der einzelstaatlichen Gepflogenheiten im Sinne des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG insbesondere die Satzungen der nationalen Sozialpartner, zu deren Änderung die Mitglieder der europäischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen nicht durch den Abschluss autonomer Sozialpartnervereinbarungen verpflichtet werden können.226 Die Umsetzungsverpflichtung der nationalen Sozialpartner ist ausschließlich auf den Abschluss von Tarifverträgen und nicht auf die Herstellung der dafür notwendigen Bedingungen unter Eingriff in die Satzungsautonomie der nationalen Sozialpartner gerichtet. Demgegenüber hindern bestehende Tarifverträge beiderseitig zur Durchführung einer europäischen Sozialpartnervereinbarung verpflichtete nationale Arbeitgebervereinigungen und Gewerkschaften nicht daran, ihrer Durchführungspflicht nachzukommen. Erforderlichenfalls müssen sie den älteren Tarifvertrag nach der allgemeinen lex-posterior Regel durch den Abschluss eines neuen Tarifvertrages ablösen. (2) Die Effektivität der Durchführung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG Mitunter wird im Schrifttum an der Effektivität der Durchführung autonomer Sozialpartnervereinbarungen gezweifelt. So wird in der Literatur – wohl vornehmlich aus rechtspolitischen Gründen – kritisiert, dass die Durchführung ei224 Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 112; Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 20, 24. 225 Vgl. Konzen, EuZW 1995, S. 39 (47); Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 139 EGV, Rn. 6. 226 Das ergibt sich daraus, dass über die betreffende Satzungsänderung wiederum die Mitglieder des nationalen Sozialpartners zu entscheiden haben, die ihrerseits grundsätzlich nicht Adressaten sich aus Art. 139 EG ergebender Pflichten sind.
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ner Sozialpartnervereinbarung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG zu einer unzureichenden und personell fragmentierten Umsetzung führe.227 Insbesondere wird moniert, dass die nationalen Spitzenorganisationen, die als Mitglieder der europäischen Sozialpartner am Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene beteiligt sind, nicht notwendigerweise die Rechtsmacht besäßen, die auf europäischer Ebene getroffenen Vereinbarungen im nationalen Bereich verbindlich werden zu lassen.228 Darüber hinaus würden bei einer Durchführung auf nationaler Ebene Außenseiter nicht von der Regelung erfasst.229 Der letztere Vorwurf kann allerdings nur verwundern. Denn anders als etwa das spanische Tarifvertragsrecht230 kennt das deutsche Kollektivarbeitsrecht keine allein auf dem übereinstimmenden Willen der Tarifvertragsparteien beruhende erga-omnes Wirkung von Tarifverträgen. Den Vorwurf, dass Außenseiter nicht an den Inhalt einer Sozialpartnervereinbarung gebunden werden können, kann daher nur erheben, wer den Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene für einen Teil der gemeinschaftlichen Rechtssetzung hält und deswegen davon ausgeht, dass der Inhalt einer Sozialpartnervereinbarung einheitlich auf alle Arbeitsverhältnisse in der Gemeinschaft Anwendung finden müsse. Dass sich die Schlussfolgerung mit Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG nicht in Einklang bringen lässt, sollte Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der Prämisse geben. Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG verpflichtet nun einmal ausschließlich die Mitglieder der vereinbarungsschließenden Sozialpartner dazu, die Vereinbarung im Rahmen des jeweiligen Tarifvertragsrechts umzusetzen. Das legt es nahe, dass es sich beim Abschluss und bei der Durchführung von autonomen Sozialpartnervereinbarungen nicht um gemeinschaftliche Rechtssetzung, sondern um eine von den nationalen Mitgliedsverbänden legitimierte tarifliche Rechtssetzung auf der europäischen Ebene handelt. Begreift man die Sozialpartnervereinbarungen daher als Mittel der europäischen Sozialpartner zur tarifautonomen Gestaltung der Beschäftigungsbedingungen in der Gemeinschaft ist die „personell fragmentierte Bindung“ an die europäischen Vereinbarungen keineswegs systemwidrig, sondern eine geradezu begriffsnotwendige Konsequenz der begrenzten Tarifmacht der europäischen Sozialpartner. Aus dem Blickwinkel des Gemeinschaftsrechts kann zudem wegen der in Art. 137 Abs. 3 EG enthaltenen Wertung nicht von einer unzureichenden Umsetzung bei der Durchführung von Sozialpartnervereinbarungen auf der nationa227 Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 15; ebenfalls kritisch: Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 23. 228 Buchner, RdA 1993, S. 193 (200); Wisskirchen, FS-Arbeitsgerichtsverband, S. 653 (672 f.). 229 Buchner, RdA 1993, S. 193 (200 f.); Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 139 EGV, Rn. 6; vgl. Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 118 ff. 230 Henssler/Braun – Calle, Arbeitsrecht in Europa, Spanien, Rn. 191; Ojeda Avilés, FS-Däubler, S. 519 (536).
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len Ebene gesprochen werden. Wenn nämlich die nationalen Tarifparteien sogar Richtlinien der Gemeinschaft in einer den Anforderungen des Art. 249 EG genügenden Weise umsetzen können, wird man schwerlich behaupten können, dass die sozialpartnerschaftliche Durchführung einer Vereinbarung dieser nur zu einer unzureichenden Wirksamkeit verhelfe. Die Rüge der mangelnden Tariffähigkeit der nationalen Mitglieder europäischer Sozialpartnerorganisationen lässt darüber hinaus unberücksichtigt, dass die Teilnahme am Sozialen Dialog nach den von der Kommission aufgestellten Kriterien erfordert, dass die betreffende europäische Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerorganisation aus Verbänden besteht, die in ihrem Mitgliedstaat integraler und anerkannter Bestandteil der Arbeitsbeziehungen sind.231 Für die Erfüllung dieser Voraussetzung ist die Beteiligung an nationalen Tarifverhandlungen von maßgeblicher Bedeutung.232 Deshalb können sich grundsätzlich nur solche europäischen Organisationen am Sozialen Dialog beteiligen, deren nationale Mitglieder die auf der europäischen Ebene geschlossenen Vereinbarungen, soweit es das nationale Recht gestattet, auch umzusetzen vermögen.233 Vergleicht man die von der Kommission in Auftrag gegebenen Studien zur Prüfung der Repräsentativität europäischer Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, bei denen insbesondere die Teilnahme der einzelstaatlichen Mitgliedsorganisationen an den Tarifverhandlungen in den Mitgliedstaaten untersucht wurde,234 scheint es um die „Umsetzungsfähigkeit“ der europäischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen insbesondere im sektoriellen Sozialdialog nicht schlecht bestellt zu sein.235 In dem bereits erwähnten Bahnsektor wird die CER von der Kommission als europäischer Sozialpartner der Arbeitgeberseite anerkannt und von zwei Ausnahmen abgesehen beteiligen sich sämtliche Mitglieder der CER in den Mit231 Vgl. KOM (93) 600 endg., S. 19; KOM (98) 322, S. 5; ablehnend: Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 464 ff.; ders., RdA 2004, S. 211 (223). 232 KOM (93) 600 endg., S. 34; ebenso: Blanpain, European Labour Law, Rn. 1027; Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 465; Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 182; Oetker/Preis – R. Schwarze, B 8100, Rn. 16; Gaitanides/Kadelbach/Iglesias – Weiss, Europa und seine Verfassung, S. 589 (601); vgl. auch Lecher/Platzer – Ueberbach, Europäische Union – Europäische Arbeitsbeziehungen?, S. 183 (186). 233 Hanau/Steinmeyer/Wank – Hanau, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 19, Rn. 17; ähnlich: Langenbrinck, ZTR 2001, S. 145 (149). 234 Vgl. UCL-IST, Rapport annuel sur al concertation et la négation, Les organisations d’employeurs et de salariés dans le secteur du transport ferroviaire au sein de l’UE, 2000, S. 7. 235 Da die meisten der zehn neuen EU-Mitgliedsstaaten, die der Union im Jahr 2004 beigetreten sind, (noch) keine ausgeprägten Tarifstrukturen aufweisen und empirische Daten hierzu kaum vorhanden sind, bezieht sich die folgende Betrachtung der Tariffähigkeit der nationalen Mitglieder europäischer Sozialpartner grundsätzlich nur auf die 15 alten EU-Mitgliedstaaten. Sofern auf alle EU-Mitglieder Bezug genommen werden soll, wird dies besonders erwähnt.
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gliedstaaten an kollektiven Verhandlungen.236 Ebenso wird bei der Vertretung der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer im Postsektor auf europäischer Ebene deutlich, dass den Mitgliedern der europäischen Sozialpartner eine Durchführung der europäischen Vereinbarungen auf mitgliedstaatlicher Ebene ohne weiteres möglich ist. Im Postbereich werden von der Kommission die Organisation der europäischen Postverwaltungen und Postunternehmen (PostEurop) und die Union Network International – Europa (UNI-Europa) als europäische Sozialpartner anerkannt.237 Mit Ausnahme des finnischen und des schwedischen Postunternehmens, die sich bei nationalen Tarifverhandlungen von einer Arbeitgeberorganisation vertreten lassen, sowie der luxemburgischen Post schließen alle Mitglieder von PostEurop in den Mitgliedsstaaten Tarifverträge ab.238 Das gleiche gilt für die Arbeitnehmerorganisationen, die Mitglied von UNI-Europa sind. Sie handeln in den jeweiligen Mitgliedstaaten ausnahmslos Tarifverträge aus.239 In vergleichbarer Weise lässt sich die Struktur der Europäischen Vereinigung der Elektrizitätswirtschaft (EURELECTRIC), der Europäischen Föderation der Bergbau-, Chemie- und Energiewirtschaften (EMCEF) und dem Europäischen Gewerkschaftsverband für den öffentlichen Dienst (EPSU) charakterisieren, die die Arbeitgeber und Arbeitnehmer des Energiewirtschaftssektors auf der Gemeinschaftsebene repräsentieren.240 Unter den Mitgliedern von EURELECTRIC finden sich aus den Mitgliedstaaten der EU-15 neun Unternehmen und acht Arbeitgeberorganisationen. Das schwedische Mitglied SWEDELC ausgenommen, schließen alle EURELECTRIC angehörenden Unternehmen und immerhin drei der Arbeitsgeberorganisationen Tarifverträge in den Einzelstaaten ab.241 EURELECTRIC hat zudem bereits fünf Mitglieder, die in den zehn Mitgliedstaaten, die der Union im Jahre 2004 beigetreten sind, Tarifverträge abschließen können.242 Nahezu ausnahmslos beteiligen sich die Mitglieder der EMCEF am Ab236 UCL-IST, Rapport annuel sur al concertation et la négation, Les organisations d’employeurs et de salariés dans le secteur du transport ferroviaire au sein de l’UE, 2000, S. 19. 237 KOM (2004) 557 endg., Anlage 4, S. 23. 238 UCL-IST, Rapport annuel sur al concertation et la négation, Les organisations d’employeurs et de salariés dans le secteur des services postaux au sein de l’Union européenne, 1999, S. 14. 239 UCL-IST, Rapport annuel sur al concertation et la négation, Les organisations d’employeurs et de salariés dans le secteur des services postaux au sein de l’Union européenne, 1999, S. 18. 240 Vgl. KOM (2004) 557 endg., Anlage 4, S. 23. 241 UCL-IST, Rapport annuel sur al concertation et la négation, Les organisations d’employeurs et de salariés dans le secteur de la production et da la distribution d’électricité au sein de l’UE, 2001, S. 12. 242 Das betrifft Zypern, die Tschechische Republik, Malta, die Slowakei und Slowenien; vgl. UCL-IST, The situation trade unions and emloyers’ organisations in the electricity sector in the 10 new Members of the European Union and in Bulgaria, Romania and Turkey, 2004, S. 21, 29, 64, 88, 96.
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
schluss kollektiver Verträge in den Einzelstaaten; lediglich auf vier der 34 EMCEF-Mitglieder trifft das Gegenteil zu.243 Die 33 Mitglieder des EPSU in den alten EU-Mitgliedstaaten sind ohne jede Ausnahme nach dem nationalen Recht fähig, Tarifverträge zu schließen.244 Die im Energiewirtschaftssektor beschäftigten deutschen Arbeitnehmer werden bei der EMCEF von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) und bei der EPSU neben dem Marburger Bund von der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di) vertreten, womit zugleich die verbreitete These, den europäischen Sozialpartnern gehörten nur tarifunfähige Dachverbände an, widerlegt ist. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass sich die einzelstaatlichen Tarifsysteme erheblich voneinander darin unterscheiden, auf welcher Ebene regelmäßig Tarifverhandlungen stattfinden. Während in Italien nationale Tarifverträge keine Ausnahme darstellen,245 sind in einigen anderen Staaten wie etwa Belgien,246 Griechenland247, Schweden248 oder Dänemark249 landesweit einheitlich geltende Tarifverträge zumindest nicht unüblich. Die Tarifvertragssysteme dieser Länder eignen sich für die zentrale und landesweit einheitliche Durchführung europäischer Sozialpartnervereinbarungen weitaus besser als die Kollektivvertragssysteme derjenigen Staaten, in denen etwa wie in Großbritannien250 oder Deutschland in aller Regel regionale Verbandstarifverträge und nur ausnahmsweise Tarifverträge auf der nationalen Ebene abgeschlossen werden.251 Man 243 UCL-IST, Rapport annuel sur al concertation et la négation, Les organisations d’employeurs et de salariés dans le secteur de la production et da la distribution d’électricité au sein de l’UE, 2001, S. 16 f. 244 UCL-IST, Rapport annuel sur al concertation et la négation, Les organisations d’employeurs et de salariés dans le secteur de la production et da la distribution d’électricité au sein de l’UE, 2001, S. 18 f. 245 Rebhahn, NZA 2001, S. 763 (764); vgl. Henssler/Braun – Radoccia, Arbeitsrecht in Europa, Italien, Rn. 396. In Italien hat die dem EGB zugehörende Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori (CISL) in Hinblick auf den Sozialen Dialog auf der Gemeinschaftsebene sogar ihre Statuten geändert und einen Passus eingefügt, nach welchem die Ergebnisse der unter EGB-Beteiligung zustande gekommenen Vereinbarungen in Italien umgesetzt werden müssen; vgl. Hartenberger, Europäischer sozialer Dialog nach Maastricht, S. 169. Damit erweist sich die von Birk (in: FS-Rehbinder, S. 1, 11 f.) aufgestellte Behauptung, es gebe keine Beispiele für nationale Sozialpartner, die die Umsetzung der europäischen Sozialpartnervereinbarung regeln, als überholt. 246 Birk, FS-Rehbinder, S. 1 (13 f.); Henssler/Braun – Matray/Hübinger, Arbeitsrecht in Europa, Belgien, Rn. 192 f. 247 Henssler/Braun – Kerameos/Kerameus, Arbeitsrecht in Europa, Griechenland, Rn. 167. 248 Henssler/Braun – Nordlöf/Farhat, Arbeitsrecht in Europa, Schweden, Rn. 158. 249 Ein Beispiel hierfür ist der zwischen dem Dänischen Arbeitgeberverband und dem Dänischen Gewerkschaftsbund geschlossene „Hauptmanteltarifvertrag“; vgl. Henssler/Braun – Steinrücke/Würtz, Arbeitsrecht in Europa, Dänemark, Rn. 136. 250 Rebhahn, NZA 2001, S. 763 (764). 251 Vgl. Blanpain, European Labour Law, Rn. 1034.
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würde den verschiedenen einzelstaatlichen Tarifvertragssystemen daher nicht gerecht, wenn man für die Beteiligung am Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene von einer Organisation verlangen würde, dass alle ihre Mitglieder ihrerseits selbst als Partei am Abschluss nationaler Tarifverträge beteiligt sein müssen und deswegen die Umsetzung europäischer Sozialpartnervereinbarungen selbst vornehmen können. Die Kommission erkennt zu Recht an, dass es europaweit eine große Vielfalt von Modellen der Arbeitsbeziehungen gibt, wobei jedes die Verfahren und Traditionen, die den Mitgliedstaaten eigen sind, widerspiegelt; der Gehalt dieser Modelle muss nach der Auffassung der Kommission auf der europäischen Ebene berücksichtigt werden.252 Werden in einem Mitgliedstaat also auf der nationalen Ebene keine Tarifverträge geschlossen, reicht es aus, wenn die jeweiligen nationalen Organisationen steuernden Einfluss auf die nationalen Tarifverhandlungen ausüben, indem sie die Tarifverhandlungen ihrer Mitglieder auf den unteren Ebenen koordinieren.253 Dass kann in der Tat dazu führen, dass die jeweiligen nationalen Mitgliedsverbände nicht in der Lage sind, selbst einen Tarifvertrag zur Umsetzung einer europäischen Sozialpartnervereinbarung zu schließen. Das gilt beispielsweise für die deutschen Spitzenverbände, die als Mitglieder der UNICE bzw. des EGB beim branchenübergreifenden Sozialen Dialog beteiligt sind. Die BDA, der BDI und der DGB können mangels Tariffähigkeit nicht selbst einen Tarifvertrag zur Umsetzung europäischer Sozialpartnervereinbarungen schließen. Daraus folgt aber nicht, dass autonome Sozialpartnervereinbarungen stets unverbindlich sind, sondern nur, dass die Durchführungsverpflichtung der BDA, des BDI und des DGB aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG wegen in Deutschland geltender Verfahren und Gepflogenheiten ausgeschlossen wird.254 Die eingeschränkte Fähigkeit der deutschen Spitzenverbände, die von der UNICE bzw. vom EGB beim branchenübergreifenden Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene geschlossenen Vereinbarungen umzusetzen, ergibt sich aus der Bestimmung des § 2 Abs. 2 TVG, die den Zusammenschlüssen von Gewerkschaften oder Arbeitgebervereinigungen den Abschluss von Tarifverträgen nur gestattet, wenn sie hierzu bevollmächtigt oder durch ihre Satzung ermächtigt worden sind. Die in § 3 BDA-Satzung,255
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KOM (2002) 341 endg., S. 13; vgl. auch KOM (93) 600 endg., S. 19. Vgl. UCL-IST, Bericht über die Repräsentativität der Verbände der europäischen Sozialpartner, Erster Teil, 1999, S. 7. 254 Ganz anders verhält es sich dagegen bei zahlreichen deutschen Mitgliedern des CEEP; vgl. hierzu: Poschke, ZTR 2005, S. 390; Langenbrinck, ZTR 2001, S. 145 (150). Darunter befinden sich neben einigen Spitzenverbänden der Arbeitgeber wie dem Bundesverband der Deutschen Gas- und Wasserwirtschaft (BGW) oder der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) auch einzelne Arbeitgeber wie beispielsweise die RAG AG, die Fraport AG und mehrere als Gesellschaft mit beschränkter Haftung organisierte Stadtwerke, die nach § 2 Abs. 1 TVG tariffähig sind und demnach die europäischen Vereinbarungen ohne weiteres selbst umsetzen können. 253
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
§ 2 Abs. 1 BDI-Satzung256 und § 2 Ziffer 4 Buchstabe f) der DGB-Satzung257 enthaltenen Bestimmungen schließen es aus, dass der jeweilige Spitzenverband selbst Tarifverträge abschließt. § 2 Abs. 2 TVG und die jeweiligen Satzungsbestimmungen sind demnach aus der Perspektive des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG einschränkende Verfahren und Gepflogenheiten, die die betreffenden nationalen Sozialpartner von der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung befreien, zur Durchführung autonomer Sozialpartnervereinbarungen Tarifverträge abzuschließen.258 Die nationalen Verfahren und Gepflogenheiten reduzieren die sich aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG ergebenden Durchführungsverpflichtungen der deutschen Spitzenverbände darauf, im Rahmen ihrer jeweiligen satzungsmäßigen Möglichkeiten Einfluss auf die Tarifverhandlungen auf den nachgeordneten Ebenen zu nehmen.259 Insgesamt lässt sich damit sagen, dass die uneinheitliche Wirkung der autonomen Sozialpartnervereinbarungen in den Mitgliedstaaten den Unterschieden der einzelstaatlichen Tarifvertragssysteme geschuldet ist und im Ergebnis keineswegs einer Durchführung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 GRC die praktische Wirksamkeit nimmt.
255 Satzung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände vom 18. November 2002; abrufbar auf der Internetpräsenz der BDA (www.bda-online.de/www/ bdaonline.nsf/ID/home). 256 Satzung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie vom 26. November 2001; abrufbar auf der Internetpräsenz des BDI (www.bdi-online.de/download/Satzung.pdf). 257 Satzung des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Ausgabe Juli 2002; die Satzung des DGB kann auf dessen Internetpräsenz (www.dgb.de) heruntergeladen werden. 258 Aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG ergibt sich keine Pflicht zu einer Änderung der Satzungen oder zur Erteilung einer entsprechenden Vollmacht zum Abschluss von Tarifverträgen nach § 2 Abs. 2 TVG. 259 Höland, ZIAS 1997, S. 425 (439 f.); vgl. auch Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 108, Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 793. Sollte es in einem Mitgliedstaat allerdings so sein, dass die tariffähigen Mitglieder einer tarifunfähigen Dachorganisation ihrerseits ein Mandat für die Beauftragung der jeweiligen europäischen Sozialpartnerorganisation zum Abschluss einer europäischen Vereinbarung erteilen (vgl. Hartenberger, Europäischer sozialer Dialog nach Maastricht, S. 171 f.), bestünde eine „ununterbrochene Legitimationskette“ zwischen der nationalen Tarifebene und dem Abschluss der Sozialpartnervereinbarung auf der europäischen Ebene; vgl. Ojeda Avilés, FS-Däubler, S. 519 (531). Unter diesen Umständen würde es nahe liegen, die Durchführungspflicht aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG im Rahmen einzelstaatlicher Verfahren und Gepflogenheiten auf die nationalen Tarifparteien durchschlagen zu lassen.
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(3) Die Durchsetzung der Durchführungspflicht aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG Besondere Bedeutung kommt schließlich der Frage zu, wie die Durchführungspflicht der nationalen Sozialpartner aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG erforderlichenfalls durchgesetzt werden kann. Die Kommission nimmt an, dass die europäischen Sozialpartner nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG dazu verpflichtet sind, bei ihren Mitgliedern auf die Durchführung einer europäischen Vereinbarung hinzuwirken. Die Bestimmung im Gemeinschaftsvertrag spreche von einer zwingenden Durchführung und die Umsetzung einer europäischen Sozialpartnervereinbarung in den Mitgliedstaaten müsse dementsprechend durchsetzbar sein.260 Daraus ergibt sich für die vereinbarungsschließenden europäischen Sozialpartner die Pflicht, die effektive Umsetzung ihrer Vereinbarung auf der nationalen Ebene zu überwachen und bei ihren Mitgliedern auf die Durchführung der Vereinbarung hinzuwirken.261 Das beinhaltet die Verpflichtung der europäischen Sozialpartner, im Rahmen ihrer Satzung verbandsrechtliche Konsequenzen zu ziehen, falls ein Mitglied die ordnungsgemäße Umsetzung der Vereinbarung auf nationaler Ebene verweigert.262 Diese Pflicht der europäischen Sozialpartner ist durchaus mit der dem deutschen Recht bekannten und zur Einwirkung auf die Koalitionsmitglieder zwingenden Durchführungspflicht263 von Tarifverträgen vergleichbar.264 Neben der Einwirkungsverpflichtung der europäischen Sozialpartner ließe sich annehmen, dass ihre nationalen Mitglieder selbst auf den Abschluss eines die europäische Vereinbarung durchführenden Tarifvertrages in Anspruch genommen werden können. Als Inhaber eines solchen Anspruchs kommen die europäischen Sozialpartner, die ebenfalls zur Durchführung der betreffenden Vereinbarung verpflichteten nationalen Tarifparteien sowie einzelne Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Betracht, die einem durchführungsverpflichteten nationalen Verband angehören. Gegen diese Annahme spricht aber zum einen, dass die nationalen Gerichte die Tarifparteien in aller Regel wegen der Gewährleistung 260
KOM (2004) 557 endg., S. 17. KOM (2004) 557 endg., S. 17; vgl. Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 118. Kocher (in: Kempen/Zachert, TVG, § 1, Rn. 719) nimmt für die Durchsetzung dieses Anspruchs eine Zuständigkeit der nationalen Gerichte an; anscheinend ebenso: Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 803. 262 Blanpain, European Labour Law, Rn. 1032; Blanpain/Schmidt/Schweibert, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 519; Höland, ZIAS 1995, S. 425 (439 f.); vgl. auch Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 793; ablehnend hingegen: Konzen, EuZW 1995, S. 39 (47). 263 Vgl. BAGE 70, 165. 264 Vgl. AGVBanken – Thau, Tarifpolitik auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft, S. 82 (88); a. A.: Birk, EuZW 1997, S. 453 (457); Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 113. 261
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der Tarifautonomie nicht zum Abschluss eines Tarifvertrages verurteilen können. Zum anderen scheidet eine Durchsetzung auf diesem Weg aus, weil die europäischen Sozialpartnervereinbarungen in der Regel als Rahmenvereinbarungen formuliert werden und den nationalen Tarifparteien bei der Umsetzung einen Gestaltungsspielraum belassen.265 Die Einigung zwischen den nationalen Tarifparteien ist daher für die Anwendbarkeit der Sozialpartnervereinbarung konstitutiv und kann nicht von einer gerichtlichen Entscheidung ersetzt werden. Das bedeutet gleichwohl nicht, dass der Verstoß gegen eine bestehende Durchführungsverpflichtung sanktionslos bleiben müsste. Die Durchführung autonomer Sozialpartnervereinbarungen ist insoweit mit der Umsetzung von Richtlinien nach Art. 249 EG vergleichbar. Auch dabei scheidet eine gerichtliche Inanspruchnahme der nationalen Parlamente auf Erlass eines Durchführungsgesetzes aus, weil den Mitgliedstaaten in aller Regel bei der Umsetzung von Richtlinien ein Ausgestaltungsspielraum zusteht. Seit seiner Grundsatzentscheidung in der Rechtssache „Francovich“ aus dem Jahre 1991 geht der EuGH in ständiger Rechtsprechung deswegen davon aus, dass mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist lediglich diejenigen Richtlinienbestimmungen mit unmittelbarer Wirkung gegen den Mitgliedstaat angewendet werden können, deren Inhalt sich bereits aufgrund der Richtlinie mit hinreichender Genauigkeit bestimmen lässt.266 In privatrechtlichen Drittrechtsverhältnissen entfalten Richtlinienbestimmungen hingegen auch nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist keine unmittelbare Anwendung.267 Die von der Richtlinie begünstigten Personen haben statt dessen einen verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch gegen den Staat, wenn ihnen nach der Richtlinie Rechte verliehen werden sollten, der Inhalt dieser Rechte aus der Richtlinie bestimmt werden kann und sie aufgrund der mangelnden Richtlinienumsetzung einen Schaden erlitten haben.268 Da eine nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG umzusetzende Sozialpartnervereinbarung den Erlass einer Richtlinie ersetzt und verhindert,269 muss die Sanktion für die Verletzung der Umsetzungsverpflichtung den vom EuGH in der Francovich-Entscheidung entwickelten Haftungsgrundsätzen entsprechen. Diese Grundsätze sind daher sinngemäß auf die Durchführung autonomer Sozialpartnervereinbarungen zu übertragen. Wie bei der unterbliebenen Umsetzung von Richtlinien wäre nämlich die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, zu dem die autonomen Sozialpartnervereinbarungen ebenso wie die gemeinschaftlichen Richtlinien gehören, beeinträchtigt, wenn der Einzelne nicht die 265 266
Vgl. Birk, EuZW 1997, S. 453 (457). EuGH, 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90, 9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 11 (Franco-
vich). 267
EuGH, 14.7.1994, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325, Rn. 22, 24 (Faccini Dori). EuGH, 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90, 9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 38, 40 (Francovich). 269 § 7 III. 3. c). 268
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Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu erlangen, dass seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden.270 Das ergibt sich zudem insbesondere daraus, dass die Mitwirkung der nationalen Sozialpartner für die Anwendung des Vereinbarungsinhalts in den Mitgliedstaaten unerlässlich ist und die betreffenden Arbeitsvertragsparteien ihrem Vertragspartner gegenüber die ihnen in der Vereinbarung zuerkannten Rechte nicht geltend machen können, wenn die zur Durchführung der Vereinbarung verpflichteten Sozialpartner nicht tätig werden.271 Aus der Übertragung des Haftungsregimes nach der Francovich-Entscheidung des EuGH folgt zunächst, dass solche Bestimmungen einer autonomen Sozialpartnervereinbarung, die hinreichend bestimmt sind, im Verhältnis zwischen der begünstigten Arbeitsvertragspartei und den durchführungsverpflichteten Tarifparteien unmittelbare Anwendung finden. Denjenigen Tarifparteien, die ihrer Durchführungsverpflichtung aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG nicht ordnungsgemäß nachgekommen sind, kann aus ihrem Rechtsverstoß kein Vorteil erwachsen. Sie sind gegenüber den Arbeitvertragparteien an die jeweiligen Vereinbarungsinhalte, die inhaltlich hinreichend bestimmt sind, unmittelbar gebunden.272 Auf die einzelnen Arbeitsvertragsverhältnisse findet die Sozialpartnervereinbarung hingegen auch nach dem Ablauf ihrer Umsetzungsfrist keine unmittelbare Anwendung, weil es sich dabei im Sinne der Rechtsprechung des EuGH um ein privatrechtliches Drittrechtsverhältnis handelt. Erleidet indes ein tarifgebundener Arbeitgeber oder Arbeitnehmer einen Schaden aufgrund einer unterbliebenen oder einer unzureichenden Umsetzung der europäischen Sozialpartnervereinbarung, kann er von den nationalen Tarifparteien Schadenersatz verlangen.273 Zwar ergibt sich die Anspruchsgrundlage aus dem jeweiligen nationalen Recht, aber sie ist den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen entsprechend zu modifizieren. Deswegen entstehen die betreffenden Schadenersatzansprüche der Arbeitsvertragsparteien entsprechend der Francovich-Entscheidung des EuGH unabhängig von einem etwaigen Verschulden der betreffenden Tarifvertragspartei.274 Die Haftung tritt also unabhängig davon ein, ob der in 270 Vgl. EuGH, 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90, 9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 33 (Francovich). 271 Vgl. EuGH, 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90, 9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 34 (Francovich). 272 Diese Folge dürfte in aller Regel keine praktische Relevanz haben, da die europäischen Sozialpartnervereinbarungen nicht das Verhältnis zwischen den nationalen Tarifparteien und ihren Mitgliedern, sondern die Rechte und Pflichten innerhalb des Arbeitsverhältnisses regeln. 273 Vgl. Blanpain, European Labour Law, Rn. 1033. 274 Im deutschen Privatrecht ergibt sich für einen Arbeitgeber bzw. Arbeitnehmer jedenfalls gegen die Vereinigung, der er selbst angehört, ein Schadenersatzanspruch aus den §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB, wenn der betreffende Verband seine ihm
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Anspruch genommene mitgliedstaatliche Sozialpartner für den Umsetzungsmangel die Verantwortung trägt oder nicht. Selbstverständlich ist eine Haftung ausgeschlossen, wenn aufgrund nationaler Verfahren oder Gepflogenheiten eine Durchführungspflicht aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG nicht bestanden hat. Eine in Anspruch genommene Tarifvertragspartei, die einer bestehenden Durchführungspflicht nicht rechtzeitig nachgekommen ist, kann aber nicht einwenden, dass sie zur Umsetzung der Vereinbarung durch Abschluss eines Tarifvertrages bereit gewesen ist und deswegen den Durchführungsmangel nicht zu vertreten hat. Soweit dies tatsächlich der Fall gewesen sein sollte, kann die wegen unzureichender Umsetzung der Sozialpartnervereinbarung in Anspruch genommene Vereinigung nach der Liquidation der Schäden Rückgriff bei der anderen Tarifvertragspartei nehmen. Beispielsweise sieht Ziffer 3 der Rahmenvereinbarung von der UNICE, dem CEEP und dem EGB vom 16. Juli 2002 über Telearbeit vor, dass Telearbeit nur freiwillig geleistet werden muss und ein Arbeitnehmer ein Angebot des Arbeitgebers, Telearbeit zu leisten, ablehnen kann, ohne seinem Vertragspartner dadurch einen Grund zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu geben. Die Sozialpartnervereinbarung ist nach Ziffer 12 bis zum 16. Juli 2005 umzusetzen gewesen. Verliert ein Arbeitnehmer, der Mitglied einer durchführungsverpflichteten Gewerkschaft ist, aufgrund seiner Weigerung, Telearbeit zu leisten, nach diesem Zeitpunkt seinen Arbeitsplatz, kann er sich gegenüber seinem Arbeitgeber, der ebenfalls Mitglied einer durchführungsverpflichteten Arbeitgebervereinigung ist, nicht auf die europäische Rahmenvereinbarung berufen. Das gilt auch dann, wenn die jeweiligen Tarifparteien mangels entgegenstehender einzelstaatlicher Verfahren oder Gepflogenheiten zur Umsetzung der Rahmenvereinbarung verpflichtet gewesen sind und diese Pflicht nicht erfüllt haben. Für den Verlust seines Arbeitsplatzes kann er aber unabhängig davon, ob eine Tarifpartei zu einer ordnungsgemäßen Durchführung der Sozialpartnervereinbarung bereit gewesen ist, Schadenersatz verlangen. Anschließend kann die in Anspruch genommene Vereinigung den ebenfalls durchführungsverpflichteten nationalen Sozialpartner gegebenenfalls in Regress nehmen. dd) Die Einordnung autonomer Sozialpartnervereinbarungen als europäische Tarifverträge Abschließend bleibt die Frage zu klären, ob die schuldrechtliche Verpflichtung der europäischen Sozialpartner und die Durchführungsverpflichtung ihrer einzelstaatlichen Mitglieder genügt, um eine autonome Sozialpartnervereinba-
auch gegenüber seinen Mitgliedern obliegende Pflicht zur Umsetzung der europäischen Vereinbarung verletzt. Lediglich die Vorschrift des § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB bleibt wegen des anwendungsvorrangigen Gemeinschaftsrechts außer Anwendung.
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rung als einen vom Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen geschützten europäischen Tarifvertrag zu qualifizieren. Die Antwort hierauf hängt zunächst davon ab, welche grundrechtstatbestandlichen Voraussetzungen an die Drittwirkung eines europäischen Tarifvertrages im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC zu stellen sind. In Deutschland haben die Koalitionen aus Art. 9 Abs. 3 GG das Recht, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ohne staatliche Einflussnahme autonom zu regeln. Damit sie diese Freiheit effektiv ausüben können, schützt Art. 9 Abs. 3 GG zugleich den Abschluss von Tarifverträgen als typische Koalitionsbetätigung.275 Nach der überwiegenden Ansicht im deutschen Schrifttum können die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen das Arbeitsleben aber nur dann sinnvoll und eigenständig ordnen, wenn die zwischen ihnen geschlossenen Tarifverträge auf das zwischen den Arbeitsvertragsparteien bestehende Rechtsverhältnis unmittelbar und zwingend einwirken. Die tarifvertraglichen Bestimmungen können demzufolge ihre arbeitnehmerschützende Wirkung nur dann entfalten, wenn sie sich gegenüber abweichenden individualvertraglichen und betrieblichen Regelungen durchzusetzen vermögen.276 Das Bundesverfassungsgericht teilt diese Auffassung und hat entschieden, dass die Koalitionen zur autonomen Gestaltung des Arbeitslebens mittels „unabdingbarer Gesamtvereinbarungen“ berechtigt sind.277 Die in § 4 Abs. 1 TVG angeordnete unmittelbare und zwingende Wirkung von Tarifverträgen ist damit Ausfluss einer grundrechtlichen Verpflichtung des Staates aus der Koalitionsbetätigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG. Daraus ließe sich der Schluss ziehen, dass nur solche europäischen Tarifverträge unter dem Schutz des Art. 28 Var. 1 GRC stehen können, die unmittelbare und zwingende Wirkung auf die einzelnen Arbeitsvertragsverhältnisse entfalten. Da das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen dem Zweck dient, die Imparität der Arbeitsvertragsparteien auf der kollektiven Ebene zu kompensieren,278 wird man sicherlich annehmen können, dass ein Vertrag, mit dem ausschließlich Rechte und Pflichten zwischen den beteiligten Parteien erzeugt werden können, von dem in Art. 28 Var. 1 GRC enthaltenen Merkmal „Tarifvertrag“ nicht umfasst wird. Ein allein die internen Rechtsbeziehungen der beteiligten Parteien regelnder Vertrag bedarf keines gegenüber der allgemeinen Vertragsfreiheit privilegierten Grundrechtsschutzes nach Art. 28 Var. 1 GRC. Das gilt auch dann, wenn es sich bei den vertragsschließenden Parteien um europäische Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen handelt. Da sich 275
BVerfGE 50, 290 (367). Dieterich, RdA 2002, S. 1 (12); Henssler/Willemsen/Kalb – Hergenröder, Art. 9 GG, Rn. 117; Münchener Handbuch – Löwisch/Rieble, § 246, Rn. 81. 277 BVerfGE 44, 322 (340 f.). 278 § 3 I. 2. b) cc). 276
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ein einzelner Arbeitgeber oder ein einzelner Arbeitnehmer gegenüber seinem Vertragspartner – auch nach dem Ablauf ihrer Durchführungsfrist – nicht unmittelbar auf die europäische Vereinbarung berufen oder Rechte daraus für sich herleiten kann, müsste man unter dieser Voraussetzung eine Anwendung des Art. 28 Var. 1 GRC auf autonome Sozialpartnervereinbarungen folgerichtig verneinen. Es erscheint aber äußerst zweifelhaft, ob ein europäischer Tarifvertrag nach Art. 28 Var. 1 GRC tatsächlich auf das Arbeitsvertragsverhältnis unmittelbar und zwingend einwirken muss. Hierzu ist die These aufgestellt worden, dass ein kontinentaleuropäisches Verständnis tarifvertraglicher Wirkungen, das etwa in der Vorschrift des § 11 Abs. 1 des österreichischen Arbeitsverfassungsgesetzes279 zum Ausdruck kommen soll, verlangt, dass ein europäischer Tarifvertrag unmittelbare Wirkung auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse entfaltet.280 Das erscheint aber fragwürdig, weil sich die rechtlichen Wirkungen von Tarifverträgen in den Mitgliedstaaten deutlich voneinander unterscheiden. Die verschiedenen Wege, auf denen die Einwirkung von Tarifverträgen auf die einzelnen Arbeitsvertragsverhältnisse hergestellt wird, sind so unterschiedlich, dass es keinen kleinsten gemeinsamen Nenner für die Wirkungen eines unter dem Schutz des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen stehenden europäischen Tarifvertrages geben kann.281 Jedenfalls überspannt die Annahme, ein europäischer Tarifvertrag setze begrifflich voraus, dass die sich aus ihm ergebenden Rechte und Pflichten an die Arbeitsvertragsparteien adressiert sein müssten, die in Art. 28 Var. 1 GRC für einen Tarifabschluss auf europäischer Ebene notwendigen Bedingungen. Denn tarifliche Rechtssetzung muss sich auf der supranationalen Ebene der Gemeinschaft nicht notwendigerweise an den von nationalen Tarifsystemen bekannten Strukturen orientieren. Normen, die die Arbeitsvertragsparteien binden, können von der überstaatlichen Ebene aus nämlich entweder durch eine Bindung der Arbeitsvertragsparteien oder mittelbar über eine Bindung der nationalen Tarifparteien geschaffen werden. Im Gegensatz zur tariflichen Rechtssetzung in den Mitgliedstaaten, die nur unmittelbar auf das Arbeitsvertragsverhältnis einwirken kann, können europäische Tarifverträge entweder unmittelbar auf die Arbeitsvertragsverhältnisse oder vermittelt über die Rechtsbeziehungen der nationalen Tarifparteien Einfluss auf die Arbeitsbeziehungen nehmen und auf diese Weise mittelbar die Rechte und Pflichten im Arbeitsverhältnis regeln. Da dem jeweiligen Normgeber ein weiter Ermessens279 Die Vorschrift lautet wie folgt: „Die Bestimmungen des Kollektivvertrages sind, soweit sie nicht die Rechtsbeziehungen zwischen den Kollektivvertragsparteien regeln, innerhalb seines fachlichen, räumlichen und persönlichen Geltungsbereiches unmittelbar rechtsverbindlich.“ 280 Vgl. Leidenmühler, WISO 2000, S. 101 (105). 281 Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 432 f.; vgl. auch Fudickar, Parteiautonome Anknüpfung grenzüberschreitender Tarifverträge in der EU, S. 97.
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spielraum bei der Ausgestaltung der Tarifautonomie zusteht und insbesondere das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen wegen des Verweises auf die geeigneten Ebenen der gemeinschaftsrechtlichen Ausgestaltung bedarf, kann ein europäisches Tarifvertragssystem im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC auch dann vorliegen, wenn die betreffenden Kollektivverträge nur die nationalen Tarifparteien binden. Analog zur Vereinigungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GRC, die den Zusammenschluss mehrerer nationaler Verbände auf der europäischen Ebene umfasst, muss Art. 28 Var. 1 GRC den Abschluss kollektiver Verträge auch dann schützen, wenn diese Vereinigungen auf der europäischen Ebene Vereinbarungen schließen, die nur ihre jeweiligen Mitglieder und nicht die Arbeitsvertragsparteien binden. Ferner gilt es den Unterschied zu beachten, dass sich etwa die Tarifautonomie in Deutschland grundsätzlich auf den gesamten Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erstreckt, während auf der Gemeinschaftsebene nur diejenigen sozialpolitischen Fragen von den europäischen Sozialpartnern geregelt werden müssen, die sich einer einzelstaatlichen Regelung entziehen. Europäische Tarifmacht muss daher die nationalen Tarifabschlüsse nicht ersetzen, sondern kann sich vielmehr darauf beschränken, sie dort zu ergänzen, wo die Tarifzuständigkeit der einzelstaatlichen Tarifparteien an – vornehmlich territoriale – Grenzen stößt. Darüber hinaus bindet auch ein nach deutschem Recht geschlossener Tarifvertrag gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG nicht die Arbeitsvertragsparteien als solche, sondern die beiderseits Tarifgebundenen, also nach § 3 Abs. 1 TVG die Mitglieder der Tarifparteien.282 Dementsprechend wird man von einem europäischen Tarifvertrag bereits dann sprechen können, wenn nur die Mitglieder der tarifschließenden europäischen Organisationen aus diesem rechtlich verpflichtet werden. Hat man sich einmal von der verengten Vorstellung, ein europäischer Tarifvertrag müsse die Arbeitsvertragsparteien unmittelbar rechtlich binden, gelöst, ist festzustellen, dass eine autonome Sozialpartnervereinbarung deutschen Tarifverträgen nicht ganz unähnliche Wirkungen erzeugt. Gegenüber den nationalen Sozialpartnern entfaltet sie die Pflicht, deren Inhalt durch den Abschluss von Tarifverträgen zur Anwendung zu bringen. Diese Pflicht der nationalen Sozialpartner entsteht unmittelbar mit dem Abschluss der Vereinbarung auf der europäischen Ebene und zwingt die nationalen Sozialpartner gegebenenfalls bestehende tarifliche Abreden zu ändern, um der europäischen Vereinbarung zum Durchbruch auf die individuellen Arbeitsverhältnisse zu verhelfen. Der Unterschied zur normativen Wirkung nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG besteht vor allem 282 Die Tarifbindung des Arbeitgebers an einen Firmentarifvertrag bedarf demgegenüber keiner besonderen verbandsrechtlichen Begründung und kann daher außer Betracht bleiben.
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darin, dass die deutschen Tarifparteien auf die innerhalb der Arbeitsverhältnisse bestehenden Rechte und Pflichten einwirken können. Demgegenüber fehlt es zwischen den nationalen Sozialpartnern an einem ausgestaltungsbedürftigen (Dauer-)Rechtsverhältnis, das die europäischen Sozialpartner ausgestalten könnten. Dieser Unterschied ist allerdings vernachlässigbar, weil die Adressaten der Durchführungsverpflichtung aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG ebenso zu einem bestimmten Verhalten, nämlich zum Abschluss eines Tarifvertrages, verpflichtet werden, wie die tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien durch den Abschluss eines Tarifvertrages nach deutschem Recht. Da eine Sozialpartnervereinbarung die nationalen Sozialpartner gemäß Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG dazu verpflichtet, einen Tarifvertrag abzuschließen, geht ihre Wirkung sogar über diejenige eines nationalen Tarifvertrages hinaus. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts darf ein nationaler Tarifvertrag keine Verpflichtung zur Änderung arbeitsvertraglicher Bestimmungen vorsehen.283 Demgegenüber sind die nationalen Sozialpartner bei der Durchführung einer europäischen Vereinbarung notwendigerweise zu einem „Wechsel der Rechtsquellen“ verpflichtet. Im Übrigen sind die auf der europäischen Ebene mit dem Abschluss einer Vereinbarung verbundenen Einwirkungspflichten der europäischen Sozialpartner mit den schuldrechtlichen Pflichten deutscher Tarifvertragsparteien durchaus vergleichbar.284 Entscheidet sich der betreffende Gesetzgeber im Rahmen seines Ausgestaltungsermessens schließlich gegen den Durchgriff europäischer Tarifverträge auf die Einzelarbeitsverhältnisse und erstreckt die tarifliche Bindungswirkung lediglich auf die Mitglieder der europäischen Tarifparteien, steht es ihm frei, die Wirkung der europäischen Tarifverträge aus Rücksicht auf die divergierenden nationalen Tarifsysteme unter den Vorbehalt entgegenstehender Verfahren und Gepflogenheiten in den Mitgliedstaaten zu stellen. Die einheitliche Wirkung kollektiver Verträge ist daher ebenfalls keine begriffliche Voraussetzung für einen europäischen Tarifvertrag im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC. Vielmehr steht das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen selbst unter dem Vorbehalt nationaler Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Dass Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG ebenso wie Art. 28 Var. 1 GRC auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Rücksicht nimmt, ist daher ein weiterer Beleg dafür, dass Sozialpartnervereinbarungen vom Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen geschützte Tarifverträge auf europäischer Ebene sind. Ebenso wie bei Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG stellen beispielsweise § 2 TVG und die Satzungen der BDA, des BDI und des DGB auch aus der Sicht des Art. 28 Var. 1 GRC einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflo283 284
BAGE 104, 155 (170). § 7 IV. 2. c) cc) (1).
