Das Evangelium nach Matthäus: Neubearbeitung
 9783666513411, 9783525513415

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Das Neue Testament Deutsch Neues Göttinger Bibelwerk

herausgegeben von Karl-Wilhelm Niebuhr und Samuel Vollenweider

Teilband 1

Das Evangelium nach Matthäus

Vandenhoeck & Ruprecht

Das Evangelium nach Matthäus

Übersetzt und erklärt von Matthias Konradt

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. I SBN 978-3-525-51341-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Dörlemann Satz, Lemförde. Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Für Beate

VII

Inhalt

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV A Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundcharakteristika des Mt und seine Gliederung . . . . . 2. Grundlinien der mt Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Messias als David- und Gottessohn und die Zuwendung zu Israel und zu den Völkern in der mt Erzählkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der Immanuel und seine Gemeinde . . . . . . . . . . . 2.3 Der Lehrer Jesus und die Tora . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Verfasser und seine Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Matthäus und seine Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ort und Zeit der Abfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.. .. ..

1 1 5

. . . . . .

. . . . . .

5 11 15 17 20 22

Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Die Überschrift (1,1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

I

27 27

B

Der Prolog (1,2–4,16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I 1 Der Stammbaum Jesu (1,2–17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I 2 Geburt, Verehrung, Gefährdung und Bewahrung des David- und Gottessohnes (1,18–2,23) . . . . . . . . . . . . . . . I 2.1 Die Eingliederung des Gottessohnes in die Nachkommenschaft Davids (1,18–25) . . . I 2.2 Die Verehrung des Königs der Juden durch die Magier (2,1–12) . . . . . . . . . . . . . . . . I 2.3 Die Flucht nach Ägypten, der Kindermord zu Betlehem und die Übersiedlung nach Nazaret (2,13–23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I 3 Jesus vor seinem öffentlichen Wirken (3,1–4,16) . . . . . . . . I 3.1 Das Wirken des Täufers (3,1–12) . . . . . . . . . . . I 3.2 Die Taufe Jesu und seine Proklamation als Sohn Gottes (3,13–17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I 3.3 Die Versuchung des Gottessohnes (4,1–11) . . . I 3.4 Jesus, das Licht für Galiläa (4,12–16) . . . . . . . .

31 34 39 42 46 46 51 53 57

VIII II

Inhalt

Das Wirken Jesu in Israel und die Sendung seiner Jünger zu Israel (4,17–11,1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 1 Der Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu (4,17) . . . . . . . II 2 Die Berufung der ersten Jünger (4,18–22) . . . . . . . . . . . . II 3 Einführendes Summarium des Wirkens Jesu (4,23–25) . . . II 4 Jesu vollmächtige Lehre: Die Bergpredigt (5,1–7,29) . . . . . II 4.1 Der erzählerische Anfangsrahmen (5,1f) . . . . . II 4.2 Die Einleitung (5,3–16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 4.2.1 Seligpreisungen (5,3–12) . . . . . . . . . . . . . . . . . II 4.2.2 Die Jünger als Salz der Erde und Licht der Welt (5,13–16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 4.3 Der Hauptteil (5,17–7,12) . . . . . . . . . . . . . . . . . II 4.3.1 Der programmatische Anfangsrahmen: Die Erfüllung von Tora und Propheten und die bessere Gerechtigkeit (5,17–20) . . . . . . II 4.3.2 Die Antithesen (5,21–48) . . . . . . . . . . . . . . . . II 4.3.2.1 Erste Antithese: Vom Töten (5,21–26) . . . . . . . II 4.3.2.2 Zweite Antithese: Vom Ehebruch (5,27–30) . . . II 4.3.2.3 Dritte Antithese: Von der Ehescheidung (5,31f) II 4.3.2.4 Vierte Antithese: Vom Schwören (5,33–37) . . . II 4.3.2.5 Fünfte Antithese: Vom Vergeltungsverzicht (5,38–42) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 4.3.2.6 Sechste Antithese: Von der Feindesliebe (5,43–48) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 4.3.3 Die Gerechtigkeit dient nicht zur Selbstdarstellung vor Menschen (6,1–18) . . . . . . . . . . Das Vaterunser (6,9b–13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 4.3.4 Das Verhältnis der Jünger zum Besitz und die Sorge um die materielle Sicherung der Existenz (6,19–34) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 4.3.5 Vom Richten und von der Zuversicht beim Beten (7,1–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 4.3.6 Der Schlussrahmen: Die Goldene Regel als Summe von Gesetz und Propheten (7,12) . . . . . II 4.4 Schlussmahnungen (7,13–27) . . . . . . . . . . . . . . II 4.4.1 Das enge und das weite Tor (7,13f) . . . . . . . . . . II 4.4.2 Warnung vor den falschen Propheten (7,15–23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 4.4.3 Das Gleichnis vom Hausbau (7,24–27) . . . . . . . II 4.5 Der erzählerische Schlussrahmen (7,28f) . . . . . II 5 Jesu vollmächtiges Handeln (8,1–9,34) . . . . . . . . . . . . . . II 5.1 Jesu heilendes Wirken (8,1–17) . . . . . . . . . . . . II 5.1.1 Die Heilung eines Aussätzigen (8,1–4) . . . . . . .

59 59 60 62 64 65 66 66 71 74 74 77 80 86 89 90 93 96 99 104 110 117 121 123 123 124 128 130 131 131 132

IX

Inhalt

II 5.1.2

Die Heilung des Sohnes des Hauptmanns von Kafarnaum (8,5–13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 5.1.3 Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus und vieler Kranker (8,14–17) . . . . . . . . . . . . . . II 5.2 Die Nachfolge in den Sturm und die Zurückweisung bei den Menschen (8,18–9,1) . . . . . . . II 5.2.1 Nachfolge in den Sturm (8,18–27) . . . . . . . . . . II 5.2.2 Die Heilung der beiden besessenen Gadarener (8,28–9,1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 5.3 Jesu Zuwendung zu Sündern und die Praxis der Jüngergemeinschaft in ihrem Bezug auf Jesus (9,2–17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 5.3.1 Die Vergebung der Sünden (9,2–8) . . . . . . . . . II 5.3.2 Die Berufung des Zöllners Matthäus und die Barmherzigkeit gegenüber den Sündern (9,9–13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 5.3.3 Die Frage nach dem Fasten der Jünger (9,14–17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 5.4 Weitere Heilungen in Israel (9,18–34) . . . . . . . . II 5.4.1 Die Heilung der blutflüssigen Frau und die Auferweckung der Tochter eines Vorstehers (9,18–26) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 5.4.2 Der heilende Davidsohn und die Reaktion auf sein Wirken in Israel (9,27–34) . . . . . . . . . . . . II 6 Abschließendes Summarium des Wirkens Jesu (9,35) . . . . II 7 Die Sendung der Jünger (9,36–11,1) . . . . . . . . . . . . . . . . II 7.1 Die Einleitung zur Aussendungsrede (9,36–10,4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 7.2 Die Aussendungsrede (10,5–42) . . . . . . . . . . . . II 7.2.1 Sendungsauftrag und Verhaltensregeln (10,5–15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 7.2.2 Verfolgung und Bedrängnis der Jünger (10,16–25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 7.2.3 Mahnungen angesichts der Bedrängnis (10,26–39) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 7.2.4 Die Aufnahme der Missionare (10,40–42) . . . . II 7.3 Der Abschluss der Aussendungsrede (11,1) . . . III Zwischen Feindschaft und Messiasbekenntnis. Reaktionen Jesu Wirken in Israel und ihre Folgen (11,2–16,20) . . . . . . III 1 Johannes der Täufer und die Frage nach der Identität (11,2–6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III 2 Der Ruf zur Entscheidung (11,7–30) . . . . . . . . . . . .

133 138 139 140 144 146 146 148 150 151 152 154 157 157 159 161 161 165 169 173 174

auf . . . . 176 Jesu . . . . 177 . . . . 180

X

Inhalt

III 2.1

Die Belehrung der Volksmengen über den Täufer (11,7–15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III 2.2 Das Gleichnis von den spielenden Kindern (11,16–19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III 2.3 Weherufe über galiläische Städte (11,20–24) . . . III 2.4 Der Einladungsruf Jesu (11,25–30) . . . . . . . . . . III 3 Die Verschärfung des Konflikts mit den Pharisäern und die Jüngergemeinschaft als Familie Jesu (12,1–50) . . . . . . . III 3.1 Die Sabbatkonflikte und der heilende Gottessohn (12,1–21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III 3.1.1 Die Auseinandersetzungen mit den Pharisäern über den Sabbat (12,1–14) . . . . . . . . . . . . . . . . III 3.1.2 Der heilende Gottesknecht als Hoffnung für die Völker (12,15–21) . . . . . . . . . . . . . . . . . III 3.2 Jesu Abrechnung mit den böswilligen Pharisäern (12,22–45) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III 3.2.1 Die Beelzebulkontroverse (12,22–37) . . . . . . . . III 3.2.2 Die Zeichenforderung des bösen Geschlechts (12,38–45) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III 3.3 Die wahre Familie Jesu (12,46–50) . . . . . . . . . . III 4 Die Gleichnisrede (13,1–52) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III 4.1 Die Rede in Gleichnissen zu den Volksmengen (13,1–35) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III 4.1.1 Das Gleichnis vom vierfachen Acker und der Sinn der Gleichnisrede (13,1–23) . . . . . . . . III 4.1.2 Die Gleichnisse vom Unkraut unter dem Weizen, vom Senfkorn und vom Sauerteig (13,24–35) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III 4.2 Die Weiterführung der Rede vor den Jüngern (13,36–52) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III 4.2.1 Die Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen (13,36–43) . . . . . . . . . . . . . III 4.2.2 Die Gleichnisse vom Schatz im Acker, von der Perle und vom Schleppnetz (13,44–50) . . . . . . . III 4.2.3 Das Gleichnis vom Hausherrn (13,51f) . . . . . . . III 5 Die Vollmacht des Gottessohnes und die weitere Profilierung der Reaktionen auf sein Wirken (13,53–16,12) III 5.1 Zurückweisung und Gefährdung (13,53–14,12) . III 5.1.1 Die Zurückweisung Jesu in Nazaret (13,53–58) III 5.1.2 Das Urteil des Herodes Antipas über Jesus und der Tod Johannes des Täufers (14,1–12) . . . III 5.2 Jesu Erweis seiner göttlichen Vollmacht (14,13–36) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180 183 185 187 190 190 191 196 198 199 203 206 207 209 209 217 221 221 224 226 227 227 227 229 232

Inhalt

III 5.2.1 III 5.2.2 III 5.3

Die Speisung der Fünftausend (14,13–21) . . . Der Seewandel Jesu (14,22–36) . . . . . . . . . . Der Streit mit den Pharisäern und Schriftgelehrten über die Reinheit (15,1–20) . . . . . . III 5.4 Die Sendung Jesu zu Israel und die Universalität des Heils (15,21–39) . . . . . . . . III 5.4.1 Die Heilung der Tochter der kanaanäischen Frau (15,21–28) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III 5.4.2 Die Speisung der Viertausend (15,29–39) . . . III 5.5 Die zweite Zeichenforderung und die Warnung der Jünger vor der Lehre der Pharisäer und Sadduzäer (16,1–12) . . . . . . . III 6 Das Gottessohnbekenntnis des Petrus und die Verheißung an ihn (16,13–20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV Die Passion als zentrales Moment des Weges des Messias – Leiden und Dienst als Signaturen der Christusnachfolge (16,21–20,34) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV 1 Die erste Leidens- und Auferweckungsankündigung, der Petrustadel und die Kreuzesnachfolge (16,21–28) . . . . IV 2 Jesu kommende Herrlichkeit und das Unvermögen der kleingläubigen Jünger angesichts der Abwesenheit Jesu (17,1–20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV 2.1 Die Verwandlung des Gottessohnes und das Leiden der Boten Gottes (17,1–13) . . . . . IV 2.2 Die Heilung des mondsüchtigen Kindes und der Kleinglaube der Jünger (17,14–20) . . . . . IV 3 Die zweite Leidens- und Auferweckungsankündigung (17,22f) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV 4 Das Leben und Handeln der Jünger im Lichte des Königtums Gottes (17,24–20,16) . . . . . . . . . . . . . . . . IV 4.1 Die Tempelsteuer (17,24–27) . . . . . . . . . . . . IV 4.2 Die Rede über das Gemeinschaftsleben in der Gemeinde (18,1–35) . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV 4.2.1 Grundlegung: Hinwendung zum Niedrigsein (18,1–4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV 4.2.2 Konkretisierungen des Niedrigkeitsethos (18,5–35) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV 4.2.2.1 Die Aufnahme eines Kindes (18,5) . . . . . . . . IV 4.2.2.2 Das Verhalten gegenüber den „Geringen“ (18,6–20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV 4.2.2.2.1 Die Warnung vor der Verführung der „Geringen“ (18,6–9) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI 232 236 240 247 247 250 254 257

265 266 270 271 275 278 279 279 281 283 284 284 285 285

XII

Inhalt

IV 4.2.2.2.2 Das Gleichnis vom verirrten Schaf (18,10–14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV 4.2.2.2.3 Die Zurechtweisung des Sünders und die Vollmacht der Gemeinde (18,15–20) . . . . . . IV 4.2.2.3 Grenzenlose Vergebung auch bei persönlich erlittenem Unrecht (18,21–35) . . . . . . . . . . . IV 4.3 Die Radikalität der Nachfolge und ihre Verheißung (19,1–20,16) . . . . . . . . . . . . . . . IV 4.3.1 Ehe, Ehescheidung und Eheverzicht (19,1–12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV 4.3.2 Die Annahme der Kinder (19,13–15) . . . . . . IV 4.3.3 Reichtum auf Erden oder Schatz in den Himmeln (19,16–26) . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV 4.3.4 Die Verheißung des Heils für die Jünger und das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (19,27–20,16) . . . . . . . . . . . . . . . . IV 5 Die dritte Leidens- und Auferweckungsankündigung, die Frage der Zebedaiden und die Unterweisung über Großsein und Dienen (20,17–28) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV 6 Die Heilung der beiden Blinden bei Jericho (20,29–34) . . V Jesu Abrechnung mit seinen Gegnern und das Endgericht (21–25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 1 Jesu Einzug in Jerusalem und sein Wirken im Tempel (21,1–17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 2 Die Kraft des Glaubens (21,18–22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 3 Die Auseinandersetzungen zwischen Jesus und seinen Gegnern im Jerusalemer Tempel (21,23–22,46) . . . V 3.1 Die Vollmachtsfrage (21,23–27) . . . . . . . . . . V 3.2 Die Parabeltrilogie (21,28–22,14) . . . . . . . . . V 3.2.1 Das Gleichnis von den ungleichen Söhnen (21,28–32) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 3.2.2 Das Winzergleichnis (21,33–46) . . . . . . . . . . V 3.2.3 Das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (22,1–14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 3.3 Die Trilogie von Streitgesprächen (22,15–40) V 3.3.1 Die Steuerfrage (22,15–22) . . . . . . . . . . . . . V 3.3.2 Die Frage der Sadduzäer nach der Auferstehung der Toten (22,23–33) . . . . . . . V 3.3.3 Die Frage nach dem höchsten Gebot (22,34–40) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 3.4 Jesu Frage nach der Sohnschaft des Messias (22,41–46) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

287 289 293 296 296 300 301 306 312 318 320 320 326 327 328 329 330 332 338 343 343 346 348 351

XIII

Inhalt

V 4 Die Rede wider die Schriftgelehrten und Pharisäer (23,1–39) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 4.1 Ruhmsucht versus Geschwisterlichkeit (23,1–12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 4.2 Die sieben Weherufe (23,13–36) . . . . . . . . . . . V 4.3 Die Klage über Jerusalem (23,37–39) . . . . . . . V 5 Überleitung: Jesus verlässt den Tempel (24,1f) . . . . . . . . V 6 Die Rede von den Endereignissen und vom Gericht (24,3–25,46) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 6.1 Die Endereignisse und das Ende (24,3–31) . . . V 6.2 Der unbekannte Zeitpunkt und die Mahnung zur Wachsamkeit (24,32–25,30) . . . . . . . . . . . V 6.2.1 Der unbekannte Zeitpunkt des nahen Endes (24,32–41) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 6.2.2 Die Parusie- und Wachsamkeitsgleichnisse (24,42–25,30) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 6.2.2.1 Das Gleichnis vom Dieb (24,42–44) . . . . . . . V 6.2.2.2 Das Gleichnis vom treuen und vom bösen Knecht (24,45–51) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 6.2.2.3 Das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (25,1–13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 6.2.2.4 Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (25,14–30) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 6.3 Das Weltgericht (25,31–46) . . . . . . . . . . . . . .

. 353 . . . .

354 357 366 368

. 369 . 369 . 376 . 376 . 379 . 380 . 381 . 382 . 385 . 390

VI Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger zur universalen Mission (26,1–28,20) . . . . . . . . . . . VI 1 Einleitung (26,1–16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI 1.1 Jesu Ankündigung seines Todes und der Todesbeschluss der Gegner (26,1–5) . . . . . . . . . . . . . VI 1.2 Die Salbung Jesu in Betanien (26,6–13) . . . . . . VI 1.3 Der Verrat des Judas (26,14–16) . . . . . . . . . . . . VI 2 Das letzte Passamahl Jesu (26,17–29) . . . . . . . . . . . . . . . . VI 3 Die Ansage der Zerstreuung der Jünger und der Verleugnung des Petrus (26,30–35) . . . . . . . . . . . . . . . . . VI 4 Jesus in Getsemani (26,36–56) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI 4.1 Das Gebet Jesu in Getsemani (26,36–46) . . . . . VI 4.2 Die Gefangennahme Jesu (26,47–56) . . . . . . . . VI 5 Der Prozess vor dem Hohen Rat und die Verleugnung des Petrus (26,57–27,2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI 6 Das Ende des Judas und der Kauf des Blutackers (27,3–10) VI 7 Der Prozess vor Pilatus und die Verspottung Jesu (27,11–31) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

396 397 397 399 401 402 409 411 411 414 418 427 431

XIV

Inhalt

VI 7.1 VI 7.2

VI 8 VI 9 VI 10

VI 11

Der Prozess vor Pilatus (27,11–26) . . . . . . . . . Die Verspottung Jesu durch die Soldaten des Pilatus (27,27–31) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der gekreuzigte Gottessohn (27,32–56) . . . . . . . . . . . . . Die Grablegung Jesu (27,57–61) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das bewachte leere Grab (27,62–28,15) . . . . . . . . . . . . . VI 10.1 Die Bewachung des Grabes (27,62–66) . . . . . . VI 10.2 Das leere Grab und die Begegnung der beiden Marien mit Jesus (28,1–10) . . . . . . . . . . . . . . VI 10.3 Die Lüge vom Leichendiebstahl (28,11–15) . . Die Beauftragung der Jünger zur universalen Mission (28,16–20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 431 . . . . .

438 439 449 451 452

. 453 . 456 . 459

Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476

Vorwort

XV

Vorwort Ein Kommentar zu einer der zentralen Schriften des Neuen Testaments, zu denen das Matthäusevangelium zweifelsohne zu rechnen ist, hat in der Regel einen längeren Vorlauf. Dies ist im Falle des vorliegenden Bandes nicht anders. Dabei hat das Matthäusevangelium in den gut zehn Jahren, in denen ich mich ihm in Forschung und Lehre intensiver habe widmen dürfen, für mich nichts an Faszination eingebüßt. Das Schreiben des Kommentars war insofern an erster Stelle eine große Freude. Zu dieser Freude hat auch beigetragen, dass mir, nachdem mir am Anfang vor allem die Begrenzungen des Kommentarformats des NTD (kein Griechisch, keine Fußnoten usw.) vor Augen standen, nach und nach mit den ihm eigenen Herausforderungen die Chancen und Vorzüge deutlich wurden. So folgt etwa daraus, dass die Auseinandersetzung mit der verzweigten Forschungsdiskussion zumeist nicht explizit ausgeführt werden kann, zugleich der Vorzug, dass in der Kommentierung der biblische Text selbst umso mehr im Mittelpunkt steht. An einzelnen Stellen, an denen ich Thesen anderer aufnehme, habe ich aus Gründen der guten wissenschaftlichen Praxis nicht auf Verweise verzichten wollen und, da die Kommentarreihe keine Fußnoten vorsieht, in Absprache mit den Herausgebern Literaturverweise in den Fließtext eingebaut, doch musste dies auf wenige Stellen beschränkt bleiben. Für eine ausführliche Erörterung der exegetischen Diskussion verweise ich auf meine Monographie „Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium“ (WUNT 215, Tübingen 2007), die 2014 in aktualisierter, die neueste Forschung berücksichtigender Fassung auch in englischer Übersetzung erschienen ist („Israel, Church, and the Gentiles in the Gospel of Matthew“), sowie auf die demnächst unter dem Titel „Matthäusstudien“ erscheinende Sammlung meiner Aufsätze zum Matthäusevangelium. Auch ohne explizite Dokumentation der Fachdiskussion bedingt die Umfangsbegrenzung des Kommentars eine Konzentration auf die zentralen exegetischen Aspekte und die theologischen Hauptlinien. Im Laufe der Arbeit am Kommentar ist bei mir zum einen eine lange Liste von Textaspekten entstanden, die ich ausklammern musste oder zu denen ich nicht ins Detail gehen konnte; zum anderen habe ich die Entwürfe zu den einzelnen Perikopen mehrfach durchgesehen und gekürzt. Ich hoffe, dass beides dem Buch zugutegekommen und ein Kommentar entstanden ist, in dem die Leserinnen und Leser einerseits die Aspekte des Textes hinreichend erörtert finden, die für sein Verständnis und die Reflexion der in

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Vorwort

ihm vermittelten theologischen Überzeugungen von Gewicht sind, und dessen Umfang es andererseits ermöglicht, dass er im Studium sowie unter den zeitlichen Bedingungen der Vorbereitung von Unterricht, Predigt oder anderer gemeindlicher Arbeit gewinnbringend benutzt werden kann. Der Kreis derer, denen ich zu danken habe, ist zu groß, um alle namentlich erwähnen zu können. Mit großer Dankbarkeit blicke ich zurück auf Diskussionen in Vorlesungen und vor allem Seminaren zum Matthäusevangelium, die ich seit 2003 gehalten habe, zunächst an der Universität Bern, dann seit 2009 an der Universität Heidelberg. Der Universität Heidelberg habe ich für die Gewährung eines zusätzlichen Forschungssemesters im Wintersemester 2013/14 zu danken, durch das die Fertigstellung des Kommentars erheblich beschleunigt wurde. Im Sommersemester 2014 haben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meines Oberseminars die Zeit genommen, den Entwurf des Kommentarteils akribisch durchzuarbeiten. Den Diskussionen mit ihnen verdanke ich viele hilfreiche Hinweise, ihren E-Mails eine signifikante Reduktion der Tippfehler. Carolin Stalter danke ich zusätzlich für die Durchsicht der Einleitung, Rahel Brandt und Stefan Opferkuch für die Kontrolle der Übersetzung, Rahel Brandt zudem für die Überprüfung der Stellenangaben; Johanna Körner hat auch die Endfassung noch einmal im Ganzen sorgfältig Korrektur gelesen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Für Hilfe bei der Korrektur sowie für die Erstellung des Registers danke ich ferner meiner Mitarbeiterin Annette Dosch, für Unterstützung bei der Beschaffung von Literatur meiner studentischen Hilfskraft Anja Steinberg. Den beiden Herausgebern der Kommentarreihe, Prof. Dr. Karl-Wilhelm Niebuhr (Jena) und Prof. Dr. Samuel Vollenweider (Zürich), danke ich für die konstruktive und äußerst angenehme Zusammenarbeit und ihre hilfreichen Hinweise zum Kommentar, die in die finale Bearbeitung eingeflossen sind. Mein Dank gilt ferner dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, namentlich Herrn Jörg Persch und Herrn Moritz Reissing, für die freundliche und professionelle verlegerische Betreuung des Buches. Nicht zuletzt danke ich meiner Frau Beate für all ihre Unterstützung. Sie hat die Arbeit am Kommentar nicht nur mit viel Verständnis begleitet und war häufig für mich die erste Gesprächspartnerin, mit der ich die Entwürfe zu den einzelnen Perikopen diskutiert habe, sondern sie hat mir zudem auch – trotz eigener vielfältiger Pflichten – immer wieder den Rücken frei gehalten, damit ich am Kommentar arbeiten konnte. Ihr sei dieser Kommentar daher gewidmet. Heidelberg, im November 2014

Matthias Konradt

Grundcharakteristika des Mt und seine Gliederung

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A Einleitung

1. Grundcharakteristika des Mt und seine Gliederung Zu den wichtigsten Einsichten der neueren Matthäusforschung gehört, dass das Mt weit mehr ist als eine Ansammlung einzelner Jesuserzählungen, die mehr oder weniger schlüssig aneinandergereiht wurden. Es zeigt sich vielmehr als ein durchkomponiertes und kunstvoll gestaltetes Ganzes, das ein feines, engmaschiges intratextuelles Netzwerk aufweist. Auf Späteres wird vorausverwiesen, Früheres wird wieder aufgenommen; Konstellationen wiederholen sich, prägen sich auf diese Weise als typisch ein, und zugleich werden solche Wiederholungen in Entwicklungslinien eingebettet, die die Darstellung vorantreiben und ihr Dynamik verleihen. Mit seiner durchdachten Anlage zielt das Mt auf aufmerksame Rezipienten, die das Werk für wert befinden, mehrmals gelesen bzw. gehört zu werden – ansonsten erschließen sich die dichten Verknüpfungen nicht. Dem steht intertextuell zur Seite, dass die mt Jesusgeschichte von 1,1 bis 28,20 mit einem stetigen Bezug auf die Schrift, also das später sogenannte Alte Testament, erzählt wird. Die bekannten Erfüllungszitate (1,22f; 2,15.17 f.23; 4,14–16; 8,17; 12,17–21; 13,35; 21,4f; 27,9f) sind lediglich ein besonders augenfälliger Ausdruck für die Relevanz, die der Schrift in der mt Jesusgeschichte insgesamt zukommt. Ihnen steht nicht nur eine Reihe weiterer expliziter Zitate, sondern vor allem eine Vielzahl von Anspielungen zur Seite, die dazu anleiten, die Jesusgeschichte im Horizont der Schrift zu reflektieren: Die mt Jesusgeschichte erklingt im Resonanzraum der Schrift, und sie gewinnt an Klangfarbe, wenn man sie in diesem Resonanzraum hört. Dabei wird nicht nur das Auftreten Jesu von der Schrift her ausgewiesen und beleuchtet, sondern auch der Widerstand der Autoritäten gegen Jesus konturiert und eingeordnet. In ihnen realisiert sich die Kritik eines Ezechiel oder Jeremia an den schlechten Hirten des Volkes (Ez 34; Jer 23,1–4, s. den Kommentar zu 9,36), und sie gleichen den Gottlosen in Ps 22, die den Gerechten verspotten (s. zu 27,43), um nur zwei Beispiele zu nennen. Verbindet man diese intertextuelle Dimension der mt Jesusgeschichte mit ihrem sozialen Kontext, in welchem die Auseinandersetzung mit pharisäisch dominierten Synagogen eine zentrale Rolle spielt (s. u. unter 3.), zeigen sich die Schriftbezüge als ein wichtiger Teil der kommunikativen Strategie: Über die dichten Rekurse auf die Schrift sollen die Adressaten vergewissert werden, dass die christusgläu-

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Einleitung

bige Gemeinde die wahre Sachwalterin der theologischen Traditionen Israels ist. Der vorliegende Kommentar sucht den beiden genannten Grundcharakteristika Rechnung zu tragen: Zum einen sind die Einzeltexte in den narrativen Duktus des Ganzen einzustellen; das enge Netz von Querbezügen zwischen den einzelnen Texten ist herauszuarbeiten. Zum anderen soll die intertextuelle Dimension der Erzählung zur Geltung gebracht werden. Letzteres geht nicht darin auf, „buchhalterisch“ (wahrscheinliche oder mögliche) Anspielungen zu verzeichnen; einzubeziehen ist vielmehr auch die Frage, wie die Bezugnahmen auf die Schrift die Aussagen des Textes unterstreichen, akzentuieren oder gar anreichern. Als ein drittes wesentliches Charakteristikum ist in der neueren Forschung mit Recht betont worden, dass das Mt eine „inklusive“ Geschichte ist (vgl. z. B. Luz, Evangelium I, 36 f.42–47). Es erzählt zwar eine vergangene Geschichte, aber es erzählt sie auf eine Weise, dass darin die Erfahrungen der Gemeinde ansichtig werden und sich ihre Situation vielfältig spiegelt. So ist z. B. der Kleinglaube als Leitmotiv in der Darstellung des Jüngerverhaltens (s. zu 8,26) transparent für entsprechende Probleme in den mt Gemeinden, und Matthäus’ Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Autoritäten bezieht ihre Schärfe ganz wesentlich aus den Konflikten, mit denen sich der Evangelist und seine Gemeinden konfrontiert sehen. In besonderem Maße gilt dieser „inklusive“ Charakter der mt Jesusgeschichte für die fünf großen Reden (Mt 5–7; 10; 13; 18; 24f), die der Evangelist durch eine stereotyp wiederholte Schlusswendung gekennzeichnet hat (7,28; 11,1; 13,53; 19,1; 26,1). In ihnen öffnet sich die Geschichte direkt auf die realen Adressaten hin: Sie empfangen durch die Bergpredigt (5–7) die nötige ethische Unterweisung für ein Leben nach dem Willen Gottes, werden in der Aussendungsrede (10) über ihren missionarischen Auftrag und die zu erwartenden Widerstände instruiert und in der Rede in Mt 18 über das in der Gemeinde geltende Gemeinschaftsethos orientiert. Fragt man nach dem Aufbau des Mt, so ist eine Grundentscheidung damit getroffen, dass die genannten fünf großen Reden zwar ein ebenso auffälliges wie gewichtiges Charakteristikum darstellen, sich aber nicht als zentrales Kriterium für die Erhebung der Makrostruktur des Mt eignen. Die Gliederung muss sich vielmehr an der Erzählung orientieren. Die fünf Reden sind dabei, wie die folgende Skizze deutlich machen wird, wohlüberlegt in den narrativen Duktus eingebettet; man kann keine Rede mit einer anderen vertauschen. Trotz mancher Kritik hat es sich bewährt, die beiden gleichlautend beginnenden Wendungen „von da an fing Jesus an zu verkündigen …“ (4,17) und „von da an fing Jesus an, seinen Jüngern aufzuzeigen“ (16,21) als grundlegende Gliederungssignale aufzufassen. Diese Zäsurierung ist aller-

Grundcharakteristika des Mt und seine Gliederung

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dings keineswegs so zu verstehen, dass in 4,17–16,20 Thema A und in 16,21–28,20 Thema B verhandelt würde. Vielmehr signalisiert die Wendung an beiden Stellen, dass auf der Basis des Vorangehenden ein neues Moment in die Erzählung eintritt und diese bestimmt. Diese Aspekte werden in 4,17 und 16,21 jeweils überschriftartig benannt. Nachdem der Gottessohn Jesus sich bei der Taufe und der Versuchung als gehorsam erwiesen hat, beginnt er in 4,17 sein öffentliches Wirken, indem er zur Umkehr ruft und die Nähe des Himmelreiches verkündigt. In 16,21 tritt dann auf der Basis der Schilderung dieses Wirkens in 4,17–16,20 mit der ersten Leidensankündigung die Passionsthematik in den Vordergrund, ohne dass das Vorangehende abbricht. Pointiert gesagt: 4,17 und 16,21 sind eher Scharniere als Trennwände. Bei der damit gegebenen Grobgliederung ist allerdings nicht stehen zu bleiben. So ist 4,17–16,20 in die zwei Blöcke 4,17–11,1 und 11,2–16,20 zu unterteilen. Im Zentrum von 4,17–11,1 steht mit 4,23–9,35 eine grundlegende Präsentation des Wirkens Jesu in Israel, die mit der Berufung der ersten Jünger (4,18–22) und der Sendung der Zwölf (9,36–11,1) durch zwei Jüngertexte eingefasst wird, die Matthäus’ ekklesiologisches Anliegen deutlich machen: Die Jünger werden berufen und eingewiesen, um Jesu Werk fortzuführen. Mit der Täuferfrage in 11,2 tritt die Frage nach der Reaktion auf Jesu Wirken stärker in den Vordergrund. Die Feindschaft der Autoritäten tritt nun in massiver Weise hervor (11,16–19; 12,1–14.24–45; 15,1–14; 16,1–12). Die Volksmengen sind aufgerufen, ihr Interesse zur Nachfolge zu verdichten und sich zu entscheiden (11,7–30; 12,43–45); in ihnen keimt die Erkenntnis, dass Jesus der Sohn Davids ist (12,23), und Jesus belehrt sie (15,10f). Zugleich tritt nun aber auch noch deutlicher als zuvor die Differenz zwischen ihnen und den Jüngern hervor, die bereits in 14,33 zur Erkenntnis der Gottessohnschaft Jesu vordringen. Mit dem entsprechenden Bekenntnis des Petrus in 16,16 wird der durch die Täuferfrage eröffnete Bogen geschlossen. Die sich in 16,17–19 anschließende Petrusverheißung macht erneut die für das Mt im Ganzen charakteristische enge Vernetzung von Christologie und Ekklesiologie deutlich. Im Blick auf die fünf Reden ist anzufügen, dass die Gleichnisrede in Mt 13 der Differenzierung zwischen den Jüngern und den Volksmengen zugeordnet ist und die Funktion hat, diese voranzutreiben. In 16,21–28,20 lässt sich 16,21–20,34 als erster Block abgrenzen, dessen Thema durch die drei Leidensankündigungen in 16,21; 17,22f und 20,17–19 bestimmt wird. Jesus befindet sich nun auf dem Weg nach Jerusalem; er geht seiner Passion entgegen. Entsprechend treten in der Jüngerunterweisung die Aspekte des Leidens und des Dienstes als Signaturen der Nachfolge in den Vordergrund. Die Rede über das Gemeinschaftsleben in der Gemeinde in Mt 18 nimmt diese Ausrichtung auf, indem ein Ethos der Niedrigkeit und unbegrenzter Bereitschaft zur Vergebung entfaltet wird.

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Einleitung

Beides steht in direktem Zusammenhang mit dem mt Verständnis des Todes Jesu. In 21–25 folgt in einer wiederum planvoll gestalteten Komposition (Näheres dazu in der Einleitung zu 21–25) die Darlegung von Jesu Wirken in Jerusalem. Sein heilendes Handeln am Tag des Einzugs in die Stadt und in den Tempel (21,14) und seine Lehre im Tempel am darauffolgenden Tag (21,23) werden nun nur noch genannt; im Vordergrund steht der Konflikt mit den Autoritäten und die Abrechnung mit diesen. Passend zum gerichtstheologischen Horizont dieser Abrechnung münden die Kapitel in die Rede über die Endereignisse und das Endgericht (24f) ein. Da dieses auch die Gemeinde betrifft, kommt hier erneut die ekklesiologische Ausrichtung des Mt zum Tragen. In 26–28 folgen schließlich als letzter Teil die Passionsgeschichte und die Ostererzählungen, die in der Beauftragung der Jünger zur universalen Mission gipfeln. Eingeleitet wird das Mt durch einen ausführlichen, in sich zweigliedrigen Prolog. Nach dem Stammbaum und der Kindheitsgeschichte in 1,2–2,23 springt Matthäus in 3,1–4,16 zum Auftreten des Täufers und zur Taufe Jesu durch Johannes, an die sich die Versuchung Jesu in der Wüste und seine Umsiedlung nach Kafarnaum anschließen. Ihren gemeinsamen Nenner finden diese beiden Blöcke darin, dass Jesus hier in für das Folgende grundlegender Weise präsentiert wird, bevor er sein öffentliches Wirken beginnt. Christologisch steht dabei im Zentrum, dass Jesu Messianität durch den Doppelaspekt von David- und Gottessohnschaft bestimmt wird (s. u. unter 2.1). Dem Kommentar wird damit die folgende Grobgliederung zugrunde gelegt: 1,1 Überschrift 1,2–4,16 Prolog: Präsentation Jesu als davidischer Messias und Gottessohn 4,17–11,1 Das Wirken Jesu in Israel und die Sendung seiner Jünger zu Israel 11,2–16,20 Zwischen Feindschaft und Messiasbekenntnis. Reaktionen auf Jesu Wirken in Israel und ihre Folgen 16,21–20,34 Die Passion als zentrales Moment des Weges des Messias – Leiden und Dienst als Signaturen der Christusnachfolge 21,1–25,46 Jesu Abrechnung mit seinen Gegnern und das Endgericht 26,1–28,20 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger zur universalen Mission

Grundlinien der mt Theologie

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2. Grundlinien der mt Theologie Im Folgenden soll nicht der Versuch unternommen werden, eine umfassende Erörterung der mt Theologie zu bieten. Wohl aber soll vorab anhand von drei für Matthäus gewichtigen theologischen Themen ein zusammenhängender Überblick über charakteristische Leitaspekte der theologischen Agenda gegeben werden, die den Evangelisten bei seiner Neufassung der Jesusgeschichte wesentlich bestimmt haben. 2.1 Der Messias als David- und Gottessohn und die Zuwendung zu Israel und zu den Völkern in der mt Erzählkonzeption Die Frage, wie der Übergang von der auf Israel beschränkten Aussendung der Jünger in 10,5f, die im Blick auf Jesu eigenes Wirken in 15,24 ein Pendant findet, zur universalen Sendung in 28,19 zu erklären ist, stellt nicht nur eines der größten Interpretationsprobleme der Matthäusexegese dar, sondern führt zugleich auch in das Zentrum der theologischen Agenda des Evangelisten. Schon der erste Vers des Mt lässt diesen Fokus mit der appositionellen Näherbestimmung von Jesus Christus als Sohn Davids und Sohn Abrahams ansichtig werden: Mit der Präsentation Jesu als des davidischen Messias geht die Betonung der Zuwendung zu Israel einher; mit Abraham aber wird nicht nur die Einstellung Jesu in die Erwählungsgeschichte Israels verstärkt, sondern der Evangelist lässt zugleich auf der Basis des Völkersegens von Gen 12,3 die universale Dimension der Heilszuwendung anklingen. Das „klassische“ und nach wie vor vertretene Modell, dass Matthäus mit dem Ruf des vor Pilatus versammelten Volkes „sein Blut über uns und unsere Kinder“ (27,25) das Gottesvolk im Ganzen mit der Schuld am Tod Jesu behafte, Israel mit seiner (am Ende) kollektiven Ablehnung des zu ihm gesandten Messias sein Erwählungsprivileg eingebüßt habe und 28,19 die Antwort auf dieses Geschehen sei, birgt mannigfaltige Schwierigkeiten. So bleibt erstens nebulös, warum Matthäus das irdische Wirken Jesu über seine Quellen hinaus programmatisch und emphatisch auf Israel beschränkt (s. neben 15,24 z. B. noch 2,6; 4,23.25; 9,33; 15,29–39) – die drei Perikopen, in denen Jesus mit Nichtjuden zu tun hat (8,5–13.28–34; 15,21–28), werden sorgfältig als Ausnahmen herausgearbeitet. Dieses Vorgehen wird erheblich leichter verständlich, wenn sich damit ein positives Anliegen verbindet, zumal Matthäus die Israelkonzentration des irdischen Wirkens Jesu mit der Betonung der davidischen Messianität Jesu auch noch durch eine reflektierte christologische Programmatik fundiert hat. Zu beachten ist zweitens die Art und Weise, wie Matthäus 28,19 vorbereitet hat. Die Sendung zu allen Völkern ist zwar auf der Ebene der er-

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Einleitung

zählten Welt für die Jünger ein neuer Auftrag; für den Leser aber stellt sie sich keineswegs als eine plötzliche Wende dar, sondern sie ist eben von 1,1 an sorgfältig angebahnt, indem ein Deutehorizont über die Erzählung von der Zuwendung zu Israel gespannt wird. Dies geschieht zum einen durch Signale im Prolog, konkret durch die Einfügung von vier nichtjüdischen Frauen in Jesu Stammbaum (1,2–16) und durch die Magiererzählung in 2,1–12, mit der das Motiv der Völkerwallfahrt zum Zion aufgenommen und transformiert wird (s. zu 2,11), zum anderen durch die Erfüllungszitate in 4,15f und 12,18–21, die auf einer metanarrativen Ebene einspielen, dass die mit dem Wirken Jesu verbundene Erfüllung der dem Gottesvolk geltenden Heilsverheißung zugleich der Weg ist, durch den am Ende auch den Völkern das Heil eröffnet wird. Die Zuwendung zu „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (10,6; 15,24) und die Erfüllung der Heilshoffnung der Völker gehören für Matthäus positiv zusammen wie die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Drittens ist die Konfliktkonfiguration differenzierter angelegt, als dies in dem genannten Modell erscheint: Jesus stößt in Israel keineswegs auf eine kollektive Ablehnung; vielmehr legt Matthäus großen Wert darauf, zwischen den Volksmengen auf der einen Seite und den religiösen und politischen Autoritäten samt Jerusalem auf der anderen zu differenzieren. Die Volksmengen reagieren insgesamt positiv auf Jesus. Sie begeben sich in sein Gefolge und werden damit zumindest assoziativ sogar in die Nähe der Jünger gerückt (s. zu 4,25); sie lassen sich von ihm belehren (5,1; 7,28; 15,10) und bringen die Kranken zu ihm (14,13f; 15,30; 19,2). Jesu Taten rufen bei ihnen Furcht (9,8), Verwunderung (9,33; 15,31) und Staunen (12,23) hervor und führen sie zum Lobpreis (9,8; 15,31). Angesichts der vollmächtigen Lehre Jesu geraten sie im positiven Sinn außer sich (7,28; 22,33). Besonders bemerkenswert sind die drei Stellen in 9,33; 12,23; 21,9, in denen der Evangelist die Einschätzung Jesu bei den Volksmengen in wörtlicher Rede darbietet und in denen man eine fortschreitende christologische Erkenntnis ausmachen kann (s. im Kommentarteil zu den genannten Stellen). Die Autoritäten werden hingegen durchgehend in düsteren Farben gezeichnet: Sie haben als Hirten des Volkes versagt (s. zu 9,36) und offenbaren in ihrer Opposition gegen Jesus und seine Jünger ihre abgrundtiefe Bosheit (s. z. B. 12,24–45). Die Stadt Jerusalem, die bei Matthäus keineswegs als Repräsentantin des sonstigen Gottesvolkes fungiert (s. zu 21,9–11), wird von Matthäus in die Phalanx der Autoritäten eingestellt (2,3; 16,21; 21,10f; 23,37–39). Nach der vorangehenden Leserlenkung nimmt in 27,25 das Jerusalemer Volk die Verantwortung für Jesu Tod auf sich. Das Ergebnis ist für Matthäus die Zerstörung der Stadt. Matthäus instrumentalisiert sie zum sichtbaren Beleg dafür, auf wessen Seite Gott steht und dass die, die sich den falschen Autoritäten anvertrauen, das Gericht Gottes erwartet. Vom Ende Israels ist hier hingegen mit keinem

Grundlinien der mt Theologie

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Wort die Rede, und entsprechend ist 28,16–20 auch nicht als Antwort auf die vermeintlich kollektive Ablehnung Jesu in Israel lesbar. Viertens zeigt insbesondere (aber nicht nur) 10,23, dass die Sendung der Jünger zu „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (10,6) eine bis zur Parusie Jesu bleibende Aufgabe darstellt, deren Horizont durch die Einfügung der Liste der zwölf Jünger unmittelbar vor die Aussendungsrede (10,1–4) zum Ausdruck gebracht wird: Es geht um die eschatologische Restitution des Zwölfstämmevolkes. Mit der Konzentration des irdischen Wirkens Jesu auf Israel geht christologisch, wie angedeutet, einher, dass Matthäus die davidische Messianität Jesu zu einem Leitmotiv seiner Jesusgeschichte ausgebaut hat. Nach der Einführung des Motivs in 1,1 erklärt 1,18–25, warum er tatsächlich Davidide ist, obwohl Josef nicht sein leiblicher Vater ist (s. u.). In 2,1–12 bleibt die Davidsohnschaft in der Rede vom „König der Juden“ und durch das Mischzitat aus Mi 5,1 und 2Sam 5,2 in 2,5f präsent. Durch dieses wird zugleich die Hirtenmetaphorik als ein Leitmotiv zur Charakterisierung der Zuwendung Jesu zu Israel exponiert: Jesus ist der davidisch-messianische Hirte seines Volkes (vgl. 15,24). Seine Sendung wird dabei vor dem Hintergrund profiliert, dass sich die Herde (= die Volksmengen in Israel) aufgrund des Versagens der alten Hirten (= der alten Autoritäten) in einem desolaten Zustand befindet (9,36; 10,6; 15,24). Dem fügt sich ein, dass Jesu Davidsohnschaft eng mit seinem heilenden Handeln verbunden wird (9,27; 12,23; 15,22; 20,30f; 21,[9.]15, vgl. Mk 10,46–52). Des Näheren tritt eine auffällige Konzentration auf Blindenheilungen zutage, bei denen eine metaphorische Sinndimension mitschwingt: Jesus heilt die Menschen auch im übertragenen Sinn von ihrer Blindheit, die durch die Autoritäten, die „blinde Führer“ sind (15,14; 23,16.24), verursacht ist. Wichtig ist für Matthäus sodann, dass Jesus anhand seines heilenden Wirkens als der verheißene davidisch-messianische Hirte erkannt werden kann (vgl. 11,2–6) und tatsächlich – von den Volksmengen und den Kindern im Tempel – auch erkannt wird (12,23; 21,9.15). Im Kontext frühjüdischer Messianologie betrachtet setzt Matthäus’ Fokus auf den heilenden Davidsohn zwar einen neuen Akzent, doch lässt sich dessen Genese durch die Anknüpfung an atl.-frühjüdische Heilserwartungen hinreichend erklären (s. zu 11,4f). Die Würdestellung Jesu als messianischer Sohn Davids bildet schließlich auch ein wesentliches Moment im Blick auf die Gegnerschaft, die sich gegen Jesus formiert (2,1–12; 9,27–34; 12,22–24; 21,9–11.15f): Dem davidisch-königlichen Messias müssten sich die Autoritäten unterordnen, doch suchen sie – wie in 2,1–12 König Herodes – durch die Opposition gegen Jesus ihre Stellung zu behaupten. In das Zentrum der mt Konzeption gelangt man, wenn man die zweigliedrige Entfaltung der Messianität Jesu durch das Neben- und Miteinander von David- und Gottessohnschaft in den Blick nimmt. Matthäus konnte

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hier an das im AT vereinzelt aufleuchtende Motiv der Gottessohnschaft des davidischen Herrschers anknüpfen (2Sam 7,11–14; Ps 2,7; Ps 89,27f). Zugleich kommt die Sonderstellung des messianischen Davididen in der Umkehrung der Zuordnung von Davidität und Gottessohnschaft zum Ausdruck. Im Falle Jesu nämlich wird nicht der Spross Davids von Gott als sein Sohn angenommen, sondern nach Mt 1 wird der aus Heiligem Geist gezeugte Gottessohn durch Josef, der, wie 1,20 ausdrücklich festhält, ein Nachfahre Davids ist, in die davidische Linie eingegliedert. Erscheint die Gottessohnschaft damit als das übergreifende christologische Prädikat, so wird die Davidsohnschaft durch diese Zuordnung allerdings keineswegs marginalisiert, sondern der Ton liegt darauf, dass der Gottessohn Jesus in die Verheißungsgeschichte Gottes mit Israel hineingestellt wird und sich in seinem irdischen Wirken gemäß seiner ihm als Davidsohn zukommenden Aufgabe Israel zuwendet. Die Relevanz der davidischen Messianität Jesu im Mt lässt sich durch eine diachrone Beobachtung erhärten: Das Motiv der Gottessohnschaft hat Matthäus im Mk als christologische Leitkonzeption vorgefunden (s. v. a. Mk 1,11; 9,7; 15,39); die Hervorhebung der Davidsohnschaft Jesu geht hingegen auf seine eigene Hand zurück. Die Vorstellung der Gottessohnschaft Jesu ist bei Matthäus neben dem Aspekt der einzigartigen Nähe zu Gott (s. v. a. 11,27) zentral durch die Motive der Teilhabe an göttlicher Vollmacht und des Verzichts auf die Ausübung dieser Vollmacht im Gehorsam gegenüber dem Heilswillen des Vaters geprägt, wobei das Gehorsamsmotiv an die ethisch ausgerichtete Verwendung des Gottessohnprädikats in der frühjüdischen Weisheitstradition (Sir 4,10; Weish 2,18; 5,5, vgl. zu Mt 5,9.45) anknüpft. Während Jesus als Davidsohn, wie gesehen, sogar für die Volksmengen, denen sein Wirken gilt, an seinem heilenden Handeln erkennbar ist, ist es den Jüngern vorbehalten, Jesus erstmals als Sohn Gottes zu bekennen, nachdem dieser durch seinen Gang über das Wasser und die Errettung des sinkenden Petrus seine Teilhabe an göttlicher Macht manifestiert hat (14,22–33). Auf dieser Basis hat Matthäus sodann das Messiasbekenntnis des Petrus in 16,16 um die Gottessohnschaft ergänzt, was Jesus in seiner Replik auf eine besondere Offenbarung des Vaters zurückführt (16,17). In 16,20 aber schärft Jesus seinen Jüngern ein, über seine messianische Identität als Gottessohn zu schweigen, was sich nach dem Offenbarwerden Jesu als Gottessohn durch die Himmelsstimme in der Verklärungsgeschichte (17,5) in 17,9 wiederholt, nun erweitert um eine explizite temporale Befristung des Schweigegebots bis zur Auferweckung des Menschensohnes von den Toten. Wird die Erkenntnis Jesu als Sohn Gottes im Menschenmund bei Matthäus also nicht erst wie bei Markus unter dem Kreuz laut (27,54 par Mk 15,39), so bleibt sie gleichwohl vor Jesu Auftreten in Jerusalem auf den Jüngerkreis begrenzt, der darüber zu schweigen hat.