§ 7 Der Soziale Dialog und Art. 28 Var. 1 GRC
291
genheiten dar, die eine einheitliche Wirkung europäischer Tarifverträge in allen Mitgliedstaaten ausschließen. Der Vorrang nationaler Rechtsvorschriften, Verfahren und Gepflogenheiten wird im Gemeinschaftsrecht in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG und Art. 28 Var. 1 GRC gleichermaßen respektiert. In beiden Vorschriften wird dem Grundsatz der Subsidiarität gemeinschaftlicher Maßnahmen gegenüber einem Handeln auf der Ebene der Mitgliedstaaten im Bereich tarifautonomer Rechtssetzung auf europäischer Ebene Rechnung getragen.285 Obwohl eine autonome Sozialpartnervereinbarung damit weder eine einheitliche Wirkung auf die mitgliedstaatlichen Sozialpartner noch eine unmittelbare Wirkung auf die einzelnen Arbeitsvertragsverhältnisse hat, reicht ihre vereinheitlichende Drittwirkung gegenüber den nationalen Sozialpartnern und ihr mittelbarer Einfluss auf die Arbeitsvertragsverhältnisse aus, um im Sinne des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen von einem europäischen Tarifvertrag sprechen zu können. 3. Die Durchführung von Sozialpartnervereinbarungen auf der Gemeinschaftsebene Es bleibt zu klären, ob das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen auch dann einschlägig ist, wenn die europäischen Sozialpartner Verhandlungen über den Abschluss einer Vereinbarung aufnehmen, die gemäß Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG auf der europäischen Ebene durch einen Beschluss des Rates durchgeführt werden soll. Die herrschende Meinung müsste dies folgerichtig verneinen, weil sie diese Art von Vereinbarungen lediglich für schuldrechtliche Abreden zwischen den europäischen Sozialpartnern hält, die dem Rat als Vorschlag für einen Rechtsakt der Gemeinschaft dienen. a) Der Inhalt des Ratsbeschlusses Entgegen dieser Ansicht setzt der Rat bei dem in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG vorgesehenen Verfahren aber nicht einen eigenen Rechtsakt mit dem Inhalt der Sozialpartnervereinbarung in Kraft, sondern beschließt ausschließlich über die Durchführung der Vereinbarung. Entscheidet er sich für die Durchführung der Sozialpartnervereinbarung, beschränkt sich sein Beschluss nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG darauf, gegenüber den Mitgliedstaaten die Durchführung der Vereinbarung anzuordnen.286 Die durchzuführende Vereinba285
Vgl. vor allem: Heinze, ZfA 1997, S. 505 (516 f.); ebenso: Kort, JZ 2004, S. 267
(274). 286 So etwa die Richtlinie 1999/63/EG des Rates vom 21.6.1999 zu der vom Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (European Community Shipowners’ Association ECSA) und dem Verband der Verkehrsgewerkschaften in der
292
2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
rung wird diesem Beschluss lediglich als Anhang beigefügt.287 Daher ergibt sich der Inhalt der an die Mitgliedstaaten gerichteten Regelung nicht aus dem Text der Richtlinie, sondern allein aus der Sozialpartnervereinbarung selbst. Bei dem Verfahren nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG handelt es sich damit nicht um einen Rechtssetzungsprozess der Gemeinschaft unter besonderer Beteiligung der europäischen Sozialpartner, sondern um ein spezifisches Verfahren zur Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung, das mit den Mitteln der gemeinschaftlichen Rechtssetzung betrieben wird.288 b) Die Bindungen der Gemeinschaftsorgane an die Sozialpartnervereinbarung Die herrschende Meinung führt insbesondere an, dass die Verantwortung für die Rechtssetzung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG angeblich allein bei der Gemeinschaft liege.289 Dabei lässt sie aber die Bindungen, denen die Gemeinschaftsorgane bei dem in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG vorgesehenen Verfahren unterliegen, unberücksichtigt. Das betrifft zunächst die Entscheidung über die Ebene, auf der eine Sozialpartnervereinbarung durchzuführen ist. Da das Verfahren nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG nur aufgrund eines Antrags der Unterzeichnerparteien einer Sozialpartnervereinbarung initiiert werden kann, können die Gemeinschaftsorgane es nicht von sich aus in Gang setzen. Die beteiligten Sozialpartner haben nach dem Abschluss einer Vereinbarung vielmehr die freie Wahl, für welchen Durchführungsmodus sie sich entscheiden, sofern nach den Voraussetzungen des Art. 139 Abs. 2 EG beide Durchführungsarten in Betracht kommen. Den Gemeinschaftsorganen stehen diesbezüglich weder Mitsprache-, noch Mitentscheidungsrechte zu. Darüber hinaus ist nahezu allgemein anerkannt, dass die Kommission den Wortlaut einer Vereinbarung, deren Durchführung auf Gemeinschaftsebene von den Unterzeichnerparteien beantragt worden ist, bei der Weiterleitung an den Rat nicht verändern darf.290 Europäischen Union (Federation of Transport Workers’ Unions in the European Union FST) getroffenen Vereinbarung über die Regelung der Arbeitszeit von Seeleuten (ABl. Nr. L 167, 2.7.1999, S. 33 f.). Vgl. zudem: Leidenmühler, WISO 2000, S. 101 (111); Zachert, FS-Schaub, S. 811 (815 f.). 287 Vgl. KOM (93) 600 endg., S. 26; vgl. den Anhang zur Richtlinie 1999/63/EG (ABl. Nr. L 167, 2.7.1999, S. 35 f.). 288 Heinze, ZfA 1997, S. 505 (518); ähnlich: Steinmeyer, RdA 2001, S. 10 (21). 289 Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 107. 290 KOM (93) 600 endg., S. 25; Buchner, RdA 1993, S. 199 (202); Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 199 f.; Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 19; Heinze, ZfA 1997, S. 505 (519); Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 26;
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293
Zudem besteht Einigkeit darüber, dass sie prüfen muss, ob die Vereinbarung ordnungsgemäß zustande gekommen ist. Hierzu hat sie zu klären, ob die Sozialpartner, die die Vereinbarung abgeschlossen haben, über ein Verhandlungsmandat verfügen und beim Abschluss der Vereinbarung insgesamt eine hinreichende Anzahl von Sozialpartnern vertreten gewesen ist.291 Ferner hat die Kommission zu klären, ob die Gemeinschaft für den Erlass des Vereinbarungsinhalts nach dem EG-Vertrag zuständig ist, weil ein Beschluss des Rates nur unter dieser Voraussetzung erfolgen darf.292 Zudem muss sie prüfen, ob eine in der Vereinbarung enthaltene Bestimmung gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt.293 Dazu gehört beispielsweise die Frage, ob die jeweilige Vereinbarung den Vorschriften betreffend kleinerer und mittlerer Unternehmen zuwiderläuft, weil die Gemeinschaft deren Gründung und Entwicklung nach Art. 137 Abs. 2 Buchstabe b) EG nicht mit dem Erlass verwaltungsmäßiger, finanzieller oder rechtlicher Auflagen behindern darf.294 Darüber hinaus schlägt die Kommission dem Rat die Handlungsform vor, in welcher die Vereinbarung umzusetzen ist.295 Umstritten ist allerdings, ob die Kommission eine Sozialpartnervereinbarung neben dieser umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle auch einer Prüfung auf ihre Zweckmäßigkeit hin unterziehen darf und die Weiterleitung an den Rat nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG also auch dann verweigern darf, wenn sie den Inhalt einer rechtmäßigen Vereinbarung nicht für opportun hält. Im Schrifttum wird verbreitet die Auffassung vertreten, dass die Kommission eine Vorlage beim Rat auch dann ablehnen dürfe, wenn sie mit dem Inhalt einer Sozialpartnervereinbarung nicht einverstanden ist, und eine ablehnende Entscheidung der Kommission über einen Durchführungsantrag nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG wegen ihres politischen Charakters nicht gerichtlich überprüft werden könne.296 Im Gegensatz dazu lässt die Kommission bei der nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG vorzunehmenden Prüfung Zweckmäßigkeitsaspekte zu Recht unberücksichtigt und beschränkt sich auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle. Die Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 136 ff., 139; Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 777; Schwarze – Rebhahn, Art. 139 EGV, Rn. 8; Schnorr, DRdA 1994, S. 193 (197); Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 54; Steinmeyer, RdA 2001, S. 10 (21); Wisskirchen, FS-Arbeitsgerichtsverband, S. 653 (672); a. A.: Däubler, EuZW, 1992, S. 329 (334); ders., Tarifvertragsrecht, Rn. 1745; einschränkend: Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 111. 291 KOM (98) 322 endg., S. 18. 292 Vgl. von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 139 EG, Rn. 42. 293 KOM (93) 600 endg., S. 26. 294 KOM (93) 600 endg., S. 26. 295 Diese Entscheidung wird allerdings in aller Regel vom Inhalt der Vereinbarung vorgegeben; vgl. KOM (2005) 32 endg., S. 11. 296 Buchner, RdA 1993, S. 193 (201); Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 18; Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 26; Grabitz/Hilf – Langenfeld, Art. 139 EGV, Rn. 7; Schwarze – Rebhahn, Art. 139 EGV, Rn. 8; Schnorr, DRdA 1994, S. 193 (197); ZEW – Hornung-Draus, Der Soziale Dialog in Europa, S. 123 (134).
294
2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
Kommission überprüft lediglich das Verhandlungsmandat der Parteien, die ausreichende Repräsentativität der beteiligten Sozialpartner, die Übereinstimmung aller Klauseln der Vereinbarung mit dem Gemeinschaftsrecht sowie die Einhaltung der Bestimmungen über die kleinen und mittleren Unternehmen und gibt lediglich eine Stellungnahme zu der ihr unterbreiteten Vereinbarung ab.297 Demzufolge haben die vertragsschließenden europäischen Sozialpartner einen Anspruch darauf, dass ein Antrag nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG von der Kommission an den Rat weitergeleitet wird, wenn gegen den Inhalt der von ihnen geschlossenen Vereinbarung keine rechtlichen Bedenken bestehen. Diesen Anspruch können sie erforderlichenfalls mit der Untätigkeitsklage vor dem EuGH nach Art. 232 EG durchsetzen.298 Eine derartige Pflicht der Kommission zur Vorlage jeder rechtlich einwandfreien Vereinbarung legt die englische Sprachfassung des Art. 139 EG nahe. Darin wird in diesem Zusammenhang das Wort „shall“ verwendet, das im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens das unverbindlichere Wort „may“ ersetzt hat.299 Zudem muss der Rat als das letztlich zur Sachentscheidung befugte Organ gegebenenfalls auch gegen den Willen der Kommission die Möglichkeit haben, die Durchführung einer Vereinbarung anzuordnen, wenn hiergegen keine rechtlichen Bedenken bestehen.300 Für einen auf eine rechtliche Kontrolle eingeschränkten Prüfungsumfang der Kommission spricht darüber hinaus, dass die Verhandlungen der europäischen Sozialpartner ihrer eigenen Auffassung nach das angemessenste Mittel sind, um Streitfragen im Zusammenhang mit Arbeitsorganisation und Beschäftigungsverhältnissen zu lösen.301 Deswegen darf die Kommission den zwischen den Sozialpartnern ausgehandelten Kompromiss nicht aufgrund eigener Zweckmäßigkeitserwägungen unbeachtet lassen. Denn nach dem vor allem in Art. 138 Abs. 4 EG zum Ausdruck kommenden Prinzip der doppelten Subsidiarität räumt der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene den sachnäheren Sozialpartnern gegenüber der Kommission den Vorrang bei der Ausgestaltung von Rechtssetzungsakten der Gemeinschaft im Bereich der Sozialpolitik ein. Erschwerend kommt hinzu, dass die Kommission sich mit einem eigenen Vorschlag gegen den Konsens der Sozialpartner ohnehin nicht durchsetzen könnte. Scheitert der Antrag der Unterzeichnerparteien nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG an der Weigerung der Kommission, einen entsprechenden
297 KOM (93) 600, S. 26; KOM (2002) 341 endg., S. 20; vgl. Waas, ZESAR 2004, S. 443 (450); zustimmend: Heinze, ZfA 1997, S. 505 (517 f.); Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 130 ff., 134; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 53; Weiss, FSGnade, S. 583 (593); Wisskirchen, FS-Arbeitsgerichtsverband, S. 653 (672). 298 Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 53. 299 Heinze, ZfA 1997, S. 505 (518); Kliemann, Die europäische Sozialintegration nach Maastricht, S. 133; Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 132 f. 300 Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 53. 301 KOM (2004) 557 endg., S. 9.
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Vorschlag beim Rat einzureichen, können sich die europäischen Sozialpartner zu einer Umsetzung ihrer Vereinbarung auf der nationalen Ebene nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG entscheiden. Danach darf die Kommission ein gegebenenfalls von ihr zuvor eingeleitetes Rechtssetzungsverfahren nicht weiterverfolgen. Bei der Ausarbeitung eines neuen Vorschlags müsste sie hingegen eine Anhörung nach Art. 138 Abs. 3 EG durchführen. Im Anschluss an diese könnten die europäischen Sozialpartner von ihrem Recht aus Art. 138 Abs. 4 EG Gebrauch machen und nach dem Ablauf von neun Monaten dann auf die zwischen ihnen geschlossene autonome Vereinbarung verweisen. Die Gemeinschaftsorgane kämen daher, solange die europäischen Sozialpartner bei diesem Vorgehen ihre gemeinschaftsvertraglichen Rechte nicht missbrauchen,302 also auch dann nicht zum Zug, wenn man der Kommission eine Kontrolle von Sozialpartnervereinbarungen unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zubilligen würde.303 Demnach steht der Kommission keine Prüfungskompetenz unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu.304 Insofern ist sie an die Sozialpartnervereinbarung gebunden. Weitgehende Einigkeit besteht wiederum darüber, dass der Rat im Rahmen seiner Beschlussfassung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG über den Wortlaut der vorgelegten Sozialpartnervereinbarung zu beschließen hat.305 Ebenso wie die Kommission darf der Rat den Wortlaut einer Sozialpartnervereinbarung daher nicht verändern, sondern kann sie im Gegensatz zum Rechtssetzungsverfahren nach Art. 252 EG entweder nur insgesamt annehmen oder vollständig verwerfen. Anders als die Kommission trifft der Rat allerdings eine freie Entscheidung darüber, ob er die Vereinbarung annehmen will oder nicht. Daraus ergibt sich, dass von einer alleinigen Verantwortung der Gemeinschaftsorgane für die Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung auf der europäischen Ebene keine Rede sein kann. Dem Rat steht lediglich die Entscheidung über das Ob der Durchführung zu.306 Den Inhalt der Vereinbarung bestimmen hingegen allein die europäischen Sozialpartner. An diesen sind die
302
§ 7 III. 3. c). Vgl. Heinze, ZfA 1997, S. 505 (517 f.). 304 Allerdings kann die Kommission gegebenenfalls darüber entscheiden, ob über den Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Vereinbarung hinaus Regelungen auf europäischer Ebene erlassen werden sollen; vgl. KOM (98) 322 endg., S. 18. 305 KOM (93) 600 endg., S. 25; Höland, ZIAS 1995, S. 425 (445); Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 140 ff., 144; Poschke, ZTR 2005, S. 390; Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 778; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 58; a. A.: Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 112 f.; Heinze, ZfA 1997, S. 505 (519); Langenbucher, ZEuP 2002, S. 265 (272, 279). 306 Gegebenenfalls bestimmen die Gemeinschaftsorgane die Frist, in der die Mitgliedstaaten den Inhalt der Sozialpartnervereinbarung umzusetzen haben; vgl. Art. 3 Abs. 1 RL 1999/63/EG. 303
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Gemeinschaftsorgane bei dem Verfahren nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG gebunden. c) Der Vergleich mit der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG Neben der Bindung der Gemeinschaftsorgane an einen Antrag nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG macht ein Vergleich mit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen in Deutschland deutlich, dass das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen auch auf Vereinbarungen anzuwenden ist, die nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG auf der europäischen Ebene durchgeführt werden.307 Nach § 5 Abs. 1 TVG können die Tarifparteien beantragen, dass der zuständige Bundesminister einen rechtswirksamen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem paritätisch besetzten Tarifausschuss für allgemeinverbindlich erklärt. Dafür müssen mindestens 50 % der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer von tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt werden und ein öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung bestehen, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung nicht zur Abwendung eines sozialen Notstandes erforderlich sein sollte. Nach § 5 Abs. 4 TVG erfassen die Rechtsnormen eines Tarifvertrages infolge der Allgemeinverbindlicherklärung die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Für die Beendigung der Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrages bedarf der zuständige Bundesminister gemäß § 5 Abs. 6 TVG wiederum des Einvernehmens des Tarifausschusses. Wegen der Gemeinsamkeiten zwischen der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG und der in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG vorgesehenen Durchführung von Sozialpartnervereinbarungen auf der europäischen Ebene ist der Beschluss des Rates nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG im Schrifttum schon mehrfach als europäische Allgemeinverbindlicherklärung bezeichnet worden.308 307 Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ist keine Besonderheit des deutschen Tarifvertragsrechts. Mit § 5 TVG vergleichbare Verfahren bestehen etwa in Belgien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Portugal, Schweden und Spanien; vgl. Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 118 ff. 308 Dötsch, AuA 1998, S. 262; Wank, RdA 1995, S. 10 (20); vgl. auch Birk, FSRehbinder, S. 1 (10); Gold – Carley, The Social Dimension, S. 105 (129); Däubler, EuZW 1992, S. 329; Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 463; Hanau/Steinmeyer/Wank – Hanau, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 19, Rn. 9; Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 601; Lagenbucher, ZEuP 2002, S. 265 (278); AGVBanken – Thau, Tarifpolitik auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft, S. 82 (86); a. A.: Arnold, NZA 2002, S. 1261 (1267); Kempen/Zachert –
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aa) Das Antragserfordernis Gemeinsam ist beiden Verfahren, dass sie nur unter der Beteiligung sowohl der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerorganisationen eingeleitet bzw. durchgeführt werden können. Nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG bedarf es für einen Ratsbeschluss eines gemeinsamen Antrags der Unterzeichnerparteien. Die Allgemeinverbindlicherklärung setzt die Zustimmung des Tarifausschusses voraus,309 so dass bei dem Verfahren nach § 5 TVG ebenfalls ein Konsens zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite über die Allgemeinverbindlicherklärung notwendig ist. bb) Die Erweiterung der rechtlichen Bindungswirkung In beiden Fällen dient das Verfahren dazu, die Bindungswirkung einer zwischen den Vertragsparteien autonom geschlossenen Kollektivvereinbarung auf Rechtssubjekte zu erweitern, die im Zeitpunkt der Antragstellung nicht an diese gebunden sind. Im Schrifttum ist hiergegen eingewendet worden, dass die europäische Sozialpartnervereinbarung durch den Beschluss des Rates überhaupt erst rechtlich verbindlich gemacht und ihre Bindungswirkung deswegen nicht „ausgeweitet“, sondern überhaupt erst begründet werde.310 Dem ist zu entgegnen, dass die europäischen Sozialpartner sich unabhängig von den Gemeinschaftsorganen für eine Durchführung nach den Verfahren und Gepflogenheiten der mitgliedstaatlichen Sozialpartner nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG entscheiden können und ihre Vereinbarung dann die betreffenden nationalen Sozialpartner, die einem der vereinbarungsschließenden europäischen Sozialpartner angehören, rechtlich bindet.311 Sollte die Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung auf der europäischen Ebene scheitern, ist es den europäischen Sozialpartnern unbenommen, die zwischen ihnen geschlossene Vereinbarung auf der Ebene der Mitgliedstaaten umzusetzen. Umgekehrt können die europäischen Sozialpartner die Durchführung einer Vereinbarung auf der europäischen Ebene auch dann noch beantragen, wenn sie zunächst nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG von den nationalen Sozialpartnern umgesetzt werden sollte.312 Daher Kocher, TVG, § 1, Rn. 715; Weiss, FS-Kissel, S. 1253 (1264 f.); Zachert, FS-Schaub, S. 811 (815). 309 Erfurter Kommentar – Franzen, § 5 TVG, Rn. 22. 310 Arnold, NZA 2002, S. 1261 (1267); Weiss, FS-Kissel, S. 1253 (1265); Zachert, FS-Schaub, S. 811 (815). 311 Das lassen Arnold (in: NZA 2002, S. 1261, 1267), Weiss (in: FS-Kissel, S. 1253, 1265) und Zachert (in: FS-Schaub, S. 811, 815) unberücksichtigt; zutreffend hingegen: Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 448 f. 312 Wegen der mitunter langjährigen Umsetzungsfristen kann man den europäischen Sozialpartnern nicht zumuten, die Durchführung einer Vereinbarung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG abzuwarten, bevor sie einen Beschluss nach Art. 139 Abs. 2
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kann man die unterschiedlichen Anwendungsbereiche, die eine Sozialpartnervereinbarung in den beiden in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG vorgesehenen Durchführungsvarianten haben kann, durchaus vergleichen. Insoweit ist festzustellen, dass ein Beschluss des Rates die Bindungswirkung der Sozialpartnervereinbarung im Vergleich zu einer autonom-sozialpartnerschaftlichen Durchführung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 GRC ausweitet. Bei einer Durchführung auf einzelstaatlicher Ebene wird die Sozialpartnervereinbarung lediglich für die nationalen Mitgliedsverbände verbindlich und hat nur nach der Maßgabe der jeweiligen mitgliedstaatlichen Verfahren und Gepflogenheiten Einfluss auf diejenigen Arbeitsverhältnisse, die der tariflichen Rechtssetzungsmacht der durchführungsverpflichteten Sozialpartner unterliegen. Demgegenüber erfasst eine Sozialpartnervereinbarung nach einem Durchführungsbeschluss des Rates alle Arbeitsverhältnisse im Gebiet der Gemeinschaft. Die Erstreckung wirkt sich damit in zwei Richtungen aus: – Erstens wird der Inhalt einer Sozialpartnervereinbarung nach einem Durchführungsbeschluss des Rates für die Arbeitsverhältnisse der Außenseiter verbindlich, die nicht mit einer Durchführung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG erreicht werden können. Das betrifft zum einen die Arbeitsverhältnisse, die nicht der tariflichen Rechtssetzung derjenigen nationalen Sozialpartner unterliegen, die zur Durchführung einer europäischen Sozialpartnervereinbarung verpflichtet werden können. Das gilt zum anderen aber auch für den Fall, dass aus einem Mitgliedstaat nur eine Seite der nationalen Sozialpartner oder aber gar kein nationaler Sozialpartner auf der europäischen Ebene repräsentiert wird. In diesen Mitgliedstaaten fehlt es bereits an einem Adressaten der Durchführungsverpflichtung aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG, weswegen erst ein Beschluss des Rates zu einer Anwendung der Sozialpartnervereinbarung auf die betreffenden Arbeitsverhältnisse führen kann. – Zweitens findet eine durch Ratsbeschluss durchgeführte Sozialpartnervereinbarung auf diejenigen Arbeitsverhältnisse Anwendung, die bei einer Durchführung in den Mitgliedstaaten deswegen nicht von der Sozialpartnervereinbarung erfasst werden könnten, weil nationale Verfahren und Gepflogenheiten der Durchführung auf der einzelstaatlichen Ebene entgegenstehen. Die europäische Sozialpartnervereinbarung wird mit einem Beschluss des Rates folglich auf diese beiden Gruppen von Arbeitsverhältnissen erstreckt. Im Übrigen ist auch die Kommission der Auffassung, dass es sich bei der Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung auf Gemeinschaftsebene um ein Verfahren handelt, bei dem es um die – so die Kommission wörtlich – „Ausweitung“ einer von den Sozialpartnern ausgehandelten und abgeschlossenen Vereinbarung geht.313 Satz 1 Var. 2 EG beantragen können. Insofern besteht ein Unterschied zur Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, die sich auf geltende Tarifverträge bezieht.
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cc) Der Zweck der Erstreckung Sowohl bei der Durchführung europäischer Sozialpartnervereinbarungen durch Beschluss des Rates als auch bei der Allgemeinverbindlicherklärung deutscher Tarifverträge begehren die vertragsschließenden Parteien von einem Hoheitsträger eine autoritative Entscheidung über die Ausweitung der rechtlichen Bindungswirkung eines zwischen ihnen geschlossenen Kollektivvertrages. Beide jeweils zuständigen Organe treffen des Weiteren eine eigenverantwortliche Entscheidung, die an spezifische materielle Voraussetzungen geknüpft ist. Dabei liegt der soziale Schutzzweck der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG darin, den Außenseiter-Arbeitnehmern angemessene Arbeitsbedingungen zu sichern. Sie beruht auf der subsidiären Regelungszuständigkeit des Staates, die eintritt, wenn die Koalitionen die ihnen übertragene Aufgabe, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, nicht allein erfüllen können. Das ist bei Außenseitern der Fall, weil sie nicht der Rechtssetzung der Tarifparteien unterliegen. Ihre soziale Schutzwürdigkeit macht daher ein Eingreifen des Staates erforderlich.314 Deshalb setzt die Erstreckung der Tarifbindung auf nichtorganisierte Arbeitnehmer ein öffentliches Interesse oder eine ansonsten eintretende soziale Notlage voraus, die den Staat zum Handeln zwingt. Der zuständige Bundesminister hat das Vorliegen der in § 5 Abs. 1 TVG aufgezählten Voraussetzungen selbständig zu prüfen und den Antrag der Tarifpartei abzulehnen, falls diese nicht erfüllt sein sollten.315 Ebenso wie den deutschen Tarifvertragsparteien ist den europäischen Sozialpartnern die Rechtssetzung für die beiden genannten Gruppen von Arbeitsverhältnissen nicht möglich, weil sie von einer sozialpartnerschaftlich durchgeführten Vereinbarung nicht erfasst würden. Die Rechtssetzung der europäischen Sozialpartner auf der supranationalen Ebene steht im Gegensatz zu den nationalen Tarifparteien allerdings nicht nur vor dem Problem, die Rechtsverhältnisse der Außenseiter nicht beeinflussen zu können. Sie wird zusätzlich durch die Beschränkung der sich aus Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG ergebenden Durchführungspflicht aufgrund nationaler Verfahren und Gepflogenheiten gehemmt. Mit der Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung auf der europäischen Ebene wird deren Anwendung daher nicht nur die Arbeitsverhältnisse der Außenseiter erstreckt, sondern auch die fehlende unmittelbare Wirkung autonomer Sozialpartnervereinbarungen kompensiert. Durch den Beschluss des Rates kommt die Sozialpartnervereinbarung in den Genuss des Anwendungsvorrangs
313 KOM (2002) 341 endg., S. 21; vgl. zudem: AGVBanken – Thau, Tarifpolitik auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft, S. 82 (90). 314 BVerfGE 44, 322 (342). 315 BVerfGE 44, 322 (344).
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des Gemeinschaftsrechts, wodurch sie dann gegenüber den Mitgliedstaaten zwingende und einheitliche Wirkung entfaltet.316 Dementsprechend prüfen die Kommission und der Rat bei einem Antrag der europäischen Sozialpartner nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG eigenverantwortlich, ob die mit der vorgelegten Vereinbarung verfolgten Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht und besser auf Gemeinschaftsebene verwirklicht werden können.317 Sowohl die Kommission als auch der Rat gehen zu Recht davon aus, dass sie zu dieser Überprüfung wegen des in Art. 5 EG genannten Grundsatzes der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit verpflichtet sind. Diese Kontrolle beinhaltet mithin die Frage danach, ob die autonome Durchführung der Vereinbarung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG auf der Ebene der Mitgliedstaaten den Zielen der Gemeinschaft genügen würde. Die Erstreckung der Vereinbarungswirkung auf alle Arbeitsverhältnisse in der Gemeinschaft aufgrund des Ratsbeschlusses kann dementsprechend nur erfolgen, wenn eine Umsetzung der Vereinbarung auf der nationalen Ebene gemäß Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG unzureichend wäre. Daher beruht das Verfahren nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG auf der doppelt subsidiären Regelungszuständigkeit der Gemeinschaft, die eintritt, wenn weder die Mitgliedstaaten noch die Sozialpartner mit dem in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG vorgesehenen Mittel die vorrangig ihnen obliegende Gestaltung der Sozialpolitik in der Gemeinschaft erfüllen können.318 dd) Die Stellung der erstreckten Regelungen in der jeweiligen Normenhierarchie Gemäß § 5 Abs. 4 TVG haben die Rechtsnormen eines Tarifvertrages infolge der Allgemeinverbindlicherklärung nicht die Wirkung eines staatlichen Gesetzes. Die Geltung des Tarifvertrages wird lediglich auf Außenseiter erstreckt, die dadurch an die weiterhin als Tarifnormen geltenden Bestimmungen gebunden werden. Da mit der Allgemeinverbindlicherklärung also lediglich der persönliche Anwendungsbereich des Tarifvertrages erweitert wird, behält er seine Stellung innerhalb der nationalen Normenhierarchie und muss daher auch nach der Allgemeinverbindlicherklärung mit dem einfachen Gesetzesrecht im Einklang stehen.319
316 Blanpain/Schmidt/Schweibert, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 521; im Ergebnis übereinstimmend: Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 447. 317 KOM (99) 203 endg., S. 11 f.; KOM (2005) 32 endg., S. 8, 12; vgl. beispielsweise den zwölften Erwägungsgrund zur Richtlinie 1999/63/EG; a. A.: Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 48. 318 Ähnlich: Ojeda Avilés, FS-Däubler, S. 519 (520 f.); zur doppelten Subsidiarität der Gemeinschaft im Bereich der Sozialpolitik siehe: § 7 III. 3. a).
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Die Stellung, die eine durch einen Ratsbeschluss durchgeführte Sozialpartnervereinbarung innerhalb der Normenhierarchie des Gemeinschaftsrechts einnimmt, ist bislang wenig erörtert worden. R. Schwarze320 vertritt hierzu die Auffassung, dass eine solche Vereinbarung lediglich am primären und nicht am sekundären Gemeinschaftsrecht zu messen sei. Dabei geht er wohl davon aus, dass die Vereinbarung nach einem sie durchführenden Beschluss des Rates Teil des sekundären Gemeinschaftsrechts wird und deswegen nur am ranghöheren europäischen Primärecht gemessen werden könne. Demgegenüber verdränge der Ratsbeschluss entgegenstehende Bestimmungen des ranggleichen sekundären Gemeinschaftsrechts nach der allgemeinen lex-posterior Regel. Zudem ist R. Schwarze321 der Auffassung, dass die Umsetzungsentscheidung des Rates ein vollwertiger Rechtsakt der Gemeinschaft sei und deshalb anders als bei der Allgemeinverbindlicherklärung unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Vereinbarung zu beurteilen sei. Demgegenüber will Höland322 allen verbindlichen Rechtsakten der Gemeinschaft Vorrang vor den Vereinbarungen der Sozialpartner einräumen und die von den Gemeinschaftsorganen vorzunehmende Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Sozialpartnervereinbarung auf den gesamten arbeits- und sozialrechtlichen Normenbestand der Gemeinschaft und damit auch auf das sekundäre Gemeinschaftsrecht erstrecken. Die Sozialpartnervereinbarung habe einen schwächeren Status als das zwingende Gemeinschaftsrecht. Die Kommission geht zutreffend davon aus, dass sich autonome Vereinbarungen nicht für die Überarbeitung bestehender Richtlinien eignen, die vom Rat und vom Europäischen Parlament über das übliche Legislativverfahren verabschiedet worden sind.323 Sie prüft folgerichtig bei Sozialpartnervereinbarungen, die durch Beschluss des Rates durchgeführt werden sollen, ob jede einzelne Bestimmung der vorgelegten Vereinbarung mit dem gesamten primären und sekundären Gemeinschaftsrecht im Einklang steht.324 Beispielsweise hielt die Kommission die zwischen der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) und der Gemeinschaft Europäischer Bahnen (CER) am 27. Januar 2004 geschlossene Vereinbarung über bestimmte Aspekte der Einsatzbedingungen des fahrenden Personals im interoperablen grenzüberschreitenden Verkehr nur deshalb für rechtmäßig, weil die Vereinbarung den Bestimmungen der Richtlinie 2003/88/ 319 Däubler – Lakies, TVG, § 5, Rn. 51; Löwisch/Rieble, TVG, § 5, Rn. 36; Wiedemann – Wank, TVG, § 5, Rn. 52. 320 In: Oetker/Preis, EAS, B 8100, Rn. 53. 321 In: Oetker/Preis, EAS, B 8100, Rn. 59; ebenso: Britz/Schmidt, EuR 1999, S. 467 (477). 322 In: ZIAS 1995, S. 425 (442, 445); im Ergebnis übereinstimmend: Mégret – Zorbas, Le droit de la CE et de l’Union Européenne VII, Rn. 39. 323 KOM (2004) 557 endg., S. 12. 324 KOM (93) 600 endg., S. 26; KOM (98) 322 endg., S. 18; KOM (2002) 341 endg., S. 20.
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EG des Europäischen Parlaments und des Europäschen Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung325 nicht zuwiderläuft.326 Die Kommission ordnet die durchzuführende Sozialpartnervereinbarung folglich innerhalb der Normenhierarchie des Gemeinschaftsrechts nicht auf der Ebene der europäischen Verordnungen und Richtlinien, sondern unterhalb dieser gemeinschaftlichen Rechtsquellen ein. Mit diesen muss die Sozialpartnervereinbarung im Einklang stehen, um ihrerseits rechtmäßig zu sein. Der Beschluss des Rates ändert hieran nichts. Das ergibt sich vor allem daraus, dass die von der Gemeinschaft ausgearbeiteten und vom Rat unter Mitwirkung des Europäischen Parlaments erlassenen Richtlinien demokratisch besser legitimiert sind als die durch Beschluss des Rates durchgeführten Vereinbarungen. Die Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG weist damit eine weitere Parallele zur Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG auf. Sie verdeutlicht, dass es sich bei der Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung auf der Gemeinschaftsebene nicht um staatliche Rechtssetzung mit Sozialpartnerhilfe,327 sondern um ein gemeinschaftsrechtliches Instrument handelt, das den Vereinbarungen der europäischen Sozialpartner zu größerer Durchsetzungskraft verhilft.328 ee) Die Beendigung der Erstreckungswirkung Zur Begründung ihrer These, dass allein die Gemeinschaft für die Rechtssetzung im Verfahren des Sozialen Dialogs verantwortlich sei, führen Löwisch/Rieble329 an, dass eine nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG erlassene Richtlinie anders als ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag nicht durch Aufhebung der Sozialpartnervereinbarung zu Fall gebracht werden könne.330 Die Prämisse ist allerdings nicht so sicher, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Der Ratsbeschluss nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG ergeht zur Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung und verweist lediglich auf die dem Beschluss als Anhang beigefügte Vereinbarung.331 Heben die Sozialpartner
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ABl. Nr. L 299, 18.11.2003, S. 9. KOM (2005) 32 endg., S. 8. 327 A. A.: Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 107. 328 So das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 44, 322, 342) zu § 5 TVG. 329 In: TVG, Grundl., Rn. 107. 330 R. Schwarze (in: Oetker/Preis, EAS, B 8100, Rn. 59) ist ebenfalls der Ansicht, dass der Ratsbeschluss vom weiteren Schicksal der Vereinbarung unabhängig ist und Däubler (in: EuZW 1992, S. 239, 334) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Rezeptionsentscheidung“ des Rates; vgl. zudem: Hailbronner/Wilms – Boecken, Art. 139 EGV, Rn. 21. 331 § 7 IV. 3. a). 326
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ihre Vereinbarung auf,332 ginge der eigentliche Durchführungsbefehl des Rates ins Leere, weil es dann an einer umzusetzenden Vereinbarung, auf die sich der Ratsbeschluss bezieht, mangeln würde.333 Jedenfalls ist aber die von Löwisch/Rieble gezogene Konsequenz schwerlich haltbar, weil dabei unberücksichtigt bleibt, dass auch die Gemeinschaftsorgane den gemeinschaftlichen Durchführungsrechtsakt nicht ohne weiteres gegen den Willen der Sozialpartner aufheben können. Beabsichtigt die Kommission dessen Aufhebung, hat sie gemäß Art. 138 Abs. 2 und 3 EG zunächst die europäischen Sozialpartner anzuhören. Im Anschluss an die zweite Anhörung können die Sozialpartner das von der Kommission eingeleitete und auf die Aufhebung des Rechtsakts gerichtete Verfahren gemäß Art. 138 Abs. 4 EG an sich ziehen. Anschließend können sie wiederum eine Vereinbarung abschließen und gegebenenfalls deren Durchführung auf Gemeinschaftsebene beantragen.334 Selbst wenn der Antrag der europäischen Sozialpartner im Rat scheitern sollte, wird der ursprüngliche Aufhebungsvorschlag der Kommission hinfällig.335 ff) Die rechtliche Qualifikation des Hoheitsaktes Obwohl eher zufälliger Natur besteht zwischen dem Verfahren nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG und der Allgemeinverbindlicherklärung deutscher Tarifverträge die Gemeinsamkeit, dass die rechtliche Einordnung der jeweiligen hoheitlichen Entscheidung unklar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG weder ein Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung sei noch eine adressatenabhängige Doppelnatur habe; es handle sich vielmehr um einen Rechtssetzungsakt sui generis.336 Hinsichtlich der Rechtsform bestehen auch bei dem in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG vorgesehenen „Beschluss“ des Rates Zweifel, weil damit keine in Art. 249 EG aus332 Zur Aufhebung der Vereinbarung sind die beteiligten europäischen Sozialpartner ohne weiteres in der Lage, weil sie jedenfalls konsensual über den Bestand des zwischen ihnen geschlossenen Vertrages disponieren können. 333 Die Konsequenzen dieser Auffassung wären in der Praxis jedenfalls handhabbar, weil das Ende der Vereinbarung keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Rechtsverhältnisse in den Mitgliedstaaten hätte und eventuell schon erfolgte Umsetzungsmaßnahmen in den Mitgliedstaaten daher auch nach dem Wegfall der Vereinbarung ohne weiteres gültig bleiben würden; vgl. Hanau/Steinmeyer/Wank – Hanau, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 19, Rn. 10; ablehnend: Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 449 f.; Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 110. 334 Eine Ausnahme ist nur dann zu machen, wenn sich die Ausübung des Rechts aus Art. 138 Abs. 4 EG als missbräuchlich darstellt, vgl. dazu § 7 III. 3. c). 335 KOM (93) 600 endg., S. 26. 336 BVerfGE 44, 322 (338 ff., 340).
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drücklich aufgeführte Handlungskategorie benannt wird.337 Deswegen ist hier neben der Richtlinie zuweilen auch die einem deutschen Verwaltungsakt ähnelnde Handlungsform der Entscheidung338 oder auch der unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbaren Verordnung339 diskutiert worden.340 Vereinzelt ist der Ratsbeschluss nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG ebenso wie die Entscheidung nach § 5 TVG als ein in Art. 249 EG nicht aufgeführter Rechtsakt sui generis bezeichnet worden.341 Insgesamt weist die Durchführung von Sozialpartnervereinbarungen durch Beschluss des Rates mit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach § 5 TVG so viele Gemeinsamkeiten auf, dass er als europäische Allgemeinverbindlicherklärung zu bezeichnen ist. d) Die demokratische Legitimation des Ratsbeschlusses nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG Bei der gemeinschaftlichen Durchführung von Sozialpartnervereinbarungen ist nach Art. 139 EG Abs. 2 EG eine Beteiligung des Europäische Parlaments nicht vorgesehen.342 Zahlreiche Kritiker bemängeln deswegen die unzureichende demokratischen Legitimation der Ratsbeschlüsse nach Art. 139 Abs. 2 337 Vgl. Buchner, RdA 1993, S. 193 (201); Höland, ZIAS 1995, S. 425 (446 f.); Wank, RdA 1995, S. 10 (20). 338 Vgl. Konzen, EuZW 1995, S. 39 (47 f.). 339 Birk, EuZW 1997, S. 453 (459); Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 144 ff., 151. 340 Geht man mit der Kommission (KOM (2002) 341 endg., S. 21; KOM (2005) 32 endg., S. 11) davon aus, dass der Begriff des Beschlusses in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG alle drei in Art. 249 EG genannten verbindlichen Handlungskategorien (Richtlinie, Verordnung und Entscheidung) bezeichnet, ist das ein weiterer Beleg für den Unterschied zwischen der hoheitlichen Rechtssetzung durch die Gemeinschaftsorgane und der autonomen Rechtssetzung durch die Sozialpartner. Denn die Gemeinschaftsorgane können nach Art. 137 Abs. 2 Buchstabe b) EG im Bereich der Sozialpolitik ausschließlich Richtlinien erlassen. Wenn die Befugnisse der Gemeinschaftsorgane beim Verfahren nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG weiter gehen als beim gemeinschaftlichen Rechtssetzungsverfahren nach Art. 137 EG, muss es sich dabei um ein besonderes Verfahren zur Durchführung der Sozialpartnervereinbarung handeln. 341 Birk, EuZW 1997, S. 453 (459) [„unbenannter Ratsbeschluss“]; vgl. auch die Nachweise bei: Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 118. 342 Die Kommission ist zwar der Auffassung, dass sie zur Anhörung des Europäischen Parlaments beim Verfahren nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG nicht rechtlich verpflichtet ist. Sie unterrichtet das Parlament jedoch freiwillig, um ihm die Möglichkeit einer Stellungnahme zu geben; vgl. KOM (93) endg., S. 26. Das Europäische Parlament hat hingegen in seiner Entschließung vom 3.5.1994 (abgedruckt in: BT-Drucks. 12/7796, 7.6.1994, S. 4) die Ansicht geäußert, dass jeder Beschluss des Rates nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG eine vorherige Stellungnahme des Europäischen Parlaments erfordert; vgl. ZEW – Reding, Der Soziale Dialog in Europa, S. 1 (11 f.).
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Satz 1 Var. 2 EG.343 Allerdings sehen auch mehrere Stimmen im Schrifttum hierin keinen Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Demokratieprinzip, weil dieses sich nicht strikt an dem Vorbild einer parlamentarischen Demokratie orientiere und die Beteiligung der Kommission und die Entscheidung des Rates dem gemeinschaftsrechtlichen Demokratieprinzip genügen.344 Nach Arnold345 konterkariert das korporative Rechtssetzungsmodell des Sozialen Dialogs die ansonsten geforderte Stärkung des Europäischen Parlaments. Die Wahrnehmung hoheitlicher Rechtssetzungsbefugnisse durch die europäischen Sozialpartner verstoße gegen den Gedanken der Volkssouveränität, nach dem das Volk Träger aller Staatsgewalt ist und die Ausübung von Hoheitsgewalt demokratisch legitimiert sein müsse.346 Die europäischen Sozialpartner seien aber nicht demokratisch, sondern nur mitgliedschaftlich legitimiert und könnten deswegen bestenfalls ihre Mitglieder und keinesfalls die Staatsvölker der europäischen Mitgliedstaaten repräsentieren.347 Noch schärfer hat Dederer348 die Regelung in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG angegriffen. Da es den europäischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen, deren Vertreter weder unmittelbar noch mittelbar von den einzelnen Staatsvölkern gewählt würden, an jeglicher organisatorisch-personeller Legitimation fehle, könne ihre Mitwirkung nicht die gänzliche Ausschaltung des Europäischen Parlaments rechtfertigen. Die Mitwirkung demokratisch nicht legitimierter Gruppen führe zu einer unzureichenden demokratischen Legitimierung bei der Rechtssetzung im Sozialen Dialog, weswegen gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 2 Satz 1 GG auf Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG beruhende Rechtsakte der Gemeinschaft in Deutschland keine Anerkennung finden dürften.349 343 Arnold, NZA 2002, S. 1261 (1263); Dederer, RdA 2000, S. 216 (220); Langenbucher, ZEuP 2002, S. 265 (267 ff.); Waas, ZESAR 2004, S. 443 (449 f.); ebenfalls kritisch: Leidenmühler, WISO 2000, S. 101 (111); R. Schwarze, RdA 2001, S. 208 (215 ff.); Weiss, FS-Wiese, S. 633 (639 f.); vgl. auch Britz/Schmidt, EuR 1999, S. 467 (486 ff.); Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 46. 344 Britz/Schmidt, EuR 1999, S. 467 (497 f.); Hanau/Steinmeyer/Wank – Hanau, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 19, Rn. 9; Leidenmühler, WISO 2000, S. 101 (113); R. Schwarze, RdA 2001, S. 208 (217). 345 In: NZA 2002, S. 1261. 346 Arnold, NZA 2002, S. 1261 (1265). 347 Arnold, NZA 2002, S. 1261 (1266). 348 In: RdA 2000, S. 216 (220, 222). 349 Dederer, RdA 2000, S. 216 (222) unter Verweis auf BVerfGE 85, 155 (188). Dennoch ist nicht ersichtlich, woraus sich die von Dederer angenommene Rechtsfolge ergeben soll. Aus der zitierten Stelle des Maastricht-Urteils des BVerfG geht hervor, dass Rechtsakte der Union im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich sind, wenn europäische Einrichtungen oder Organe den EU-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden sollten, die von dem deutschen Zustimmungsgesetz nicht mehr gedeckt wäre. Das ist hinsichtlich des Verfahrens nach Art. 139 EG nicht der Fall, weil der
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Das EuG hat im Gegensatz zu dieser Kritik in seinem Urteil vom 17. Juni 1998 entschieden, dass die fehlende Beteiligung des Europäischen Parlaments durch die Mitwirkung der europäischen Sozialpartner kompensiert wird.350 Bei dem in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG vorgesehenen Verfahren führe das Eingreifen der Kommission und des Rates dazu, dass eine von Sozialpartnern getroffene Vereinbarung eine legislative Grundlage erhalte. Hierfür werde allerdings nicht auf die klassischen Gesetzgebungsverfahren zurückgegriffen, die eine Beteiligung des Europäischen Parlaments vorsähen. Die Beteiligung des Parlaments spiegle zwar ein demokratisches Prinzip des Gemeinschaftsrechts wider, wonach die Völker durch eine Versammlung ihrer Vertreter an der Ausübung hoheitlicher Gewalt auf Gemeinschaftsebene zu beteiligen sind. In dem Verfahren nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG werde die Beteiligung der Völker aber durch die europäischen Sozialpartner hergestellt und dadurch das demokratische Prinzip gewahrt.351 Der die Sozialpartnervereinbarung umsetzende Ratsbeschluss nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG erhalte seine Legitimation daher nicht durch eine Beteiligung des Europäischen Parlaments, sondern aufgrund der „Gesamtrepräsentativität“ der beteiligten europäischen Sozialpartner.352 Allerdings müssten die Kommission und der Rat deswegen vor ihren jeweiligen Entscheidungen prüfen, ob die am Abschluss einer Vereinbarung beteiligten Sozialpartner in Hinblick auf den Vereinbarungsinhalt insgesamt hinreichend repräsentativ seien.353 Soweit diese Voraussetzung nicht erfüllt sei, seien die Gemeinschaftsorgane verpflichtet die Vereinbarung nicht durchzuführen. Ein Verstoß gegen diese Pflicht führe zur Unwirksamkeit des betreffenden Rechtsaktes.354 An wohl kaum einer anderen Stelle tritt die Schwäche der Einordnung des Sozialen Dialogs auf der Gemeinschaftsebene als organisationsrechtliche Modifikation des gemeinschaftlichen Rechtssetzungsverfahrens so deutlich zu Tage wie bei der Frage nach der Substitution des Europäischen Parlaments durch die europäischen Sozialpartner. Alle Stimmen im Schrifttum, die hieran Kritik üben, vernachlässigen den Einfluss des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen auf den Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene, das die eurodeutsche Gesetzgeber dem gesamten Vertrag von Maastricht und damit auch dem Ausschluss des Europäischen Parlaments im Rahmen des Sozialen Dialogs zugestimmt hat (vgl. Art. 1 des Zustimmungsgesetzes vom 28.12.1992, abgedruckt in: BGBl. II 1992, S. 1251). Dederer müsste folgerichtig das deutsche Zustimmungsgesetz nach der Prüfung am Maßstab des deutschen Demokratieprinzips gemäß Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 2 Satz 1 GG in toto für nichtig halten; vgl. BVerfGE 89, 155 (157). 350 Rs. T-135/96 (UEAPME); zustimmend: Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 60; ablehnend: Oetker/Preis – Preis/Gotthardt, EAS, B 1100, Rn. 46. 351 EuG, 17.6.1998, Rs. T-135/96, Rn. 88 (UEAPME). 352 EuG, 17.6.1998, Rs. T-135/96, Rn. 89 (UEAPME). 353 EuG, 17.6.1998, Rs. T-135/96, Rn. 90 (UEAPME). 354 EuG, 17.6.1998, Rs. T-135/96, Rn. 87 (UEAPME).
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päischen Sozialpartnerorganisationen auch bei dem in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG vorgesehenen Durchführungsverfahren ausüben. Arnold355 geht zunächst davon aus, dass eine Vereinbarung der europäischen Sozialpartner ohne eine Umsetzung durch den Rat keinerlei Rechtswirkungen für Dritte habe, und bezweifelt anschließend, dass die europäischen Sozialpartner Träger des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen seien.356 Auf dieser Grundlage führt Arnold dann aus, dass die europäischen Sozialpartner nach dem Gemeinschaftsrecht nicht einmal gegenüber ihrem eigenen Mitgliederkreis und schon gar nicht gegenüber Außenseitern eine autonome Rechtssetzungskompetenz hätten. Das führt Arnold zu dem Schluss, dass das Gemeinschaftsrecht die europäischen Sozialpartner in unzulässiger Weise an der gemeinschaftlichen Rechtssetzung beteilige.357 Arnold belegt also das Ergebnis, die europäischen Sozialpartner dürften nicht in dem in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG vorgesehen Umfang an der Rechtssetzung der Gemeinschaft beteiligt werden, mit dem Argument, die europäischen Sozialpartner könnten die verbindlichen Rechtswirkungen, die einer Vereinbarung nach einem Beschluss des Rates zukommt, nicht autonom herbeiführen. Dabei verfängt er sich in einem Widerspruch. Gerade weil die europäischen Sozialpartner ihre Mitglieder nur in dem Umfang des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG und vor allem nur unter dem Vorbehalt nationaler Verfahren und Gepflogenheiten rechtlich binden können, sieht Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG die Durchführung einer zwischen ihnen geschlossenen Vereinbarung mit den Mitteln gemeinschaftlicher Rechtssetzung vor. Könnten die europäischen Sozialpartner wie die Organe der Gemeinschaft Recht setzen, wie Arnold für die Anerkennung einer gemeinschaftsrechtlichen Tarifautonomie verlangt, würde es der Regelung in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG gar nicht mehr bedürfen.358 Dederer359, der bereits Zweifel am Bestehen eines gemeinschaftsrechtlichen Grundrechts der Tarifautonomie hegt,360 ist der Auffassung, dass ein solches 355
In: NZA 2002, S. 1261 (1267). Demgegenüber erkennt Langenbucher (in: ZEuP 2002, S. 265, 269 f. und 278) zwar an, dass die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG zur „erweiterten Autonomie der Koalitionen“ gehöre, stellt dann aber auf ein „tarifpolitisches Mandat“ der europäischen Sozialpartner ab, anstatt nach ihrer Befugnis zum Abschluss von Vereinbarungen nach Art. 139 EG und der Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen auf den Sozialen Dialog zu fragen. 357 Arnold, NZA 2002, S. 1261 (1267). 358 Im Übrigen ist die Argumentation von Arnold auch deswegen zirkelschlüssig, weil er die Anwendung des Art. 28 Var. 1 GRC auf den Sozialen Dialog mit der Behauptung des gegenteiligen Ergebnisses verneint. Der These, dass der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene ein Modell supranationaler Tarifautonomie darstellt, ist mit der Behauptung, es handle sich lediglich um eine Beteiligung der europäischen Sozialpartner an der gemeinschaftlichen Rechtssetzung, nur mit dem gegenteiligen Ergebnis, nicht aber mit einem Argument in der Sache entgegengetreten. 359 In: RdA 2000, S. 216 (221); ebenso: Langenbucher, ZEuP 2002, S. 265 (278). 356
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Grundrecht jedenfalls keine Befugnis enthalte, das gesamte Arbeitsleben aller Arbeitnehmer mittels Verordnung oder Richtlinie zu regulieren. Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass eine auf der Grundlage des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG durchgeführte Vereinbarung nicht allein auf einem Willensakt der europäischen Sozialpartner, sondern eben auch auf einer Entscheidung des Rates beruht. Eine nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG durchgeführte Vereinbarung stützt sich daher entgegen der Behauptung Dederers keineswegs ausschließlich auf die europäische Tarifautonomie. Im Übrigen ist die – nicht nur in Deutschland bekannte – Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen in aller Regel auf eine einheitliche erga-omnes Wirkung gerichtet, was der in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG vorgesehenen Rechtsfolge des Ratsbeschlusses entspricht.361 Erkennt man in dem Verfahren des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG hingen eine Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen, erklärt sich der Ausschluss des Europäischen Parlaments geradezu von selbst. Ebenso wie die Allgemeinverbindlicherklärung im deutschen Tarifrecht362 ist der Beschluss des Rates mit Rücksicht auf die grundrechtliche Position der europäischen Sozialpartner darauf gerichtet, deren Vereinbarungen zu größerer Durchsetzungskraft zu verhelfen. Das entspricht der vom EuGH – jedenfalls indirekt – geäußerten Rechtsauffassung, dass es sich bei den europäischen Sozialpartnervereinbarungen um „Kollektivvereinbarungen zur Verbesserung der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen“ handle, die von der Gemeinschaft auf Antrag der Unterzeichnerparteien für alle verbindlich erklärt werden könnten.363 Der Ratsbeschluss liegt daher als Rechtssetzungsakt eigener Art zwischen gemeinschaftlicher Rechtssetzung und autonomer Regelung der Sozialpartner.364 Autonom ist das Verfahren, weil die Sozialpartner die Vereinbarung 360 Zweifel an der Existenz eines Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen dürften sich spätestens mit der feierlichen Proklamation der Grundrechtecharta erledigt haben; zur Begründung eines Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen siehe: Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 254 ff., 287 (mit zahlreichen Nachweisen); Schaub, FS-Wissmann, S. 578 (580). 361 Das konzediert auch Arnold (in: NZA 2002, S. 1261, 1267). Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 44, 322, 348) deutlich gemacht, dass die Koalitionen keinen verfassungsmäßigen Auftrag haben, für die nicht nach § 3 TVG Tarifgebundenen, Recht zu setzen. Gegenüber dieser Personengruppe ist die Anwendung des Tarifvertrages aufgrund der Allgemeinverbindlicherklärung nur wegen der staatlichen Entscheidung des zuständigen Bundesministers und nur unter den Voraussetzungen des § 5 TVG gerechtfertigt. In vergleichbarer Weise findet die Erstreckung des Inhalts der Sozialpartnervereinbarung auf diejenigen Arbeitsverhältnisse, die mit einer autonomen Durchführung nicht erreicht werden können, ihre Legitimation im Beschluss des Rates nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG. 362 Vgl. BVerfGE 44, 322 (342). 363 EuGH, 12.9. 2000, verb. Rs. C-180/98, C-181/98, C-182/98, C-183/98, C-184/ 98, Rn. 69 (Pavlov). 364 Vgl. BVerfGE 44, 322 (340).
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inhaltlich gestalten und die Durchführung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG initiieren, und zugleich hoheitlich, weil der Rat die Vereinbarung mit dem autoritativen Beschluss mit den Wirkungen eines gemeinschaftlichen Rechtssetzungsaktes ausstattet.365 Dafür spricht, dass es sich bei dem Verfahren nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG, wie das EuG zutreffend festgestellt hat, eben nicht um ein klassisches Gesetzgebungsverfahren handelt.366 Der Durchführungsbeschluss des Rates bringt vielmehr Normen hervor, die in der Normenhierarchie unterhalb der im gewöhnlichen Rechtssetzungsverfahren unter Beteiligung des Europäischen Parlaments erlassenen Richtlinien und Verordnungen der Gemeinschaft stehen. Allerdings ist der Annahme des EuG, dass die fehlende Beteiligung des Parlaments durch die Mitwirkung der europäischen Sozialpartner kompensiert werden müsse – unabhängig von der Frage, ob das überhaupt möglich ist367 – nicht zu folgen. Der Beschluss des Rates ist vielmehr ein dem gewöhnlichen Rechtssetzungsprozess der Gemeinschaft wesensverschiedenes Verfahren, das auf die Durchführung einer in Ausübung des Grundrechts aus Art. 28 Var. 1 GRC geschlossenen Sozialpartnervereinbarung gerichtet ist. Die aus diesem Verfahren resultierenden Normen kommen einer Exekutiventscheidung so nahe, dass es einer zusätzlichen Beteiligung des Europäischen Parlaments zur Herstellung ausreichender demokratischer Legitimation nicht bedarf.368 Gleichwohl ist an dem vom EuG aufgestellten Erfordernis der „Gesamtrepräsentativität“ der beteiligten Sozialpartner für die Durchführung einer Vereinbarung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG unverändert festzuhalten. Es dient allerdings nicht der Herstellung demokratischer Legitimation im gemeinschaftlichen Rechtssetzungsverfahren, sondern garantiert ausschließlich die sachlich-inhaltliche Legitimität des Vereinbarungsinhalts.369 365 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 44, 322, 340) hat zu § 5 TVG entschieden, dass die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ihre eigenständige Grundlage in Art. 9 Abs. 3 GG finde; sie beruhe auf einem Zusammenwirken von Tarifparteien einerseits und Stellen der staatlichen Exekutive andererseits. Übertragen auf das Verfahren nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG bedeutet das, dass der Beschluss des Rates seine Grundlage im Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen findet und auf dem gemeinsamen Handeln der europäischen Sozialpartner und den Gemeinschaftsorganen beruht; ähnlich: Piazolo (in: Der Soziale Dialog, S. 171), die hinsichtlich der Beteiligung der europäischen Sozialpartner an der gemeinschaftlichen Rechtssetzung auf das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen verweist. 366 EuG, 17.6.1998, Rs. T-135/96, Rn. 88 (UEAPME). 367 Zu recht kritisch: Oetker/Preis – Preis/Gotthardt, EAS, B 1100, Rn. 46. 368 Da im Übrigen die Kommission und der Rat die Vereinbarung entweder nur insgesamt annehmen oder ablehnen können, nicht aber deren Wortlaut ändern dürfen, kann dem Europäischen Parlament erst recht keine Befugnis zur Änderung der Vereinbarung zukommen. Der Ausschluss der Beteiligung des Europäischen Parlaments ist daher konsequent; vgl. Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 157; ablehnend: Schmähl/Rische – Clever, Europäische Sozialpolitik, S. 111 (117).
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
Im Ergebnis sind auch die Vereinbarungen, die nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 GRC auf der europäischen Ebene durchgeführt werden sollen, als europäische Tarifverträge im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC anzusehen und die diesbezüglichen Verhandlungen ebenso wie die Mitwirkung der europäischen Sozialpartner an ihrer gemeinschaftlichen Durchführung als Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen anzuerkennen. e) Die Entstehungsgeschichte des Art. 139 EG Die Entstehungsgeschichte des Sozialen Dialogs und insbesondere diejenige der Vorschrift des Art. 139 EG bestätigen dieses Ergebnis. Der heute im EG-Vertrag verankerte Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene begann im Wesentlichen mit den beiden Treffen der Vertreter von UNICE, CEEP und des EGB am 31. Januar 1985 und am 12. November 1985 in Val Duchesse, bei denen sie ihre Meinungen im Bereich der Sozialpolitik austauschten.370 Bereits im Arbeitsprogramm der Kommission für das Jahr 1985 hatte der damalige Kommissionspräsident Jaques Delors den Wunsch der Kommission bekräftigt, einen Sozialen Dialog der europäischen Sozialpartner zu etablieren, der sie unter Bezugnahme der Tarifverhandlungen auf der Ebene der Mitgliedstaaten zum Abschluss von Rahmenverträgen auf der Gemeinschaftsebene befähigen sollte.371 Im Vorfeld der Einheitlichen Europäischen Akte wurde dann von der französischen Verhandlungsdelegation versucht, eine Vorschrift in den Europäischen Verträgen zu verankern, die es dem Rat erlauben sollte, mit qualifizierter Mehrheit und auf Vorschlag der Kommission einen von den Sozialpartnern in mindestens drei Mitgliedstaaten abgeschlossenen Kollektivvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären.372 Dieser Vorschlag, der mit der heute in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG befindlichen Regelung nahezu identisch gewesen ist, konnte sich jedoch 1986 nicht durchsetzen, weil man eine Aushöhlung der nationalen Tarifsysteme befürchtete. Die anschließend als Art. 118b EWG-V in der Einheitlichen Europäischen Akte verabschiedete Regelung373 verzichtete 369 Britz/Schmidt, EuR 1999, S. 467 (494 ff.); vgl. auch Deinert, RdA 2004, S. 211 (222); a. A.: Hervey/Kenner – Ryan, Economic and Social Rights under the EU Charter of Fundamental Rights, S. 67 (89). 370 Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, 1985, Heft 1, S. 68 und Heft 11, S. 132. 371 Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, 1985, Beilage 4, S. 34. 372 Kempen/Zachert – Kocher, TVG, § 1, Rn. 716; Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 29; Zachert, FS-Schaub, S. 811 (818). 373 „Die Kommission bemüht sich darum, den Dialog zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene zu entwickeln, der, wenn diese es für wünschenswert halten, zu vertraglichen Beziehungen führen kann.“; Art. 22 EEA (abgedruckt in: BGBl. II 1986, S. 1104, 1108 f.).
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dennoch darauf, den Sozialen Dialog auf die Abstimmung der Sozial- mit der Konjunktur- und Wachstumspolitik zu beschränken, wie es noch in den 70er Jahren der Fall gewesen ist.374 Erstmals wurde die Autonomie der europäischen Sozialpartner zur Verfolgung sozialpolitischer Ziele der Gemeinschaft genutzt und den Sozialpartnern die Möglichkeit geben, sich in Ausübung ihrer Koalitionsfreiheit die europäische Dimension selbst zu erschließen und dadurch den Binnenmarkt abzurunden.375 Diesen Eindruck bestätigt ein Blick in die am 9. Dezember 1989 feierlich proklamierte Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. In Art. 12 Abs. 1 EG-SC garantiert die EG-Sozialcharta das Recht der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmervereinigungen unter den Bedingungen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten, Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen. Daran schließt sich Art. 12 Abs. 2 EG-SC mit folgendem Wortlaut an: „Der auszubauende europaweite Dialog zwischen den Sozialpartnern kann, falls sie dies als wünschenswert ansehen, zu Vertragsverhältnissen namentlich auf branchenübergreifender und sektorieller Ebene führen.“
Im Rahmen der Maastrichter Vertragsrevision ging die Initiative zur Intensivierung des Sozialen Dialogs vor allem von dem Aktionsprogramm der Kommission zur EG-Sozialcharta aus.376 Mit der Annahme des Protokolls zum Vertrag von Maastricht über die Sozialpolitik wurde der Soziale Dialog erstmals in seiner auch noch im Vertrag von Nizza geltenden Fassung im europäischen Primärrecht verankert. Darin bekräftigten die EG-Mitgliedstaaten (mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs), mit der Intensivierung des Sozialen Dialogs auf dem von der EG-Sozialcharta vorgezeichneten Weg weitergehen zu wollen.377 Zwischen dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen in Art. 12 EG-SC und dem Sozialen Dialog auf der Gemeinschaftsebene besteht also von je her ein innerer Zusammenhang.378 In der Grundrechtecharta kommt er dadurch zum Ausdruck, dass Art. 28 Var. 1 GRC seinerseits auf Art. 12 EG-SC zurückzuführen ist.379
374 Vgl. etwa Art. 2 des Beschlusses des Rates 10/532/EWG vom 14.12.1970 zur Einsetzung des Ständigen Ausschusses für Beschäftigungsfragen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. Nr. L 273, 17.12.1970, S. 25). 375 So die Einschätzung von Rust (in: von der Groeben/Schwarze, Art. 138 EG, Rn. 70). 376 KOM (89) 568 endg. 377 ABl. Nr. C 224, 31.8.1992, S. 126. 378 Blank, FS-Gnade, S. 649 (653); Heinze, FS-Kissel, S. 363 (378); von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 138 EG, Rn. 77; vgl. Hanau, ArbRGeg. 28 (1991), S. 98 (110); Kenner, EU Employment Law, S. 147. Zum Bezug des Sozialen Dialogs zur EG-SC siehe auch: Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 234. 379 Vgl. CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27.
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
In der Vorbereitung des Maastricht-Vertrags legte die Kommission am 21. Oktober 1990 einen Textentwurf für die neuen Bestimmungen im Gemeinschaftsvertrag vor, nach denen in Übereinstimmung mit der in den Einzelstaaten anerkannten Autonomie der Tarifparteien und dem Prinzip der doppelten Subsidiarität den europäischen Sozialpartnern der Vorrang vor einer Rechtssetzung der Gemeinschaft zubilligt werden sollte.380 Dazu griff die Kommission den früheren französischen Vorschlag zur Allgemeinverbindlicherklärung europäischer Vereinbarungen wieder auf und schlug für Art. 118b EGV – vorbehaltlich der Zustimmung der europäischen Sozialpartner – eine Regelung vor, die es dem Rat auf Antrag der beteiligten Parteien und auf Vorschlag der Kommission ermöglichen sollte, die Vereinbarungen der europäischen Sozialpartner für die Dauer ihrer Anwendung verbindlich zu machen: „(1) Die Kommission bemüht sich darum, den Dialog zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene zu entwickeln, der, wenn diese es für wünschenswert halten, zu vertraglichen Beziehungen – unter Einschluss branchen- oder sektorbezogener (Rahmen-)vereinbarungen auf europäischer Ebene – führen kann. (2) Auf Antrag der beteiligten Parteien können diese (Rahmen-)vereinbarungen Gegenstand entweder einer Empfehlung der Kommission oder aber einer an die Mitgliedstaaten gerichteten Entscheidung des Rates sein, die dieser auf Vorschlag der Kommission und nach Stellungnahme des Europäischen Parlaments sowie des Wirtschafts- und Sozialausschusses mit qualifizierter Mehrheit erlässt, um diese für die Dauer ihrer Anwendung verbindlich zu machen.“381
In ihrem Vorschlag sah die Kommission die Einführung von Tarifverhandlungen auf der europäischen Ebene und eine Anerkennung der Tarifautonomie der europäischen Sozialpartner.382 Der Vorschlag der Kommission wurde bei einem Treffen der Ständigen Vertreter der Regierungen im April 1991 diskutiert und von mehreren Regierungen unterstützt. Er traf aber wegen der im Übrigen vorgesehenen qualifizierten Mehrheitsbeschlüsse bei der deutschen Regierung auf Vorbehalte, wurde von der spanischen und portugiesischen Regierung kritisiert und vom Vertreter der britischen Regierung, die jegliche Änderung an den sozialrechtlichen Vorschriften im Gemeinschaftsvertrag kategorisch für überflüssig erachtete, abgelehnt.383 Ein weiterer belgischer Vorschlag vom 13. Februar 1991, der die Bildung eines „Comité Européen du Travail“ nach dem Vorbild des belgischen Gesetzes über Arbeitstarifverträge und paritätische Kommissionen vom 5.12.1968 vorsah, 380
Bulletin der Europäischen Gemeinschaft, 1991, Beilage 2, S. 141. Vgl. Stellungnahme der Kommission vom 21.10.1990 zu dem Entwurf zur Änderung des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Zusammenhang mit der Politischen Union, Bulletin der Europäischen Gemeinschaft, 1991, Beilage 2, S. 138. 382 Bulletin der Europäischen Gemeinschaft, 1991, Beilage 2, S. 143. 383 Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 32 f. 381
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scheiterte ebenfalls am Widerstand des Vereinigten Königreichs.384 Daher unterbreitete die luxemburgische Präsidentschaft am 18. Juni 1991 einen Vorschlag zur Änderung des Art. 118b EWG-V, der neben der Durchführung der europäischen Sozialpartnervereinbarungen auf der Gemeinschaftsebene zusätzlich erstmals eine Umsetzung in den Mitgliedstaaten nach den jeweils anwendbaren Verfahren und Gepflogenheiten vorsah: „(1) Should management and labour so desire, the dialogue between them at Community level may lead to relations based on agreement including agreements which shall be implemented in accordance with the procedures and practices peculiar to each Member State. (2) In the field referred to in Article 118, where management and labour so desire, the Commission may submit proposals to translate the agreement referred to in paragraph 1 into Community legislation. The Council shall act as laid down in Article 118.“385
Die niederländische Ratspräsidentschaft nahm diesen Entwurf unter leichten sprachlichen Änderungen, aber in der Sache identisch in ihren ersten Vorschlag vom 24. September 1991 auf. Unter dem Eindruck dieser Geschehnisse, die Veränderungen im Gemeinschaftsrecht absehbar werden ließen, sah sich die UNICE, die bis zu diesem Zeitpunkt eine Intensivierung des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene abgelehnt hatte, zum Handeln gezwungen. Sie einigte sich mit dem CEEP und dem EGB am 31. Oktober 1991 auf einen von dem damaligen Generaldirektor Jean Degimbe herrührenden Vorschlag, der den europäischen Sozialpartnern nicht nur das Recht gab, Vereinbarungen zu schließen, sondern ihnen zudem die Möglichkeit eröffnete, ein von der Kommission eingeleitetes Rechtssetzungsverfahren zu übernehmen:386 „Art. 118a (. . .) (4) Bei dieser Anhörung können die Sozialpartner die Kommission über ihre Absicht unterrichten, die in Artikel 118b Absatz 1 und 2 vorgesehenen Verfahren anzustreben. Die Dauer des Verfahrens darf neun Monate nicht überschreiten, es sei denn, die betroffenen Sozialpartner beschließen gemeinsam eine Verlängerung. Art. 118b (1) Der Dialog zwischen den Sozialpartnern auf Gemeinschaftsebene kann, falls diese es wünschen, zur Herstellung tarifvertraglicher Beziehungen, einschließlich des Abschlusses von Vereinbarungen führen.
384
Deinert, RdA 2004, S. 211 (213 f.). Abgedruckt bei: Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, Anhang II, S. 160 f. 386 Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 33. 385
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
(2) Die Umsetzung der auf europäischer Ebene abgeschlossenen Vereinbarungen erfolgt: – gemäß den jeweiligen Verfahren und Praktiken der Sozialpartner und der Mitgliedstaaten oder – in den unter Art. 118 fallenden Bereichen, auf gemeinsamen Antrag der unterzeichnenden Vertragsparteien, über einen Beschluss des Rates, auf Vorschlag der Kommission betreffend die Vereinbarungen, so wie sie abgeschlossen worden sind.“387
Der gemeinsame Vorschlag von der UNICE, dem CEEP und dem EGB wurde, nachdem sie ihn dem damaligen EG-Ministerratspräsidenten Ruud Lubbers übermittelt hatten, von der niederländischen Ratspräsidentschaft zunächst dahingehend abgeändert, dass die Verlängerung der neunmonatigen Frist nach Art. 118a Abs. 4 nur unter Zustimmung der Kommission erfolgen konnte. Art. 118b wurde sprachlich angepasst und der Passus „so wie sie abgeschlossen worden sind“ gestrichen.388 Zudem fand der deutsche Wortlaut in der vorgeschlagenen Form keine Berücksichtigung; der dort ausdrücklich verwendete Begriff der „tarifvertraglichen Beziehungen“ wurde gegen die Bezeichnung „vertragliche Beziehungen“ ausgetauscht. Mit diesen Ausnahmen fand der Vorschlag der UNICE, des CEEP und des EGB dann Eingang in das Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland über die Sozialpolitik.389 Mit dem Vertag von Amsterdam wurde dieses Abkommen in den Gemeinschaftsvertrag als Art. 138 und 139 EG überführt, so dass dessen Inhalt nunmehr in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft Anwendung findet. Letztlich wurde das Verfahren zur Etablierung europäischer Tarifverträge, wie es der Kommissionsvorschlag vom 21. Oktober 1990 vorsah, nur geringfügig modifiziert. Es wurde lediglich um die Variante der Durchführung der Sozialpartnervereinbarungen nach den jeweiligen Praktiken der Sozialpartner und der Mitgliedstaaten sowie um die Befugnis der Sozialpartner zur Übernahme eines von der Kommission eingeleiteten Rechtssetzungsverfahrens erweitert. Die Ausdehnung der Rechte der europäischen Sozialpartner ändert aber nichts an der ursprünglichen Absicht, die Möglichkeit zum Abschluss europäischer Tarifverträge in den Gemeinschaftsvertrag aufzunehmen, zumal der Vorschlag der drei branchenübergreifenden Sozialpartner vom 31. Oktober 1991 – jedenfalls
387 Abgedruckt bei: Blanpain/Schmidt/Schweibert, Europäisches Arbeitsrecht, Anhang 3, S. 439. 388 Vgl. den zweiten niederländischen Entwurf zum Unionsvertrag vom 8.11.1991; abgedruckt bei: Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, Anhang V, S. 165 f. 389 Vgl. KOM (93) 600 endg., S. 11; Waas, ZESAR 2004, S. 443 (444).
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in seiner deutschen Fassung – auf die Schaffung tarifvertraglicher Beziehungen auf der europäischen Ebene abzielte.390 Im Ergebnis lässt sich daher auch aufgrund der Entstehungsgeschichte der Vorschriften zum Sozialen Dialog im Gemeinschaftsvertrag dessen Zusammenhang mit dem Grundrecht auf kollektive Verhandlungen nicht übersehen.391 f) Teleologische Erwägungen für die Anwendung des Art. 28 Var. 1 GRC auf die Verhandlungen im Sozialen Dialog In teleologischer Hinsicht spricht für die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen auf den zweiseitigen Sozialen Dialog, dass insbesondere die Kommission hierbei in vielfacher Weise die Autonomie der europäischen Sozialpartner verletzen kann.392 Beispielsweise stellen die Fortführung des Rechtssetzungsverfahrens oder gar die Unterbreitung eines eigenen Richtlinienvorschlags an den Rat während die europäischen Sozialpartner nach Art. 138 Abs. 4 EG in Verhandlungen eingetreten sind, Rechtsverletzungen dar, gegen die den europäischen Sozialpartnern ein Abwehrrecht zur Verfügung stehen muss.393 Seit dem Beschluss 98/500/EG der Kommission vom 20. Mai 1998 finden die Verhandlungen im sektoralen Sozialen Dialog auf der Gemeinschaftsebene zudem in paritätisch besetzten Ausschüssen statt, denen in aller Regel aufgrund des Art. 5 Abs. 2 des Beschlusses 98/500/EG ein Vertreter der Kommission vorsitzt.394 Dass die Kommission bei der Moderation des Sozialen Dialogs unter Verletzung der Verhandlungsfreiheit der beteiligten Parteien eigene Interessen verfolgen kann, ist jedenfalls nicht abwegig. Die Kommission bekennt sich zwar zur Autonomie der europäischen Sozialpartner, misst sich selbst aber wegen Art. 138 Abs. 1 EG eine „aktive Rolle“ im Rahmen des Sozialen Dialogs zu und hält sich für befugt, Widerstände, die sich auf der einen oder der anderen Seite zeigen sollten, zum Wohle des Fortschritts zu überwinden.395 Greift die Kommission aus diesen Gründen in die Verhandlungen der Sozialpartner mit der Absicht ein, eigene Interessen durchzusetzen, verletzt sie die Autonomie der betreffenden Sozialpartner. Das gleiche gilt etwa für die Unterbreitung eines Kommissionsvorschlages beim Rat, obwohl sich zu dem betreffenden Regelungsgegenstand eine nicht zu beanstandende Vereinbarung im Zustand ordnungsgemäßer Umsetzung in den Mitgliedstaaten befindet. 390
Coen, FS-Bleckmann, S. 1 (5). Weitergehend zur Entstehungsgeschichte: Deinert, RdA 2004, S. 211 (214). 392 Angedeutet bei: Lenz/Borchardt – Coen, Art. 139 EGV, Rn. 1 [„Spannungsverhältnis“ zwischen den Sozialpartnern und der Europäischen Kommission]. 393 Vgl. Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 77. 394 Vgl. Poschke, ZTR 2005, S. 390 (391); Weiss, FS-Kissel, S. 1253 (1258 f.). 395 KOM (93) 600 endg., S. 13. 391
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
Dem Grundrecht aus Art. 28 Var. 1 GRC kann zwar in den genannten Konstellationen wegen der in Art. 52 Abs. 2 GRC befindlichen Regelung nicht die Funktion zukommen, die Rechte der europäischen Sozialpartner über die in Art. 138 Abs. 4 und Art. 139 EG gezogenen Grenzen zu erweitern.396 Bei einer Beeinträchtigung der Rechte der europäischen Sozialpartner durch die Kommission verdeutlicht die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts aber ihre eigenständige Rechtsposition, die sie dazu berechtigt, autonome Verhandlungen einzuleiten und zu führen sowie Vereinbarungen abzuschließen. Die Anwendung des Art. 28 Var. 1 GRC hat insoweit vor allem die Funktion, die Ableitung subjektiver Abwehransprüche der europäischen Sozialpartner unmittelbar aus den gemeinschaftsvertraglichen Vorschriften überflüssig zu machen und ihnen einen grundrechtlichen Abwehranspruch zur Seite zu stellen. Im Ergebnis lässt sich sagen, dass es sich bei den Sozialpartnervereinbarungen nach Art. 139 Abs. 1 EG um europäische Tarifverträge im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC handelt und die Sozialpartnerverhandlungen auf der Gemeinschaftsebene eine Ausgestaltung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen darstellen.397
§ 8 Der Soziale Dialog auf europäischer Ebene und das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass es sich bei den Verhandlungen der europäischen Sozialpartner im Rahmen des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene um eine Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen handelt, ist die Frage zu klären, ob insoweit auf der Grundlage des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen europäische Arbeitskämpfe geführt werden dürfen. Obwohl es bislang beim Sozialen Dialog nicht zur Ausübung kollektiven Drucks gekommen ist, könnte die Frage, ob dies zulässig ist, jederzeit praktische Relevanz gewinnen, weil sich etwa die Europäische Union der Unabhängi396 Rebhahn (in: GS-Heinze, S. 649, 656) hält die Anwendung des Art. 28 Var. 1 GRC auf den Sozialen Dialog deswegen für überflüssig. 397 Im Ergebnis übereinstimmend: Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 436; ders., RdA 2004, S. 211 (218); Fudickar, Parteiautonome Anknüpfung grenzüberschreitender Tarifverträge in der EU, S. 96; Meyer – Riedel, GRC, Art. 28, Rn. 26; von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 138 EG, Rn. 111; Vitorino, Revue de Droit de l’Union Européenne 2001, S. 27 (55); vgl. auch Streinz – Eichenhofer, Art. 139 EGV, Rn. 9; BMA – Julien, Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 187 (192); Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 170 f.; Rebhahn, GS-Heinze, S. 649 (656); Waas, ZESAR 2004, S. 443 (444); ähnlich: Schnorr, DRdA 1994, S. 193 (194); ablehnend: Birk, EuZW 1997, S. 453 (455); Tettinger/Stern – Rixen, Kölner GK-GRC, Art. 28, Rn. 4.
§ 8 Der Soziale Dialog und Art. 28 Var. 2 GRC
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gen Gewerkschaften (CESI1) in Art. 3 und 4 ihrer Satzung zum Mittel des Arbeitskampfes bekennt.2 I. Der Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC Nachdem festgestellt worden ist, dass die Verhandlungen beim Sozialen Dialog nach Art. 139 Abs. 1 EG und der Abschluss von Vereinbarungen in den Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen aus Art. 28 Var. 1 GRC fallen, spricht ein systematisches Argument dafür, dass auch die zweite Variante des Art. 28 GRC auf den Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene anzuwenden ist. Da die europäischen Sozialpartner Träger des Rechts auf kollektive Verhandlungen nach Art. 28 Var. 1 GRC sind, müsste ihnen folgerichtig ebenfalls das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen zustehen. Da die Sozialpartnervereinbarungen europäische Tarifverträge darstellen, spricht also zunächst einmal alles für die Erstreikbarkeit europäischer Sozialpartnervereinbarungen nach Art. 28 Var. 2 GRC. Dennoch kann es keinen Automatismus zwischen der Anerkennung der europäischen Sozialpartnerverhandlungen als autonome Kollektivverhandlungen auf europäischer Ebene und der Annahme geben, dass der Abschluss von Sozialpartnervereinbarungen mit den Mitteln des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen aus Art. 28 Var. 2 GRC erkämpft werden darf. Die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC muss sich vielmehr von der konkreten Ausgestaltung der Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene her sachlich begründen lassen. Das lässt sich vor allem der Vorschrift des Art. 52 Abs. 2 GRC entnehmen. Nach dieser Bestimmung dürfen diejenigen Chartarechte, die auch im EG-Vertrag enthalten sind, nur im Rahmen der im EG-Vertrag festgelegten Bedingungen und Grenzen ausgeübt werden. Deswegen ist zu klären, ob sich Art. 138 Abs. 4 und 139 EG „Bedingungen und Grenzen“ im Sinne des Art. 52 Abs. 2 GRC entnehmen lassen, die eine Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC auf die Verhandlungen europäischer Sozialpartner beim Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene ausschließen. II. Die Auffassungen in der Literatur Die Frage nach der Erstreikbarkeit europäischer Sozialpartnervereinbarungen wurde bereits vor der Ausarbeitung und der feierlichen Proklamation der Grundrechtecharta im Schrifttum mehrfach diskutiert.3 1 Confédération Européenne des Syndicats Indépendants. Der CESI gehören etwa der Christliche Gewerkschaftsbund (CGB) sowie der Beamtenbund und Tarifunion (DBB) an. 2 Vgl. UCL-IST, Bericht über die Repräsentativität der Verbände der europäischen Sozialpartner, Erster Teil, 1999, S. 54.
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
Hergenröder4 hat sich noch unter der Geltung des Art. 118b EWG-V mit der Erstreikbarkeit „europäischer Tarifverträge“5 auseinandergesetzt und dabei die Frage aufgeworfen, ob Art. 118b EWG-V Arbeitskampfmaßnahmen auf der europäischen Ebene ausschließe. Denn aus der Bestimmung gehe hervor, dass vertragliche Beziehungen im Rahmen des Sozialen Dialogs nur zustande kommen, wenn die europäischen Sozialpartner das für wünschenswert hielten. Der Wortsinn dieser Bestimmung legt es nach Hergenöder nahe, in ihr ein Verbot der kampfweisen Durchsetzung eines europäischen Tarifvertrages zu sehen, da sie auf den beiderseitigen Wunsch zum Abschluss einer Kollektivvereinbarung abstelle. Das vertrage sich allerdings nicht mit dem deutschen Tarifvertragssystem, das dem tarifunwilligen Arbeitgeber stets einen Arbeitskampf in Aussicht stelle. Deswegen ist nach Hergenröder zwischen der Kampfführung durch einen internationalen Spitzenverband und einer „europäischen Gewerkschaft“ zu unterscheiden. Einem supranationalen Dachverband sei die Führung eines europäischen Arbeitskampfes wegen Art. 118b EWG-V verwehrt, solange auf der Seite der angegriffenen Partei kein tarifzuständiger Spitzenverband gebildet worden sei. Dass sich eine Arbeitsmarktpartei dem Abschluss supranationaler Kollektivvereinbarungen dadurch entziehen könne, dass sie einen tarifzuständigen Spitzenverband nicht bilde, sei wegen Art. 118b EWG-V hinzunehmen. Zudem werde diese Schlussfolgerung dadurch gerechtfertigt, dass sich die angegriffene Seite in einer mit einem Außenseiter vergleichbaren Lage befinde; ihr sei aber die „Flucht“ in einen Spitzenverband nicht möglich. Anders sei hingegen zu entscheiden, wenn eine Gewerkschaft – etwa im Wege der Fusion nationaler Gewerkschaften – Arbeitnehmer aus mehreren EG-Mitgliedstaaten auf der europäischen Ebene organisiere. Dann stünde Art. 118b EWG-V europäischen Kampfmaßnahmen der „europäischen Gewerkschaft“ nicht entgegen.6 Jacobs7 hat im Gegensatz dazu angenommen, dass der auf europäische Kollektivverhandlungen gerichtete europäische Arbeitskampf wegen Art. 118b EWG-Vertrag eine im Prinzip erlaubte Handlung darstelle. Die gemeinschafts3 Vgl. auch Britz/Schmidt, EuR 1999, S. 467 (496); Heinze, ZfA 1992, S. 331 (338); Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 91 f. 4 In: Heinemann, Das kollektive Arbeitsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 49 (78 f.). 5 Hergenröder (in: Heinemann, Das kollektive Arbeitsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 49, 77) bezieht den Begriff „europäischer Tarifvertrag“ allerdings nicht auf Sozialpartnervereinbarungen, die unter der Geltung des Art. 118b EWG-V noch gar nicht existierten, sondern auf „transnationale Kollektivvereinbarungen mit schuldrechtlicher Wirkung“. 6 Vgl. auch AR-Blattei – Hergenröder, SD-170.8, Rn. 88 ff. Als Beispiel einer „europäischen Gewerkschaft“ nennt Hergenröder dort die „International Transport Workers Federation“ (ITF), die in ihrer „seafarers’ section“ unmittelbar Seeleute aus mehreren Staaten organisiere. 7 In: Heinemann, Das kollektive Arbeitsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 107 (116).
§ 8 Der Soziale Dialog und Art. 28 Var. 2 GRC
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rechtliche Vorschrift habe unmittelbare Wirkung in dem Sinne, dass sie pauschale Behinderungen von Arbeitskämpfen, die zugunsten europäischer Tarifverträge geführt werden, verbiete. Däubler8 betrachtete Art. 118b EWG-V hingegen als Programmsatz, der ein Scheitern des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene nicht sanktioniere und keinen Einigungszwang vorsehe. Konzen9 hat die Thematik nach dem Inkrafttreten des ASP aufgegriffen und ausgeführt, dass der Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 ASP10 dafür spreche, dass die Vereinbarungen auf europäischer Ebene nicht erstreikbar seien. Sie sollten nur zustande kommen, wenn die europäischen Sozialpartner dies wünschten. Daher besteht nach Konzen nur die Möglichkeit paralleler Arbeitskämpfe in den Mitgliedstaaten. In Deutschland fehle dafür aber die rechtliche Grundlage, weil Art. 9 Abs. 3 GG nur verbindliche Tarifverträge, nicht aber die europäischen Vereinbarungen sichere, die nur eine „unverbindliche Richtschnur“ für die nationalen Tarifparteien seien. Coen11 ist anderer Meinung. Er ist der Auffassung, dass die Gewerkschaften auf europäischer Ebene über ausreichende Druckmittel verfügen müssen, damit die Arbeitgeber in kontroversen Fragen zum Abschluss von Vereinbarungen bewegt werden könnten. Sonst bestünde die Gefahr, dass die europäischen Tarifverhandlungen zu einem gemeinschaftsabhängigen Regelungssystem der Arbeitsbedingungen führen oder nicht mehr als „kollektives Betteln“ darstellten. Die Protestaktionen und Warnstreiks der Eisenbahngewerkschaften vom 27. Oktober 1992 hätten gezeigt, dass auf der Arbeitnehmerseite Interesse an einem „wirklichen Sozialdialog“ bestehe und dieser auch von kollektiven Maßnahmen begleitet werden könne. Obwohl, so Coen weiter, die Gemeinschaft kein europäisches Arbeitskampfrecht kenne, könnten Kampfmaßnahmen im Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene nicht ausschließlich am nationalen Recht gemessen werden. Um deren gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund gerecht zu werden, dürfe das Arbeitskampfrecht in Deutschland nicht aus einer Hilfsfunktion für die Tarifautonomie abgeleitet werden. Art. 9 Abs. 3 GG müsse vielmehr völkerrechtskonform im Lichte des Art. 6 Nr. 4 ESC so ausgelegt werden, dass die Vorschrift der Europäisierung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Rechnung trage. Eine vornehmlich national verstandene Tarifautonomie drohe leerzulaufen, wenn die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auf einer supranationalen Ebene geregelt würden. Der Europäisierung der Arbeits- und Wirt-
8
In: Tarifvertragsrecht, Rn. 1726. In: EuZW 1995, S. 39 (47). 10 Heute Art. 139 Abs. 1 EG. 11 In: FS-Bleckmann, S. 1 (6 ff.); vgl. auch Lecher/Platzer – Coen, Europäische Union – Europäische Arbeitsbeziehungen?, S. 175 (181 f.). 9
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
schaftsbedingungen müsse die Europäisierung der Tarifautonomie und der kollektiven Druckmittel folgen. Karthaus12 hält die europäischen Sozialpartnervereinbarungen, die durch einen Beschluss des Rates durchgeführt werden, ebenfalls für einheitliche europäische Tarifverträge, die per Streik durchsetzbar sein sollen. Birk13 folgert die Unzulässigkeit arbeitskampfrechtlicher Maßnahmen aus der Unzuständigkeit der Gemeinschaft zur Regelung des Streik- und Aussperrungsrechts. Art. 137 Abs. 5 EG spreche dafür, dass die Vereinbarungen im Sozialen Dialog druckfrei zustande kommen sollen, und schließe einen Verhandlungsanspruch der europäischen Sozialpartner aus. Jedoch könnten die für das Arbeitskampfrecht zuständigen Mitgliedstaaten aufgrund nationaler Vorschriften einen auf den Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene bezognen Arbeitskampf zulassen, obwohl der Dialog der europäischen Sozialpartner eine gemeinschaftsrechtliche Erscheinung sei.14 Aus dem Kompetenzausschluss der Gemeinschaft für das Streik- und Aussperrungsrecht folge aber, dass die Mitgliedstaaten über die Befugnis zum Einsatz arbeitskampfrechtlicher Mittel zu entscheiden hätten, obwohl es um den Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene gehe. Otto15 kommt wegen der Annahme, dass der Dialog zwischen den Sozialpartnern auf Gemeinschaftsebene auf Freiwilligkeit angelegt sei, zu dem Schluss, dass Sozialpartnervereinbarungen nicht erstreikt werden dürfen. Wedderburn16 gesteht zwar ein, dass für die Durchführung eines Arbeitskampfes im Sozialen Dialog auf der Gemeinschaftsebene (noch) die dafür notwendigen Voraussetzungen fehlten, kritisiert aber, dass deswegen die vom Sachverständigenausschuss der IAO formulierten internationalen Standards, nach denen der Streik außer im Falle einer akuten Staatskrise nicht verboten werden dürfe, auf der Gemeinschaftsebene nicht eingehalten würden. R. Schwarze17 vertritt die Meinung, dass europäische Sozialpartnervereinbarungen nicht die Geltungskraft deutscher Tarifnormen besäßen, hält sie aber gleichwohl für erstreikbar, weil sie immerhin schuldrechtliche Bindungen entfalten würden. Darüber hinaus besäßen sie insbesondere dann eine „reale Umsetzungschance“, wenn nationale Verbände für sie zu kämpfen bereit seien. Der Sozialautonomie dürfe es nicht zum Nachteil gereichen, dass das Gemeinschaftsrecht kein perfektes Instrumentarium kollektiver Arbeitsrechtsregelungen vorhalte. 12 13 14 15 16 17
In: AuR 1997, S. 221 (223). In: EuZW 1997, S. 453 (454 f.) und Münchener Handbuch, § 21, Rn. 70 f. Münchener Handbuch – Birk, § 21, Rn. 70 f. In: Münchener Handbuch, § 284, Rn. 51. In: Industrial Law Journal 1997, S. 1 (29). In: Oetker/Preis, B 8100, Rn. 28.