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Ist Petrus’ Bekenntnis im Lichte von 14,33 an der göttlichen Hoheit Jesu orientiert, so steht ihm noch bevor, in sein Verständnis der Gottessohnschaft Jesu zu integrieren, dass diese sich gerade im gehorsamen Gang Jesu in das Leiden manifestiert (s. zu 16,21–23). Matthäus hat die Passionsgeschichte christologisch unter das Leitmotiv der Passion des Gottessohnes gestellt (26,63f; 27,39 f.41–43.54). Die hier gestellte Aufgabe, die geglaubte und anhand des Seewandels dargestellte Partizipation des Gottessohnes an göttlicher Macht mit seinem irdischen Ergehen in Einklang zu bringen, führt konzeptionell dazu, dass das Gehorsamsmotiv, wie dies durch die Versuchungsgeschichte in 4,1–11 präludiert ist, ins Zentrum rückt und Jesu Leidensweg als bewusster Verzicht auf die ihm als Gottessohn zukommende Macht gedeutet wird: Jesus hätte sich der Verhaftung durch die Herbeirufung von zwölf Legionen Engel (26,53) entziehen oder vom Kreuz herabsteigen können (s. zu 26,53 und zu 27,39–43), doch nimmt er die Passion im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes (26,39.42) auf sich. Verknüpft ist dies mit der soteriologischen Bedeutung, die (auch) Matthäus dem Tod Jesu zuschreibt, wie die Erweiterung des Kelchwortes in 26,28 zeigt: Jesu Blut wird für die Vielen vergossen zur Vergebung der Sünden. Jesus rettet im Gehorsam gegenüber dem Heilswillen des Vaters nicht sich selbst (vgl. 27,42), sondern mit seinem Tod andere. Die Rede von den „Vielen“ im Kelchwort hat Matthäus universalistisch gedeutet. Der Heilstod des Gottessohnes, seine Auferweckung und seine Einsetzung zum Weltenherrn, der seinen Jüngern nach Ostern seine universale, Himmel und Erde umgreifende Vollmacht kundtut (28,18), bilden die soteriologische Voraussetzung für die am Ende stehende universale Aussendung der Jünger. Bezeichnenderweise tritt dann im Missionsauftrag christologisch die messianische Identität des erhöhten Herrn als Gottessohn hervor, wenn es heißt, dass die Jünger taufen sollen „auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (28,19). Der programmatische Ausschluss der Völker aus dem messianischen Wirken des Irdischen zugunsten der Sendung zu „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ erweist sich von 28,16–20 her als die Kehrseite des Gedankens, dass Tod, Auferweckung und Erhöhung des Gottessohnes das soteriologische Grunddatum für das allen Völkern geltende Heil sind. Führt man die dargelegten Aspekte zusammen, lässt sich folgern, dass der Schlüssel für das Verständnis der Abfolge von exklusiver Zuwendung zu Israel und nachösterlicher Einbeziehung der (übrigen) Völker in Matthäus’ christologischer Konzeption liegt, in deren Zentrum die skizzierte zweigliedrige Entfaltung der Messianität Jesu als Gottes- und als Davidsohn führt. Korreliert die Konzentration der irdischen Wirksamkeit Jesu auf Israel mit der Hervorhebung seiner davidischen Messianität, so steht die Ausweitung des Heils auf die Völkerwelt im Zusammenhang von Heilstod,

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Auferstehung und Erhöhung des Gottessohnes. Und wie die Universalität des mit Jesu Kommen verbundenen Heils von Anfang an signalisiert wird und als Vorzeichen vor die Schilderung seiner Wirksamkeit in Israel gesetzt ist, aber erst am Ende mit der Aussendung der Jünger durch den Auferstandenen zur Geltung kommt, so ist Jesus von Anfang an Gottes Sohn, doch bleibt dies im Kontext der Schilderung seines Wirkens in Israel zunächst im Hintergrund, um dann im Rahmen seines Todes und seiner Erhöhung hervorzutreten. Die Ausweitung der missionarischen Zuwendung von Israel auf alle Völker wird von Matthäus also durch ein narrativ entfaltetes christologisches Konzept begründet. Und so wie die David- und die Gottessohnschaft Jesu als Explikationen der Messianität Jesu in ihrer inneren Zusammengehörigkeit zu sehen sind, so gilt ebenso für die Zuwendung zu Israel und die universale Sendung, dass sie von Matthäus nicht als miteinander konkurrierende oder sich gar gegenseitig ausschließende Optionen präsentiert werden. Ihre gemeinsame Verankerung in der atl. Verheißungsgeschichte bekräftigt dabei den durch die oben skizzierte narrative Christologie fundierten inneren Zusammenhang: Die mit Abraham, dem Stammvater Israels, begonnene Verheißungsgeschichte kommt in Jesus zur Erfüllung, indem Israel und die Völker durch Jesus Heil erfahren. Israel ist für Matthäus von Abraham an auf die Völkerwelt hingeordnet, und umgekehrt ist der mt Universalismus israelbezogen. Dass die Magier ihre Hoffnung auf den „König der Juden“ (2,2) richten und die Kanaanäerin Jesus als Sohn Davids anruft (15,22), fügt sich hier ein. Nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang die Jesus in 1,21 zugewiesene Aufgabe anzusprechen, sein Volk, also Israel (vgl. 2,6), von den Sünden zu retten. Jesus realisiert dies im Rahmen seines irdischen Wirkens in Israel, indem er Menschen in der konkreten Begegnung die Vergebung der Sünden zuspricht oder solche Vergebung durch die von ihm gewährte Gemeinschaft zum Ausdruck kommen lässt (s. zu 9,2–8.9–13). Ihre Vollendung findet Jesu israelbezogene Aufgabe von 1,21 aber in seinem Tod „zur Vergebung der Sünden“ (26,28), mit dem sich zugleich die Universalität des Heils verbindet („für die Vielen“). Wiederum zeigt sich damit die konzeptionelle Anbindung der Einbeziehung der Völker an die Realisierung der israelbezogenen Aufgabe Jesu: Mit dieser ist zugleich das Fundament für die Zuwendung des Heils auch zu den Völkern gelegt; die Völker gewinnen Anteil an dem zuvor in Israel kundgewordenen Heil. Dabei geht es um mehr als um eine historische Reminiszenz, denn Menschen aus den Völkern, die sich der mt Gemeinde anschließen, werden dort mit der Jesusgeschichte als Grundgeschichte des Heils (und damit auch ihrer christlichen Identität) in einer Gestalt vertraut, die über weite Strecken von der Sendung Jesu (und seiner Jünger) zu Israel erzählt und zu deren zentralen Anliegen es gehört, herauszustellen, dass mit Jesu Wirken die endzeitliche Erneuerung des Gottesvolkes beginnt.

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Theologiegeschichtlich lässt sich die mt Konzeption als eine Variante bzw. Weiterentwicklung der in Röm 1,3f von Paulus aufgenommenen judenchristlichen Tradition ansehen, nach der Jesus Christus der Nachkommenschaft Davids entstammt und durch die Auferweckung als Sohn Gottes eingesetzt wurde. Hier wie dort erscheint die irdische Existenz Jesu unter dem Vorzeichen seiner Davidsohnschaft, und die Erhöhung des Auferstandenen bezeichnet eine zweite Phase. Hier wie dort kann man von einer Art Zweistufenchristologie reden, nur meint Zweistufenchristologie im Blick auf Matthäus nicht zwei Phasen der Identität Jesu selbst, sondern zwei Phasen ihrer Entfaltung, da Jesus Matthäus zufolge eben schon von Geburt an Gottes Sohn ist. Die genuine Leistung des ersten Evangelisten besteht dabei des Näheren darin, das Stufenkonzept konsequent mit dem für ihn bedeutsamen heilsgeschichtlichen Aspekt vernetzt zu haben, die Zuwendung Gottes zu seinem Volk in Christus mit der Einbeziehung der übrigen Völker zu vermitteln. Eben darin liegt das zentrale Anliegen der mt Neuerzählung der Jesusgeschichte. Die Art und Weise, wie die Identität Jesu narrativ in verschiedenen Phasen enthüllt wird, ist diesem konzeptionellen Zusammenhang dienstbar gemacht. 2.2 Der Immanuel und seine Gemeinde Das Mt ist ein eminent „kirchliches“ Evangelium. Im Mt ist – als einzigem Evangelium – sogar explizit von der „Kirche/Gemeinde (ekklesia)“ die Rede (16,18; 18,17). Die Verheißung an Petrus in 16,18, dass Jesus auf ihm als dem Felsen seine Kirche bauen wird, basiert auf dem vorangehenden Bekenntnis von Petrus (16,16). Kirche wird durch diesen Zusammenhang grundlegend als die Gemeinschaft derer gekennzeichnet, die das Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn des lebendigen Gottes teilen. Die Kirche ist dabei von Anfang an eine universale Größe, denn die Einlösung der Verheißung von 16,18 beginnt für Matthäus (erst) mit der Aussendung in 28,16–20. Der um Judas reduzierte Zwölferkreis, den Jesus zuvor um sich geschart hat, bildet die Keimzelle für die nun entstehende Kirche. Die Jünger sind für diese Aufgabe qualifiziert, weil sie durch ihre Gemeinschaft mit Jesus während seines irdischen Wirkens in der Lage sind, seine Verkündigung authentisch weiterzutragen (vgl. 16,19). Die Beistandszusage in 28,20 greift dabei auf, dass Jesus nach 16,18 das eigentliche Subjekt des Baus seiner Kirche ist; die ausgesandten Jünger sind das Medium seines Wirkens. Indem Matthäus in dem Sendungswort in 28,19f das Zu-Jüngern-Werden zum Leitmotiv macht, stellt er betont die Kontinuität zur vorangehenden Erzählung heraus: Kirche wird gebaut, indem aus allen Völkern Menschen zu Jüngern gemacht werden; Jünger zu sein aber bedeutet,

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Jesus nachzufolgen, wie dies zuvor dargelegt wurde. Die im Evangelium gebotene Erzählung vom Wirken Jesu ist daher zugleich als eine Geschichte zu lesen, in der mit der Darstellung der Jünger und ihrer Nachfolge wesentliche Kennzeichen der Kirche nach Ostern angesprochen werden, auch wenn die spezifische Situation des irdischen Wirkens Jesu nicht in allem eins zu eins in die nachösterliche Zeit zu übertragen ist. Nachfolge bedeutet, kurz gesagt, eine radikale Bindung an Jesus, die (im Konfliktfall) eine entschiedene Prioritätensetzung (vgl. 10,34–37) und die Bereitschaft verlangt, das Kreuz auf sich zu nehmen (10,38; 16,24). Die, die von Jesus während seines irdischen Wirkens in die Nachfolge gerufen werden, lassen ihre gewohnte (abgesicherte) Existenz zurück (4,18–22; 9,9, vgl. 8,19f; 19,27, negativ 19,21f). Die Nachfolge Jesu ist wichtiger als elementare familiäre Bindungen (4,22; 8,21f; 10,34–37). Zentraler sozialer Kontext für die Jünger ist die Gemeinschaft derer, die Jesus nachfolgen. Die, die in der Nachfolge den Willen Gottes tun, sind für Jesus „Bruder und Schwester und Mutter“ (12,50); sie bilden sozusagen eine neue Familie. Nun ist, wie angedeutet, die soziale Konstellation in der erzählten Welt (Jesus ruft Menschen in seine Nachfolge, die darauf alles verlassen und mit ihm umherwandern) mit der Situation der zumindest größtenteils sesshaften Glieder der mt Gemeinden nicht deckungsgleich, doch wird das radikale Ethos der Wandermissionare (auch diese wird es im mt Umfeld noch gegeben haben, vgl. die Einleitung zu 9,36–11,1) damit nicht belanglos, sondern die sesshaften Gemeindeglieder stehen vor der Aufgabe, das in den radikalen Nachfolgetexten artikulierte Moment der alles andere übersteigenden Bedeutung der Beziehung zu Jesus auf ihren Lebensalltag hin zu entfalten (zum Besitzverzicht vgl. zu 19,21). Dabei wird es auch in den mt Gemeinden infolge des Konflikts mit pharisäisch dominierten Synagogen (s. u. unter 3.) vorgekommen sein, dass an der Stellung zu Jesus Familien zerbrachen. Die Nachfolgegeschichten im Evangelium illustrieren hier die Notwendigkeit einer klaren Entscheidung. Kirche darf sich Matthäus zufolge nicht selbstgenügsam zurückziehen, denn sie hat eine Aufgabe in der Welt, die mit den Bildworten vom Salz der Erde und Licht der Welt (5,13.14) prägnant auf den Punkt gebracht wird. Damit ist verbunden, dass Kirche für Matthäus wesenhaft missionarisch ist. Nicht nur der dargelegte Konnex zwischen 16,18 und 28,19f bringt dies zum Ausdruck; schon die kompositorische Anlage in 4,17–11,1 lässt das Gewicht der missionarischen Dimension in der mt Ekklesiologie deutlich werden: Jesus beruft gleich zu Beginn seines öffentlichen Wirkens (4,17) Jünger (4,18–22), die Menschenfischer werden sollen (4,19), und sendet sie, nachdem sie mit seinem Wirken vertraut gemacht wurden (4,23–9,35), aus, damit sie sein Werk fortsetzen (vgl. in der Einleitung zu 4,17–11,1 und zu 9,36–11,1). 5,16 macht überdies deutlich, dass die Jünger nicht nur durch ihre Verkündigung missionarisch wirken sollen; Matthäus

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misst hier vielmehr dem Zeugnis der Werke missionarische Kraft bei. Einzubeziehen ist schließlich 21,43, denn die dortige Rede von der Übergabe der Königsherrschaft Gottes nimmt in den Blick, dass nach dem Versagen der alten Autoritäten und deren feindlichem Verhalten gegen Gottes Gesandte nun die Jünger Jesu mit der Aufgabe betraut werden, den Menschen Gottes Willen auszurichten. Der Zusammenhang mit der Aussage in V. 42, dass Jesus als der von den Autoritäten verworfene Stein (durch seine Auferweckung) zum Eckstein geworden ist, verweist dabei wiederum auf die Zeit nach Ostern und bekräftigt damit den entsprechenden Bezug von 16,18f. 21,43 wurde in der Matthäusexegese häufig im Sinne der Ersetzung Israels durch die Kirche gelesen. Aber Israel und die Kirche sind in Matthäus’ Konzeption überhaupt keine miteinander konkurrierenden Größen. Das erwählungsgeschichtlich begründete Privileg Israels besteht für Matthäus nicht darin, dass das Volk im „Besitz“ des Heils ist. Vor dem Kommen Jesu befindet sich Israel in Matthäus’ Sicht vielmehr in einer Unheilssituation: Das Volk sitzt in Finsternis (4,16) und muss von den Sünden gerettet werden (1,21). Der besondere Status Israels als Gottesvolk kommt vielmehr darin zum Ausdruck, dass es privilegierter Empfänger der Heilszuwendung Gottes in Jesus ist. Die Jünger werden von Jesus in den Dienst genommen, diese Heilszuwendung fortzuführen. Die Kirche ist für Matthäus die sich in Israel und darüber hinaus in der gesamten Völkerwelt bildende Heilsgemeinde, die durch das Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes (16,16) und ein Leben nach seinen Weisungen (28,20a) qualifiziert ist. Sie ist dabei ihrer missionarischen Grunddimension nach keine statische, sondern eine dynamische Größe, nicht das feststehende Resultat einer abgeschlossenen Sammlungsbewegung, sondern als bereits „gesammelter Teil“ der Menschheit selbst Medium der weiteren Sammlung. Mit der Entstehung der Kirche verbindet Matthäus also nicht die Ersetzung Israels. Wohl aber ist in dem Glauben, Nachfolger des Messias zu sein, der Anspruch der Kirche impliziert, die einzig legitime Sachwalterin der theologischen Tradition Israels zu sein. Damit geht einher, dass der von den jüdischen Autoritäten in Israel erhobene Führungsanspruch nach mt Sicht auf die Jesusnachfolger übergegangen ist. 21,43 bringt ebendies zum Ausdruck (s. in der Auslegung des Verses). Anzufügen ist allerdings, dass mit der Entstehung der Kirche eine substantielle Transformation des Gottesvolkgedankens verbunden ist. Der besondere Status Israels ist, wie gesehen, auf den Aspekt der privilegierten Heilszuwendung fokussiert. Wichtige Charakteristika des Gottesvolkes im AT sind aber zu ekklesialen Attributen geworden. Allem voran vollzieht sich das Mit-Sein Gottes, das atl. einen wesentlichen Aspekt der besonderen Rolle Israels als Gottesvolk darstellt (1Kön 8,57; Jes 41,10; Ps 46,8 u. ö., s. auch Ex 29,45f; Lev 26,12f), nun in der Gestalt der Ge-

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genwart Jesu als des Immanuel, des „Gott-ist-mit-uns“ (1,23), bei den Seinen. Nach 18,20 gilt denen, die „auf seinen Namen hin“ zusammenkommen, die Zusage des Mit-Seins Jesu; 28,20 verheißt den zur universalen Mission ausgesandten Jüngern speziell für diesen Auftrag, dass Jesus als der erhöhte Herr „alle Tage bis an das Ende der Welt“ mit ihnen sein wird. Liest man dies auf der Basis von 1,23, so ist evident, dass der Gemeinde damit zugleich die heilvolle Gegenwart und Nähe Gottes zugesagt ist. Die Wahl der 3. Pers. Pl. in 1,23 („sie werden ihm den Namen Immanuel geben“) verweist dabei auf das nachösterliche Bekenntnis der Jünger: Der auferstandene und erhöhte Herr, der ihnen zugesagt hat, mit ihnen zu sein, wird von ihnen als der bekannt, durch den Gott selbst mit ihnen ist. Die Transformation des Gottesvolkgedankens betrifft sodann auch dessen Verhältnis zum Bundesbegriff. Mit dem Kelchwort in 26,28 wird die Bundesvorstellung an prominenter Stelle vorgebracht. Es geht hier zwar nicht um einen neuen, mit der ecclesia geschlossenen Bund, der den Bund Gottes mit Israel ablöst, sondern um die Erneuerung des einen Bundes durch Jesu Heilstod im Sinne einer neuen Heilszuwendung Gottes, einer die Vergebung der Sünden einschließenden Erneuerung der Gemeinschaft (vgl. in der Auslegung des Verses). Diese Bundeserneuerung geht aber zum einen mit einer Universalisierung, mit der Einbeziehung der Völker in die Heilszuwendung, einher; und zum anderen wird das in Jesu Wirken und seinem Tod „zur Vergebung der Sünden“ begründete Heil nur wirksam durch dessen individuelle Annahme durch Eintritt in die Jüngerschaft. „Bund“ hat hier entsprechend den Charakter einer Heilssetzung: Durch den Tod Jesu wird der Bund im Sinne eines Heilsangebotes an alle erneuert. Eine Konfiguration in Analogie zum Bundesschluss in Ex 24,6–8, wo das Gottesvolk als Gottes Gegenüber in den von Gott geschlossenen Bund eintritt, ist hier nicht anzutreffen. Blickt man auf die sichtbare Realität der Kirche, so ist für Matthäus häufig vorgebracht worden, dass er diese als ein corpus mixtum ansehe. Dies ist insofern zutreffend, als Matthäus die Rede vom Gericht auch paränetisch nach innen richtet und damit rechnet, dass auch Christusgläubige vergeblich um Einlass in das Himmelreich ersuchen werden (7,21–23). Gleichwohl ist – abgesehen davon, dass mit der corpus mixtum-Vorstellung nicht ein Wesensmerkmal von Kirche, sondern lediglich ein zu duldender Zustand, wenn nicht Missstand, bezeichnet wäre – an dieser Stelle Zurückhaltung angezeigt. Weder 13,36–43 noch 22,8–14 lässt sich für diese These in Anspruch nehmen (s. in der Auslegung), und 18,15–17 gibt zu erkennen, dass es Verhalten gibt, das die Gemeinde nicht dulden darf, sondern mit Gemeindeausschluss zu beantworten hat. Dies bedeutet umgekehrt nicht, dass Matthäus die Vorstellung von der Kirche als einem sündenfreien Raum verfolgt. Schon das Vaterunser macht deutlich, dass auch die Christusgläubigen auf die Vergebung Gottes angewiesen sind und

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bleiben (6,12). Zugleich tritt im Mt die zwischenmenschliche Vergebung als ein Leitthema hervor (vgl. zu 6,14f). Für Matthäus ist die Vollmacht, Sünden zu vergeben, ein wesentliches Kennzeichen der Kirche (vgl. zu 9,8) und die Bereitschaft, dem anderen auch im Fall eines persönlich erlittenen Unrechts unbegrenzt zu vergeben, eine zentrale Forderung des in der Gemeinde gültigen Gemeinschaftsethos, die in die anthropologische Einsicht eingebettet ist, selbst stets der Barmherzigkeit Gottes zu bedürfen (vgl. zu 18,21–35). In besonders prägnanter Weise manifestiert sich das Moment, dass Matthäus kein idealisiertes Bild der Jünger zeichnet, in der für ihn charakteristischen Rede vom Kleinglauben. Die Jünger werden zwar – im Unterschied zum Mk (6,52; 8,17.21) – als verständig dargestellt (Mt 13,11.19.51; 16,12; 17,13), aber sie versagen in Situationen, in denen ihr Vertrauen auf Gott bzw. auf das helfende und rettende Mit-Sein Jesu in außergewöhnlicher Weise einer Belastungsprobe ausgesetzt ist (Näheres zu 8,26). Die Zusage der Gegenwart des Immanuel spricht gerade auch in diese Situationen hinein. Dass Matthäus die Schwächen der Jünger nicht verdeckt, stellt umgekehrt den Nachfolgern Jesu keinen Freibrief aus. Die Barmherzigkeit Gottes wird bei Matthäus nicht zu einer Schleuderware. Zum Eintritt in die Nachfolge gehört für ihn – gut jüdisch – elementar ein Leben nach dem Willen Gottes. Für Matthäus heißt dies des Näheren: ein Leben nach dem Willen Gottes, wie Jesus ihn in seiner Unterweisung erschlossen hat. 2.3 Der Lehrer Jesus und die Tora Die große Bedeutung, die Matthäus dem Tun des Willens Gottes im Rahmen der Nachfolge Jesu zuweist, kommt prägnant wiederum im abschließenden Sendungswort in 28,18–20 zum Ausdruck: Zum Auftrag, Menschen zu Jüngern Jesu zu machen, gehört fundamental hinzu, sie darin zu unterweisen, was Jesus geboten hat. Entsprechend nimmt die ethische Unterweisung im Mt breiten Raum ein. An erster Stelle ist hier die Bergpredigt in Mt 5–7 zu nennen, daneben ist aber auch auf die Rede über das Gemeinschaftsleben in Mt 18 zu verweisen. Christologisch korrespondiert dem, dass Jesus sich selbst in 23,8–10 als den einen Lehrer präsentiert. Den Volksmengen ist im Anschluss an die Bergpredigt in 7,28f (par Mk 1,22) die Einsicht zugeschrieben, dass Jesus im Unterschied zu den Schriftgelehrten mit Vollmacht lehrt. Wenn Jesus als Lehrer angeredet wird (8,19; 12,38; 19,16; 22,16.24.36), kennzeichnet dies den Gesprächspartner allerdings durchgehend als einen Außenstehenden, sofern hier jeweils mitschwingt, dass Jesus lediglich ein Lehrer neben vielen anderen ist; die Jünger reden Jesus hingegen mit „Herr (kyrie)“ an (8,21.25; 14,28.30 u. ö.).

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Charakteristisch ist für Matthäus, dass er Jesu ethische Unterweisung positiv an die Tora anbindet und auf diese bezieht. Programmatisch ausgeführt findet sich dies in der Bergpredigt, vor allem in Mt 5. So eröffnet Matthäus das Korpus der Bergpredigt (5,17–7,12) in 5,17 mit einer Grundsatzerklärung Jesu zur Geltung von Tora und Propheten (diese sind hier als Verkündiger und Interpreten des Gotteswillens im Blick): Jesus ist nicht gekommen, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern um sie zu erfüllen. Dies ist mit dem Anspruch verbunden, dass Jesu Gesetzesauslegung den hinter den Geboten stehenden Gotteswillen umfassend aufdeckt. Die Antithesenreihe in 5,21–48 dient dazu, dies exemplarisch zu illustrieren. Sie profiliert dabei Jesu Weisung als Entfaltung des vollen Sinns und der tieferen Intention der Toragebote im Gegenüber zum unzureichenden Verständnis der Gebote bei den Schriftgelehrten und Pharisäern (5,20), die diese Matthäus zufolge entweder nur buchstäblich auffassen oder durch ihre Interpretation in ihrer Bedeutung einschränken (zur Begründung dieses Deutungsansatzes und zu Details der radikalen Gesetzesauslegung des mt Jesus s. die Auslegung von 5,17–48). Die Mitte von Tora und Propheten sind im Mt das Doppelgebot der Liebe (22,34–40, vgl. 5,43f; 19,19) und die Barmherzigkeit (9,13; 12,7; 23,23). Daneben sind die den zwischenmenschlichen Bereich betreffenden Dekaloggebote von leitender Bedeutung (5,21–30; 15,4–6.19; 19,18f). Matthäus redet mit dieser Hervorhebung aber keiner Reduktion von Tora und Propheten auf wenige Hauptsätze das Wort, sondern diese fungieren als sachliches und hermeneutisches Zentrum. Sie sind die gewichtigen Gebote, doch gilt als Grundsatz die Gültigkeit der ganzen Tora (s. 5,18; 23,23). Entsprechend hat Matthäus Mk 7,1–23 in 15,1–20 so umgestaltet, dass der Streit um das Händewaschen vor dem Essen keineswegs zum Anlass genommen wird, um Jesus eine Abrogation der Speisegebote vertreten zu lassen. Ebenso lässt Matthäus mit seiner Version der Sabbatauseinandersetzungen in 12,1–14 (par Mk 2,23–3,6) deutlich werden, dass die Sabbatgebote grundsätzlich in Geltung stehen (s. auch 24,20). Umgekehrt gilt aber, dass die Sabbatpraxis in der mt Gesetzeshermeneutik unter den Primat von Liebe und Barmherzigkeit gestellt ist und die Reinheitsgebote zwar nicht aufgehoben, aber deutlich marginalisiert werden. Ganz auf dieser Linie machen zudem 5,19 sowie 19,16–19 je auf ihre Weise deutlich, dass für den Zugang zum ewigen Leben allein die Praxis der großen Gebote, also des Liebesgebots und der genannten Dekaloggebote, entscheidend ist. Der gegen das Gesetzesverständnis der Schriftgelehrten und Pharisäer gerichteten Stoßrichtung der Antithesen korrespondiert, dass die richtige Auslegung und Praxis der Tora auch außerhalb der Bergpredigt einen bedeutsamen Streitpunkt in dem Konflikt zwischen Jesus und den Autoritäten darstellt (s. neben 12,1–14; 15,1–20 auch 19,3–12; 23,16–26). Das

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Verständnis der Pharisäer wird dabei als Gegensatz zu Jesu Auslegung des Gotteswillens negativ stilisiert. Sie verzetteln sich in der Verschärfung rituell-kultischer Vorschriften und missachten dabei die wichtigen Gebote (23,23f). Umgekehrt haben die Pharisäer offenbar den mt Christusgläubigen vorgeworfen, die Tora nicht adäquat zu praktizieren. Im Gegenzug dazu ist für Matthäus die Berufung auf Hos 6,6 (s. Mt 9,13; 12,7) von zentraler Bedeutung: Gott will Barmherzigkeit und nicht Opfer. Beleuchtet man Matthäus’ Stellung zum Gesetz im Blick auf den universalen Sendungsauftrag in 28,18–20, so ist nicht zu übersehen, dass die mt Gesetzeshermeneutik mit dem zentralen Gedanken einer Gebotshierarchie und mit der Konzentration der Toraunterweisung auf den zwischenmenschlichen Bereich dazu angetan ist, Nichtjuden den Zugang zur ecclesia zu erleichtern. Ebenso ist freilich zu betonen, dass Matthäus nichtjüdische Christusgläubige im Blick hat, die auf die Unterweisung Jesu und damit auf seine Auslegung der Tora grundsätzlich verpflichtet sind. Dieser Befund ist charakteristisch für das Mt insgesamt: Matthäus schließt an die theologischen Traditionen Israels an, und zugleich interpretiert und entfaltet er sie auf eine Weise, dass sie sich seiner Vorstellung von der universalen ecclesia Jesu aus Juden und Menschen aus den (übrigen) Völkern einfügen.

3. Der Verfasser und seine Adressaten Mit Matthäus, der in der sekundären Überschrift „Evangelium nach Matthäus“ als Verfasser erscheint, ist der Träger dieses Namens aus dem Zwölferkreis (Mt 10,3) gemeint (s. z. B. das Origenes-Referat in Eusebius, HistEccl 6,25,4). Inspiriert ist diese Zuschreibung vermutlich dadurch, dass in Mt 9,9 die Berufung des Zöllners Matthäus (dagegen Mk 2,14: Levi) geschildert wird. Matthäus als Verfassername wird schon durch eine von Eusebius (HistEccl 3,39,16) zitierte Notiz des phrygischen Bischofs Papias (um 110?) bezeugt. Der Jünger Matthäus ist aber nicht der tatsächliche Autor. Lag dem Autor das Mk vor (s. unter 4.), so dass davon auszugehen ist, dass Matthäus in 9,9 sekundär an die Stelle von Levi getreten ist, um einen Jünger aus dem Zwölferkreis aufzubieten, spricht gerade 9,9 dezidiert gegen eine Abfassung durch den Zwölferjünger Matthäus, denn dieser hätte sich schwerlich in die Berufungsgeschichte eines anderen hineingeschrieben. Der tatsächliche Autor ist unbekannt (er wird der Einfachheit halber im Folgenden weiterhin Matthäus genannt). Man wird in ihm – darüber herrscht in der heutigen Forschung ein breiter Konsens – einen Judenchristen bzw. einen christusgläubigen Juden zu sehen haben. Seine tiefe Verwurzelung in den Heiligen Schriften Israels (s. o. unter 1.) und in jüdi-

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schen Traditionen und Diskursen (s. z. B. Mt 12,5–7.11f) weisen ebenso klar in diese Richtung wie das Augenmerk, das Matthäus auf die Erfüllung der Heilsverheißungen an Israel durch die Zuwendung Gottes zu seinem Volk in Jesus gerichtet hat (s. o. unter 2.1). Der Evangelist steht in der judenchristlichen Tradition, in der die Davidsohnschaft Jesu von prominenter Bedeutung ist. Ferner ist die mt Ethik deutlich auf die Tora bezogen (s. o. unter 2.3). Seine Vertrautheit mit der Schrift wie auch seine literarische Kompetenz nähren des Näheren die These, dass Matthäus selbst zu dem Kreis der christusgläubigen Schriftgelehrten gehörte, auf deren Wirken in den mt Gemeinden 13,52 und 23,34 hinweisen (vgl. noch unten unter 4.). Die Verwurzelung im Judentum gilt überdies nicht nur für den Autor, sondern sie ist auch für den Adressatenkreis charakteristisch, unter dem man sich eher einen Kreis oder Verbund mehrerer (Haus-)Gemeinden als lediglich eine einzelne Gemeinde vorzustellen haben wird. Die Gemeinden halten offenbar noch den Sabbat (s. zu 12,1–14 und zu 24,20), und die Speisegebote werden zwar gegenüber den sozialethischen Geboten deutlich abgewertet, aber Matthäus redet keiner prinzipiellen Außerkraftsetzung dieser Gebote das Wort (s. o. unter 2.3 und zu 15,1–20). Dies bedeutet aber nicht, dass es sich bei den mt Gemeinden um rein judenchristliche bzw., wie in der gegenwärtigen Forschung zuweilen betont wird, christusgläubige jüdische Sondergruppen handelt. Für den Evangelisten selbst ist jedenfalls zu konstatieren, dass er mit dem universal ausgerichteten Sendungswort in 28,18–20 als Ziel- und Gipfelpunkt seiner Jesusgeschichte eindeutig als Befürworter der Völkermission hervortritt; Kirche ist für ihn eine universale Größe (s. o. unter 2.2). Dies lässt allerdings nicht ohne Weiteres den Schluss zu, dass neben Judenchristen bereits ein bedeutender heidenchristlicher Anteil in den Gemeinden anzutreffen ist. Denn es lässt sich nicht mit der nötigen Sicherheit bestimmen, seit wann die mt Gemeinden Völkermission betrieben haben. Der Umstand, dass die theologische Aufgabe, die spezifische Zuwendung zu Israel und die Universalität des von Jesus gewirkten Heils miteinander zu vermitteln, von 1,1 an als ein zentrales Anliegen des Evangelisten hervortritt, sowie sein Bestreben, die Einbeziehung der Völker in den Schriften Israels selbst zu verankern (s. z. B. zu 1,3–6; 4,15f; 12,18–21), nähren die Annahme, dass Matthäus sich mit Ressentiments gegen die Völkermission auseinanderzusetzen hatte (s. auch zu 8,11f). Es lässt sich aber nicht entscheiden, ob Matthäus sich gegen den Widerstand aus (konservativen) Gemeindekreisen zum Befürworter einer neuen Praxis macht oder eine bereits bestehende Praxis gegen neu aufgekommene Vorbehalte verteidigt, die etwa durch Judenchristen aufgeworfen worden sein mögen, die infolge des jüdisch-römischen Kriegs aus Palästina geflohen waren (vgl. zu 24,16–20). Man kann daher nicht mehr sagen, als dass es sich beim mt

Der Verfasser und seine Adressaten

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Adressatenkreis um zumindest mehrheitlich jüdisch geprägte Gemeinden handelt, Heidenchristen also die Minorität darstellten, ohne dass sich klären lässt, wie groß diese Minorität war und wie stark sie zur Zeit der Abfassung des Mt wuchs. Deutlich ist, dass sich der Evangelist und seine Gemeinden in einem bedrängenden Konflikt mit ihrer jüdischen Umwelt befinden, die auch Geißelung von Jesusanhängern in den Synagogen einschließt (10,17; 23,34). Der Umstand, dass die Pharisäer im Mt als Hauptkontrahenten hervortreten, ist dabei kaum anders denn als Reflex der aktuellen Kontroversen zur Zeit des Evangelisten zu verstehen. Das heißt: Im synagogalen Kontext des Matthäus sind die Pharisäer zur bestimmenden Größe geworden. Die Frage, wie das Verhältnis der mt Gemeinden zum Judentum genau zu bestimmen ist, wird in der Forschung beharrlich, aber wenig glücklich unter Rückgriff auf die Metapher der „Mauern“, der muri, verhandelt: Befinden sich die Gemeinden noch intra muros oder bereits extra muros? Wenig glücklich ist dies deshalb, weil zum einen die plakative Alternative „innerhalb oder außerhalb des Judentums“ kaum geeignet ist, die komplexen sozialen Prozesse adäquat in den Blick zu nehmen. So lässt die distanzierende mt Rede von „ihren/euren Synagogen“ (10,17; 12,9; 23,34, vgl. auch 4,23; 9,35; 13,54) schwerlich den eindeutigen Schluss zu, dass Matthäus sich und seine Gemeinden außerhalb des Judentums positioniert hat. Denn in dieser Redeweise spiegeln sich zwar die organisatorische Eigenständigkeit der Gemeinden und das Abhalten eigener Versammlungen in Konkurrenz zu den Synagogen, doch ließe sich dies – zumal angesichts der auch ansonsten nicht unerheblichen Binnendifferenzierung des antiken Judentums – ohne Weiteres noch im Rahmen eines innerjüdischen Differenzierungsprozesses auffassen. Zum anderen ist gegen die intra/extra muros-Alternative einzuwenden, dass die Antwort im Wesentlichen eine Frage der jeweiligen Perspektive ist. Ob die Pharisäer in der christusgläubigen Gruppierung noch eine (wenngleich in ihren Augen verfehlte) Form des Judentums gesehen haben, kann man zumal dann bezweifeln, wenn sich in ihr bereits (einige) unbeschnittene Heidenchristen befanden. Matthäus selbst hat in seiner Position hingegen gerade keine Abwendung vom Glauben Israels gesehen. Die „Mauern“ sind insofern letztlich nicht mehr als „kognitive Wanderdünen“ (Backhaus, Himmelsherrschaft, 79). Man wird sich daher mit der obigen Auskunft begnügen müssen, dass das Judentum den primären Lebenskontext der mt Gemeinden bildet. Spiegelt sich in dem Charakteristikum der mt Jesusgeschichte, dass zwischen den jüdischen Volksmengen und den Autoritäten (plus Jerusalem) sorgfältig unterschieden wird (vgl. oben unter 2.1) und die Autoritäten wiederholt der positiven Rezeption Jesu im Volk zu wehren suchen (12,24; 21,15f; 27,62–64), die Situation der Gemeinden, legt dies den Schluss nahe, dass die mt Gemeinden und die Pharisäer sich um dieselben

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Einleitung

Leute als Anhängerschaft bemühen. Eben daraus resultiert zugleich die Schärfe der Polemik gegen die Pharisäer im Mt. Die Bedeutung des Konflikts mit den Pharisäern für die Gestaltung der mt Neuerzählung der Jesusgeschichte ist kaum zu überschätzen. Gleichwohl ist er nicht als einziger Einflussfaktor absolut zu setzen. Matthäus muss sich zugleich innerhalb der christusgläubigen Bewegung zu anderen Interpretationen des Christusglaubens verhalten (s. z. B. 7,15–23). Dies zeigt sich schon an der kritischen Rezeption des Mk als Grundlage für seine eigene Jesusgeschichte.

4. Matthäus und seine Quellen Der vorliegende Kommentar setzt die Zwei- Quellen-Theorie voraus, die nach wie vor die mit Abstand plausibelste Lösung des synoptischen Problems darstellt. Matthäus hat danach neben dem Mk noch die sog. Logienquelle (abgekürzt Q) benutzt, die nicht erhalten ist und sich ausgehend von dem Stoff, den Matthäus und Lukas über Markus hinaus gemeinsam haben, dem Umfang wie Wortlaut nach nur approximativ rekonstruieren lässt. Darüber hinaus stand Matthäus in sich vielfältiges Sondergut zur Verfügung. Auf Zusatzhypothesen zur Zwei- Quellen-Theorie wird in diesem Kommentar verzichtet. Dies gilt in Sonderheit für die These, dass Matthäus und Lukas nicht das kanonische Mk vorlag, sondern eine deuteromarkinische Rezension. Diese Zusatzhypothese offeriert eine Lösung für das Problem, dass Matthäus und Lukas nicht selten gegen Mk übereinstimmen und die Option, diese sog. „minor agreements“ sämtlich auf redaktionellen Zufall zurückzuführen, schwerlich eine suffiziente Erklärung für den Gesamtbefund zu bieten vermag. Allerdings wird hier ein Problem scheinbar gelöst, indem ein anderes geschaffen wird, denn es kann nicht erklärt werden, warum die postulierte Rezensionsstufe Matthäus und Lukas (an unterschiedlichen Orten) vorgelegen, sich aber nicht durchgesetzt, ja in der Überlieferung des Mk keinerlei Spuren hinterlassen hat. Im Blick auf jene „minor agreements“, die sich nicht als voneinander unabhängige Redaktionen von Matthäus und Lukas plausibel erklären lassen (s. z. B. zu Mt 13,12 und zu 26,68), ist vielmehr zu bedenken, dass Matthäus und Lukas mit dem vom Mk gebotenen Stoff im Regelfall schon vertraut gewesen sein werden, bevor sie das Mk kennenlernten, und die mündliche Tradierung der Jesusüberlieferung mit der Abfassung des Mk keineswegs abriss. Auch sein Sondergut dürfte Matthäus zumindest größtenteils der mündlichen Überlieferung entnommen haben. Matthäus folgt dem Markusfaden ab 12,1 relativ eng, während er in den ersten Kapiteln freier komponiert hat, wenngleich im Einzelnen auch für Mt 3–11 die makrostrukturelle Basis des Mk sichtbar wird (s. z. B. zur

Matthäus und seine Quellen

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Platzierung der Bergpredigt in der Einleitung zu 5,1–7,29). Aus der weitgehenden makrostrukturellen Korrespondenz folgt jedoch keineswegs, dass Matthäus seiner Markusvorlage auch inhaltlich zustimmte und diese mit seiner Neuerzählung der Jesusgeschichte lediglich weiterführen wollte, indem er sie stofflich – um den Redestoff aus Q und Sondergut – ergänzte und einzelne theologische Akzente deutlicher herausarbeitete bzw. aus der Situation seiner Adressaten resultierende Anliegen berücksichtigte. Vielmehr lassen die substantiellen Korrekturen, die Matthäus in für ihn wichtigen Fragen am Mk vorgenommen hat, kaum einen anderen Schluss zu, als dass Matthäus als markuskritisch, wenn nicht als antimarkinisch zu klassifizieren ist. Er wurde durch das Mk nicht lediglich zu einer Weiterführung der Idee, die Jesusgeschichte zusammenhängend niederzuschreiben, inspiriert, sondern wollte das Mk verdrängen, weil er es für ungeeignet hielt, um in seinen Gemeinden benutzt zu werden. Dabei ist der obige Hinweis aufzunehmen, dass der Evangelist die von Markus gebotene Jesusüberlieferung schwerlich erst durch das Mk kennenlernte, sondern mit dieser oder zumindest mit einem größeren Teil bereits durch die mündliche Tradition vertraut war. Im Mk sah er die Überlieferung in einer Weise ausgeprägt, die seines Erachtens kein hinreichend authentisches Bild vom Wirken Jesu zeichnete und entsprechend – auch theologisch – korrekturbedürftig war. Die theologische Kritik, die anhand der substantiellen inhaltlichen Differenzen zwischen dem Mt und Mk ansichtig wird, umgreift verschiedene Bereiche: von der Christologie, in der Matthäus anders als Markus die davidische Messianität Jesu hervorhebt (s. o. unter 2.1), über das Toraverständnis (s. o. unter 2.3) bis hin zum Bild der Jünger (s. o. unter 2.2 sowie Konradt, Matthäus und Markus, 221–232). Die Erörterung des Verhältnisses des Mt zu Q steht unter dem gewichtigen Vorbehalt, dass sich Q nicht exakt rekonstruieren lässt (s. o.). Die zuweilen vertretene These, dass es sich bei Q um die angestammte Tradition der mt Gemeinden handelt, wird durch die oben vorgebrachte Annahme relativiert, dass Matthäus mit dem vom Mk gebotenen Stoff zumindest in (weiten) Teilen bereits vertraut war, bevor er das Mk kennenlernte. Zudem lässt sich auch im Falle von Q beobachten, dass Matthäus Akzente anders setzt (s. z. B. im Kommentar zu 9,32–34 und zu 12,38). Gleichwohl ist hier nicht eine so substantielle theologische Kritik wie im Falle des Mk vernehmbar. Theologisch steht Matthäus Q näher als dem Mk. Unter die Quellen des Evangelisten sind schließlich im weiteren Sinn auch die Schriften des AT zu rechnen. Genauer: Die dichten Schriftbezüge in der mt Jesusgeschichte (vgl. oben unter 1.) verweisen darauf, dass sich die Endgestalt des Mt einem längeren Reflexionsprozess einer judenchristlichen Gruppe um den bzw. jedenfalls mit dem Evangelisten verdankt, die

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Einleitung

in ihren Zusammenkünften zum einen Jesustradition (mit den in ihr bereits vorhandenen Schriftzitaten und -anspielungen) zur Sprache brachte und zum anderen intensiv eigenständig die Schrift las und reflektierte. Dabei hat sie beide Größen eng aufeinander bezogen und einander interpretieren lassen. Des Näheren ist in einigen Fällen – wie Mt 2 oder 27,3–10 – sogar daran zu denken, dass die Schriftreflexion in kreativer Weise maßgeblich zur Ausgestaltung der überkommenen Jesustradition beigetragen hat. Die literarische Arbeit des Evangelisten basiert auf diesen Entwicklungsprozessen. Man darf sich den Evangelisten daher nicht als einen einsamen Gelehrten vorstellen, der in der Abgeschiedenheit seiner Studierstube aus den genannten Quellen seine Neufassung der Jesusgeschichte konzipierte. Er ist vielmehr eingebunden in einen schriftgelehrten Kreis und darüber hinaus in das gottesdienstliche (bzw. überhaupt ekklesiale) Leben der Gemeinden, für die er das Evangelium als – identitätsstiftende – Grundgeschichte des Heils niedergeschrieben hat.