§ 8 Der Soziale Dialog und Art. 28 Var. 2 GRC
321
Preis/Gotthardt18 kommen wegen des Wortlauts des Art. 139 Abs. 1 EG, wonach der Dialog zwischen den Sozialpartnern nur, falls sie es wünschen, zu einer Vereinbarung führe, zum gegenteiligen Ergebnis und halten den Abschluss einer europäischen Sozialpartnervereinbarung für nicht mit Arbeitskampfmaßnahmen erzwingbar. Krebber19 hat sich diesem Ergebnis angeschlossen, weil ein Streik um den Abschluss einer Sozialpartnervereinbarung auf der europäischen Ebene nicht ohne Folgen für die nationalen Arbeitskampfordnungen bleiben könne. Obwohl sich der Ausschluss einer Gemeinschaftskompetenz in Art. 137 Abs. 5 EG für das Streik- und Aussperrungsrecht nur auf Art. 137 EG beziehe, könne das nicht gewollt sein. Deswegen gebe es auch keinen Verhandlungsanspruch und keine Friedenspflicht. Rebhahn20 diskutiert weitergehend eine Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen aus Art. 28 Var. 2 GRC auf den Abschluss von Vereinbarungen im Sozialen Dialog und vertritt die These, dass man Art. 139 EG „unschwer“ die Anordnung entnehmen könne, dass das Gemeinschaftsrecht im Rahmen des Sozialen Dialogs keine Gewährleistung des Rechts zu streiken enthalte. Das harmoniere mit der Auslegung, dass die europäischen Vereinbarungen die Mitgliedsverbände nicht zur Umsetzung verpflichten würden. Allerdings ist Rebhahn der Auffassung, dass das nationale Recht den Streik für den Abschluss einer Sozialpartnervereinbarung vorsehen könne. Eichenhofer21 hält die Frage nach der Möglichkeit, den Abschluss von Sozialpartnervereinbarungen durch Arbeitskämpfe zu erzwingen, für eine „Schlüsselfrage“, deren Verneinung sich nicht aus Art. 137 Abs. 5 EG ergebe, weil die Bestimmung keine Aussage zum Rechtsverhältnis zwischen den europäischen Sozialpartnern enthalte. Einerseits würden Art. 28 Var. 2 GRC und die Tatsache, dass die europäischen Sozialpartnervereinbarungen jedenfalls nach einem sie durchführenden Ratsbeschluss normative Wirkungen entfalten, für die Zulässigkeit entsprechender Arbeitskämpfe auf der europäischen Ebene sprechen. Wegen der in Art. 139 Abs. 2 Satz 2 EG vorgesehenen Zweistufigkeit des Rechtssetzungsverfahrens und wegen der Struktur der europäischen Sozialpartner als Verbänden von Verbänden fehle andererseits der typische „Nexus“ zwischen Verhandlungskompetenz und der unmittelbaren Betroffenheit der Organisierten. Deswegen sollen weder die europäischen noch die nationalen Sozialpartner in einen Arbeitskampf zur Erzwingung einer europäischen Vereinbarung eintreten dürfen. Die europäischen Sozialpartner stehen nach Eichenhofer mithin nicht unter einem Einigungszwang, so dass jede Seite das Zustandekommen 18 19 20 21
In: In: In: In:
Oetker/Preis, B 1100, Rn. 100. Calliess/Ruffert, Art. 139 EGV, Rn. 8. GS-Heinze, S. 649 (657). Streinz, Art. 139 EGV, Rn. 9 f.
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
einer Sozialpartnervereinbarung verhindern könne, indem sie sich nicht auf Verhandlungen einlasse. III. Die rechtlichen Voraussetzungen eines europäischen Arbeitskampfes im Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene Wie aus der Auswertung des Schrifttums hervorgeht, werden hinsichtlich der Frage nach Arbeitskämpfen beim Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene alle denkbaren Ansichten vertreten. Das Meinungsspektrum reicht von der Annahme, Art. 139 Abs. 1 EG stelle hierfür eine gemeinschaftsrechtliche Grundlage dar, über die Auffassung, die Regelung von Arbeitskämpfen im Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene obliege allein den Mitgliedstaaten, bis hin zur gänzlichen Ablehnung jeglichen Kampfmitteleinsatzes im Rahmen des Sozialen Dialogs. 1. Der Wortlaut des Art. 139 Abs. 1 EG Die Möglichkeit von Arbeitskämpfen beim Sozialen Dialog wäre a limine zu verneinen, wenn dem Wortlaut des Art. 139 Abs. 1 EG tatsächlich ein Verbot der Ausübung kollektiven Drucks zu entnehmen wäre, weil Vereinbarungen nach diesem nur zustande kommen, wenn die Sozialpartner es wünschen.22 Erste Zweifel an der Richtigkeit dieser Auslegung des Wortlauts von Art. 139 Abs. 1 EG kommen auf, wenn man sie mit der Vorschrift des Art. 12 EG-SC vergleicht. Art. 12 Abs. 1 EG-SC gewährt Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen das Recht, unter den Bedingungen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Tarifverträge auszuhandeln und abschließen. Im Anschluss daran bestimmt Art. 12 Abs. 2 EG-SC, dass der auszubauende europaweite Dialog zwischen den Sozialpartnern, falls sie dies für wünschenswert halten, zu Vertragsverhältnissen namentlich auf branchenübergreifender und sektorieller Ebene führen könne. Das lässt darauf schließen, dass die einzelnen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen nach Art. 12 Abs. 2 EG-SC die Befugnis haben sollen, ihr Recht auf Tarifverhandlungen und Tarifverträge aus Art. 12 Abs. 1 EG-SC auf der europäischen Ebene im Sozialen Dialog auszuüben, wenn sie dies für wünschenswert halten. Art. 12 Abs. 2 EG-SC begründet aus dieser Perspektive das Recht, nationale Tarifverhandlungen auf der Gemeinschaftsebene zu bündeln und zu koordinieren. Zugleich macht die Bestimmung deutlich, dass der Einstieg der betreffenden Verbände in die europäischen Kollektivverhandlungen freiwillig ist und aus Rücksichtnahme auf ihre national22 So etwa auch: Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 88; Oetker/Preis – Goos, EAS, B 8110, Rn. 7; Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 92.
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verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie nicht gegen ihren Willen erzwungen werden kann. Der entsprechenden Wendung in Art. 12 Abs. 2 EG-SC lässt sich aber nicht entnehmen, dass die kollektiven Verhandlungen, wenn sie auf der europäischen Eben erst einmal aufgenommen worden sind und zu Vertragsverhältnissen geführt haben sollten, im Gegensatz zu den Tarifverträgen nach Art. 12 Abs. 1 EG-SC nicht erstreikt werden könnten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich das Recht auf kollektive Maßnahmen aus Art. 13 EG-SC sowohl auf Tarifabschlüsse, die im Sinne des Art. 12 Abs. 1 EG-SC auf der nationalen Ebene erfolgen, als auch auf Tarifverträge beziehen soll, die nach Art. 12 Abs. 2 EG-SC auf der europäischen Ebene abgeschlossen werden. Der Sinngehalt der Worte „falls sie es wünschen“ in Art. 139 Abs. 1 EG erschließt sich insbesondere, wenn man ihn mit der Vorschrift des älteren Art. 118b EWG-Vertrag in der Fassung der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 vergleicht, der wie folgt lautete: „Die Kommission bemüht sich darum, den Dialog zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene zu entwickeln, der, wenn diese es für wünschenswert halten, zu vertraglichen Beziehungen führen kann.“23
Im Gegensatz zur heutigen Vorschrift des Art. 139 Abs. 1 EG, die den zweiseitigen Dialog zwischen den europäischen Sozialpartnern regelt, fand sich die Bezugnahme auf den übereinstimmenden Wunsch der Sozialpartner in Art. 118b EWG-V in einer Bestimmung, die die Befugnisse der Kommission beim Sozialen Dialog auf europäischer Ebene zum Gegenstand hatte. Das entspricht nicht der Regelung des Art. 139 Abs. 1 EG, in der sich der Passus heute wiederfindet, sondern vielmehr der in Art. 138 Abs. 1 EG befindlichen Regelung. Wegen der in Art. 118b EWG-V enthaltenen Pflicht der Kommission hätte die Vorschrift ohne den Einschub „wenn diese es für wünschenswert halten“ den Eindruck erweckt, der Kommission stünde die Kompetenz zu, über die Köpfe der Sozialpartner hinweg Vorschriften zur Etablierung eines Systems kollektivvertraglicher Beziehungen auf der europäischen Ebene zu erlassen und sie zum Abschluss von Kollektivverträgen anzuhalten. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass sich Art. 118b EWG-V anders als Art. 139 Abs. 1 EG nicht auf die europäischen Sozialpartner, sondern umfassend auf „die Sozialpartner“ und damit auch auf die nationalen Koalitionen bezieht. Da Art. 118b EWG-V der Kommission die Pflicht zur Entwicklung des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene auferlegte, drohte insofern ein Interessenkonflikt zwischen der Kommission und den nationalen Koalitionen. Das Gemeinschaftsorgan war in den Anfängen des Sozialen Dialogs durchaus bemüht, Verhandlungsergebnisse sofort aufzugreifen und in eine verbindliche Form zu gießen.24 Zudem hatte der Kommissionspräsident noch kurze Zeit vor der Verabschiedung der 23 24
BGBl. II 1986, S. 1104 (1108 f.) – Hervorhebungen vom Verfasser. Wisskirchen, FS-Arbeitsgerichtsverband, S. 653 (664).
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
Einheitlichen Europäischen Akte seine Absicht, Tarifverhandlungen auf der europäischen Ebene einzuführen, unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.25 Dem Wunsch der Kommission, den Weg für Tarifverhandlungen auf der europäischen Ebene frei zu machen, hätten weder die nationalen noch die europäischen Sozialpartnervereinigungen etwas entgegenzusetzen gehabt. An den grundrechtlichen Schutz der Tarifautonomie, der sich für die nationalen Sozialpartner zum damaligen Zeitpunkt lediglich aus den jeweiligen Verfassungen der Mitgliedstaaten ergab, war die Kommission nicht gebunden und an ein Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen war in den 1980er Jahren noch nicht zu denken.26 Deswegen bedurfte es einer organisationsrechtlichen Begrenzung des Auftrags der Kommission zur Förderung europäischer Tarifstrukturen im europäischen Primärrecht, die klarstellte, dass es allein Sache der Sozialpartner ist, darüber zu entscheiden, inwiefern kollektive Verhandlungen auf die europäische Ebene verlagert werden sollen.27 Die eigentliche Stoßrichtung der Wendung „wenn sie es wünschen“ richtet sich also gegen die Kommission. Das geht in Art. 139 Abs. 1 EG heute noch daraus hervor, dass hier im Plural von „den Sozialpartnern“ auf Gemeinschaftsebene gesprochen wird. Das lässt sich nur schwerlich mit einer Auslegung in Einklang bringen, nach welcher damit die wechselseitige Beziehung zwischen arbeitgeber- und arbeitnehmerseitigen Sozialpartnern und die Zulässigkeit der Ausübung kollektiven Drucks geregelt wird. Der Fortschritt gegenüber der Bestimmung des Art. 118b EWG-V liegt vielmehr allein darin, dass Art. 139 Abs. 1 EG die Herstellung vertraglicher Beziehungen und den Abschluss von Vereinbarungen in den alleinigen Willen der europäischen Sozialpartner stellt und die nationalen Verbände unberücksichtigt lässt. Nach wie vor bezieht sich die Wendung „wenn sie es wünschen“ aber auf das Außenverhältnis der europäischen Sozialpartner zur Kommission und nicht auf das Innenverhältnis der europäischen Sozialpartner untereinander. Im Zusammenhang mit Art. 138 Abs. 4 EG verdeutlicht der Passus in Art. 139 Abs. 1 EG zudem, dass die europäischen Sozialpartner auch dann zum 25 Vgl. Arbeitsprogramm der Kommission für 1985, Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 1985, Beilage 4, S. 34. 26 Vgl. Heinemann – Hergenröder, Das kollektive Arbeitsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 49 (77). Jedenfalls wäre es ein unsicheres Unterfangen gewesen, sich darauf zu verlassen, dass die europäischen Institutionen ein dementsprechendes Gemeinschaftsgrundrecht anerkannt hätten. Insbesondere liefert die Methode der „wertenden Rechtsvergleichung“, die der Europäische Gerichtshof zur Begründung von Gemeinschaftsgrundrechten verwendet, nur schwer prognostizierbare Ergebnisse; ebenfalls kritisch zur Konkretisierungsmethode des EuGH bei der Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte: von Bogdandy – Kühling, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (590). 27 Vgl. Oetker/Preis – Goos, EAS, B 8110, Rn. 7; Wisskirchen, FS-Arbeitsgerichtsverband, S. 653 (664).
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Abschluss einer Vereinbarung berechtigt sind, wenn keine Anhörung nach Art. 138 Abs. 3 EG stattgefunden hat und die europäischen Sozialpartner deswegen nicht die Möglichkeit hatten, gemäß Art. 138 Abs. 4 EG aufgrund einer Mitteilung an die Kommission das Verfahren des Art. 139 Abs. 1 EG einzuleiten. Aus dieser Überlegung ergibt sich ebenfalls, dass der in Art. 139 Abs. 1 EG angesprochene Wunsch der Sozialpartner ihr gemeinsames Verhältnis zur Kommission betrifft. Es bedarf daher im Ergebnis gar nicht des machiavellistischen Arguments, dass auch ein im Arbeitskampf unterlegener Sozialpartner den Abschluss einer Vereinbarung im Sinne des Art. 139 Abs. 1 EG „wünschen“ könne, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass sich dem Wortlaut der Vorschrift kein Ausschluss des Einsatzes von Arbeitskampfmaßnahmen entnehmen lässt. 2. Der Kompetenzausschluss in Art. 137 Abs. 5 EG Ein weiteres Argument, das gegen die Zulässigkeit kollektiver Maßnahmen im Rahmen des Sozialen Dialogs sprechen soll, ist der Ausschluss einer Kompetenz der Gemeinschaft für das Streik- und Aussperrungsrecht in Art. 137 Abs. 5 EG. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass sich diese Vorschrift nach ihrem insoweit eindeutigen Wortlaut nur auf die in Art. 137 EG selbst aufgeführten Zuständigkeiten bezieht und daher keine Geltung für den Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene verlangen kann, der ausschließlich einer Regelung durch die Gemeinschaft zugänglich ist. Allerdings ließe sich dem Rechtsgedanken des Art. 137 Abs. 5 EG in der Tat ein Verbot von Arbeitskämpfen im Rahmen des Sozialen Dialogs entnehmen, wenn die Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen im Zusammenhang mit den Verhandlungen nach Art. 139 Abs. 1 EG zu einer Verdrängung mitgliedstaatlichen Rechts oder einer sonstigen Einflussnahme des Gemeinschaftsrechts auf das Arbeitskampfrecht der Mitgliedstaaten führen würde. Gerade das ist aber wegen des unbeschränkten Vorbehalts mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Art. 28 Var. 2 GRC ausgeschlossen.28 Neben dem begrenzten sachlichen Schutzbereich, in dem Art. 28 Var. 2 GRC die Ergreifung kollektiver Maßnahmen schützt, unterliegt die Ausübung des Grundrechts aus Art. 28 Var. 2 GRC zunächst den Beschränkungen, die es aufgrund der Schrankenregelung in Art. 52 GRC erfährt. Darüber hinaus steht es den Mitgliedstaaten frei, das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen durch den Erlass von Rechtsvorschriften bis an die Grenze des Verbots jeglicher Maßnahme des Arbeitskampfes einzuschränken, ohne dabei an Art. 52 GRC gebunden zu sein oder gegen Art. 28 Var. 2 GRC verstoßen zu können. Ein europäischer Arbeitskampf, der den Abschluss einer Sozialpartner28
§ 2 IV. 3. d).
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
vereinbarung nach Art. 139 Abs. 1 EG zum Ziel hat, müsste folglich nicht nur mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sein, sondern darüber hinaus auch mit den jeweils anwendbaren Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten des jeweiligen Mitgliedstaats im Einklang stehen. Um den Schutz des Art. 28 Var. 2 GRC in Anspruch nehmen zu können, müsste er sowohl die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts als auch der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung erfüllen. Seine konkrete Ausgestaltung und innere Begrenzung erfährt ein europäischer Arbeitskampf, der zwar auf der gemeinschaftlichen Rechtsgrundlage des Art. 28 Var. 2 GRC geführt wird, mithin durch die Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten der Einzelstaaten. Das unterscheidet sich praktisch nicht von einem in 27 Mitgliedstaaten parallel auf der Rechtsgrundlage des jeweiligen Verfassungs- und Gesetzesrechts geführten Arbeitskampf, so dass es im Ergebnis nicht zu einer Einflussnahme des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Arbeitskampfrecht kommen kann. Folglich ist die Vorschrift des Art. 137 Abs. 5 EG für die Frage nach der Möglichkeit von Arbeitskampfmaßnahmen beim Sozialen Dialog ohne Bedeutung. 3. Die Einleitung von Verhandlungen im Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene Stehen damit weder der Wortlaut des Art. 139 Abs. 1 EG noch die Regelung des Art. 137 Abs. 5 EG der Annahme entgegen, dass Art. 28 Var. 2 GRC Maßnahmen des Arbeitskampfes beim Sozialen Dialog auf europäischer Ebene erlaubt, kommt damit zunächst die Aufnahme von Sozialpartnerverhandlungen auf der Gemeinschaftsebene als mögliches Ziel eines europäischen Arbeitskampfes in Betracht. a) Das Urteil des EGMR in der Sache Wilson vs. United Kingdom Ein Argument hierfür lässt sich möglicherweise aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 2. Juli 2002 in der Sache „Wilson, National Union of Journalists and Others vs. the United Kingdom“ gewinnen.29 Ab 1989 ging das die „Daily Mail“ herausgebende britische Zeitungsunternehmen „Associated Newspapers Limited“ dazu über, die Vergütung der bei ihr angestellten Journalisten nicht mehr im Rahmen kollektiver Verhandlungen mit der National Union of Journalists (NUJ), sondern individualvertraglich zu regeln. Nachdem sich der bei der Redaktion der Daily Mail als Journalist beschäftigte Mr. Wilson im November 1989 geweigert hatte, einer Änderung seines Arbeitsvertrages zuzustimmen, die es ihm verboten hätte, sich während seiner Arbeitszeit an den Aktionen der NUJ zu beteiligen und sich von ihr 29
EGMR, 2.7.2002, App. 30668/96, 30671/96, 30678/96 (Wilson aO).
§ 8 Der Soziale Dialog und Art. 28 Var. 2 GRC
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gewerkschaftlich vertreten zu lassen, wurde sein individualvertraglich geregeltes Gehalt zwar in den darauf folgenden Jahren mehrfach erhöht. Dennoch erreichte es nie die Höhe derjenigen Mitarbeiter, die in der auch ihm angebotenen Weise auf ihre gewerkschaftlichen Rechte verzichtet hatten.30 Vor dem Industrial Tribunal, das Mr. Wilson deswegen anrief, machte er geltend, dass die von seiner Arbeitgeberin verlangte Vertragsänderung gegen den Employment Protection (Consolidation) Act 1978 verstoße, weil sie ihn vor die Entscheidung stelle, auf sein Vereinigungsrecht zu verzichten oder ein verglichen mit den übrigen Arbeitnehmern geringeres Einkommen hinzunehmen. In erster Instanz bekam Mr. Wilson ebenso wie vor dem Court of Appeal Recht. Das von der Arbeitgeberseite angerufene House of Lords entschied hingegen zu seinen Ungunsten, woraufhin er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung von Art. 11 EMRK seitens des Vereinigten Königreichs rügte.31 Der EGMR stellte zunächst fest, dass das Recht des Vereinigten Königreichs zu dem Zeitpunkt zu dem eine Verletzung des Art. 11 EMRK behauptet wurde, ein völlig freiwilliges System kollektiver Verhandlungen vorsah, dass die Arbeitgeber nicht verpflichte, in Verhandlungen mit den Gewerkschaften zu treten. Das stehe, so der EGMR, im Einklang mit der Konventionsbestimmung des Art. 11 EMRK, nach der die Mitgliedstaaten nicht zur Einführung einer Verhandlungspflicht der Arbeitgeber gezwungen sind. Die Gewerkschaften und ihre Mitglieder müssten unter Art. 11 Abs. 1 EMRK aber gleichwohl das Recht haben, den Arbeitgeber davon zu überzeugen, sich ihr Vorbringen anzuhören. Das Recht zu streiken könne hierfür ein geeignetes Mittel sein, mit dem die Gewerkschaft ihre Freiheit zur Vertretung der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder durchsetzen könne und das es ihr in einem System freiwilliger Tarifverhandlungen ermögliche, als Vertragspartner anerkannt zu werden.32 Wörtlich hat der EGMR ausgeführt: „The Court agrees with the Government that the essence of a voluntary system of collective bargaining is that it must be possible for a trade union which is not recognised by an employer to take steps including, if necessary, organising industrial action, with a view to persuading the employer to enter into collective bargaining with it on those issues which the union believes are important for its members’ interests.“33
Wenn aber die Arbeitnehmer in rechtlich relevanter Weise davon abgehalten werden dürften, sich entsprechend zu verhalten, würde ihr Recht, einer Gewerkschaft anzugehören, illusorisch. Deswegen seien die Einzelstaaten dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass die Mitglieder von Gewerkschaften nicht daran 30
EGMR, 2.7.2002, App. 30668/96, 30671/96, 30678/96, Rn. 9–11 (Wilson aO). EGMR, 2.7.2002, App. 30668/96, 30671/96, 30678/96, Rn. 20–24 (Wilson aO). 32 EGMR, 2.7.2002, App. 30668/96, 30671/96, 30678/96, Rn. 43–46 (Wilson aO). 33 EGMR, 2.7.2002, App. 30668/96, 30671/96, 30678/96, Rn. 46 (Wilson aO) – Hervorhebungen vom Verfasser. 31
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gehindert werden, sich von ihrer Gewerkschaft vertreten zu lassen. Das einzelstaatliche Recht des Vereinigten Königreichs habe deswegen die Rechte von Mr. Wilson und der NUJ aus Art. 11 Abs. 1 EMRK verletzt.34 Da die Entscheidung des EGMR zu Art. 11 EMRK wegen des Inhalts- und Schrankentransfers, den Art. 52 Abs. 3 GRC anordnet,35 für die Auslegung des Art. 28 Var. 2 GRC unmittelbare Bedeutung hat, lässt sich aus ihr für die Gemeinschaftsebene der Rechtsgedanke entnehmen, dass ein europäischer Arbeitskampf jedenfalls dann möglich sein muss, wenn die Arbeitnehmerseite in einem „System freiwilliger Kollektivverhandlungen“ darauf angewiesen ist, Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen, um von der Arbeitgeberseite als Verhandlungspartner akzeptiert zu werden. Diese Wertung würde also zur Möglichkeit von Arbeitskampfmaßnahmen im Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene führen, wenn die europäischen Sozialpartner der Arbeitnehmerseite auf die Ausübung kollektiven Drucks angewiesen wären, um die Arbeitgeberseite zur Aufnahme von Verhandlungen zu bewegen. Nun sind die Verhandlungen im Rahmen des Sozialen Dialogs auf der Gemeinschaftsebene freiwillig und wie das Europäische Gericht erster Instanz entschieden hat, steht es den europäischen Sozialpartnern frei zu entscheiden, mit welchen anderen Organisationen sie auf der Gemeinschaftsebene in Verhandlungen nach Art. 139 Abs. 1 EG eintreten wollen.36 Die Kommission hat sich insoweit jeder Einflussnahme zu enthalten und die Verhandlungsautonomie der europäischen Sozialpartner zu wahren.37 Sie hat dazu ausgeführt: „The Commission continues to believe that only the social partners themselves can develop their own dialogue and negotiating structures, and that it cannot impose participants on a freely undertaken negotiation.“38
Zwischen einem „System freiwilliger Kollektivverhandlungen“ („a voluntary system of collective bargaining“) in der Diktion des EGMR und „freiwillig unternommenen Verhandlungen“ („freely undertaken negotiation“), von denen die Kommission spricht, lässt sich eine beachtliche Übereinstimmung feststellen, die für eine Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC auf den Sozialen Dialog spricht.
34
EGMR, 2.7.2002, App. 30668/96, 30671/96, 30678/96, Rn. 46, 48 (Wilson aO). § 3 I. 1. b) dd). 36 EuG, 17.6.1998, Rs. T-135/96, Rn. 78 (UEAPME). 37 KOM (98) 322 endg., S. 14; von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 138 EG, Rn. 147. 38 KOM (96) 448 endg., S. 14 – Hervorhebungen vom Verfasser. 35
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b) Der Arbeitskampf für die Anerkennung als europäische Sozialpartnerorganisation Allerdings ist damit noch nicht entschieden, wem die Befugnis zustünde, auf der europäischen Ebene in Verhandlungen nach Art. 139 EG einzutreten. Denn aus der Äußerung der Kommission geht auch hervor, dass das Recht hierzu nur „den Sozialpartnern“ zusteht. Sofern ein Arbeitskampf darauf gerichtet sein sollte, den sozialen Gegenspieler erstmals auf der europäischen Ebene zu Verhandlungen zu bewegen, hängt die Zulässigkeit kollektiver Maßnahmen daher davon ab, dass die Befugnis, Verhandlungen nach Art. 139 Abs. 1 EG zu führen, auf der wechselseitigen Anerkennung der Sozialpartner beruht. Das führt aber zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Organisation als europäischer Sozialpartner anzuerkennen und als solche Verhandlungen nach Art. 139 EG zu führen berechtigt ist. Insbesondere kommt es darauf an, wer im Einzelfall dazu befugt ist, die Erfüllung dieser Voraussetzungen festzustellen. In Bezug auf das in Art. 138 Abs. 2 und 3 EG geregelte Anhörungsverfahren hat die Kommission mehrere Voraussetzungen genannt, die eine Vereinigung erfüllen muss, um auf der Gemeinschaftsebene angehört zu werden. Dazu gehört etwa, dass sie über eine Struktur auf europäischer Ebene verfügt, effektiv am Anhörungsprozess teilnehmen kann und aus Verbänden besteht, die in ihrem Mitgliedstaat anerkannter und integraler Bestandteil des Systems der Arbeitsbeziehungen sind.39 Dabei hat die Kommission diese Kriterien stets ausschließlich auf das Anhörungsverfahren und nicht auf die Sozialpartnerverhandlungen bezogen.40 Dennoch muss die Kommission, bevor sie eine Vereinbarung gemäß Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG an den Rat weiterleiten darf, prüfen, ob die am Abschluss beteiligten Sozialpartner in ihrer Gesamtheit in Bezug auf den Inhalt der Regelung hinreichend repräsentativ sind.41 Das entscheidende Kriterium des Sozialpartnerbegriffs, die gemeinschaftsrechtliche Repräsentativität, gilt daher sowohl beim Anhörungsverfahren als auch bei der Umsetzung einer Vereinbarung auf der europäischen Ebene. Die Kommission geht zutreffend davon aus, dass sich die Anforderungen an die Repräsentativität der Sozialpartner in diesem Zusammenhang lediglich erhöhen, ohne sich qualitativ zu verändern.42 Folglich setzt die Befugnis, eine nach Art. 139 Abs. 1 EG wirksame Vereinbarung zu schließen, voraus, dass die betreffende Vereinigung wenigstens die von der Kommission zum Anhörungsrecht entwickelten Voraussetzungen er-
39
KOM (98) 322 endg., S. 5. KOM (93) 600 endg., S. 19; KOM (96) 448 endg., S. 12; KOM (98) 322 endg., S. 5; vgl. auch: von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 138 EG, Rn. 143. 41 EuG, 17.6.1998, Rs. T-135/96, Rn. 89 (UEAPME). 42 KOM (2002) 341 endg., S. 9; vgl. Hailbronner/Wilms – Boecken, Art. 138 EGV, Rn. 16, 23; von der Groeben/Schwarze – Rust, Art. 138 EG, Rn. 131, 146. 40
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
füllt.43 Dass der EG-Vertrag von einem einheitlichen Sozialpartnerbegriff ausgeht, ergibt sich zudem daraus, dass die Art. 138 und 139 EG durchgehend denselben Begriff verwenden.44 Darüber hinaus wird das Anhörungsverfahren über Art. 138 Abs. 4 EG mit den Verhandlungen nach Art. 139 EG verknüpft, was ebenfalls dafür spricht, von grundsätzlich identischen Voraussetzungen an die jeweiligen Organisationen auszugehen. Ferner verhindert auch eine nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG auf der mitgliedstaatlichen Ebene durchzuführende Sozialpartnervereinbarung die Rechtssetzungsaktivitäten der Gemeinschaft im Bereich der Sozialpolitik,45 weswegen nur anhörungsberechtigte Vereinigungen als europäische Sozialpartner angesehen werden können. Ob eine Organisation die Voraussetzungen erfüllt, die zur Teilnahme an den Anhörungen nach Art. 138 Abs. 2 und 3 EG berechtigen, entscheidet ausschließlich die Kommission.46 Die Nichtzulassung zu den Anhörungen nach Art. 138 EG unterliegt der gerichtlichen Kontrolle des EuGH.47 Obwohl also die Sozialpartner eigenverantwortlich darüber entscheiden, mit wem sie Verhandlungen führen wollen, sagt die Aufnahme von Verhandlungen noch nichts darüber aus, ob es sich bei den betreffenden Vereinigungen um europäische Sozialpartner handelt, denen nach Art. 139 Abs. 1 EG das Recht zusteht, Sozialpartnervereinbarungen schließen zu können. Die Anerkennung seitens anderer – womöglich von der Kommission bereits anerkannter – Sozialpartner führt nicht 43
Vgl. Schwarze – Rebhahn, Art. 138 EGV, Rn. 12. Däubler (in: EuZW 1992, S. 329, 332) ist hingegen der Auffassung, dass es wegen der Freiwilligkeit des Verfahrens keine der nationalen Tariffähigkeit entsprechende „Dialogfähigkeit“ gebe und deswegen etwa auch (Europäische) Betriebsräte am Sozialen Dialog teilnehmen könnten. Schiek (in: Däubler, TVG, Einleitung, Rn. 763) nimmt an, dass einzelne Arbeitgeber Sozialpartner auf europäischer Ebene sein könnten, und Deinert (in: RdA 2004, S. 211, 220 ff.) differenziert diesbezüglich zwischen autonomen Sozialpartnervereinbarungen und solchen, die durch einen Beschluss des Rates auf der europäischen Ebene durchgeführt werden sollen. 45 § 7 III. 3. c) und § 7 IV. 2. c) bb) (7). 46 Poschke, ZTR 2005, S. 390. Entgegen der Auffassung von Fudickar (in: Parteiautonome Anknüpfung grenzüberschreitender Tarifverträge in der EU, S. 102) lässt die gemeinsame Erklärung der European Landscape Contractors Association (ELCA), der Confédération Européenne des Entrepreneurs de Travaux Techniques Agricoles et Ruraux (CEETTAR) und der Europäischen Föderation der Gewerkschaften des Agrarsektors vom 5.11.1997 (wiedergegeben bei: Thiele/Kurth, RdA 1998, S. 244) nicht darauf schließen, dass sich die beteiligten Organisationen darin wechselseitig als Sozialpartner auf der europäischen Ebene anerkannt hätten. Aus der Erläuterung der ELCA zu dieser Erklärung geht vielmehr hervor, dass die Teilnahme am Sozialen Dialog auf der Gemeinschaftsebene von der Anerkennung durch die Kommission abhängt. Im Text der gemeinsamen Erklärung ist lediglich die Rede davon, dass sich die unterzeichnenden Organisationen als „Interessenvertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Agrarsektor“ anerkennen. Daher bezieht sich die gegenseitige Anerkennung nur auf die Zuordnung zum Agrarsektor und keineswegs auf die vorgelagerte Frage nach der Sozialpartnereigenschaft. 47 Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 50 ff.; Kempen/Zachert – Kocher, TVG, § 1, Rn. 721; Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 138 EGV, Rn. 11. 44
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dazu, dass die betreffende Organisation selbst als europäischer Sozialpartner anzusehen wäre. Die hierfür erforderliche Anerkennung vollzieht sich allein in einem rechtsförmig ausgestalteten und vor der Kommission durchzuführenden Verfahren, mit dem die Berechtigung zur Teilnahme an den Anhörungen nach Art. 138 Abs. 2 und 3 EG überprüft wird. Im Rahmen dieses förmlichen Verfahrens ist der Einsatz kollektiver Maßnahmen unzweifelhaft unzulässig, weil die Anerkennung als europäischer Sozialpartner nicht vom sozialen Gegenspieler erkämpft werden kann, sondern von der Kommission verliehen wird. Dementsprechend wird man einen Arbeitskampf, der auf die erstmalige Aufnahme von Verhandlungen nach Art. 139 EG gerichtet ist, für unzulässig halten müssen. Dem sozialen Gegenspieler ist es nicht zuzumuten, sich auf Verhandlungen mit einer Organisation einzulassen, die von der Kommission nicht als europäischer Sozialpartner anerkannt wird. Dann steht nämlich die offene Frage im Raum, ob die Vereinigung überhaupt in der Lage ist, Vereinbarungen nach Art. 139 EG wirksam zu schließen und effektiv durchführen zu können. Insbesondere bietet die Demonstration der Fähigkeit zum europäischen Arbeitskampf keine Gewährleistung dafür, dass die jeweilige Organisation die Voraussetzungen des Sozialpartnerbegriffs erfüllt. Beispielsweise bliebe ungeklärt, ob ihre einzelstaatlichen Mitglieder zur Durchführung autonomer Vereinbarungen in der Lage sind. Zudem wäre fraglich, ob sich die Gemeinschaftsorgane einer eigenen Regelung enthalten würden, wenn mit der betreffenden Organisation eine Vereinbarung geschlossen würde, und ob weitergehend auch eine Durchführung auf der europäischen Ebene nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG in Betracht käme. Mit dem Einsatz von Arbeitskampfmaßnahmen können diese Fragen nicht beantwortet werden. c) Die Einsetzung paritätischer Ausschüsse für den sektoralen Dialog Im Übrigen ist für die Frage nach der Zulässigkeit von Arbeitskämpfen im Sozialen Dialog, die auf die Aufnahme von Verhandlungen gerichtet sind, zu beachten, dass die Kommission das Arbeitsverfahren im sektoralen Sozialen Dialog mit dem Beschluss 98/500/EG vom 20. Mai 199848 durch die Einset48 Die eigenständige Handlungskategorie des „Kommissionsbeschlusses“ ist eine so genannte „unbenannte Rechtshandlung“ mit normativem Charakter. Sie ist immer dann möglich, wenn der EG-Vertrag den Erlass einer in Art. 249 EG typisierten Handlungsform nicht vorschreibt, aber allgemeine Regelungen seitens der Gemeinschaft zulässt. Das ist vor allem dann der Fall, wenn eine Bestimmung des EG-Vertrages der Kommission eine Förderpflicht auferlegt, ohne hierfür eine bestimmte Handlungsform vorzusehen; vgl. Streinz – Schroeder, Art. 249 EGV, Rn. 29 ff. Daher folgt aus Art. 138 Abs. 1 EG, der die Pflicht der Kommission zur Förderung des Sozialen Dialogs enthält, zugleich die Ermächtigung der Kommission, die europäischen Sozialpartnerverhandlungen in dem von Art. 138 und 139 EG gesteckten Rahmen durch „Beschlüsse“ auszugestalten.
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zung paritätischer Ausschüsse rationalisiert hat.49 Nach Art. 2 des Beschlusses 98/500/EG finden nicht nur die in Art. 138 Abs. 2 und 3 EG vorgeschriebenen Sozialpartneranhörungen, sondern auch die Verhandlungen, die gemäß Art. 139 Abs. 1 EG zum Abschluss einer Sozialpartnervereinbarung führen können, in den paritätischen Ausschüssen des sektoralen Sozialen Dialogs statt.50 Aufgrund der Vorschrift des Art. 1 des Beschlusses 98/500/EG erfordert die Einsetzung eines paritätischen Ausschusses den gemeinsamen Antrag der Sozialpartner auf Teilnahme am Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene. Unter der Bedingung, dass die betreffenden Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen die Voraussetzungen, die an einen europäischen Sozialpartner zu stellen sind, erfüllen, ist die Kommission verpflichtet, einen entsprechenden paritätischen Ausschuss zu einzusetzen. Sie prüft daher vor allem, ob die antragstellenden Organisationen über eine Struktur auf europäischer Ebene verfügen, aus Verbänden bestehen, die in ihrem Mitgliedstaat anerkannter und integraler Bestandteil des Systems der Arbeitsbeziehungen sind und effektiv am Anhörungsprozess teilnehmen können.51 Die verwaltungsförmige Ausgestaltung dieses Verfahrens, das nach dem Kommissionsbeschluss 98/500/EG für die Aufnahme kollektiver Verhandlungen im sektoralen Dialog vorausgesetzt ist, schließt die Ergreifung von Arbeitskampfmaßnahmen zu diesem Zweck aus. Die Durchführung eines Arbeitskampfes mit dem Ziel, die Stellung eines Antrags nach Art. 1 des Beschlusses 98/500/EG zu erzwingen, ist unzulässig, weil allein die Kommission über die – erforderlichenfalls gerichtlich durchsetzbare – Einsetzung eines paritätischen Ausschusses entscheidet. Mit einem Arbeitskampf könnte die Aufnahme kollektiver Verhandlungen daher nicht erzwungen werden. Der Einsatz arbeitskampf49 Bereits 1996 teilte die Kommission (KOM (96) 448 endg., S. 6) mit, dass die verschiedenen gemeinsamen Ausschüsse und informellen Arbeitsgruppen, die sich im Rahmen des sektoralen Sozialen Dialogs auf der Gemeinschaftsebene gebildet hatten, häufig auf die Behandlung ausschließlich sozialer Fragen beschränkt seien. Das führe regelmäßig zu einer künstlichen Spaltung zwischen sozialen und wirtschaftlichen Aspekten, die in aller Regel einer Benachteiligung der sozialpolitischen Probleme Vorschub leiste. Zudem hätten sich im Laufe der Jahre zahlreiche verschiedene Gremien mit vornehmlich technischen oder konsultativen Funktionen auf der Gemeinschaftsebene konstituiert, in denen die Sozialpartner nicht hinreichend vertreten seien. Insgesamt sei der sektorale Soziale Dialog „überinstitutionalisiert“ und seine überkommenen Strukturen und Arbeitsweisen hätten sich in Hinsicht auf ihre Zweckmäßigkeit überlebt, obwohl sie wegen ihrer großen Teilnehmerzahl und regelmäßigen Zusammenkünfte eine erhebliche finanzielle Belastung der Gemeinschaft darstellten. Zur Begründung des Beschlusses 98/500/EG siehe: KOM (98) 322 endg., Anhang II. 50 KOM (98) 322 endg., S. 10. 51 Das Verfahren weist gegenüber der gerichtlichen Überprüfung der Tariffähigkeit in Deutschland nach § 2a Abs. 1 Nr. 4a ArbGG im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren hauptsächlich den Unterschied auf, dass es wegen der Komplexität der mit der Anerkennung als europäischer Sozialpartner aufgeworfenen Fragen und den einschneidenden Folgen von Sozialpartnervereinbarungen für die Rechtssetzungsbefugnisse der Gemeinschaft zwingend vor dem Abschluss einer Vereinbarung durchzuführen ist.
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rechtlicher Mittel würde sich wenigstens mittelbar gegen die Kommission richten. Sie hätte nach einem erfolgreichen Arbeitskampf zu prüfen, ob die betreffenden Organisationen die Voraussetzungen des Sozialpartnerbegriffs erfüllen und würde hierbei mittelbar durch den Arbeitskampf unter Druck gesetzt. Es scheint zwar nicht völlig ausgeschlossen zu sein, Sozialpartnerverhandlungen außerhalb eines von der Kommission eingesetzten Ausschusses aufzunehmen. Damit würde allerdings das im Beschluss 98/500/EG vorgesehene Verfahren, nach welchem zunächst die Prüfung der Kommission und dann der Abschluss von Vereinbarungen vorgesehen ist, umgangen. Gegen den Einsatz von Arbeitskampfmitteln zum Zwecke der Einleitung kollektiver Sozialpartnerverhandlungen auf europäischer Ebene außerhalb eines paritätischen Ausschusses spricht auch, dass die kämpfende Partei trotz der Ausübung des kollektiven Drucks keinerlei Gewährleistung dafür bietet, dass sie die begrifflichen Voraussetzungen des Sozialpartnerbegriffs erfüllt und von der Kommission bzw. vom Europäischen Gerichtshof als europäischer Sozialpartner anerkannt wird. Da die Delegationen beider Sozialpartner eines paritätischen Ausschusses nach Art. 5 Ziffer 3 Satz 1 des Beschlusses 98/500/EG verpflichtet sind, mindestens einmal pro Jahr zusammenzutreffen, ist zudem auch nach der Einrichtung eines paritätischen Ausschusses ein auf die Aufnahme von Verhandlungen gerichteter Arbeitskampf nicht von Art. 28 Var. 2 GRC gedeckt. Schließlich bedarf es aus praktischen Erwägungen keiner Arbeitskampfmittel, um sowohl die Arbeitgeber- als auch die Arbeitnehmerseite zur Stellung eines Antrags auf Einsetzung eines paritätischen Ausschusses zu bewegen. Denn innerhalb eines solchen Ausschusses werden nicht nur die Verhandlungen nach Art. 139 EG durchgeführt, sondern auch die in Art. 138 Abs. 2 und 3 EG genannten Anhörungsrechte wahrgenommen.52 Weder die Arbeitgeber- noch die Arbeitnehmerseite wird es sich erlauben wollen, dass nur der soziale Gegenspieler Stellungnahmen und Empfehlungen an die Kommission richtet. Wegen der Verknüpfung des Anhörungsverfahrens mit den Sozialpartnerverhandlungen ist keine Seite darauf angewiesen, kollektiven Druck auszuüben, um die Einrichtung eines paritätischen Ausschusses zu erreichen. Seit dem Erlass der Beschlusses 98/500/EG sind insgesamt 30 paritätische Ausschüsse im sektoralen Dialog von der Kommission auf Antrag europäischer Sozialpartner eingesetzt worden.53 Die Zahl macht deutlich, dass das von der Kommission angeordnete 52 Gaitanides/Kadelbach/Iglesias – Weiss, Europa und seine Verfassung, S. 589 (601). 53 Nach der aktuellen Mitteilung der Kommission zum Sozialen Dialog (KOM (2004) 557 endg., S. 23) bestehen Paritätische Ausschüsse in den folgenden Sektoren: Audiovisueller Sektor, Banken, Bauindustrie, Bergbau, Binnenschifffahrt, Darstellende Kunst, Eisenbahnverkehr, Elektrizitätswirtschaft, Gerberei/Leder, Handel, Holzindustrie, Hotels/Gaststätten, Industrielle Reinigung, Kommunale Verwaltung, Landwirtschaft, Möbelindustrie, Personengebundene Dienstleistungen, Post, Private Sicherheits-
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Antragsverfahren den sektoralen Sozialen Dialog wohl zuverlässiger fördert, als es die Sozialpartner – auch unter dem Einsatz von Arbeitskampfmitteln – in eigener Verantwortung vermocht hätten.54 Damit ist festzustellen, dass die Anerkennung als Sozialpartner auf Gemeinschaftsebene von einem Rechtsakt der Kommission abhängt und sich ein Arbeitskampf, der darauf gerichtet ist, Verhandlungen im Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene aufzunehmen, schon deswegen nicht von Art. 28 Var. 2 GRC geschützt wird. Insbesondere fehlt es insoweit an einem von Art. 28 Var. 2 GRC verlangten Interessenkonflikt, der zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite autonom gelöst werden könnte. d) Die Mitteilung der Sozialpartner nach Art. 138 Abs. 4 EG Dieses Ergebnis folgt auch aus Art. 138 Abs. 4 EG, der als einzige Vorschrift im EG-Vertrag die Umstände, die zur Aufnahme von Sozialpartnerverhandlungen führen können, näher beschreibt. Von der autonomen Einleitung von Sozialpartnerverhandlungen nach Art. 139 Abs. 1 EG unterscheidet sich das Verfahren nur dadurch, dass ein von der Kommission initiiertes Rechtssetzungsverfahren der Gemeinschaft vorübergehend unterbrochen wird. Art. 138 Abs. 4 Satz 1 EG lässt sich entnehmen, dass „die Sozialpartner“ der Kommission die Aufnahme von Verhandlungen nach Art. 139 EG mitteilen müssen. R. Schwarze55 hat hierzu angemerkt, dass die Möglichkeit einer Einigung am Beginn von Verhandlungen nicht immer erkennbar sei, sondern am Ende von Verhandlungen stehe. Deswegen genüge die Mitteilung eines angehörten Sozialpartners, um das Verfahren des Art. 139 EG in Gang zu setzen. Wäre dem so, dann ließe sich daraus möglicherweise folgern, dass ein Sozialpartner über Art. 138 Abs. 4 EG zur Eröffnung von Verhandlungen berechtigt ist und folglich – wenigstens für den in Art. 138 Abs. 4 genannten Zeitraum von neun Monaten – das Recht haben müsste, den Abschluss einer Vereinbarung kampfweise zu erzwingen. Da dienste, Schiffbau, Schuhindustrie, Seefischerei, Seeverkehr, Straßenverkehr, Telekommunikation, Textil/Bekleidung, Versicherungen, Zeitarbeitsvermittlung, Zivilluftfahrt und Zuckerindustrie. 54 Dem Verfahren in den paritätischen Ausschüssen des sektoralen Sozialen Dialogs nicht unähnlich vollzieht sich der branchenübergreifende Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene hauptsächlich beim jährlichen „Tripartiten Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung“, an dem neben Vertretern des Rates und der Kommission, die UNICE und der EGB teilnehmen, und im Ausschuss für den branchenübergreifenden Sozialen Dialog; vgl. Beschluss des Rates 2003/174/EG vom 6.3.2003 zur Einrichtung eines Dreigliedrigen Sozialgipfels für Wachstum und Beschäftigung sowie KOM (2004) 557 endg., S. 13. Damit ist ein auf der branchenübergreifenden Ebene mit dem Ziel der Anerkennung als Sozialpartner und Aufnahme von Verhandlungen gerichteter Arbeitskampf aus den gleichen Gründen unzulässig wie auf der sektoralen Ebene des Sozialen Dialogs. 55 In: Oetker/Preis, EAS, B 8100, Rn. 74.
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Art. 138 Abs. 4 Satz 1 EG aber im Plural von mehreren Sozialpartnern spricht, ist für eine ordnungsgemäße Mitteilung an die Kommission zur Unterbrechung des von ihr betriebenen Rechtssetzungsverfahrens die Beteiligung sowohl der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerseite erforderlich. Das folgt auch aus der Regelung in Art. 138 Abs. 4 Satz 2 EG, in der von mehreren „betroffenen Sozialpartnern“ die Rede ist. Die Mitteilung eines einzelnen Sozialpartners rechtfertigt zudem nicht die in Art. 138 Abs. 4 EG angeordnete Unterbrechung des gemeinschaftlichen Rechtssetzungsverfahrens, weil sie keine ausreichende Aussicht auf eine Einigung bietet.56 Damit kann die Einleitung von Sozialpartnerverhandlungen im Fall des Art. 138 Abs. 4 EG nicht erstreikt werden. Vor einer Mitteilung nach Art. 138 Abs. 4 EG kann kein Arbeitskampf durchgeführt werden, weil die europäischen Sozialpartner, die Unterbreitung des konkreten Rechtssetzungsvorschlages nach Art. 138 Abs. 3 EG abzuwarten haben, bevor sie unter Ausübung ihres Rechts aus Art. 138 Abs. 4 EG in Verhandlungen zu dem betreffenden Regelungsgegenstand eintreten können.57 Nach dieser Anhörung fehlt die Zeit, um die Einleitung von Verhandlungen mit Arbeitskampfmaßnahmen zu erzwingen, weil die Mitteilung nach Art. 138 Abs. 4 EG „bei“ der Anhörung zu erfolgen hat.58 Aus der einzigen gemeinschaftsvertraglichen Vorschrift, die eine Aussage zur Aufnahme von Sozialpartnerverhandlungen enthält, geht also hervor, dass sie nicht mit Mitteln des Arbeitskampfs herbeigeführt werden kann. 4. Der europäische Arbeitskampf als Mittel autonomer Konfliktlösung Neben der Erzwingung von Verhandlungen auf europäischer Ebene kommt im Rahmen des Sozialen Dialogs auf der Gemeinschaftsebene ein europäischer Arbeitskampf in Betracht, mit dem der Abschluss einer Vereinbarung erzwungen werden soll. Für die Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen zu diesem Zweck ist es von maßgeblicher Bedeutung, ob die europäischen Sozialpartner beim Sozialen Dialog unter einem Einigungszwang stehen. Beispielsweise liegt der grundsätzlichen Entscheidung für die koalitionsautonome Regelung des Arbeitslebens in Art. 9 Abs. 3 GG das Prinzip des faktischen Einigungszwanges zugrunde. Da sich die verfassungsrechtliche Grundentscheidung insbesondere gegen die staatliche Festsetzung von Leistung und Ge-
56 Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 138 EGV, Rn. 37; Schwarze – Rebhahn, Art. 138 EGV, Rn. 13. 57 A. A.: Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 75. 58 Die Entscheidung der Sozialpartner über die Aufnahme von Verhandlungen unter Ausübung ihres Rechts aus Art. 138 Abs. 4 EG wird daher in aller Regel bereits vor der zweiten Anhörung nach Art. 138 Abs. 3 EG getroffen; vgl. Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 41.
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genleistung im Arbeitsverhältnis wendet, kann in Deutschland eine staatsfreie Konfliktlösung nur über den Einsatz kollektiven Drucks erreicht werden.59 Aus der Entscheidung für ein freiheitliches Tarifvertragssystem ergibt sich das Recht der Tarifparteien, Interessenkonflikte über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen mit dem Mittel des Arbeitskampfes auszutragen.60 Das geht so weit, dass nach der Bestimmung des Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG nicht einmal eine den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik bedrohende Gefahr den Staat dazu ermächtigt, gegen die auf Wahrung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen gerichteten Arbeitskämpfe mit den Mitteln zur Beseitigung eines Staatsnotstandes vorzugehen.61 Auf der europäischen Ebene kann allein der Umstand, dass es sich bei den Sozialpartnervereinbarungen um europäische Tarifverträge im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC handelt, nicht auf Zulässigkeit europäischer Arbeitskämpfe nach Art. 28 Var. 2 GRC geschlossen werden. Aus der Sicht des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen liegt ein grundrechtstatbestandlicher Interessenkonflikt vielmehr nur dann vor, wenn eine zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern bestehende Regelungsstreitigkeit von ihnen ohne Beteiligung hoheitlicher Stellen gelöst werden muss. Bleiben die Träger hoheitlicher Gewalt trotz eines etwaigen Interessengegensatzes zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern zur autoritativen Entscheidung des jeweiligen Regelungsgegenstandes – und sei es auch nur subsidiär – zuständig, liegt zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern kein Interessenkonflikt im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC vor. In diesem Fall wird ihnen lediglich eine gegenüber den staatlichen und gemeinschaftlichen Organen vorrangige Regelungsmöglichkeit eingeräumt. Deswegen setzt die Zulässigkeit kollektiver Maßnahmen innerhalb des Sozialen Dialogs auf der Grundlage des Art. 28 Var. 2 GRC voraus, dass die Sozialpartner auf der Gemeinschaftsebene unter dem Zwang stehen, ohne hoheitliche Intervention zu einer Regelung im Bereich der europäischen Sozialpolitik zu kommen. Nur unter der Bedingung, dass die europäischen Sozialpartner zu einer Einigung kommen müssen, kann sich die Ergreifung von Arbeitskampfmaßnahmen auf das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen stützen. a) Die Rechtssetzungsbefugnis „in den von Art. 137 EG erfassten Bereichen“ Nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG können die europäischen Sozialpartner Vereinbarungen zu den „von Art. 137 EG erfassten Bereichen“ schließen.62 Hin59 60 61
AR-Blattei – Löwisch/Rieble, SD 170.1, Rn. 9 ff. BAGE (GS) 23, 292 (306). Vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 7, Rn. 46.
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sichtlich dieser Materien besteht seitens der Gemeinschaft eine Rechtssetzungskompetenz, die sie nach Art. 137 Abs. 2 Buchstabe b) EG zum Erlass von Richtlinien ermächtigt. In diesen Bereichen kann also einerseits die Gemeinschaft Richtlinien erlassen und andererseits können die europäischen Sozialpartner nach Art. 139 EG Vereinbarungen schließen. Für die Frage nach der Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC im Rahmen der europäischen Sozialpartnerverhandlungen kommt es daher vor allem auf das Konkurrenzverhältnis zwischen der gemeinschaftlich-hoheitlichen und der sozialpartnerschaftlich-autonomen Rechtssetzungsbefugnis in diesen Bereichen an. Der Abschluss europäischer Sozialpartnervereinbarungen könnte nur dann unter dem Schutz des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen erzwungen werden, wenn die Rechtssetzungsbefugnis der europäischen Sozialpartner die Rechtssetzungsbefugnis der Gemeinschaft ausschließt. aa) Die sozialpartnerschaftliche Übernahme eines gemeinschaftlichen Rechtssetzungsverfahrens nach Art. 138 Abs. 4 EG Das Verhältnis der Rechtssetzungsmacht der Gemeinschaft und der Befugnisse der europäischen Sozialpartner zueinander, lässt sich am eindeutigsten der Vorschrift des Art. 138 Abs. 4 EG entnehmen, in der die Ablösung eines gemeinschaftlichen Rechtssetzungsverfahrens durch sozialpartnerschaftliche Verhandlungen und mithin die Kollision gemeinschaftlicher und sozialpartnerschaftlicher Rechtssetzung am deutlichsten geregelt ist. Infolge der Einleitung von Verhandlungen nach Art. 138 Abs. 4 EG haben die Sozialpartner neun Monate Zeit, eine Vereinbarung abzuschließen, und die Kommission ist innerhalb dieses Zeitraumes daran gehindert, das von ihr eingeleitete Rechtssetzungsverfahren weiterzuverfolgen.63 Scheitern die Sozialpartnerverhandlungen, ist die Kommission allerdings berechtigt, den von ihr nach Art. 138 Abs. 3 EG zur Anhörung gebrachten Vorschlag ohne weitere Zwischenschritte und insbesondere ohne eine weitere Beteiligung der europäischen Sozialpartner an das Europäische Parlament sowie an den Europäischen Rat nach Art. 137 Abs. 2 Satz 2 EG in Verbindung mit Art. 251 EG weiterzuleiten.64 Damit fällt die Initiative 62 Von Art. 137 EG werden die Bereiche des Arbeitsentgelts, des Koalitions- sowie des Streik- und Aussperrungsrechts nicht im Sinne des Art. 139 Abs. 2 EG erfasst. Der Soziale Dialog ermächtigt die Gemeinschaftsorgane insbesondere nicht dazu, Sozialpartnervereinbarungen auf der europäischen Ebene durchzuführen, die eine Regelung dieser Materien beinhalten; vgl. zu dieser umstrittenen Frage statt aller nur: Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 127 f. 63 Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 138 EGV, Rn. 34. 64 Allerdings darf die Kommission keine wesentlichen Änderungen an ihrem Vorschlag vornehmen. Ansonsten stehen den europäischen Sozialpartnern wiederum die Anhörungsrechte nach Art. 138 Abs. 2 und 3 EG und das Übernahmerecht aus Art. 138 Abs. 4 EG zu; vgl. Heinze, ZfA 1997, S. 505 (515); Heller, Der Soziale
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an die Kommission zurück und die Ausgestaltung des Verfahrens in Art. 138 EG stellt sicher, dass in diesem Fall der Inhalt einer in Aussicht genommenen und den Sozialpartnern bereits zweifach zur Anhörung gebrachten Gemeinschaftsmaßnahme bereits erarbeitet ist.65 Damit geht aus der Vorschrift des Art. 138 Abs. 4 EG hervor, dass den europäischen Sozialpartnern in den von Art. 137 EG erfassten Bereichen keine autonome Rechtssetzungsbefugnis zugestanden wird, aufgrund derer die Gemeinschaft aus ihren Rechtssetzungskompetenzen gänzlich verdrängt würde. Eine Einigung der europäischen Sozialpartner ist daher nicht zwingend erforderlich, weil sich aus Art. 138 Abs. 4 EG entnehmen lässt, dass die Sozialpartner die Kommission nur gemeinsam und nur zeitweilig aus ihrer Rolle im Rechtssetzungsverfahren verdrängen können, um eine Einigung zu versuchen. Die Kommission gewinnt ihre Rechtssetzungskompetenz aber im vollen Umfang zurück, wenn eine Einigung der Sozialpartner scheitert.66 Eine mögliche Blockade der nach Art. 138 Abs. 4 EG eingeleiteten sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen soll nach dem Gemeinschaftsvertrag demnach nicht mit der Ausübung kollektiven Drucks überwunden werden, sondern führt – spätestens nach dem Ablauf von neun Monaten – zum Ende der autonomen Verhandlungen unter Rückfall der Rechtssetzungsbefugnis an die Gemeinschaftsorgane. Da es also keinen Einigungszwang der europäischen Sozialpartner gibt und es damit auch hinsichtlich des Abschlusses einer Sozialpartnervereinbarung an einem Interessenkonflikt im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC mangelt, ist die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen zur Erzwingung einer Sozialpartnervereinbarung über einen innerhalb der Rechtssetzungsbefugnisse der Gemeinschaft liegenden Gegenstand ausgeschlossen.67
Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 64 f.; Piazolo, Der Soziale Dialog, S. 116 f.; differenzierend: Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 82. 65 Das ist im Übrigen auch der Grund, warum die Übernahme des Rechtssetzungsverfahrens durch die europäischen Sozialpartner erst im Anschluss an die zweite Anhörung nach Art. 138 Abs. 3 EG und entgegen der Ansicht von R. Schwarze (in: Oetker/Preis, EAS, B 8100, Rn. 75) nicht schon im Zuge der ersten Anhörung nach Art. 138 Abs. 2 EG möglich ist. Dabei handelt es sich mitnichten um überflüssigen Formalismus, sondern um die gemeinschaftsvertragliche Vorkehrung für den Fall, dass nach Art. 138 Abs. 4 EG eingeleitete Sozialpartnerverhandlungen scheitern. 66 Vgl. Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 67. 67 Die subsidiäre Zuständigkeit der Gemeinschaft zur Regelung der Sozialpolitik lässt sich grundrechtsdogmatisch mit Art. 31 GRC begründen, weil die Arbeitnehmer von der Gemeinschaft die Herstellung gerechter und angemessener Arbeitsbedingungen auch dann verlangen können, wenn die europäischen Sozialpartner nicht zu einer Einigung kommen.
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bb) Die Rechtssetzungsbefugnisse der Gemeinschaft bei Sozialpartnerverhandlungen ohne vorherige Anhörung Für den Fall, dass Sozialpartnerverhandlungen aufgenommen werden, ohne dass zuvor eine Anhörung stattgefunden hätte oder eine Mitteilung an die Kommission erfolgt wäre, fehlt es ebenfalls an einem Interessenkonflikt im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC. Treten die europäischen Sozialpartner in Verhandlungen ein, bevor die Kommission ihrerseits ein Rechtssetzungsverfahren eingeleitet hat, tritt die in Art. 138 Abs. 4 EG vorgeschriebene Sperrwirkung ein, sobald die betroffenen Sozialpartner der Kommission eine der Vorschrift entsprechende Mitteilung übermitteln.68 Dass in dieser Konstellation kein von der Kommission ausgearbeiteter Vorschlag für den Fall eines möglichen Scheiterns der Sozialpartnerverhandlungen vorliegt, rechtfertigt kein von dem bei Ausübung des Übernahmerechts aus Art. 138 Abs. 4 EG abweichendes Ergebnis, weil die Kommission auch in diesem Fall spätestens nach dem Ablauf von neun Monaten ein Rechtssetzungsverfahren einleiten kann. cc) Zur Verhandlungsimparität beim Sozialen Dialog auf der Gemeinschaftsebene Allerdings lässt sich bei den Verhandlungen der europäischen Sozialpartner das für die kollektiven Verhandlungen in den Mitgliedstaaten typische Machtgefälle beobachten, das auf der Ebene der Einzelstaaten mit dem Mittel des Arbeitskampfes überwunden wird.69 Auf der Gemeinschaftsebene soll das Ungleichgewicht der Sozialpartner bei Verhandlungen nach den gemeinschaftsvertraglichen Regelungen anscheinend durch die Beteiligung der Kommission ausgeglichen werden. Nach einer im Schrifttum vertretenen Auffassung bringe der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene damit eine „neue Dimension“ ins Spiel, weil er die subsidiäre Zuständigkeit der Kommission unberührt lasse. Die europäischen Sozialpartner müssten bei den Verhandlungen einen nicht erzwingbaren Ausgleich ihres Interessengegensatzes herbeiführen, weil sie eine Rechtssetzung der Gemeinschaft befürchten müssten, wenn ihnen eine Verhandlungslösung nicht gelinge.70 68
Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 81. Britz/Schmidt, EuR 1999, S. 467 (496); ZEW – Schmitz, Der Soziale Dialog in Europa, S. 113 (119). 70 So vor allem: Weiss, FS-Kissel, S. 1253 (1263 f.); vgl. aber auch: Däubler – Schiek, TVG, Einleitung, Rn. 728; Oetker/Preis – R. Schwarze, B 8100, Rn. 60 und die bei Fuchs/Marhold (in: Europäisches Arbeitsrecht, S. 209 ff.) wiedergegebenen Ansichten. Piazolo (in: Der Soziale Dialog, S. 32) beschreibt dies als „Zuckerbrot und Peitsche-Logik“, weil die Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbände, die zum Abschluss einer Vereinbarung nicht in der Lage seien, unter der „Drohung“ stünden, dass der Verhandlungsgegenstand von der Gemeinschaft verbindlich geregelt werde. 69
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Ob diese Einschätzung, die zwar von richtigen Voraussetzungen ausgeht, zu einer überzeugenden rechtspolitischen Würdigung des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene kommt, ist zweifelhaft. Sie wäre plausibler, wenn die betreffenden Parteien auch ohne Beteiligung der Kommission auf gleicher Augenhöhe verhandeln würden.71 Da die Verhandlungsimparität aber ein struktureller Nachteil der Arbeitnehmer ist, wird die Kommission in aller Regel die verminderte Durchsetzungskraft der Arbeitnehmerseite auszugleichen haben und deswegen nahezu ausschließlich auf die Arbeitgeberseite Druck ausüben müssen.72 Das steht nicht nur im offenen Widerspruch zur Autonomie der Sozialpartner, sondern ist auch mit dem Neutralitätsgebot aus Art. 138 Abs. 1 EG unvereinbar. Die europäischen Sozialpartner haben bei ihrem Vorschlag vom 31. Oktober 1991, der zu der Regelung in Art. 138 Abs. 1 EG geführt hat, die Kommission nicht grundlos zur Ausgewogenheit bei der Unterstützung der Parteien verpflichten wollen.73 Selbst wenn man den Gesichtspunkt der strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmerseite einmal beiseite lässt, scheint Art. 138 Abs. 4 EG zu unterstellen, dass die Vorlagen der Europäschen Kommission in einem Grade sachwidrig sein können, dass die europäischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen trotz ihrer antagonistischen Interessenlage eher gewillt sind, eine Einigung zu versuchen, als den Kommissionsvorschlag hinzunehmen.74 Beschönigend weist Heller (in: Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 93) darauf hin, dass das „Drohpotential“ der Gemeinschaftsorgane die Konsensbildung der europäischen Sozialpartner positiv beeinflussen und der damit verbundene „faktische Zwang“ die europäischen Sozialpartner an den Verhandlungstisch bringen dürfte. 71 Vgl. Blank, FS-Gnade, S. 649 (652). 72 Das sieht Poschke (in: ZTR 2005, S. 390, 392) in der Realität bestätigt. 73 Vgl. Weiss, FS-Gnade, S. 583 (591). 74 So ist die auf gemeinsamen Vorschlag von UNICE, CEEP und EGB entstandene Vorschrift wohl auch tatsächlich gemeint, wie sich am deutlichsten der Äußerung des damaligen UNICE-Generalsekretärs Tyskiewicz entnehmen lässt: „Warum hat UNICE die Idee von Verhandlungen auf europäischer Ebene akzeptiert? Warum haben wir diesen Weg eingeschlagen? Warum zentralisieren wir Tarifverhandlungen und führen sie auf europäischer Ebene, wenn sich zugleich überall in Europa eine Tendenz abzeichnet, Tarifverhandlungen nicht mehr zentral, sondern auf der Ebene der Betriebe zu führen? Der Grund ist, dass die Arbeitgeber überzeugt waren, dass Maastricht zu einer Stärkung der Kompetenzen der Kommission und des Rates im Bereich der Sozialpolitik führen würde: eine großzügige Ausweitung der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit muss zu einer größeren Zahl von Rechtsakten im Bereich der Sozialpolitik führen. Die Erfahrung mit der EG-Sozialgesetzgebung war jedoch, dass dem Gesetzgeber Fehler unterlaufen. So war der Gesetzgeber in der Vergangenheit zu detailliert, machte zu viele Vorgaben und war bestrebt, alles von Brüssel aus zu regeln. Wir waren überzeugt, dass die einzige Möglichkeit, dem Einhalt zu gebieten, darin bestand, einige der Probleme selbst zu regeln. Wir glaubten, ein besserer Wächter der Subsidiarität zu sein als der Gesetzgeber.“ (abgedruckt bei: Blanpain/Schmidt/ Schweibert, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 169). Vgl. auch Weiss, FS-Gnade, S. 583 (592) und zudem die Ausführungen von R. Thüsing (in: Schmähl/Rische, Europäische Sozialpolitik, S. 123, 127) zum Richtlinienvor-
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Zudem besteht insoweit auch ein eigenartiger Widerspruch zu den freiheitlichen Regelungen des kollektiven Arbeitsrechts der Mitgliedstaaten, die die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen den nationalen Koalitionen überlassen. Beim Sozialen Dialog auf der Gemeinschaftsebene stehen die Sozialpartner hingegen gleichsam unter Kuratel der Kommission. Das kommt etwa in der Regelung des Art. 138 Abs. 1 EG zum Vorschein, die es der Kommission zur Aufgabe macht, die Beziehungen zwischen den europäischen Sozialpartnern zu fördern. Ein derart „pateranalistisches Konzept“75 muss jedenfalls aus deutscher Perspektive Befremden hervorrufen.76 Gleichwohl kann die rechtspolitische Kritik am Verfahren des Sozialen Dialogs auf der Gemeinschaftsebene – wie sie auch ausfallen mag – nicht zu einer die Vorschriften der Art. 138 und 139 EG umgestaltenden Auslegung führen. Insbesondere können die beiden in Art. 28 GRC garantierten Grundrechte nicht einmal zur rechtsfortbildenden Interpretation der Art. 138 und 139 EG herangezogen werden, weil die Bestimmung des Art. 52 Abs. 2 GRC jede erweiternde Auslegung der im Gemeinschaftsvertrag begründeten Rechte kategorisch ausschließt.77 b) Sozialpartnervereinbarungen außerhalb der von Art. 137 EG erfassten Bereiche? Nach nahezu allgemeiner Auffassung im Schrifttum sollen die europäischen Sozialpartner beim Abschluss einer Vereinbarung, die gemäß Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG auf der Ebene der Mitgliedstaaten durchgeführt werden soll, inhaltlich nicht auf die von Art. 137 EG erfassten Bereiche beschränkt sein. Vielmehr sollen sie zu jedwedem Gegenstand eine autonome Vereinbarung schließen können.78 Das ergebe sich im Umkehrschluss aus der Parenthese in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG, die nur für die Durchführung der Sozialpartnervereinbarung auf der europäischen Ebene gelten soll.79 Da eine auf nationaler Ebene umzusetzende Vereinbarung zudem in der Durchführungsphase ohnehin
schlag der Kommission zum Elternurlaub sowie diejenigen von Thau (in: AGVBanken, Tarifpolitik auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft, S. 82, 87) zur Arbeitszeitrichtlinie. 75 Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 138 EGV, Rn. 26. 76 AGVBanken – Thau, Tarifpolitik auf dem Weg in die Dienstleistungsgesellschaft, S. 82 (83); Waas, ZESAR 2004, S. 443 (444 f.). 77 Vgl. zum gegenteiligen Ansatz: Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 437 ff. 78 Birk, EuZW 1997, S. 453 (456); Hailbronner/Wilms – Boecken, Art. 139 EGV, Rn. 13; Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 11; Oetker/Preis – Preis/Gotthardt, EAS, B 1100, Rn. 99; Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 29. 79 Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 11.
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auf die sich aus dem mitgliedstaatlichen Recht ergebenden Grenzen stoße, bedürfe es für sie keiner inhaltlichen Begrenzung auf der europäischen Ebene.80 Folgte man dieser Sichtweise, könnte man zu dem Schluss kommen, dass die europäischen Sozialpartner jedenfalls dann unter einem Einigungszwang stünden, wenn sie Gegenstände, die – wie etwa das Arbeitsentgelt – nicht von Art. 137 EG erfasst werden, auf der europäischen Ebene mittels einer nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG durchzuführenden Vereinbarung regeln wollen. Dem ließe sich jedenfalls nicht entgegenhalten, dass die Kommission anstelle der Sozialpartner eine Regelung treffen kann. Bezüglich der in Art. 137 Abs. 5 EG genannten Materien, die unter anderem auch das Arbeitsentgelt betreffen, fehlt es nämlich an einer Rechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft. Es erscheint aber zweifelhaft, ob die Vereinbarungsbefugnis der europäischen Sozialpartner inhaltlich über die Rechtssetzungsbefugnis der Gemeinschaft hinausgeht. Die Annahme, dass die Beschränkung der Durchführung von Vereinbarungen auf der Gemeinschaftsebene auf die in Art. 137 EG erfassten Bereiche Rückschlüsse auf die möglichen Gegenstände autonomer Vereinbarungen erlaubt, ist mehr als zweifelhaft. Dieser Einschränkung innerhalb des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG bedurfte es wohl nur um klarzustellen, dass die Gemeinschaft die ihr nach Art. 137 EG zustehenden Kompetenzen nicht über den Weg vereinbarungsdurchführender Ratsbeschlüsse ausweiten darf. Der Einschränkung in Art. 139 Abs. 2 EG, die dem Schutz der Kompetenzen der Mitgliedstaaten dient, kann daher nicht im Umkehrschluss die unbeschränkte Rechtssetzungsmacht der europäischen Sozialpartner im Falle des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG entnommen werden. Zudem beruht die Ansicht der herrschenden Meinung auf der Annahme, dass die autonomen Vereinbarungen lediglich schuldrechtliche Bindungen zwischen den europäischen Sozialpartnern entstehen lassen. Geht man aber im Gegensatz dazu davon aus, dass die nationalen Sozialpartner nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG im Rahmen mitgliedstaatlicher Verfahren und Gepflogenheiten zur Durchführung der europäischen Vereinbarung verpflichtet sind, ergibt sich ohne weiteres, dass die gegenständliche Reichweite autonomer Sozialpartnervereinbarungen nicht grenzenlos sein kann.81 Auf eine Begrenzung derselben im Innenverhältnis zwischen den europäischen und den nationalen Sozialpartnerorganisationen kann es nicht ankommen, weil den europäischen Sozialpartnern die Kompetenz zum Abschluss von Vereinbarungen in Art. 139 EG verliehen wird und folglich nicht von ihren Mitgliedern herrührt. Daher muss die Vereinbarungsbefugnis der europäischen Sozialpartner auch im Falle des Art. 139 Abs. 2 80 Birk, EuZW 1997, S. 453 (456); Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 94; Heller, Der Soziale Dialog auf Gemeinschaftsebene, S. 107. 81 Bödding (in: Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 94) schlägt hierzu eine recht unbestimmte Begrenzung auf „soziale Fragen“ vor.
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Satz 1 Var. 1 EG ihre Grenzen in der Rechtssetzungszuständigkeit der Gemeinschaft finden. Die Rechtssetzungsbefugnis der europäischen Sozialpartner und die sozialpolitischen Kompetenzen der Gemeinschaft sind daher hinsichtlich ihrer möglichen Gegenstände deckungsgleich. Das folgt zudem aus der Überlegung, dass die Kommission wegen ihrer Förder- und Unterstützungspflicht aus Art. 138 Abs. 1 EG ansonsten die Möglichkeit hätte, mittelbar auf Bereiche Einfluss zu nehmen, zu deren Regelung die Gemeinschaft nach der Kompetenzverteilung im EG-Vertrag nicht befugt ist. Insgesamt ist das Verfahren des Sozialen Dialogs auf der Gemeinschaftsebene, wie sich vor allem aus Art. 138 Abs. 4 EG ergibt, auf die nach dem EG-Vertrag bestehenden Rechtssetzungsbefugnisse der Gemeinschaft zugeschnitten. Es ist nicht anzunehmen, dass der EG-Vertrag den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen auf der Gemeinschaftsebene weitergehende Zuständigkeiten zuweist als der Kommission. Darüber hinaus kann die Gemeinschaft auch unter Berücksichtigung ihrer grundrechtlichen Bindung an das Grundrecht auf kollektive Verhandlungen und unbeschadet der Bestimmung des Art. 52 Abs. 2 GRC nicht zur Einräumung kollektiver Vertragsautonomie in Bereichen verpflichtet sein, für die sie selbst keine Kompetenz besitzt. Daher ist mit Piazolo82 und Eichenhofer83 festzustellen, dass die gegenständliche Reichweite der europäischen Sozialpartnervereinbarungen durch die Rechtssetzungskompetenzen der Gemeinschaft begrenzt wird.84 Deswegen kann es keinen Einigungszwang der europäischen Sozialpartner in Bereichen geben, die auf der europäischen Ebene nur von ihnen und nicht von der Gemeinschaft geregelt werden könnten. 5. Die Effektivität gesamteuropäischer Arbeitskämpfe im Sozialen Dialog In den Mitgliedstaaten entsteht der von den Tarifparteien autonom mit dem Mittel des Arbeitskampfes zu lösende Interessenkonflikt, weil etwa die Höhe des Arbeitsentgelts gegebenenfalls tariflich geregelt werden muss. Arbeitsvertragliche Bestimmungen allein reichen hierfür grundsätzlich nicht aus. Im Gegensatz zu den nationalen Arbeitsrechtsordnungen herrscht demgegenüber auf 82 In: Der Soziale Dialog, S. 98 f. Piazolo stellt zutreffend fest, dass insbesondere die in Art. 137 Abs. 5 EG genannten Rechtsmaterien nicht Gegenstand einer tariflichen Regelung der europäischen Sozialpartner sein können und Art. 138 Abs. 4, 139 EG die Sozialpartner auf die Bereiche gemeinschaftlicher Sozialpolitik beschränken. Außerhalb der Gemeinschaftskompetenzen ist der Abschluss von Vereinbarungen nur auf der Grundlage der allgemeinen Vertragsfreiheit möglich; übereinstimmend: Bödding, Die europarechtlichen Instrumentarien der Sozialpartner, S. 103. 83 In: Streinz, Art. 139 EGV, Rn. 7. 84 Ähnlich: Schnorr, DRdA 1994, S. 193 (196).
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der europäischen Ebene kein „Regelungsvakuum“, weil stets eine tarifliche Regelung auf der nationalen Ebene möglich bleibt. Ein entsprechender Zwang zum Tarifschluss auf der europäischen Ebene wäre lediglich anzunehmen, wenn – dem gemeinschaftlichen Subsidiaritätsprinzip aus Art. 5 EG entsprechend – eine Regelung auf mitgliedstaatlicher Ebene nicht ausreichend wäre. Unter dieser Prämisse kommt die Durchführung europäischer Arbeitskämpfe nach Art. 28 Var. 2 GRC aber nur dann in Betracht, wenn mit der Ausübung kollektiven Drucks der Abschluss bzw. die Durchführung europäischer Sozialpartnervereinbarungen tatsächlich gefördert werden könnte. Nur unter dieser Bedingung wäre der europäische Arbeitskampf überhaupt ein zur Erreichung dieses Ziels geeignetes sowie verhältnismäßiges Mittel. a) Der Zusammenhang zwischen Vereinbarungsabschluss und Durchführung Nach Eichenhofer85 soll es wegen der Zweistufigkeit des Durchführungsverfahrens nach Art. 139 Abs. 2 EG insoweit an einem für erstreikbare Kollektivverträge typischen „Nexus“ zwischen der Verhandlungskompetenz der Organisation und der unmittelbaren Betroffenheit der Organisierten mangeln. Damit setzt Eichenhofer an dem Zusammenhang zwischen dem Abschluss und der Durchführung einer Vereinbarung an. Hinsichtlich der Durchführung einer europäischen Sozialpartnervereinbarung aufgrund eines Ratsbeschlusses auf der Gemeinschaftsebene ist der Ansicht von Eichenhofer zuzustimmen. Der Rat trifft gemäß Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG mit seinem Beschluss eine eigene und selbständige Entscheidung über die Umsetzung der Vereinbarung. Die Erzwingung einer auf diese Durchführungsart gerichteten Sozialpartnervereinbarung ist unzweck- und unverhältnismäßig, weil mit den kollektiven Mitteln lediglich die Vorlage beim Rat durchgesetzt werden könnte, während die Ratsentscheidung von den europäischen Sozialpartnern nicht determiniert oder gar erkämpft werden kann. Selbst ein ausschließlich auf den Abschluss einer Vereinbarung und auf Stellung eines Antrages nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG gerichteter Arbeitskampf würde den Europäischen Rat bei seiner Entscheidungsfindung faktisch unter Druck setzen, weswegen er als „mittelbar-politischer“ Arbeitskampf nicht den Schutz des Art. 28 Var. 2 GRC genießen kann.86 Diese Begründung lässt sich aber nicht auf einen europäischen Arbeitskampf übertragen, der auf den Abschluss einer autonomen Sozialpartnervereinbarung gerichtet ist. Mit dieser werden die nationalen Sozialpartner vorbehaltlich entge85 86
In: Streinz, Art. 139 EGV, Rn. 9. § 3 III. 2. b).