5. Ort und Zeit der Abfassung Da das Mt keinen eindeutigen Hinweis darauf gibt, wo es entstanden ist, kann man nur versuchen, Indizien zu identifizieren und zu gewichten. Großer Beliebtheit erfreut sich die Verortung des Mt in Syrien. Für diese (grobe) Lokalisierung lässt sich die Konvergenz eines ganzen Bündels unterschiedlicher Indizien namhaft machen. Zum einen ist das Mt in Syrien durch die Briefe des Ignatius von Antiochien früh bezeugt (vgl. z. B. IgnSmyr 1,1 mit Mt 3,15). Zum anderen kann man als textinternen Hinweis die in 4,24a eingefügte Notiz geltend machen, dass die Kunde von Jesus sich in ganz Syrien verbreitete. Die Notiz wird für das Verständnis des Umstehenden nicht benötigt, und man würde entsprechend nichts vermissen, wenn sie fehlte. Ihre Einfügung lässt sich aber damit erklären, dass der Evangelist hier seinen eigenen geographischen Kontext in die von ihm erzählte Geschichte hineingeschrieben hat. Ein zu Syrien passendes Indiz liefert ferner das Erfüllungszitat in 2,23, denn „Nazoräer“ (s. auch 26,71) ist im syrischen Raum als Christenbezeichnung belegt. Nicht zuletzt passt der jüdisch geprägte Lebenskontext des Mt gut zu Syrien, da der syrische Raum einen bedeutenden jüdischen Bevölkerungsanteil aufweist (Josephus, Bell 7,43 sowie auch Philo, LegGai 245). Bezieht man den größeren gesellschaftlichen Kontext ein, ist aber zugleich auch nachvollziehbar, warum die Öffnung auf die Völkerwelt hin in den mt Gemeinden ein zentrales Thema war. Ebenso wird hier verständlich, dass heidnische Gebetspraxis präsent ist und als Gegenfolie dienen kann (6,7f) und überhaupt „heidnisch“ mehrfach als Bezeichnung für Außenstehende Verwendung findet (neben 6,7 noch 5,47; 18,17).

Ort und Zeit der Abfassung

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Wo eine nähere Eingrenzung versucht wird, wird häufig die syrische Metropole Antiochien vorgeschlagen. Ihre Plausibilität empfängt diese Konkretisierung im Wesentlichen aus dem Umstand, dass Antiochien ein gewichtiges Zentrum des entstehenden Christentums war. Zu Antiochien passt, dass Petrus im Mt als primus inter pares des Zwölferkreises eine hervorgehobene Rolle spielt und Antiochien zum Ausstrahlungsbereich von Petrus gehörte (vgl. Gal 2,11–14), doch gilt dies zweifelsohne nicht exklusiv für Antiochien. Es kommen daher auch andere syrische Städte bzw. Gebiete in Frage, in denen die Umgangssprache Griechisch war. Zudem passt die dominant judenchristliche Prägung des Adressatenkreises (s. o. unter 3.) nicht nahtlos zu dem Bild, das Lukas in Apg 11,19–26 vermittelt, wenngleich zu bedenken ist, dass Antiochien eine Großstadt war und es hier sicherlich mehrere christusgläubige Gemeinden gab. Als Alternative zu Syrien wird in der jüngsten Forschung zunehmend Galiläa vorgebracht. Die positive Wertung Galiläas als Ort des irdischen Wirkens Jesu und als Ausgangspunkt der Sendung in 28,16–20 lässt sich dafür jedoch schwerlich geltend machen, denn diese ist konzeptionell bereits im Mk angelegt. Bedenkenswerter ist, dass im synagogalen Umfeld des Mt die Pharisäer offenbar eine einflussreiche Rolle innehaben (s. o. unter 3.), denn aktuelle Auseinandersetzungen mit Pharisäern würden gut zu einem galiläischen Entstehungskontext passen. Sofern man auf der Basis von Apg 22,3; 26,4f davon ausgeht, dass der Pharisäer Paulus (Phil 3,5) in Jerusalem ausgebildet und dort Pharisäer wurde, fehlt hingegen ein Beleg für Pharisäer in der Diaspora. Die Aussagekraft dieses Befundes ist aber angesichts der insgesamt dürftigen Quellenlage fraglich; es lässt sich aus ihr jedenfalls nicht zwingend folgern, dass es (zumal nach 70 n. Chr.) im an das „Land Israel“ (Mt 2,20f) angrenzenden Syrien keine Pharisäer gegeben hat. Und selbst dann, wenn Paulus in Jerusalem aufwuchs, ist durch sein Auftreten immerhin belegt, dass ein Pharisäer in Damaskus zu wirken beabsichtigte. Zu konzedieren ist daher allenfalls, dass die Wahrscheinlichkeit des im Mt vorausgesetzten dominanten Einflusses von Pharisäern im synagogalen Umfeld mit zunehmender Distanz zu Galiläa abnimmt. Wenn man dies mit den für Syrien sprechenden Indizien verbindet, könnte daher eher der Süden Syriens, z. B. eine Stadt wie Damaskus, als das wesentlich weiter nördlich gelegene Antiochien in Frage kommen. Sicherheit ist hier nicht zu gewinnen. Klarer ist der Befund bei der Abfassungszeit. Der terminus post quem ist zum einen durch die Benutzung des um 70 n. Chr. entstandenen Mk gegeben. Zum anderen setzen Texte wie 22,7 und 27,25 deutlich die Zerstörung Jerusalems voraus. Der terminus ad quem lässt sich zumindest approximativ durch die frühen Bezugnahmen auf das Mt bestimmen. Kenntnis des Mt ist für die Didache mehr als wahrscheinlich, doch entzieht sich diese einer sicheren Datierung. Noch älter als Ignatius (s. o.) ist

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Einleitung

aber das Zeugnis des ungefähr in die letzten beiden Jahrzehnte des 1. Jh. zu datierenden 1Petr, der sich in 2,12 und 3,14 mit redaktionellen Passagen des Mt (5,16 und 5,12) berührt und daher das Mt voraussetzen dürfte. Das Mt ist daher wahrscheinlich in den 80er Jahren des 1. Jh. n. Chr. entstanden.

Ort und Zeit der Abfassung

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B Kommentar Die Überschrift (1,1) 1 Buch des Ursprungs Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams. Matthäus beginnt programmatisch. Gleich mit den ersten Wörtern „Buch des Ursprungs“ (oder „Buch der Geschichte“) nimmt er eine biblische Wendung auf, die zum einen in Gen 2,4 LXX im Zusammenhang der Schöpfungserzählung („Buch der Entstehung/des Ursprungs von Himmel und Erde“) begegnet, zum anderen in Gen 5,1 LXX als Einleitung zum Rekurs auf die Erschaffung des Menschen nach dem Ebenbild Gottes und zur Generationenfolge von Adam bis Noah („Buch der Entstehung/des Ursprungs der Menschen“). Matthäus stellt damit seine Jesusgeschichte in die biblische Erzählwelt hinein und signalisiert vor dem Hintergrund des Schöpfungsbezugs der Wendung zugleich den epochalen Einschnitt, der mit dem Auftreten Jesu Christi gegeben ist. Programmatisch ist sodann auch die doppelte Näherbestimmung von Jesus Christus durch „Sohn Davids“ und „Sohn Abrahams“. Das Motiv der davidischen Messianität Jesu hat Matthäus gegenüber seinen Quellen stark aufgewertet, ja zu einem christologischen Leitmotiv gemacht. Mit ihm ist die Betonung der Zuwendung zu Israel verbunden, mit der die dem Gottesvolk gegebenen Verheißungen erfüllt werden. „Sohn Abrahams“ ist nach „Sohn Davids“ als genealogische Information an sich überflüssig, doch verweist dies nur umso mehr darauf, dass die Bezeichnung – analog zu „Sohn Davids“ – theologisch aufgeladen ist. Abraham ist Stammvater Israels und zugleich Träger der Verheißung universalen Völkersegens (Gen 12,3; 18,18; 22,18; 26,4). In den weiteren Rekursen auf Abraham im Mt (3,9; 8,11) liegt der Ton auf der universalen Dimension des Heils, doch sind Israelbezug und Universalismus im Sinne des Evangelisten nicht gegeneinander auszuspielen, sondern in ihrem Bezug aufeinander zusammenzuhalten: Die Erwählung Israels ist für Matthäus von Abraham an auf die im Abrahamsohn Jesus realisierte Universalität des Heils hin angelegt, und zugleich wird, umgekehrt formuliert, über das Motiv der Abrahamsohnschaft Jesu die universale Weite des Heils an die Erwählungsgeschichte Israels angebunden. Der Berufung auf Abraham wohnt dabei auch eine apologetische Dimension inne: Von ihren pharisäi-

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Die Überschrift (1,1)

schen Gegnern wird den mt Jesusanhängern – wohl gerade wegen ihrer programmatischen Öffnung für Menschen aus den Völkern – abgesprochen, dass sie noch authentisches Judentum verkörpern; mit der Eröffnung seiner Jesuserzählung in 1,1 erhebt Matthäus hingegen den Anspruch, dass die mit Abraham einsetzende Erwählungsgeschichte gerade in der für die Völker offenen Gemeinde der Christusgläubigen ihre wahre Fortschreibung findet. Die Einführung des Motivs, dass sich in Jesus die Heilsverheißungen für Israel wie für die Völker erfüllen, gleich in 1,1 zeigt exemplarisch dessen leitmotivische Bedeutung für das Mt im Ganzen. Im Laufe der Erzählung spiegelt sich diese insbesondere in dem für das Mt charakteristischen Nebeneinander der auf Israel konzentrierten Sendung der Jünger in 10,5f und des universalen Missionsauftrags in 28,19. Die Abfolge „Sohn Davids – Sohn Abrahams“ korrespondiert dabei der Sequenz, dass die Zuwendung Jesu während seines irdischen Wirkens Israel gilt und die Völker erst mit Tod, Auferweckung und Einsetzung Jesu zum Weltenherrn in die Heilszuwendung einbezogen werden. Die Frage, ob 1,1 als Überschrift a) nur über den Stammbaum in 1,2–16 bzw. über 1,2–25 oder b) über den ganzen Prolog 1,1–4,16 oder aber, wie hier vorausgesetzt, c) über das gesamte Evangelium fungiert, ist gegenüber der Erkenntnis des programmatischen Charakters des Verses von untergeordneter Bedeutung. Die Rede vom „Buch des Ursprungs“ spricht für Option c), die Rede vom „Ursprung“ hingegen, zumal angesichts der Aufnahme des Wortes in 1,18, eher für Option a) oder b). Die Differenz zwischen b) und c) ist insofern nicht erheblich, als bei Option b) zu bedenken wäre, dass der Prolog im Ganzen von grundlegender Bedeutung für die Charakterisierung Jesu ist.

Der Stammbaum Jesu (1,2–17)

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I Der Prolog (1,2–4,16) Das Mt wird durch einen ausführlichen Prolog eingeleitet, der Begebenheiten vor dem mit 4,17 einsetzenden öffentlichen Wirken Jesu schildert. Die Vorgeschichte fungiert im Sinne einer grundlegenden Einführung in die Identität der Hauptperson: Jesus ist der davidische Messias, der Gottessohn und Immanuel, mit dessen Kommen Gott eine neue Phase der Heilsgeschichte Israels initiiert. Zugleich wird mit Mt 2 auch bereits die das gesamte Mt prägende Konfliktthematik exponiert. Ein wesentliches Mittel der Präsentation ist dabei die im Prolog auffallend dichte Verwendung von Erfüllungszitaten (1,22f; 2,15.17 f.23; 4,14–16). Nach dem Stammbaum in 1,2–17 lässt sich der Prolog in zwei größere Abschnitte untergliedern. 1,18–2,23 bietet eine zusammenhängende Erzähleinheit über Geburt und Gefährdung des Jesuskindes. In 3,1–4,16 kommt Jesus als Erwachsener zur Taufe (3,1–17), wird in der Wüste vom Teufel versucht (4,1–11) und siedelt schließlich nach Kafarnaum um; geschildert werden hier die Ereignisse unmittelbar vor Beginn seines öffentlichen Wirkens.

I 1 Der Stammbaum Jesu (1,2–17) 2 Abraham zeugte Isaak; Isaak aber zeugte Jakob; Jakob aber zeugte Juda und seine Brüder; 3 Juda aber zeugte Perez und Serach aus Tamar; Perez aber zeugte Hezron; Hezron aber zeugte Aram; 4 Aram aber zeugte Amminadab; Amminadab aber zeugte Nachschon; Nachschon aber zeugte Salmon; 5 Salmon aber zeugte Boas aus Rahab; Boas aber zeugte Obed aus Rut; Obed aber zeugte Isai; 6 Isai aber zeugte den König David. David aber zeugte Salomo aus der (Frau) des Urija; 7 Salomo aber zeugte Rehabeam; Rehabeam aber zeugte Abija; Abija aber zeugte Asa; 8 Asa aber zeugte Joschafat; Joschafat aber zeugte Joram; Joram aber zeugte Usija; 9 Usija aber zeugte Jotam; Jotam aber zeugte Ahas; Ahas aber zeugte Hiskija; 10 Hiskija aber zeugte Manasse; Manasse aber zeugte Amos; Amos aber zeugte Joschija; 11 Joschija aber zeugte Jechonja und seine Brüder zur Zeit der Verbannung nach Babylon. 12 Nach der Verbannung nach Babylon aber zeugte Jechonja Schealtiël; Schealtiël aber zeugte Serubbabel; 13 Serubbabel aber zeugte Abihud; Abihud aber zeugte Eljakim; Eljakim aber zeugte Azor; 14 Azor aber zeugte Zadok; Zadok aber zeugte Achim; Achim aber zeugte Eliud; 15 Eliud aber zeugte

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Der Prolog (1,2–4,16)

Eleasar; Eleasar aber zeugte Mattan; Mattan aber zeugte Jakob; 16 Jakob aber zeugte Josef, den Mann Marias, aus welcher Jesus, der Christus genannt wird, gezeugt wurde. 17 Alle Generationen von Abraham bis David sind also vierzehn Generationen; und von David bis zur Verbannung nach Babylon sind es vierzehn Generationen; und von der Verbannung nach Babylon bis zum Christus sind es vierzehn Generationen Der in 1,1 aufscheinende Gedanke, dass die Herkunft eines Menschen Wesentliches über seine Bedeutung auszusagen vermag, wird durch den Stammbaum in 1,2–16 vertieft. Was auf den ersten Blick als spröde Aneinanderreihung von Vorfahren anmutet, die zudem so wenig wie die ganz anders geartete Genealogie in Lk 3,23–38 historisch zuverlässige Informationen bietet, zeigt sich bei näherem Hinsehen als ein schriftgelehrtes Kunstwerk, das wesentliche christologische Aussagen vorbringt. Dies geschieht zum einen durch die Zusätze zum genealogischen Schema 17 „x zeugte y“, zum anderen durch die Strukturierung in dreimal vierzehn (dass hier der hebräische Zahlwert von „David“ Pate stand, kann man nur vermuten) Generationen in Matthäus’ Kommentar zum Stammbaum in V. 17. So evoziert die nach V. 17 in allen drei Segmenten gleiche Generationenzahl den Gedanken, dass die mit der Erwählung Abrahams beginnende Heilsgeschichte zielgerichtet auf Jesus zuläuft. Wer nachzählt, merkt freilich, dass die Liste nicht dreimal vierzehn Glieder enthält: Jesus gehört nicht zur 42., sondern zur 41. Generation. Von Abraham bis einschließlich David ergeben sich tatsächlich 14 Generationen; für die folgenden beiden Epochen stehen aber nur noch 27 Generationen zur Verfügung, so dass eine Generation doppelt gezählt werden muss. Eine Lösung ist möglich, wenn man beachtet, dass mit David eine Person, hingegen mit dem Exil ein Zeitabschnitt bzw. ein historisches Geschehen als Epochenmarkierung genannt wird. David als letztes Glied der ersten Periode und erstes Glied der zweiten Periode doppelt zu zählen, entspricht präzise Matthäus’ Angaben „von Abraham bis David“ und „von David bis zum Exil“. Zählt man vierzehn Generationen von David, kommt man bis Joschija. Dies aber passt zur – historisch freilich problematischen (dazu unten) – Aussage in V. 11, dass Joschija Jechonja zur Zeit der Verbannung nach Babylon zeugte. Von David bis zum Beginn des Exils (= Joschija) sind es vierzehn Generationen. Die Zeit von der erfolgten Exilierung nach Babylon an lässt Matthäus dann mit Jechonja beginnen. Von ihm bis einschließlich Jesus ergeben sich dann ebenfalls vierzehn Generationen. Aufgrund der doppelten Zählung von David beträgt zugleich die Zahl der Generationen bis einschließlich Josef genau die in der biblischen Erzählwelt symbolisch aufgeladene Zahl 40. Israels Wüstenwanderung dauerte 40 Jahre (Ex 16,35; Num 14,33f; Jos 5,6 u. ö.), die Sintflut 40 Tage (Gen 7,4.12.17), ebenso betrug die Frist von Jonas Predigt bis zum ange-

Der Stammbaum Jesu (1,2–17)

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drohten Strafgericht über Ninive 40 Tage (Jona 3,4), um nur drei Beispiele zu nennen. Der Stammbaum Jesu signalisiert entsprechend: Mit den 40 Generationen bis Josef ist die Zeit der mit Abraham beginnenden Verheißungsgeschichte zur Gänze gelangt. Nun beginnt ein neuer Zeitabschnitt. Mit den in 1,17 angezeigten Epochen sind im Stammbaum verschiedene thematische Aspekte verbunden. Die Zeitspanne von Abraham bis David 2–6a ist die Epoche, in der die Heilsverheißungen gegeben wurden (vgl. zu 1,1). Die Glieder von Abraham bis David konnte Matthäus leicht der Schrift entnehmen (vgl. v. a. Rut 4,18–22; 1Chr 2,3–15). Die Hinzufügung der Brüder bei Juda (1,2) evoziert das Motiv des Zwölfstämmevolkes, das später bei der Einführung des Zwölferkreises direkt vor der Sendung zu Israel (10,1–6) sowie in 19,28 erneut anklingen wird. Indem Matthäus in der zwei- 6b–11 ten Epoche die Genealogie von David an – anders als Lukas – über die Könige Judas führt (vgl. 1Chr 3,10–16), stellt sich der Stammbaum Jesu weiterhin als eine verdichtete Vergegenwärtigung der Geschichte Israels dar. Zugleich verstärkt Matthäus auf diese Weise den schon in 1,1 mit dem Motiv der Davidsohnschaft eingeführten königlichen Akzent seiner Präsentation Jesu. Die in V. 17 genannte Generationenzahl ergibt sich in dieser zweiten Epoche freilich nur, weil zwischen Joram und Usija (= Asarja) die drei Könige Ahasja, Joasch und Amazja (vgl. 2Kön 8,24–14,20; 1Chr 3,11f) fehlen und zudem in V. 11 zwischen Joschija und Jechonja (= Jojachin, 2Kön 24,6–16) Jojakim (2Kön 23,34–24,6) ausgefallen ist. Bei Letzterem kommt hinzu, dass von den Brüdern Jechonjas die Rede ist, von denen in der Schrift nichts verlautet (nach 1Chr 3,16 hatte Jechonja einen Bruder namens Zidkija, vgl. 2Chr 36,10 MT), deren Erwähnung aber gut zu Jojakim passen würde: Nach 1Chr 3,15 hatte Joschija vier Söhne: Johanan, Jojakim, Zidkija und Schallum (vgl. Jer 22,11f), der in 2Kön 23,31–33; 2Chr 36,1–3 Joahas heißt. Von diesen werden Joahas, Jojakim und schließlich – nach der nur dreimonatigen Regentschaft von Jojakims Sohn Jojachin/ Jechonja (2Kön 24,8–16; 2Chr 36,9) – Zidkija König, so dass die Erwähnung der Brüder verständlich ist. Da ferner mit dem Joschijaenkel Jechonja zwar die erste Wegführung nach Babylon verbunden ist (2Kön 24,8–16), mit dem Joschijasohn Zidkija aber die zweite samt Zerstörung Jerusalems (2Kön 25,1–21), ist ferner auch nachvollziehbar, dass das Exil mit der Generation nach Joschija verbunden wird. Für die Weiterführung der Genealogie bot sich aber allein Jechonja an. Denn dieser wurde nicht nur im Exil begnadigt (2Kön 25,27–30), sondern er war nach 1Chr 3,17 ferner auch der Vater Schealtiels, der wiederum der Vater Serubbabels war (Esra 3,2 u. ö.), während Zidkijas Söhne von Nebukadnezar getötet wurden (2Kön 25,7). Alternativ dazu, Mt 1,11 als Zusammenziehung des dargelegten komplexen Befundes aufzufassen, kann man erwägen, dass eine Verwechslung wie im 3Esra vorliegt, wo Jechonja als Sohn Joschijas anstelle von Joahas steht (1,32), während der Sohn Jojakims ebenfalls Jojakim heißt (1,41).

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Der Prolog (1,2–4,16)

Durch die – mit V. 17 in ihrem Gewicht unterstrichene – Erwähnung des Exils wird implizit auf die seither bestehende Vakanz auf dem Thron Davids verwiesen, der mit dem Davidsohn Jesus ein Ende bereitet wird. Läuft der erste Teil des Stammbaums mit dem König David auf einen ersten Höhepunkt der Geschichte Israels zu, so kennzeichnet die Erwähnung des Exils das zweite Segment als eine Geschichte des Niedergangs. Der von David zu Jesus laufende Bogen wird in der Genealogie noch dadurch hervorgehoben, dass vor dem Christustitel in V. 16 allein bei David ein Titel angefügt ist: David ist der König, Jesus sein messianischer Nachfolger. Im dritten Teil des Stammbaums lassen sich zwar nur noch die ersten 12–16 beiden Namen, Schealtiel und Serubbabel, genealogischen Angaben des AT entnehmen (1Chr 3,19 LXX [diff. MT]; Esra 3,2.8 u. ö.), doch ist die weitere Liste nicht planlos zusammengestellt. Mit Serubbabel ist die Wiedererrichtung des Opferaltars (Esra 3,2–6) und die Initiative zum Wiederaufbau des Tempels verbunden (Esra 3,8–4,3; 5,2). Dazu passend finden sich unter den nachfolgend genannten Personen auffallend viele, die im AT Namensvettern haben, die mit Priestertum und Tempel in Verbindung stehen, so z. B. Abihud (1Chr 5,29), Eljakim (Neh 12,41), Zadok (2Sam 15,29; 1Chr 5,34.38 u. ö.), Eleasar (1Chr 24,1–4). Diese intertextuellen Referenzen legen nahe, dass Matthäus den königlichen Akzent um einen priesterlichen ergänzen wollte (vgl. Ostmeyer, Stammbaum, 182–185). Dazu passt, dass Jesus nach 1,21 die „priesterliche“ Aufgabe zukommt, sein „Volk von ihren Sünden zu retten“. Man kann damit die genealogische Eröffnung der Vita von Josephus vergleichen, in der dieser sich seiner königlichen und vor allem priesterlichen Herkunft als des Höchsten, was im Judentum an Adel aussagbar ist, rühmt (Vita 1–6). Allerdings muss Jesus nicht damit geadelt werden, dass er Könige und Priester als Vorfahren hat; in Mt 1 liegt der Ton auf den Funktionen, die Jesus hat und die an seinem Stammbaum ablesbar sind. Er wird das Volk als königlicher Messias leiten und es von seinen Sünden retten. Mit Letzterem deutet sich zugleich an, in welchem Sinn der Messias nach Matthäus die Situation des Exils beendet. Die auffälligste Erweiterung des genealogischen Grundschemas ist die 3.5.6 Einfügung von vier Frauen (vor Maria), zumal hier nicht die bedeutenden Stammmütter Sara, Rebekka und Lea (als Mutter von Juda) genannt werden, sondern Tamar (Gen 38), Rahab (Jos 2; 6), Rut (Rut 1–4) und „die des Urija“, also Batseba (2Sam 11f). Diese auffällige Auswahl lässt danach fragen, was diese vier verbindet. Die plausibelste Lösung ist, dass Matthäus in ihnen Nichtjüdinnen, genauer: Proselytinnen, gesehen hat. Bei Rahab und Rut ist ihre nichtjüdische Herkunft evident (Jos 2; 6; Rut 1,4). Tamar, über deren Herkunft in Gen 38 nichts verlautet, wird von Philo als eine Götzendienerin aus dem palästinischen Syrien dargestellt, die sich zu

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dem einen Gott bekehrte (Virt 220–222). Zu Batseba begegnen im AT lediglich unterschiedliche Angaben zum Namen ihres Vaters (2Sam 11,3; 1Chr 3,5), doch ist damit keine Klarheit über ihre Herkunft gewonnen. Dass sie nicht mit ihrem Namen, sondern als „die des Urija“ eingeführt wird, kann man zwar für sich genommen auch als Hinweis auf Davids Unrecht interpretieren, doch liegt im Kontext der drei anderen Frauen wesentlich näher, dass Matthäus Batseba über ihren Mann, der Hethiter war (2Sam 11,3), als Nichtjüdin ausweisen wollte. Als weitere Nichtjüdin im Stammbaum Jesu hätte neben diesen vier Frauen noch die Mutter Rehabeams, die Ammoniterin Naama (1Kön 14,21.31; 2Chr 12,13), genannt werden können, doch ist ihr Fehlen verständlich. Denn Naama hat sich gerade nicht der Verehrung des einen Gottes Israels angeschlossen; vielmehr steht umgekehrt Salomos Liaison mit ihr im Kontext seines Abfalls von dem einen Gott (vgl. 1Kön 11,1–8, bes. V. 5). Sie passt daher nicht zu Matthäus’ Intention, mit der Einfügung der Frauen einen Hinweis auf die Universalität des in Jesus erscheinenden Heils zu geben. Zugleich macht diese Einfügung, ekklesiologisch gewendet, deutlich, dass Israel schon immer für Nichtjuden offen war, die sich der Verehrung des einen Gottes anschlossen. Wenn die in Jesu Wirken begründete Heilsgemeinde Juden und Nichtjuden einschließt, bedeutet dies daher keinen grundsätzlichen Bruch mit Israels Geschichte und Selbstverständnis; vielmehr kommt darin zur Erfüllung, was in der auf Jesus zulaufenden Geschichte Israels angelegt war. In V. 16 wird das starre genealogische Schema in auffälliger Weise 16 durchbrochen: Die Genealogie läuft zwar über Josef, doch erscheint er nicht als leiblicher Vorfahre Jesu, sondern wird lediglich als „Mann der Maria“ bezeichnet, „aus welcher Jesus, der Christus genannt wird, gezeugt wurde“. 1,18–25 wird die damit erzeugte Spannung auflösen.

I 2 Geburt, Verehrung, Gefährdung und Bewahrung des David- und Gottessohnes (1,18–2,23) In dem Erzählzyklus 1,18–2,23 bildet sich in den durch eine Kette von göttlichen Interventionen bestimmten Geschehnissen vor und nach der Geburt Jesu sowohl seine zukünftige Rolle als auch der Konflikt, der sein Wirken maßgeblich begleiten wird, im Voraus ab. Der Zyklus wird geläufig mit 1,18–25; 2,1–12; 2,13–23 in drei Unterabschnitte untergliedert. Da 2,13–23 in sich dreigeteilt ist, kann man alternativ auch eine fünfgliedrige Unterteilung erwägen, in der, grob gesagt, Josef- (1,18–25; 2,13–15.19–23) und Herodesszenen (2,1–12.16–18) einander abwechseln. Anders als in Lk 1–2 tritt Maria als Handlungsträgerin völlig zurück; nicht einmal die Geburt Jesu wird eigens geschildert, sondern in 1,25; 2,1 in Zeitangaben „versteckt“.

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Der Prolog (1,2–4,16)

In allen fünf Szenen wird das Geschehen durch ein Schriftzitat beleuchtet. In 1,22f; 2,15; 2,17f; 2,23 geschieht dies auf der Ebene des Erzählerkommentars in Form eines Erfüllungszitats; in 2,5f erschließen die Hohepriester und Schriftgelehrten den Geburtsort des Messias aus der Schrift. Ein für den Erzählzyklus charakteristisches und zugleich kohärenzstiftendes Element sind zudem die Traumoffenbarungen, die Josef (1,20f; 2,13; 2,19 f.22) und den Magiern (2,12) zuteilwerden. Dabei lassen sich formal zwei Gruppen unterscheiden: In 1,20f; 2,13 und 2,19f ist jeweils vom Erscheinen eines Engels des Herrn im Traum die Rede, und es wird jeweils in wörtlicher Rede die Botschaft des Engels mitgeteilt, während es in 2,12 und 2,22 nur heißt, dass die Magier bzw. Josef im Traum Weisung empfingen. Bei der ersten Gruppe folgt erzählerisch jeweils die genaue Ausführung des Auftrags des Engels durch Josef, der auf diese Weise als ein Gott gehorsamer Gerechter präsentiert wird. Der Erzählzyklus ist ferner von einer Reihe von Anspielungen an die Erzählung von der Gefährdung und Rettung des Mosekindes (Ex 2) und ihrer frühjüdischen Ausgestaltung, wie sie vor allem durch Josephus, Ant 2,205–237 bezeugt wird, geprägt. Wird Herodes durch Schriftgelehrte über den Ort der Geburt belehrt, so erfährt Pharao nach Ant 2,205 von einem Schriftgelehrten von der Geburt eines Israeliten, der die Herrschaft der Ägypter erniedrigen und die Israeliten erhöhen wird. Im TPsJ zu Ex 1,15 wird dem Pharao ein Traum, in dem er das Land Ägypten auf der einen Waagschale und ein schwerer wiegendes Lamm auf der anderen gesehen hat, als Hinweis auf die Geburt eines Israeliten gedeutet, durch den das Land Ägypten zerstört werden wird. Der Pharao reagiert – wie bei Matthäus Herodes – auf die Gefahr mit dem Befehl zum Kindermord (Josephus, Ant 2,206; TPsJ zu Ex 1,15), d. h. die kollektive Tötung der Kinder zielt hier analog zu Mt 2,16–18 im Grunde auf den einen, der angekündigt wurde. Die Josef im Traum zuteilwerdenden Engelserscheinungen haben bei Josephus darin ein Pendant, dass Gott Moses Vater Amram, der Gott im Gebet um Erbarmen angefleht hat, im Traum erscheint und ihm die Bewahrung von Mose zusagt (Ant 2,212–216). Analog zum Verweis des Engels auf die Aufgabe Jesu in 1,21 kündet Gott Amram im Traum ferner an, dass Mose das Volk der Hebräer von ihrer Bedrängnis unter den Ägyptern befreien werde (2,216; in LAB 9,10 empfängt Mirjam eine Traumoffenbarung über Moses zukünftige Rolle). Zudem liest sich Matthäus’ Begründung für die Weisung zur Rückkehr ins Land Israel („denn gestorben sind die, die nach dem Leben des Kindes trachteten“, 2,20) wie eine Nachahmung der Begründung der Weisung an Mose zur Rückkehr nach Ägypten nach der Flucht nach Midian in Ex 4,19 LXX (vgl. auch Mt 2,21 mit Ex 4,20), zumal Matthäus trotz des Bezugs allein auf den Tod von Herodes (V. 19) wie Ex 4,19 pluralisch formuliert. Diese Anspielungen verbinden sich mit einer topographischen Kontrastbildung: Die Gefährdung des Heilsbringers geht nicht vom ägyptischen Herrscher, sondern von dem in Jerusalem residierenden König und den dortigen Hohepriestern und Schriftgelehrten aus. Ägypten, der Ort der Unterdrückung Israels, mutiert hingegen zur Zufluchtsstätte Jesu.

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Durch die wiederholten Schriftzitate und die Traumoffenbarungen sowie durch die Anklänge an die Erzählung vom wundersam geretteten Mosekind stellt Matthäus heraus, dass die Geschichte von Gott gelenkt ist. Die Macht der Gegner des Gottessohnes Jesus ist hingegen begrenzt; ihr Vorgehen gegen Jesus ist nicht von Erfolg gekrönt. Der Erzählzyklus im Prolog zeigt sich hier deutlich als ein Vorspiel zur Passion. Die Gemeinsamkeiten von Mt 1,18–2,23 mit Lk 1,5–2,40 beschränken sich auf ein dürres Grundgerüst: Maria, die Verlobte Josefs (Mt 1,18; Lk 1,27; 2,5), ist vom Heiligen Geist schwanger (Mt 1,18.20; Lk 1,35), womit sich das Motiv der Jungfrauengeburt und der Gottessohnschaft Jesu verbindet (Mt 2,15; Lk 1,32.35); der Name des Kindes wird durch einen Engel kundgetan (allerdings in Lk 1,31 gegenüber Maria, in Mt 1,21 gegenüber Josef); Geburtsort ist Betlehem (Mt 2,1; Lk 2,4–7); dem steht christologisch das Motiv der davidischen Herkunft bzw. Messianität Jesu zur Seite (Mt 1,20; 2,2–6; Lk 1,32.69; 2,4). Alles Übrige ist anders und zum Teil nicht oder nur schwer miteinander zu vereinbaren. Vorgegeben sind also allein christologische Basismotive: Der Glaube an Jesus als den Sohn Gottes wird durch die Jungfrauengeburt und die Zeugung aus dem Heiligen Geist illustriert; und mit dem Glauben, dass Jesus der erwartete Messias aus dem Haus Davids ist, verbindet sich, dass Betlehem zum Geburtsort Jesu wird, was historisch gegenüber Nazaret die unwahrscheinlichere Option ist. Die in Mt 1–2 bzw. Lk 1–2 vorliegende narrative Ausgestaltung dieses Grundgerüsts hat dann jeweils unterschiedliche Wege genommen. Dass der mt Erzählzyklus wesentlich durch die dem Messias aus Jerusalem erwachsende Feindschaft geprägt ist, fügt sich dabei der Betonung des Konflikts mit den jüdischen Autoritäten als einem wesentlichen Charakteristikum des Mt im Ganzen nahtlos ein. Diese Kongruenz bietet zugleich ein wichtiges Indiz dafür, dass sich die Ausgestaltung des Erzählzyklus in Mt 1–2 im Wesentlichen dem Evangelisten selbst bzw. seinem Kreis verdankt. Die Dichte des Bezugs auf die Schrift sowohl in Gestalt von Zitaten als auch in Form der Anspielungen auf die Moseerzählung erhärtet diese Annahme. Die Rolle der Schrift dürfte dabei nicht darin aufgehen, dass sie sekundär Interpretamente für die Ausgestaltung der Erzählung bereitgestellt hat. Vielmehr dürfte das Motiv der Gefährdung des Mosekindes und seine Verbindung mit Ägypten eine wesentliche Inspirationsquelle für den durchweg legendarischen Erzählzyklus in Mt 2 gewesen sein.

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Der Prolog (1,2–4,16)

I 2.1 Die Eingliederung des Gottessohnes in die Nachkommenschaft Davids (1,18–25) 18 Mit dem Ursprung Jesu Christi verhielt es sich aber so: Als seine Mutter Maria dem Josef verlobt worden war, fand es sich, ehe sie zusammenkamen, dass sie schwanger war vom Heiligen Geist. 19 Josef aber, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht bloßstellen wollte, wollte sie in aller Stille entlassen. 20 Nachdem er das aber überlegt hatte, siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sprach: „Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen! Denn das in ihr Gezeugte ist vom Heiligen Geist. 21 Sie aber wird einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von ihren Sünden retten.“ 22 Dies alles aber geschah, damit erfüllt würde, was vom Herrn durch den Propheten gesagt wurde, der spricht: 23 „Siehe, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben“, was übersetzt heißt: „Mit uns ist Gott“. 24 Als Josef aber vom Schlaf aufwachte, tat er, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich. 25 Und er erkannte sie nicht, bis sie einen Sohn gebar; und er gab ihm den Namen Jesus. Angesichts der in 1,16 erzeugten Spannung fährt Matthäus in 1,18–25 fort, die Umstände der Herkunft Jesu (vgl. 1,1) zu erläutern. Der Text klärt jedoch nicht nur, warum Jesus tatsächlich ein Sohn Davids ist, sondern führt zugleich auch weitere bedeutsame christologische Aspekte ein. Matthäus’ Augenmerk ist ferner darauf gerichtet, die göttliche Regie des Geschehens herauszustellen. Matthäus nennt die Hauptsache gleich zu Beginn: Maria ist vom Hei18–19 ligen Geist schwanger. In dem Bestreben, das Geschehen als von Gott gelenkt darzustellen, rückt Matthäus allerdings anders als Lk 1 nicht Maria, sondern Josef erzählerisch ins Zentrum. Dass seine Verlobte schwanger ist, bevor sie zusammenkamen, bringt ihn in eine heikle Lage. Die verlobte Frau blieb zwar noch im Haus der Eltern. Aber bereits mit der Verlobung wurden rechtlich verbindliche Verhältnisse zwischen den Partnern geschlossen, aus denen man nur durch einen Scheidebrief herauskam. Maria heißt deshalb zu Recht in V. 20 bereits Josefs Frau. Die Umstände, wie Josef von der Schwangerschaft Kenntnis erhielt, liegen außerhalb des erzählerischen Interesses. V. 19 schildert allein seine Reaktion. Marias Schwangerschaft ließ nach menschlichem Ermessen nur den Schluss zu, dass sie Ehebruch begangen hatte. Die Konsequenz musste die Trennung sein, denn Scheidung war im Falle von Ehebruch nach dem damaligen jüdischen Rechtsverständnis nicht ins Belieben gestellt (vgl. zu 5,32). Josef möchte die Trennung aber im Stillen vollziehen und Maria nicht öffentlich

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bloßstellen. Für Matthäus zeigt sich darin, dass Josef ein Gerechter ist. Denn der Verzicht auf öffentliche Bloßstellung ist für ihn Implikat des Liebesgebots als der nach Matthäus zentralen Richtschnur des Handelns im Sinne der Tora (vgl. zu 18,15). Zur leise vollzogenen Trennung kommt es jedoch nicht, weil Josef im 20 Traum durch einen Engel des Herrn über die wahre Herkunft des Kindes aufgeklärt wird. Es ist Gott, der das Geschehen steuert. Der Engel beauftragt Josef zudem mit der Namensgebung (anders Lk 1,31). Die Anrede Josefs mit „Sohn Davids“ weist darauf hin, dass es um die Klärung der durch 1,16 evozierten Frage geht, wieso Jesus durch eine über Josef geführte Genealogie als „Sohn Davids“ (vgl. 1,1) ausgewiesen werden kann, obwohl von Josef nicht gesagt wird, dass er sein leiblicher Vater ist: Mit der Namensgebung nimmt Josef Jesus als seinen Sohn an. Die Szenerie in 1,20f ist deutlich durch atl. Geburtsankündigungen inspiriert (Gen 16,7–12; 17,19; Ri 13,3–5; Jes 7,14). Besonders nahe steht Gen 16,11, wo die Ankündigung der Geburt eines Sohnes durch einen Engel ebenfalls mit dem Auftrag zur Namensgebung verbunden ist, an den sich eine den Namen deutende Begründung anschließt. Dem Interesse, die Davidsohnschaft Jesu zu erläutern, steht christolo- 18.20 gisch zur Seite, dass mit dem Motiv der vom Geist gewirkten Zeugung Jesu (V. 18.20) zugleich das Motiv der Gottessohnschaft eingeführt wird. Zwar findet sich dies hier noch nicht titular ausgedrückt, doch weist die anderorts anzutreffende Verbindung von Geist und Gottessohnschaft (Mk 1,9–11; Lk 1,35; Röm 1,3f) deutlich in diese Richtung. In der atl.-frühjüdischen Tradition begegnet das Motiv der Gottessohnschaft in verschiedenen Verwendungszusammenhängen. Zum einen wird das Volk Israel als Gottes (erstgeborener) Sohn geadelt (Ex 4,22; Hos 11,1; Jub 2,20; 4Esra 6,58; 4Q504 Fragm. 1–2 3,5f u. ö.). Zum anderen ist eine weisheitliche Traditionsspur zu verzeichnen, in der der Gerechte als Sohn Gottes bezeichnet wird (Sir 4,10; Weish 2,18; 5,5, vgl. Mt 5,9.45). Für Mt 1 am wichtigsten sind drittens die vereinzelten Belege für das Motiv der Gottessohnschaft des (davidischen) Königs (2Sam 7,14; Ps 2,7; 89,27f). Im Vergleich zur Umwelt Israels ist die Vorstellung im AT sehr zurückhaltend konzipiert. Nicht physische Abstammung wird imaginiert, sondern der König wird als Sohn Gottes deklariert (Ps 2,7), von Gott als sein Sohn angenommen. In der frühjüdischen Messianologie hat das Motiv der Gottessohnschaft nach den erhaltenen Zeugnissen – wahrscheinlich wegen der Bedeutung des Gottessohnmotivs in antiken Herrscherideologien – höchstens eine marginale Rolle gespielt. 4Q174 Fragm. 1i+21+2 [3,]10–13 deutet 2Sam 7,11–14 messianisch. Umstritten ist, ob 4Q246 2,1 positiv auf den Messias zu beziehen ist oder einen heidnischen Herrscher meint.

Für Matthäus’ Christologie ist der Zusammenhang von Davidsohn- und Gottessohnschaft von leitender Bedeutung (vgl. zu 22,41–46 und in der Einleitung unter 2.1). Gegenüber den atl. Texten ist die Zuordnung dabei

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umgekehrt: Es wird nicht der davidische Herrscher von Gott als sein Sohn angenommen, sondern der – durch den Heiligen Geist gezeugte – Sohn Gottes durch Josef in die Nachkommenschaft Davids eingestellt. Dem korrespondiert, dass die Gottessohnschaft Jesu im Mt insgesamt als das zentrale christologische Prädikat erscheint. Dies wertet aber das Moment der davidischen Messianität Jesu nicht ab. Der Ton liegt vielmehr darauf, dass der Gottessohn Jesus in die Verheißungsgeschichte Gottes mit Israel eingestellt wird, sich in seinem irdischen Wirken Israel zuwendet und damit die dem Gottesvolk gegebenen Verheißungen ihre Erfüllung finden. Die Verbindung des Motivs der Gottessohnschaft Jesu mit dem der wundersamen, von Gott durch seinen Geist gewirkten Geburt durch eine Jungfrau ist kein auf Matthäus zurückgehender Mythos, sondern basiert, wie Lk 1,26–38 zeigt, auf Tradition. Über deren Alter kann man nur spekulieren. Weder Paulus noch Markus verraten eine Kenntnis dieses Mythos. Um seine Genese verstehen zu können, muss man beachten, dass das Motiv wundersamer, gottgewirkter Zeugung ohne Zutun eines Mannes in der antiken Erzählwelt auch anderorts begegnet, und zwar vor allem im Rahmen der Verehrung eines Herrschers als Sohn Gottes. So kursierte in der hellenistischen Welt über Alexander den Großen, dem die Verehrung als Sohn Gottes zuteilwurde (Plutarch, Alexandervita 27,9–28,1), der Mythos, dass der Gott Zeus-Ammon Alexanders Mutter Olympias in Gestalt einer Schlange begattete (Plutarch, Alexandervita 2,4–3,3). Ganz Ähnliches wurde in römischer Zeit von Augustus erzählt (Sueton, Divus Augustus 94,4). Vaterlose Helden gab es aber auch noch andere. Platon etwa wurde eine gottgewirkte Geburt zugeschrieben (Diogenes Laertios, VitPhil 3,2; Plutarch, Mor 717D–E, vgl. Origenes, Contra Celsum 1,37). Dass das Judentum von diesem Erzählmotiv nicht gänzlich unberührt blieb, belegt die Erzählung von der wundersamen Geburt des Melchisedek in 2Hen 71, in der die unfruchtbare und zudem bereits greise Sopanima ohne Geschlechtsverkehr schwanger wird. Der Mythos von der übernatürlichen Geburt Jesu wird vor diesem Hintergrund als eine narrative Entfaltung des in ihm vorausgesetzten Gottessohnbekenntnisses mit Hilfe eines in der Umwelt vertrauten Motivs lesbar. Für Matthäus, der die Identität von irdischem und erhöhtem Christus betont, wurde Jesus – anders als in der von Paulus in Röm 1,3f aufgenommenen Tradition – nicht erst mit seiner Auferweckung „als Sohn Gottes in Kraft“ eingesetzt. Jesus wird aber auch nicht erst bei seiner Taufe (Mt 3,13–17, vgl. Mk 1,9–11) als Sohn Gottes angenommen, sondern das Geheimnis seiner messianischen Identität als Gottessohn, seine einzigartige Nähe zu Gott, wird – inspiriert durch das Motiv der gottgewirkten Geburt – bereits mit seiner Zeugung verbunden: Jesus hat seinen Ursprung in Gott und gehört damit von Anfang an ganz auf die Seite Gottes. Im Vergleich zum Alexander- oder Augustusmythos fällt dabei auf, dass

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jegliche geschlechtliche Andeutung zum Zeugungsakt fehlt. Einen eigenen Akzent erhält das Mt 1 (und Lk 1) zugrunde liegende Erzählgerüst ferner dadurch, dass die Schwangerschaft zur Zeit der Verlobung eintritt und Maria also noch Jungfrau ist. Matthäus hat allerdings an dem Motiv der Jungfräulichkeit Marias kein eigenständiges Interesse; nirgends im Evangelium wird sie noch einmal aufgenommen. Schon gar nicht hat der Evangelist eine bleibende Jungfräulichkeit Marias im Sinn, wie die ungezwungene Rede von den Brüdern Jesu in 12,46f bzw. von seinen Brüdern und Schwestern (13,55f) hinreichend deutlich werden lässt. Führt 1,18–20 die für das Mt im Ganzen zentrale Bestimmung der messianischen Identität Jesu als Sohn Gottes und Sohn Davids ein, so wird die christologische Exposition in 1,18–25 noch durch grundlegende Aussagen über die soteriologische Bedeutung Jesu angereichert. Matthäus bedient 21 sich dazu der Deutung des Namens „Jesus“ ( Jhwh ist Hilfe), die er in die Engelrede in V. 21 einflicht. Philo, Mut 121 belegt die Kenntnis der Bedeutung des Jesusnamens im griechischsprachigen Judentum: Jesus heiße „Heil des Herrn“. Matthäus’ Ausformulierung dürfte durch Ps 130,8: „Er wird Israel erlösen von allen seinen Sünden (LXX: Gesetzlosigkeiten)“ mit inspiriert sein. In der Konzentration des rettenden Handelns Jesu auf die Sündenvergebung in der Namensdeutung manifestiert sich die Zentralität dieses Moments für das mt Verständnis der Sendung Jesu: Nicht nur besitzt Jesus in seinem irdischen Wirken die Vollmacht, Sünden zu vergeben (9,2–8), auch sein Tod geschieht nach der mt Fassung des Kelchworts (26,28) explizit zur Vergebung der Sünden. Im weiteren Sinn ist hier insofern auch die ethische Unterweisung Jesu einzubeziehen, als die von Jesus vermittelte Kenntnis des Willens Gottes dazu verhilft, fortan Verfehlungen gegen diesen meiden zu können (vgl. Blanton, Obedience). V. 22f gehört nicht mehr zur Engelrede, sondern ist Erzählerkommentar: 22–23 Matthäus unterbricht die Erzählung durch die Einfügung seines ersten Erfüllungszitats. Die Zitateinleitung in 1,22 besitzt in 2,15 – und zwar nur dort – eine exakte Parallele. In 2,15 ist mit dem Zitat von Hos 11,1 erstmals ausdrücklich von Jesus als Sohn Gottes die Rede. Durch die gemeinsame Einleitungsformel zeigt Matthäus die sachliche Zusammengehörigkeit beider Zitate an und macht so deutlich, dass es auch in 1,23 um den Gottessohn geht, wodurch zugleich die These Bestätigung findet, dass mit der Vorstellung der gottgewirkten Geburt die Thematik der Gottessohnschaft Jesu eingeführt wird. „Dies alles“ in der Zitateinleitung bezieht sich primär auf das Motiv der gottgewirkten Zeugung, wobei der Sinn des zitierten Prophetenwortes durch die Einbettung in den mt Kontext an dieser Stelle signifikant verschoben wird. Denn während Jes 7,14 von der zukünftigen Schwangerschaft einer Frau, die aktuell noch Jungfrau ist, spricht und damit an sich überhaupt keine Aussage über eine übernatürliche Zeugung des Kindes verbindet, bezieht Matthäus das Wort auf die Jungfräulichkeit einer

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bereits schwangeren Frau. Die Bedeutung des Zitats erschöpft sich allerdings nicht darin, die besonderen Umstände der Geburt Jesu als Erfüllung der Schrift auszuweisen. Der Ton liegt vielmehr auf dem letzten Glied, in dem sich die einzige Änderung am Wortlaut von Jes 7,14 LXX findet: Statt der 2. Pers. Sg. „du wirst ihm den Namen Immanuel geben“ wählt Matthäus die 3. Pers. Pl., denn Matthäus will hier nicht eine mit V. 21 konkurrierende Namensgebung bieten, sondern er blickt voraus auf das spätere Bekenntnis der Jesusnachfolger: Sie haben in Jesus die heilvolle Präsenz Gottes erfahren; für sie ist er daher der Immanuel. Die in V. 21 vorgebrachte soteriologische Bedeutung Jesu wird auf diese Weise vertieft. Makrostrukturell bildet 1,23 zusammen mit der Verheißung des Auferstandenen in 28,20b eine inclusio, wenngleich es in 28,20 um das bleibende Mit-Sein des Auferstandenen mit den Jüngern geht (vgl. 18,20), während das Zitat in 1,23 Jesus selbst qualifiziert: Er ist der, durch den Gott bei den Menschen ist. Durch die Klammer, die durch das Motiv des Mit-Seins um die gesamte mt Jesusgeschichte gelegt ist, ist alles, was zwischen 1,23 und 28,20 geschildert wird, eingefasst in die Zusage des Mit-Seins Gottes in Jesus und des Mit-Seins Jesu mit den Seinen. Theologisch traditionell formuliert geht es hier um die indikativische Grundlage der mt Jesusgeschichte. Alles, was dieser Immanuel in der Nachfolge fordert, hat dieses Mit-Sein zum Vorzeichen. Als Josef erwacht, führt er getreu aus, was ihm der Engel aufgetragen 24–25 hat: Er nimmt Maria zu sich, ohne freilich bis zur Geburt mit seiner schwangeren Frau zu verkehren. Dies mag Ausdruck seiner Scheu vor dem Göttlichen sein, erscheint im Kontext frühjüdischer Sexualmoral aber auch als ein weiterer Ausdruck seiner Gerechtigkeit (vgl. Josephus, Bell 2,161 über die Essener). Nicht zuletzt liegt dies auch in der Konsequenz seines Verständnisses des Zitats von Jes 7,14, denn danach empfängt und gebiert die Mutter des Immanuel als Jungfrau. Überblickt man 1,18–25, so zeigt sich der Text als eine konzentrierte christologische Exposition. Erstens bleibt das Motiv der Davidsohnschaft präsent; es wird, anknüpfend an 1,16, erläutert, inwiefern bzw. warum Jesus tatsächlich Davidsohn ist. Zweitens wird mit der Geburt aus dem Geist der Gedanke der Gottessohnschaft Jesu eingeführt. Drittens wird über die Deutung des Namens „Jesus“ seine soteriologische Bedeutung exponiert: Er wird sein Volk von „ihren Sünden“ retten. Schließlich wird viertens das christologische Leitmotiv des Mit-Seins Gottes eingeführt und als Vorzeichen vor die nachfolgende Erzählung gesetzt: Gottes Zusage seines Mit-Seins mit seinem Volk realisiert sich in der Sendung Jesu. Kurz gesagt: Matthäus präsentiert in 1,18–25 Jesu Messianität als Davidsohn und Gottessohn und entfaltet seine soteriologische Bedeutung ebenfalls in einer doppelten Motivik, der Rettung von den Sünden zum einen, des Mit-Seins Gottes zum anderen.

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I 2.2 Die Verehrung des Königs der Juden durch die Magier (2,1–12) 1 Als aber Jesus in Betlehem in Judäa in den Tagen des Königs Herodes geboren war, siehe, da kamen Magier von Osten nach Jerusalem 2 und sagten: „Wo ist der König der Juden, der geboren wurde? Wir haben nämlich seinen Stern beim Aufgehen gesehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen.“ 3 Als aber der König Herodes das hörte, erschrak er und ganz Jerusalem mit ihm. 4 Und er versammelte alle Hohepriester und Schriftgelehrten des Volkes und erkundigte sich bei ihnen, wo der Christus geboren werde. 5 Die aber sagten zu ihm: „In Betlehem in Judäa, denn so ist durch den Propheten geschrieben: 6 ‚Und du Betlehem, Land Judas, keineswegs bist du die kleinste unter den Fürsten Judas. Denn aus dir wird ein Führer hervorgehen, der mein Volk Israel weiden wird.‘“ 7 Da rief Herodes die Magier heimlich zu sich und erkundete von ihnen genau die Zeit(dauer) der Sternenerscheinung, 8 und er schickte sie nach Betlehem und sagte: „Geht und forscht genau nach dem Kind! Sobald ihr es aber gefunden habt, meldet es mir, damit auch ich komme und ihm huldige.“ 9 Nachdem sie aber das vom König gehört hatten, zogen sie hin. Und siehe, der Stern, den sie beim Aufgehen gesehen hatten, zog ihnen voran, bis er ankam und über dem Ort stehen blieb, wo das Kind war. 10 Als sie aber den Stern sahen, freuten sie sich mit sehr großer Freude. 11 Und als sie in das Haus kamen, sahen sie das Kind mit Maria, seiner Mutter, und sie fielen nieder, huldigten ihm und öffneten ihre Schatzkästen und brachten ihm Geschenke, Gold, Weihrauch und Myrrhe. 12 Und weil sie im Traum die Weisung erhalten hatten, nicht zu Herodes zurückzukehren, entwichen sie auf einem anderen Weg in ihr Land. Nach der Überleitung in V. 1a, die die Verbindung mit 1,18–25 herstellt, wird die Erzählung in 2,1–12 durch die beiden Handlungsorte Jerusalem (V. 1b–9a) und Betlehem (V. 9b–12) gegliedert. Während im kürzeren zweiten Abschnitt das durch die Reisenotizen gerahmte Zentrum allein aus der knappen Darstellung der Verehrung des Jesuskindes durch die Magier besteht, lassen sich im Jerusalemteil – von der Rahmung durch die Ankunft und die Erkundigungen der Magier (V. 1b–2) und ihre Weiterreise (V. 9a) abgesehen – das Gespräch des Herodes mit den Hohepriestern und Schriftgelehrten (V. 3–6) und seine Zusammenkunft mit den Magiern (V. 7f) als Untereinheiten festhalten. Einen historischen Kern enthält die Erzählung nicht. Die motivischen Bausteine, aus denen sie hervorgegangen ist, werden im Zuge der Auslegung zu nennen sein (zur Moseerzählung s. in der Einleitung zu 1,18–2,23). Zu der in Mt 1,25 bereits vorausgesetzten Geburt werden in 2,1 Betle- 1–2 hem als Ort des Geschehens und „in den Tagen des Königs Herodes“ als

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Zeitangabe ergänzt, bevor mit dem für Matthäus’ biblisierenden Stil typischen „siehe“ das Auftreten der Magier eingeführt wird. Bezog sich die Bezeichnung „Magier“ ursprünglich auf eine persische Priesterkaste, so weitete sich die Bedeutung in hellenistischer Zeit auf andere Vertreter östlicher Weisheit aus, zu der wesentlich – wie hier – die Astrologie gehört. Magier begegnen in der Antike häufig im Umfeld von Königshöfen (s. z. B. Dan 2,2.10 LXX). Ihre heidnische Herkunft wird in V. 2 dadurch illustriert, dass sie vom „König der Juden“ sprechen. Die Wendung kehrt in Mt 27,11.29.37 wieder; sie wird immer von Nichtjuden gebraucht, während die jüdischen Autoritäten bei der Verspottung Jesu in 27,42 vom „König Israels“ reden. Matthäus setzt mit den Magiern also nach der Genealogie einen weiteren Hinweis auf die Universalität des Heils und unterstreicht zugleich das Zusammenspiel von Universalität und Israelbezug: Die Heiden finden ihr Heil in dem König der Juden (vgl. die Anrufung Jesu als „Sohn Davids“ durch die Kanaanäerin in 15,22). Der Herkunft der Magier korrespondiert, dass sie die Geburt des Heilskönigs aus einem Himmelsereignis erschließen: Wohl auf der Basis der Vorstellung eines bei der Geburt aufgehenden persönlichen Sterns (s. Plinius, NatHist 2,28, vgl. Platon, Tim 41D–E; Horaz, Ep 2,2,187) wird ihnen die Fähigkeit zugeschrieben, einen bestimmten Stern als seinen Stern zu identifizieren und dessen Aufgehen als Hinweis auf die Geburt des Königs zu entziffern. Vor allem aber dürfte Matthäus die Weissagung Bileams (Philo bezeichnet ihn in Mos 1,276 als Magier) in Num 24,17, dass ein Stern in Jakob aufgehen werde, vor Augen gehabt haben. Zum Kontext der Erzählung gehört ferner, dass der Stern in der hellenistisch-römischen Welt seit Alexander dem Großen ein geläufiges Herrschaftssymbol war und zudem unter den Zeitgenossen des Evangelisten die Erwartung eines Weltherrschers aus dem Osten virulent war (s. Josephus, Bell 6,312f; Tacitus, Hist 5,13 [„die Mehrzahl war überzeugt von dem in den alten priesterlichen Aufzeichnungen enthaltenen Wort, dass zu ebendieser Zeit das Morgenland erstarke und dass man von Judäa aus sich der Weltherrschaft bemächtigen werde“]; Sueton, Vespasianus 4,5). Auf diesem Hintergrund wird Mt 2,1f dahingehend lesbar, dass die Magier das Aufgehen des Sterns als Zeichen für die Erfüllung der genannten Herrschererwartung deuten. Erwägen kann man darüber hinaus, ob die Leser Mt 2 als Gegenerzählung zur Huldigung Neros durch den Partherkönig und – nach Plinius, NatHist 30,16f – Magier Tiridates im Jahre 66 n. Chr. wahrnahmen (s. v. a. Cassius Dio, HistRom 63,1–7, ferner Sueton, Nero 13): Der wahre König ist Jesus.

2–3 Von einer Begegnung der Magier mit Herodes ist bis V. 7 nicht die Rede. Die Szenerie in V. 2f dürfte vielmehr so zu verstehen sein, dass Herodes zugetragen wird, dass sich Magier in den Straßen Jerusalems nach dem geborenen König der Juden erkundigen. Damit wird auch verständlich, warum neben Herodes ganz Jerusalem erschrickt (vgl. 21,10): Die Erkundungen der Magier spielen sich in der Öffentlichkeit ab. Die – historisch

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angesichts der Unbeliebtheit von Herodes im Volk gänzlich unplausible – Einbeziehung von ganz Jerusalem in das Erschrecken des Königs weist auf die Rolle der Stadt in der Passion Jesu voraus (16,21; 21,10; 23,37; 27,24f): Matthäus lässt schon im Prolog anklingen, dass Jerusalem der Ort der Feinde Jesu ist. Mit dem Nebeneinander von König Herodes (V. 1, vgl. V. 3.9) und der Rede der Magier vom geborenen König der Juden (V. 2) wird zudem bereits subtil das im Folgenden bestimmende Konfliktmotiv angeschlagen: Die Geburt Jesu wird vom Idumäer Herodes als Gefährdung seiner Herrscherposition wahrgenommen. Herodes ruft daher die Hohepriester und Schriftgelehrten als Experten- 4–6 stab zusammen, um von ihnen den Geburtsort des Christus in Erfahrung zu bringen. Damit, dass er die Frage nach dem König der Juden zur Frage nach dem Messias transformiert, gibt Herodes ebenso zu erkennen, dass er begriffen hat, um wen es geht, wie die Hohepriester und Schriftgelehrten mit ihrer Replik (2,5f), in der sie den Verweis auf Betlehem durch den Rekurs auf die Herrscherverheißung in Mi 5,1 begründen. Das Michawort wird relativ frei wiedergegeben: Betlehem wird im „Land Juda“ lokalisiert, womit auf Juda als Stammvater des Königsstammes (Mt 1,2f) angespielt wird; durch die Einfügung von „keineswegs“ wird die in Mi 5,1 begegnende Wertung Betlehems als gering aufgehoben – vermutlich um anzuzeigen, dass sich die Bedeutung der Stadt durch die Geburt des Messias grundlegend verändert hat; vor allem aber sind an Mi 5,1 noch einige Worte aus 2Sam 5,2 angefügt, die dort auf die Herrschaft Davids über Israel bezogen sind und nun dazu dienen, die Rolle des davidischen Messias als die des messianischen Hirten seines Volkes zu bestimmen (vgl. 15,24 und atl. v. a. Ez 34,23). Der Messiastitel (V. 4) wird damit explizit in den Kontext der Erwartung des königlichen Messias aus dem Hause Davids eingestellt (vgl. 21,5.9). Fortan kommt dem davidischen Messiaskönig die Aufgabe zu, das Gottesvolk zu weiden. Ihm hätten sich der Idumäer Herodes und die mit ihm kollaborierenden jüdischen Autoritäten unterzuordnen. Dass sie dies trotz ihres Wissens um die Geburt des Messias nicht tun, ist dabei mehr als „nur“ bittere Ironie. Matthäus exponiert hier vielmehr ein Grundmotiv der Konfliktszenerie: Es geht um den Versuch der eigenmächtigen Selbstbehauptung der Autoritäten. Nachdem Herodes den vorhergesagten Ort der Geburt des Messias in 7–9a Erfahrung gebracht hat, sucht er heimlich Kontakt zu den Magiern, erforscht von ihnen die genaue Zeitdauer der Erscheinung des Sterns und sendet sie nach Betlehem, damit sie den genauen Ort ausfindig machen und ihm später Bericht erstatten. Herodes sucht die Magier also für seine Zwecke zu instrumentalisieren, um den messianischen „Konkurrenten“ zu ermorden. Auf dem Weg nach Betlehem wird die Auskunft des Herodes für die 9b–12 Magier insofern überflüssig, als ihnen wieder der Stern erscheint, dessen

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Aufgehen sie beobachtet haben. Dieser wird nun zu einem wandernden Stern, der ihnen den Weg zur Geburtsstätte Jesu weist. Der Weg der Magier wird also wundersam gelenkt. Es ist ferner kaum zu gewagt, in der Konstellation des über dem Haus stehen bleibenden Sterns eine Imitation der auf antiken Münzen geläufigen Abbildung des jeweiligen Herrschers mit Stern über dem Kopf zu sehen (dazu Küchler, Stern). Dem Erschrecken des Herodes (V. 3) tritt in V. 10 die „sehr große Freude“ der Magier (vgl. 28,8) kontrastiv gegenüber. In der Trias der Geschenke in 2,11, aus der später die Dreizahl der Magier gefolgert wurde, erinnern die ersten beiden, Gold und Weihrauch, an Jes 60,6, wo die Gaben mit dem Motiv der Völkerwallfahrt zum Zion verbunden sind. Ist dieses Motiv aufgrund der intertextuellen Referenz in Mt 2 mitzuhören, so ist allerdings zu konstatieren, dass es zum einen messianisch transformiert ist – die Magier kommen, um dem König der Juden zu huldigen (V. 2.11, vgl. dazu aber Ps 72,10f und PsSal 17,31a) – und zum anderen insofern modifiziert ist, als die Reise der Magier eben nicht in Jerusalem, sondern in Betlehem ihr Ziel findet. Dieser Modifikation korrespondiert die negative Rolle Jerusalems, die die Stadt bereits in 2,3 wie dann auch in der Passionsgeschichte spielt und die in ihre Zerstörung mündet. Das Hinzukommen der Völker ist nicht mehr als ein Kommen nach Jerusalem denkbar, sondern zu einem Kommen zum Messias, dem Immanuel, transformiert. Wurden die Magier wundersam zum Messiaskind geleitet, so entspricht dem, dass sie auf dem Rückweg aufgrund einer im Traum empfangenen Weisung nicht zu Herodes, sondern auf einem anderen Weg in ihr Land zurückkehren. Die Mordabsicht des Herodes ist damit durch die göttliche Intervention ein erstes Mal verhindert worden. I 2.3 Die Flucht nach Ägypten, der Kindermord zu Betlehem und die Übersiedlung nach Nazaret (2,13–23) 13 Als sie aber entwichen waren, siehe, ein Engel des Herrn erscheint im Traum dem Josef und sagt: „Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten und sei dort, bis ich es dir sage; denn Herodes hat vor, das Kind zu suchen, um es zu vernichten.“ 14 Er aber stand auf und nahm das Kind und seine Mutter des Nachts und entwich nach Ägypten 15 und war dort bis zum Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was vom Herrn durch den Propheten gesagt wurde, der spricht: „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.“ 16 Da, als Herodes sah, dass er von den Magiern getäuscht worden war, wurde er sehr zornig, und er schickte aus und ließ alle Knaben in Betlehem und in der ganzen Umgebung töten, vom Zweijährigen an abwärts, nach der Zeit, die er von den Magiern genau erkundet hatte. 17 Da

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wurde erfüllt, was durch den Propheten Jeremia gesagt wurde, der spricht: 18 „Eine Stimme wurde in Rama gehört, Weinen und viel Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, weil sie nicht (mehr) sind.“ 19 Als aber Herodes gestorben war, siehe, ein Engel des Herrn erscheint im Traum dem Josef in Ägypten 20 und sagt: „Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und zieh hin in das Land Israel; denn gestorben sind die, die nach dem Leben des Kindes trachteten.“ 21 Er aber stand auf und nahm das Kind und seine Mutter und ging hinein in das Land Israel. 22 Als er aber hörte, dass Archelaus in Judäa König ist anstatt seines Vaters Herodes, fürchtete er sich, dorthin zu gehen. Und weil er im Traum die Weisung erhalten hatte, entwich er in die Gegenden Galiläas 23 und kam und ließ sich nieder in einer Stadt mit Namen Nazaret, damit erfüllt würde, was durch die Propheten gesagt wurde, dass er Nazoräer genannt werden wird. Nach dem fehlgeschlagenen Unterfangen des Herodes, die Magier einzuspannen, um sich des als Konkurrenten seiner Macht wahrgenommenen davidischen Messias zu entledigen, unternimmt Herodes einen zweiten Versuch, der dank des erneuten göttlichen Eingreifens wiederum zum Scheitern verurteilt ist. 2,13–23 lässt sich in drei Unterabschnitte gliedern: Die Flucht nach Ägypten (V. 13–15) und die Rückkehr ins Land Israel (V. 19–23) rahmen die Schilderung des grausamen Vorgehens des Herodes (V. 16–18). Alle drei Abschnitte werden durch ein Erfüllungszitat abgeschlossen. Ferner sind der erste und der dritte Abschnitt deutlich auf- 13–15. einander abgestimmt: Nach einer Überleitungswendung ist jeweils gleich- 19–23 lautend davon die Rede, dass ein Engel des Herrn Josef im Traum erscheint (V. 13a.19, vgl. 1,20) und ihn auffordert, aufzustehen und das Kind und seine Mutter zu nehmen, woran sich jeweils ein Reiseauftrag anschließt, der sodann kurz begründet wird (2,13b.20). Die Schilderung der Ausführung der Aufträge durch Josef nimmt jeweils wörtlich die Engelrede auf, wie dies ebenfalls schon in 1,18–25 zu beobachten war. Es wird also erzählerisch der Gehorsam des gerechten (vgl. 1,19) Josef herausgestrichen. Zweites und noch gewichtigeres Thema ist wiederum die göttliche Führung: In allen Geschehnissen um Jesus ist Gott der eigentlich Handelnde. Die Worte des Engels, dass Herodes das Kind vernichten will, weisen 13–15 auf den Plan der Pharisäer in 12,14 und die Überredung des Volkes durch die Autoritäten in 27,20 voraus, wo jeweils dasselbe Verb Verwendung findet. Das durch die Traumoffenbarung betonte Motiv der Führung und Vorsehung Gottes wird durch das in V. 15 folgende Erfüllungszitat aus Hos 11,1 weiter profiliert. Nach der Grundlegung der Gottessohnschaft Jesu in 1,18–25 wird Jesus hier erstmals explizit als Sohn Gottes bezeichnet (zur Übereinstimmung der Einleitung zum Zitat in 2,15 mit 1,22 s. dort).

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Als Teil der Erzählung betrachtet, nimmt das Zitat die – in dem Verweis auf die Befristung des Aufenthalts allerdings bereits implizierte – Rückkehr vorweg (vgl. 21,4f im Verhältnis zu 21,8f). In Hos 11,1 bezieht sich „mein Sohn“ kollektiv auf Israel. Mit der Übertragung des Wortes auf Jesus verstärkt Matthäus die Anbindung der Jesusgeschichte an die Geschichte Gottes mit Israel, die bereits in 1,1–17 zu beobachten war. Die Geschichte Jesu wird in biblischen Farben koloriert: In seinem unter Gottes Leitung stehenden Weg wiederholt sich gewissermaßen die Grunderfahrung Israels. Anders aber als Israel wird Jesus in der Wüste (4,1) seine Gottessohnschaft im Gehorsam gegenüber Gottes Willen bewähren. Die Eröffnung von V. 16 mit „da“ verbindet den Vers mit V. 7: Handelte 16 Herodes dort aufgrund seiner durch die Befragung der Hohepriester und Schriftgelehrten gewonnenen Erkenntnis über die Geburt des Christus, indem er die Magier zu sich rief, so agiert er nun aufgrund der Einsicht, dass er von den Magiern betrogen wurde, indem er seine Leute aussendet, um alle altersmäßig in Frage kommenden Jungen zu töten. Matthäus arbeitet hier mit einer deutlichen Kontrastbildung. Während der Messiaskönig sein Leben zugunsten anderer hingeben wird, um seinen Auftrag zu erfüllen, sein Volk von den Sünden zu retten (1,21, vgl. 26,28), nimmt Herodes anderen das Leben, um seine Macht zu verteidigen. Diese Kontrastierung wird durch ein Textdetail unterstrichen: Nach V. 16 erkannte Herodes, dass er von den Magiern getäuscht bzw. verspottet worden war. Das hier verwendete Verb (empaizein) begegnet bei Matthäus sonst, im Anschluss an Mk, nur noch im Zusammenhang der Passion Jesu (20,19; 27,29.31.41). Mit der Aufnahme des Verbs in 2,16 stellt Matthäus also eine Verbindung zur Passion Jesu her: Herodes sieht sich verspottet durch die Magier – und reagiert, um seine Macht zu sichern, mit der Tötung vieler unschuldiger Kinder; Jesus wird verspottet durch die Übeltäter – und lässt sein Leben für die Vielen (vgl. 20,28). Für den Kindermord gibt es keinen von Mt 2 unabhängigen Beleg. Es liegt daher das Urteil nahe, dass sich V. 16 dem legendarischen Charakter der gesamten Erzählung einfügt. Die Fiktion konnte hier aber an die bekannte Grausamkeit und Skrupellosigkeit von Herodes anknüpfen, mit der er zur Sicherung seiner Macht gegen ihm potentiell gefährlich werdende mögliche Konkurrenten vorging, wobei er selbst seine eigenen Söhne Alexander und Aristobul nicht verschonte (Josephus, Ant 16,392–394). Solche Anknüpfung an die Wirklichkeit trägt zur Plausibilität der Fiktion bei: Der Kindermord in Betlehem ist etwas, was man Herodes durchaus zugetraut hätte. In der Einleitung zum Erfüllungszitat aus Jer 31,15 in V. 17 verbietet sich 17–18 aus theologischen Gründen das sonst übliche finale „damit“; stattdessen wird die Erfüllung lediglich konstatiert: „da wurde erfüllt“ (ebenso noch in 27,9f). Denn der Kindermord ist Matthäus zufolge in der Schrift zwar

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vorhergesehen, aber natürlich von Gott weder geplant noch gewollt. Angesichts der Betonung der Führung Gottes im Kontext wirft der Text gleichwohl das Problem der Theodizee auf: Warum müssen unschuldige Kinder unter dem grausigen Regiment des Herodes leiden, wenn Gott das Jesuskind retten kann? Diese Frage liegt offenbar außerhalb des erzählerischen Interesses des Evangelisten, der hier sein Augenmerk darauf richtet, die abgrundtiefe Bosheit und Grausamkeit des Herodes hervortreten zu lassen, mit der er angesichts der Geburt des Messias seine Position zu sichern sucht. Ebenfalls wie in 27,9 verweist Matthäus in der Einleitung ausdrücklich auf den Propheten Jeremia, der hier als Unheilsprophet fungiert. Im Zitat selbst ist anders als in der LXX-Fassung des Jeremiawortes nicht vom Weinen um die Söhne die Rede, was gut in den Kontext gepasst hätte, sondern die Kinder werden beweint. Matthäus schafft damit eine Querverbindung zu 27,25 („Sein Blut über uns und unsere Kinder“) und verzahnt also wiederum Mt 2 und die Passion miteinander. Das gegen Jesus gerichtete Handeln der Autoritäten bringt – auf unterschiedliche Weise – Unheil über das Volk. Nach dem Tod des Herodes empfängt Josef die Weisung zur Rückkehr 19–23 (zur Anspielung auf Ex 4,19f s. in der Einleitung zu 1,18–2,23). In dieser ist allerdings nicht spezifisch von Betlehem in Judäa die Rede, sondern vom Land Israel (V. 20.21). Mit dieser offenen Wendung, die an den Einzug des aus Ägypten befreiten Israel in das gelobte Land zurückdenken lässt, klingt nicht nur erneut der israeltheologische Horizont der mt Jesusgeschichte an (vgl. 10,6; 15,24), sondern es wird zugleich im engeren Kontext 2,22f vorbereitet: Da inzwischen Herodes’ Sohn Archelaus in Judäa das Regiment führt, fürchtet sich Josef, nach Judäa zurückzukehren, worauf er analog zu den Magiern (V. 12) im Traum eine Weisung empfängt und nach Galiläa entweicht. Matthäus verwendet hier dasselbe Verb wie zuvor bei den Magiern (V. 12.13) und vor allem wie bei der Flucht nach Ägypten (V. 14). Er wird das Verb noch einige weitere Male verwenden, wenn es um den Rückzug Jesu vor seinen Gegnern geht (12,15; 14,13; 15,21). Nach der Erwähnung Jerusalems in 2,3 bietet die Übersiedlung nach Galiläa einen weiteren Baustein der das gesamte Evangelium prägenden „theologischen Geographie“. Der davidische König gehört nach der jüdischen Tradition nach Jerusalem, doch ist für das Jesuskind in Judäa kein Bleiben, da er dort den Nachstellungen des etablierten Herrschers ausgesetzt wäre. Ebenso wird der erwachsene Jesus, der bei seinem Einzug in Jerusalem von den Volksmengen als davidischer Messias akklamiert wird, mit der Feindschaft der dortigen Autoritäten konfrontiert sein. Das dritte Erfüllungszitat in V. 23 „Er wird Nazoräer genannt werden“, mit dem die Ansiedlung in Nazaret belegt wird, birgt die Schwierigkeit, dass es sich in den bekannten atl. Schriften nicht als Zitat verifizieren lässt. Matthäus war sich dieses Sachverhalts offenbar bewusst, denn der nur

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hier in der Einleitung eines Erfüllungszitats begegnende Plural „durch die Propheten“ weist darauf hin, dass es nicht um einen bestimmten Wortlaut, sondern um einen Sachverhalt geht. Am plausibelsten ist, hier einen Anklang an das hebräische Wort nesär (= Sprössling, Zweig) zu vernehmen, das in der „messianischen“ Weissagung Jes 11,1 begegnet. Dem können mit Jer 23,5; 33,15; Sach 3,8; 6,12 weitere Texte zur Seite gestellt werden, die den hebräischen Äquivalentbegriff sämah (= Gewächs, Spross) verwenden, so dass der allgemeine Verweis auf die Propheten (vgl. 26,56) in der Einleitung des Zitats verständlich wird. Sollen in V. 23 Texte wie Jes 11,1; Jer 23,5; 33,15 mitgehört werden, tritt hier zugleich erneut die mt Betonung der davidischen Messianität Jesu hervor. Als historischer Hintergrund von Mt 2,23 sind Reflexionen über Nazaret als Ort, in dem Jesus aufgewachsen ist (und in Wirklichkeit wohl auch geboren wurde), zu vermuten, die auf kritische Anfragen reagieren: Wie sollte es sein, dass der Messias aus Galiläa und dann noch aus solch einem unbedeutenden Ort kommt (vgl. Joh 7,41)? In der Schriftreflexion in Mt 2,22f wird Nazaret gerade als Beleg dafür geltend gemacht, dass Jesus der erwartete Heilsbringer ist. Die Bezeichnung Jesu als Nazoräer begegnet bei Matthäus noch einmal, und zwar redaktionell, in 26,71 (den in Mk 1,24; 10,47; 14,67; 16,6 begegnenden Ausdruck „Nazarener“ meidet Matthäus); wieder wird also eine Verbindung von Mt 2 zur Passionsgeschichte angezeigt.

I 3 Jesus vor seinem öffentlichen Wirken (3,1–4,16) I 3.1 Das Wirken des Täufers (3,1–12) 1 In jenen Tagen aber kommt Johannes der Täufer und verkündigt in der Wüste von Judäa 2 und sagt: „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ 3 Dieser nämlich ist, von dem durch den Propheten Jesaja gesagt wurde: „Stimme eines Rufers in der Wüste. Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Pfade gerade!“ 4 Er aber, Johannes, hatte sein Gewand von Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Hüfte; seine Nahrung aber waren Heuschrecken und wilder Honig. 5 Da ging zu ihm heraus Jerusalem und ganz Judäa und die ganze Umgebung des Jordans, 6 und sie ließen sich von ihm taufen im Fluss Jordan, wobei sie ihre Sünden bekannten. 7 Als er aber viele der Pharisäer und Sadduzäer zu seiner Taufe kommen sah, sagte er zu ihnen: „Otternbrut, wer hat euch dargetan, zu fliehen vor dem kommenden Zorn? 8 Bringt also Frucht, die der Umkehr würdig ist! 9 Und meint nicht, ihr könntet bei euch sagen: ‚Wir haben Abraham zum Vater!‘ Denn ich sage euch, dass Gott aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken kann. 10 Schon aber ist die Axt an die

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Wurzel der Bäume gelegt. Jeder Baum nun, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. 11 Ich zwar taufe euch mit Wasser zur Umkehr; der aber, der nach mir kommt, ist stärker als ich, dessen ich nicht wert bin, die Sandalen zu tragen. Er wird euch mit Heiligem Geist und Feuer taufen. 12 Seine Worfschaufel ist in seiner Hand, und er wird seinen Drusch reinigen und seinen Weizen in die Scheune sammeln, die Spreu aber wird er mit unauslöschlichem Feuer verbrennen.“ Während Mt 1–2 mt Sondergut ist, nimmt Matthäus mit 3,1 den Markusfaden auf. Genauer: Er kombiniert in Mt 3,1–12 Mk 1,2–8 mit einem Bericht der Logienquelle über Johannes den Täufer, dem die Gerichtspredigt in 3,7–10 und das Gerichtswort in 3,12 entnommen sind und der ferner in V. 3 (Zitat von Jes 40,3), V. 11 (Voranstellung von „ich taufe euch mit Wasser …“, Taufe durch Geist und Feuer, vgl. Lk 3,16) sowie möglicherweise in V. 5 („die ganze Umgebung des Jordans“, vgl. Lk 3,3) einwirkt. Die Perikope lässt sich in zwei Abschnitte mit je zwei Unterabschnitten strukturieren. An die Präsentation des Wirkens des Täufers (V. 1–4) und der positiven Resonanz auf ihn im Volk (V. 5f) in V. 1–6 schließt sich in V. 7–12 eine durchgehende Rede an, die sich, wenngleich formal kein Einschnitt markiert wird, thematisch in die an Pharisäer und Sadduzäer adressierte Gerichtspredigt (V. 7–10) und die Ansage des Stärkeren (V. 11f) untergliedern lässt. Nicht nur durch die Rede in V. 7–12, sondern auch bereits durch die 1–3 Präsentation des Täufers zu Beginn hat Matthäus alles Gewicht auf dessen Verkündigung gelegt: Johannes der Täufer erscheint bei Matthäus als Umkehrprediger. Während bei Markus der zur Kennzeichnung des Täufers dienende Rekurs auf die Schrift (Ex 23,20; Mal 3,1; Jes 40,3) vorangeht (Mk 1,2f) und erst dann in V. 4 der Täufer selbst eingeführt wird, hat Matthäus dies umgestellt und dabei zudem die mk Notiz, Johannes habe die Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden verkündigt, zu wörtlicher Rede umgearbeitet. Die Worte des Täufers (V. 2) entsprechen dabei exakt den Worten, mit denen Matthäus in 4,17 auf der Basis von Mk 1,15 auch Jesu Verkündigung beginnen lässt und die ferner, nur um den einleitenden Imperativ verkürzt, in 10,7 den Verkündigungsauftrag an die Jünger inhaltlich bestimmen. Johannes ist für Matthäus der Vorläufer (vgl. 3,11). Den Jüngern kommt die Aufgabe zu, das Werk Jesu weiterzutragen. Durch die Korrespondenz zwischen 3,2; 4,17; 10,7 werden also Johannes, Jesus und die Jünger als Gottes Boten zusammengebunden (vgl. 21,28–22,10), deren gemeinsamer Auftrag es ist zu verkündigen, dass Gott dabei ist, seine Herrschaft aufzurichten. Der Ruf zur Umkehr erhält auf diesem Hintergrund seine Dringlichkeit. Die Umkehrmahnung gilt dabei keineswegs nur den gröbsten Sündern; vielmehr haben alle diese Umkehr nötig, wie Matthäus’ pauschale Rede von den „verlorenen Schafen des

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Hauses Israel“ exemplarisch zeigt (10,6; 15,24). Zugleich ist der Umkehrruf aber auch als Chance zu begreifen, das Vergangene hinter sich lassen zu dürfen und sich neu auf Gott auszurichten. In Matthäus’ Darstellung von Johannes als Umkehrprediger fügt sich ein, dass er nach 21,32 „auf dem Weg der Gerechtigkeit“ gekommen ist (s. zur Gerechtigkeit auch 3,15) und dort ferner mit der Rede von der ausgebliebenen Reue der Autoritäten eine Entsprechung zum Umkehrmotiv in 3,2 begegnet. V. 3 identifiziert den Täufer als den von Jesaja angekündigten Rufer in der Wüste, der die Menschen auf das Kommen des Herrn vorbereitet. Matthäus hat den ersten Teil des mk Mischzitats (Ex 23,20; Mal 3,1) auch in einem Passus über den Täufer in der Logienquelle vorgefunden (Mt 11,10 par Lk 7,27) und ihn hier wie Lukas weggelassen, so dass der Schriftrekurs auf Jes 40,3 reduziert ist. Nicht nur der Weg Jesu, sondern auch das Auftreten des Täufers ist Matthäus zufolge in der Schrift vorhergesagt, doch nimmt Matthäus beim Täufer nicht die explizite Rede von der Erfüllung der Schrift auf, die damit der Erläuterung des Weges Jesu vorbehalten bleibt. Stattdessen ähnelt 3,3 der – durch die Logienquelle vorgegebenen – Einleitung des ebenfalls auf den Täufer bezogenen Zitats in 11,10 (vgl. Lk 7,27). In V. 4–6 hat Matthäus die mk Sequenz erneut umgestellt. Er schließt 4–6 erst die Schilderung des Auftretens des Täufers durch den Verweis auf seine asketische Lebensweise ab (vgl. 11,18), der bei Markus erst auf die Schilderung des Zustroms des Volkes folgt. Ein härener Mantel ist nach Sach 13,4 Prophetenkleidung, der lederne Hüftgürtel lässt speziell an Elia denken (2Kön 1,8, vgl. Josephus, Ant 9,22), was gut dazu passt, dass Matthäus den Täufer ausdrücklich als wiedergekommenen Elia ausweist (11,14; 17,10–12). Mit V. 5 geht Matthäus dann zur Schilderung der Reaktion auf das Auftreten des Täufers über. Sein Zuspruch im Volk ist groß, wenngleich anders als später bei Jesus (4,25) auf Jerusalem, Judäa und die Umgebung des Jordans begrenzt. Die Taufe ist mit dem Bekenntnis der Sünden verbunden. Da Matthäus allerdings im Zuge der Umarbeitung von Mk 1,4 in 3,1f die mk Charakterisierung der Johannestaufe als Taufe zur Vergebung der Sünden übergangen, dieselben Worte aber beim Kelchwort in 26,28 ergänzt hat, ist 3,6 schwerlich so zu lesen, dass das Bekenntnis der Sünden auch deren Vergebung durch die Johannestaufe impliziert. Vielmehr wird die Vergebung der Sünden exklusiv mit Jesus verbunden. Die Johannestaufe erscheint bei Matthäus als ein Buß- und Umkehrzeichen: Sie gewährt keine Sündenvergebung, sondern symbolisiert die Umkehr der Täuflinge, wobei das Sündenbekenntnis die Abwendung von der früheren Existenz ausdrücklich macht. Diesem Verständnis fügt sich ein, dass Matthäus in V. 11 die Worte „zur Umkehr“ eingefügt hat (vgl. Lk 3,16; Mk 1,8) und also den Täufer selbst seine Wassertaufe als Taufe zur Umkehr (und nicht zur Vergebung der Sünden) bezeichnen lässt.