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genstehender nationaler Verfahren und Gepflogenheiten zum Abschluss von Tarifverträgen in den einzelnen Mitgliedstaaten verpflichtet. Die europäische Sozialpartnervereinbarung entfaltet damit auf die nationalen Sozialpartner unmittelbar rechtliche Wirkungen. Dass die Anwendbarkeit der europäischen Sozialpartnervereinbarung auf die Einzelarbeitsverhältnisse durch einen Tarifschluss in den Mitgliedstaaten vermittelt wird, ändert nichts an dem Kausalzusammenhanghang zwischen der Einigung auf der europäischen Ebene und der grundsätzlichen Bindung der nationalen Sozialpartner hieran. Deswegen mag man dem Arbeitskampf auf europäischer Ebene, der auf den Abschluss einer Sozialpartnervereinbarung gerichtet ist, die nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG durchgeführt werden soll, entgegenhalten, dass damit jedenfalls keine unmittelbare Wirkung auf die Arbeitsverhältnisse in den Mitgliedstaaten erzwungen werden kann. Jedoch lässt sich aus Art. 28 Var. 2 GRC nur schwerlich folgern, dass das Gemeinschaftsgrundrecht kollektive Maßnahmen nur dann gestattet, wenn die zu erstreikende Tarifnorm unmittelbare Wirkungen auf die Arbeitsvertragsverhältnisse entfaltet. Man mag darüber hinaus einwenden, dass es keinen Sinn mache, einen Arbeitskampf für den Abschluss einer europäischen Sozialpartnervereinbarung durchzuführen, wenn nach dessen Ende die Umsetzung des erkämpften Abschlusses in mehreren Mitgliedstaaten aufgrund einzelstaatlicher Verfahren und Gepflogenheiten nicht möglich sein sollte. Diesem Einwand ist aber entgegenzuhalten, dass in den betreffenden Mitgliedstaaten einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten ebenfalls die Partizipation der nationalen Sozialpartner am europäischen Arbeitskampf im Rahmen des Sozialen Dialogs ausschließen mögen. Art. 28 Var. 2 GRC lässt dies wegen der vorbehaltlosen Grundrechtsschranke zugunsten des nationalen Rechts ohne weiteres zu. b) Der Zusammenhang zwischen europäischem Arbeitskampf und Vereinbarungsabschluss In Hinsicht auf die autonomen Sozialpartnervereinbangen ist es deshalb ergiebiger danach zu fragen, ob ihr Abschluss überhaupt mit dem Mittel des Arbeitskampfes auf der europäischen Ebene in rechtlich zulässiger Weise gefördert werden kann. Insofern ist also nach dem notwendigen Kausalzusammenhang zwischen der Ergreifung kollektiver Maßnahmen auf der europäischen Ebene und dem Abschluss einer europäischen Sozialpartnervereinbarung zu fragen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass es auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts keine arbeitskampfrechtlichen Regelungen gibt und die Gemeinschaft wegen der Bestimmung des Art. 137 Abs. 5 EG das Streik- und Aussperrungsrecht nicht im Wege gemeinschaftlicher Rechtssetzung regeln kann. Deshalb wird das Recht zum Arbeitskampf auf der europäischen Ebene gemäß Art. 28 Var. 2 GRC von den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten
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beschränkt und ausgestaltet.87 Daraus folgt, dass die Beteiligung am europäischen Arbeitskampf auf der Grundlage des Art. 28 Var. 2 GRC unzulässig wäre, sofern nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten dem entgegenstünden. aa) Exkurs: Die Beteiligung an europäischen Arbeitskämpfen im Sozialen Dialog nach deutschem Recht Aus der Perspektive des deutschen Verfassungsrechts fällt die Beteiligung der nationalen Arbeitgeber sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen, die als Mitglieder der europäischen Sozialpartner am Sozialen Dialog auf der Gemeinschaftsebene teilnehmen, in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG.88 Der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsschutz aus Art. 28 GRC wird folglich von der einzelstaatlichen Rechtsvorschrift des Art. 9 Abs. 3 GG begrenzt und die Beteiligung am Sozialen Dialog ist nur insoweit von den in Art. 28 GRC enthaltenen Gemeinschaftsgrundrechten geschützt, als sie mit den Begrenzungen der Koalitionsbetätigungs- und der Koalitionsmittelfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG in Einklang steht. Da der Arbeitskampf in Deutschland nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts lediglich ein Hilfsinstrument zur Sicherung der Tarifautonomie darstellt und das entsprechende Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG auf die Ergreifung von Maßnahmen des Arbeitskampfes zur Durchsetzung tariflicher Regelungen begrenzt ist,89 wäre der Einsatz von Arbeitskampfmitteln im Rahmen des Sozialen Dialogs in Deutschland nur dann zulässig, wenn er auf den Abschluss eines europäischen Tarifvertrages gerichtet wäre. Dabei ist allerdings zu verlangen, dass der betreffende europäische Tarifvertrag ähnliche Wirkungen entfaltet wie ein unter dem Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG abgeschlossener nationaler Tarifvertrag. Die Zulässigkeit der Teilnahme an Arbeitskampfmaßnahmen, die im Rahmen des Sozialen Dialogs mit dem Ziel, eine europäische Sozialpartnervereinbarung abzuschließen, geführt werden, hängt nach dem deutschen Recht daher davon ab, ob die auf der europäischen Ebene erstrebte Vereinbarung die jeweiligen nationalen Sozialpartner zur Umsetzung und damit zum Abschluss eines Tarifvertrages verpflichten würde. Schließen einzelstaatliche Verfahren und Gepflogenheiten eine Umsetzungsverpflichtung der beteiligten deutschen Sozialpartner aus, dürften sie sich auch nicht an einem entsprechenden europäischen Arbeitskampf beteiligen. Art. 9 87
§ 2 IV. 3. d). Oetker/Preis – R. Schwarze, EAS, B 8100, Rn. 94. 89 BAGE 48, 160 (168); vgl. auch Kissel, Arbeitskampfrecht, § 24, Rn. 2 f. (m.w. N.). Zur Begrenzung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts siehe: § 10 IV. 1. 88
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Abs. 3 GG steht der Beteiligung an einem Arbeitskampf entgegen, mit dem der Abschluss einer für die deutschen Sozialpartner unverbindlichen Vereinbarung auf der europäischen Ebene erzwungen werden soll. Insoweit könnten die nationalen Sozialpartner in Deutschland aufgrund entgegenstehender Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten auch von dem Gemeinschaftsrecht auf kollektive Maßnahmen aus Art. 28 Var. 2 GRC keinen Gebrauch machen. Für Abschlüsse im branchenübergreifenden Sozialen Dialog würde das beispielsweise bedeuten, dass die Teilnahme an einem europäischen Arbeitskampf, der auf den Abschluss einer branchenübergreifenden Sozialpartnervereinbarung gerichtet ist, in Deutschland stets unzulässig wäre, da keiner der beteiligten nationalen Verbände europäische Vereinbarungen durch den Abschluss nationaler Tarifverträge umzusetzen vermag. Anders wäre hingegen zu entscheiden, wenn die deutschen Koalitionen nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG dazu verpflichtet sind, den Inhalt der zu erkämpfenden europäischen Sozialpartnervereinbarung durch den Abschluss eines Tarifvertrages innerstaatlich zur Anwendung zu bringen. Sofern sie zudem im Rahmen ihrer Freiheiten aus Art. 9 Abs. 3 GG für den Abschluss des nationalen Durchführungstarifvertrages in einen entsprechenden nationalen Arbeitskampf treten dürften, ist keine einzelstaatliche Rechtsvorschrift oder Gepflogenheit ersichtlich, die ihre Beteiligung an einem vorgelagerten europäischen Arbeitskampf ausschließen würde. In diesem Fall wäre es vielmehr auch vor dem Hintergrund der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG geboten, eine Beteiligung deutscher Koalitionen am europäischen Arbeitskampf zu gestatten, weil der Abschluss der europäischen Sozialpartnervereinbarung den Inhalt des deutschen Durchführungstarifvertrages bestimmen würde. bb) Die Ausübung kollektiven Drucks auf die europäischen Sozialpartner der Arbeitgeberseite Ein europäischer Streik dürfte auf der Grundlage des Art. 28 Var. 2 GRC im Rahmen des Sozialen Dialogs nur in denjenigen Mitgliedstaaten erfolgen, in denen nicht nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten die Teilnahme am europäischen Arbeitskampf ausschließen. Daher müsste nur ein Teil der europäischen Arbeitgebervereinigungen, die sich zu einer europäischen Sozialpartnerorganisation zusammengeschlossen haben, damit rechnen, mit Arbeitskampfmaßnahmen konfrontiert zu werden. Sofern ein Mitglied des europäischen Sozialpartners einen Mitgliedstaat auf der europäischen Ebene repräsentiert, in dem das nationale Recht, die Beteiligung an europäischen Arbeitskämpfen untersagt, bleibt es in jedem Fall von den Kampfmitteln der Arbeitnehmerseite verschont. Um beim vorerwähnten Beispiel des branchenübergreifenden Sozialen Dialogs zu bleiben, müssten also weder die BDA noch der BDI als Mitglieder der UNICE mit (rechtmäßigen) Arbeitskampfmaßnahmen in Deutschland
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
rechnen, wenn der EGB auf der europäischen Ebene versuchen würde, den Abschluss einer Vereinbarung mit der UNICE unter Einsatz kollektiven Drucks zu erzwingen. Ein im Rahmen des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene geführter Arbeitskampf könnte sich also nur gegen einzelne Mitglieder der jeweiligen europäischen Arbeitgeberorganisation und nicht gegen den europäischen Sozialpartner als solchen richten. Dabei ist nicht einmal sichergestellt, dass die Mitglieder der europäischen Arbeitgebervereinigung, die bestreikt werden dürften, zusammen eine Mehrheit innerhalb der europäischen Sozialpartnerorganisation darstellen. Deswegen könnte es durchaus vorkommen, dass derjenige Teil der Arbeitgeber, die Arbeitskampfmaßnahmen ausgesetzt werden können, den europäischen Arbeitskampf um eine Sozialpartnervereinbarung nicht durch Nachgeben beenden könnten, weil sie nicht über den Abschluss der verlangten Vereinbarung disponieren können. Unter dieser Voraussetzung ist nicht einzusehen, warum diese Minderheit der Mitglieder einer europäischen Arbeitgeberorganisation kollektiven Mitteln nach Art. 28 Var. 2 GRC ausgesetzt werden soll. Die Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen stellt unter diesen Umständen vielmehr einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 16 GRC geschützte unternehmerische Freiheit der betroffenen Arbeitgeber dar.90 Dieser kann unabhängig von einschränkenden Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in den Mitgliedstaaten schon nach dem Gemeinschaftsrecht nicht von Art. 28 Var. 2 GRC gedeckt sein. Allerdings hat das Bundesarbeitsgericht in einem neueren Urteil entschieden, dass ein nicht einem Arbeitgeberverband angehörender Arbeitgeber in einen Verbandsarbeitskampf einbezogen werden kann, wenn ein mit ihm abgeschlossener Firmentarifvertrag auf die Verbandstarifverträge verweist.91 Dies ergebe sich aus dem Umstand, dass der Außenseiter-Arbeitgeber an dem Ergebnis der kollektiven Auseinandersetzung partizipiere92 und trotz fehlender Mitgliedschaft Einfluss auf den Arbeitgeberverband nehmen könne93. Beide Begründungen der zu Art. 9 Abs. 3 GG ergangenen Entscheidung lassen sich in gewisser Weise auf einen europäischen Arbeitskampf im Sozialen Dialog übertragen. Die „bestreikbaren“ nationalen Sozialpartner einer europäischen Arbeitgeberorganisation partizipieren am Abschluss einer Sozialpartnervereinbarung und haben sogar mitgliedschaftlichen Einfluss auf die europäische Arbeitgeberorganisation. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass es auf der europäischen Ebene keinen Arbeitgeberverband gibt, auf dessen interne Willensbildung die Arbeit90
Vgl. Kenner, EU Emloyment Law, S. 539 f. BAGE 105, 5; a. A.: Kissel, Arbeitskampfrecht, § 38, Rn. 25; G. Thüsing, Der Außenseiter im Arbeitskampf, S. 140. 92 BAGE 105, 5 (11). 93 BAGE 105, 5 (14 f.). 91
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nehmerseite mit der Ausübung kollektiven Drucks in einer Weise Einfluss nehmen kann, die zum Abschluss einer Vereinbarung führen könnte. Da ein Teil der Mitglieder der europäischen Arbeitgeberorganisation wegen des Vorbehalts einzelstaatlicher Vorschriften und Gepflogenheiten privilegiert wäre und deswegen nicht in den europäischen Arbeitskampf einbezogen werden dürfte, könnten die europäischen Arbeitnehmerorganisationen die Abstimmungsergebnisse innerhalb des sozialen Gegenspielers auf der europäischen Ebene von vornherein nur in einem begrenzten Umfang beeinflussen. Zum Einlenken wäre die europäische Arbeitgeberorganisation aber wohl nur dann zu bewegen, wenn alle ihre Mitglieder gleichermaßen mit Arbeitskampfmaßnahmen rechnen müssten. Da aber die „unbestreikbaren“ Mitglieder des europäischen Sozialpartners nicht mit dem Einsatz kollektiver Mittel nach Art. 28 Var. 2 GRC zu einer Einigung gezwungen werden könnten, dürfte der Abschluss einer Vereinbarung infolge eines europäischen Arbeitskampfes praktisch ausgeschlossen sein. Vielmehr ist zu erwarten, dass der europäische Arbeitskampf im Rahmen des Sozialen Dialogs von vorneherein ergebnislos bleibt. Für einen solchen Arbeitskampf fehlt es auf der Seite der Arbeitgeber mithin an einem Arbeitskampfgegner, der über den Abschluss der erstrebten Vereinbarung zu disponieren in der Lage ist. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts94 mangelt es an einem Kampfbündnis, zu dem sich mehrere Arbeitgeber oder Arbeitgebervereinigungen auf der europäischen Ebene gemeinsam verbunden haben.95 Erschwerend kommt hinzu, dass die Mitgliedschaft bei einer europäischen Arbeitgeberorganisation, wenn man den europäischen Arbeitskampf im Rahmen des Sozialen Dialogs auf der europäischen Ebene zulassen wollte, die Mitglieder der europäischen Sozialpartner der Arbeitgeberseite in einen privilegiert arbeitskampffreien und einen bestreikbaren Teil spalten würde. Dabei würden die letzteren zwar für das Abstimmungsverhalten der übrigen Mitglieder haften, wären aber im Gegensatz zu diesen der Anwendung kollektiven Drucks ausgesetzt. Diese Aufteilung der europäischen Arbeitgeberorganisationen in einen mit den Mitteln des Art. 28 Var. 2 GRC bestreikbaren und einen wegen nationaler Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten unbestreikbaren Teil stellt einen unverhältnismäßigen Eingriff in die gemeinschaftsrechtliche Vereinigungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GRC dar.96 Deswegen ist auch aus diesem Grund ein europäischer Arbeitskampf auf der Grundlage des Art. 28 Var. 2 GRC im Rahmen des Sozialen Dialogs ausgeschlossen. 94
BVerfGE 84, 212 (225). Das Bundesarbeitsgericht (BAGE 105, 5, 11) stellt bei der Einbeziehung von Außenseiter-Arbeitgebern in einen Verbandsarbeitskampf ebenfalls auf ein „Kampfbündnis“ zwischen dem Arbeitgeberverband und dem Außenseiter-Arbeitgeber ab. 96 Das Bundesarbeitsgericht (BAGE 105, 5, 16) hat im zitierten Fall hingegen eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit des Außenseiter-Arbeitgebers aus Art. 9 Abs. 3 GG verneint. 95
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cc) Die Ausübung kollektiven Drucks durch die europäischen Sozialpartner der Arbeitnehmerseite Auf der Seite der Arbeitnehmer mangelt es ebenfalls an den personellen und organisatorischen Voraussetzungen für die Durchführung von Arbeitskämpfen im Rahmen des Sozialen Dialogs. Bei Arbeitskämpfen, die in Deutschland mit dem Ziel einen Tarifvertrag zu erzwingen geführt werden, bestimmt allein die zuständige Gewerkschaft über den Beginn und die Beendigung des Arbeitskampfes.97 Erst wenn die Streikleitung der jeweiligen Gewerkschaft den Kampf für beendet erklärt, endet der Streik in einer für alle beteiligen Arbeitnehmer verbindlichen Weise.98 Zugleich entscheidet die zuständige Gewerkschaft allein über den Abschluss des zu erkämpfenden Tarifvertrages und befindet damit ebenfalls selbständig über das Ziel des Arbeitskampfes. Die bestreikten Arbeitgeber können zwar versuchen, sich dem Arbeitskampf faktisch durch den Abschluss von Individualverträgen mit den in den Ausstand getretenen Arbeitnehmern zu entziehen. Doch das Recht der Arbeitnehmer die Arbeit niederzulegen, beseitigen sie hierdurch nicht. Das können sie nur mit dem Abschluss eines Firmentarifvertrages erreichen, der wiederum nur mit der den Arbeitskampf führenden Gewerkschaft geschlossen werden kann. Obwohl die Gewerkschaft nicht über die Beteiligung der einzelnen Arbeitnehmer am Arbeitskampf entscheiden kann,99 bestimmt sie jedenfalls über das Ende des Arbeitskampfes und den Bestand des Rechts der Arbeitnehmer zur Niederlegung der Arbeit. Auf der nationalen Ebene wird der Arbeitskampf in Deutschland mithin von den Gewerkschaften und nicht von den einzelnen Arbeitnehmern geführt. In einem vergleichbaren Sinne kann von der Möglichkeit zur Führung eines Arbeitskampfes durch die europäischen Sozialpartner der Arbeitnehmerseite, mit dem der Abschluss einer Vereinbarung im Sozialen Dialog erzwungen werden soll, keine Rede sein.100 Die Zielsetzung eines solchen Arbeitskampfes wäre es, eine Regelung auf der europäischen Ebene zustande zu bringen, die in den einzelnen Mitgliedstaaten durch den Abschluss nationaler Tarifverträge durchzuführen wäre. Im Gegensatz zu den nationalen Gewerkschaften in Deutschland können die europäischen Gewerkschaftsvereinigungen den Fortgang des Arbeitskampfes aber nicht in den Händen halten, weil es den nationalen Sozialpartnern unbenommen ist, das Ergebnis des durchführenden nationalen Tarifvertrages bereits während des europäischen Arbeitskampfes zu antizipieren. Damit beenden sie die Auseinandersetzung für das Gebiet, in dem sie 97
Erfurter Kommentar – Dieterich, Art. 9 GG, Rn. 164. Erfurter Kommentar – Dieterich, Art. 9 GG, Rn. 217. 99 BAGE 68, 299 (302). 100 Vgl. Barnard, EC Employment Law, S. 772. 98
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die Tarifverantwortung tragen, in rechtlich verbindlicher Weise, ohne dass die europäische Dachorganisation dies verhindern könnte. Es ist fernliegend anzunehmen, dass sich die nationalen Gewerkschaften im Falle eines europäischen Streiks für den Abschluss einer Sozialpartnervereinbarung einem inhaltsgleichen Angebot seitens der nationalen Arbeitgebervereinigungen verschließen würden, um auf jeden Fall eine Einigung auf europäischer Ebene zustande zu bringen. In dieser Situation würden ausschließlich Arbeitnehmer von der Fortführung des Arbeitskampfes profitieren, die von der betreffenden Gewerkschaft nicht vertreten werden. Deswegen ist anzunehmen, dass die einzelstaatlichen Sozialpartner, wenn sie sich über den zu erzwingenden Inhalt der Sozialpartnervereinbarung einigen können, einen europäischen Arbeitskampf nicht fortsetzen, sondern einen entsprechenden Tarifvertrag auf der nationalen Ebene abschließen. Im Gegensatz zu der individualvertraglichen Regelung, die innerhalb eines Arbeitskampfes in Deutschland das Recht des betreffenden Arbeitnehmers zur Fortsetzung des Arbeitskampfes nicht erlöschen lässt, nimmt der nationale Tarifvertrag das Ergebnis der europäischen Sozialpartnervereinbarung vorweg, löst die tarifliche Friedenspflicht aus und beendet im jeweiligen Tarifgebiet den europäischen Arbeitskampf. Unter diesen Voraussetzungen wird man nicht annehmen können, dass die europäische Vereinbarung tatsächlich zustande kommt. Naheliegend ist vielmehr, dass das Ergebnis eines europäischen Arbeitskampfes nicht eine nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 GRC durchzuführende Sozialpartnervereinbarung sein wird, sondern in den einzelnen Mitgliedstaaten, in denen die nationalen Sozialpartner der Arbeitgeberseite einlenken, nationale Tarifverträge geschlossen werden. Die europäischen Gewerkschaftsvereinigungen sind jedenfalls nicht in der Lage, den Arbeitskampf bis zum Abschluss einer Sozialpartnervereinbarung aufrecht zu erhalten, und können damit schon nach dem Gemeinschaftsrecht keinen auf den Abschluss einer Vereinbarung gerichteten europäischen Arbeitskampf unter Inanspruchnahme des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen führen. 6. Zusammenfassende Stellungnahme Die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC auf die Verhandlungen im Rahmen des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene widerspräche damit im Ergebnis nicht dem Wortlaut des Art. 139 Abs. 1 EG oder dem Ausschluss einer Gemeinschaftszuständigkeit für das Streik- und Aussperrungsrecht in Art. 137 Abs. 5 EG. Dennoch ist die Aufnahme von Sozialpartnerverhandlungen auf der europäischen Ebene wegen der rechtsförmigen Ausgestaltung des Verfahrens, das zur Anerkennung als europäischer Sozialpartner führt, als Ziel eines europäischen Arbeitskampfes ausgeschlossen. Ebenso verhält es sich mit der Erzwingung einer Vereinbarung nach Art. 139 Abs. 1 EG. Das gilt nicht deshalb, weil
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es hierfür an einem Zusammenhang zwischen dem Abschluss und der Durchführung der Vereinbarung in den Mitgliedstaaten mangeln würde, sondern weil es wegen der subsidiären Zuständigkeit der Kommission an einem Einigungszwang der europäischen Sozialpartner und damit an einem Interessenkonflikt im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC fehlt. Zudem mangelt es beim Sozialen Dialog auf der Gemeinschaftsebene an den für den Einsatz kollektiver Maßnahmen notwendigen personellen und organisatorischen Voraussetzungen, die vom Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen für einen europäischen Arbeitskampf vorausgesetzt werden. Mit der Einräumung der Befugnis, Vereinbarungen zu schließen, ist den europäischen Sozialpartnern ein Recht eingeräumt worden, das sich als tatbestandliche Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen darstellt. Gegenüber der Kommission und den übrigen Gemeinschaftsorganen verschafft ihnen Art. 28 Var. 1 GRC ein subjektives Abwehrrecht, mit dem sie gegen hoheitliche Eingriffe in ihre geschützte Sphäre kollektiver Verhandlungen vorgehen können. In Bezug auf die Rechtssetzungsbefugnisse der Gemeinschaft ist ihnen aber gleichsam nur ein Recht des ersten Zugriffs gewährt worden, das erlöscht, wenn sie nicht aus freien Stücken zu einer Einigung kommen. Im Innenverhältnis der europäischen Sozialpartner zueinander bleibt es dabei, dass die Ausübung kollektiven Drucks unzulässig ist und sich ihre grundrechtlich geschützte Normsetzungsprärogative gegenüber der hoheitlichen Rechtssetzungsmacht der Gemeinschaft nur dann zu realisieren vermag, wenn sie ohne den Einsatz kollektiver Maßnahmen zu einer Einigung kommen. IV. Annex: Die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC in den Mitgliedstaaten bei der Durchführung europäischer Sozialpartnervereinbarungen Abschließend ist noch auf eine semantische Übereinstimmung in Art. 51 Abs. 1 GRC und Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG einzugehen, die zu Verwirrungen Anlass geben könnte. Nach Art. 51 Abs. 1 GRC sind die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Gemeinschaft an die in der Charta niedergelegten Gemeinschaftsgrundrechte gebunden und nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG führen die Mitgliedstaaten und die nationalen Sozialpartner eine europäische Vereinbarung nach den jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten durch. Die sprachliche Übereinstimmung der beiden Vorschriften lässt sich auch in der englischen und französischen Sprachfassung des Gemeinschaftsvertrages und der Grundrechtecharta nachweisen, in denen entweder das Verb „to implement“ oder „mettre en œuvre“ bzw. das identische Substantiv „la mise en œuvre“ verwendet wird. Dennoch kann die sprachliche Übereinstimmung nicht zu dem sachwidrigen Ergebnis führen, die Mitgliedstaaten oder die nationalen Sozialpartner seien bei
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jeglicher Umsetzung einer europäischen Sozialpartnervereinbarung an die Gemeinschaftsgrundrechte und deswegen auch an die Grundrechtsinhalte des Art. 28 GRC gebunden. Gegenüber den Mitgliedstaaten entfalten die autonomen Sozialpartnervereinbarungen keine rechtlichen Wirkungen101 und Art. 51 Abs. 1 GRC betrifft nur diejenigen Fälle, in denen die Mitgliedstaaten zur Umsetzung des Gemeinschaftsrechts aus dem EG-Vertrag verpflichtet sind; nur wenn es wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts zur typischen Lücke im Grundrechtsschutz auf der nationaler Ebene kommt, muss sie mit der Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte geschlossen werden.102 Entscheidet sich ein Mitgliedstaat freiwillig dazu, den Inhalt einer autonomen Vereinbarung in nationales Recht umzusetzen, ist für die Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte kein sachlicher Grund ersichtlich. Erfolgt die Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EG, sind die Mitgliedstaaten wie bei der Umsetzung gemeinschaftlicher Richtlinien nach Art. 249, 10 EG im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRC ohnehin an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden. Eine Bindung der nationalen Sozialpartner an das Grundrecht aus Art. 28 Var. 2 GRC kommt demgegenüber keinesfalls in Betracht, weil sich Art. 51 Abs. 1 GRC nur an die Mitgliedstaaten und nicht an die nationalen Sozialpartner richtet. V. Annex: Art. 28 Var. 2 GRC als Rechtsgrundlage europäischer Demonstrationsstreiks? Vereinzelt ist im Schrifttum die Frage aufgeworfen worden, ob Art. 28 Var. 2 GRC einen Demonstrationsstreik deckt, der sich gegen die Entscheidungen eines europäischen Gemeinschaftsorgans richtet.103 Däubler104 bejaht diese Frage und ist der Auffassung, dass sich ein solcher „europäischer Demonstrationsstreik“ nach dem Recht der Gemeinschaft zu richten hätte. Die Annahme, Art. 28 Var. 2 GRC gestatte Arbeitskämpfe auf einer gemeinschaftsrechtlichen Grundlage ist an sich nicht unzutreffend. Dennoch unterliegen die nach Art. 28 Var. 2 GRC geführten Arbeitskämpfe trotz des Anwen-
101
§ 7 IV. 2. b). § 2 III. 2. a) aa). 103 Däubler, AuR 2001, S. 380 (382); vgl. Konzen, ZfA 2005, S. 189 (195). Das jüngste Beispiel für einen solchen Arbeitskampf stellt der europaweite Streik der Hafenarbeiter im Januar 2006 gegen den Richtlinienvorschlag der Kommission über den Zugang zum Markt für Hafendienste (sog. Port Package II; KOM 2004 (654) endg.) dar; vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.1.2006, S. 11. 104 In: AuR 2001, S. 380 (382). 102
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dungsvorrangs europäischen Gemeinschaftsrechts einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Deswegen ist die Beteiligung an europäischen Demonstrationsarbeitskämpfen bereits wegen der entgegenstehenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, die Demonstrationsstreiks für rechtswidrig erachtet,105 in Deutschland ohnehin ausgeschlossen. Aber auch auf der Gemeinschaftsebene fällt der Demonstrationsarbeitskampf nicht in den sachlichen Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC, weil die Vorschrift einen Interessenkonflikt zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern voraussetzt. Bei einem auf Demonstration politischer Interessen zielenden Arbeitskampf gegen ein Gemeinschaftsorgan fehlt es an dieser Voraussetzung. Da sich der europäische Demonstrationsarbeitskampf nach der Ansicht von Däubler zudem gegen die Entscheidung eines Gemeinschaftsorgans richten soll, handelt es sich darüber hinaus um einen von Art. 28 Var. 2 GRC nicht gedeckten politischen Arbeitskampf.106
§ 9 Verfassungsexkurs: Europäische Arbeitskämpfe und Sozialer Dialog auf Unionsebene nach dem Europäischen Verfassungsvertrag Nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa werden einige Streitfragen im Zusammenhang mit dem Sozialen Dialog auf der Unionsebene geklärt. Gleichwohl führen die Änderungen am Sozialen Dialog, die im Verfassungsvertrag vorgesehen sind, zu dem Ergebnis, dass zwar das Unionsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen nach Art. II-88 Var. 1 EVV, nicht aber das Unionsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen nach Art. II-88 Var. 2 EVV auf den Sozialen Dialog Anwendung findet. I. Die Änderungen am Sozialen Dialog im Europäischen Verfassungsvertrag Die Art. III-211 EVV und Art. III-212 EVV, in denen die in Art. 138 und 139 EG befindlichen Regelungen zum Sozialen Dialog nahezu wortgleich in den Verfassungsvertrag übernommen worden sind, weisen im Vergleich zum Sozialen Dialog nach dem Vertrag von Nizza nur geringfügige Unterschiede auf.
105 BAG, NZA 1985, S. 459; vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 24, Rn. 66 ff.; Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 284. 106 § 3 III. 2. b).
§ 9 Exkurs zum EVV: Europäische Arbeitskämpfe und Sozialer Dialog
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1. Die Rechtsqualität der Ratsentscheidung nach Art. III-212 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EVV Nach Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG fasst der Rat bei der Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung hierüber einen „Beschluss“, womit keine in Art. 249 EG vorgesehene Handlungskategorie bezeichnet wird.1 Die Streitfrage, ob der Rat zur Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung nur Richtlinien oder auch Verordnungen erlassen darf, erledigt sich unter der Geltung des Art. III-212 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EVV. Darin ist ausdrücklich der Erlass einer Europäischen Verordnung oder eines Europäischen Beschlusses vorgesehen. Damit nimmt die Europäische Verfassung, wie sich aus ihrer englischen Sprachfassung ergibt, die an dieser Stelle von „regulations or decisions“ spricht, auf die in Art. I-33 Abs. 1 EVV geregelten Europäischen Verordnungen und Europäischen Beschlüsse Bezug. Dementsprechend kann der Rat die Durchführung einer europäischen Sozialpartnervereinbarung nach Art. III-212 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 EVV in der Form eines „Rechtsakts ohne Gesetzgebungscharakter“ im Sinne des Art. I-35 Abs. 1 EVV anordnen. Die Europäische Verordnung hat nach Art. I-33 Abs. 1 EVV allgemeine Geltung und kann entweder in allen ihren Teilen verbindlich sein und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gelten oder für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sein, jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel überlassen. Mit dieser Wirkung gleicht die Europäische Verordnung einer Verordnung nach Art. 249 EG. Mit Ausnahme der in der Verfassung ausdrücklich genannten Fälle können Europäische Verordnungen nach Art. I-36 Abs. 1 EVV dann erlassen werden, wenn der Kommission hierzu in einem Europäischen Gesetz oder einem Europäischen Rahmengesetz die Befugnis übertragen wird. In dem betreffenden Gesetz müssen nach Art. I-36 Abs. 1 EVV allerdings die Ziele, der Inhalt, der Geltungsbereich und die Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich festgelegt sein. Die Europäische Verordnung ist daher in gewisser Weise mit Rechtsverordnungen nach Art. 80 Abs. 1 GG vergleichbar.2 Der Europäische Beschluss ist ein Rechtsakt, der gemäß Art. I-33 Abs. 1 EVV in allen seinen Teilen verbindlich ist und nur an bestimmte Adressaten gerichtet sein kann und dann nur für diese verbindlich ist. Er ähnelt einer Entscheidung nach Art. 249 EG, kann aber im Unterschied zu dieser allgemein verbindlich sein. Nach Art. I-35 Abs. 1 EVV erlässt der Rat Europäische Beschlüsse in den in der Verfassung vorgesehenen Fällen.
1 Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 139 EGV, Rn. 29 (m.w. N.); Wiedemann – Thüsing, TVG, § 1, Rn. 129. 2 Oppermann, DVBl. 2003, S. 1234 (1238); J. Schwarze, EuR 2003, S. 535 (554); Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 64.
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
Obwohl damit in der Sache keine wesentliche Veränderung zu dem unter Art. 139 EG geltenden Rechtszustand eintritt, geht aus der Konzeption der Ratsentscheidung als Rechtssetzungsakt ohne Gesetzgebungscharakter in der Europäischen Verfassung deutlicher als aus dem Vertrag von Nizza hervor, dass es sich hierbei um eine exekutive Rechtssetzung zur Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung handelt. Denn in Art. III-210 Abs. 2–5 EVV, der entsprechend Art. 137 EG die sozialpolitischen Kompetenzen regelt, wird die Union zum Erlass von Europäischen Gesetzen und Rahmengesetzen ermächtigt. Demgegenüber erfolgt die Durchführung von Sozialpartnervereinbarungen beim Sozialen Dialog durch Europäische Verordnungen und Europäische Beschlüsse. Infolgedessen weist der Soziale Dialog nach dem Europäischen Verfassungsvertrag mit der exekutiven Durchführung der Sozialpartnervereinbarungen auf der europäischen Ebene noch mehr Ähnlichkeit mit dem Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG auf.3 2. Die Unterrichtung des Europäischen Parlaments Mit dem neuen Art. III-212 Abs. 2 Satz 2 EVV, der die Unterrichtung des Parlaments bei der Durchführung europäischer Sozialpartnervereinbarungen auf der europäischen Ebene vorschreibt, ist die bisherige Praxis der Kommission, die das Parlament stets vor einer Vorlage beim Rat unterrichtet hat,4 in den Verfassungstext aufgenommen worden. Die Kritik an der fehlenden demokratischen Legitimation bei der Rechtssetzung im Verfahren des Sozialen Dialogs dürfte sich damit ebenfalls erledigen. Denn für den Erlass eines Rechtssetzungsakts ohne Gesetzescharakter ist die Beteiligung des Europäischen Parlaments in Art. I-35 EVV und I-36 EVV sowie beispielsweise in Art. III-165 Abs. 3 EVV oder Art. III-166 Abs. 3 EVV ebenfalls nicht vorgesehen. II. Die Vorschrift des Art. I-48 EVV Völlig neu ist die Vorschrift des Art. I-48 EVV, für die es keine vergleichbare Regelung im EG-Vertrag gibt. Die Vorschrift lautet: „Die Union anerkennt und fördert die Rolle der Sozialpartner auf Ebene der Union unter Berücksichtigung der Unterschiedlichkeit der nationalen Systeme. Sie fördert den sozialen Dialog und achtet dabei die Autonomie der Sozialpartner. Der Dreigliedrige Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung trägt zum sozialen Dialog bei.“
Die Bestimmung greift damit zunächst die in Art. 138 Abs. 1 EG und Art. III211 Abs. 1 EVV enthaltene Verpflichtung der Kommission zur Anerkennung 3 4
Vgl. Deinert, RdA 2004, S. 211 (225). KOM (93) 600 endg., S. 26.
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und Förderung der Rolle der Sozialpartner und des Sozialen Dialogs auf und erweitert deren Adressatenkreis auf alle Organe der Union. Diese weitergehende Verpflichtung wird aber wohl kaum praktische Bedeutung haben, weil die Kommission der wichtigste Ansprechpartner für die europäischen Sozialpartner ist und beim Sozialen Dialog mit den übrigen Organen der Union nur wenige Berührungspunkte bestehen. Die weitere Aussage des Art. I-48 EVV, nach der die Unterschiedlichkeit der nationalen Systeme zu berücksichtigen ist, findet sich bislang in Art. 136 Satz 2 EG. Ihre ausdrückliche Geltung für den Sozialen Dialog auf der Unionsebene ist daher nicht neu, weil sie auch jetzt schon für die Rechtssetzung im Sozialen Dialog nach Art. 139 Abs. 2 EG gilt. Insgesamt macht dieser Teil des Art. I-48 EVV aber deutlich, dass mit dem Sozialen Dialog eine Harmonisierung der Arbeits- und Sozialrechtssysteme der Mitgliedstaaten nicht beabsichtigt ist.5 Art. I-48 Satz 1 EVV entspricht insoweit Art. III-212 Abs. 2 EVV. Ebenso wie Art. 139 Abs. 2 EG beschränkt er die Durchführung einer Sozialpartnervereinbarung auf der europäischen Ebene auf diejenigen Bereiche der Sozialpolitik, zu deren Regelung die Union bzw. die Gemeinschaft befugt ist und unterwirft sie den entsprechenden Mehrheitsanforderungen. Neu ist hingegen die ausdrückliche Bestätigung der Autonomie der europäischen Sozialpartner. Obwohl mit der Bestimmung kein subjektives Recht geschaffen werden sollte6 und die Norm zur Ableitung konkreter Ansprüche der europäischen Sozialpartner ohnehin zu abstrakt gehalten ist, geht aus Art. I-48 EVV immerhin hervor, dass den Sozialpartnern beim Sozialen Dialog auf der europäischen Ebene ein Freiraum zugestanden wird, innerhalb dessen ihnen die Befugnis zusteht, autonome Regelungen im Bereich der Sozialpolitik zu schaffen. Zur Verteidigung dieser Freiheitssphäre vor Beeinträchtigungen seitens der Union oder der Mitgliedstaaten muss ihnen das Grundrecht auf kollektive Verhandlungen aus Art. II-88 Var. 1 EVV zustehen. Das folgt aus der systematischen Stellung des Art. I-48 EVV in der Europäischen Verfassung.7 Da die ihm vorgehende Norm des Art. I-47 Abs. 4 EVV sich auf das in Art. II-104 EVV geschützte Petitionsgrundrecht und die ihm folgende Bestimmung des Art. I-49 EVV auf die Einrichtung eines nach Art. II-103 EVV garantierten Europäischen Bürgerbeauftragten gerichtet ist, muss dem Art. I-48 EVV ebenfalls ein Grundrecht aus dem zweiten Teil der Verfassung, namentlich das Grundrecht auf kollektive Verhandlungen nach Art. II-88 Var. 1 GRC entsprechen. Schließlich greift Art. I-48 EVV den Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung auf und verankert ihn institutionell in der Verfassung. 5 Vgl. die Erläuterungen des Konventspräsidiums zu Art. III-213 EVV (ABl. Nr. C 310, 16.12.2004, S. 461). 6 Fischer, Konvent zur Zukunft Europas, S. 181. 7 A. A.: Calliess/Ruffert – Krebber, Art. 28 GRCh, Rn. 7.
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
Da der Gipfel seit dem Beschluss des Rates 2003/174/EG aus dem Jahre 2003 abschließend geregelt wird, sind damit keine Änderungen in der Sache verbunden. Zweiter Abschnitt
Die nationale Ebene Nachdem festzustellen gewesen ist, dass für die Ausübung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen auf der europäischen Ebene kein zulässiges Ziel besteht, stellt sich die Frage, inwiefern es bei innerstaatlichen Arbeitskämpfen zur Anwendung kommen kann.
§ 10 Art. 28 Var. 2 GRC und das nationale Arbeitskampfrecht in Deutschland Im deutschen Schrifttum sind bereits Überlegungen angestellt worden, ob und unter welchen Voraussetzungen das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen in Deutschland angewendet werden kann und welche Auswirkungen dessen Anwendung auf innerstaatliche Arbeitskämpfe haben kann. Dazu zählt beispielsweise die Frage, ob Art. 28 Var. 2 GRC eine Rechtsgrundlage für innerstaatliche Solidaritätsstreiks oder nichtgewerkschaftliche „wilde“ Streiks darstellt.1 I. Die Anwendungsvoraussetzungen des Art. 28 Var. 2 GRC in den Mitgliedstaaten Nach der Aussage des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC setzt eine Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC in den Mitgliedstaaten voraus, dass sie das Gemeinschaftsrecht durchführen. Die weitestgehende Auslegung dieser Bestimmung wäre die Annahme, dass eine Durchführung von Gemeinschaftsrecht bereits dann vorläge, wenn innerstaatliche Arbeitskämpfe über eine Frage geführt werden, die im sekundären Gemeinschaftsrecht geregelt ist. Unter dieser Voraussetzung könnte sich beispielsweise eine nationale Gewerkschaft schon dann auf Art. 28 Var. 2 GRC berufen, wenn sie etwa die Verbesserung eines arbeitsrechtlichen Mindeststandards anstrebt, der in einer europäischen Richtlinie geregelt ist. Gegen dieses Verständnis spricht aber, dass in derartigen Konstellationen lediglich vom Ge1 Däubler, AuR 2001, S. 380 (383); Dötsch, AuA 2001, S. 362 (364); Zachert, NZA 2001, S. 1041 (1045); ders., AuR 2001, S. 401 (404); vgl. auch Konzen, ZfA 2005, S. 189 (195).
§ 10 Art. 28 Var. 2 GRC und das deutsche Arbeitskampfrecht
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meinschaftsrecht belassene und von Art. 137 Abs. 4 EG vorgesehene Gestaltungsspielräume ausgenutzt werden.2 Die zutreffende Auslegung des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC hat davon auszugehen, dass die Vorschrift sich nicht an die privaten Grundrechtsträger richtet, sondern die Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte unter der Bedingung bindet, dass sie das Recht der Gemeinschaft durchführen. Dementsprechend sind die Organe der Mitgliedstaaten bei der Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen zur Beachtung des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes verpflichtet.3 Diese Bindung ist ihrerseits als Eingriff in die Souveränität der Mitgliedstaaten nur dadurch zu rechtfertigen, dass die Mitgliedstaaten aus dem EG-Vertrag zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet sind und diese Pflicht gegenüber der Bindung der Mitgliedstaaten an die nationalen Grundrechte den Vorrang genießt. Dementsprechend können sich die Träger einzelstaatlicher Grundrechte wegen der EG-vertraglichen Durchführungsverpflichtung der Mitgliedstaaten nicht auf die nationalen Grundrechte berufen, sofern die Mitgliedstaaten zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts tätig werden. Der Zweck der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC ist damit allein die Schließung der Lücken im Grundrechtsschutz, die sich aus dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts ergeben. Daraus lässt sich für den durchzuführenden Gemeinschaftsrechtsakt folgern, dass er die Mitgliedstaaten zur Durchführung rechtlich verpflichten muss, damit die Grundrechtsbindung nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC ausgelöst wird.4 Darüber hinaus scheint die horizontale Klausel in der Charta vor allem auf die Geltendmachung eines grundrechtlichen Abwehranspruchs zugeschnitten zu sein und erfasst die Chartagrundrechte damit vor allem in ihrer klassischen Funktion als Abwehrrechte gegen die Gemeinschaft. Der abwehrrechtliche Gehalt der Gemeinschaftsgrundrechte wird mit Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC auf die Mitgliedstaaten verlängert, wenn und soweit ihr Handeln vom Gemeinschaftsrecht determiniert wird. Da der Eingriff in einen grundrechtlich geschützten Freiheitsbereich, der einen individuellen Abwehranspruch auslöst, nicht notwendigerweise eine Kompetenz zur Regelung der entsprechenden Rechtsmaterie voraussetzt, ist der Inhalt des jeweiligen Eingriffsaktes unerheblich. Für das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen, das die Freiheit zur Führung von Arbeitskämpfen garantiert, hat das zur Folge, dass der Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC ohne Ansehung des Inhalts des durchzuführenden Gemeinschaftsrechtsaktes und des durchführenden Rechtsaktes der Mitgliedstaaten nach 2
Rebhahn, GS-Heinze, S. 649 (657). Vgl. EuGH, 13.4.2000, Rs. C-292/97, Rn. 37 (Karlsson). 4 Vgl. zum Ganzen: § 2 III. 2. und Calliess/Ruffert – Kingreen, Art. 51 GRCh, Rn. 10 ff. 3
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC auf der Ebene der Mitgliedstaaten Anwendung findet. Für die Anwendbarkeit des Abwehranspruches aus Art. 28 Var. 2 GRC genügt der Eingriff in die grundrechtlich geschützte Arbeitskampffreiheit, also die tatsächliche Beeinträchtigung der Fähigkeit einen Arbeitskampf zu führen, um die Bindung der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC eintreten zu lassen. Demgegenüber muss sich der leistungsrechtliche Gehalt des Gemeinschaftsgrundrechts, der auf die tatsächliche Ausübung der Arbeitskampffreiheit sowie die Bereitstellung der dafür notwendigen Rechtsinstitute gerichtet ist, nach der zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten bestehenden Kompetenzverteilung richten.5 Da Art. 137 Abs. 5 EG der Gemeinschaft die Zuständigkeit für Regelungen zum Streik- und Aussperrungsrecht entzieht, richtet sich der leistungsrechtliche Gehalt des Art. 28 Var. 2 GRC folglich gegen die Mitgliedstaaten. Da Art. 28 Var. 2 GRC aber auch nicht ohne weiteres leistungsrechtliche Grundrechtsverpflichtungen der Mitgliedstaaten erzeugen kann, müssen auch insoweit die in Art. 51 Abs. 1 GRC genannten Voraussetzungen für eine Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte in den Mitgliedstaaten gelten. Deswegen ist für die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC auf der nationalen Ebene auch in diesem Fall zu verlangen, dass in einem durchzuführenden Gemeinschaftsrechtsakt die Ergreifung kollektiver Maßnahmen selbst vorgesehen ist.6 Die Führung einzelstaatlicher Arbeitskämpfe kann mit anderen Worten nur dann als Ausübung der in Art. 28 Var. 2 GRC enthaltenen grundrechtlichen Freiheit angesehen werden und auf der Grundlage des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen erfolgen, wenn ein von den Mitgliedstaaten durchzuführender Rechtsakt der Gemeinschaft die Austragung von Arbeitskämpfen auf der nationalen Ebene gestattet oder zumindest regelt. II. Die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC bei der Umsetzung europäischer Richtlinien nach Art. 137 Abs. 3 EG Sucht man unter den soeben entwickelten Prämissen nach einer Regelung im europäischen Primärrecht, die zu einer Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen in den Mitgliedstaaten führen könnte, kommt hierfür ausschließlich Art. 137 Abs. 3 EG in Betracht. Nach Art. 137 Abs. 3 Satz 1 EG kann ein Mitgliedstaat auf Antrag den nationalen Tarifparteien die Durchführung von europäischen Richtlinien übertragen, die auf der Grundlage des Art. 137 Abs. 2 EG erlassen worden sind. Der delegierende Mitgliedstaat muss sich seinerseits allerdings nach Art. 137 Abs. 3 Satz 2 EG vergewissern, dass die nationalen Sozialpartner spätestens in dem 5 6
Vgl. Meyer – Borowksy, GRC, Art. 51, Rn. 32. Zutreffend: Rebhahn, GS-Heinze, S. 649 (658).
§ 10 Art. 28 Var. 2 GRC und das deutsche Arbeitskampfrecht
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Zeitpunkt, in dem die Richtlinie umgesetzt sein muss, alle notwendigen Vorkehrungen getroffen haben. Ihn trifft eine Garantenpflicht dafür, dass alle erforderlichen Maßnahmen getroffen werden, um jederzeit gewährleisten zu können, dass die gemäß Art. 249 EG vorgeschriebene Umsetzung der Richtlinie und die damit verbundenen Ergebnisse tatsächlich erzielt werden.7 Wegen der dezentralen Tarifstruktur scheidet die flächendeckende Umsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien, die von Art. 249 EG verlangt wird, durch den Abschluss von Tarifverträgen jedenfalls in Deutschland aus. Hierzu kann auch nicht das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen herangezogen werden, weil Art. 137 Abs. 3 EG trotz des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht von den in § 5 TVG für die Allgemeinverbindlicherklärung genannten Voraussetzungen dispensiert. Die Umsetzung europäischer Richtlinien durch einzelstaatliche Tarifverträge nach Art. 137 Abs. 3 EG hat deswegen in Deutschland keine Bedeutung.8 Zur Beantwortung der Frage danach, ob zur Erzwingung einer tariflichen Durchführung von Gemeinschaftsrichtlinien oder im Rahmen einer solchen Durchführung Arbeitskämpfe auf der Grundlage des Art. 28 Var. 2 GRC möglich sind, ist daher lediglich festzustellen, dass sich dieses Ergebnis nur schwerlich mit der Regelung in Art. 137 Abs. 3 EG in Einklang bringen lässt. Denn obwohl die Gemeinschaftsrichtlinie den nationalen Sozialpartnern durchaus Verhandlungsspielräume überlassen kann, spricht viel dafür, dass die Garantenpflicht des delegierenden Mitgliedstaates auflebt, wenn die verhandelnden Parteien sich nicht einigen können. Die Regelungskompetenz fällt in diesen Fällen des Art. 137 Abs. 3 EG an den betreffenden Mitgliedstaat zurück, so dass ein Einigungszwang der nationalen Tarifparteien nicht besteht. Sie werden mithin durch die Übertragung der Umsetzungsaufgabe nach Art. 137 Abs. 3 EG nicht zum Abschluss eines entsprechenden Tarifvertrages verpflichtet. Da Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC aber eine Rechtspflicht zur Durchführung des jeweiligen Gemeinschaftsrechtsaktes verlangt und darüber hinaus erfordert, dass der durchzuführende Rechtsakt selbst arbeitskampfrechtliche Regelung enthält, was beides bei dem Verfahren nach Art. 137 Abs. 3 EG nicht der Fall ist, scheidet eine Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC insoweit aus.
7
Heinze, ZfA 1997, S. 505 (516). Hanau/Steinmeyer/Wank – Hanau, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, § 19, Rn. 18. Für einen wirksamen Antrag der nationalen Tarifparteien nach Art. 137 Abs. 3 EG wird man verlangen müssen, dass die Antragsteller zur Umsetzung der jeweiligen Richtlinie in einer dem Gemeinschaftsrecht entsprechenden Weise tatsächlich in der Lage sind. Ist dies nach dem nationalen Tarifvertragsrecht ausgeschlossen, liegen die notwendigen Voraussetzungen einer Delegation nach Art. 137 Abs. 3 EG nicht vor, so dass der betreffende Mitgliedstaat zur Zurückweisung des Antrags verpflichtet ist. 8
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
III. Das Recht auf kollektive Maßnahmen im sekundären Gemeinschaftsrecht Wegen der Bestimmung des Art. 137 Abs. 5 EG ist der Befund an Regelungen zum Arbeitskampfrecht im sekundären Gemeinschaftsrecht ebenfalls dürftig. 1. Die Anknüpfung an Tarifverhandlungen im sekundären Gemeinschaftsrecht Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die schlichte Bezugnahme auf nationale Tarifverhandlungen in Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechts für die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen nicht ausreicht. Beispielsweise sieht Art. 6 Ziffer 1 der Arbeitszeitrichtlinie9 vor, dass die wöchentliche Arbeitszeit in Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern festgelegt wird. Da Art. 28 GRC zwei rechtlich voneinander unabhängige Grundrechtsgewährleistungen enthält, führt der Umstand, dass in einem sekundären Gemeinschaftsakt kollektive Verhandlungen vorgesehen sind, ohnehin nicht automatisch zur Anwendbarkeit kollektiver Maßnahmen auf der Grundlage des Art. 28 Var. 2 GRC. Aber selbst die Anwendung der ersten Alternative des Art. 28 GRC wird man bei einer bloßen Erwähnung von Tarifverhandlungen im sekundären Gemeinschaftsrecht verneinen müssen. Das folgt vor allem aus der Aufzählung der sekundären Gemeinschaftsrechtsakte in den Erläuterungen zu Art. 27 GRC, die sich ebenfalls auf Art. 28 Var. 1 GRC beziehen.10 Darunter befinden sich ausschließlich gemeinschaftliche Rechtsvorschriften, die selbst ein Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren anordnen und regeln. Eine vergleichbare Verpflichtung zur Einführung von kollektiven Verhandlungen oder der Gestattung kollektiver Maßnahmen kann man keiner Vorschrift des Gemeinschaftsrechts entnehmen.11 Das gilt ebenfalls für die Verhandlungen zwischen der zentralen Leitung und dem besonderen Verhandlungsgremium über den Abschluss einer Vereinbarung zur Einrichtung eines Europäischen Betriebsrats, die in Art. 6 der Richtlinie 94/ 45/EG vorgesehen sind.12 Hierbei handelt es sich um ein exklusiv von Art. 27 9 Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23.11.1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. Nr. L 307, 13.12.1993, S. 18 ff.), geändert durch die Richtlinie 2000/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.6.2000 (ABl. Nr. L 195, 1.8.2000, S. 41 ff.). 10 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; ABl. Nr. C 310, 16.12. 2004, S. 442. Auf Art. 28 Var. 2 GRC lässt sich das nur deswegen nicht übertragen, weil die Aufstellung des Konventspräsidiums das Merkmal der geeigneten Ebene konkretisieren soll, das sich in Art. 28 GRC gerade nicht auf das Recht auf kollektive Maßnahmen bezieht. 11 Vgl. Rebhahn, GS-Heinze, S. 649 (659).
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GRC geschütztes Verhalten, das keinen grundrechtlichen Schutz aus Art. 28 GRC erfährt.13 An Maßnahmen des Arbeitskampfes ist ohnehin nicht zu denken, weil in Art. 7 der Richtlinie 94/45/EG in Verbindung mit dem Anhang zu dieser Richtlinie das Scheitern der Verhandlungen ausdrücklich geregelt ist. 2. Die normative Ergänzung von sekundärem Gemeinschaftsrecht Beachtung verdient allerdings der Umstand, dass der EuGH in ständiger Rechtsprechung eine Bindung der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts auch dann annimmt, wenn die Mitgliedstaaten Bestimmungen des sekundären Gemeinschaftsrechts normativ ergänzen.14 a) Die normative Ergänzung des Gemeinschaftsrechts in der Rechtsprechung des EuGH Was unter einer solchen normativen Ergänzung des europäischen Gemeinschaftsrechts zu verstehen ist, die zu einer Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte führt, sei am Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Juli 1994 in der Rechtssache „Graff“ erläutert.15 Mit der Verordnung (EWG) Nr. 856/8416 hatte die Gemeinschaft eine zusätzliche Abgabe für diejenigen Milchbauern eingeführt, die eine staatlich zugewiesene Referenzmenge gelieferter Milch überschritten, um die strukturellen Überschüsse auf dem Gemeinsamen Markt in der Gemeinschaft unter Kontrolle zu bringen. Die auf die Produktion des Jahres 1981 in Bezug gesetzte Referenzmenge wurde den Milcherzeugern nach dem Gemeinschaftsrecht von den Mitgliedstaaten zugeteilt. Für die dafür anzustellende Berechung enthielt die Verordnung (EWG) Nr. 857/8417 genauere, aber nicht abschließende Bestimmungen. In Deutschland erfolgte die Berechnung daher nach dem Gesetz zur Durchführung der gemeinsamen Marktorganisation (MOG) und der deutschen Milch-Garantiemengen-Verordnung. 12
Im Ergebnis übereinstimmend: Rebhahn, GS-Heinze, S. 649 (659). § 6 II. 4. a). 14 EuGH, 25.11.1986, verb. Rs. 201/85, 202/85, Slg. 1986, 3477, Rn. 10 (Klensch); 13.7.1989, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609, Rn. 22 (Wachauf); 24.3.1994, Rs. C-2/92, Slg. 1994, Slg. I-955, Rn. 14 (Bostock); 14.7.1994, Rs. C-351/92, Slg. 1994, I-3361, Rn. 17 (Graff); vgl. Meyer – Borowsky, GRC, Art. 51, Rn. 27. 15 EuGH, 14.7.1994, Rs. C-351/92, Slg. 1994, I-3361 (Graff). 16 Verordnung (EWG) Nr. 856/84 des Rates vom 31.3.1984 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 über die gemeinsame Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse (ABl. Nr. L 90, 1.4.1984, S. 10 ff.). 17 Verordnung (EWG) Nr. 857/84 des Rates vom 31.3.1984 über Grundregeln für die Anwendung der Abgabe gemäß Artikel 5c der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 im Sektor Milch und Milcherzeugnisse (ABl. Nr. L 90, 1.4.1984, S. 13 ff.). 13
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
Der Kläger des Ausgangsverfahrens war ein Landwirt, der einen milcherzeugenden Betrieb an der Grenze zu Deutschland führte, und ab dem Jahr 1981 einen weiteren Betrieb in Belgien gepachtete hatte. Nach den deutschen Rechtsvorschriften konnten die in Belgien produzierten Milchmengen bei der Berechnung der Referenzmenge nicht berücksichtigt werden, weil die Milchproduktion außerhalb des Anwendungsbereichs des MOG erfolgt war.18 In der Rechtssache „Graff“ hatte der EuGH zu entscheiden, ob diese Bestimmungen im deutschen Recht im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht standen. Der EuGH führte hierzu aus, dass die Mitgliedstaaten die Erfordernisse, die sich aus dem Schutz der Grundrechte in der Gemeinschaftsordnung ergeben, bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen, soweit wie möglich zu beachten haben. Dazu gehöre das Diskriminierungsverbot des Art. 40 Abs. 3 EWG-V (a. F.), das spezifischer Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes sei und zu den Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts gehöre. Dieser finde auf die Durchführung der gemeinschaftlichen Milchproduktionsregelungen und die betreffenden Verfahren zur Berechnung der Milchreferenzmenge Anwendung.19 Damit hat der EuGH die Gemeinschaftsgrundrechte und im konkreten Fall den allgemeinen Gleichheitssatz nicht nur auf die gemeinschaftsrechtlichen Verordnungen, sondern auch auf die zu deren Durchführung ergangenen deutschen Bestimmungen des MOG und der Milch-Garantiemengen-Verordnung angewendet. b) § 613a Abs. 6 BGB als normative Ergänzung der Betriebsübergangsrichtlinie? Im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch findet sich eine Bestimmung, die als normative Ergänzung zur Betriebsübergangsrichtlinie in Betracht kommt und einen Bezug zum Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen aufweist: § 613a Abs. 6 BGB. Die Vorschrift regelt das Recht des Arbeitnehmers, dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses vom Betriebsveräußerer auf den Betriebserwerber zu widersprechen. Bei seiner Kodifizierung im BGB war das Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers vom Bundesarbeitsgericht in ständiger Rechtsprechung bereits über 25 Jahre lang anerkannt.20 Obwohl es in der Betriebsübergangsrichtlinie nicht vorgesehen ist und damit eine allein auf nationaler Rechtsprechung und Gesetzgebung beruhende Ergänzung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen der Richtlinie 2001/23/EG darstellt, hat der EuGH es 1992 gebilligt21. 22
18 Vgl. GA van der Greven, SchlA, 16.12.1993, Rs. C-351/92, Slg. 1994, I-3363 (Graff). 19 EuGH, 14.7.1994, Rs. C-351/92, Slg. 1994, I-3361, Rn. 15 ff. (Graff). 20 BAGE 26, 301.