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Die Gerichtspredigt des Täufers ist bei Matthäus anders als in der Lo- 7–10 gienquelle nicht an das Volk (vgl. Lk 3,7–9), sondern speziell an die Pharisäer und Sadduzäer (vgl. Mt 16,1–12) adressiert. Und während Lk 3,7 unzweideutig sagt, dass die Volksmengen sich taufen lassen wollen (vgl. Mt 3,13 von Jesus), lässt die mt Wendung, dass die Pharisäer und Sadduzäer zu seiner Taufe kamen, Interpretationsspielraum hinsichtlich ihrer Absicht: Schließt dies den Willen ein, sich taufen zu lassen, oder kommen sie nur, weil sie sich angesichts des Zustroms des Volkes ein Bild von der Situation machen wollen? Die Frage in V. 7b hilft insofern nicht zur Entscheidung, als sie unterschiedlich gelesen werden kann. Im Sinne der ersten Option kann man sie so deuten, dass „zu fliehen vor dem kommenden Zorn“ die Absicht ihres Kommens reflektiert. Paraphrasiert: „Wer hat euch beigebracht, dass ihr zu meiner Taufe kommen müsst, wenn ihr dem kommenden Zorn entfliehen wollt?“ Sperrig ist hier, dass V. 9 ihnen implizit eine auf der Abrahamkindschaft beruhende Heilsgewissheit zuschreibt, welche die Taufe überflüssig erscheinen lässt. Gänzlich unwahrscheinlich wird diese Deutung im Lichte von 21,25.32, wo explizit festgehalten wird, dass die Autoritäten, hier die Hohepriester und Ältesten, Johannes nicht geglaubt haben (vgl. auch Mt 17,12). Dies führt zu der zweiten Option, die wesentlich besser zur sonstigen mt Darstellung der Autoritäten passt, wie sie sich hier in der scharfen Invektive „Otternbrut“ Ausdruck verschafft (vgl. 12,34; 23,33): Sie kommen nur, um sich ein Bild zu machen. V. 7b kann man dann so lesen, dass der Ton auf dem Fragepronomen „wer“ liegt: Wenn sie Johannes nicht folgen, wer hat dann ihnen dargetan, wie sie dem andringenden Zorngericht entgehen können? Und da ihnen die Meinung unterstellt wird, dass das Zorngericht sie nicht betrifft (V. 9), kann man die Frage auch wiedergeben mit: „wer hat denn euch gelehrt, dass ihr dem kommenden Zorn entgeht?“ Noch wahrscheinlicher aber dürfte es sein, die Frage als Sarkasmus zu lesen, der den Autoritäten ironisch die Einsicht unterstellt, dass das Zorngericht auch sie betrifft, so dass sie nach einem Weg suchen, diesem noch zu entkommen. Tatsächlich aber wähnen sie sich als Abrahamkinder sicher. Die nachfolgenden Verse verweisen sie dann auf die Notwendigkeit substantieller Umkehr (V. 8) und wehren die Berufung auf Abraham ab (V. 9), denn bloße Zugehörigkeit zur Nachkommenschaft Abrahams garantiert in keiner Weise das Heil. Für Matthäus gilt dies ebenso für die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde (vgl. 22,11–14). Entscheidend ist vielmehr das Tun des Willens Gottes, wie Jesus ihn gelehrt hat (5,20; 7,21–27), das Fruchtbringen (vgl. 7,16–20; 21,43). Die Aussage in V. 9b, dass Gott Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken vermag, lässt im biblischen Zusammenhang daran zurückdenken, dass schon die Geburt Isaaks angesichts des fortgeschrittenen Alters von Abraham und Sara (Gen 17,17) auf dem wundersamen Wirken Gottes beruhte, dem nichts unmöglich ist

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(Gen 18,14, vgl. Röm 4,17–21). Im Gesamtzusammenhang des Evangeliums liest sich V. 9b zugleich als Vorausverweis auf die Völkermission (28,16–20), mit der sich der Abraham zugesprochene Völkersegen (Gen 12,3, s. zu Mt 1,1) erfüllt. V. 10 macht mit eindrücklicher Metaphorik (vgl. Jes 10,33f; Dan 4,11) deutlich, dass das Zorngericht von V. 7 nahe ist. Für die angeredeten Autoritäten bedeutet dies eine eindringliche Warnung. Indem Matthäus die Gerichtspredigt an die Pharisäer und Sadduzäer adressiert, schafft er einen Kontrast zwischen dem einfachen Volk (V. 5f) und den Autoritäten. Die Täuferperikope ordnet sich damit einer Tendenz der Differenzierung zwischen dem Volk und der Führungsschicht ein, die für Matthäus im Ganzen kennzeichnend ist (s. v. a. 9,32–34; 12,22–24; 21,9.15f; 21,45f). Mit der gezielten Zusammenstellung der an sich miteinander verfeindeten Gruppen der Pharisäer und Sadduzäer signalisiert er zugleich, dass die etablierten Autoritäten sich gegenüber den Boten des Himmelreiches als eine geschlossene Front präsentieren werden. Durch die Umadressierung der Gerichtspredigt verändert sich ferner die Charakterisierung des Täufers. Erscheint die Gerichtspredigt (Mt 3,7–10; Lk 3,7–9) in der Logienquelle als Essenz seiner Botschaft, so ist sie bei Matthäus durch das Kommen der Pharisäer und Sadduzäer konkret veranlasst und speziell an sie adressiert. Bei Matthäus ist es daher nicht möglich, Johannes als Gerichtsprediger und Jesus als Verkündiger des Himmelreiches einander kontrastiv gegenüberzustellen; vielmehr erscheint auch der Täufer als Verkündiger der Nähe des Himmelreiches (3,2); und umgekehrt nimmt der mt Jesus Elemente der Gerichtsbotschaft des Täufers an die Pharisäer und Sadduzäer in seiner eigenen Auseinandersetzung mit den Autoritäten auf: Auch Jesus tituliert diese als „Otternbrut“ (12,34; 23,33), und er konfrontiert sie in 23,33 mit einer an 3,7b anklingenden Frage (vgl. ferner 7,19 mit 3,10 und 13,30 mit 3,12). V. 11f dient dazu, Jesus und Johannes – und damit zugleich Johannes11–12 taufe und christliche Taufe – in die für die christliche Gemeinde richtige Rangordnung zu bringen. Während die Johannestaufe allein ein Umkehrzeichen ist, ist mit der christlichen Taufe die Verleihung des Geistes verbunden. In V. 11 findet dabei ein stiller Adressatenwechsel statt. Denn die Ankündigung, dass der erwartete Stärkere „euch“ mit Heiligem Geist taufen wird, löst sich offenkundig nicht an den Pharisäern und Sadduzäern ein. V. 11 spricht ferner von einer Feuertaufe. Von Apg 2,3f her betrachtet könnte man annehmen, dass die Rede vom Feuer lediglich das Geistmotiv metaphorisch verstärken soll, doch ist „Feuer“ bei Matthäus ein stehendes Motiv in der Gerichtsdarstellung (5,22; 7,19; 13,40.42.50; 18,8.9; 25,41) und begegnet als solches auch in den unmittelbar umliegenden Versen (3,10.12). Man wird daher zwei „Taufen“ zu unterscheiden haben: zum einen die Taufe mit Geist (= die christliche Taufe, vgl. die triadische Tauf-

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formel in 28,19), zum andern die Feuertaufe als Metapher für das Gericht. V. 12 fügt sich dann an V. 11 als Entfaltung des durch das Motiv der Feuertaufe vorgebrachten Gerichtshorizontes an: Nachdem der Drusch geworfelt und so die Spreu vom Weizen getrennt wurde, wird die Spreu verbrannt. Die Ankündigung des Täufers wirft den Blick also nicht nur auf das irdische Kommen Jesu, sondern auch auf dessen eschatologische Richterfunktion voraus (25,31–46). I 3.2 Die Taufe Jesu und seine Proklamation als Sohn Gottes (3,13–17) 13 Da kommt Jesus von Galiläa an den Jordan zu Johannes, um sich von ihm taufen zu lassen. 14 Johannes aber suchte ihn zu hindern und sagte: „Ich habe es nötig, mich von dir taufen zu lassen, und du kommst zu mir?“ 15 Jesus aber antwortete und sagte zu ihm: „Lass jetzt! Denn so ziemt es sich für uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ Da ließ er ihn. 16 Als aber Jesus getauft war, stieg er sogleich herauf aus dem Wasser. Und siehe, die Himmel öffneten sich ihm, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabsteigen und auf sich kommen. 17 Und siehe, eine Stimme aus den Himmeln sagte: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.“ Neben Mk 1,9–11 dürfte Matthäus ein Passus über die Taufe Jesu in der Logienquelle vorgelegen haben. Dafür spricht nicht nur, dass die auf der Logienquelle basierende Versuchungsperikope in Mt 4,1–11 par Lk 4,1–13 das mit der Taufe Jesu verbundene Gottessohnmotiv voraussetzt, sondern auch die Übereinstimmung zwischen Mt 3,16 und Lk 3,21 in der Rede vom Sich-Öffnen des Himmels. V. 14f findet sich nur bei Matthäus. In V. 13 tritt Jesus erstmals aktiv auf. Sein Ansinnen, sich taufen zu lassen, 13 wirft für die nachösterliche christologische Reflexion das Problem auf, was der Gottessohn bei der Johannestaufe zu suchen hat, da doch eigentlich umgekehrt Johannes der vom Stärkeren (V. 11) gebrachten Geisttaufe (3,11, vgl. 28,19) bedarf (V. 14). Matthäus hat diese Frage durch die Einfü- 14–15 gung eines kurzen Dialogs zwischen dem Täufer und Jesus aufgegriffen, in dem Jesus Johannes’ abwehrende Haltung (zum Verständnis von V. 14 vgl. zu 11,2f) durch den Verweis auf die sich für sie geziemende Erfüllung aller Gerechtigkeit überwindet. „Gerechtigkeit“ ist ein gewichtiger Terminus im Mt, der mit dem Täufer verbunden in 21,32 aufgenommen wird und ansonsten gehäuft in dem ethisch zentralen Text des Mt, der Bergpredigt (Mt 5–7), begegnet (5,6.10.20; 6,1.33). Matthäus verwendet „Gerechtigkeit“ nicht im Sinne der Heilsordnung bzw. des Heil schaffenden Handelns Gottes, wie dies in Paulus’ Rede von der „Gerechtigkeit Gottes“ der Fall ist (Röm 1,17; 3,21–26), sondern durchgehend als einen ethischen

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Leitbegriff, der das dem Gottesverhältnis entsprechende Verhalten meint. Ihre fundamentale Explikation findet die Rede von der Erfüllung aller Gerechtigkeit in Jesu Aussage, er sei gekommen, Tora und Propheten zu erfüllen (5,17), in denen für Matthäus der Wille Gottes bleibend gültig, wenngleich auslegungsbedürftig, zum Ausdruck kommt: Die Befolgung von Tora und Propheten in ihrer Interpretation durch Jesus bildet die Grundlage für das Erreichen der besseren Gerechtigkeit (s. zu 5,20). Darüber hinaus ist in 3,15 aber auch impliziert, dass Jesus und Johannes die – aufgrund ihrer besonderen Rollen je spezifisch an sie gerichtete – göttliche Forderung erfüllen. Jesu Rolle ist dabei zentral durch seine Gottessohnschaft bestimmt (vgl. V. 17). Als Sohn Gottes partizipiert Jesus an göttlicher Vollmacht (vgl. zu 14,22–33); als Sohn Gottes ist er aber auch an den Willen des Vaters gebunden, so dass sich seine Gottessohnschaft im Gehorsam gegen diesen manifestiert. In der Passion führt dies dazu, dass er von seiner Macht, sich den Gegnern zu entziehen, nicht Gebrauch macht (26,53), sondern das Leiden auf sich nimmt und sich damit voll und ganz in die Niedrigkeit menschlicher Existenz hineinbegibt (vgl. in der Einleitung unter 2.1). Niedrigkeitsaspekte menschlicher Existenz werden auf diese Weise mit Jesu Gottessohnschaft vermittelt. Die Spannung zwischen dem Status Jesu als Sohn Gottes und seinem freiwilligen Statusverzicht im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes ist zugleich auch der Schlüssel für das Verständnis der mt Taufperikope: Das in der Markusvorlage vorgegebene Gottessohnmotiv (Mk 1,11) profiliert Matthäus durch den für ihn charakteristischen Aspekt des Gehorsams: Jesus stellt seinen übergeordneten Status (vgl. V. 14) hintan und ordnet sich dem Willen Gottes unter (= Erfüllung der Gerechtigkeit), indem er seine ihm als Gottessohn zukommende Hoheit in seiner menschlichen Existenz verborgen sein lässt und den ihm von Gott zugewiesenen irdischen Weg geht. Indem Jesus zu Johannes kommt, um „sich von ihm taufen zu lassen“ (V. 13), gesellt er sich zu dem Volk, das „sich von ihm hat taufen lassen“ (V. 6). Jesus verhält sich so, wie sich ein Israelit angesichts der Botschaft des Täufers, der auf dem Weg der Gerechtigkeit gekommen ist (21,32) und diesen den Menschen weist, verhalten soll. Die analogen Formulierungen in V. 6 und V. 13 werfen zugleich noch einmal Licht auf V. 7: Jesus und das Volk werden zusammengruppiert; die Pharisäer und Sadduzäer, die nur als Beobachter zum Ort der Taufe kommen (V. 7), bilden zu beiden das distanzierte Gegenüber. Erscheint der in der Taufe zum Ausdruck kommende Statusverzicht im Gesamtkontext des Evangeliums als Vorspiel und Vorverweis auf die Passion, so wird die Querverbindung zwischen 3,13–17 und 26f noch dadurch unterstrichen, dass Jesus hier wie dort am Ende von Gott selbst als sein Sohn ausgewiesen wird, so dass sich analoge Sequenzen ergeben: Bei der

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Passion erweist Gott Jesus durch die Ereignisse, die seinen Tod begleiten, als seinen Sohn (27,51–54); bei der Taufe wird Jesus von einer Himmels- 16–17 stimme als Gottessohn proklamiert (3,16f). Durch die Umstellung der persönlichen Anrede (Mk 1,11) zum objektivierenden „dieser ist mein geliebter Sohn“ (vgl. 17,5 par Mk 9,7) vermeidet Matthäus den Eindruck, dass Jesus erst bei der Taufe als Sohn angenommen wurde (vgl. zu 1,18.20). Zugleich ergibt sich damit eine Parallele zur ebenfalls mit „dieser ist“ eingeleiteten Aussage über Johannes in V. 3. Die unterschiedlichen Rollen von Johannes und Jesus werden damit noch einmal deutlich: Dieser (Johannes) ist der von Jesaja angekündigte Rufer in der Wüste, dieser (Jesus) der Sohn Gottes. Durch die Umformulierung in V. 17 erhält die Himmelsstimme keineswegs den Charakter einer öffentlichen Deklaration. Nach V. 16 geht es vielmehr um ein von Jesus wahrgenommenes Geschehen: Ihm öffnen sich die Himmel, so dass er den Geist herabkommen sieht („wie eine Taube“ beschreibt bei Matthäus die Weise des Herabkommens des Geistes, nicht wie in Lk 3,22 dessen Gestalt). Die Himmelsstimme ist Teil dieser ausschließlich Jesus gewährten Vision. Wenn man darüber hinaus nach einem Auditorium fragen möchte, ist am ehesten an den himmlischen Hofstaat zu denken: Weil die Himmel für Jesus geöffnet sind, wird er Zeuge seiner Proklamation als Sohn Gottes im Himmel. Intertextuell liegt nahe, dass Matthäus in V. 16 Ez 1,1(–4) im Blick hatte. Die Gabe des Geistes lässt zudem die im Frühjudentum messianisch verstandene Herrscherverheißung in Jes 11,1–5 (s. 4Q161 3,11ff; PsSal 17,24.37; 18,7) wie auch die Charakterisierung des Gottesknechts in Jes 42,1 (in Mt 12,18 auf Jesus bezogen) assoziieren (vgl. auch Jes 61,1 sowie Ez 2,2 LXX). Jes 42,1 bildet zugleich neben Ps 2,7 den zentralen Bezugstext für die Worte der Himmelsstimme. Auch V. 16f erweist sich damit als durch Schriftbezüge geprägt. Mit der Vergewisserung, die Jesus durch die Vision des Herabkommens des Geistes und durch die Himmelsstimme im Blick auf seine messianische Aufgabe empfängt, wird ihm zugleich angezeigt, dass der Beginn seines Wirkens in der Kraft des Geistes (12,28) bevorsteht. Dem geht nur noch voran, dass er sich in der Versuchung durch den Teufel zu bewähren hat. I 3.3 Die Versuchung des Gottessohnes (4,1–11) 1 Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste hinaufgeführt, um vom Teufel versucht zu werden. 2 Und nachdem er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn schließlich. 3 Und der Versucher trat hinzu und sagte zu ihm: „Wenn du der Sohn Gottes bist, so sage, dass diese Steine zu Broten werden sollen!“ 4 Er aber antwortete und sagte: „Es steht geschrieben: ‚Nicht vom Brot allein lebt der Mensch, sondern von

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jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.‘“ 5 Da nimmt ihn der Teufel mit in die Heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels 6 und sagt zu ihm: „Wenn du der Sohn Gottes bist, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben: ‚Seinen Engeln wird er deinetwegen Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht gegen einen Stein stoßest.‘“ 7 Jesus sprach zu ihm: „Wiederum steht auch geschrieben: ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.‘“ 8 Wiederum nimmt ihn der Teufel mit auf einen sehr hohen Berg und zeigt ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit 9 und sagte zu ihm: „Das alles werde ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“ 10 Da sagt Jesus zu ihm: „Geh fort, Satan! Denn es steht geschrieben: ‚Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen.‘“ 11 Da verlässt ihn der Teufel. Und siehe, Engel traten hinzu und dienten ihm. Matthäus folgt dem Markusfaden, erweitert Mk 1,12f aber um drei der Logienquelle entnommene Episoden, die die Versuchung durch den Teufel an Einzelfällen konkretisieren. Die zweite und dritte Episode erscheinen bei Matthäus und Lukas in unterschiedlicher Reihenfolge; wahrscheinlich hat Lukas umgestellt, um die Versuchungen in Jerusalem enden zu lassen. Die Versuchungsgeschichte ist mit dem Auftreten des Teufels eine 1–2 mythische Geschichte. Sie ist durch das Motiv des Geistes in V. 1 an das Vorangehende direkt angebunden. Überhaupt sind die Taufe Jesu und seine Versuchung bei Matthäus wie eine Art Diptychon eng aufeinander bezogen: Hier wie dort bildet die Gottessohnschaft das christologische Leitthema (3,17; 4,3.6). In beiden Texten bewährt Jesus diese durch den Verzicht auf Manifestationen seines Status im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Dass Johannes seinen Widerstand gegen die Taufe und der Teufel sein Bestreben, Jesus zu Fall zu bringen, aufgeben, ist am Ende von 3,15 und zu Beginn von 4,11 im Griechischen mit exakt denselben Worten formuliert (was sich im Deutschen so nicht wiedergeben lässt). Und in beiden Fällen erfolgt am Ende die Bestätigung Jesu durch Gott selbst (3,16f; 4,11). Zugleich ist durch die Aufeinanderfolge der Texte ein schroffer Kontrast gesetzt: Auf die Vision des geöffneten Himmels folgen Wüste, Fasten und Versuchung durch den Teufel. Formal wird der Zusammenhang durch die syntaktisch analogen Anfänge in 3,13 und 4,1 unterstrichen („da …, um zu …“). Dem Kommen Jesu aus Galiläa (3,13) korrespondiert die Rückkehrnotiz in 4,12. In intertextueller Hinsicht sind gleich zwei mögliche Assoziationen erwähnenswert: Zum einen wiederholt Jesu 40-tägiger Wüstenaufenthalt in komprimierter Form die 40-jährige Wüstenexistenz Israels zwischen Exodus und Landnahme (s. z. B. Ex 16,35; Num 14,33f; Dtn 8,2–4, zur symbolischen Repräsentanz von Jahren durch Tage s. Num 14,34; Ez 4,5f).Während aber Gottes Sohn Israel (Ex 4,22f), als das Volk in der Wüste von Gott geprüft bzw. versucht wurde (Ex 16,4; Dtn 8,2), murrte

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und seinerseits Gott versuchte (Ex 16,1–3; 17,1–3; Num 14,1–4.22f; Ps 78,17–20), bewährt Jesus sich in den Versuchungen als Gottes Sohn. Die Zitate aus Dtn 8,3 und 6,16 in V. 4 und V. 7 unterstreichen die intertextuelle Referenz, da diese auf Israels Wüstenzeit Bezug nehmen. Insbesondere Dtn 8 ist – weit über das Zitat von 8,3 hinaus – als Hintergrund für Mt 4 von Bedeutung, begegnen dort doch ebenfalls die Motive der Wüste (V. 2), der Versuchung (V. 2.16), des Hungers (V. 3), der Sohnschaft (V. 5), der verbotenen Anbetung anderer Götter (V. 19) sowie auch die Zahl 40 (V. 2.4). Dass Matthäus anders als Mk 1,13 und Lk 4,2 von 40 Tagen und 40 Nächten spricht, lässt zum anderen an Mose auf dem Sinai denken, der 40 Tage und 40 Nächte weder aß noch trank (Ex 34,28; Dtn 9,9.18, s. ferner Elia in 1Kön 19,8). Die biblischen Anspielungen bieten in diesem Fall keinen Schlüssel für das Gesamtverständnis des Textes; aber sie dienen dazu, diesem biblisches Kolorit zu verleihen und ihn damit in die Geschichte Gottes mit Israel einzubetten.

Das 40-tägige Fasten weist den Wüstenaufenthalt Jesu als Zeit der Vorbereitung auf sein Wirken aus. Die Erprobung durch die Versuchungen des Teufels ist Teil dieser Vorbereitung. Während die Versuchungen in Mk 1,13 3–4 und Lk 4,2 während der 40 Tage erfolgen, tritt der „Versucher“ bei Matthäus erst nach den 40 Tagen an Jesus heran. Die erste Versuchung knüpft an das Fasten Jesu an: Jesus soll, da ihn nach den 40 Tagen hungert, aus Steinen Brot machen. Mit dem Vordersatz „wenn du Gottes Sohn bist“ zieht der Teufel Jesu Gottessohnschaft nicht in Zweifel, sondern bringt diese als Voraussetzung für die nachfolgende Aufforderung vor, die Jesus zu einer eigenmächtigen Demonstration der ihm als Gottessohn zukommenden Macht verleiten soll. Matthäus geht zweifelsohne davon aus, dass der Gottessohn Steine in Brot verwandeln könnte (vgl. die wundersame Speisung riesiger Menschenmengen mit wenigen Broten und Fischen in 14,13–21; 15,32–39). Weil aber das Motiv des Gehorsams im Zentrum der mt Gottessohnvorstellung steht (s. zu 3,15), kommt Jesu Gottessohnschaft für Matthäus gerade darin zum Ausdruck, dass Jesus eine Demonstration seiner Vollmacht, die ihm nicht von Gott geboten ist, kategorisch ablehnt. Da Jesus vom Geist in die Wüste geleitet worden ist, entspricht sein Fasten dem Willen Gottes; es würde daher seine Bindung an den Willen Gottes verletzen und dem Vertrauen auf Gottes Fürsorge entgegenstehen, wenn er sich seine Situation durch die Verwandlung von Steinen in Brot eigenmächtig erleichtern würde. Jesus wehrt den Teufel ab, indem er mit Dtn 8,3 die Schrift zitiert. Anders als bei Lukas und wohl in Q findet sich bei Matthäus nicht nur die negative Feststellung, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern auch das positive Gegenstück: „sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt“. Für Matthäus ist der Gehorsam gegenüber Gottes Wort, in dem das eigentliche Leben zu finden ist, von leitender Bedeutung. Jesus lebt diesen Gehorsam vor. In der zweiten Episode versucht der Teufel Jesus mit dessen eigenen 5–7 Waffen zu schlagen, indem auch er sich auf die Schrift beruft. Ps 91,11f

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wird dabei vom Teufel als eine speziell an den Gottessohn gerichtete Zusage vorgebracht, auf deren Basis sich Jesus gefahrlos von der Zinne des Tempels herabstürzen könnte. In Mt 1–2 hat Gott bereits mehrfach mittels Traumoffenbarungen lenkend und schützend eingegriffen (1,20; 2,13.19). Dass der Gottessohn sich auf Gottes Schutz verlassen kann, berechtigt ihn aber nicht dazu, den Vater mutwillig zum rettenden Eingreifen zu nötigen. Dies bedeutete, Gott zu „versuchen“, und würde die Bindung des Sohnes an den Willen des Vaters verletzen. Jesus kontert daher, indem er wiederum auf ein Wort aus dem Deuteronomium rekurriert: Gott ist nicht zu versuchen (Dtn 6,16). Im mt Kontext ist mit dieser zweiten Versuchung ein Vorausverweis auf die Passionsgeschichte gesetzt, denn bei seiner Gefangennahme wehrt Jesus die gewaltsame Gegenwehr eines Jüngers mit dem Hinweis ab, dass er von seinem Vater den Beistand von mehr als zwölf Legionen Engel herbeibitten könne (26,53). Er hat jedoch den Willen Gottes zu erfüllen (vgl. 26,39.42) und also zugunsten anderer den Tod auf sich zu nehmen. Die Verbindung von Mt 4 zur Passionsgeschichte tritt zudem darin zutage, dass die Worte „wenn du Gottes Sohn bist“, mit denen der Teufel Jesus zu provozieren sucht, bei Matthäus einen Nachhall in der Verspottung des Gekreuzigten in 27,40 finden, er solle sich selbst retten, wenn er Gottes Sohn ist (s. auch 27,43). Jesus zeigt sich aber auch und gerade in seiner Passion als der gehorsame Gottessohn. Er rettet nicht sich, sondern durch seinen Tod andere (26,28), wie er auch Speisungswunder nicht für sich (4,3f), sondern nur für andere vollbringt. In der dritten Episode wird Jesu Gottessohnschaft zwar nicht mehr aus8–10 drücklich angesprochen, doch bildet sie auch hier den Leitaspekt: Nun soll Jesus durch das Angebot der Herrschaft über alle Königreiche der Welt dazu verlockt werden, die ihn als Gottessohn auszeichnende Bindung an Gott überhaupt zu verraten, indem er den Teufel statt Gott anbetet. In seiner Replik zitiert Jesus ein drittes Mal aus dem Deuteronomium (6,13; 10,20): Gott allein ist anzubeten. Indem Matthäus die Episode auf einem „sehr hohen Berg“ spielen lässt, unterstreicht er deren Verbindung mit der „Bergszene“ in 28,16–20: Der Auferstandene tut kund, dass ihm alle Vollmacht im Himmel und auf Erden gegeben ist – von Gott. Zugleich hat Matthäus durch die Einfügung der Worte „geh fort, Satan!“ zu Beginn der Antwort Jesu einen weiteren Querverweis auf die Passionsthematik gesetzt. Denn in 16,23 wird Petrus, der Jesus zuvor noch als Sohn Gottes bekannt hat, von Jesus mit den Worten „Geh weg, hinter mich, Satan“ getadelt, nachdem Petrus Jesus von seinem in V. 21 angekündigten Weg ins Leiden hat abbringen wollen (V. 22), weil er die Passion in seine Vorstellung vom messianischen Gottessohn noch nicht integrieren konnte. Die dritte Versuchung ist in diesem Licht zu sehen. Der Teufel, der in 4,1–11 nur in V. 10, um die Querverbindung zu unterstreichen, wie in 16,23 als „Satan“ bezeichnet wird (ansonsten begegnet diese Bezeichnung im Mt

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nur noch in 12,26), bietet Jesus die Herrschaft über alle Reiche an. Doch der Weg des Gottessohnes ist nicht der geradlinige Weg in die Herrlichkeit, sondern dieser Weg führt zunächst ans Kreuz. Als bis zum Tode am Kreuz gehorsamer Gottessohn wird Jesus aber erhöht, und seine Vollmacht geht über das, was ihm der Teufel anbieten konnte, weit hinaus: Der Auferstandene hat alle Vollmacht im Himmel und auf Erden (28,18). Auf Jesu machtvolles Wort „geh fort!“ hin kann der Teufel nur weichen 11 (vgl. 8,32f). Er hat Jesus nicht von dessen Bindung an Gott und Gottes Willen abbringen und sich seiner nicht bemächtigen können. Die weitere Erzählung wird zeigen, dass vielmehr umgekehrt die Macht des Teufels durch Jesu Wirken gebrochen ist (12,25–29). Muss der Teufel in 4,11 von Jesus weichen, so treten die Engel an seine Stelle und dienen Jesus (vgl. Mk 1,13), was einschließen dürfte, dass sie ihn mit Speise versorgen (vgl. 1Kön 19,5–8). Die knappe Notiz über den Dienst der Engel nimmt damit kurz und bündig auf die beiden ersten Versuchungen Bezug: Nicht nur treten die Engel, von denen in V. 5–7 die Rede war, tatsächlich für Jesus ein, sondern zugleich wird mit ihrem diakonischen Dienst der Bogen zur Ausgangssituation für die erste Versuchung, zum Hunger Jesu, zurückgeschlagen. Mt 4,1–11 steht gegen Ende des Prologs und damit an der Schwelle zur Darstellung des öffentlichen Wirkens Jesu. Mit seiner Betonung des Gehorsams Jesu als Sohn Gottes kommt dem Text im Blick auf die Gesamtkomposition die Funktion zu, Jesus als für seine unmittelbar bevorstehende Aufgabe qualifiziert auszuweisen. Matthäus’ einleitende Notiz, dass Jesus vom Geist in die Wüste geführt wurde, um vom Teufel versucht zu werden, macht dabei deutlich, dass Gott der eigentliche Akteur hinter dem Geschehen ist. Indem Jesus in den Versuchungen geprüft wird, erweist also Gott selbst im Voraus, dass Jesus seinen Auftrag getreu ausführen wird. Als der, der sich durch die Königreiche der Welt und ihre Herrlichkeit (V. 8) nicht hat verführen lassen, wird Jesus nun auftreten, das Königreich der Himmel zu verkündigen. I 3.4 Jesus, das Licht für Galiläa (4,12–16) 12 Als er aber gehört hatte, dass Johannes ausgeliefert worden war, entwich er nach Galiläa. 13 Und er verließ Nazaret, kam und wohnte in Kafarnaum, das am Meer liegt, im Gebiet von Sebulon und Naftali, 14 damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaja gesagt wurde, der spricht: 15 „Land Sebulon und Land Naftali, dem Meer zu, jenseits des Jordans, Galiläa der Völker, 16 das Volk, das in der Finsternis saß, sah ein großes Licht; und denen, die saßen im Land und Schatten des Todes, ging ein Licht auf.“

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12 Indem Matthäus im Gefolge von Mk 1,14 Jesu Rückkehr nach Galiläa mit der Gefangennahme des Täufers (vgl. Mt 14,3–12) verknüpft, wird deutlich, dass sich das Wirken des Täufers und das Wirken Jesu zeitlich nicht überschnei13–16 den: Johannes ist der Vorläufer. Eine Besonderheit von Matthäus ist, dass er in V. 13 eigens den Umzug Jesu von Nazaret nach Kafarnaum anführt und dies mit einem Erfüllungszitat (Jes 8,23–9,1) kommentiert. Auffallend ist die enge formale Entsprechung von 4,12–16 zu 2,22f, was deutlich auf Matthäus’ gestaltende Hand verweist und zugleich zu erkennen gibt, dass 4,12–16 noch zum Prolog gehört. Matthäus nennt in seiner Wiedergabe des Zitats allerdings nicht nur mit Naftali das Gebiet, in dem Kafarnaum liegt, sondern lässt mit Sebulon auch jenes stehen, in dem sich Nazaret befindet. Mit dem Umzug nach Kafarnaum erfüllt sich die Schrift also nicht insofern, als Jesus erst damit in das von Jesaja geweissagte Territorium gelangt, sondern es geht darum, positiv aufzuweisen, dass Kafarnaum (und Umgebung) als Zentrum des im Nachfolgenden geschilderten Wirkens Jesu (vgl. 8,5; 9,1; 11,23; 17,24) mit der prophetischen Verheißung übereinstimmt. Indem Matthäus aus Jes 8,23 ferner die Wendung „Galiläa der Völker“ aufnimmt, setzt er einen Vorausverweis auf das Ende des Evangeliums: auf den in Galiläa gegebenen Befehl, alle Völker zu missionieren (28,16–20). Zunächst aber ist Galiläa das Gebiet, in dem Jesus seiner exklusiven Sendung zu Israel nachkommt und sein Volk weidet (2,6; 15,24). Im Zitat selbst kommt der Israelbezug seines irdischen Wirkens in V. 16 zum Ausdruck: Jesajas Rede vom in der Finsternis sitzenden Volk (= Israel) bezieht Matthäus auf die soteriologische Notlage der Adressaten der Sendung Jesu, die er in 10,6; 15,24 prägnant mit der Wendung „verlorene Schafe des Hauses Israel“ zum Ausdruck bringt, während er Jesus mit dem für Israel aufscheinenden Licht identifiziert. Dass Matthäus dabei gegen den eigentlichen Wortlaut des Zitats vom Aufgehen des Lichts spricht, erinnert an 2,2.9 und darüber an Num 24,17LXX : „Ein Stern wird aufgehen aus Jakob“ (s. aber auch Jes 58,10). Mit Jes 8,23–9,1 greift Matthäus ein Schriftwort auf, mit dem er sein zentrales Anliegen, die Zuwendung zu Israel und die universale Dimension der Bedeutung Jesu konzeptionell zusammenzufügen, an das Zeugnis der Schrift anbinden konnte. Dadurch, dass Matthäus der Darstellung des Wirkens Jesu in Israel die Rede vom „Galiläa der Völker“ als schriftbasiertes Interpretament voranstellt, wird über dem Nachfolgenden bereits der Zielpunkt der Universalität des Heils als Horizont aufgespannt. Umgekehrt setzt die Verwirklichung des universalen Heils für Matthäus die vorgängige Erfüllung der Heilsverheißungen an Israel voraus. Durch Jesu Heilswirken in und an Israel geschieht etwas auch für die Völker soteriologisch Bedeutsames, nicht unabhängig davon oder gar auf Kosten Israels. Der Schluss des Prologs schlägt damit den Bogen zur Eröffnung in 1,1 zurück, wo durch das Nebeneinander von David- und Abrahamsohnschaft die beiden soteriologischen Horizonte der von Matthäus erzählten Jesusgeschichte exponiert wurden.

Der Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu (4,17)

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II Das Wirken Jesu in Israel und die Sendung seiner Jünger zu Israel (4,17–11,1) Matthäus eröffnet seine Darstellung des öffentlichen Wirkens Jesu mit einer planvoll strukturierten Großkomposition: Jesus wird zunächst durch die sog. Bergpredigt als vollmächtiger Lehrer präsentiert (Mt 5–7); in Mt 8–9 folgt darauf die Präsentation seines vollmächtigen Handelns. In beiden Blöcken hat Matthäus seine Quellen relativ eigenständig neu arrangiert, während er – nach dem verschiedene Q-Texte aufnehmenden Block in Mt 11 – ab 12,1 eng dem Markusfaden folgt. In Mt 5–9 wird also ein besonderes kompositorisches Interesse des Evangelisten sichtbar: Das Wirken Jesu wird hier grundlegend charakterisiert. Gerahmt werden beide Blöcke durch zwei fast gleich lautende Summarien in 4,23(–25) und 9,35, die das in 5,1–9,34 dargelegte Wirken Jesu als exemplarische Explikation des Typischen zu verstehen geben. Des Weiteren bilden mit der Berufung der ersten Jünger in 4,18–22 und der Aussendungsrede in 9,36–11,1 zwei Jüngertexte den äußeren Rahmen um die Präsentation des Wirkens Jesu in 4,23–9,35, worin Matthäus’ ekklesiologisches Anliegen sichtbar wird: Nach ihrer Berufung, bei der ihre missionarische Aufgabe bereits aufscheint (4,19), werden die Jünger mit Jesu Lehre und seinem Wirken vertraut gemacht, um dieses dann im Rahmen ihrer Sendung weiterführen zu können. Die Platzierung der Berufungen ganz an den Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu macht des Näheren deutlich, dass Jesu Wirken von Beginn an nicht als ein Einzelunternehmen intendiert ist, sondern darauf zielt, dass die sich in seiner Sendung manifestierende Zuwendung Gottes durch das Wirken der Jünger sukzessiv mehr Menschen erreicht. Die hier sichtbar werdende Vernetzung von Christologie und Ekklesiologie ist ein gewichtiges Charakteristikum des Mt im Ganzen. 4,17 leitet den Großabschnitt programmatisch ein.

II 1 Der Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu (4,17) 17 Von da an fing Jesus an zu verkündigen und zu sagen: „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ Durch die Wendung „von da an fing Jesus an“ (vgl. 16,21 und in der Einleitung unter 1.) hat Matthäus – im Unterschied zu Mk 1,14f – die Schil-

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Das Wirken Jesu in Israel und die Sendung seiner Jünger (4,17–11,1)

derung des Beginns der Wirksamkeit Jesu von der Notiz über seine Ansiedlung in Kafarnaum abgesetzt. Zugleich hat Matthäus Mk 1,14b.15 erheblich gekürzt. Von Markus’ zweigliedriger Zeitansage „erfüllt ist die Zeit und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen“ (1,15a) und der sich anschließenden doppelten Aufforderung „kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (1,15b) hat Matthäus nur die beiden mittleren Glieder übernommen. Von „Erfüllung“ (im Passiv) redet Matthäus allein im Blick auf die Schrift, und von der nahe gekommenen Zeit spricht der mt Jesus erst in der Passion (26,18). „Glauben“ verwendet Matthäus auch sonst nie bloß im Sinne der zustimmenden Annahme einer Botschaft. Zudem ist der Imperativ „kehrt um“ bei Matthäus vorangestellt und auf diese Weise betont. Der Ausblick auf die Nähe des Himmelreiches dient damit in für Matthäus charakteristischer Weise der Motivierung des Handelns. Festzuhalten ist zugleich: Nur durch die dargelegten Abweichungen von Mk 1,14f war es Matthäus möglich, die Botschaft Jesu von 4,17 bereits von Johannes verkündigen zu lassen (3,2). Der Streichung von „glaubt an das Evangelium“ korrespondiert, dass in der Redeeinleitung „Evangelium Gottes“ als Objekt zu „verkündigen“ ausgelassen ist. Dies fällt umso mehr auf, als Matthäus in 4,23 redaktionell von der „Verkündigung des Evangeliums vom Reich“ spricht (vgl. 9,35; 24,14). Die Kürzung in V. 17 lässt sich in diesem Licht betrachtet so verstehen, dass für Matthäus die wörtliche Rede an die Stelle des Akkusativobjekts „Evangelium“ tritt und jene also in nuce zusammenfasst, worum es bei der Verkündigung des Evangeliums geht. Der Aufruf zur Umkehr findet sich im Munde Jesu bei Matthäus nur hier (von der ausgebliebenen Umkehr noch 11,20, ferner 11,21; 12,41); er hat hier aber programmatische Bedeutung für alles Weitere: Auf dieser Basis kann sich Matthäus nach 4,17 auf die Entfaltung des zu gehenden Weges konzentrieren.

II 2 Die Berufung der ersten Jünger (4,18–22) 18 Als er aber am Meer Galiläas entlangging, sah er zwei Brüder, Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, seinen Bruder, das Wurfnetz in das Meer auswerfen; sie waren nämlich Fischer. 19 Und er sagt zu ihnen: „Auf, hinter mich, und ich werde euch zu Menschenfischern machen!“ 20 Sie aber verließen sofort die Netze und folgten ihm nach. 21 Und als er von dort weiterging, sah er zwei andere Brüder, Jakobus, den (Sohn) des Zebedäus, und Johannes, seinen Bruder, im Boot mit ihrem Vater Zebedäus ihre Netze in Stand setzen. Und er rief sie. 22 Sie aber verließen sofort das Boot und ihren Vater und folgten ihm nach.

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Im Gefolge von Mk 1 beginnt die Schilderung des Wirkens Jesu nach der programmatischen Eröffnung in V. 17 auch bei Matthäus mit der Berufung der ersten Jünger (anders Lk 4,14–5,11). Matthäus folgt hier seiner Vorlage aus Mk 1,16–20 recht eng. Er hat aber die Parallelität der beiden konzentriert erzählten Episoden noch stärker herausgestellt: Jesus sieht jeweils zwei Brüder (V. 18.21), die er dann – aus ihrem Berufsalltag heraus – in die Nachfolge ruft; ferner ist V. 22 an V. 20 angeglichen, so dass in beiden Reaktionsschilderungen das Leitwort „nachfolgen“ begegnet. Eine Differenz besteht darin, dass in der ersten Episode die auffordernden Worte Jesu mitgeteilt werden (V. 19), während auf dieser Basis in V. 21 der knappe Satz „er rief sie“ genügt; wie er das tut, ist V. 19 zu entnehmen. Durch die Aneinanderreihung zweier weithin gleichgestalteter Episoden tritt das Typische der Berufung hervor: So oder ganz ähnlich war es, wenn Jesus Jünger berief (vgl. noch 9,9). Anders als bei den Rabbinen wählen nicht Schüler ihren Lehrer aus, sondern die Initiative geht von Jesus aus. Mit der Ankündigung in 4,19 „ich werde euch zu Menschenfischern machen“ tritt bereits in diesem ersten Jüngertext die für Matthäus konstitutive missionarische Dimension der Jüngerschaft zutage, die in 9,36–11,1 und 28,16–20 näher ausgeführt wird. Zugleich werden in 4,18–22 die radikalen Anforderungen der Jüngerschaft angedeutet: Nachfolge bedeutet totale Inanspruchnahme. Von Simon, der schon hier mit seinem Beinamen „Petrus“ näher bezeichnet wird (anders Mk 1,16), und Andreas wird nicht einmal mehr erzählt, dass sie ihr zuvor ausgeworfenes Wurfnetz wieder einholten; sie lassen augenblicklich ihre materielle Existenzgrundlage hinter sich. In V. 21f tritt hinzu, dass neben der beruflichen Tätigkeit auch der Vater verlassen wird. Wiederum wird nicht einmal erwähnt, dass sie sich vom Vater verabschiedeten. Hinter der Nachfolge Jesu haben sogar familiäre Bindungen zurückzustehen (vgl. 8,21f; 10,34–39; 19,29). Im Blick auf das hier ansichtig werdende Desideratum entschiedener Prioritätensetzung bleibt der Text auch unter den veränderten sozialen Rahmenbedingungen der zumindest größtenteils sesshaften mt Gemeindeglieder aktuell. Dass das Moment des Verlassens des Vaters erst in der zweiten Szene erwähnt wird, kann seinen Grund darin haben, dass sich Selbiges von Petrus nicht hätte aussagen lassen. Petrus war verheiratet. Matthäus erzählt in 8,14f, dass Jesus in das Haus des Petrus einkehrt und dort dessen Schwiegermutter vom Fieber befreit. Für die Zeit nach Ostern gibt zudem 1Kor 9,5 zu erkennen, dass Petrus auf seinen Missionsreisen von seiner Frau begleitet wurde. Deutlich wird also: Zur Nachfolge gehört keineswegs notwendig der Bruch mit der Familie, wohl aber die Bereitschaft, einen solchen in Kauf zu nehmen. Ein Text wie Mt 10,34f reflektiert, dass es solche Brüche gegeben hat. Aber das Beispiel des Petrus zeigt, dass dies nicht zu verallgemeinern ist.

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II 3 Einführendes Summarium des Wirkens Jesu (4,23–25) 23 Und er zog umher in ganz Galiläa, lehrte in ihren Synagogen und verkündigte das Evangelium vom Reich und heilte jede Krankheit und jede Schwäche im Volk. 24 Und die Kunde von ihm verbreitete sich in ganz Syrien. Und sie brachten zu ihm alle Kranken, die an mancherlei Krankheiten und Qualen litten, Besessene und Mondsüchtige und Gelähmte; und er heilte sie. 25 Und große Volksmengen folgten ihm (nach) aus Galiläa und der Dekapolis und Jerusalem und Judäa und von jenseits des Jordans. 4,23–25 ist durch verschiedene Markusverse inspiriert: Für V. 23 kann man auf Mk 1,39; 6,6b als Modell verweisen; V. 24a variiert Mk 1,28; V. 24b.c fußt auf Mk 1,32.34; V. 25 verarbeitet Mk 3,7 f. Matthäus hat aber nicht nur die Einheit als Ganze zusammengestellt, sondern auch die einzelnen Elemente so stark bearbeitet, dass die Einheit inhaltlich deutlich sein theologisches „Programm“ spiegelt. Da Lukas in 6,17–19 eine mit Mt 4,24f zum Teil verwandte Einleitung zur Feldrede (6,20–49), dem lk Pendant zur Bergpredigt, bietet, ist zudem damit zu rechnen, dass die Logienquelle eine – nicht mehr rekonstruierbare – Hinführung zur Jesusrede in Q 6,20–49 enthielt, die Matthäus bei der Ausarbeitung von 4,24f beeinflusst hat. Bevor Matthäus das Wirken Jesu im Einzelnen schildert, entwirft er 23 durch das Summarium in V. 23 ein Gesamtbild. Das Nachfolgende erhält dadurch den Charakter der exemplarischen Entfaltung des in V. 23 dargelegten Allgemeinen und Typischen, was durch die weiteren summarischen Notizen, vor allem durch die zu einem großen Teil wörtliche Wiederholung von V. 23 in 9,35, noch unterstrichen wird (s. ferner 8,16; 11,1; 12,15; 14,14.35f; 15,30; 19,2; 21,14). Auf der Linie von 4,15 erscheint „ganz Galiläa“ als Ort des Wirkens Jesu (erst in 19,1 wird er das Gebiet endgültig verlassen). Durch die Voranstellung der Lehre, bei der die – für Matthäus auf die Tora bezogene – ethische Unterweisung im Zentrum steht (die Gleichnisrede ist für ihn hingegen keine „Lehre“, vgl. Mt 13,3 mit Mk 4,2), kommt deren hohe Bedeutung im Mt paradigmatisch zum Ausdruck. 6,2 macht wahrscheinlich, dass Matthäus bei „Synagogen“ nicht bloß an Versammlungen, sondern (zumindest zum Teil auch) an Gebäude dachte. Die Verkündigung des Evangeliums vom Reich (vgl. 9,35; 24,14) nimmt auf, was in V. 17, ebenfalls mit dem Verb „verkündigen“ verbunden, in wörtlicher Rede in nuce umrissen wurde (vgl. zu 4,17). Lehre und Verkündigung lassen sich bei Matthäus nicht trennscharf unterscheiden. Die Bergpredigt ist nach 5,2; 7,28f Lehre; sie entfaltet – im Sinne der exemplarischen Explikation von „lehren, verkündigen und heilen“ in Mt 5–9 – zugleich aber auch das Evan-

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gelium vom Reich: Die Botschaft von der Nähe des Himmelreiches erfordert Umkehr zu einem Leben in Gerechtigkeit, für das Jesus in der Bergpredigt zentrale Orientierungsmarken setzt, deren Beachtung den Zugang zum Himmelreich öffnet (5,20); und zum Evangelium vom nahen Himmelreich gehört auch der Zuspruch, dass dieses den im Geiste Armen und den um der Gerechtigkeit willen Verfolgten verheißen ist (5,3.10). Markus’ Verweis auf die Austreibung von Dämonen (Mk 1,39) ersetzt Matthäus durch die von ihm bevorzugte Rede vom Heilen (s. z. B. Mt 12,22; 19,2), und zwar aller Krankheiten und Schwächen, womit auf Dtn 7,15 LXX (auch dort stehen „Krankheit“ und „Schwäche“ nebeneinander) angespielt sein dürfte. In den Heilungen vollzieht sich zentral die barmherzige Zuwendung zu dem geschundenen Volk (s. z. B. Mt 14,14). Entsprechend fungiert das heilende Handeln Jesu als ein Leitmotiv in Matthäus’ Davidsohnchristologie (s. zu 9,27). Mit der Hinzufügung von „im Volk“ am Ende des Summariums hebt der Evangelist erneut den für ihn gewichtigen Bezug des Wirkens Jesu auf Israel hervor, der bereits im Prolog mehrfach vorgebracht wurde. Jesus beginnt hier damit, was nach 1,21; 2,6 seine Aufgabe ist: Er weidet Gottes Volk Israel und rettet es von den Sünden. Dem in Finsternis sitzenden Volk geht nun ein Licht auf (4,16). V. 24f skizziert in drei Gliedern die immense Resonanz. Erstens dringt 24–25 die Kunde von Jesus nach V. 24a nach ganz Syrien. Zweitens bringen die Menschen alle ihre Kranken zu Jesus (vgl. 8,16; 9,2.32; 14,35 u. ö.), wobei durch die Anfügung von „und er heilte sie“ zugleich das letzte Glied von V. 23 verstärkt wird. Drittens begeben sich nach V. 25 große Volksmengen in Jesu Gefolge. Durch die Veränderung der Herkunftsangaben von Mk 3,7f kann man Matthäus hier in biblischer Perspektive einen Umriss des „Landes Israel“ (2,20f) im Sinne des Siedlungsgebiets der zwölf Stämme (s. Jos 13–19) bzw., cum grano salis, von „Dan bis Beerscheba“ (Ri 20,1; 1Sam 3,20 u. ö.) zeichnen sehen. Die von ihm hinzugefügte Dekapolis deckt dabei das nördliche Gebiet der ostjordanischen Stämme (Ruben, Gad und der halbe Stamm Manasse, vgl. Num 32; Dtn 3,12–20) ab. Tyrus und Sidon sowie Idumäa (in der LXX steht Idumäa häufig für Edom, s. z. B. Jes 34,5f) sind als heidnische Territorien gestrichen. Die Herkunftsangaben korrespondieren also der Anfügung von „im Volk“ in V. 23: Volksmengen aus ganz Israel lassen sich durch das Auftreten Jesu ansprechen. V. 24a steht dieser Deutung nicht entgegen, denn nach „ganz Syrien“, wo im Übrigen auch viele Juden lebten (vermutlich auch der Evangelist, der sich hier gewissermaßen selbst in die Jesusgeschichte hineingeschrieben hat), dringt nur die Kunde von Jesus; weder geht er selbst in dieses Gebiet, um dort zu wirken (zu 15,21 s. dort), noch befinden sich nach V. 25 Menschen aus Syrien in seinem Gefolge. Das offene Subjekt der Aussage in V. 24b, dass „sie“ ihre Kranken zu Jesus brachten, ist in ebendiesem Sinn zu begrenzen.

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Vergleicht man die geographischen Angaben in V. 25 mit 3,5, zeigt sich, dass Jesus hier eine deutlich größere Resonanz als dem Täufer zugeschrieben wird. Auch begegnet in V. 25 erstmals die Bezeichnung „Volksmengen“, von denen Matthäus, um ihre Größe anzuzeigen, häufig im Plural spricht. Die Volksmengen sind bei Matthäus nicht nur Hintergrundchor, sondern treten als eigene Größe der Erzählung hervor (s. z. B. 9,33; 12,23; 21,8f). Zweideutig ist hier davon die Rede, dass die Volksmengen Jesus (nach)folgen (ebenso 8,1; 12,15; 19,2). Matthäus verwendet hier das Verb akolouthein, das als terminus technicus für die Nachfolge der Jünger Verwendung findet (s. zuvor 4,20.22), aber auch einfach „hinterhergehen“ bedeuten kann. Der Evangelist „spielt“ gezielt mit der Doppeldeutigkeit des Verbs: Die Volksmengen werden assoziativ in die Nähe der Jünger gerückt. Sie sind Jesus positiv zugewandt, ohne aber schon voll und ganz in die Jüngerschaft eingetreten zu sein. Schildert Matthäus mit V. 24f die Reaktion auf Jesu in V. 23 skizziertes Wirken, so bereitet er damit zugleich bereits die szenische Konstellation der Bergpredigt vor, mit der Matthäus die Lehre Jesu grundlegend entfaltet.

II 4 Jesu vollmächtige Lehre: Die Bergpredigt (5,1–7,29) Auf die Berufung der ersten Jünger folgt bei Markus in 1,21 eine knappe Notiz über Jesu Lehre in der Synagoge von Kafarnaum, ohne dass diese inhaltlich ausgeführt wird. Matthäus hat Markus’ Notiz durch die Großkomposition der Bergpredigt ersetzt. Dem korrespondiert, dass Mt 7,28f Mk 1,22 entspricht. Matthäus hat die Bergpredigt also genau an der Stelle des Markusfadens eingefügt, wo in seiner Vorlage erstmals von der Lehre Jesu die Rede war. Durch die Voranstellung des Summariums in Mt 4,23 erscheint die Bergpredigt des Näheren als exemplarische bzw. repräsentative Rede Jesu: In ihr wird gebündelt dargestellt, wie Jesus zu lehren pflegte. Grundlage von Mt 5–7 ist eine im Folgenden als „Grundrede“ bezeichnete Spruchkomposition der Logienquelle, die Lukas in 6,20–49 als sog. Feldrede bietet. Matthäus hat weiteres Material aus Q eingearbeitet und ferner Sondergut verwertet; zu einzelnen Logien gibt es Überlieferungsvarianten bei Markus (zu Einzelheiten s. die Auslegung). Trotz des eingefügten Materials erscheint der Stoff der Q- Grundrede in Mt 5–7 aber – mit Ausnahme der Goldenen Regel (Q 6,31), die Matthäus erst in 7,12 bringt – in derselben Reihenfolge wie in Lk 6,20–49. Sieht man von der szenischen Einbettung durch 5,1f; 7,28f ab, lässt sich die Bergpredigt in eine aus 5,3–16 bestehende Einleitung, den Hauptteil in 5,17–7,12 und den eschatologisch ausgerichteten Schlussabschnitt 7,13–27 untergliedern. In der zweigliedrigen Einleitung folgt auf die Makarismenreihe in 5,3–12 mit 5,13–16 ein Passus, der die thematische Leitperspektive

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der Bergpredigt benennt: Die Jünger sind Salz der Erde und Licht der Welt. Der Hauptteil entfaltet, was dies konkret bedeutet: Salz und Licht sind die Jünger durch ein ganz auf Gott und seinen Willen hin ausgerichtetes Leben. Kompositorisch fällt die Rahmung des Korpus durch zwei Aussagen über das Gesetz und die Propheten (5,17–20; 7,12) auf: Nach 5,17 ist Jesus gekommen, Tora und Propheten zu erfüllen; in 7,12 wird die Goldene Regel in einer redaktionellen Anfügung des Evangelisten als Zusammenfassung von Gesetz und Propheten ausgewiesen. Die oben angesprochene Umstellung der Goldenen Regel ist also im Zusammenhang des kompositionellen Anliegens zu sehen, den Hauptteil durch Aussagen über Gesetz und Propheten zu rahmen. Das Verständnis und die Praxis von Tora und Propheten werden auf diese Weise als zentrales Thema der Bergpredigt ausgewiesen. Der Vergleich mit der lk Feldrede, in der an keiner Stelle auf das Gesetz rekurriert wird, zeigt dabei, dass das Unterweisungsgut erst bei Matthäus bzw. in seinem Umfeld ausdrücklich mit der Torathematik verbunden wurde. Der Schlussabschnitt (7,13–27) verleiht den ethischen Ausführungen des Hauptteils Nachdruck, indem die soteriologische Bedeutung des Wandels auf dem von Jesus gewiesenen Weg herausgestellt wird. II 4.1 Der erzählerische Anfangsrahmen (5,1f) 1 Als er aber die Volksmengen sah, stieg er hinauf auf den Berg. Und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm. 2 Und er öffnete seinen Mund und lehrte sie und sagte: Die Einleitung in V. 1 knüpft unmittelbar an die in 4,25 geschilderte Szenerie der „Nachfolge“ großer Volksmengen aus ganz Israel an. Der Aufstieg auf den Berg (vgl. Mk 3,13, dort aber im Kontext der Berufung der Zwölf) lässt Moses Aufstieg auf den Sinai (Ex 19,3; 24,15.18; 34,4) assoziieren. Im Lichte von 5,17 (wie auch 7,12) ist auszuschließen, dass Matthäus Jesus über diese Anspielung in Konkurrenz zu Mose treten lassen möchte. Wie bei den zahlreichen Schriftanspielungen und expliziten Verweisen im Prolog (1,1–4,16) geht es vielmehr auch hier darum, die Jesusgeschichte in biblisches Kolorit zu tauchen und sie (als Kulminationspunkt, vgl. 1,17) in die vorangehende Geschichte des Handelns Gottes mit seinem Volk einzustellen. Durch den szenischen Schlussrahmen in 7,28f wird deutlich, dass Jesus mit dem Aufstieg auf den Berg nicht Distanz zum Volk sucht. Entsprechend bilden die Jünger durch ihr Hinzutreten in 5,1b lediglich den inneren von zwei konzentrischen Hörerkreisen; sie sind damit die primären, aber nicht die ausschließlichen Adressaten der Bergpredigt. Dem korrespondiert, dass zwar Passagen wie 5,11 f.13–16 oder

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7,21–23 spezifisch auf die Jünger gemünzt sind, zugleich aber schon aus der kontextuellen Einbindung von Mt 5–7 als exemplarische Illustration der Summarien in 4,23; 9,35 folgt, dass Matthäus mit der Bergpredigt Jesu Lehre zu präsentieren sucht, wie er sie – zumindest in weiten Teilen – ähnlich auch sonst öffentlich vortrug, was wiederum 7,28f entspricht. Die Bergpredigt bietet also die für Matthäus grundlegende ethische Unterweisung für die Jünger und für die, die es werden sollen. Die Binnendifferenzierung des Auditoriums lässt in entsprechend differenzierter Weise nach der kontextuellen Funktion der Bergpredigt im Erzählduktus fragen. Zum einen: Dem Sachverhalt, dass Matthäus die ethische Unterweisung Jesu mit der Rahmung des Korpus der Bergpredigt durch Aussagen über Tora und Propheten (5,17; 7,12) an die Heilige Schrift und die normativen Traditionen Israels angebunden hat, korrespondiert der Verweis auf das Gottesvolk als Horizont des Wirkens Jesu in 4,23, der durch 4,25 unterstrichen wird: Durch Jesu Lehre auf dem Berg wird den aus ganz Israel zusammengekommenen Volksmengen in vollmächtiger Weise (7,29) auf der Basis von Tora und Propheten der Gotteswille erschlossen. Durch die kurze Entfaltung des heilenden Wirkens Jesu in 4,24 sind die Volksmengen dabei als solche charakterisiert, die vor der Lehre bereits die heilvolle Zuwendung Gottes zu ihnen in Jesus erfahren haben. Man kann hier eine theologisch bedeutsame Strukturanalogie zur Tora entdecken: Der Sinaigesetzgebung geht das Heilshandeln Gottes in Gestalt des Exodus voraus. Zum anderen ist im Blick auf die Jünger die Rahmung der Präsentation des Wirkens Jesu in 4,23–9,35 durch Berufung (4,18–22) und Sendung der Jünger (9,36–11,1) zu beachten. Für sie ist die Bergpredigt nicht nur die grundlegende Orientierung für ihren eigenen Lebenswandel, sondern zugleich die für ihre Sendung notwendige Instruktion. 28,20 fügt sich hier ein, denn Jesu Auftrag an die Jünger, dass sie die Menschen lehren sollen, alles zu halten, was er ihnen, den Jüngern, geboten hat, bezieht seinen Inhalt im Wesentlichen aus der Bergpredigt. II 4.2 Die Einleitung (5,3–16) II 4.2.1 Seligpreisungen (5,3–12) 3 „Glückselig sind die im Geist Armen, denn ihrer ist das Himmelreich. 4 Glückselig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. 5 Glückselig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. 6 Glückselig sind die, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden gesättigt werden. 7 Glückselig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. 8 Glückselig sind die im Herzen Reinen, denn sie werden Gott

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sehen. 9 Glückselig sind die Friedenstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen. 10 Glückselig sind die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, denn ihrer ist das Himmelreich. 11 Glückselig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und lügnerisch alles Böse gegen euch redet um meinetwillen. 12 Freut euch und jubelt, denn euer Lohn ist groß in den Himmeln. Denn ebenso hat man die Propheten verfolgt, die vor euch (waren). In den neun mt Seligpreisungen hebt sich die letzte formal deutlich von den vorangehenden, jeweils aus einem Zweizeiler bestehenden Makarismen (kurze Nennung der glückselig zu Preisenden + Begründung in Form einer Heilsverheißung) durch ihre Länge und den Wechsel von der 3. Pers. Pl. zur direkten Anrede in der 2. Pers. Pl. ab. In den ersten acht Seligpreisungen hat der Evangelist durch die Wiederaufnahme des Verheißungssatzes aus V. 3b in V. 10b eine inclusio gebildet. Auffallend ist ferner, dass in der vierten und achten Seligpreisung von der Gerechtigkeit die Rede ist, so dass zwei „Strophen“ mit je vier Seligpreisungen erkennbar werden. Die Verwendung des Stilmittels der Alliteration in der ersten „Strophe“ unterstreicht diese Gliederung: Alle Seliggepriesenen beginnen in V. 3–6 im Griechischen mit dem Buchstaben Pi. Der Grundstock von Mt 5,3–12 entstammt der „Grundrede“ (Q 6,20–49), doch bietet Lukas nur vier Seligpreisungen (Lk 6,20–23), was dem Bestand in Q entsprechen dürfte. Von diesen werden die ersten drei (Arme, Hungernde, Weinende) allgemein auf Jesus zurückgeführt: Menschen in Not wird die eschatologische Umkehrung ihrer Verhältnisse zugesagt. Lk 6,22f par Mt 5,11f hingegen ist eine nachösterliche Gemeindebildung, die die Bedrängnis, welcher die Jesusboten ausgesetzt sind, reflektiert. Von den fünf bei Matthäus hinzugekommenen Makarismen ist keiner auf Jesus zurückführbar. Sie sind vielmehr auf der Basis atl. Texte und frühchristlicher Tradition gebildet (s. die Einzelauslegung). Der Zuwachs geschah vermutlich in mehreren Schritten. Am Anfang dürfte die durch Jes 61,1–3 inspirierte Umbildung der Seligpreisung der Weinenden zu der der Trauernden stehen, wodurch die angemerkte Alliteration entstand. Diese Dreierreihe wurde dann (erst vom Evangelisten oder in seinem Gemeindekreis?) um die Seligpreisung der Sanftmütigen (V. 5) ergänzt. V. 10 ist deutlich redaktionell. Auf die Hand des Evangelisten weist auch die Bearbeitung der aus Q stammenden ersten und vierten Seligpreisung (V. 3.6). Ob V. 7–9 auf den Evangelisten selbst zurückgeht oder einen Zuwachs darstellt, der Matthäus aus seinem Gemeindekontext vertraut war, lässt sich nicht mit der nötigen Plausibilität entscheiden. Makarismen waren im atl.-frühjüdischen Bereich zunächst vornehmlich in der weisheitlichen Ermahnung beheimatet (s. z. B. Sir 14,1f.20–27; 25,8f). Mit der Rezeption der Gattung in der Apokalyptik trat das den Se-

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liggepriesenen zugesprochene endzeitliche Heil in den Vordergrund (z. B. 1Hen 58,2f). Mt 5,3–12 (par Lk 6,20–23) setzt formgeschichtlich diese Entwicklung voraus und knüpft daran an. Aus der Seligpreisung der Armen ist bei Matthäus die der „Armen im 3 Geist“ geworden. Da an den Stellen, an denen Matthäus den Heiligen Geist meint, dies entweder eindeutig aus dem Kontext hervorgeht oder durch einen entsprechenden Zusatz angezeigt wird, ist „Geist“ in V. 3 anthropologisch zu verstehen (vgl. 26,41; 27,50): „Arme im Geist“ meint entweder Menschen, die schwach an Lebensmut, an „Lebensgeist“ sind, also die Mutlosen, die Verzweifelten, oder aber, stärker ethisch akzentuiert, die Demütigen, die sich selbst als niedrig erachten (vgl. Ps 33,19 LXX : „die im Geist Niedrigen/ Demütigen wird er retten“). Eine ähnliche Wendung in zwei Qumrantexten (1 QH 6,3; 1 QM 14,7) weist eher auf Letzteres, ohne jedoch eine klare Entscheidung zu erlauben. Für eine Ethisierung spricht zudem die Tendenz, die sich in der mt Redaktion in V. 6 und in der Hinzufügung von V. 5.7–9 zeigt. Die Zusage des Himmelreiches im Nachsatz blickt auf das zukünftige, endzeitliche Heil (vgl. 5,20); die Präsensform „ist“ dient dazu, die Gewissheit der Zusage hervortreten zu lassen. Die – im Futur formulierten – Nachsätze in V. 4–9 erscheinen durch die inclusio, die Matthäus durch die Wiederholung von V. 3b in V. 10b gebildet hat, als exemplarische Konkretion der Verheißung des Himmelreiches. Die Ersetzung der Weinenden (Lk 6,21b = Q) durch die Trauernden ist 4 mit Jes 61,1–3 durch einen Text inspiriert, der auch sonst im frühen Christentum rezipiert (Lk 4,18) und hier offenbar aufgrund des Stichworts „Arme“ im ersten Makarismus assoziiert wurde (vgl. Jes 61,1 und dazu Mt 11,5). In der Alten Kirche ist V. 4 häufig auf die Trauer über die Sünde bezogen (vgl. Jak 4,9) und damit die ethisierende Tendenz der mt Reihe aufgenommen worden, doch ist eine solche Zuspitzung für Mt 5,4 selbst nicht zu erweisen. Im Lichte der Anspielung auf Jes 61 kann man allenfalls daran denken, dass es um die Trauer über das noch bestehende Unheil und Unrecht geht, während Gott mit der Wende zum Heil Gerechtigkeit sprießen lassen wird (61,11). Sicher behaupten lässt sich ein solcher Sinnhorizont aber nicht. Die Seligpreisung der Sanftmütigen ist auf der Basis von Ps 36,11 LXX ge5 bildet. Die sachliche Nähe von Sanftmut und Demut (vgl. z. B. Zef 3,12 LXX ; Sir 3,17f; 10,14f; Eph 4,2) wird im mt Kontext durch 11,29 illustriert. Zugleich unterstreicht die Verwendung von „sanftmütig“ in 11,29 sowie 21,5, dass es hier zumindest vornehmlich um den zwischenmenschlichen Bereich geht, nicht um die Haltung Gott gegenüber. V. 5 fügt sich also der ethisierenden Tendenz der mt Makarismenreihe ein. Der Verheißungssatz lässt fragen, wie sich der Eingang ins Himmelreich (V. 3) zur Erbschaft der Erde verhält. Offenbar ist für Matthäus mit dem Kom-

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men der Gottesherrschaft ein erneuertes Diesseits verbunden: Die Erde wird dann, im Gegensatz zur geläufigen alltäglichen Erfahrung, nicht mehr denen gehören, die sich mit Macht und Gewalt durchsetzen (vgl. 20,25), sondern den Sanftmütigen, Freundlichen, Milden. Aus den „Hungernden“ (Lk 6,21a = Q) sind die „nach Gerechtigkeit 6 Hungernden und Dürstenden“ geworden. Zudem hat Matthäus in V. 4.6 die Reihenfolge der Makarismen gegenüber Q 6,21 vertauscht, um die als Leitmotiv der Bergpredigt fungierende Gerechtigkeitsthematik (neben 5,6.10 noch 5,20; 6,1.33) betont an den Schluss der ersten „Strophe“ setzen zu können. „Gerechtigkeit“ meint hier nicht Gottes Heilsgabe (vgl. Röm 1,17), die vom (sündigen) Menschen sehnsüchtig erwartet wird, bzw. die Aufrichtung seiner Heilsordnung. Im Lichte des eindeutig ethischen Gerechtigkeitsbegriffs in 5,20; 6,1, der sich zudem auch für 5,10 anbietet, ist hier unter „Gerechtigkeit“ vielmehr die dem Menschen aufgetragene Rechtsforderung Gottes zu verstehen (s. auch zu 3,15). Entsprechend bezieht sich „Hungern und Dürsten“ nicht auf die Sehnsucht nach dem Heil, sondern ist im aktivischen Sinn von „sich um etwas bemühen“ aufzufassen (vgl. dazu z. B. Philo, Post 172 vom „Durst nach Tugend“). Seliggepriesen werden hier also die, deren Handeln durch das Streben nach Gerechtigkeit geprägt ist (vgl. Spr 15,9; 1Tim 6,11). Der Verheißungssatz „denn sie werden gesättigt werden“ wird durch die Veränderung im Vordersatz zur metaphorischen Beschreibung des Heilsempfangs. Die neu hinzugekommenen Makarismen in V. 7–9 sind sämtlich ethisch ausgerichtet. Barmherzigkeit ist ein zentrales Thema jüdischer wie dann 7 auch christlicher Ethik. Je nach der Notlage des Gegenübers differenziert sich Barmherzigkeit in unterschiedliche Verhaltensweisen aus, wie sich anhand des Testaments Sebulon, dessen Leitthema die Barmherzigkeit ist, exemplarisch illustrieren lässt: als Wohltätigkeit gegenüber den Armen, die nichts zu essen oder zum Anziehen haben (vgl. TestSeb 6,4–7,4), als Hilfe für anderweitig sozial Bedrängte, also etwa auch für Verfolgte (vgl. TestSeb 2,1–9), oder als nachsichtiger Umgang mit Sündern (vgl. TestSeb 8,4–6). Mt 9,13; 12,7; 23,23 zeigen, dass die Barmherzigkeit für Matthäus das Zentrum des Willens Gottes bildet (vgl. der Sache nach auch 25,31–46). Die wohl von ihm selbst gebildete Seligpreisung der Barmherzigen (vgl. Spr 14,21) bringt diesen ethischen Schwerpunkt an prominenter Stelle zum Ausdruck. Der Gedanke, dass Gott den Barmherzigen seinerseits Barmherzigkeit widerfahren lässt, ist in jüdischer Tradition verbreitet (vgl. Spr 17,5 LXX ; TestSeb 5,3; 8,1; bShab 151b, frühchristlich Jak 2,13). Mit der Seligpreisung derer, die reinen Herzens sind, nimmt Matthäus 8 eine in atl.-frühjüdischer Tradition geläufige Redeweise auf (Ps 24,4; 51,12; Ijob 11,13; Sir 38,10 u. ö.). Mit dem „Herzen“ ist in der mt Anthropologie das – Denken, Willen und Emotionen umfassende – Zentrum der Person

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gemeint (vgl. Luz, Evangelium I, 285), mit „Reinheit des Herzens“ entsprechend die ungeteilte Ausrichtung auf Gott, die sich im Tun seines Willens manifestiert. Die Verheißung der „Gottesschau“ (vgl. 18,10) ist hier nicht als Resultat mystischer Versenkung gedacht, sondern – analog zu den umstehenden Nachsätzen – eschatologische Heilsgabe (vgl. 1Kor 13,12; 1Joh 3,2; Offb 22,4). Zum Reich Gottes gehört die Gemeinschaft mit Gott. Die ethisierende Tendenz kommt schließlich auch in der Seligpreisung 9 der Friedenstifter zum Zuge (vgl. 2Hen 52,11–14). Die zuweilen anzutreffende Übersetzung mit „selig sind die Friedfertigen“ lässt das zugrunde liegende griechische Wort deutlich unterbestimmt sein, denn es geht über die eigene Friedfertigkeit hinaus darum, aktiv Frieden zu stiften (vgl. Jak 3,18). Die über den Verheißungssatz in V. 9b gestaltete Verbindung zum Feindesliebegebot in V. 44f unterstreicht dieses Moment. Hier wie dort wird den Jüngern die eschatologische Verheißung der Gottessohnschaft zugesprochen, wobei Matthäus diese Verheißung in V. 45 in Q vorgefunden hat (vgl. Lk 6,35). 5,9.45 sind dabei die einzigen Belege, in denen – auf der Basis des ethischen Sohn- Gottes-Begriffs, wie er in einigen weisheitlichen Texten begegnet (Sir 4,10; Weish 2,18; 5,5) – das Gottessohnmotiv auf die Jünger Jesu übertragen ist. Dieser Befund legt nahe, dass die Bildung von 5,9 – sei es durch Matthäus selbst oder in seinem Gemeindekontext – durch den in 5,44f verarbeiteten Q-Text inspiriert ist, 5,9 also eine Interpretation des Feindesliebegebots darstellt und damit das Verständnis der Feindesliebe in der mt Gemeinde spiegelt: Feindesliebe ist ein Akt des Friedenstiftens. Und umgekehrt bedeutet Friedenstiften für Matthäus und seine Gemeinden das Bemühen, Feindschaft zu überwinden, indem man dem Feind Wohltaten erweist, sich um das Gedeihen seines Lebens kümmert und für ihn betet. Mit der letzten Seligpreisung der zweiten „Strophe“ (V. 10) wendet 10–12 Matthäus sich der bedrängten sozialen Lage derer zu, die sich um Gerechtigkeit mühen, damit aber nicht immer und überall auf Gegenliebe stoßen (vgl. 1Petr 3,14). Thematisch wird hier die in Q vorgegebene letzte Seligpreisung (V. 11f, vgl. Lk 6,22f) verstärkt; zugleich dient die redaktionelle Bildung von V. 10 dem dargelegten kompositorischen Interesse sowie inhaltlich der Betonung des Leitgedankens der Gerechtigkeit (s. zu V. 6). Das Motiv der Verfolgung der Gerechten knüpft an jüdische Tradition an (Weish 2,10–20; 1Hen 95,7). Die letzte Seligpreisung (V. 11f) führt dann die Bedrängnis zumindest stichwortartig näher aus und variiert zugleich das Verfolgtsein um der Gerechtigkeit willen zum Verfolgtsein um Jesu willen (vgl. 10,18.39; 16,25), was für Matthäus ein und dasselbe ist, da sich die Zugehörigkeit zu Jesus für den Evangelisten zentral am Tun des Willens Gottes erweist (7,21–23). Matthäus wechselt nun, passend zur Wendung „um meinetwillen“, zur in Q 6,22f vorgegebenen direkten Anrede

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der Jünger, die dann in 5,13–16 fortgeführt wird. Die Anfeindung soll die Jünger aus zwei Gründen nicht irritieren: Zum einen besteht Anlass zur Freude im Leiden (vgl. 2Bar 52,6; 1Petr 1,6f; 4,13), da die jetzt Verfolgten himmlisch belohnt werden. Zum anderen sollen die Jünger wissen, dass ihre Bedrängnis nichts Ungewöhnliches ist, sondern sie mit den Propheten verbindet. Bedrängnis ist also genau das, womit die Boten Gottes in dieser Welt zu rechnen haben. Matthäus bedient sich hier einer bereits im AT einsetzenden und dann frühjüdisch wie frühchristlich weit verbreiteten Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten (Jer 2,30; 2Chr 36,15f; Neh 9,26; Josephus, Ant 10,38f; Mk 12,1–12 u. ö.). Die bei Matthäus hinzugekommenen fünf Seligpreisungen (V. 5.7–10) haben im Verbund mit der Einfügung von Interpretamenten in die aus Q 6,20–23 übernommenen Makarismen aus der Reihe eine Art Tugendspiegel werden lassen. Hier werden grundlegende ethische Merkmale eines Christenmenschen benannt: Demut und Sanftmut, das Streben nach Gerechtigkeit, für das auch Verfolgung in Kauf zu nehmen ist, Barmherzigkeit usw. Diese Ethisierung bringt es mit sich, dass in den ersten acht Seligpreisungen nicht die Anrede in der 2. Pers., sondern die 3. Pers. gewählt ist. Hier werden – quasi allgemeingültig – Kennzeichen des Christseins benannt. Es ist also eine Korrespondenz zwischen der Ethisierung und der Veränderung der direkten Anrede zu verzeichnen, denn diese passt nicht zu einem Tugendkatalog bzw. umgekehrt formuliert: Die ethischen Vordersätze passen nicht zu direkter Anrede. Erst in V. 11f appliziert Matthäus die Makarismen auf die (primär) angeredeten Jünger. Trotz der Ethisierung sind die Makarismen als Eingangsportal der Bergpredigt aber nicht einfach verkappte Imperative. Denn der Ton liegt nicht auf den Vordersätzen, sondern auf den Nachsätzen: Im Vordergrund steht, den Jüngern die Verheißung in Erinnerung zu rufen und zuzusprechen. Für diesen Interpretationsansatz spricht nicht zuletzt, dass die Reihe in V. 10–12 in die Seligpreisung der Verfolgten mündet und zudem auch V. 4 sich nicht in einen Imperativ umwandeln lässt. II 4.2.2 Die Jünger als Salz der Erde und Licht der Welt (5,13–16) 13 Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber das Salz dumm wird, womit wird man (es) salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es hinauswirft und es von den Menschen zertreten wird. 14 Ihr seid das Licht der Welt. Es kann eine Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen bleiben. 15 Man lässt auch nicht eine Lampe brennen und stellt sie unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter; dann leuchtet sie allen im Hause. 16 So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater in den Himmeln preisen.

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In den Seligpreisungen ist die Verheißung vergegenwärtigt worden, die den Jüngern gilt, sofern sie sich als solche Menschen erweisen, wie sie durch die Makarismen charakterisiert werden: Ihr demütiges, auf Gerechtigkeit ausgerichtetes Leben ergibt schon deshalb Sinn, weil solchen Menschen das Himmelreich gehören wird. Nun ändert sich die Perspektive: Das Leben der Jünger ist auch deshalb sinnvoll, weil sie eine Aufgabe in der Welt haben (vgl. Burchard, Versuch, 36). Denn sie sind – in exklusiver Weise – das Salz der Erde und das Licht der Welt. Im Blick auf die Gesamtkomposition der Bergpredigt ist die kleine Komposition in 5,13–16 geradezu als das thematische Kopfstück zu betrachten, d. h. das Korpus in 5,17–7,12 entfaltet die mit den Metaphern „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ exponierte Aufgabe der Jünger. Matthäus hat in 5,13–16 in hohem Maße selbst gestaltet. In V. 13 und V. 15 sind zwar zwei Logien aus Q, die dort in unterschiedlichen Textzusammenhängen stehen, verarbeitet (vgl. Lk 14,34f; 11,33), wobei Matthäus in beiden Fällen die Q-Version der entsprechenden Markusfassung (vgl. Mk 9,49f; 4,21) vorzieht. Aber die thematischen Leitsätze in V. 13a „ihr seid das Salz der Erde“ (als Ersatz für die Feststellung „gut ist das Salz“, Mk 9,50; Lk 14,34) sowie in V. 14a „ihr seid das Licht der Welt“ entstammen ebenso wie der ganze Vers 16 der Feder des Evangelisten. Mit dem betonten „ihr“ zu Beginn von V. 13 und V. 14 knüpft Matthäus an die letzte Seligpreisung an, in der er zur direkten Anrede in der 2. Pers. Pl. übergegangen ist. Liest man V. 11–16 im Zusammenhang, wird deutlich, dass die Gemeinde die Bedrängnis und Zurückweisung, die sie in der Welt ob ihrer Jesusnachfolge erfährt, weder mit einem Rückzug aus dieser (die Lampe unter dem Scheffel) noch mit Anpassung (das salzlose Salz) beantworten darf. Vielmehr bleibt die Gemeinde auf ihre Aufgabe in der Welt verwiesen. Dabei entsteht ein geradezu paradoxer Zusammenhang: Ausgerechnet die, die von den anderen Menschen Verfolgung erleiden, sind für die anderen da. Zugleich ist dieser Bezug auf die anderen für das Verständnis des den Jüngern hier zugeschriebenen exzeptionellen Status von fundamentaler Bedeutung: Die Jüngergemeinschaft ist kein elitärer Zirkel, sondern ihre exponierte Stellung als Salz und Licht bezieht sich streng auf ihre Aufgabe. Der universale Horizont (Erde, Welt) antizipiert dabei bereits 28,16–20. Die Frage, ob das Salz in V. 13 (primär) als konservierendes oder als rei13 nigendes Mittel (vgl. 2Kön 2,19–22) oder, was angesichts des alltäglichen Gebrauchs am wahrscheinlichsten ist, als Würze (vgl. Ijob 6,6) im Blick ist, ist insofern von untergeordneter Bedeutung, als es so oder so um die positive Rolle der Jünger auf der Erde geht. In dieser sind sie unersetzbar. Denn wenn das Salz fade – oder wie es wörtlich heißt: dumm, töricht – geworden ist, womit soll man es salzen? Matthäus nimmt hier die Möglichkeit in den Blick, dass die Jünger in ihrer Aufgabe versagen, und zeich-

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net die Konsequenz. Fade gewordenes Salz kann man, da es zu nichts mehr nütze ist, nur noch wegschütten. Über die Drohung wird die Aufgabe eingeschärft. Wenn das Salz fade wird, ist es kein Salz mehr; wenn sich die Jünger – aufgrund von Verfolgung (V. 10–12) – ihrer Aufgabe in der Welt entziehen bzw. sich ihr anpassen, verraten sie ihre Jüngerschaft. Anders als bei der Salzmetapher wird die Aufgabe der Jünger in V. 14–16 14–16 nicht negativ über eine Gerichtsdrohung, sondern über die positiven Wirkungen eingeschärft, die die Jünger zu erzielen vermögen. Die beiden Bildworte in V. 14b und V. 15 illustrieren zunächst je auf ihre Weise die Absurdität der Möglichkeit, dass sich die Jünger in ihrer Rolle als Licht der Welt zu verbergen suchen könnten. Dass das sinnvollerweise auf einen Leuchter gestellte Licht allen im Hause leuchtet, verstärkt die universale Dimension der Metaphern „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“. V. 16 transformiert dann den Schlusspassus von V. 15 zu einer Mahnung an die Jünger, ihr Licht vor den Menschen leuchten zu lassen, damit ihre guten Werke gesehen werden und Menschen darüber zum Lobpreis Gottes kommen, der hier erstmals mit der für Matthäus charakteristischen Wendung „Vater in den Himmeln“ bezeichnet wird (vgl. 5,45; 6,1.9 u. ö.). Die Lichtexistenz der Jünger wird hier nicht durch ihre Verkündigung konkretisiert, sondern durch ihr Tatzeugnis (vgl. 1Petr 2,12): Wenn an ihrem Lebensstil erkennbar ist, dass sie aus ihrer Beziehung zu Gott heraus zu solch guten Werken geführt werden, gereicht dieser Wandel Gott zur Ehre. Christlichem Lebenswandel wird damit eine quasi missionarische Bedeutung zugemessen. Zielpunkt ist hingegen nicht, dass die Jünger selbst ob ihrer Werke gelobt und gepriesen werden, wenngleich hier – in einer gewissen Spannung zur Rede von der Verfolgung um der Gerechtigkeit willen – vorausgesetzt ist, dass ihre Werke von Außenstehenden als gut anerkannt werden. In 6,1–18 wird Matthäus 5,16 ausdrücklich gegen eine Form des Tuns der Gerechtigkeit abgrenzen, die darauf abzielt, selbst das Lob davonzutragen. Zu beachten ist ferner, dass die Lichtmetapher bereits in 4,16 über das Zitat von Jes 9,1 mit Bezug auf Jesus (vgl. Lk 1,78f; 2,32; Joh 8,12) eingeführt wurde. Die Lichtexistenz der Jünger erscheint daher, kontextuell betrachtet, als eine abgeleitete. Sie ist durch Jesus ermöglicht, durch sein Mit-Sein wie durch seine Erschließung des Gotteswillens. In frühjüdischen Texten wurde die Lichtmetapher verbreitet auf die Tora bzw. auf die, die sie lehren und nach ihr leben, appliziert (z. B. Weish 18,4; TestLevi 14,3f; 19,1; LAB 11,1; 2Bar 59,2; 77,13–16). Dieser traditionsgeschichtliche Kontext erhellt im Blick auf Mt 5 nicht nur den Bezug der Lichtmetapher auf die guten Werke der Jünger, sondern auch den Zusammenhang von V. 16 mit der in V. 17 folgenden Aussage über die Tora: Das durch Aussagen über Tora und Propheten gerahmte Korpus der Bergpredigt (5,17–7,12) illustriert die guten Werke, mit denen die Jünger ihrer Aufgabe, Licht der Welt zu sein, nachkommen sollen.

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II 4.3 Der Hauptteil (5,17–7,12) II 4.3.1 Der programmatische Anfangsrahmen: Die Erfüllung von Tora und Propheten und die bessere Gerechtigkeit (5,17–20) 17 Meint nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen! Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen. 18 Amen, ich sage euch nämlich: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht ein einziges Iota oder ein einziges Häkchen vom Gesetz vergehen, bis alles geschieht. 19 Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten löst und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste genannt werden. Wer (sie) aber tut und lehrt, der wird groß genannt werden im Himmelreich. 20 Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineingehen. Das Korpus der Bergpredigt beginnt mit einer Grundsatzerklärung über die Geltung von Gesetz und Propheten (V. 17–19) und – daran anschließend – über die von den Jüngern erwartete „bessere Gerechtigkeit“ (V. 20). Von den hier zusammengestellten vier Logien existiert nur zu V. 18 eine entfernte, wohl auf Q zurückgehende Parallele in Lk 16,17. V. 20 wird in aller Regel für eine Bildung des Evangelisten gehalten, dessen Vorliebe für Sprüche über das Eingehen ins Himmelreich auch anderorts hervortritt (vgl. z. B. 7,21; 18,3). V. 17.19 weisen zwar ebenfalls redaktionelle Züge auf, doch ist nicht auszuschließen, dass Matthäus hier überkommenes Gut bearbeitet hat. In jedem Fall geht die Komposition der vier Logien zu einer programmatischen Eröffnung des Korpus der Bergpredigt auf den ersten Evangelisten zurück. Pointiert kommt hier die Bedeutung der Gesetzesthematik für Matthäus zum Ausdruck. Die Einbettung der Unterweisung Jesu in sechs Antithesen (V. 21–48) unterstreicht und illustriert die in V. 17–20 ansichtig werdende torabezogene Ausrichtung der mt Ethik. Nachdem Matthäus in 5,13–16 die Aufgabe der Jünger in der Welt um17 rissen hat, lässt er in V. 17 ein programmatisches Wort über den Sinn des Gekommenseins Jesu folgen, das die Jünger zu beherzigen haben, wenn sie ihrer Aufgabe gerecht werden wollen: Licht der Welt können sie nur sein, indem sie sich an der Erfüllung der Tora durch Jesus orientieren (zum traditionellen Zusammenhang von Lichtmetapher in V. 14–16 und Tora s. zu V. 16). V. 17 ist analog zur formalen Parallele in 10,34 als eine Kontrastaussage formuliert (vgl. auch 9,13; 20,28), in der die Position vor dem Hintergrund einer verneinten Option konturiert wird („nicht um aufzulösen, sondern um zu erfüllen“). Die Einleitung mit „meint nicht“ lässt darauf schließen, dass eine im mt Umfeld virulente Meinung über Jesus abgewehrt werden soll. Man kann dabei zum einen an einen von pharisäi-

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scher Seite gegen die Gemeinde vorgebrachten Vorwurf über deren mangelnde Befolgung der Tora denken. Für diese Option spricht, dass Matthäus die Gesetzeskontroversen, in die Jesus verwickelt ist, pointiert als Auseinandersetzungen mit den Pharisäern darstellt (s. 12,1–14; 15,1–20; 19,3–9; 22,34–40) und auch die Antithesenreihe in 5,21–48 in diesem Konfliktkontext zu lesen ist. Allerdings verweist die Einleitung mit „meint nicht“ auf eine (potentielle) Fehleinschätzung Jesu im Kreis der Nachfolger Jesu, so dass man bei dieser Option ferner annehmen müsste, dass hier eine mögliche Beeinflussung von Gemeindegliedern durch die pharisäischen Vorwürfe abgewehrt werden soll. Zum anderen kann man erwägen, dass sich V. 17 innerchristlich gegen Gruppen richtet, die die Tora vernachlässigen oder gar als Grundlage christlicher ethischer Orientierung ablehnen. Dafür kann man darauf verweisen, dass Matthäus spätestens durch das Mk innerchristlich mit einem Gesetzesverständnis konfrontiert wurde, das er nicht teilte und dessen Einfluss er zu wehren suchte. 5,17 könnte Teil dieser „antimarkinischen“ Stoßrichtung sein (vgl. zu 7,15), zu der – als Präzisierung – auch die Bejahung der kleinen Gebote in V. 18f passt, da Mk 7,19 die prinzipielle Außerkraftsetzung der Speisegebote vertritt. Die beiden genannten „Fronten“ schließen einander nicht aus: Matthäus sucht zum einen innerchristlich der Abwertung der Tora entgegenzuwirken und erwidert zum anderen im Konflikt mit den Pharisäern deren Kritik mit einer Gegendarstellung, nach der Jesus und seine Nachfolger fest auf dem Boden der Tora stehen, während die Pharisäer als unverständig und „blind“ erscheinen. Eine spezifisch antipaulinische Stoßrichtung ist im Mt nicht erkennbar. Zu der Frage, was „erfüllen von Tora und Propheten“ genau bedeutet, weist die Korrespondenz mit „tun und lehren“ in V. 19 die Richtung. Mit den Propheten verbindet sich hier nicht das Moment der Erfüllung von Weissagungen auf den Messias oder Ähnliches, sondern wie in 7,12 und 22,40 geht es um die Willenskundgabe Gottes in Tora und Propheten (zu den Propheten vgl. das Zitat von Hos 6,6 in Mt 9,13; 12,7) und bei der „Erfüllung“ entsprechend um Lehre und daraus resultierende Praxis des Willens Gottes. „Erfüllen“ setzt aber zugleich einen eigenen Akzent. Zu der Formulierung gibt es nur wenige frühjüdische Parallelen (TestNaph 8,7; Sib 3,246; Philo, Praem 83), sie ist also auffällig (ntl. noch Röm 8,4; 13,8; Gal 5,14). Bei Matthäus wohnt dem Verb eine spezifisch christologische Sinndimension inne, die sich in den für ihn typischen Erfüllungszitaten, wo das Verb allerdings im Passiv begegnet (1,22 u. ö.), ebenso manifestiert wie in dem einzigen weiteren aktivischen Gebrauch in 3,15. Mit der Wahl des Verbs „erfüllen“ setzt Matthäus Jesus analog zu den Erfüllungszitaten in Kontinuität zur Schrift, in diesem Fall zur Kundgabe des Rechtswillens Gottes in Tora und Propheten. Dabei geht es aber nicht bloß um grundsätzliche Übereinstimmung der Lehre Jesu mit der Tora

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oder um Legitimation Jesu von der Tora her; für Matthäus wurden Inhalt und Intention der Willenskundgabe Gottes in der Tora vielmehr erst durch Jesu Lehre in vollgültiger Weise ans Licht gebracht. Jesus tut und lehrt die Tora also nicht wie andere vor und neben ihm auch, sondern Jesus ist aufgrund seines direkten, intimen Vertrautseins mit dem Willen des Vaters (11,27) für Matthäus der eine, der den Menschen den Willen Gottes auf der Basis von Tora und Propheten für die mit seinem Kommen angebrochene Heilszeit erschlossen (und vorgelebt) hat. Pointiert gefasst: Gottes Wille wird von dem einen Lehrer Jesus (vgl. 23,8.10) in prinzipieller Übereinstimmung mit der Tora, aber doch in neuer Weise zur Geltung gebracht; denn Jesus erfüllt Tora und Propheten, indem er den Vollsinn des Gebotenen aufdeckt. V. 18 präzisiert V. 17 dahingehend, dass die gesamte Tora bis zum Ende 18 der Welt in Geltung bleibt; der abschließende Temporalsatz „bis alles geschieht“ ist nicht anders zu verstehen als die einleitende Bestimmung „bis Himmel und Erde vergehen“, also ebenfalls auf das Weltende zu beziehen (vgl. 24,34f). Ob die Tora auch darüber hinaus, also im Himmelreich, Bestand hat (vgl. 24,35 von den Worten Jesu) bzw. gebraucht wird, ist hier nicht das Thema. V. 18 will allein positiv eine Aussage über die uneingeschränkte Geltung der ganzen Tora in dieser Weltzeit treffen. „Iota oder Häkchen“ ist im Lichte von V. 19, aber auch von der anderorts ansichtig werdenden Gewichtung unter den Geboten her (12,5–7; 19,18f; 22,34–40; 23,23f) im Sinne der von Matthäus als weniger gewichtig eingestuften Gebote zu verstehen, bei denen es sich konkret um den rituell-kultischen Bereich der Tora handelt. Erscheint V. 18 auf den ersten Blick als 19 Ausdruck eines dezidiert judenchristlichen Standpunkts, so macht allerdings schon V. 19 deutlich, dass Matthäus ein Vertreter eines in rituellen Fragen liberalen Judentums ist (vgl. Did 6,2f). Denn es bleibt zwar dem Grundsatz nach die gesamte Tora in Kraft, doch reicht die angesprochene Gewichtung so weit, dass die Vernachlässigung „kleiner“ Gebote nicht vom Heil ausschließt. Matthäus setzt in V. 19 die gelegentlich in der frühjüdischen (4Esra 8,49; 10,57; 2Hen 44,5) und später auch in der rabbinischen Literatur (s. z. B. bBM 85b) begegnende Vorstellung voraus, dass es im Himmelreich unterschiedliche Ehrengrade gibt (vgl. die Rede vom „großen Lohn“ in 5,12 sowie 11,11; 18,1–4; 20,23). Die, die bestimmte kleine Gebote vernachlässigen bzw. sogar in der Lehre für unverbindlich erklären, sind nicht ausgeschlossen, sie bekommen aber weniger Ehre, während die, die gewissenhaft auch die kleinen Gebote befolgen, im Himmelreich groß genannt werden. Während also in V. 19 die Vorstellung differenzierter Stellungen im 20 Himmelreich angedeutet wird (anders 20,1–15!), tritt in V. 20 die Alternative von Heilsteilhabe und Heilsausschluss hervor: Die „Gerechtigkeit“ der Schriftgelehrten und Pharisäer genügt nicht, um ins Himmelreich zu

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gelangen. Implizit wird diesen damit vorgeworfen, dass ihr Toragehorsam größere Defizite aufweist als bloß die Übertretung kleiner Gebote: Sie verfehlen die großen Gebote. Dieser Vorwurf wird im Mt durch die Gesetzeskontroversen zwischen Jesus und den Pharisäern (s. o. zu V. 17) facettenreich illustriert und schließlich in 23,23 auf den Punkt gebracht: Sie nehmen es zwar mit dem Verzehnten ganz genau – ein kleines Gebot –, vernachlässigen aber das Wichtigste im Gesetz. Ein in dieser Form unzulängliches Toraverständnis führt zu einem defizitären Gerechtigkeitsniveau, so dass der Zugang zum Himmelreich versperrt bleibt. Die von den Jüngern erwartete „bessere Gerechtigkeit“ basiert hingegen darauf, dass die großen Gebote adäquat, d. h. gemäß ihrem vollen und tieferen Sinn befolgt werden. Voraussetzung dafür ist das neue Erschlossensein von Gesetz und Propheten durch Leben und Lehre Jesu. In diesem Sinne dienen die in V. 21–48 folgenden Antithesen der exemplarischen Illustration von V. 20: In ihnen wird das Toraverständnis Jesu, das die bessere Gerechtigkeit ermöglicht, mit der unzureichenden Toraauslegung der Schriftgelehrten und Pharisäer kontrastiert. V. 20 ist also als Schlusspunkt der Grundsatzaussagen zu Beginn des Korpus der Bergpredigt zugleich eine Art Obersatz zu den nachfolgenden Antithesen. Mit V. 17–20 sind die Grundkonturen des mt Gesetzesverständnisses exponiert. Jesus hat Matthäus zufolge die Willenskundgabe Gottes in Tora und Propheten von ihrem durch das Nächstenliebegebot und die Barmherzigkeitsforderung bestimmten Zentrum her in ihrem vollen Sinn durch seine Lehre erschlossen sowie modellhaft vorgelebt. Dabei wird zwar im Grundsatz die ganze Tora bejaht, aber unter den Geboten gewichtet. Zudem wird diese Gewichtung soteriologisch eingebettet: Im Blick auf den Eingang ins Himmelreich kommt es auf die Praxis der gewichtigen sozialen Gebote an (vgl. 19,18f). Damit aber wird die Tora in einer Weise verstanden, die Menschen aus den Völkern den Zutritt zum Himmelreich auch dann ermöglicht, wenn diese die rituellen Bestimmungen der Tora vernachlässigen. II 4.3.2 Die Antithesen (5,21–48) Die Antithesenreihe lässt sich in zwei Dreierblöcke untergliedern. Nur in V. 21 und V. 33 begegnet bei der These die volle Einleitungsformel: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde“. Der Neueinsatz in V. 33 wird ferner durch das einleitende Adverb „wiederum“ unterstrichen. Die Gegenthese wird in den ersten drei Antithesen jeweils mit „jeder, der + Partizip (im Griechischen)“ eröffnet, woran sich jeweils die Erklärung des Vorliegens eines bestimmten Tatbestandes anschließt; die Gegenthesen bieten hier also Tatbestandsdefinitionen. Inhaltlich geht es um das richtige

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Verständnis der Dekalogverbote des Tötens und des Ehebruchs. Hingegen steht in der vierten und fünften Gegenthese ein von der Einleitung „ich aber sage euch“ abhängiger Infinitiv (z. B. „ich aber sage euch, überhaupt nicht zu schwören“), der dem Sinn nach imperativisch übersetzt werden kann; in der sechsten Gegenthese liegt dann auch formal ein Imperativ vor (V. 44). Im zweiten Teil wird also ein bestimmtes Verhalten in direkter Form aufgetragen. Wie im ersten Dreierblock die letzten beiden Antithesen (V. 27–30.31f) inhaltlich zusammengehören (in beiden geht es um Ehebruch), so besteht auch zwischen den letzten beiden des zweiten Dreierblocks (V. 38–42.43–48) ein enger Zusammenhang; ihr Thema ist jeweils der Umgang mit dem Feind. Die wichtigste Interpretationsfrage ist, was nach Matthäus’ Verständnis in den Thesen steht. Meint er, in den Thesen Gebote der Tora zu bieten, die dann durch die Gegenthesen entweder überboten oder kritisiert würden? Oder sah der Evangelist in den Thesen Auslegungen der Tora, d. h. Tora im Verständnis der (anderen) jüdischen Autoritäten, denen in den Gegenthesen Jesu Verständnis der Gebote entgegengehalten wird? Fragt man nach dem Verhältnis der Thesen zum Wortlaut atl. Gebote, zeigt sich ein gemischter Befund: Nur in V. 27 (vgl. Ex 20,14; Dtn 5,18) und V. 38 (vgl. Ex 21,24f; Lev 24,19f; Dtn 19,21) stimmt die These (fast) wörtlich mit der Tora überein. In V. 21 wird an das Dekaloggebot eine Strafbestimmung angefügt, für die man zwar atl. Gebote als Bezugstexte anführen kann (vgl. Ex 21,12; Lev 24,17), die so aber nicht in der Tora steht. Die dritte These (V. 31) ist überhaupt kein atl. Gebot, basiert aber mit Dtn 24,1–4 auf atl. Material. Auch die vierte These (V. 33) steht nicht annähernd so im AT, wieder gibt es aber Gebote, die als Kontext aufgerufen werden können (vgl. zu V. 33). In V. 43 schließlich wird das Liebesgebot Lev 19,18 unvollständig zitiert („wie dich selbst“ fehlt); dafür gibt es wieder einen nicht-atl. Zusatz: „und du sollst deinen Feind hassen“. Die Annahme, dass Matthäus wusste, dass dies so nicht im AT steht, ist nicht nur angesichts seiner profunden Schriftkenntnisse naheliegend, sondern wird in diesem Fall durch die korrekte Zitation des Liebesgebots in 19,19 und 22,39 direkt belegt. Zugleich zeigen diese Stellen eindeutig, dass es Matthäus erstens fernsteht, das Nächstenliebegebot selbst zu kritisieren, und er daher zweitens in 5,43 auch keine adäquate Toraparaphrase gesehen haben kann. Dass es nicht um eine Kritik der Gebote selbst gehen kann, gilt angesichts von 15,19; 19,18 im Übrigen in gleicher Deutlichkeit auch für die Dekaloggebote in 5,21.27. Die dargelegte gemischte Form empfiehlt daher die Annahme, dass die Thesen ein Toraverständnis repräsentieren sollen, das die Gebote entweder nur buchstäblich auffasst oder ihre Bedeutung bzw. ihren Geltungsbereich durch Interpretation einschränkt. Diese Annahme wird zudem durch weitere Indizien untermauert. Merkwürdig wenig beachtet wird in

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der Diskussion, dass die antithetische Formel nicht „es ist (zu den Alten) gesagt worden, ich aber sage euch“ lautet, sondern – mit der alleinigen Ausnahme von V. 31, wo sich die Verkürzung durch die direkte Fortsetzung der vorangehenden Antithese erklärt – „ihr habt gehört, dass …“. „Es ist gesagt worden“ steht parallel zur Einleitung der Erfüllungszitate (vgl. z. B. 1,22), verweist also auf die hinter der Tora stehende Autorität Gottes; die Dekaloggebote sind in Ex 20 direkte Gottesrede. Die „Alten“ sind entsprechend die Sinaigeneration. In dem einleitenden „ihr habt gehört“ steckt aber eine Relativierung bzw. ein Verweis auf den (synagogalen) Prozess der Vermittlung der Toragebote: Euch hat man das so gesagt; ihr habt das in der Synagoge bei der sabbatlichen Toraauslegung so vernommen, dass zu den Alten gesagt wurde (im Fortgang der mt Jesusgeschichte bietet der reiche Mann in 19,16–22 dafür ein Beispiel, vgl. zu 19,20). Nicht zuletzt ist für eine adäquate Interpretation von V. 21–48 der Zusammenhang mit der Aussage in V. 20 zu bedenken, dass die Gerechtigkeit der Jünger die der Schriftgelehrten und Pharisäer weit übersteigen muss. V. 20 fungiert nicht nur insofern als Obersatz zu V. 21–48, als in den Gegenthesen Jesu die von den Jüngern erwartete „bessere Gerechtigkeit“ in exemplarischer Weise inhaltlich konkretisiert wird. Zugleich wird auch durch die Thesen die defizitäre Form der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer illustriert, indem ihr unzulängliches Verständnis der gewichtigen Gebote aufgedeckt wird. Hingegen erschließt die in den Gegenthesen dargebotene Unterweisung Jesu – in Übereinstimmung mit der programmatischen Aussage in V. 17 – den vollen Sinn der Gebote und ihre eigentliche, tiefere Intention. Diese Stoßrichtung der Antithesenreihe gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten wird schließlich noch dadurch bestätigt, dass Matthäus am Ende in V. 47 durch die Wendung „was tut ihr Besonderes“ einen Rückverweis auf V. 20 eingebaut hat (s. zu V. 47). Die Antithesen stellen also nicht Jesu Wort über oder gegen das Wort der Tora, sondern Jesu Auslegung des in der Tora offenbarten Willens Gottes gegen die Auslegung von Schriftgelehrten und Pharisäern. Anzufügen ist, dass die Thesen keine historisch ohne Weiteres verwertbaren Quellen für das tatsächliche Gesetzesverständnis der Pharisäer sind. V. 20–48 ist vielmehr im Rahmen der (polemischen) Auseinandersetzung mit ihnen zu lesen, die das gesamte Evangelium wie ein roter Faden durchzieht. Zur Frage der Herkunft der Antithesen ist die Beobachtung grundlegend, dass sich die Antithesenform nur bei Matthäus findet, dies aber nicht durchgehend für den darin verarbeiteten Stoff gilt. Zum Stoff der dritten (5,32, vgl. [Mk 10,11f]; Lk 16,18), der fünften und der sechsten Gegenthese (5,39c–40.42.44–48, vgl. Lk 6,27–35) finden sich synoptische Parallelen, die nicht antithetisch formuliert sind. Dieser Befund spricht in allen drei Fällen dafür, dass die antithetische Einkleidung sekundär ist.