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Das Widerspruchsrecht ist grundsätzlich ein arbeitsvertragliches Gestaltungsrecht, das im Falle seiner Ausübung zur Folge hat, dass ein Arbeitsverhältnis trotz der Regelung des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB nicht auf den Betriebserwerber übergeht, sondern beim bisherigen Betriebsinhaber verbleibt.23 Üben die Arbeitnehmer eines übergehenden Betriebs oder Betriebsteils ihr Gestaltungsrecht aber kollektiv aus, dient das regelmäßig dem Zweck, die Übertragung der wirtschaftlichen Einheit insgesamt zu verhindern; durch die kollektive Ausübung wird das Widerspruchsrecht ein Mittel zur Ausübung kollektiven Drucks auf den Arbeitgeber.24 Im Schrifttum ist der kollektive Widerspruch nach § 613a Abs. 6 BGB deswegen verschiedentlich als Arbeitskampfmaßnahme qualifiziert worden.25 Immerhin kann man den kollektiven Widerspruch gegen den Arbeitgeberwechsel infolge eines Betriebsüberganges als kollektive Maßnahme der Arbeitnehmerseite verstehen, die den Arbeitgeber zielgerichtet unter Druck setzen soll, so dass er jedenfalls als Arbeitskampfmaßnahme im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG aufgefasst werden kann.26 Das Bundesarbeitsgericht hat im Gegensatz dazu entschieden, dass das individualvertragliche Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer im Falle kollektiver Ausübung nicht seinen Rechtscharakter ändere und deswegen ebenso wenig wie die kollektive Ausübung von Zurückbehaltungsrechten eine Maßnahme des Arbeitskampfes darstellen könne.27 Darüber hinaus liege der Ausübung des Widerspruchsrechts im Falle eines kollektiven Widerspruchs im Gegensatz zum Arbeitskampf eine Rechtsfrage zugrunde.28 Mithin sei der kollektive Widerspruch nicht auf eine Veränderung von Arbeitsbedingungen gerichtet, sondern solle lediglich die Auswechslung des Arbeitgebers verhindern.29 Um jedoch einen institutionellen Missbrauch zu verhindern, sei der kollektive Widerspruch einer Kontrolle nach § 242 BGB zu unterziehen und rechtsmissbräuchlich, wenn damit andere Zwecke verfolgt würden, als die Beibehaltung des bisherigen Arbeitgebers herbeizuführen.30 21 EuGH, 16.12.1992, verb. Rs. C-132/91, C-138/91, C-139/91, Slg. 1992, I-6577, Rn. 33 (Katsikas). 22 Vgl. BT-Drucks. 14/7760, 7.12.2001. S. 20. 23 Erfurter Kommentar – Preis, § 613a BGB, Rn. 92. 24 Erfurter Kommentar – Preis, § 613a BGB, Rn. 106; Rieble, NZA 2005, S. 1. 25 Rieble, NZA 2005, S. 1 (3); Seiter, Betriebsinhaberwechsel, S. 75; vgl. auch Melot de Beauregard, BB 2005, S. 826 (827). 26 Zum Begriff der Arbeitskampfmaßnahme im deutschen Recht siehe: Erfurter Kommentar – Dieterich, Art. 9 GG, Rn. 91. 27 BAG, NZA 2005, S. 43 (47). 28 BAG, NZA 2005, S. 43 (47). 29 BAG, NZA 2005, S. 43 (47). 30 BAG, NZA 2005, S. 43 (47).
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
Ob das der Sache nach auch für die Subsumtion unter Art. 28 Var. 2 GRC gelten kann ist durchaus zweifelhaft, weil die rechtliche Qualifikation des kollektiven Widerspruchs insoweit jedenfalls nicht davon abhängt, dass er ein Arbeitskampfmittel im Sinne Koalitionsmittelfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG darstellt31 und die kollektive Ausübung individualvertraglicher Rechte nicht ohne weiteres aus dem sachlichen Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahme ausgeschieden werden kann. Geht man davon aus, dass der kollektive Widerspruch stets auf die Verhinderung des Betriebsüberganges gerichtet ist,32 wird man zu der Auffassung kommen müssen, dass ein Interessenkonflikt im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC vorliegt, weil der zugrunde liegende Konflikt nicht vor den nationalen Gerichten ausgetragen werden kann und es sich also nicht um eine Rechtsstreitigkeit, sondern wie Art. 28 Var. 2 GRC verlangt um eine Regelungsstreitigkeit handelt. Folglich könnten die Arbeitnehmer bei der kollektiven Erklärung des Widerspruchs nach § 613a Abs. 6 BGB den Grundrechtsschutz der Gemeinschaft für sich in Anspruch nehmen. Dafür müsste es sich aber bei § 613a Abs. 6 BGB tatsächlich um eine normative Ergänzung der gemeinschaftlichen Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/ EG handeln. Hiergegen spricht nicht schon, dass es sich bei dem auf nationaler Ebene durchzuführenden Gemeinschaftsrechtsakt um eine Richtlinie und nicht um eine gemeinschaftsrechtliche Verordnung handelt.33 Es macht in der Sache 31 Anders hätte man zu entscheiden, wenn man die Bezugnahme auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Art. 28 GRC als konstitutiven Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten einordnen würde; vgl. dazu § 2 IV. 3. b) aa). Die kollektive Ausübung des Widerspruchsrechts aus § 613a Abs. 6 BGB wäre unter dieser Prämisse nur dann als kollektive Maßnahme im Sinne des Gemeinschaftsgrundrechts aufzufassen, wenn sie auch nach der innerstaatlichen Rechtsordnung als solche gelten würde. 32 Vgl. Rieble, NZA 2005, S. 1 (3). 33 Der EuGH hat die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei der normativen Ergänzung des Gemeinschaftsrechts zunächst anhand von nationalen Rechtsvorschriften entwickelt, die zur Durchführung von Verordnungen erlassen worden sind; vgl. EuGH, 25.11.1986, verb. Rs. 201/85, 202/85, Slg. 1986, 3477, Rn. 6 (Klensch); 13.7.1989, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609, Rn. 20 (Wachauf); 24.3.1994, Rs. C2/92, Slg. 1994, Slg. I-955, Rn. 10 (Bostock); 14.7.1994, Rs. C-351/92, Slg. 1994, I3361, Rn. 6 (Graff). Mittlerweile hat der EuGH aber auch nationale Vorschriften, die der Durchführung einer Gemeinschaftsrichtlinie dienen, an den Gemeinschaftsgrundrechten gemessen, weil sie nach seiner Auffassung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen. Beispielsweise hat der EuGH (10.4.2003, Rs. C-276/01, Rn. 71 – Steffensen) Vorschriften des deutschen Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes am Maßstab des aus Art. 6 Abs. 1 EMRK abgeleiteten Gemeinschaftsgrundrechts auf ein faires Verfahren gemessen, soweit sie bei der Durchführung der Richtlinie 89/397/EWG angewendet werden. Darüber hinaus hat der EuGH (20.5.2003, verb. Rs. C-465/00, C-138/01, C-139/01, Rn. 77 – Österreichischer Rundfunk) die Vorschrift des § 8 des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes über die Begrenzung von Bezügen öffentlicher Funktionäre am Gemeinschachtsgrundrecht auf Achtung der Privatsphäre überprüft, soweit sie in Ergänzung zur Richtlinie 95/46/EG Anwendung findet.
§ 10 Art. 28 Var. 2 GRC und das deutsche Arbeitskampfrecht
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keinen Unterschied, ob ein Mitgliedstaat zu einer unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsverordnung ergänzende Regelungen erlässt oder nach der Umsetzung einer Gemeinschaftsrichtlinie das betreffende Umsetzungsgesetz um eine in der Richtlinie nicht vorgesehene Regelung erweitert. Für die Entscheidung über die Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte kommt es vielmehr darauf an, inwiefern bei der normativen Ergänzung des Gemeinschaftsrechts eine Durchführung im Sinne des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC vorliegt. Deswegen gilt es grundsätzlich zwischen der souveränen nationalstaatlichen Rechtssetzung, die nicht der Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte unterliegt, und der mitgliedstaatlichen Exekution gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften zu unterscheiden. Zur ersten Fallgruppe wird man alle Fälle zählen müssen, in denen den Mitgliedstaaten die Entscheidung über den Erlass einer Regelung freisteht, und die zweite Fallgruppe betrifft jedenfalls diejenigen Fälle, in denen die Mitgliedstaaten zum Erlass eines bestimmten Rechtsaktes verpflichtet sind.34 Die Fallgruppe der normativen Ergänzung des Gemeinschaftsrechts durch das Recht der Mitgliedstaaten ist dementsprechend als Durchführung des Gemeinschaftsrechts anzusehen, weil sie sich dadurch auszeichnet, dass das Gemeinschaftsrecht den Mitgliedstaaten bei der rechtlich verbindlichen Durchführung des Gemeinschaftsrechts einen Ermessensspielraum einräumt.35 In diesen Konstellationen gestattet der Gemeinschaftsrechtsakt ausdrücklich den Erlass bestimmter mitgliedstaatlicher Regelungen oder überlässt die nähere Ausgestaltung den Mitgliedstaaten.36 In dieser auf der Grenze zwischen souveräner Demgegenüber ist Scheuing (in: EuR 2005, S. 162, 168 und 171) der Auffassung, dass der EuGH mit den beiden letztgenannten Entscheidungen eine dritte Fallgruppe der Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte in den Mitgliedstaaten entwickelt habe. Weil die Mitgliedstaaten die ergänzenden Regelungen nicht zur Durchführung der gemeinschaftlichen Richtlinien erlassen hätten, könne keine Durchführungskonstellation vorliegen. Dennoch handelt es sich aber auch bei solchen mitgliedstaatlichen Normen um Durchführungsvorschriften, die nicht final von den Mitgliedstaaten zur Umsetzung des Gemeinschaftsrechts erlassen worden sind. Auf einen Durchführungswillen oder einen besonderen Widmungszweck kann es nicht ankommen, weil die nationalen Gesetzgeber bei der Richtlinienumsetzung durchaus auf bereits bestehende nationale Rechtsvorschriften zurückgreifen können, die unabhängig von der durchzuführenden Richtlinie erlassen worden sind. 34 Jarass, EU-Grundrechte, § 4, Rn. 11. 35 Jarass, EU-Grundrechte, § 4, Rn. 13. Im Gegensatz dazu wollen Rengeling/Szczekalla (Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 52, 309) insoweit anscheinend die nationalen Grundrechte zur Anwendung kommen lassen. 36 Beispielsweise ging es in der Rechtssache „Klensch“ um die Entscheidung der Mitgliedstaaten darüber, ob sie das Jahr 1981, 1982 oder 1983 als Bezugsjahr für die Bestimmung einer im Gemeinschaftsrechts vorgesehenen Referenzmenge heranziehen wollten (EuGH, 25.11.1986, verb. Rs. 201/85, 202/85, Slg. 1986, 3477, Rn. 10 [„Wahl zwischen mehreren Anwendungsmodalitäten“]). Im Fall „Wachauf“ stand die von den Mitgliedstaaten zu treffende Bestimmung, ob der Pächter nach der Beendi-
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
Rechtssetzung der Mitgliedstaaten und verbindlicher Durchführung des Gemeinschaftsrechts liegenden Fallgestaltung ist mit dem Europäischen Gerichtshof eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte anzunehmen. Voraussetzung ist aber, dass die jeweilige nationale Ergänzung in der durchzuführenden Gemeinschaftsnorm vorgesehen ist.37 Das Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer aus § 613a Abs. 6 BGB ist jedoch in keiner Vorschrift der Betriebsübergangsrichtlinie auch nur ansatzweise angelegt. Art. 8 der Richtlinie 2001/23/EG sieht lediglich vor, dass die Mitgliedstaaten für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen oder für die Arbeitnehmer günstigere Kollektivverträge zulassen können. Damit werden die Vorschriften der Richtlinie zu Mindeststandards gemacht, ohne den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum hinsichtlich der speziellen Frage einzuräumen, ob sie ein Widerspruchsrecht einführen wollen. Diese bleibt in der Richtlinie gänzlich unerwähnt. Daher ist der Erlass des § 613a Abs. 6 BGB als Teil der souveränen nationalen Gesetzgebung anzusehen, der die Vorschriften der Betriebsübergangsrichtlinie nicht in einer Weise ergänzt, die als Durchführung des Gemeinschaftsrechts im Sinne des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC verstanden werden könnte. Die kollektive Ausübung des Widerspruchrechts aus § 613a Abs. 6 BGB genießt keinen gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz. Damit fehlt es letztlich auf der Ebene der Mitgliedstaaten an einer Möglichkeit, das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen auszuüben. IV. Annex: Die Rechtsprechung nationaler Gerichte als Grundrechtsschranke Die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC auf die kollektive Erklärung von Widersprüchen nach § 613a Abs. 6 BGB zeigt allerdings ein Problem auf, das für die Arbeitskampfordnung der Bundesrepublik Deutschland unter der Anergung des Pachtvertrages der Zustimmung des Verpächters bedurfte, um in den Genuss der im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen besonderen Vergütung zu kommen, zur Entscheidung (EuGH, 13.7.1989, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609, Rn. 2, 22 [„Ermessensspielraum“]). Beim Fall „Graff“ musste der betreffende Mitgliedstaat entscheiden, ob er auch ausländische Produktionen für die Bestimmung einer im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Referenzmengenberechnung heranziehen wollte (EuGH, 14.7.1994, Rs. C351/92, Slg. 1994, I-3361, Rn. 10). Auch im Fall „Steffensen“ ging es um die von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 89/397/EWG gestellten Anforderungen an die Ausgestaltung des nationalen Verfahrensrechts (EuGH, 10.4.2003, Rs. C-276/01, Rn. 8) und schließlich überließ es die im Fall „Österreichischer Rundfunk“ einschlägige Richtlinie 95/46/EG den Mitgliedstaaten, die Möglichkeiten zur Datenerhebung unter Einhaltung bestimmter gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben auszugestalten (EuGH, 20.5. 2003, verb. Rs. C-465/00, C-138/01, C-139/01, Rn. 67, 100 [„mehr oder weniger großes Ermessen“]). 37 Ähnlich: Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 51, Rn. 35.
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kennung eines Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen in Zukunft existentiell werden könnte. Käme man nämlich zur Anwendbarkeit des Art. 28 Var. 2 GRC auf den kollektiven Widerspruch, würde sich unmittelbar die Frage stellen, ob die vom Bundesarbeitsgericht vorgesehene Überprüfung am Maßstab des § 242 BGB eine zulässige Einschränkung des Gemeinschaftsgrundrechts aus Art. 28 Var. 2 GRC darstellt. Das wirft die Frage danach auf, ob die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts als nationale Rechtsvorschrift oder Gepflogenheit im Sinne des Art. 28 GRC angesehen werden kann und deswegen geeignet ist, das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen zu begrenzen. 1. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Die einzige positivrechtliche Grundlage für Arbeitskämpfe in der deutschen Rechtsordnung ist die verfassungsrechtliche Bestimmung des Art. 9 Abs. 3 GG, in der die Garantie des Arbeitskampfrechts enthalten ist.38 Als nationales Grundrecht ist die Koalitionsmittelfreiheit nicht nur ein subjektives Recht der betreffenden Grundrechtsträger, sondern zugleich eine objektive Wertnorm, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des deutschen Rechts und mithin auch des Arbeitskampfrechts gilt.39 Art. 9 Abs. 3 GG ist daher zugleich eine Schranke für die Führung von Arbeitskämpfen, was insbesondere im Zusammenhang mit der Kollisionsvorschrift des Art. 6 EGBGB anerkannt ist. Nach dieser Bestimmung des Internationalen Privatrechts steht die Anwendung von Rechtsnormen anderer Staaten in Deutschland unter dem Vorbehalt, dass sie nicht offensichtlich mit den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts unvereinbar sind. Zu diesen wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts zählt nach allgemeiner Auffassung in Bezug auf das Arbeitskampfrecht der Aussagegehalt des Art. 9 Abs. 3 GG.40 Wenn also eine ausländische Rechtsnorm im Einzelfall mit der objektiven Wertentscheidung des Art. 9 Abs. 3 GG in einem so starken Widerspruch steht, dass deren Anwendung für die innerstaatliche Rechtsordnung für untragbar gehalten werden muss, steht das Grundrecht der Einstrahlung ausländischen Rechts in die Bundesrepublik Deutschaland gemäß Art. 6 EGBGB entgegen. Für die Berücksichtigung des Art. 9 Abs. 3 GG bei der Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen spricht zudem, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG für die Beteiligung der Bundesrepublik an der europäischen Integration einen Grundrechtsschutz auf der europäischen Ebene verlangt, der im Wesentlichen mit dem Grundrechtsschutz des Grundgesetzes vergleichbar 38
Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 252. Vgl. BVerfGE 7, 198. 40 AR-Blattei – Hergenröder, SD 170.8, Rn. 52, 55; Münchener Handbuch – Otto, § 286, Rn. 251. 39
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
ist. Damit sind nicht nur die subjektiv-rechtlichen Grundrechtsposition der einzelnen Grundrechtsträger, sondern auch die objektiv-rechtliche Dimension der deutschen Grundrechte gemeint.41 Auch deswegen muss der Aussagegehalt des Art. 9 Abs. 3 GG als Schranke der Gemeinschaftsgrundrechte angesehen werden und stellt mithin eine das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen beschränkende einzelstaatliche Rechtsvorschrift dar. Die Konkretisierung des ausgestaltungsbedürftigen Grundrechts auf kollektive Maßnahmen aus Art. 9 Abs. 3 GG hat der deutsche Gesetzgeber unterlassen; die verstreuten Regelungen in den §§ 2 Abs. 1 Nr. 2 ArbGG, 74 Abs. 2 BetrVG, 66 BPersVG, 25 KSchG und 146 SGB III können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keine gesetzlichen Maßstäbe für die Voraussetzungen und die Rechtsfolgen von Arbeitskämpfen gibt.42 Aus dem Verbot der Rechtsverweigerung folgt nun aber für die Gerichte, dass sie beim Fehlen normativer Regelungen, die erforderlichen Entscheidungsmaßstäbe der richterlichen Entscheidung selbst zu bilden haben.43 An die Stelle des untätigen Gesetzgebers ist auf dem Gebiet des Arbeitskampfrechts die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts getreten, das die Lücke mit gesetzesvertretendem Richterrecht zu schließen hat.44 Wie das Bundesverfassungsgericht zunächst nur ganz allgemein festgestellt hat, können die Gerichte mit der Schaffung rechtsfortbildenden Richterrechts den nationalen Grundrechten auch Grenzen setzen. Ähnlich wie der EGMR45 hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass Recht innerhalb der verfassungsmäßigen Rechtsordnung nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch sein könne. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung und damit einen praktisch unerreichbaren Zustand voraussetzen.46 Im modernern Staat gehöre die geradezu unentbehrliche richterliche Rechtsfortbildung im Rahmen des Prinzips der Gewaltenteilung und der Gesetzesbindung zu den verfassungsmäßigen Befugnissen der Gerichte.47 Speziell zum Arbeitsrecht führte das Bundesverfassungsgericht wörtlich aus: „Allerdings haben die Gerichte in den Ausgangsverfahren nicht nur – in einem weiten Sinne – einfaches Recht ,angewendet‘. Sie haben zuvor mit der Bestimmung der konstituierenden Merkmale eines Arbeitsverhältnisses selbst die Maßstäbe gebil41
Dreier – Pernice, GG, Art. 23, Rn. 76. BVerfGE 84, 212 (226 f.); Kissel, Arbeitskampfrecht, § 21, Rn. 1; Münchener Handbuch – Otto, § 46. 43 Kissel, Arbeitskampfrecht, § 21, Rn. 2. 44 BAGE (GS) 23, 292 (319 f.). 45 Vgl. EGMR, 24.4.1990, App. 11801/85, Rn. 29 (Kruslin). 46 BVerfGE 34, 269 (287). 47 BVerfGE 49, 304 (318); 65, 182 (190); 74, 129 (152). 42
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det, nach denen sie entschieden haben. Insoweit kann von einer Rechtsanwendung im üblichen Sinne nicht ohne weiteres gesprochen werden. Die Maßstäbe sind eher als Richterrecht anzusehen, nähern sich damit der Sache nach einer rechtssatzmäßigen Regelung und können unter diesem Gesichtspunkt keiner anderen Kontrolle unterliegen als eine solche.“48
Insbesondere zum deutschen Arbeitskampfrecht hat das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung zum richterlichen Arbeitsrecht fortgeführt: „So ist das Arbeitskampfrecht gesetzlich weitgehend ungeregelt geblieben. Insoweit sind die Arbeitsgerichte berufen, Streitigkeiten zwischen den Tarifvertragsparteien über die Rechtmäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen zu entscheiden. Sie müssen bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben das materielle Recht mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den allgemeinen, zwischen Bürgern oder auch zwischen privaten Verbänden geltenden Rechtsgrundlagen ableiten, die für das betreffende Rechtsverhältnis maßgeblich sind.“49
Unabhängig von der methodischen Frage, ob man die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts im Bereich des Arbeitskampfrechts als Rechtsauslegung50 oder mit dem Bundesarbeitsgericht51 als Rechtsfortbildung52 ansieht, ist sie nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus Art. 9 Abs. 3 GG abzuleiten und ergeht damit jedenfalls auf der Grundlage des Grundrechts der Koalitionsfreiheit.53 Die vom Bundesarbeitsgericht entwickelten Grundsätze des deutschen Arbeitskampfrechts sind daher richterrechtliche Konkretisierungen und zugleich Schranken der Koalitionsmittelfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG.54 Für die Koalitionsmittelfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG bildet das Richterrecht des Bundesarbeitsgerichts eine maßgebliche Rechtserkenntnisquelle55 und die in ständiger Rechtsprechung gebildeten Rechtsmaßstäbe können sogar, wenn sie in das allgemeine Rechtsbewusstsein übergehen, als allgemein geltendes Gewohnheitsrecht anerkannt werden.56 Unbeschadet der Frage, unter welchen Voraussetzungen im Bereich des Arbeitskampfrechts Gewohnheitsrecht entsteht, hat das Bundesarbeitsgericht zudem entscheiden, dass das rechtsfortbildende Richterrecht zum Arbeitskampfrecht innerhalb der Rechtsordnung auf der Rangstufe desjenigen Rechtssatzes gilt, der richterlich ausgelegt oder ergänzt wird.57 Demnach
48
BVerfGE 59, 231 (256 f.) – Hervorhebungen vom Verfasser. BVerfGE 84, 212 (226 f.); 88, 103 (115). 50 Kissel, Arbeitskampfrecht, § 21, Rn. 12. 51 BAGE 33, 140 (160). 52 Münchener Handbuch – Otto, § 284, Rn. 64. 53 Vgl. BAGE 46, 322 (331 f.); 48, 160 (166); 88, 38 (43); 104, 155 (163). 54 Zur Doppelrolle des Staates bei Ausgestaltung und Beschränkung der Tarifautonomie: Erfurter Kommentar – Dieterich, Art. 9 GG, Rn. 79. 55 BAGE 33, 140 (159). 56 BAGE 33, 140 (159). 57 BAGE 33, 140 (160). 49
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
stellt das richterrechtliche Arbeitskampfrecht des Bundesarbeitsgerichts einen Teil des Bundesrechts dar.58 Damit handelt es sich dabei aus der Perspektive des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen um eine Grundrechtsschranke aufgrund einzelstaatlicher Rechtsvorschriften. Welches nationale Organ für die Ausgestaltung des Arbeitskampfrechts zuständig ist und welche rechtliche Qualität diese Regelungen im einzelnen haben, kann wegen der in Art. 137 Abs. 5 EG vorgesehen Kompetenzverteilung im Bereich des Arbeitskampfrechts ausschließlich der freien Entscheidung der Mitgliedstaaten unterliegen. Jede gemeinschaftliche Intervention in die innerstaatliche Organzuständigkeit für die Regelung des Arbeitskampfrechts muss als Verstoß gegen Art. 137 Abs. 5 EG angesehen werden. Nach der einzelstaatlichen Vorschrift des § 45 Abs. 4 ArbGG ist nämlich das Bundesarbeitsgericht innerhalb der nationalen Zuständigkeitsverteilung zur Rechtsfortbildung berufen und damit funktionell für die Schließung von Gesetzeslücken zuständig.59 Wenn ein nationaler Gesetzgeber auf die gesetzliche Regelung eines Rechtsgebiets verzichtet, um dessen nähere Ausformung den einzelstaatlichen Gerichten zu überlassen, hat die Gemeinschaft die souveräne Entscheidung des jeweiligen Mitgliedstaats zu respektieren. Zudem genügt richterliches Fallrecht nach der Rechtsprechung des EGMR zum Gesetzesvorbehalt in der Europäischen Menschenrechtskonvention, um die in der Konvention enthaltenen Rechte zu begrenzen.60 Das gleiche gilt für die Beschränkung von Gemeinschaftsgrundrechten auf der Grundlage der Vorschrift des Art. 52 Abs. 1 GRC und einzelstaatlicher Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC. Daraus ergibt sich, dass nationales Richterrecht geeignet ist, Gemeinschaftsgrundrechte zu beschränken und insbesondere als Quelle einzelstaatlicher Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC aufzufassen ist. Allerdings verlangt der EGMR für die richterrechtliche Begrenzung von Grundrechten eine „ständige Rechtsprechung“ („settled case-law“).61 Das wird man für die Einschränkung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen zu übertragen haben. Die Synchronisierung des kollektiven Arbeitsrechts und des Individualarbeitsrechts im Zusammenhang mit Arbeitskämpfen,62 das partielle Außerkraftreten der betrieblichen Mitbestimmung bei Arbeitskämpfen,63 die Tarifbezogenheit des Arbeitskampfes64 sowie das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit und das ultima-ratio-Prinzip bei Arbeitskämp58 59 60 61 62 63
BAGE 33, 140 (160). Schwab/Weth – Liebscher, ArbGG, § 45, Rn. 32. § 3 IV. 1. a). EGMR, 24. 4.1990, App. 11801/85, Rn. 29 (Kruslin). BAGE (GS) 1, 291. BAGE 34, 355 (364 f.).
§ 10 Art. 28 Var. 2 GRC und das deutsche Arbeitskampfrecht
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fen65 gehen jeweils auf jahrzehntelange Rechtsprechungstraditionen zurück66 und können daher als einzelstaatliche Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC angesehen werden. Sie beschränken das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen, ohne ihrerseits einer Rechtfertigung nach Art. 52 GRC zu bedürfen. Aus dem in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten Bestimmtheitserfordernis, das entsprechend auch für einzelstaatliche Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC gilt, folgt zudem, dass die staatliche Reaktion voraussehbar sein muss und der Einzelne sein Handeln unter gewöhnlichen Umständen danach ausrichten kann.67 Mit diesen Voraussetzungen kann richterliches Fallrecht leicht in Konflikt geraten, weil die deutschen Gerichte grundsätzlich nicht an ihre Entscheidungen gebunden sind und höchstrichterliche Urteile des Bundesarbeitsgerichts keine rechtliche Bindungswirkung entfalten.68 Selbst an eine feststehende Rechtsprechung sind die Gerichte nicht gebunden, wenn sich diese im Lichte neuerer Erkenntnisse oder veränderter Verhältnisse als nicht mehr haltbar erweist.69 Die Regelungsdichte des bislang ergangen Richterrechts des Bundesarbeitsgerichts genügt aber ohne weiteres dem Bestimmtheitserfordernis des Art. 28 Var. 2 GRC, weil sich daraus grundsätzlich entnehmen lässt, unter welchen Voraussetzungen kollektive Maßnahmen ergriffen werden dürfen und auch die sich ergebenden Rechtsfolgen hinreichend berechenbar sind. Zudem sieht sich das Bundesarbeitsgericht als ein oberster Gerichtshof des Bundes an seine vormaligen Judikate gebunden und will nach eigener Bekundung von diesen nicht abweichen, wenn sowohl für die eine als auch für die andere Auffassung gute Gründe sprechen.70 Gegebenfalls gewährt es im Falle einer nicht voraussehbaren Rechtsprechungsänderung Vertrauensschutz und wendet neue Entscheidungsmaßstäbe insbesondere im Bereich der Rechtsfortbildung71 mit Rücksicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes nur mit Wirkung für die Zukunft an,72 was mit etwaigen gesetzlichen Übergangsfristen bei normativen Rechtssetzungsakten durchaus vergleichbar ist. Jedenfalls sind die kontinuierlich angewendeten Entscheidungsmaßstäbe des Bundesarbeitsgerichts einzelstaatliche Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC. 64
BAGE (GS) 23, 292 (306); BAGE 33, 140 (150 ff.); 58, 343 (348 f.); 88, 38
(43). 65 66 67 68 69 70 71 72
BAGE (GS) 23, 292. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 21, Rn. 3. EGMR, 26.4.1979, App. 6538/74, Rn. 48 (Sunday Times). BAGE 45, 277 (287). BVerfGE 59, 128 (165); 79, 236 (254). BAGE 12, 278 (284). Vgl. BAG, NZA 1996, 607 (609). BAGE 79, 236 (254).
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
2. Die Rechtsprechung anderer nationaler Gerichte Neben der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kommt den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 9 Abs. 3 GG die Qualität einzelstaatlicher Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC zu. Für Entscheidungen in den Fällen des § 13 Nr. 6, 6a, 11, 12, 14 BVerfGG sowie in den Fällen des § 13 Nr. 8a BVerfGG, in denen das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar, unvereinbar oder nichtig erklärt, ergibt sich das bereits aus der Regelung des § 31 Abs. 2 BVerfGG. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat unter diesen Voraussetzungen Gesetzeskraft und lässt sich ohne weiteres unter den Begriff der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften subsumieren. In allen übrigen Fällen binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nach § 31 Abs. 1 BVerfGG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Die Adressaten dieser Bindung haben nach einer entsprechenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dessen verfassungsrechtliche Bewertung zu übernehmen, sofern ein Wiederholungs- oder Parallelfall zu entscheiden ist.73 Diese umfassende Bindungswirkung genügt ebenfalls für die Annahme einer einzelstaatlichen Rechtsvorschrift, die das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen beschränkt. Von den Entscheidungen der Arbeits- und Landesarbeitsgerichte lässt sich das allerdings nicht behaupten, weil es insofern an einer dem § 45 Abs. 4 ArbGG vergleichbaren Bestimmung fehlt, nach welcher die Instanzgerichte der Arbeitsgerichtsbarkeit in vergleichbarer Weise wie das Bundesarbeitsgericht zur Fortbildung des Arbeitsrechts und zur Schaffung von Richterrecht im Bereich des Arbeitskampfrechts berufen wären. Dieses Ergebnis lässt sich auch aus der Regelung des Art. 234 EG ableiten, da nach dieser Vorschrift nur das Bundesarbeitsgericht im Gegensatz zu deutschen Arbeits- und Landesarbeitsgerichten verpflichtet ist, das europäische Gemeinschaftsrecht betreffende Auslegungsfragen dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen. Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts spricht dies dafür, nur das vom Bundesarbeitsgericht geschaffene Richterrecht als nationale Rechtsvorschrift anzuerkennen, weil die vollständige Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts nur bei Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts institutionell gesichert ist.
73
Umbach/Clemens – Heusch, BVerfGG, § 31, Rn. 68.
§ 11 Art. 28 Var. 2 GRC und transnationale Arbeitskämpfe
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Dritter Abschnitt
Die transnationale Ebene Letztlich kommt eine Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts aus Art. 28 Var. 2 GRC auf grenzüberschreitende Arbeitskämpfe in Betracht.
§ 11 Art. 28 Var. 2 GRC und transnationale Arbeitskämpfe Dabei soll es im Folgenden nur um solche grenzüberschreitenden Arbeitskämpfe gehen, die wenigstens auch im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland bzw. unter der Geltung deutschen Rechts im Ausland geführt werden. Obwohl die rechtlichen Voraussetzungen, unter denen ein solcher „Arbeitskampf mit Auslandsberührung“ nach deutschem Recht erfolgen kann, in Rechtsprechung und Literatur bislang wenig geklärt sind, lassen sich insoweit im Wesentlichen vier Fallgruppen voneinander unterscheiden:1 – Erstens können sich inländische Arbeitskampfmaßnahmen auf das Gebiet eines anderen EG-Mitgliedstaates erstrecken, weil sich etwa im Ausland befindliche deutsche Arbeitnehmer einem in Deutschland stattfindenden Arbeitskampf anschließen. – Im umgekehrten Fall schließen sich zweitens beispielsweise ausländische Arbeitnehmer in Deutschland einem im EG-Ausland ausgerufenen Arbeitskampf an. – Drittens können in Deutschland Arbeitskampfmaßnahmen zur Unterstützung von Arbeitskämpfen in einem anderen EG-Mitgliedstaat unter Einbeziehung ausländischer Arbeitskampfparteien durchgeführt werden. – Schließlich ist viertens an einen grenzüberschreitenden Arbeitskampf in mehreren Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zu denken, mit dem ein transnationaler Tarifvertrag erzwungen werden soll.2 I. Die Bestimmung des Arbeitskampfstatuts Für die rechtliche Würdigung aller genannten Fallgruppen kommt es zunächst darauf an, welche Rechts- und Arbeitskampfordnung auf die konkreten Beziehungen zwischen den Parteien, die sich an einem grenzüberschreitenden Arbeitskampf beteiligen, zur Anwendung kommt.3 Das richtet sich danach, wel1
Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 232. Zu der besonderen Problematik transnationaler Arbeitskämpfe in der Seeschifffahrt siehe: Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 250; Staudinger – von Hoffmann, Art. 40 EGBGB, Rn. 291 ff. 3 AR-Blattei – Hergenröder, SD 170.8, Rn. 31. 2
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
cher Bezugspunkt über das anzuwendende Recht entscheidet, mit anderen Worten, wie das anzuwendende Arbeitskampfstatut zu ermitteln ist.4 Obwohl in dem hierfür geltenden Internationalen Privatrecht der Grundsatz der Privatautonomie gilt, steht jedoch insoweit jedenfalls fest, dass die an einem Arbeitskampf beteiligten Parteien nicht über die Anwendung einer bestimmten Rechtsordnung disponieren können.5 Die Vorschriften der Art. 27, 30 EGBGB erlauben nur die Rechtswahl hinsichtlich der individualrechtlichen Beziehungen der Kampfbeteiligten. Als kollektives Geschehen folgt der Arbeitskampf eigenen Regeln.6 Die Anknüpfung an das Deliktstatut nach Art. 40 EGBGB kann für die Bestimmung des auf einen grenzüberschreitenden Arbeitskampf anwendbaren Rechts ebenfalls nicht relevant sein, weil die Durchführung von Arbeitskämpfen vor dem Hintergrund der grundrechtlichen Garantie der Koalitionsmittelfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG und des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen begrifflich nicht als ein deliktisches Geschehen angesehen werden kann.7 Es wäre denkbar, die Rechtsbeziehungen zwischen den an einem grenzüberschreitenden Arbeitskampf beteiligten Partien demjenigen Recht zu unterwerfen, das auf die betreffenden Arbeitsverträge Anwendung findet und das Arbeitskampfstatut nach dem Arbeitsvertragsstatut zu bestimmen. Das könnte aber im Einzelfall dazu führen, dass auf einen Arbeitskampf an einem einzigen Standort eine Vielzahl von Rechtsordnungen Anwendung fänden. Eine individuelle Betrachtung des kollektiven Geschehens, die bei Belegschaften mit vielen unterschiedlichen Nationalitäten zu unpraktischen Ergebnissen führt, kann daher nicht überzeugen.8 Schließlich wird im Schrifttum die Lösung diskutiert, das Arbeitskampfstatut wegen der Akzessorietät des Arbeitkampfes zur Tarifautonomie dem Tarifvertragstatut folgen zu lassen.9 Das führt aber dann zu Schwierigkeiten, wenn mit dem betreffenden Arbeitskampf gar kein Tarifvertrag erkämpft werden soll,10
4
Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 233. Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 366; Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 233 (m.w. N.). 6 Vgl. Münchener Kommentar – Junker, Art. 40 EGBGB, Rn. 142. 7 Münchener Kommentar – Junker, Art. 40 EGBGB, Rn. 142. Otto (in: Münchener Handbuch, § 285, Rn. 235) weist im Übrigen zu Recht darauf hin, dass Art. 40 EGBGB dem Verletzten die Möglichkeit gibt, zwischen dem Recht des Ortes, an dem die Verletzungshandlung vorgenommen worden ist (Art. 40 Abs. 1 Satz 1 EGBGB), und dem Recht des Ortes, an dem der Erfolg der Verletzungshandlung eingetreten ist (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 EGBGB), zu wählen. Deswegen ist die Heranziehung des Deliktsstatuts für die Bestimmung des auf grenzüberschreitende Arbeitskämpfe anzuwendenden Rechts ohnehin nicht zweckgemäß. 8 Münchner Handbuch – Otto, § 285, Rn. 236. 9 Vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 80, Rn. 4 ff. (m.w. N.). 5
§ 11 Art. 28 Var. 2 GRC und transnationale Arbeitskämpfe
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was nicht nur nach Arbeitskampfrecht anderer Mitgliedstaaten, sondern insbesondere auch nach Art. 28 Var. 2 GRC der Fall sein kann. Mit der herrschenden Meinung ist daher auf jede Arbeitskampfmaßnahme grundsätzlich das Recht desjenigen Staates anzuwenden, auf dessen Gebiet sie vorgenommen wird.11 Davon sind Ausnahmen zu machen, wenn der Schwerpunkt der arbeitskampfrechtlichen Beziehungen zwischen den am Arbeitskampf beteiligten Parteien in wertender Gesamtschau aller rechtlichen und tatsächlichen Umstände des Kampfgeschehens die Anwendung einer anderen Arbeitskampfordnung rechtfertigt.12 1. Arbeitskampfmaßnahmen deutscher Arbeitsvertragsparteien im EG-Ausland Eine solche Ausnahme ist insbesondere zu machen, wenn in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer arbeitsvertraglichen Verpflichtungen vorübergehend ins EG-Ausland entsandt werden. Auf diese Gruppe von Arbeitnehmern finden nach wie vor gemäß Art. 30 Abs. 2 EGBGB deutsche Tarifverträge Anwendung. Schließen sich die im Ausland tätigen Arbeitnehmer einem in Deutschland geführten Arbeitskampf an, der zur Erzwingung eines auch für sie geltenden Tarifvertrages geführt wird, folgt die Bestimmung anzuwendenden Arbeitskampfrechts wegen des engen sachlichen Zusammenhanges dem Tarifvertragstatut.13 Die betreffenden Arbeitnehmer können sich in diesem Fall also auf das ins Ausland ausstrahlende deutsche Arbeitskampfrecht berufen, soweit dies nicht von der an dem Ort der individuellen Arbeitsniederlegung geltenden ausländischen Rechtsordnung ausgeschlossen wird. In dem ähnlich gelagerten Fall, in dem ein in Deutschland geschlossener Tarifvertrag die Rechte und Pflichten dauerhaft im Ausland beschäftigter Arbeitnehmer mit extraterritorialer Wirkung regelt,14 rechtfertigt der Zusammenhang zwischen Arbeitskampf und Tarifschluss ebenfalls die Anwendung deutschen Arbeitskampfrechts nach Maßgabe des ausländischen Rechts am Ort der Arbeitsniederlegung.15 10 Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 237; Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 366. 11 Münchener Handbuch – Birk, § 21; Rn. 65; Staudinger – von Hoffmann, Art. 40 EGBGB, Rn. 291; Münchener Kommentar – Junker, Art. 40 EGBGB, Rn. 143; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 80, Rn. 5; Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 238. 12 AR-Blattei – Hergenröder, SD 170.8, Rn. 37; Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 238; Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 366 f. 13 Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 240. 14 Siehe hierzu: BAGE 68, 261 (268); BAG, NJW 1981, 1574; Erfurter Kommentar – Franzen, § 4 TVG, Rn. 10; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 80, Rn. 6. 15 Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 240; Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 367.
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
2. Arbeitskampfmaßnahmen ausländischer Arbeitskampfparteien in Deutschland Im spiegelbildlichen zweiten Fall strahlt das Arbeitskampfrecht eines anderen EG-Mitgliedstaates in die Bundesrepublik wegen eines Ausnahmesachverhalts ein, wenn ausländische Arbeitskampfparteien einen Arbeitskampf in Deutschland führen. Das jeweilige ausländische Recht kommt nur insoweit nicht zur Anwendung, als es gemäß Art. 6 EGBGB mit den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Arbeitskampfrechts und dem Aussagegehalt des Art. 9 Abs. 3 GG offensichtlich unvereinbar ist.16 Darüber hinaus wird das jeweilige ausländische Recht nach Art. 34 EGBGB verdrängt, soweit zwingende Rechtssätze des deutschen Arbeitskampfrechts den Sachverhalt regeln. Dabei ist allerdings noch weitgehend ungeklärt, unter welchen Voraussetzungen eine Vorschrift als zwingende deutsche Eingriffsnorm zu verstehen ist.17 3. Zur Unterstützung ausländischer Arbeitskampfparteien in Deutschland geführte Solidaritätsarbeitskämpfe Kommt es in Deutschland zu Arbeitskampfmaßnahmen, die darauf gerichtet sind, einen sich im EG-Ausland abspielenden Arbeitskampf zu unterstützen, ist nach der Grundregel, nach der das Recht des Arbeitskampfortes Anwendung findet, auf den Hauptarbeitskampf das ausländische Arbeitskampfrecht und auf den Unterstützungsarbeitskampf das deutsche Arbeitskampfrecht anzuwenden.18 Deswegen setzt die Zulässigkeit des Solidaritätsarbeitskampfes in Deutschland voraus, dass der zu unterstützende Arbeitskampf seinerseits rechtmäßig ist.19 Das beurteilt sich zunächst allein nach dem Recht des ausländischen Staates, in dem der Hauptarbeitskampf geführt wird, weil die deutsche Rechtsordnung für diesen im Ausland erfolgenden Arbeitskampf keine Geltung beanspruchen kann.20 Damit aber das deutsche Recht nicht von den Regelungen anderer Staaten abhängt und unbillige Ergebnisse vermieden werden, bleibt insoweit der ordre-public Vorbehalt des Art. 6 EGBGB anwendbar, so dass unterstützende
16 AR-Blattei – Hergenröder, SD 170.8, Rn. 52 ff.; Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 251. 17 AR-Blattei – Hergenröder, SD 170.8, Rn. 56; Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 252; Preis, Kollektivarbeitsrecht, S. 367. 18 Staudinger – von Hoffmann, Art. 40 EGBGB, Rn. 292; Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 244; a. A.: ArbG Wuppertal, BB 1960, S. 443. 19 Staudinger – von Hoffmann, Art. 40 EGBGB, Rn. 292; Münchener Handbuch – Birk, § 21, Rn. 66. 20 AR-Blattei – Hergenröder, SD 170.8, Rn. 65; Staudinger – von Hoffmann, Art. 40 EGBGB, Rn. 292; Münchener Kommentar – Junker, Art. 40 EGBGB, Rn. 145; Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 244; a. A.: ArbG Wuppertal, BB 1960, S. 443.
§ 11 Art. 28 Var. 2 GRC und transnationale Arbeitskämpfe
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Arbeitskampfmaßnahmen in Deutschland ausscheiden, wenn der im Ausland geführte Hauptarbeitskampf mit den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Arbeitskampfrechts offensichtlich unvereinbar ist.21 4. Der grenzüberschreitende Arbeitskampf für einen transnationalen Tarifvertrag Soll der Abschluss eines Tarifvertrages zwischen einem grenzüberschreitend tätigen Unternehmen auf der einen und mehreren Gewerkschaften verschiedener EG-Mitgliedstaaten auf der anderen Seite in mehreren Mitgliedstaaten gleichzeitig erkämpft werden, richtet sich das Arbeitskampfstatut nach dem jeweiligen Ort der Arbeitskampfmaßnahme.22 In diesem Fall findet nicht das Recht eines Mitgliedstaates, sondern, weil kein Schwerpunkt der Arbeitskampfhandlungen zu erkennen ist, das jeweils am Ort der betreffenden Arbeitskampfmaßnahme geltende Recht Anwendung. Das gleiche gilt für den Fall, dass parallel in mehreren Mitgliedstaaten der Abschluss inhaltsgleicher Konzerntarifverträge ebenfalls parallel in mehreren Mitgliedstaaten mit Maßnahmen des Arbeitskampfes durchgesetzt werden soll.23 Auch insoweit gilt das Recht des Arbeitskampfortes. Da es bislang an einer rechtlichen Grundlage für den Abschluss transnationaler Tarifverträge mit einheitlicher Wirkung in allen betreffenden Mitgliedstaaten fehlt, mangelt es an einem Anknüpfungspunkt, um von der Grundregel zur Bestimmung des Arbeitskampfstatuts nach dem Ort der Arbeitskampfmaßnahme zugunsten eines dem Tarifvertragsstatuts folgenden, einheitlichen Arbeitskampfstatuts abzuweichen.24 II. Die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts auf kollektive Maßnahmen auf transnationale Arbeitskämpfe Aus den Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtskonvents zu Art. 28 GRC lässt sich ohne weiteres entnehmen, dass Art. 28 Var. 2 GRC in Fällen grenzüberschreitender Arbeitskampfmaßnahmen zur Anwendung kommen soll, da sich das Präsidium ausdrücklich zu der Möglichkeit transnationaler Arbeitskämpfe auf der Grundlage des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maß-
21 Münchener Handbuch – Birk, § 21, Rn. 66; a. A.: AR-Blattei – Hergenröder, SD 170.8, Rn. 66. 22 Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 247 (m.w. N.). 23 AR-Blattei – Hergenröder, SD 170.8, Rn. 84 f.; Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 248 (m.w. N.). 24 Münchener Handbuch – Otto, § 285, Rn. 245.