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Letzteres dürfte ferner auch für die vierte Antithese gelten: Zum Schwurverbot (5,34–37) gibt es zwar keine synoptische Parallele, aber eine ebenfalls nicht antithetisch formulierte Parallele in Jak 5,12, die überlieferungsgeschichtlich ein älteres Stadium repräsentiert. Für die ersten beiden Antithesen wird zumeist angenommen, dass sie dem Evangelisten in antithetischer Form vorlagen. Belastbare Indizien gibt es dafür aber nicht. Weder ist ausgeschlossen, dass das Unterweisungsgut in den Gegenthesen V. 22.28 für sich existiert haben kann, noch sind zwischen der Stoßrichtung der Antithesen und dem vorangehenden programmatischen Passus in V. 17–20 Spannungen zu diagnostizieren, da, wie gesehen, die Antithesen nicht torakritisch, sondern auslegungskritisch zu lesen sind. Umgekehrt ist damit, dass sich die Antithesenreihe sinnvoll an V. 17–20 anfügt, lediglich die Möglichkeit aufgeworfen, dass die Antithesenform in allen sechs Fällen erst auf den Evangelisten zurückgeht. Immerhin kann man für diese Option ferner geltend machen, dass die Antithesenformel sprachlich zum Stil des Evangelisten passt. Sicherheit ist hier aber nicht zu gewinnen. Es muss also offenbleiben, ob Matthäus die ersten beiden Antithesen als solche vorlagen und er durch sie zu weiteren analogen Bildungen veranlasst wurde oder ob die Antithesenform durchgehend auf den Evangelisten zurückgeht. Aber Letzteres ist mehr als eine nur bedenkenswerte Option, und die Voranstellung von V. 17–20 hatte jedenfalls nicht den Sinn, eine etwaige torakritische Stoßrichtung von eventuell aus der Tradition vorgegebenen Antithesen zu entschärfen. Dies gilt umso mehr, als gerade die ersten beiden Antithesen der Sache nach in keiner Weise die Gebote selbst in Frage stellen. Auch die geläufige Rede von Gebotsverschärfungen trifft das mt Verständnis insofern nicht präzise, als es für Matthäus nicht um Überbietungen der Gebote geht, sondern um Explikation ihres vollen und tieferen Bedeutungsgehalts. Die Antithese, die auf den ersten Blick nicht ohne Weiteres in diesem Sinn zu interpretieren ist, ist die fünfte in V. 38–42, also gerade eine redaktionell gebildete Antithese. Hier wird bei der Auslegung sorgfältig zu fragen sein, inwiefern Matthäus in der Gegenthese eine Explikation des Willens Gottes sehen konnte, wie er sich in Tora und Propheten manifestiert.

II 4.3.2.1 Erste Antithese: Vom Töten (5,21–26) Um die nachfolgende Auslegung leichter nachvollziehbar zu machen, setze ich zu V. 21f die Teilverseinteilung hinzu.

21 a Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: b ‚Du sollst nicht töten; c wer aber tötet, wird dem Gericht verfallen sein.‘ 22 a Ich aber sage euch: b Jeder, der seinem Bruder zürnt, wird dem Gericht verfallen

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sein. c Wer aber zu seinem Bruder sagt: ‚Raka!‘, wird dem Synedrium verfallen sein. d Wer aber sagt: ‚Dummkopf!‘, wird der Feuerhölle verfallen sein. 23 Wenn du nun deine Opfergabe zum Opferaltar bringst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, 24 so lass deine Opfergabe dort vor dem Opferaltar und geh hin, versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, und dann komm und bring deine Opfergabe dar! 25 Sei wohlgesinnt deinem Gegner, schnell, solange du mit ihm auf dem Weg bist, damit dich nicht der Gegner dem Richter übergibt und der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen wirst. 26 Amen, ich sage dir: Du wirst von dort nicht herauskommen, bis du den letzten Quadrans zurückbezahlt hast. Auf die eigentliche Antithese in V. 21f folgen in V. 23f und V. 25f zwei erläuternde Zusätze, die – im Unterschied zur 2. Pers. Pl. in der Antithesenformel in V. 21f – in der 2. Pers. Sg. formuliert sind (vgl. V. 27 f.29f sowie V. 38–39a.39b–42). Ein literarischer Bruch ist damit nicht verbunden: Dem Wechsel entspricht inhaltlich, dass in V. 23 f.25f jeweils Einzelfälle geschildert werden; zudem korrespondiert der Singular in V. 23–26 der singularischen Form des in These (V. 21b.c) und Gegenthese (V. 22b–d) jeweils Gesagten. V. 25f hat eine Parallele in Lk 12,57–59, stammt also aus Q; V. 21–24 ist mt Sondergut. Die These in V. 21 verbindet die Zitation des Tötungsverbots (V. 21b, 21–22 vgl. Ex 20,13; Dtn 5,17) mit einem Rechtssatz, der die Konsequenz im Falle eines Verstoßes gegen das Gebot darlegt (V. 21c) und hier die Funktion hat, eine restriktive Deutung des Tötungsverbots anzuzeigen, die dem Kontext nach (V. 20) den Schriftgelehrten und Pharisäern zur Last gelegt wird. Sie lesen das Dekaloggebot allein als einen Rechtssatz, woraus, betrachtet man diesen im Horizont menschlicher Rechtsprechung, geradezu notwendig ein bloß buchstäbliches Verständnis des Gebots folgt: Es geht allein um den Straftatbestand des Mordes. Die Konsequenz ist, dass alles, was unterhalb dieser Schwelle liegt, vom Gebot nicht berührt wird. Der Rechtssatz in V. 21c ist selbst kein Zitat, schließt aber an atl. Aussagen an. Warum hier anstelle eines konkreten Strafmaßes, das nach Ex 21,12; Lev 24,17 in der Todesstrafe besteht (s. auch Gen 9,6; Num 35,16–34; Dtn 19,11–13), lediglich das „Dass“ einer gerichtlichen Konsequenz vorgebracht wird, wird aus dem Gegenüber zur Gegenthese deutlich, in der es darum geht, den unter das Gebot fallenden Straftatbestand weiter zu fassen. Dazu bedarf es als Widerpart der allgemeinen Feststellung: „er wird dem Gericht verfallen sein“. Für das genaue Verständnis der Gegenthese Jesu ist die Bestimmung des Verhältnisses der drei auf die Einleitung in V. 22a folgenden Glieder

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grundlegend. Die These, in V. 22 eine klimaktische Reihe zu sehen, die beim Zorn als einer bloß inneren Regung einsetzt und zur Beschimpfung des anderen als „Dummkopf“ fortschreitet und zugleich in den Nachsätzen die Gerichtsinstanzen steigert, hat zum einen das Fehlen einer substantiellen Differenz zwischen den beiden – jeweils relativ harmlosen – Schimpfwörtern (das aramäische Wort „Reka“, das hinter dem mt „Raka“ stehen dürfte, bedeutet so viel wie „Hohlkopf“), zum anderen das Verhältnis der drei Gerichtstermini gegen sich. „Gericht“ (krisis) ist nur unter dem Zwang der vorausgesetzten These auf ein lokales Gericht zu beziehen; zugleich lässt sich „Synedrium“ im Licht von 10,17, wo im Plural von Synedrien die Rede ist, keineswegs auf den Jerusalemer Hohen Rat engführen. Plausibler ist es, „Gericht“ als Oberbegriff aufzufassen, der durch „Synedrium“ als menschliches Gericht und das Höllenfeuer als endzeitliches göttliches Strafgericht nach zwei Seiten entfaltet wird. Die Gerichtsaussagen sind dabei nicht alternativ, sondern additiv zu verstehen: Wer einen anderen beschimpft – ob als Hohlkopf oder als Dummkopf –, ist des irdischen Gerichts wie des Höllenfeuers schuldig. Von entscheidender Bedeutung aber ist, dass zwischen V. 22b auf der einen und V. 22c.d auf der anderen Seite eine signifikante formale Differenz zu beachten ist: V. 22b ist als Grundsatz formuliert: „jeder, der …“. V. 22c.d nennen exemplarische Einzelfälle: „wer x macht …“. Dies legt nahe, dass V. 22b als Obersatz zu V. 22c.d fungiert. Und umgekehrt: V. 22c.d veranschaulichen V. 22b. Zu beachten ist ferner, dass sich Jesu Gegenthese nicht direkt auf das Dekaloggebot bezieht, sondern auf dessen Erläuterung in V. 21c. V. 22c und V. 22d entsprechen dabei genau der syntaktischen Struktur von V. 21c. Daraus lässt sich weiter folgern, dass analog zu V. 22c.d auch V. 21c als Unterfall des Grundsatzes von V. 22b zu lesen ist. Die Struktur von V. 21–22 lässt sich graphisch wie folgt verdeutlichen: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: ‚Du sollst nicht töten; wer aber tötet, wird dem Gericht verfallen sein.‘ Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, wird dem Gericht verfallen sein. Wer aber zu seinem Bruder sagt: ‚Raka!‘, wird dem Synedrium verfallen sein. Wer aber sagt: ‚Dummkopf!‘, wird der Feuerhölle verfallen sein.

Fasst man den Aufbau von V. 21–22 wie dargestellt auf, dann ist hier nicht betont, dass nicht erst der, der tötet, sondern schon der, der zürnt, dem Gericht verfallen ist. Vielmehr liegt der Ton in V. 22b auf „jeder“, also: Jeder, der zürnt, nicht nur der Zürnende, der tötet, sondern auch bzw. schon der Zürnende, der (bloß) Beschimpfungen äußert, wird dem Gericht verfallen sein. Mord und Beschimpfungen sind als Artikulationen des Zorns verstanden. „Zürnen“ lässt sich entsprechend als die von Aggres-

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sion bestimmte Grundhaltung der Ablehnung eines anderen fassen. Präzise gefasst liegt die Pointe der Gegenthese damit nicht darin, dass das verbotene Tun von der äußeren Handlung des Tötens auf die innere Regung des Zorns hin verschärft wird. Die Gegenthese legt vielmehr zunächst die dem Mord zugrunde liegende Haltung frei und stellt dann heraus, dass der Vollsinn und die Intention des Dekaloggebots erst dann erfasst sind, wenn man auch unterhalb der Schwelle des Mordes liegende Artikulationen ebendieser Haltung mit unter das im Gebot ausgesprochene Verdikt fallen sieht. Damit ist auch klar: Es geht im mt Sinn um Auslegung des Gebots, nicht um dessen Verschärfung oder Überbietung. Die Beispiele, die Matthäus in V. 22c.d nennt, sind dabei nicht erschöpfend, sondern exemplarisch gemeint. Genauer: Die Nennung gebräuchlicher Schimpfwörter als relativ harmloser Äußerungen des Zorns dient dazu, im Verbund mit dem Mord den Rahmen vom ganz leichten bis hin zum schwerwiegendsten zornigen Verhalten abzustecken. Für die mt Rede vom Zorn in V. 22 ergibt sich damit, dass hier zwar die dem Töten zugrunde liegende Haltung namhaft gemacht und insofern über die äußere Handlung hinaus der ganze Mensch in den Blick gerät. Wenn V. 22b Obersatz zu V. 21c.22c.d ist, legt Matthäus das Augenmerk hier aber nicht auf den Zorn als einer inneren Regung, ohne dass diese sich im sozialen Verhalten manifestiert. Der Zorn wird vielmehr in seiner sozialen Dimension, im Sinne konkreten Verhaltens, verhandelt. Die in V. 22 artikulierte ethische Forderung ist damit immer noch radikal, aber sie ist doch ein Stück weit realistischer als bei einem Verständnis von V. 22 als klimaktischer Reihe. Eine negative Emotion, die sich gegen einen anderen richtet, kann in einem Menschen hochkommen. Aber im guten Fall kann er damit umgehen; aus einer solchen Emotion muss keine Handlung – und sei dies „nur“, dass ein Schimpfwort herausrutscht – erwachsen. Die Rede vom „Bruder“ bezieht sich hier wie auch in V. 23f weder bloß auf Familienangehörige (s. z. B. 4,18.21), noch ist sie hier ekklesial engzuführen (in diesem Sinn 12,50; 18,15.21.35; 23,8; 28,10), denn „Synedrium“ verweist hier so wenig auf einen spezifisch ekklesialen Kontext wie das Beispiel in V. 23f (und gar das in V. 25f). „Bruder“ meint hier vielmehr im Grundsatz jeden Mitmenschen (vgl. 7,3–5; 25,40), ist also als appellatives Signal zu lesen, das die Verbundenheit mit anderen betont. Traditionsgeschichtlich ist als Kontext zu beachten, dass die Verbindung von Zorn und Sprachverhalten (PsSal 16,10; Kol 3,8; Jak 1,19f) und vor allem die von Zorn und Mord geläufig ist (PseudPhok 57f; TestDan 1,3–8). Sir 22,24 sieht in Schmähungen die Vorstufe zum Blutvergießen: „Vor dem Feuer (gibt es) Dampf im Kamin und Rauch; ebenso vor dem Blut(vergießen) Schmähungen.“ Zu verweisen ist ferner auf Did 3,2a: „Werde nicht zornig, denn der Zorn führt zum Mord“, zumal die Mahnung in einer am Dekalog orientierten Reihe steht. Der Unterschied

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zu Mt 5 besteht hier aber darin, dass vor dem Zorn gewarnt wird, damit es nicht zur Übertretung des Gebots kommt – nach dem Motto, den Anfängen zu wehren. Bei Matthäus hingegen wird das zornige Verhalten selbst, auch in der Form relativ harmloser Verbalinjurien, bereits als Übertretung des Dekalogverbots des Tötens verstanden. Als weiterer traditionsgeschichtlicher „Baustein“ ist daher noch hinzuzuziehen, dass im antiken Judentum verschiedentlich auch ein extensives Verständnis von „töten“ belegt ist. So fallen in der Torainterpretation Philos, der in seinem Traktat über den Dekalog und in den vier Büchern De specialibus legibus alle Einzelgebote unter die Zehn Gebote zu subsumieren sucht, unter das Tötungsverbot „alle die Bestimmungen über Gewalttat, tätliche Beleidigung, Misshandlung, Verwundung, Verstümmelung“ (Dec 170). Darüber hinaus begegnet ein extensives Verständnis von „töten“ in 2Hen 10,5 und Sir 34,25–27, wo unterlassene Hilfeleistung und Vorenthalten des Lohns mit „töten“ gleichgesetzt wird. Zwar fehlt hier eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Dekalog, doch illustrieren die Texte die semantische Weitung, die der Begriff des Tötens in der ethischen Reflexion des frühen Judentums durchlaufen hat. Inhaltlich am nächsten kommt Mt 5,22 ein in Derekh Erez Rabba 11,15 bezeugter, auf Dtn 19,11 Bezug nehmender Spruch von Rabbi Eliezer ben Hyrkan (Ende 1., Anfang 2. Jh. n. Chr.): „Wer seinen Nächsten hasst, der gehört zu den Blutvergießern“ (vgl. 1Joh 3,15). Überblickt man den Befund, lässt sich festhalten, dass in Mt 5,21f mit dem extensiven Verständnis des sechsten Gebots, der Verbindung von Mord und Zorn und dem Konnex von Zorn und Sprachverhalten verschiedene Traditionslinien kreativ zu einer besonders prägnanten, zuspitzenden Auslegung des sechsten Gebots miteinander verbunden wurden, nach der dieses weit mehr umfasst, als mit dem Verbot des (vorsätzlichen) Mordes einen Minimalstandard zu setzen.

Nun nimmt V. 22b–d, wie gesehen, die Form des Rechtssatzes aus V. 21c auf. In der These V. 21 verband sich mit der Einstellung des Tötungsverbots in den Kontext der (menschlichen) Rechtsprechung dessen bloß buchstäbliches Verständnis. Sieht man im Tötungsverbot hingegen selbst rein verbale Formen der Aggression gegen andere inkludiert, ist es als Grundlage eines menschlichen Rechtswesens schlechthin ungeeignet. Die Ebene eines irdisch praktikablen Gerichtswesens ist in V. 22 offenkundig verlassen. Allerdings setzt die Gegenthese Jesu bei der Explikation des „Gerichts“ (V. 22b) zwar beim irdischen Gericht ein (V. 22c), transzendiert dies aber mit der variierenden Wiederholung von V. 22c in V. 22d: Das Gericht, auf das es Matthäus eigentlich ankommt, ist das Gericht Gottes. Dieses ist das Forum, in dessen Horizont die Weisungen des Gesetzes Gottes zu bedenken sind. Als Maßstab des göttlichen Gerichts ist das von Gott im Tötungsverbot gesetzte Recht aber nicht auf Mord eingrenzbar, der auch irdisch zwingend ein Gerichtsverfahren nach sich zieht. Vielmehr wird man im göttlichen Gericht für jede Aggression gegen andere als Verstoß gegen Gottes Recht zur Verantwortung gezogen werden, denn mit dem Tötungsverbot hat Gott eben jede Zornesäußerung gegen einen Mitmenschen unter Strafe gestellt.

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Mit der Anfügung von V. 23 f.25f geht Matthäus insofern noch einen 23–24 Schritt weiter, als er die radikale Interpretation des Tötungsverbotes auch noch in die positive Weisung überführt, entstandene Störungen auszuräumen und Versöhnung anzustreben. V. 23f führt dazu einen Fall aus, der das Motiv der notwendigen ethischen Qualifikation des Kultteilnehmers aufnimmt (Ps 15; 24,3–6 u. ö., negativ z. B. Sir 34,21–24) und im mt Kontext zugleich die kategoriale Überordnung des zwischenmenschlichen Verhaltens über den Kult, die insbesondere durch die zweimalige Zitation von Hos 6,6 (Mt 9,13; 12,7) als ein mt Leitmotiv erkennbar wird, plakativ zum Ausdruck bringt (vgl. atl. ferner z. B. Jes 58,1–8; Spr 21,3): Wenn einem beim Opfer in den Sinn kommt, „dass dein Bruder etwas gegen dich hat“, ist zunächst die Aussöhnung mit dem „Bruder“ zu suchen. Wahre Gottesverehrung manifestiert sich für Matthäus zentral im sozialen Verhalten (vgl. Jak 1,26f): Wer Gott verehrt, sucht die Versöhnung und den Frieden mit seinen Geschöpfen. Anders als in V. 21f geht es in V. 23f nicht um den Zorn des Gemahnten, sondern um die negative Haltung, die ein anderer gegen den Gemahnten hegt. Alle Details des Konflikts bleiben offen. So wird auch nicht ausgeführt, inwiefern der Unmut des anderen in einem Fehlverhalten des Gemahnten, etwa einer vorangegangenen Beschimpfung (V. 22), begründet ist. Gerade durch diese Offenheit erscheint die Mahnung, sich zu versöhnen, als grundsätzlich geltendes Prinzip. Der Schluss macht deutlich, dass der Kult zwar der zwischenmenschlichen Versöhnung untergeordnet wird, damit aber keineswegs prinzipiell verneint ist: Nach der Versöhnung soll man gehen und die Opfergabe darbringen (V. 24). V. 25f setzt die Thematisierung der Überwindung einer Konfliktbezie- 25–26 hung fort. Im Blick ist nun aber die Situation eines Schuldprozesses. Jesu Mahnung klingt hier zunächst nach einem von Nützlichkeitserwägungen inspirierten weisheitlichen Ratschlag: Der Schuldner hat ein vitales Interesse, eine außergerichtliche Einigung zu erzielen, bevor die Sache vor Gericht verhandelt wird und ihm Schuldhaft droht (vorausgesetzt sind hier römische Rechtsverhältnisse; jüdischem Recht ist die Schuldhaft fremd). Der Schrecken eines Schuldprozesses dient hier freilich nur als Folie, hinter der das Gericht Gottes (vgl. V. 22) als eigentliches Thema sichtbar wird. Auf dem Weg dorthin (vgl. 7,13f) sollte man angesichts der „Schulden“, die man bei anderen hat (vgl. 6,12b), alles daransetzen, sich zu verständigen, d. h. Feindschaft zu überwinden und Versöhnung zu erreichen. Das Feindesliebegebot wird diesen Gedanken später ausführlicher aufnehmen (vgl. 5,43–48). Die Dringlichkeit der Versöhnung wird im Beispiel durch die Kürze der Zeit auf dem Weg unterstrichen; wer die Zeit nicht nutzt, wird dies bis zum letzten Cent (der Quadrans ist die kleinste römische Münze) „bezahlen“ müssen (vgl. 18,34).

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II 4.3.2.2 Zweite Antithese: Vom Ehebruch (5,27–30) 27 Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: ‚Du sollst nicht Ehebruch begehen.‘ 28 Ich aber sage euch: Jeder, der eine (Ehe-)Frau ansieht, um sie zu begehren, hat schon Ehebruch mit ihr begangen in seinem Herzen. 29 Wenn dich aber dein rechtes Auge zur Sünde veranlasst, reiß es aus und wirf es von dir! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht und nicht dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. 30 Und wenn dich deine rechte Hand zur Sünde veranlasst, hau sie ab und wirf sie von dir! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht und nicht dein ganzer Leib in die Hölle fährt. Wie in V. 21–26 ist auch hier die eigentliche Antithese (V. 27f) mit einem Zusatz versehen (V. 29f), der formal wieder durch den Wechsel in die 2. Pers. Sg. auffällt. Während V. 27f Sondergut ist, haben die Logien in V. 29f eine Parallele in Mk 9,43–47, die Matthäus – in engerer Anlehnung an die Markusvorlage – auch in 18,8f aufnimmt. Erwägenswert ist daher, dass es sich hier um eine Doppelüberlieferung aus Mk und Q handelt, Matthäus in 18,8f also vom Markustext abhängt, aber hier Q folgt (Lukas hätte dann analog zu Mk 9,43–47 auch die Q-Fassung ausgelassen). In diesem Fall wäre die zweite Antithese auch kompositorisch mit der Anfügung von Q-Stoff an Sondergut eine Analogie zur ersten. Anders als in V. 21 wird in der These in V. 27 nur das kurze Dekalog27–28 gebot angeführt. Entsprechend ist der Bezug auf das Dekaloggebot in der Gegenthese in V. 28 in formaler Hinsicht anders gestaltet als in V. 22: Während V. 22 den Nachsatz zum Dekaloggebot aus V. 21c aufnimmt, greift V. 28 das Verb des Dekaloggebots „Ehebruch begehen“ auf und definiert, was (bereits) darunter fällt. Von der Stoßrichtung her funktioniert die zweite These aber ganz ähnlich wie die erste. Es geht nicht um Überbietung des Gebots selber, sondern darum, ein enges bzw. bloß buchstäbliches Verständnis des Gebots zu überwinden, das sich in V. 27f aus der Gegenthese ergibt. Denn als kritisiertes Gegenüber zur „Tatbestandsdefinition“ in V. 28 ist für V. 27 die Deutung impliziert, dass Ehebruch erst mit dem Vollzug des Beischlafs mit einer anderen (Ehe-)Frau gegeben ist. Bei diesem Verständnis wird alles, was unterhalb dieser Schwelle liegt, vom Gebot nicht unmittelbar erfasst. Jesus dagegen setzt bereits bei dem Blick an, der sexuelle Absichten signalisiert. Im Lichte des Rekurses auf das Dekaloggebot in V. 27 ist es evident, dass mit der Frau in V. 28 allein die Ehefrau eines anderen gemeint ist. V. 28 bezieht sich also weder auf Beziehungsanbahnung unter Verliebten noch auf eheliches Sexualleben; das Thema ist, die Beziehungen anderer zu achten. Für das nähere Verständnis ist zentral, dass die Infinitivkonstruktion im Griechischen, die oben mit „um zu begehren“ wieder-

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gegeben ist, nicht konsekutiv („so dass er sie begehrt“), sondern final aufzufassen ist, wie die Analogien zu dieser Konstruktion im Mt (6,1; 13,30; 23,5; 26,12) zwingend erweisen. V. 28 spricht also nicht den Fall an, dass der Anblick einer Frau ein inneres Begehren auslöst (vgl. DanSus 7fLXX/TH ; Spr 6,25LXX ; TestRub 3,9–12), sondern handelt davon, dass eine verheiratete Frau mit begehrlicher Absicht angeschaut wird. Bereits damit ist – unabhängig davon, ob der Blick „Erfolg“ hat, ob die begehrte Frau ihn zur Kenntnis nimmt und darauf „positiv“ reagiert – der Tatbestand des Ehebruchs gegeben, denn in dem Blick wird manifest, dass der Mann sich innerlich bzw. willentlich schon zum Ehebruch entschlossen hat. Analog zum Zorn in V. 22 wird auch hier mit der Rede vom Herzen der ganze Mensch samt seiner inneren Disposition einbezogen (zum Herzen s. zu 5,8), und zugleich liegt der Fokus mit dem begehrlichen Blick wiederum auf dem konkreten Verhalten, in dem sich der Entschluss des Herzens artikuliert. Hingegen wäre der in V. 28 nicht thematisierte Fall, dass der Anblick einer Frau ein Begehren auslöst, schwerlich ebenfalls als „im Herzen bereits vollzogener Ehebruch“ zu werten. Denn hier besteht noch die Option, dem „Begehren“ Herr zu werden, es also nicht zu einem „Herzens-“ bzw. „Willensentschluss“ kommen zu lassen, dem dann – bei nächster Gelegenheit – ein entsprechendes Handeln folgt. Der begehrliche Blick hingegen ist Ausweis davon, dass das Begehren vom Herzen Besitz ergriffen hat. Im Lichte der zu V. 22b parallelen Eröffnung der Gegenthese mit „jeder, der + Partizip (im Griechischen)“ ist zu erwägen, dass auch in V. 28 das Wort „jeder“ zu betonen ist: Nicht nur und erst der, dessen begehrlicher Blick in der Weise erwidert wird, dass es schließlich zum Geschlechtsakt kommt, ist des Ehebruchs schuldig, sondern jeder, der eine andere Frau in begehrlicher Absicht anblickt, ist ein Ehebrecher. Die Einbeziehung des begehrlichen Blicks in die sexualethische Reflexion begegnet auch in frühjüdischen Texten. So führt z. B. der Stammvater Issachar in einem Unschuldsbekenntnis in TestIss 7,2 aus: „Außer meiner Frau erkannte ich keine andere. Ich hurte nicht durch Erheben meiner Augen“ (vgl. TestBenj 6,3; 8,2). LevR 23 (zu Lev 18,3) hält prägnant fest: „Auch der, welcher mit seinen Augen die Ehe bricht, wird Ehebrecher genannt.“ Anzumerken ist, dass Mt 5,28 allein an Männer gerichtet ist. Man kann dies als eine androzentrische Perspektive vermerken. Man kann aber auch darauf hinweisen, dass sich Mt 5,28 darin, dass die Rolle des Verführers hier dem Mann zugewiesen wird (vgl. z. B. PsSal 4,4a: „Seine Augen sind ohne Unterschied auf jede Frau [gerichtet].“), von einer frauenkritischen Spur frühjüdischer Weisheit abhebt, die vornehmlich Frauen in dieser Rolle sieht (Spr 6,25; 7,4–27; Sir 26,9.11 LXX ; TestRub 5; TestJos 9,5; 4Q184 Fragm. 1 13f). Das Leitmotiv hinter der extensiven Auslegung des siebten Gebots ist umgekehrt aber kaum der Schutz der Frau vor dem begehrlichen Blick eines Mannes, sondern ein radikales Verständnis der Heiligkeit der Ehe, wie nicht nur die Anbindung der Unterweisung Jesu eben an das Ehebruchverbot deutlich macht, sondern auch die

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nachfolgende dritte Antithese (V. 31f), die die Ehebruchthematik unter dem Aspekt der Ehescheidung fortschreibt.

29–30 In der die eigentliche Antithese weiterführenden Unterweisung steht das Wort vom Auge – anders als in Mt 18,8f par Mk 9,43–47 – um des direkten Anschlusses an die Rede vom „sehen“ in V. 28 willen voran. War für V. 28 die Deutung auf das durch den Anblick einer Frau ausgelöste Begehren abzulehnen, so wendet sich Matthäus in V. 29 genau diesem Aspekt zu. Die Weisung, das Auge auszureißen (und die Hand abzuhauen), ist schwerlich wörtlich zu nehmen; es wird nicht partielle Selbstverstümmelung empfohlen, damit nicht der ganze Mensch im Gericht Gottes ruiniert wird (man müsste ansonsten fragen, wie viele unversehrte Menschen es in den mt Gemeinden gegeben haben kann). Vielmehr liegt hyperbolische, metaphorische Redeweise vor. „Das Auge auszureißen“ meint schlicht, den Blick abzuwenden (vgl. Sir 9,8f), bevor das Begehren von der Disposition des Herzens Besitz ergreift. Der Differenz zu V. 28 entspricht, dass der Vorwurf des Ehebruchs nicht wiederholt wird, was wiederum die Deutung von V. 28 bestätigt. V. 29 thematisiert die Vorstufe zu V. 28. Entsprechend lässt sich die Verführung durch die Hand in dem Sinn paraphrasieren, dass das Begehren aufkommt, die Frau eines anderen zu berühren. Vom Fuß ist in V. 30 im Unterschied zu Mt 18,8 bezeichnenderweise nicht die Rede. Die drastische Metaphorik des Ausreißens des Auges und des Abhauens der Hand schärft – vor dem Hintergrund der drohenden eschatologischen Konsequenz – die Bedeutung der Anweisung ein: Ist der Tatbestand des Ehebruchs bereits gegeben, wenn man einer Ehefrau einen begehrlichen Blick zuwirft, muss man Acht geben, sich in Situationen, in denen ein Verlangen entsteht, sofort abzuwenden. Jesus redet freilich nicht – wie z. B. TestRub 3,10–12; 6,1–3 – der Auffassung das Wort, dass von vornherein Kontakt zwischen den Geschlechtern möglichst zu vermeiden ist. Festzuhalten ist: Eine Verletzung des siebten Gebots ist nach Jesus nicht erst mit dem vollzogenen Geschlechtsakt gegeben, sondern ein adäquates Verständnis des Gebots bezieht alle Handlungen mit ein, die im Vorfeld liegen, und nimmt damit zugleich die Disposition des Herzens mit in den Blick, aus der das Handeln erwächst (vgl. 15,19). Nur so wird man der tieferen und eigentlichen Intention des Gebotenen gerecht. V. 29f fügt eine Anweisung an, wie vermieden werden kann, dass das Herz vom Begehren bestimmt wird: Sobald ein Verlangen entsteht, soll man sich konsequent abwenden. Analog zu V. 22 ist auch hier der Bereich irdisch justiziabler Vergehen weit überschritten. Das Forum, auf das es ankommt, ist wieder das Gericht Gottes.

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II 4.3.2.3 Dritte Antithese: Von der Ehescheidung (5,31f) 31 Es wurde aber gesagt: ‚Wer seine Frau entlässt, soll ihr einen Scheidebrief geben.‘ 32 Ich aber sage euch: Jeder, der seine Frau entlässt, außer aufgrund einer Unzuchtsache, treibt sie in den Ehebruch. Und wer eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch. Die Einleitungswendung zur These ist wegen des direkten Zusammen- 31 hangs mit V. 27f stark verkürzt. Die These greift die in Dtn 24,1–4 erwähnte Ausstellung eines Scheidebriefs als Element eines geordneten Scheidungsverfahrens auf. Josephus, Ant 4,253 belegt, dass dies im Sinne eines „Gebots“ verstanden werden konnte. Die These entspricht – bis in den Wortlaut hinein – dem pharisäischen Einwand in Mt 19,7. Man wird kaum fehlgehen, dass sich hier eine Debatte spiegelt, die die mt Gemeinden in der Auseinandersetzung mit dem pharisäischen Gegenüber tatsächlich beschäftigte. Mit der Auffassung, dass mit einer durch die Scheidung ermöglichten 32 zweiten Ehe Ehebruch begangen wird, setzt die Gegenthese einen grundsätzlich scheidungskritischen Akzent. Die Mehrfachbezeugung des Ehescheidungslogions – neben der hier rezipierten Q-Fassung (vgl. Lk 16,18) und Mk 10,11f (par Mt 19,9) rekurriert auch Paulus darauf (1Kor 7,10f) – spricht deutlich dafür, dass es tatsächlich auf Jesus zurückgeht. Mt 5,32 bietet es in einer eigentümlichen Formulierung, die, von der „Unzuchtsklausel“ abgesehen, die überlieferungsgeschichtlich älteste Fassung darstellen könnte. Wenn die entlassene Frau – das Scheidungsrecht liegt hier allein beim Mann, was den zeitgenössischen jüdischen Rechtsgepflogenheiten im Lande entspricht – wieder (ge)heiratet (wird), wird damit ihre – nach Jesus weiterhin bestehende (s. zu 19,3–12) – erste Ehe gebrochen, d. h. die Frau wird durch Scheidung in den Ehebruch getrieben, da sie unter den damaligen gesellschaftlichen Bedingungen ein vitales Interesse daran haben muss, eine erneute Ehe einzugehen. Auch im zweiten Fall in V. 32 wird Ehebruch als Verletzung der Ehe des ersten Mannes einer Geschiedenen betrachtet, nur geht es nun komplementär zum Vorangehenden um den Mann, der durch die Heirat einer Geschiedenen zum Ehebrecher wird. 19,9 bezieht dann den Fall ein, dass ein Mann im Falle einer Wiederheirat seine erste Ehe bricht. Es ist offenkundig, dass in 5,32 (und 19,9) eine von Dtn 24,1–4 deutlich unterschiedene Richtung eingeschlagen wird, denn die Legitimität der Scheidung an sich (wie auch der Wiederheirat) ist dort fraglos vorausgesetzt. Durch die Einfügung der Unzuchtsklausel, die Matthäus in sprachlich variierter Form auch in Mt 19,9 eingetragen hat, gerät Matthäus allerdings nicht in einen direkten Widerspruch zu Dtn 24,1–4. Denn im Falle von Unzucht behält die Weisung, einen Scheidebrief auszustellen, ihre

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Bedeutung, nur darf die Regelung des Procedere nicht den Blick auf die wichtigere Frage verstellen, inwiefern Scheidung an sich überhaupt legitim ist. Umreißen die Thesen in 5,21–48 das insuffiziente Toraverständnis der Schriftgelehrten und Pharisäer (s. in der Einleitung zu 5,21–48), wird diesen hier implizit vorgeworfen, sich nur mit Verfahrensfragen zu befassen. Matthäus vertritt zwar im Gegenzug dazu kein absolutes Scheidungsverbot, aber er beschränkt die Legitimität einer Scheidung eben auf den Fall der Unzucht (vgl. zu 19,3–12) und bietet damit implizit eine enge Definition des „Schändlichen“, von dem in Dtn 24,1 als Scheidungsgrund die Rede ist (vgl. zu Mt 19,3). Nach antik-jüdischem Rechtsverständnis ist Scheidung in einem solchen Fall im Übrigen nicht nur möglich, sondern geboten (vgl. z. B. tSota 5,9; bGit 90b), weil die Frau durch die Vereinigung mit einem anderen für ihren Ehemann unrein geworden ist (vgl. Jub 33,7; TestRub 3,15; 1QGenAp 20,15, s. auch Mt 1,19). Im Blick auf Matthäus’ Stellung zur Tora ist zu 5,32 zudem grundlegend zu beachten, dass die Frage von Ehescheidung und Wiederheirat unter dem Aspekt des Ehebruchs verhandelt wird, es hier also gerade um die Beachtung eines zentralen Toragebots geht: Die Option von Scheidung und Wiederheirat wird – außer im Fall von Unzucht – deshalb kategorisch verneint, weil damit nach dem hier zugrunde liegenden Eheverständnis der im siebten Gebot formulierte Gotteswille übertreten wird. V. 32 schreibt die radikale Auslegung des Ehebruchverbots in V. 27–30 fort. II 4.3.2.4 Vierte Antithese: Vom Schwören (5,33–37) 33 Wiederum habt ihr gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: ‚Du sollst keinen Meineid schwören, du sollst aber dem Herrn deine Eide erfüllen.‘ 34 Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht, auch nicht beim Himmel, denn er ist Gottes Thron, 35 auch nicht bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße, auch nicht nach Jerusalem hin, denn es ist die Stadt des großen Königs! 36 Auch bei deinem Haupt sollst du nicht schwören! Denn du kannst kein einziges Haar weiß oder schwarz machen. 37 Es soll aber euer Wort sein: ‚Ja, ja‘, ‚nein, nein‘! Was aber darüber hinausgeht, ist vom Bösen. Das Schwurverbot findet sich in den Evangelien nur bei Matthäus; es hat aber eine Parallele in Jak 5,12, deren paränetische Form gegenüber der mt Antithese ursprünglicher ist. Die antithetische Einkleidung und damit auch die Voranstellung einer These sind also sekundär. Die Herkunft des Schwurverbots von Jesus ist möglich, aber keineswegs sicher. Jak 5,12 zitiert es nicht als Herrenwort.

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Die These bietet kein wörtliches Zitat eines atl. Gebots, hat aber mit 33–34a Stellen wie Lev 19,12 (zu V. 33b, vgl. ferner z. B. Sach 8,17) und Num 30,3; Dtn 23,22 (zu V. 33c) eine pentateuchische Basis. Die engen Parallelen zu V. 33b in PseudPhok 16 („Schwöre keinen Meineid, weder unwissentlich noch vorsätzlich!“) und Did 2,3 verweisen auf die Beheimatung der Warnung vor dem Meineid in der zeitgenössischen Toraparänese und damit auf diese als Kontext von V. 33b. V. 33c steht besonders Ps 50,14 nahe, nur ist dort von „Gelübden“ die Rede, während Matthäus in dem Bestreben einer thematisch einheitlichen Gestaltung der als Widerlager zum Schwurverbot verfassten These auch in V. 33c vom Eid spricht. Meineide (und nicht gehaltene Eide) sind nicht nur in ihrer sozialen Dimension als Vergehen gegen Mitmenschen zu sehen, sondern zugleich, ja vor allem als Vergehen gegen Gott, weil Gottes Name entheiligt wird (Lev 19,12). Auf dieser Grundlage konnte das 3. Gebot in Ex 20,7, das den Missbrauch des Namens Gottes verbietet, im Frühjudentum zum zentralen Referenzpunkt für die Thematisierung der Schwurproblematik werden (Philo, Dec 82–95.157), ja sogar als Verbot falschen bzw. leichtfertigen Schwörens paraphrasiert werden, wie nicht nur Philo (SpecLeg 2,224) und Josephus (Ant 3,91) bezeugen, sondern auch TPsJ und TOnq zu Ex 20,7. Die Explikation des Schwurverbots Mt 5,34a in V. 34b.35 macht deutlich, dass auch die vierte Antithese in diese Traditionslinie einzustellen ist. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang zudem darauf, dass in antiker Ethik beachtliche schwurkritische Tendenzen begegnen, die allerdings zugleich Reflex eines gesellschaftlichen Kontexts sind, in dem Schwüre im Alltag geradezu inflationär gebraucht wurden (vgl. Philo, Dec 92 oder die Warnung in Sir 23,9–11). Kritische bis ablehnende Stimmen zum Schwur sind dabei nicht nur in der „paganen“ philosophischen Ethik (z. B. Epiktet, Ench 33,5), sondern auch im Frühjudentum beheimatet. Für die Essener vermerkt Josephus sogar eine prinzipielle Ablehnung des Schwurs (Bell 2,135, vgl. Philo, Prob 84), was freilich insofern einer Einschränkung bedarf, als er nur wenig später ihren Eintrittseid erwähnt (2,139, vgl. 1QS 5,8); die Ablehnung des Schwurs dürfte sich daher allein auf den Bereich der Alltagskommunikation beziehen. Nach Philo, Dec 84(–86) wäre es am besten, „gar nicht zu schwören, wenn der Mensch bei jeder Aussage so wahr zu sein lernte, dass die Worte als Eide gelten könnten“, doch wäre die „zweitbeste Fahrt“, wahr zu schwören. Das Schwurverbot in Mt 5 knüpft an diese Tendenzen an und spitzt sie zu einer kategorischen Absage an alles Schwören zu. Auch hier dürfte (zumindest) der (primäre) Bezugspunkt in der Alltagskommunikation zu sehen sein.