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
nahmen geäußert hat.25 Lediglich unter dem Blickwinkel des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC ist zu fragen, ob Art. 28 Var. 2 GRC in seinem transnationalen Gehalt ebenso wie auf der europäischen Ebene ohne weitere Voraussetzungen ausgeübt werden darf, oder wie in den Fällen der Anwendung in den Mitgliedstaaten die Durchführung eines Gemeinschaftsrechtsakts erforderlich ist. Obwohl sich die Grundrechtsverpflichtung bei transnationalen Arbeitskampfmaßnahmen regelmäßig gegen die Mitgliedstaaten richten dürfte, entzieht sich die Regelung grenzüberschreitender Arbeitskampfmaßnahmen einer Rechtssetzung der Einzelstaaten. Wegen der Ähnlichkeit mit gesamteuropäischen Arbeitskämpfen ist daher davon auszugehen, dass es für die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC bei transnationalen Arbeitskampfmaßnahmen keines im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRC von den Mitgliedstaaten durchzuführenden Gemeinschaftsrechtsaktes bedarf. Deswegen ist in den vier verschiedenen Konstellationen, in denen ein Arbeitskampf mit Auslandsberührung erfolgen kann, zu klären, wie sich die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen jeweils auswirkt. 1. Arbeitskampfmaßnahmen deutscher Arbeitvertragsparteien im EG-Ausland Das betrifft zunächst die Fälle, in denen eine Ausstrahlung deutschen Arbeitskampfrechts auf im Ausland vorgenommene Arbeitskampfmaßnahmen anzunehmen ist. Für die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC genügt es jedoch nicht, dass sich ein Unionsbürger in Ausübung seiner Freizügigkeit in einen anderen Mitgliedsstaat begibt, nach dem dort geltenden Recht einen Arbeitsvertrag abschließt und sich hernach an Arbeitskampfmaßnahmen im Ausland beteiligt. In diesem Fall liegt kein grenzüberschreitender Arbeitskampf vor. Vielmehr handelt es sich um einen ausschließlich innerstaatlich geführten Arbeitskampf, an dem sich ein ausländischer Arbeitnehmer unter Ausübung seiner EG-Grundfreiheiten beteiligt. In dieser Konstellation bleibt es bei den besonderen Anforderungen des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC, die bei der bloßen Ausübung einer Grundfreiheit nicht erfüllt sind und folglich nicht zu einer Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte auf der Ebene der Mitgliedstaaten führen.26 Sofern aber eine vorübergehende Entsendung eines Arbeitnehmers in das EGAusland erfolgt ist, kann er vom Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maß25 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; vgl. ABl. Nr. C 310, 16.12. 2004, S. 442. 26 § 2 III. 2. b) cc); vgl. auch Tettinger/Stern – Ladenburger, Kölner GK-GRC, Art. 51, Rn. 37.
§ 11 Art. 28 Var. 2 GRC und transnationale Arbeitskämpfe
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nahmen im Ausland Gebrauch machen, wenn er sich von dort aus an einem in Deutschland geführten Arbeitskampf beteiligen will, der auf den Abschluss eines auch auf ihn anzuwenden Tarifvertrages gerichtet ist. Darüber hinaus ist Art. 28 Var. 2 GRC auch dann anzuwenden, wenn sich dauerhaft im EG-Ausland tätige Arbeitnehmer an einem hauptsächlich in Deutschland ausgetragenen Arbeitskampf beteiligen, mit dem ein auch auf sie anwendbarer Tarifvertrag erzwungen werden soll. Die Konsequenz daraus ist zunächst, dass sich die Arbeitnehmer in den beiden Ausstrahlungssachverhalten auf die aus Art. 28 Var. 2 GRC resultierenden Abwehransprüche berufen können, wenn die jeweiligen Mitgliedstaaten in den Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen eingreifen. Gleichwohl ist festzustellen, dass der von Art. 28 Var. 2 GRC in diesen Fällen vermittelte Schutz von den im Beschäftigungsstaat geltenden Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten eingeschränkt wird. Aus den Erläuterungen des Konventspräsidiums geht nämlich hervor, dass nationale Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten über die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC auf transnationaler Ebene entscheiden.27 Daher können die Mitgliedstaaten die Einstrahlung des deutschen Arbeitskampfrechts sowie den Anwendungs- und Gewährleistungsbereich des Gemeinschaftsgrundrechts einschränken, ohne hierfür die in Art. 52 GRC genannten Voraussetzungen zu erfüllen.28 Ineffektiv ist der Schutz des Gemeinschaftsgrundrechts in diesen Fällen trotzdem nicht, weil Art. 28 Var. 2 GRC im Gegensatz zu den mitgliedstaatlichen Grundrechten einen Abwehranspruch gegen Eingriffe der Gemeinschaft in die im Ausland ausgeübte Arbeitskampffreiheit bietet und darüber hinaus in Verbindung mit dem gemeinschaftlichen Diskriminierungsverbot sicherstellt, dass die deutschen Arbeitnehmer bei der Ergreifung kollektiver Maßnahmen im Ausland nicht schlechter gestellt werden als die Staatsbürger des betreffenden Mitgliedstaates. 2. Arbeitskampfmaßnahmen ausländischer Arbeitskampfparteien in Deutschland Unproblematisch ist ferner die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC auf Sachverhalte, in denen es zu einer Einstrahlung fremden Arbeitskampfrechts in die Bundesrepublik kommt. Obwohl die allgemeine Vereinigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 GG als Deutschengrundrecht formuliert ist, stellt die Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG, die sich an jedermann richtet, ein Menschenrecht dar, das gleichermaßen für In- und Ausländer gilt.29 Damit steht Auslän27 CHARTE 4473/00, CONVENT 49, 11.10.2000, S. 27; ABl. Nr. C 310, 16.12. 2004, S. 442. 28 § 2 IV. 3. d). 29 Erfurter Kommentar – Dieterich, Art. 9 GG, Rn. 27; Henssler/Willemsen/Kalb – Hergenröder, Art. 9 GG, Rn. 26.
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2. Teil: Auswirkungen des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen
dern in Deutschland die Koalitionsmittelfreiheit ebenso zu wie deutschen Staatsbürgern. Wollen Ausländer in Deutschland kollektive Maßnahmen ergreifen, um Druck auf eine im Ausland befindliche Arbeitskampfpartei auszuüben, strahlt grundsätzlich das ausländische Recht und damit die Rechtsgrundlage, auf welcher der Arbeitskampf geführt wird, nach Deutschland ein. EG-Ausländer können in Deutschland daneben sowohl Art. 9 Abs. 3 GG als auch das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen in Anspruch nehmen. Mit Art. 9 Abs. 3 GG können sie Eingriffe deutscher Staatsorgane und mit Art. 28 Var. 2 GRC Eingriffe der Gemeinschaft in ihre grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre abwehren. Gleichwohl bleibt es auch in diesem Fall nach wie vor bei der Anwendung des ordre-public Vorbehalts und des Vorranges zwingenden deutschen Arbeitskampfrechts nach den Art. 6, 34 EGBGB, ohne dass es zu einer Kontrolle der betreffenden Vorschriften am Maßstab des Art. 52 GRC kommt. 3. Zur Unterstützung ausländischer Arbeitskampfparteien in Deutschland geführte Solidaritätsarbeitskämpfe Bei der Unterstützung ausländischer Arbeitskämpfe durch Maßnahmen des Arbeitskampfes in Deutschland lässt sich die Anwendbarkeit des Art. 28 Var. 2 GRC bezweifeln, weil sich der Hauptarbeitskampf im Ausland und der Solidaritätsarbeitskampf in Deutschland nach unterschiedlichen Arbeitskampfordnungen richten. Da aber jedenfalls der deutsche Unterstützungsarbeitskampf – sofern man Solidaritätsarbeitskämpfe als vom sachlichen Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC geschützt ansehen will30 – auf ein grenzüberschreitendes Ziel angelegt ist, spricht das für eine Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen. Dennoch bleibt es auch unter dieser Voraussetzung dabei, dass der Hauptarbeitskampf mit der ausländischen Arbeitskampfordnung in Einklang stehen und dem ordre-public Vorbehalt aus Art. 6 EGBGB genügen muss, damit der Unterstützungsarbeitskampf in Deutschland rechtmäßig erfolgen kann. Art. 6 EGBGB stellt auch in diesem Zusammenhang eine das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen einschränkende einzelstaatliche Rechtsvorschrift dar. 4. Der grenzüberschreitende Arbeitskampf für einen transnationalen Tarifvertrag Das gilt in entsprechender Weise ebenso für Arbeitskämpfe, die in mehreren Mitgliedstaaten zur Durchsetzung eines transnationalen Tarifvertrages durchgeführt werden. Obwohl sie sich nach den Arbeitskampfordnungen der jeweiligen 30
§ 3 III. 2. c).
§ 11 Art. 28 Var. 2 GRC und transnationale Arbeitskämpfe
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Mitgliedstaaten richten, sind sie auf ein mehr oder weniger gemeinsames Ziel gerichtet, was die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC rechtfertigt. Gleichwohl findet die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen auch in dieser Konstellation ihre Grenzen in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Die in diesem Zusammenhang vorgenommenen Arbeitskampfmaßnahmen müssen bei einer Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC nach wie vor mit den mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Einklang stehen, in denen sie vorgenommen werden.
Schlussbetrachtung Bevor abschließend auf den Stellenwert des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen eingegangen werden soll, seien vorab die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst.
I. Die Anerkennung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen und Einfügung in die Gemeinschaftsrechtsordnung Obwohl das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bislang noch nicht anerkannt worden ist, ergibt es sich gleichwohl in einer dem Art. 6 Abs. 2 EU entsprechenden Weise aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und Art. 11 EMRK. Darüber hinaus findet sich ein Grundrecht auf kollektive Maßnahmen in Art. 6 Nr. 4 der Europäischen Sozialcharta, die der EuGH für die Begründung von Grundrechten der Gemeinschaft heranzieht. Mit Art. 13 EG-SC weist zudem das Gemeinschaftsrecht eine eigene, wenn auch unverbindliche Bestimmung zum Grundrecht auf kollektive Maßnahmen auf. Den deutlichsten Ausdruck hat das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen in Art. 28 Var. 2 GRC gefunden, so dass die Existenz dieses Gemeinschaftsgrundrechts nicht mehr in Zweifel gezogen werden kann. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs geht hervor, dass sich die auf der Gemeinschaftsebene anzuerkennenden Grundrechte in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen müssen. Bezüglich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen besteht deswegen insoweit eine Spannungslage, als dass die Gemeinschaft wegen Art. 137 Abs. 5 EG nicht über eine Kompetenz zur Regelung des Streik- oder Aussperrungsrechts verfügt und eine solche Zuständigkeit für das Arbeitskampfrecht, wie vor allem aus Art. 51 Abs. 2 GRC hervorgeht, nicht aus der Anerkennung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen hergeleitet werden kann. Um das Grundrecht in die Gemeinschaftsrechtsordnung einzufügen, ist deshalb zwischen seinem abwehrrechtlichen und seinem leistungsrechtlichen Gehalt zu unterscheiden. Nimmt die Gemeinschaft unter Verletzung ihrer Kompetenzen oder in Ausübung ihr zustehender Kompetenzen einen ungrechtfertigten Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen vor, steht den ent-
Schlussbetrachtung
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sprechenden Grundrechtsträgern ein grundrechtlicher Abwehranspruch aus Art. 28 Var. 2 GRC zu, ohne dass hierdurch ein Kompetenzkonflikt zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft entstehen könnte. Gemäß Art. 51 Abs. 1 GRC können die Grundrechtsträger einen Eingriff der Mitgliedstaaten in ihr Grundrecht aus Art. 28 Var. 2 GRC abwehren, wenn er zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts vorgenommen worden ist. Da die Grundrechtsbeeinträchtigung von der Gemeinschaft ausgeht und die Mitgliedstaaten zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet sind, läuft die Bindung der Mitgliedstaaten an den abwehrrechtlichen Gehalt des Art. 28 Var. 2 GRC der Kompetenzverteilung im Bereich des Arbeitskampfrechts nicht zuwider. Das gilt allerdings nicht für jede Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Nach der Rechtsprechung des EuGH sollen die Mitgliedstaaten außerhalb der Durchführung des Gemeinschaftsrechts auch dann an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sein, wenn sie die gemeinschaftlichen Grundfreiheiten beschränken, so dass sich der Einzelne bei jeder Ausübung einer im EG-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit gegenüber den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaftsgrundrechte berufen kann. Die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC würde in dieser Konstellation zu Kompetenzkonflikten führen, weil das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen zum Maßstab für das mitgliedstaatliche Arbeitskampfrecht würde. Wegen des eindeutigen Wortlauts und der Entstehungsgeschichte des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC ist aber auf eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei der Begrenzung der EG-Grundfreiheiten zu verzichten und nur bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts anzunehmen, so dass sich der abwehrrechtliche Gehalt des Art. 28 Var. 2 GRC insgesamt ohne weiteres in die gemeinschaftliche Rechtsordnung integrieren lässt. Obwohl Art. 28 Var. 2 GRC auch einen Arbeitskampf auf der europäischen Ebene schützt, richtet sich der leistungsrechtliche Inhalt des Art. 28 Var. 2 GRC, der auf die tatsächliche Ausübung kollektiver Maßnahmen und auf den Erlass der dafür notwendigen Regelungen gerichtet ist, ausschließlich gegen die Mitgliedstaaten. Dies geht aus Art. 28 Var. 2 GRC hervor, der die Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen unter den Vorbehalt einzelstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten stellt. Entgegen der beiden im Schrifttum bislang geäußerten Ansichten handelt es sich dabei weder um einen für den Schutzbereich des Art. 28 Var. 2 GRC konstitutiven Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten noch um eine doppelte Schranke, die zur Anwendung der Schranken-Schranken des Art. 52 GRC führen würde. Vielmehr handelt es sich um eine vorbehaltlose Grundrechtsschranke zugunsten der Mitgliedstaaten, nach der die Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen auf der europäischen Ebene mit nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Einklang zu stehen hat, um sich auch nach dem Gemeinschaftsrecht als rechtmäßig darzustellen. Die Mitgliedstaaten haben damit
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Schlussbetrachtung
das Recht, das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen zu beschränken, und die Pflicht es auszugestalten. Damit wird die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten gewahrt, weil die Einzelstaaten bei der Begrenzung des Gemeinschaftsgrundrechts aus Art. 28 Var. 2 GRC keinen materiellen Anforderungen unterliegen. Zugleich wird den Grundrechtsträgern durch die einzelstaatliche Begrenzung und Ausgestaltung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen dasjenige Instrumentarium zur Verfügung gestellt, das für dessen tatsächliche Ausübung erforderlich ist. Schließlich bestehen weder gegen den abwehrrechtlichen noch gegen den leistungsrechtlichen Gehalt des Art. 28 Var. 2 GRC auf der einzelstaatlichen Ebene Bedenken, weil jede Anwendung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten unter der in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC genannten Voraussetzung steht, dass die Mitgliedstaaten das Recht der Gemeinschaft durchführen. Auch in diesem Zusammenhang kommt es nicht zu einer gemeinschaftsvertragswidrigen Kompetenzverschiebung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten. II. Der Inhalt und die Begrenzung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen Der Gewährleistungsumfang des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen richtet sich gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC nach Art. 11 EMRK und darf, wie aus Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRC hervorgeht, keinen geringeren Schutz bieten als das Recht auf kollektive Maßnahmen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention. Deshalb richten sich die Beschränkungsmöglichkeiten des Art. 28 Var. 2 GRC nach Art. 52 Abs. 3 GRC in Verbindung mit Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK und subsidiär nach Art. 52 Abs. 1 GRC. Eingriffe der Gemeinschaft müssen demnach gesetzlich vorgesehen und verhältnismäßig sein, einem der in Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK genannten Ziele dienen und den Wesensgehalt des Grundrechts aus Art. 28 Var. 2 GRC wahren. Nach seinem persönlichen Schutzbereich wendet sich Art. 28 Var. 2 GRC an Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie an Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen. Der Begriff des Arbeitnehmers richtet sich nach den vom EuGH zur Arbeitnehmerfreizügigkeit entwickelten Maßstäben, so dass das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen grundsätzlich für jede Person gilt, die während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Das umfasst Beschäftigungsverhältnisse, die auf einem öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnis beruhen, setzt aber nicht voraus, dass die betreffende Person Unionsbürger ist. Eine Arbeitnehmerorganisation ist demgegenüber jeder auf der Grundlage des Art. 12 Abs. 1 GRC erfolgende, freiwillige und repräsentative Zusammenschluss von Arbeitnehmern zur Verfolgung wirtschaftlicher und sozialer Interessen, der als
Schlussbetrachtung
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verantwortliche Einheit im Rechtsverkehr auftritt. Der sachliche Schutzbereich des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen umfasst zum einen den in Art. 28 Var. 2 GRC ausdrücklich genannten Streik, aber auch die Aussperrung. Mit dem Merkmal des Interessenkonflikts verlangt Art. 28 Var. 2 GRC eine zwischen den Arbeitgebern und Arbeitnehmern bestehende Regelungsstreitigkeit. Aus dem Umstand, dass das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen der Überwindung des Machtgefälles zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern dient und Art. 28 Var. 2 GRC insoweit auf das Merkmal des Interessenkonflikts aus Art. 6 Nr. 4 ESC Bezug nimmt, folgt, dass das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen nicht den Arbeitskampf um Rechtsstreitigkeiten, den politischen Arbeitskampf oder Sympathiearbeitskämpfe schützt. Die Beschränkung des Art. 28 Var. 2 GRC folgt bezüglich des Gesetzesvorbehalts den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zur EMRK entwickelten Maßstäben, weshalb der Gesetzesvorbehalt der Gemeinschaftsgrundrechte in erster Linie als materielle Bestimmtheitsanforderung zu verstehen ist. Deswegen kann eine ständige höchstrichterliche Rechtsprechung eine das Gemeinschaftsgrundrecht einschränkende Rechtsvorschrift darstellen. Eine das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen einschränkende nationale Gepflogenheit ist jede autonom gesetzte Norm, die durch ein Verhalten geschaffen worden ist, das seinerseits in den Schutzbereich eines Gemeinschaftsgrundrechts fällt. Hierzu zählen Tarifvertragsabschlüsse und die Satzungsgebung nationaler Koalitionen, nicht aber der Abschluss einer Betriebsvereinbarung oder – wegen des besonderen Zwecks des Art. 28 Var. 2 GRC – eines Arbeitsvertrages.
III. Die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen auf der europäischen Ebene Auf der Gemeinschaftsebene beendet die Anerkennung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen die seit mehreren Jahrzehnten diskutierte Streitfrage nach einem Streikrecht der europäischen Beamten und sonstigen Bediensteten der Gemeinschaft. Darüber hinaus setzt die Anwendung des Art. 28 Var. 2 GRC auf der Gemeinschaftsebene nicht voraus, dass der betreffende Arbeitskampf auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtet ist. Wegen des Zusammenhangs zwischen Arbeitskampf und Tarifvertrag, der sich auch auf der Gemeinschaftsebene nachweisen lässt, kommt ein europäischer Arbeitskampf am ehesten dann in Betracht, wenn damit der Abschluss eines unter dem Schutz des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen stehenden europäischen Tarifvertrages erzwungen werden soll. Wegen des in Art. 28 Var. 1 GRC enthaltenen Merkmals der geeigneten Ebene kann das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollek-
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Schlussbetrachtung
tive Verhandlungen auf der europäischen Ebene nur insoweit ausgeübt werden, als im sonstigen Gemeinschaftsrecht kollektive Verhandlungen und der Abschluss von Tarifverträgen auf der europäischen Ebene vorgesehen sind; Art. 28 Var. 1 GRC verhält sich insoweit gemeinschaftsrechtsakzessorisch. Die Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtskonvents weisen darauf hin, dass es sich beim Sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene um kollektive Verhandlungen im Sinne des Art. 28 Var. 1 GRC handelt. Das läuft der herrschenden Meinung im deutschen Schrifttum zuwider, die den Sozialen Dialog zu Unrecht für eine organisationsrechtliche Modifikation des gemeinschaftlichen Rechtssetzungsverfahrens hält. Die europäischen Sozialpartner gestalten die zweiseitigen Verhandlungen nach Art. 139 Abs. 1 EG vollständig autonom und können entgegen der nahezu allgemeinen Auffassung im deutschen Schrifttum auf der Grundlage des Art. 139 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 EG Vereinbarungen abschließen, die ihre jeweiligen Mitglieder vorbehaltlich entgegenstehender mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten zum Abschluss eines Tarifvertrages verpflichten. Damit sind alle Voraussetzungen, die Art. 28 Var. 1 GRC an einen europäischen Tarifvertrag stellt, erfüllt. Deswegen sind die autonomen Sozialpartnervereinbarungen, die auf der Ebene der Mitgliedstaaten durchgeführt werden, als unter dem Schutz des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Verhandlungen stehende europäische Tarifverträge anzusehen. Bei der in Art. 139 Abs. 2 Satz 1 EG vorgesehenen Durchführung von Sozialpartnervereinbarungen auf der Gemeinschaftsebene durch Beschluss des Europäischen Rates handelt es sich um eine Erstreckung tarifvertraglicher Normen auf alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Gemeinschaft, die einerseits auf dem Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Verhandlungen und andererseits auf der doppelt subsidiären Zuständigkeit der Gemeinschaft für die Regelung der EG-Sozialpolitik beruht. Sie ist deswegen mit der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG vergleichbar. Gleichwohl kann der Abschluss einer Sozialpartnervereinbarung auf der Gemeinschaftsebene nicht mit kollektiven Maßnahmen nach Art. 28 Var. 2 GRC erzwungen werden. Dies folgt zwar entgegen einer verbreiteten Annahme nicht etwa schon aus dem Wortlaut des Art. 139 Abs. 1 EG oder aus der Kompetenzverteilung nach Art. 137 Abs. 5 EG, sondern vielmehr aus dem Umstand, dass es im Rahmen des Sozialen Dialogs an einem Interessenkonflikt im Sinne des Art. 28 Var. 2 GRC fehlt. Da die Rechtssetzungszuständigkeit an die Kommission zurückfällt, wenn sich die europäischen Sozialpartner nicht einigen können, mangelt es an einer von Art. 28 Var. 2 GRC vorausgesetzten Regelungsstreitigkeit. Eine Befugnis zum Abschluss von Sozialpartnervereinbarungen außerhalb des Kompetenzbereichs der Gemeinschaft sieht Art. 139 EG trotz seiner insoweit missverständlichen Formulierung nicht vor. Darüber hinaus sind kollektive Maßnahmen auf der europäischen Ebene wegen der uneinheitlichen Wirkung des Art. 28 Var. 2 GRC in den Mitgliedstaaten nicht geeignet, um einen Abschluss im Sozialen Dialog zu erzwingen.
Schlussbetrachtung
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IV. Die Anwendung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen auf nationaler und transnationaler Ebene In Deutschland findet Art. 28 Var. 2 GRC nur bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts Anwendung. Die einzige nationale Rechtsvorschrift, die in einem Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsrecht steht und ein kollektives Vorgehen erlaubt, ist § 613a Abs. 6 BGB. Dennoch findet Art. 28 Var. 2 GRC auf den kollektiven Widerspruch gegen den Betriebsübergang keine Anwendung, weil es sich bei § 613a Abs. 6 BGB nicht um eine normative Ergänzung der Betriebsübergangsrichtlinie handelt. Darüber hinaus bilden die Rechtsprechungen des Bundesarbeitsgerichts sowie des Bundesverfassungsgerichts zum Arbeitskampfrecht eine einzelstaatliche Grundrechtsschranke in Form nationaler Rechtsvorschriften, da das Arbeitskampfrecht in Deutschland auf der verfassungsrechtlich anerkannten Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG durch Richterrecht beruht. Es ist ferner anzunehmen, dass die Durchführung grenzüberschreitender Arbeitskampfmaßnahmen nicht von der in Art. 51 Abs. 1 GRC genannten Voraussetzung und damit nicht von der mitgliedstaatlichen Durchführung des Gemeinschaftsrechts abhängt. Obwohl insoweit eine Vielzahl möglicher Sachverhaltsgestaltungen in Betracht kommt, richtet sich das anzuwendende Arbeitskampfrecht grundsätzlich nach dem Ort, an dem die jeweilige Kampfmaßnahme erfolgt. Demgemäß unterliegen transnationale Arbeitskämpfe ebenso wie Arbeitskämpfe auf der europäischen Ebene den Einschränkungen durch einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten, so dass die Anerkennung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen insoweit ebenfalls nicht zu einer Veränderung der bereits geltenden Rechtslage führt. V. Neuerungen durch den Vertrag über eine Verfassung für Europa Der Verfassungsvertrag lässt die Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Union im Bereich des Arbeitskampfrechts unberührt und macht das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen in Art. II-88 Var. 2 EVV zum verbindlichen europäischen Verfassungsrecht. Zugleich wird die Union nach Art. I-9 Abs. 2 EVV unmittelbar an die Gewährleistung des Art. 11 Abs. 1 EMRK gebunden. Insgesamt kommt es dadurch aber nicht zu einem im Vergleich zur bestehenden Rechtslage verstärkten Schutz des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen. In der Verfassung geht aus der Vorschrift des Art. II-112 Abs. 6 EVV im Vergleich zu Art. 52 GRC lediglich klarer hervor, dass Einschränkungen des Unionsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen durch einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten keinen unionsrechtlichen Schranken-Schranken unterliegen.
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Schlussbetrachtung
Der Europäische Verfassungsvertrag klärt im Übrigen eine Reihe von Zweifelsfragen hinsichtlich des Sozialen Dialogs auf der europäischen Ebene, ohne mit der neuen Regelung in Art. I-48 EVV Veränderungen in der Sache vorzunehmen. VI. Zum Wert und Nutzen des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen Auf der Grundlage dieses Ergebnisses ist zunächst festzustellen, dass mit der Anerkennung eines Grundrechts auf kollektive Maßnahmen nicht notwendigerweise ein Eingriff in die mitgliedstaatlichen Kompetenzen zur Regelung des Arbeitskampfrechts verbunden ist und eine gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung der einzelstaatlichen Arbeitskampfordnungen nicht befürchtet werden muss. Wegen des begrenzten Anwendungsbereichs, den das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen nach dem derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts hat und nach dem Europäischen Verfassungsvertrag haben wird, ist vielmehr danach zu fragen, welchen Zweck ein solches Gemeinschaftsgrundrecht überhaupt haben kann. Denn im Grundrechtskonvent war nicht nur die Aufnahme sozialer Grundrechte in die Charta, sondern vor allem die Anerkennung eines Grundrechts auf kollektive Maßnahmen umstritten.1 Immerhin hatte der Europäische Rat dem Grundrechtskonvent in seinem Kölner Mandat aufgegeben, nur solche sozialen Grundrechte zu berücksichtigen, die nicht nur Ziele für das Handeln der Union beinhalten, und die Gegner der Aufnahme sozialer Grundrechte machten im Grundrechtskonvent geltend, dass der gemeinschaftliche Grundrechtsschutz insgesamt Schaden nehmen könnte, wenn sich in der Charta nicht justiziable „Sozialverheißungen“ finden würden.2 Insoweit ist festzustellen, dass die Gemeinschaft wegen ihrer Unzuständigkeit für das Arbeitskampfrecht das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen nur unter dem unbeschränkten Vorbehalt einzelstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten gewährleisten kann. Ein Anwendungsbereich des Art. 28 Var. 2 GRC auf gesamteuropäischer Ebene ist nicht ersichtlich und die Mitgliedstaaten sind nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC nur bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts gebunden. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse scheint die von einer Kodifizierung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen ausgehende Gefahr nicht den Mitgliedstaaten, sondern dem Grundrechtsschutz der 1 BMA – Braibant, Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 259 (261 f.). 2 Vgl. statt aller: Gaitanides/Kadelbach/Iglesias – Weiss, Europa und seine Verfassung, S. 589 (592 f.). Zur rechtspolitischen Kritik an den sozialen Grundrechten der Charta siehe: Beckmann/Dieringer/Hufeld – Gündisch, Eine Verfassung für Europa, S. 429 (433 f.); BMA – Heinze, Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 227 (229 ff.).
Schlussbetrachtung
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Gemeinschaft zu drohen. Die Problematik des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen in Art. 28 Var. 2 GRC liegt also nicht in der Verdrängung nationaler Arbeitskampfsysteme, sondern darin, dass der schmale Anwendungsbereich des Grundrechts Zweifel an der Seriosität des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes aufkommen lassen könnte.3 Jedenfalls liegt die Parallele zu den Grundrechten in der Weimarer Reichsverfassung, die lediglich uneinklagbare Programmsätze blieben, nicht fern. Darauf ist erstens zu entgegnen, dass Art. 28 Var. 2 GRC die durch den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts entstehende Lücke im Grundrechtsschutz systemkonform schließt und den nationalen Arbeitskampfparteien das notwendige Abwehrrecht gibt, mit dem sie sich gegen Eingriffe der Gemeinschaft in ihre grundrechtlich geschützte Sphäre und gegen Kompetenzübergriffe der Gemeinschaft zur Wehr setzen können. Diese volljustiziable Abwehrfunktion des Grundrechts ist in Bezug auf die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten unproblematisch und rechtfertigt bereits die Anerkennung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen. Zweitens sollte die Charta bei einer ausstehenden und absehbaren Erweiterung der Gemeinschaftskompetenzen vor Modifikationen bewahrt bleiben. Da die zukünftige Entwicklung der europäischen Integration schwerlich zu prognostizieren ist, empfiehlt es sich, im Grundrechtskatalog der Gemeinschaft möglichst keine „weißen Flecken“ entstehen zu lassen. In dieser Hinsicht kommt Art. 28 Var. 2 GRC eine „Vorratsfunktion“ zu, die künftige Eingriffspotentiale der Gemeinschaft in die Arbeitskampffreiheit vorwegnimmt und Anpassungsbedarf in der Zukunft ausschließt.4 Dass die Ausübung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen im Übrigen schon in naher Zukunft möglich sein könnte, zeigt ein Blick in die Sozialagenda der Kommission, in der sie die Bereitstellung eines optionalen Rahmens für transnationale Kollektivverhandlungen auf Unternehmens- oder auf Branchenebene angekündigt hat.5 Die von der Kom3 Heinze (in: BMA, Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 227, 229) hat die Aufnahme eines Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen in die Grundrechtecharta noch vor ihrer feierlichen Proklamation als „intellektuell unseriös“ zurückgewiesen und die mögliche Anwendung auf das Normsetzungsverfahren nach Art. 139 EG als „rechtspolitische Zumutung“ bezeichnet. 4 BMA – Engels, Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 247 (252); kritisch hingegen: Blank – Hirsch, Soziale Grundrechte in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 11 (14). 5 KOM (2005) 33 endg., S. 9. Der „optionale Rahmen“ soll Unternehmen und Branchen bei der Bewältigung von Problemen in den Bereichen Arbeitsorganisation, Beschäftigung, Arbeitsbedingungen oder Fortbildung helfen und dazu beitragen, einen „echten europäischen Arbeitsmarkt“ zu schaffen. Die Kommission plant die Annahme eines Vorschlags, der darauf abzielt, den Sozialpartnern ein Instrument an die Hand zu geben, das es ihnen ermöglicht, grenzübergreifend Kollektivverhandlungen zu führen und die dabei erzielten Ergebnisse zu formalisieren. Den Sozialpartnern soll es überlassen bleiben, ob sie von diesem Instrument tatsächlich Gebrauch machen.
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Schlussbetrachtung
mission angedachte Konzeption eines „freiwilligen“ europäischen Tarifrechts schließt es nicht aus, dass damit ein mögliches Arbeitskampfziel auf der europäischen Ebene geschaffen wird, welches schon bald die Ausübung des Gemeinschaftsgrundrechts auf kollektive Maßnahmen gestattet. Drittens hat Art. 28 Var. 2 GRC die in der Präambel der Grundrechtecharta aufgeführte Funktion, den gemeinschaftlichen Grundrechtsstandard „sichtbarer“ zu machen. Die Dokumentationsfunktion des Gemeinschaftsgrundrechts erlaubt es auf einer visiblen Grundlage in einen europäischen Grundrechtsdiskurs einzutreten, dem sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesverfassungsgericht bereits angeschlossen haben.6 Art. 28 Var. 2 GRC bereichert diesen Diskurs um Fragen des grundrechtlichen Schutzes von Arbeitskampfmaßnahmen und kann den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen damit einen wertvollen Anreiz und Impuls geben.7 Viertens und letztens hat Art. 28 Var. 2 GRC eine nicht zu unterschätzende Außenwirkung. Ein weiteres Chartagrundrecht, das wegen des Ungleichlaufs von grundrechtlicher Bindung und sachlicher Zuständigkeit der Gemeinschaft nur äußerst begrenzte Wirkungen entfaltet, ist das in Art. 2 Abs. 2 GRC enthaltene Verbot der Todesstrafe. Wegen der Kompetenzen, die der Gemeinschaft zustehen, ist ein Verstoß der Gemeinschaft gegen Art. 2 Abs. 2 GRC praktisch ausgeschlossen. Da also wegen des Kompetenzzuschnitts der Gemeinschaft die Einführung der Todesstrafe ohnehin nicht zu befürchten ist, wurde über die Aufnahme des Art. 2 Abs. 2 GRC im Grundrechtskonvent genauso gestritten, wie über die Aufnahme des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen.8 Dass es zu der in Art. 2 Abs. 2 GRC befindlichen Vorschrift gekommen ist, beruht vor allem darauf, dass damit ein an Drittstaaten adressiertes Signal gesetzt werden sollte. Insbesondere potentiellen Beitrittskandidaten sollte verdeutlicht werden, dass die Abschaffung der Todesstrafe Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft ist.9 Bei Art. 2 Abs. 2 GRC handelt es sich bildlich gesprochen um ein „Leuchtturmgrundrecht“, das für die Grundrechtsträger unbedeutend ist, aber den gemeinsamen Grundrechtsstandard gegenüber Drittstaaten nach außen zum Ausdruck bringt. In dieser Funktion stimmen Art. 2 Abs. 2 GRC und Art. 28 Var. 2 GRC überein, weil Beitrittskandidaten nach Art. 49
6 EGMR (GrK), 11.7.2002, App. 25680/94, Rn. 41, 80 (I./United Kingdom); 11.7. 2002, App. 28957/95, Rn. 58, 100 (Goodwin); BVerfGE 107, 395 (408 f.); 110, 339 (342); BVerfG, EuR 2002, S. 236 (238). 7 Erfurter Kommentar – Dieterich, Art. 9 GG, Rn. 104. 8 Meyer – Borowsky, GRC, Art. 2, Rn. 18. 9 Meyer – Borowsky, GRC, Art. 2, Rn. 21; vgl. auch BMA – Weiss, Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 237 (239). Der Abgeordnete Friedrich (EP, D) forderte die Aufnahme des Verbots der Todesstrafe in die Charta deshalb als „Botschaft und Bekenntnis“; vgl. Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 171.
Schlussbetrachtung
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EU die Gemeinschaftsgrundrechte achten müssen, um der Gemeinschaft beitreten zu können. Art. 28 Var. 2 GRC verdeutlicht die gemeinsame Grundrechtsüberzeugung der Mitgliedstaaten auf der Gemeinschaftsebene unbeschadet des Umstandes, dass die arbeitskampfrechtlichen Garantien der Mitgliedstaaten mitunter erheblich voneinander abweichen.10 Das Gemeinschaftsgrundrecht auf kollektive Maßnahmen ist integraler Bestandteil des Kanons sozialer Rechte in Europa und nicht hinwegzudenkender Teil des europäischen Sozialmodells.
10 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 126; vgl. auch Meyer – Borowsky, GRC, Art. 51, Rn. 43.
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Verzeichnis der Kommissionsdokumente KOM (1989) 248 endgültig, 20.5.1989, Vorentwurf: Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte. KOM (1989) 568 endgültig, 5.12.1989, Mitteilung der Kommission über ihr Aktionsprogramm zur Anwendung der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte. KOM (1993) 600 endgültig, 14.12.1993, Communication concerning the application of the Agreement on social policy. KOM (1996) 448 endgültig, 18.9.1996, Commission Communication concerning the Development of the Social Dialogue at Community level. KOM (1998) 322 endgültig, 20.5.1998, Anpassung und Förderung des Sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene. KOM (1999) 203 endgültig, 28.4.1999, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge. KOM (2000) 559 endgültig, 13.9.2000, Mitteilung der Kommission zur Grundrechtecharta der Europäischen Union, Vorlage von Herrn Vitorino im Einvernehmen mit dem Präsidenten. KOM (2000) 644 endgültig, 11.10.2000, Mitteilung der Kommission zum Status der Grundrechtecharta der Europäischen Union. KOM (2001) 160 endgültig, 22.3.2001, Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 2679/98. KOM (2002) 341 endgültig, 26.6.2002, Mitteilung der Kommission, Der europäische soziale Dialog, Determinante für Modernisierung und Wandel. KOM (2004) 2 endgültig/2, 25.2.2004, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt. KOM (2004) 557 endgültig, 12.8.2004, Mitteilung der Kommission, Partnerschaft für den Wandel in einem erweitertem Europa – Verbesserung des Beitrags des europäischen sozialen Dialogs. KOM (2005) 32 endgültig, 8.2.2005, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Durchführung der Vereinbarung über bestimmte Aspekte des Einsatzbedingungen des fahrenden Personals im interoperablen grenzüberschreitenden Verkehr zwischen der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) und der Gemeinschaft der Europäischen Bahnen (CER). KOM (2005) 33 endgültig, 9.2.2005, Mitteilung der Kommission, Sozialpolitische Agenda.
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Sachverzeichnis Abkommen über die Sozialpolitik 66, 256, 267 Abwehranspruch 72, 77, 93 allgemeiner Grundsatz des Arbeitsrechts 199 Arbeitgeberorganisation 161 – Sozialpartner 236 Arbeitnehmerbegriff 148 Arbeitnehmerfreizügigkeit 150 Arbeitnehmerorganisation 156 – Sozialpartner 236 Arbeitskampf, Geschichte 26 Arbeitskampffreiheit 72 Arbeitskampfstatistik 26 Arbeitskampfstatut 375 Arbeitskampfziel 207 Arbeitsordnungsgesetz 28 Asylrecht 120 Auslegungsgrundsätze 115, 132, 142 Aussperrung 102, 163 Bestimmtheitsgebot 172 Betriebsblockade 164 Betriebsrat 100 Betriebsübergang 364 Boykott 164 doppelte Subsidiarität 244, 300 EG-Ausländer 154 EG-Sozialcharta 33 Einstrahlung 378, 381 einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten 112 – doppelte Schranke 125 – EG-Sozialcharta 119 – Gepflogenheiten 178
– Gesetzesvorbehalt 126 – Rechtsvorschriften 177 – Verfassungsvertrag 196 – Verweisungsinterpretation 114 – vorbehaltlose Grundrechtsschranke 129 Entsendung 377, 380 europäische Arbeitskämpfe 106 europäische Beamte 198 Europäische Menschenrechtskonvention – Arbeitnehmerbegriff 153 – Gesetzesvorbehalt 140, 171 – Gewerkschaftsbegriff 158 – Grundrechtsschranke 119, 139 – Human Rights Act 47 – Koalitionsfreiheit 52 – kollektive Maßnahmen 52 – Leistungsanspruch 76 – Rs. Wilson 326 – Schutzbereich 137 Europäische Sozialcharta – Aussperrung 163 – Grundrechtsschranke 141 – Interessenkonflikt 166 – Recht auf kollektive Maßnahmen 56 – Sympathiearbeitskampf 168 – Tarifkonflikt 71, 207 Europäischer Betriebsrat 218 europäischer Demonstrationsstreik 353 Europäischer Tarifvertrag 210, 286 Friedenspflicht 180, 350 geeignete Ebenen 68, 210 – Kollektivverhandlungen 221 – Schutzbereich 220 – Sozialer Dialog 222
Sachverzeichnis – Unternehmensebene 215 Gemeinschaftsgrundrechte – Begründung 35 – Bindung der Mitgliedstaaten 93 – Durchführung des Gemeinschaftsrechts 94 – Einschränkung von Grundfreiheiten 95, 102 – Funktion 60 – Grundsätze 191 – Rechtserkenntnisquellen 35 Gemeinschaftskompetenzen – Arbeitskampfrecht 61 – Auslegung 63 – Grundrechte 62 – Sozialer Dialog 234, 325 – Tarifvertragsrecht 66 Gesetzesvorbehalt 170 Gewerkschaftsbegriff 156 Grundfreiheiten, Schutzpflichten 78 Grundgesetz, Koalitionsfreiheit 204 Grundrecht auf Anhörung und Unterrichtung 211, 219 Grundrecht auf kollektive Maßnahmen – Ausgestaltungsbedürftigkeit 73 – Europäisches Primärrecht 133 – Gemeinschaftskompetenzen 64, 91 – Gewährleistungsinhalt 72 – Zweck 147 Grundrechtecharta – Entstehungsgeschichte 38 – Erläuterungen 38, 111, 190, 219 – Interinstitutionelle Vereinbarung 39 – Mandat von Köln 72 – Rechtlicher Status 39 – Rechtserkenntnisquelle 41 – Regelungsvorbehalte 121 – Soziale Grundrechte 44 Grundrechtseingriff 78, 88 IAO-Übereinkommen Nr. 87 56 Implied-powers 63 Inhalts- und Schrankentransfer 134, 189
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Interessenkonflikt 165 – Tarifkonflikt 70 IPWSKR – Grundrechtschranken 119 – Recht auf kollektive Maßnahmen 58 Kollektive Maßnahmen, Begriff 164 kollektive Verhandlungen – Begriffsmerkmale 235 – Tarifautonomes System 229 kollektiver Widerspruch 365 Kollision mit Grundfreiheiten 79, 83 Kompetenzakzessorietät 70 Korporatismus 229 Laval 85 Leistungsanspruch 73, 106, 110, 131 Leuchtturmgrundrecht 392 Massenkündigung 164 Negative Kompetenznorm 90 normative Ergänzung des Gemeinschaftsrechts 363 Normausgestaltungsprärogative 244 öffentlich-rechtliche Beschäftigungsverhältnisse 151 ordre public-Vorbehalt 378 politischer Arbeitskampf 26, 167, 344 praktische Konkordanz 84 Rechtsstreitigkeiten 165 Reichszunftordnung 26 Repräsentativität 160, 237, 278 Richterrecht 173, 368 Richtlinienumsetzung 360 Schmidberger 81 Societas Europaea 220 sonstige Bedienstete 203
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Sachverzeichnis
soziale Grundrechte 30, 169 Sozialer Dialog – Arbeitskampf 317, 343 – Arbeitskampfführung 351 – doppelte Subsidiarität 244 – Einigungszwang 335 – geschichtliche Entwicklung 310 – Grundrecht auf Anhörung und Unterrichtung 219 – Interessenkonflikt 336 – Kampfbündnis 348 – kollektive Verhandlungen 223 – korporatistisches Rechtssetzungsmodell 231 – Moderation 315 – Nationale Koalitionsfreiheit 346 – paritätische Ausschüsse 331 – Rechtssetzungskompetenzen 336, 341 – Struktur 224 – Tarifvertragssystem 232 – Übernahmemitteilung 227, 246, 334 – Verhandlungsimparität 339 Sozialpartner 236, 237 – Anerkennungsverfahren 329 – Durchführungsfähigkeit 278 – Satzung 262 Sozialpartneranhörung 225, 245 Sozialpartnervereinbarung – Allgemeinverbindlicherklärung 296 – Außenseiter 298 – Aufhebung 302 – Bindung der Gemeinschaftsorgane 292 – Demokratische Legitimation 304 – Durchführung 291 – Gesamtrepräsentativität 306 – Normenhierarchie 300 – Ratsbeschluss 303, 355 Sozialpartnervereinbarung (allgemein) – Abschluss 226
– Durchführung 226 – Europäische Tarifverträge 250 – Grundrechtsbindung 352 – normative Wirkung 251 – Rechtsmissbrauch 248 – Rechtssetzung 243 – Sperrwirkung 247 Sozialpartnervereinbarung, autonome – Durchführung 254 – Durchführungspflicht 259, 275 – Durchsetzung 283 – Effektivität 276 – Europäischer Tarifvertrag 286 – Mandatierung 263, 270 – mehrstufiger Tarifvertrag 259 – Mitgliedstaaten 258 – Modell der parallelen Wirkungsstatute 254 – Praxis 271 – Sanktionierung 284 – Sperrwirkung 269 Sozialpartnerverhandlungen – Beendigung 241 – Durchführung 239 – Einleitung 238 – Gegenstand 239 – Tariffähigkeit 253 – Teilnahme 241 Sozialverheißungen 390 Streik 162 Superrevisionsinstanz 123 Sympathiearbeitskampf 86, 168 Tariffähigkeit 156, 159 Tarifkonflikt 65, 204, 208 transnationaler Arbeitskampf 375, 379 transnationaler Solidaritätsarbeitskampf 378, 382 transnationaler Tarifvertrag 379, 382 Verfassungsvergleichung 45 – Ergebnis 51
Sachverzeichnis Verfassungsvertrag – EMRK-Beitritt 187 – Entstehungsgeschichte 182 – Grundrechtecharta 186 – Nationale Verfassungen 194 – Sozialer Dialog 354 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 176 Verhandlungsimparität 145 Vertrag von Nizza 182
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Viking 84 Völkerrechtliche Verträge 51 Warenverkehrsverordnung (VO 2679/98/ EG) 79 Weimarer Reichsverfassung 27, 390 Wertegemeinschaft 30 Wesensgehaltsgarantie 176 Wirtschaftsverfassung der EG 143