Im Kontext der Antithesenreihe betrachtet, illustriert die skizzierte traditionsgeschichtliche Einbettung des Schwurverbots – ganz im Sinne des Vorspruchs in 5,17–20 –, dass 5,34–37 im antiken jüdischen Kontext keineswegs torakritisch, sondern als eine prägnante Position im an der Tora orientierten ethischen Diskurs des Judentums aufzufassen ist. Der Ton liegt nicht darauf, dass hier die Tora insofern kritisiert wird, als wahrhaftiges Schwören nach dieser erlaubt ist. Da die Thesen in der Antithesen-

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reihe das Gebotsverständnis der Schriftgelehrten und Pharisäer (V. 20) repräsentieren sollen, geht es vielmehr wieder um den Vorwurf, dass sie minimalistisch beim Buchstaben verharren, statt die Forderungen nach Wahrhaftigkeit von beschworenen Aussagen und nach Verlässlichkeit von eidlichen Zusagen auf den hinter diesen stehenden Anspruch freizulegen, dass überhaupt jede menschliche Rede wahrhaftig und verlässlich sein sollte. Die Intention des Verbots, falsch zu schwören (Lev 19,12) bzw. für etwas Unrechtmäßiges einen Eid abzulegen (Lev 19,12 LXX), ist ja nicht, einen Freiraum für Unwahrhaftigkeit unterhalb der Ebene des Schwurs zu eröffnen! Das Schwurverbot zielt nun umgekehrt darauf, abgestufte Wahrhaftigkeits- und Verlässlichkeitsgrade menschlicher Rede positiv auszuschließen. Von den Schwurersatzformeln in V. 34b–36 begegnen Himmel und 34b–35 Erde auch in Jak 5,12 (vgl. auch Philo, SpecLeg 2,5), allerdings ohne die Jes 66,1 aufnehmenden Begründungssätze. Die Begründung zum dritten Glied, zu Jerusalem, greift mit Ps 48,3 ebenfalls auf ein atl. Wort zurück. Auch auf diese Weise wird deutlich, dass es im mt Sinn tatsächlich um die Erfüllung von Tora und Propheten geht. Gemeinsamer Referenzpunkt der drei Begründungssätze in V. 34b.35a.b ist die Vorstellung vom Königtum Gottes. Im Kontext haben die Sätze die Funktion herauszustellen, dass die Ersatzformeln keinen Ausweg für das Problem der Entweihung des Namens Gottes bieten, weil der Bezug auf Gott auch in diesen Fällen gegeben ist. Dies bekräftigt, dass es beim Schwurverbot neben der Wahrhaftigkeitsforderung als einem ethischen Gebot ganz wesentlich um die Wahrung der Heiligkeit des Namens Gottes (vgl. 6,9) geht. Denn durch einen Schwur den Namen Gottes zur Wahrhaftigkeitsbeteuerung zu gebrauchen, verweist immer schon auf ein bestehendes Wahrhaftigkeitsproblem und zieht insofern Gott in die sündhafte Realität mangelnder menschlicher Redlichkeit und Vertrauenswürdigkeit hinab. Umgekehrt werden Schwüre und Eide dort obsolet, wo Gottes Name geheiligt wird, indem konsequent sein Wille das Handeln bestimmt. V. 36, wo Matthäus wieder zur 2. Pers. Sg. übergeht (vgl. V. 23–26.29f), 36 wechselt die Perspektive und ergänzt, dass auch der Schwur beim eigenen Haupt (vgl. z. B. mSanh 3,2; Vergil, Aen 9,300) keine Alternative bietet. Die Rede vom weißen und schwarzen Haar soll vermutlich Alter und Jugend assoziieren lassen. Der Majestät des im Himmel thronenden Gottes wird kontrastiv die menschliche Ohnmacht zur Seite gestellt: Ein Schwur auf das eigene Haupt greift substanzlos ins Leere, weil auch das eigene Leben letztlich allein in Gottes Hand liegt (vgl. Mt 6,27). Implizit ist also auch damit wieder auf Gott verwiesen. Das „Ja, Ja“ oder „Nein, Nein“, das nach V. 37 an die Stelle des Schwurs 37 treten soll, ist kein Schwurersatz, sondern die Wortverdopplung ist ein Mittel der Intensivierung: Jedes Ja soll tatsächlich ein Ja sein, jedes Nein

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ein eindeutiges Nein. Dort aber, wo man meint, die Wahrhaftigkeit der Rede durch Schwüre bekräftigen zu müssen, ist, wie der Schlusssatz hervorhebt, die Realität des Bösen bereits manifest. II 4.3.2.5 Fünfte Antithese: Vom Vergeltungsverzicht (5,38–42) 38 Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: ‚Auge um Auge und Zahn um Zahn.‘ 39 Ich aber sage euch: Stellt euch dem Bösen nicht entgegen, sondern wer dich auf deine rechte Wange schlägt, dem wende auch die andere zu! 40 Und dem, der mit dir vor Gericht gehen und dein Untergewand nehmen will, lass ihm auch den Mantel! 41 Und wer dich zu einer Meile Frondienst nötigen will, geh zwei mit ihm! 42 Dem, der dich bittet, gib; und von dem, der von dir borgen will, wende dich nicht ab! Ähnlich wie bei der zweiten und dritten Antithese bilden auch die fünfte und sechste einen engen thematischen Zusammenhang. Beide handeln – in komplementärer Weise – vom Verhalten gegenüber dem Feind. Die fünfte Antithese nimmt dabei die Reaktion auf feindseliges Verhalten des anderen in den Blick, die sechste fordert positiv, den Feind zu lieben und für ihn zu beten, schreitet also zum Gesichtspunkt aktiven Handelns zugunsten des Feindes fort. Matthäus knüpft in V. 38–48 an den Faden der Grundrede an, der er zuletzt die Seligpreisungen in 5,3 f.6.11f entnommen hat, doch ist die Differenz zur Parallele in Lk 6,27–36 schon im Blick auf die Abfolge der Logien gravierend: Die lk Komposition wird durch das Feindesliebegebot in V. 27 und V. 35 gerahmt; die Worte über den Vergeltungsverzicht in V. 29f sind in diese Komposition eingestellt. Bei Matthäus dagegen ist das Unterweisungsgut auf zwei Abschnitte verteilt und redaktionell antithetisch eingefasst worden, d. h. die Thesen in V. 38 und V. 43 sind von Matthäus als Widerlager für die Unterweisung Jesu gebildet worden. Die aus Q 6,29f aufgenommenen Mahnungen stellt Matthäus durch 38–39a seine Antithesenbildung in den Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der in der Tora gleich mehrfach begegnenden talio ein (Ex 21,24f; Lev 24,19f; Dtn 19,21, vgl. frühjüdisch z. B. 11QT 61,12). Dem ersten Augenschein nach ist hier ein direkter Widerspruch zwischen der Gegenthese Jesu und dem atl. Gebot zu konstatieren. Bei dieser Feststellung stehen zu bleiben, hat aber die klare Aussage von 5,17–19 gegen sich. Erwägen kann man daher, die Pointe der talio gerade darin zu sehen, dass hier – im Gegensatz etwa zur Rede von der sieben- bzw. siebenundsiebzigfachen Vergeltung in Gen 4,24, auf die sich Mt 18,21f mit der Forderung siebenundsiebzigfacher Vergebung kontrastiv bezieht – eine Begrenzung der Vergeltung erfolgt. Anfügen ließe sich hier, dass die rabbinische Auslegung

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ein Verständnis der talio im Sinne des finanziellen Schadensausgleichs bezeugt (s. die Diskussion in bBQ 83–84), das auch Josephus schon kennt (Ant 4,280). Die Gegenthese kann man auf dieser Basis so verstehen, dass der vergeltungskritische Impetus des Toragebots aufgenommen und konsequent weitergeführt wird: Ist die Intention der talio, Vergeltung einzudämmen bzw. durch den Gedanken eines finanziellen Ausgleichs abzufedern, so ist in letzter Konsequenz auf Vergeltung ganz zu verzichten. Entscheidend ist aber ein anderes Moment. Im Kontext der pentateuchischen Gesetzgebung geht es bei der talio nicht um ein Maß für Selbstjustiz, sondern um einen Grundsatz für die Strafzumessung im Rechtsverfahren. Die Gegenthese in Mt 5,39–42 macht hingegen deutlich, dass die talio als Regel des Alltagslebens zur Diskussion steht. Ist die These im Sinne von 5,20 als Beispiel für das Gesetzesverständnis der Schriftgelehrten und Pharisäer zu lesen, das ihrem mangelhaften Gerechtigkeitsniveau zugrunde liegt, so wird hier kritisiert, dass diese die talio als Grundsatz für das persönliche Verhalten in Konflikten aufnehmen: Ein jeder habe das Recht, auf das erfahrene Unrecht mit „angemessener“ Vergeltung zu reagieren: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ In der Gegenthese hat Matthäus den vier Beispielfällen (V. 39c–42, vgl. 39b Lk 6,29f) in V. 39b einen Prohibitiv vorangestellt, den er im Verbund mit der Voranstellung der These in V. 38 formuliert hat. Dessen für sich genommen relativ offene Formulierung ist im Zusammenhang mit V. 38 konkret als Aufhebung der talio als Regel des Alltagslebens aufzufassen, zumal eine solche kontextbezogene Deutung vom Sprachklang des griechischen Textes her erhärtet wird: Die Vorsilbe im oben mit „sich entgegenstellen“ übersetzten griechischen Verb (anti-stenai) korrespondiert der Präposition in „Auge um (anti) Auge“, so dass hier eine direkte Bezugnahme auf V. 38 zu verzeichnen ist. V. 39b besagt demnach, dass man sich dem Übeltäter (die Rede von „dem Bösen“ ist hier personal zu verstehen) nicht in der Weise entgegenstellen soll, dass man mit gleicher Münze heimzahlt. Die Absage an das Prinzip, Böses mit Bösem zu vergelten, begegnet schon in der atl. Weisheit (Spr 20,22; 24,29); sie schreibt sich in frühjüdischen Schriften fort (z. B. 2Hen 50,4; PseudPhok 77; 1QS 10,17f) und verdichtet sich in Josef und Aseneth zu einem ethischen Leitsatz: Gottverehrenden Männern geziemt es nicht, Böses mit Bösem zu vergelten (JosAs 23,9; 28,5, vgl. auch 28,10.14). Mt 5,39b knüpft an diese vergeltungskritischen Impulse in der frühjüdischen Ethik an (vgl. ntl. Röm 12,17; 1Thess 5,15; 1Petr 3,9). Eine Besonderheit besteht darin, dass dies direkt mit der talio, genauer: der Kritik an der Übertragung der talio in den Bereich des persönlichen Alltagsverhaltens verbunden wird. Der Ansatz einer kontextbezogenen Deutung von V. 39b wird dadurch 39c–41 weiter profiliert, dass die Forderung, sich dem Bösen nicht entgegenzustellen, auch nicht losgelöst von den sich in V. 39c–41 anschließenden

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Beispielen zu interpretieren ist, die dem Prohibitiv in V. 39b positiv formulierte Verhaltensanweisungen folgen lassen. Denn das Verhältnis von V. 39b und V. 39c–41 ist nicht das von Grundsatz und exemplarischen Einzelfällen – bei einem solchen Verständnis wäre im Übrigen zu konstatieren, dass Grundsatz und Einzelfälle nicht genau zueinander passen, weil V. 39c–41 keineswegs im Verzicht auf Widerstand aufgeht –, sondern das von negativer und positiver Aussage, nämlich von Negation der talio und positiver Entfaltung des stattdessen geforderten Verhaltens anhand einzelner Beispiele. Mit den geschilderten Einzelfällen illustriert Matthäus also, dass es in V. 39b um mehr und anderes geht als bloß um stilles Hinnehmen des Unrechts: Das Opfer bleibt nicht passiv, sondern stellt sich „dem Bösen“ provokativ für die Fortsetzung des Unrechts zur Verfügung. Wie besonders V. 40 und V. 41 sichtbar werden lassen, hat Matthäus dabei konkret die Situation von sozial Unterlegenen im Blick, für die Vergeltung realistisch betrachtet gar keine ernsthafte Option darstellen kann. In V. 40 geht es – anders als in der Parallele in Lk 6,29b, wo ein Raubüberfall im Blick sein dürfte – um einen Pfändungsprozess: Dem, der vor Gericht das Untergewand zu pfänden sucht, ist freiwillig auch das Obergewand zu überlassen. Das dritte Beispiel in V. 41, das bei Lukas fehlt, schildert den Fall einer erzwungenen Dienstleistung, wobei des Näheren an Zwangsleistungen für römische Soldaten zu denken ist (vgl. 27,32, wo dasselbe Verb begegnet). Im Lichte von V. 40.41 liegt auch für V. 39c nahe, dass das Opfer des Schlages (vgl. Jes 50,6) ein sozial Unterlegener ist. Durch die Gegenprovokation, auch die andere Wange hinzuhalten, verändert er die Situation. Das Objekt des Unrechts wird zum Handlungssubjekt und gewinnt so ein Stück weit Handlungssouveränität und Würde zurück. Selbst wenn nun das Gegenüber durch dieses „Entgegenkommen“ nicht dazu stimuliert wird, innezuhalten und sein Verhalten zu überdenken, sondern die Skrupellosigkeit besitzt, die „Einladung“ anzunehmen, hat sich die Konstellation gegenüber dem ersten Schlag fundamental verändert. Analog dazu steht die nach V. 41 zu offerierende zweite Meile in einem grundlegend veränderten Zusammenhang: Diese geht man freiwillig mit. Dass hier bei der Gegenprovokation mit im Blick ist, das Gegenüber zum Umdenken zu bewegen, legt besonders der zweite Fall nahe: Wer demonstrativ auch sein Obergewand hingibt, ist nackt und schutzlos vor Kälte. Er demonstriert damit provokativ, wie ihm das Verhalten des wirtschaftlich Mächtigen „ans Leben geht“. Zudem ist die Pfändung des Mantels über Nacht nach der Tora verboten (Ex 22,25f; Dtn 24,12f), das Gegenüber darf den Mantel nicht nehmen. Die Aktion gewinnt von daher den Charakter einer „Zeichenhandlung“, die das vermeintlich rechtmäßige Vorgehen des Mächtigen auf seine (moralische) Legitimität hin hinterfragen lässt und auf diese Weise an den Gläubiger appelliert, sein Verhalten gegenüber den Armen überhaupt zu überdenken und zu verändern.

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Mit V. 42 (par Lk 6,30) wechseln Thema und Perspektive: Es geht nun um Wohltätigkeit, in V. 42a in Form von Almosen, in V. 42b im Sinne der Darlehensgewährung, und es kommen nun Besitzende in den Blick. Innerhalb von V. 38–42 wirkt der Vers prima vista wie ein Fremdkörper. Es fehlt das für V. 39c–41 charakteristische Moment der Gegenprovokation, und Matthäus hat schwerlich im Sinn, jeden Bittsteller als einen bösen Menschen (V. 39) darzustellen. Hat Matthäus den Q-Vers hier nur deshalb nicht weggelassen, weil ihm die Thematik, wie 6,19–24 zeigen wird, wichtig war und er vielleicht auch schon 6,2–4 vorbereiten wollte? Einen Bezug zum engeren Kontext kann man aber insofern herstellen, als V. 42 auch dem gegenüber gilt, der sich zuvor feindselig erwiesen hat: Statt ihm sein böses Treiben zu vergelten, soll man selbst ihm, wenn er in Not geraten ist, die Hilfe nicht versagen. So verstanden ist V. 42 zugleich eine gute Überleitung zum Feindesliebegebot. II 4.3.2.6 Sechste Antithese: Von der Feindesliebe (5,43–48) 43 Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.‘ 44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, 45 auf dass ihr Söhne eures Vaters in den Himmeln werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Wenn ihr nämlich die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? 47 Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr da Besonderes? Tun nicht auch die Heiden dasselbe? 48 Seid ihr also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!

Zum kompositionellen Neuarrangement von Q 6,27–36 ist oben in Abschnitt II 4.3.2.5 das Nötige gesagt worden. In V. 43–48 finden sich These (V. 43) und Gegenthese (V. 44f) durch die parallel gestalteten rhetorischen Fragen in V. 46.47 und die abschließende Mahnung in V. 48 erweitert. Wie in 5,38(–42) hat Matthäus auch hier den Q-Stoff sekundär auf die 43–44 Auslegung eines Toragebots bezogen, wobei sich das Nächstenliebegebot wie von selbst anbot. Da Matthäus dieses in 19,19 und in 22,39f, ohne den Begriff des „Nächsten“ zu erläutern oder zu korrigieren, als Hauptsatz der Tora anführt, ist es evident, dass das Gebot der Feindesliebe für Matthäus keine Kritik an der Reichweite des Gebots in Lev 19,18 impliziert und also die Entgegensetzung von Nächster und Feind für ihn nicht in dem Gebot selbst enthalten ist, sondern durch das Missverständnis anderer, konkret: der Schriftgelehrten und Pharisäer (5,20), eingetragen und nur in diesem Sinn als Folge der Zitation dieser Fehlinterpretation in V. 43f aufgenommen ist. Im Lichte der Beispiele in V. 46f wird dabei deut-

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lich, dass die hier unterstellte einschränkende Definition des Nächsten nicht im Sinne einer innerjüdischen Begrenzung der Reichweite des Gebots (vgl. dazu z. B. Tob 4,13; Jub 36,4.8; 46,1; CD 6,20f) zu fassen ist; es geht vielmehr um die Beschränkung der Liebe auf die, von denen man selbst geliebt wird, und damit auf die eigene Gruppierung (vgl. z. B. Sir 13,15). V. 43 wirft den Schriftgelehrten und Pharisäern des Näheren vor, dass sie die eingrenzende Definition des Nächsten noch damit flankieren, dass der Feind zu hassen ist. So wenig wie bei „lieben“ steht hier bei „hassen“ die emotionale Dimension im Vordergrund. „Hassen des Feindes“ meint, ihm Unterstützung vorzuenthalten oder ihm im Extremfall sogar zu schaden. Die These in 5,43 ist damit faktisch nichts anderes als eine in biblischer Sprache formulierte Variante zur geläufigen vulgärethischen Maxime, „seinen Freunden wohlzutun, aber den Feinden weh“ (Platon, Menon 71E u. ö.). Die engste frühjüdische Parallele zu V. 43 ist in Qumran zu finden (vgl. 1QS 1,3 f.9f; 9,21–23). Indem das Feindesliebegebot bei Matthäus durch die Vorschaltung von V. 43 explizit als Auslegung von Lev 19,18 erscheint, verbindet sich mit ihm in V. 44 eine programmatische, prinzipielle Entgrenzung der Bestimmung des Nächsten: Selbst der Feind ist zu lieben. Dieses Verständnis schließt insofern tatsächlich an Lev 19,18 selbst an, als es im ursprünglichen Kontext des Liebesgebots (Lev 19,17f) um die Überwindung einer Störung in der Beziehung zum anderen geht, die durch ein Vergehen des anderen verursacht ist: Statt dem anderen das von ihm getane Böse nachzutragen, sich zu rächen oder Hass im Herzen zu hegen, soll man ihn zurechtweisen und darüber hinaus „ihn lieben wie sich selbst“, d. h. um sein Wohlergehen so besorgt sein, wie man, was hier als selbstverständlich vorausgesetzt wird, für das eigene Leben sorgt. In den TestXII wird Josef im Umgang mit seinen Brüdern, die ihn töten wollten und ihn in die Sklaverei verkauften, als Modell einer solchen das Böse nicht nachtragenden Liebe stilisiert (TestSim 4,4; TestSeb 8,4–6; TestJos 17). Ferner sind Lev 19,17f mit Ex 23,4f; Spr 25,21f weitere atl. Texte zur Seite zu stellen, in denen, ohne dass der Allgemeinbegriff „lieben“ Verwendung findet, konkretes Wohlverhalten gegenüber dem Feind angemahnt wird (zu Ex 23,4f vgl. die Auslegung in Philo, Virt 116–118; QuaestEx 2,11; PseudPhok 140–142). Mt 5,44 setzt demgegenüber insofern noch einen eigenen Akzent, als grundsätzlich und allgemeingültig zur Liebe gemahnt wird und zudem der Plural sowie insbesondere die Rede von den Verfolgern in V. 44b (vgl. V. 10–12) darauf hinweisen, dass hier nicht allein der persönliche „Feind“ im Blick ist (vgl. V. 41). Geht es in der Mahnung, den Feind zu lieben, um die konkrete Sorge um das Leben anderer im Sinne aufhelfender Taten, so bezieht V. 44b auch das Gebet in die Zuwendung ein (vgl. TestJos 18,2). Bei aller (unfairen) Polemik, die Matthäus gegen die Pharisäer lanciert, besteht kein Grund zu

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der Annahme, dass die Gemeinde diese nicht in ihr Gebet eingeschlossen hat. Die schroffe Disqualifikation des Gegenübers dient in Matthäus’ eigener Perspektive dazu, andere vor den seines Erachtens soteriologisch katastrophalen Folgen ihres Einflusses (s. z. B. 23,13) zu bewahren; davon bleibt aber unbenommen, dass für sie zu beten ist. V. 45 verbindet die Feindesliebe mit der Verheißung der Gotteskind45 schaft. Im Lichte der Seligpreisung von 5,9 ist dies als eine eschatologische Verheißung zu lesen: Die Sohnschaft ist der eschatologische „Lohn“ (V. 46f), der denen, die nur unter ihresgleichen Gutes tun, versagt bleibt. Die Verbindung zwischen V. 9 und V. 44f über das Motiv der Gottessohnschaft legt nahe, dass sich für Matthäus Feindesliebe und Friedenstiften wechselseitig interpretieren (vgl. zu 5,9). Der Fortgang in V. 45 expliziert, warum die, die ihren Feinden Gutes tun, Söhne Gottes sind: Gott selbst nämlich lässt seine Sonne über Böse und Gute aufgehen (vgl. Ps 145,9; Seneca, Ben 4,26,1) und lässt es über Gerechte und Ungerechte regnen. Die Mahnung, unterschiedslos den „gerechten Nächsten“ wie den „bösen Feind“ zu lieben, wird also theologisch in der Menschenfreundlichkeit Gottes verankert und als Nachahmung Gottes ausgewiesen. Während Lk 6,35 – in Entsprechung zur alleinigen Nennung der Feinde als Adressaten der Liebe – nur die negativen Bezeichnungen „Undankbare und Böse“ bietet, korrespondieren die mt Gegensatzpaare „Gute/ Böse“ und „Gerechte/ Ungerechte“ der in der Praxis des Liebesgebots zu überwindenden Aufspaltung des Gegenübers in Nächste und Feinde: Der Schöpfer macht im Erweis seiner Wohltaten keinen Unterschied, und wer ebenso unterschiedslos im Erweis seiner Liebe handelt, entspricht damit Gott. Der Sohn- Gottes-Begriff schließt hier dieses Entsprechungsmotiv ein. Mit V. 46f wird das Gebot der Feindesliebe von einem am Gegenseitig46–47 keitsprinzip orientierten Wohlverhalten abgehoben, dessen soteriologische Konsequenz durch die rhetorische Frage in V. 46 „welchen Lohn habt ihr?“ angedeutet wird: Wer nur auf Gegenseitigkeit hin Gutes tut, hat mit den empfangenen Wohltaten seinen Lohn innerweltlich schon erhalten und von Gott nichts mehr zu erwarten. Die Variation der Frage zu „was tut ihr Besonderes/Übertreffendes (perisson)“ in V. 47 verweist auf die an die Jünger gerichtete Forderung in V. 20 zurück, dass ihre Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer weit übertreffen muss (perisseuse). Zur Abgrenzung von einem Verhalten, das sogar die ob ihres Verhaltens chronisch negativ bewerteten Zöllner und Heiden (vgl. 18,17) zustande bringen, tritt durch diesen Rückbezug hinzu, dass die die gesamte Antithesenreihe bestimmende Abhebung von den Schriftgelehrten und Pharisäern noch einmal eingespielt wird. Faktisch werden hier die Pharisäer über das ihnen durch die These in V. 43 unterstellte Verhalten auf eine Stufe mit den Zöllnern und Heiden gerückt.

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Der bereits in V. 45 zugrunde liegende Gedanke der Nachahmung Got- 48 tes wird abschließend durch V. 48 nachdrücklich unterstrichen. Während Lk 6,36 Barmherzigkeit fordert, was die Q-Fassung authentisch wiedergeben dürfte, spricht Matthäus redaktionell von Vollkommenheit (vgl. zu 19,21). Das Motiv der Nachahmung Gottes (vgl. Lev 19,2, ferner z. B. EpArist 208–210) ist damit bei Matthäus gegenüber der Q-Vorlage grundsätzlicher gefasst und zugleich auch stärker gewichtet. 5,48 erscheint dabei nicht nur als Schlusspunkt der sechsten Antithese, sondern als zusammenfassendes Fazit der Antithesenreihe überhaupt, deren Klimax die Auslegung des Liebesgebots in 5,43–47 darstellt: Die Mahnung, vollkommen zu sein (vgl. Dtn 18,13; 1QS 3,9f; Jak 1,4), bringt auf den Punkt, was in V. 20 mit dem Motiv der „besseren Gerechtigkeit“ zur Sprache kommt. Zur Vollkommenheit gehört entsprechend unter anderem auch die in V. 21–32 dargelegte radikale Praxis der Dekaloggebote, nicht zu töten und nicht die Ehe zu brechen – und eben die unterschiedslose Liebe gegenüber allen Menschen nach dem Vorbild der Schöpfergüte Gottes. Wer (auch) seinen Feind liebt, praktiziert das Gebot der Liebe vollkommen und ahmt damit Gott nach. Da Mt 5–7 entfaltet, was es heißt, angesichts der Nähe des Reiches umzukehren (4,17), ist neben der schöpfungstheologischen Dimension in V. 45 der Zusammenhang der Feindesliebe mit dem Erweis der grenzenlosen Güte Gottes im Kontext des Anbruchs seines Reiches zu bedenken. Denn das „Evangelium vom Reich“ (4,23; 9,35) impliziert die Verkündigung der Hinwendung Gottes auch und gerade zu den Sündern, wie sie Jesu eigene Lebenspraxis kennzeichnet (vgl. 9,12f). Mit dem Ruf zur Umkehr ist auch und gerade den Sündern die Möglichkeit zu einem Neuanfang gewährt. Feindesliebe lässt sich hier einstellen als Entsprechung zur unbedingten liebenden Zuwendung Gottes zu den Menschen, der diesen mit seiner Suche nach dem Verlorenen eine neue Zukunft eröffnet. Die Zuwendung Gottes und die Liebesforderung an die Jünger so in Beziehung zu setzen, korrespondiert dabei der grundlegenden Bedeutung des Gedankens der Nachahmung Gottes in 5,43–48. II 4.3.3 Die Gerechtigkeit dient nicht zur Selbstdarstellung vor Menschen (6,1–18) 1 Hütet euch aber, eure Gerechtigkeit zu üben vor den Menschen, um von ihnen bewundert zu werden; sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater in den Himmeln. 2 Wenn du nun Almosen gibst, posaune es nicht vor dir her, wie es die Heuchler tun in den Synagogen und in den Gassen, damit sie von den Menschen gepriesen werden. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn

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bereits empfangen. 3 Wenn du aber Almosen gibst, soll deine linke (Hand) nicht wissen, was deine rechte tut, 4 damit dein Almosen im Verborgenen sei. Und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird (es) dir vergelten. 5 Und wenn ihr betet, seid nicht wie die Heuchler, denn sie lieben es, in den Synagogen und an den Straßenecken stehend zu beten, damit sie sich den Menschen zeigen. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits empfangen. 6 Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer, und nachdem du deine Tür geschlossen hast, bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist! Und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird (es) dir vergelten. 7 Wenn ihr aber betet, so plappert nicht wie die Heiden! Sie meinen nämlich, dass sie durch ihren Wortschwall erhört werden. 8 Seid ihnen also nicht gleich; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, bevor ihr ihn bittet. 9 So sollt ihr nun beten: Unser Vater in den Himmeln, dein Name werde geheiligt, 10 dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden. 11 Gib uns heute unser Brot für morgen. 12 Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir erlassen haben unseren Schuldnern. 13 Und führe uns nicht in Versuchung, sondern bewahre uns vor dem Bösen. 14 Denn wenn ihr den Menschen ihre Fehltritte vergebt, wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. 15 Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater eure Fehltritte auch nicht vergeben. 16 Wenn ihr aber fastet, macht nicht wie die Heuchler ein mürrisches Gesicht! Denn sie machen ihre Gesichter unansehnlich, damit sie sich den Menschen als Fastende zeigen. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits empfangen. 17 Du aber, wenn du fastest, salbe deinen Kopf und wasche dein Gesicht, 18 damit du dich nicht bei den Menschen als Fastender zeigst, sondern bei deinem Vater im Verborgenen. Und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird (es) dir vergelten. Das Grundgerüst des Abschnitts bildet eine zum mt Sondergut gehörende dreistrophige Mahnung (V. 2–4.5 f.16–18), die mit Almosengeben, Gebet und Fasten elementare Aspekte jüdischer Frömmigkeit thematisiert (vgl. exemplarisch Tob 12,8: „Gut ist ein Gebet mit Fasten und Almosen und Gerechtigkeit“). In den drei Strophen stehen sich jeweils ein negativer und positiver Part antithetisch gegenüber. Sie folgen relativ streng einem festen Formschema: An die einleitende Angabe der Situation bzw. des Themas schließt sich jeweils ein Verbot bzw. Gebot an, dem als drittes Element eine Absichtsangabe folgt („damit …“, zur Abweichung von der Form eines Finalsatzes in V. 6 s. u.). Am Ende wird jeweils die Konsequenz benannt. Dieser dreistrophigen Mahnung hat der Evangelist zum einen in

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V. 1 eine grundsätzliche Aussage vorangestellt, die mit Recht in der Regel als Bildung des Evangelisten gewertet wird. Zum anderen hat er die dem Gebet gewidmete zweite Strophe um V. 7–15 erweitert, so dass die Gebetsthematik innerhalb der Komposition 6,1–18 deutlich den Ton erhält (s. ferner noch 7,7–11); zu beachten ist aber zugleich, dass das Thema Almosengeben direkt im Anschluss in V. 19–24 aufgenommen wird (s. ferner noch 19,21; 25,35; [26,9]). Während V. 7f ebenfalls zum mt Sondergut gehört, liegt zum Vaterunser eine Parallele in Lk 11,2–4 vor (vgl. noch Did 8,2), wobei Matthäus das Vaterunser neben der Logienquelle auch aus dem liturgischen Gebrauch in seinem gemeindlichen Kontext gekannt haben wird. V. 14f hat eine entfernte Parallele in Mk 11,25, von der das mt Doppellogion aber nicht abhängig ist. V. 1 hat in der Komposition der Bergpredigt eine Art Scharnierfunktion. 1 Zum einen nimmt er die Rede vom „Tun der Gerechtigkeit“ 5,20(–48) auf; „vor den Menschen“ lässt zudem an 5,16 zurückdenken. Zum anderen wird mit der kritisierten Handlungsintention, von den Menschen bewundert zu werden, das Leitmotiv der in V. 2–6.16–18 aufgenommenen Komposition eingeführt. Je nachdem, ob man V. 1 im Lichte des Voranstehenden oder des Nachfolgenden liest, ergibt sich ein leicht anderer Akzent. Von 5,16 her betrachtet liegt das Problem nicht bereits darin, dass die Jünger ihre Gerechtigkeit vor den Menschen tun – dies ist in vielen Fällen unvermeidlich, und nach 5,16 soll es ja gerade so sein, dass die Jünger ihr Licht vor den Menschen leuchten lassen sollen, damit diese ihre guten Werke sehen. Hingegen darf solches Tun nicht mit der Intention erfolgen, von den Menschen mit Bewunderung angeschaut zu werden – die verbreitete Übersetzung mit „um von ihnen gesehen zu werden“ vernachlässigt, dass Matthäus hier nicht das übliche Verb für „sehen“ verwendet, sondern ein Verb, das „[be]schauen, mit Interesse betrachten, bewundern“ bedeutet (theaomai). Wurde in 5,20–48 die von den Jüngern geforderte Gerechtigkeit inhaltlich umrissen, so bringt Matthäus nun den Aspekt der Gesinnung und Handlungsintention vor: Die Werke dürfen nicht dadurch angetrieben sein, dass man soziale Anerkennung davontragen möchte. Die Komposition in 6,2–6.16–18, in der die Opposition „öffentlich – verborgen“ als Leitmotiv hervortritt, zeigt darüber hinaus, dass es Handlungen gibt, bei denen das Ansinnen, mit ihnen Ansehen zu erlangen, nur dadurch glaubhaft ausgeschlossen werden kann, wenn sie überhaupt nicht vor Menschen, sondern im Verborgenen geschehen (6,4.6.18). Liest man 6,1 im Lichte der nachfolgenden Frömmigkeitsregeln, liegt das Problem also bereits darin, dass das eigene Tun überhaupt für andere sichtbar ist. Die Akzentverschiebung ist allerdings nicht überzubetonen; vielmehr ergänzen beide Leseperspektiven einander: V. 1 gilt als Grundsatz für alles Tun der Gerechtigkeit. Bei keinem Tun darf das selbstbezogene Handlungsmotiv leitend sein, dadurch Ansehen vor Menschen gewinnen zu

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wollen. Daher gehört manches gar nicht in die Öffentlichkeit. Zur Illustration tritt in 6,2–18 – nach der Konzentration auf zwischenmenschliches Handeln in 5,21–48 – die Frömmigkeitspraxis in den Vordergrund. Das Ziel allen Handelns ist ausschließlich der Lobpreis Gottes. 6,1 tritt in dieser Hinsicht komplementär zu 5,16. Die Wendung „um von ihnen bewundert zu werden“ kehrt wörtlich in 23,5 in der Anklage der Schriftgelehrten und Pharisäer wieder. Zudem gehört die Rede von den „Heuchlern“ (6,2.5.16) bei Matthäus zum festen Inventar der antipharisäischen Polemik (15,7; 22,18; 23,13.15.23.25.27.29, ansonsten nur noch 7,5; 24,51). Mt 6,1–18 führt also, ohne auf diesen Applikationspunkt festgelegt zu sein, die in 5,20 begonnene Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten und Pharisäern implizit weiter; der Antithesenform in 5,21–48 korrespondiert in 6,1–18 das Gegenüber von negativem und positivem Part. Den Schriftgelehrten und Pharisäern wird damit neben ihrem unzureichenden Verständnis des Willens Gottes (5,20–48) auch noch angelastet, dass sie aus niederen Motiven handeln: Sie haben, wenn sie Almosen geben, beten oder fasten, nur ihre Reputation vor Menschen im Blick. Das Lohnmotiv am Ende von 6,1 verknüpft den Vers nicht nur mit dem Voranstehenden (5,11 f.46f); es wird auch in der Feststellung der jeweiligen Konsequenz des Verhaltens im negativen Part der drei Strophen aufgenommen (V. 2.5.16). Wohltätigkeit bzw. Almosengeben nimmt in der jüdischen Unterwei2–4 sung insgesamt einen gewichtigen Platz ein (z. B. Sir 7,10; Tob 1,3.16; 12,8f; TestHiob 9,8). Die Zusammenstellung mit Beten und Fasten in Mt 6 macht deutlich, dass die wohltätige Zuwendung zum Nächsten von Matthäus als Gottesdienst gewertet wird (vgl. Spr 14,31; Jak 1,26f); dem korrespondiert, dass Barmherzigkeitstaten in Mt 25,31–46 als Dienst an Christus entziffert werden. Das in V. 2 angesprochene Problem, dass Almosen dem Wohltäter zum Ruhm gereichen und dies entsprechend inszeniert wird, ist zu allen Zeiten und an allen Orten relevant. In der Antike war es z. B. üblich, dass Wohltäter sich in Inschriften verewigen ließen. Die Rede vom Herausposaunen spielt nicht auf eine reale Praxis an, sondern karikiert. Die Ortsangabe „in den Synagogen …“ gehört im griechischen Satz nicht zum Subjekt (nicht also „die Heuchler in den Synagogen …“), sondern zum Verb; es werden also nicht pauschal die Besucher der Synagoge als Heuchler abgestempelt, sondern diese ist neben den Gassen der bevorzugte Ort, an dem die Heuchler ihr Publikum suchen. Die von V. 5 und V. 16 abweichende Formulierung der Absichtsangabe in V. 2 dürfte auf den Evangelisten zurückgehen, der damit eine weitere Querverbindung zu 5,16 geschaffen hat: Das Handeln der Heuchler verfolgt nicht das Ziel, dass Menschen zum Lobpreis Gottes geführt werden, sondern sie wollen selbst den Lobpreis davontragen. Ihre Heuchelei besteht also darin, dass sie vorgeben, den Dienst an Gott (oder am Nächsten) zu mei-

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nen, während sie tatsächlich ihr eigenes Ansehen im Sinn haben. Die Folge eines solchen Handelns ist, dass sie von Gott keinen Lohn mehr erwarten dürfen. Denn Lohn empfängt man von dem, dem man dient. Dient man Gott, wird man von ihm entlohnt. Zielt das Tun aber nur auf eigenen Prestigegewinn, dient man also in Wahrheit sich selbst, besteht der Lohn in ebendiesem Prestigegewinn. Der öffentlichen Zurschaustellung steht im positiven Part die Verborgenheit des Tuns als Leitmotiv gegenüber. Der karikierenden Rede vom Herausposaunen in V. 2 korrespondiert hier die überspitzte Formulierung, dass die linke Hand nicht wissen soll, was die rechte tut. Daraus zu schließen, dass das Tun sogar vor einem selbst verborgen sein soll, überstrapaziert die Aussage. Wohl aber mag hier impliziert sein, die Wohltätigkeit auch vor einem selbst nicht als rühmenswerte „Heldentat“ zu werten, sondern als eine Verpflichtung, die bei entsprechenden Ressourcen ganz selbstverständlich ist, zumal in theologischer Perspektive der eigene Anteil an den Gütern des Lebens, bei allem zu würdigenden Fleiß, in erster Linie als von Gott gewährte Gabe zu betrachten ist. Um es mit einer Sentenz aus einem frühjüdischen Lehrgedicht zu sagen: „An dem, was Gott dir gab, gewähre Bedürftigen Anteil“ (PseudPhok 29). Der Verborgenheit des Tuns korrespondiert im Schlusssatz in Mt 6,4, dass Gott als der Vater prädiziert wird, der ins Verborgene schaut. Wenn sodann in dem abschließenden Verheißungssatz („er wird es dir vergelten“) himmlischer Lohn gegen den Lohn von V. 2 gestellt wird, geht es nicht darum, dass man nur besser kalkulieren soll, sondern darum, sich auf die göttliche Wirklichkeit tatsächlich voll und ganz einzulassen. Insbesondere ist zu beachten, dass die Lohnthematik nicht bereits in der Zielangabe in V. 4a begegnet, sondern eben erst in dem abschließenden Zuspruch in V. 4b. In V. 5f ist nicht das Gemeindegebet, sondern das private Gebet im 5–6 Blick, das zu den drei Gebetszeiten am Morgen, Mittag und Abend zu verrichten und nach Jesus wiederum nicht zur Zurschaustellung vermeintlicher Frömmigkeit zu missbrauchen ist. Mit der „Kammer“, in die man sich stattdessen begeben soll, ist entweder der von der Straße nicht einsehbare Vorratsraum im Haus (vgl. Lk 12,24) oder ein im Inneren des Hauses liegender Raum (vgl. Lk 12,3) gemeint. Wieder liegt plakative, hyperbolische Sprache vor. Die übliche Formulierung der Absichtsangabe durch einen Finalsatz wird hier durch einen Infinitivsatz variiert. Das Gebet ist Zwiesprache mit Gott, für die ein vor Menschen verborgener Raum der angemessene Ort ist (Jesus selbst betet in 14,23 in Einsamkeit, s. ferner Mk 1,35; Lk 5,16 u. ö.). Der Passus zum Gebet wird in V. 7f durch eine 7–8 Warnung vor dem Wortschwall der Heiden beim Beten ergänzt. Im Blick ist hier wohl die lange Aneinanderreihung von Gottesbezeichnungen oder Gottesprädikationen (vgl. z. B. Apuleius, Met 11,2), von Anrufungen, um

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den Beistand der Gottheit geradezu herbeizubeschwören. Diesem Unterfangen ist in V. 8 entgegengesetzt, dass Gott um die Nöte weiß, bevor man ihn bittet. Es geht hier also auch um das richtige Gottesbild: Als fürsorgender „Vater“ – diese Gottesbezeichnung durchzieht den gesamten Abschnitt 6,1–18 – hat Gott die Belange der Seinen immer im Blick. Das Gebet wird dadurch nicht überflüssig. Aber es bedarf nicht vieler Worte und ausschweifender Anrufungen, um ein Anliegen vor Gott zu bringen. Das Vaterunser erscheint durch den Kontext als Gegenbeispiel zum endlosen Plappern der Heiden bzw., positiv gewendet, als Beispiel für ein kurzes Gebet, das nicht unnötig Worte macht (vgl. Koh 5,1; Sir 7,14). Wie in V. 2–6.16–18 finden sich auch in V.7 f.9–13 negatives und positives Beispiel einander gegenübergestellt. Das Vaterunser (6,9b–13) Das Vaterunser ist in Mt 6,9–13 und Lk 11,2–4 in zwei verschiedenen Fassungen überliefert. Die lk Version ist nicht nur in der Anrede kürzer, sondern es fehlt in ihr auch die dritte mt Bitte und die zweite Zeile der sechsten. Zudem zeigen sich Differenzen im Wortlaut in der vierten und fünften Bitte (nach mt Zählung). Die Wortlautdifferenzen sind schwerlich durch unterschiedliche Übersetzungen der aramäischen Urfassung zu erklären, denn der Matthäus und Lukas gemeinsame Gebrauch eines vor dem Vaterunser nicht bezeugten Wortes in der Brotbitte empfiehlt die Annahme, dass beide Versionen auf ein und dieselbe griechische Übersetzung zurückgehen. Als Grundsatz dürfte dabei gelten, dass der Wortlaut bei Matthäus besser bewahrt ist, während Lukas im Blick auf den Umfang ursprünglicher ist. Dass die Wortlautdifferenzen sämtlich auf vor den Evangelisten liegenden Traditionsentwicklungen (bzw. freien Gebetsvariationen) in den griechischsprachigen Gemeinden basieren, ist keineswegs zwingend; jedenfalls kann man die Option, dass Lukas selbst bearbeitet hat, nicht ausschließen. Hingegen dürften die zusätzlichen mt Bitten bereits Bestandteil der im mt Umfeld liturgisch verwendeten Version gewesen sein. Die mt Fassung lässt sich in drei Du-Bitten und drei Wir-Bitten untergliedern; die Zäsur wird durch „wie im Himmel so auf Erden“ in V. 10c unterstrichen. Die von Mt gebotenen Ergänzungen finden sich jeweils am Ende von Unterabschnitten. Die in Did 8,2 vorliegende Version steht – bei minimalen Abweichungen in der Anrede und in der fünften Bitte – in der Tradition von Mt 6,9–13. Mit der Anrede Gottes als Vater hat Jesus eine auch in anderen jüdi9 schen Gebeten begegnende Gottesanrede (z. B. Sir 23,1.4; Tob 13,4; 3Makk 6,3.8; ApokrEz Frg. 3; 4Q372 Frg. 1 16; 4Q460 Frg. 5 1,5) aufgenommen und in einer für sein Gottesverständnis charakteristischen Weise

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ins Zentrum gerückt: Die Vateranrede wird nicht durch weitere Gottesbezeichnungen flankiert (anders Mt 11,25). Das Vorkommen des aramäischen Wortes „Abba“ in Röm 8,15; Gal 4,6; Mk 14,36 dürfte für Jesu eigenen Sprachgebrauch und damit insbesondere auch für das Vaterunser auszuwerten sein. „Abba“ ist ein vokativischer status emphaticus, der zur Zeit Jesu schlicht „Vater“ bedeutet (vgl. Lk 11,2). Die These, dass es sich bei „Abba“ um ein kleinkindliches Kosewort handelt, ist forschungsgeschichtlich inzwischen überholt. Davon bleibt unbenommen, dass Jesus, indem er die Jünger lehrt, Gott im Gebet mit „(unser) Vater“ anzureden, die Güte und das Zugewandtsein Gottes in den Vordergrund stellt, wie dies schon in V. 8 anklang. Die Aufeinanderfolge der ersten beiden Bitten hat eine enge Entsprechung im wohl in die Zeit vor 70 n. Chr. zurückreichenden Kaddisch, in dem es zu Beginn heißt: „Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen geschaffen hat. Er lasse herrschen seine Königsherrschaft in eurem Leben und in euren Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel, in Eile und in naher Zeit.“ Diese Analogie ist kaum anders denn als eine bewusste Anlehnung Jesu an das Kaddisch zu verstehen (s. zum Zusammenhang der ersten beiden Bitten aber z. B. auch Ps 145; PsSal 5). Durch die passivische Formulierung der ersten Du-Bitte „geheiligt werde dein Name“ wird nicht ausdrücklich benannt, wer das Subjekt der Heiligung ist. Im AT ist von der Heiligung des Namens durch Gott selbst (Ez 36,22f; 38,23; 39,7) wie auch durch Menschen die Rede (Jes 29,23; Dtn 32,51, vgl. ferner z. B. Ex 20,7; Lev 22,32; 1Hen 61,12). Sind im Vaterunser Menschen als Subjekt der Heiligung einzutragen, dürfte an Anerkennung (der Herrlichkeit) Gottes und Ehrfurcht zu denken sein, die sich im Gehorsam gegen Gottes Willen manifestiert. Die erste Bitte ließe sich dann ferner mit 5,16 verbinden: Durch die guten Werke der Jünger sollen Menschen zum Lobpreis Gottes geführt werden. Ist Gott Subjekt der Heiligung, kann man eine einheitliche eschatologische Deutung der drei Du-Bitten vornehmen: Gott möge seinen Namen heiligen, indem er sich durch die Aufrichtung bzw. Vollendung seiner Königsherrschaft als Herr der Welt erweist und seinen Willen, seinen Heilsplan, durchsetzt. Eine sichere Entscheidung zwischen den beiden Deutungsoptionen ist nicht möglich. Es könnte aber mehr sein, als aus einer Not eine Tugend zu machen, an dieser Stelle von einer bewussten Offenheit des Textes auszugehen, wobei zudem die Heiligung seines Namens durch Gott selbst nicht ausschließlich eschatologisch verstanden werden muss. Die Bitte umschließt also sowohl den Aspekt, Gott selbst möge seinem Namen durch sein geschichtsmächtiges und zumal endzeitliches Handeln Ehre geben und sich als Herr der Welt erweisen, als auch das Moment, dass Menschen Gott in seiner Heiligkeit anerkennen und ihn durch ihren Lebenswandel ehren.

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Die zweite Bitte nimmt die im Zentrum der Verkündigung stehende Rede von der Königsherrschaft bzw. vom Reich Gottes auf und blickt in eschatologischer Perspektive auf die für die (nahe) Zukunft erhoffte Aufrichtung der Herrschaft Gottes (vgl. 4,17). Implizites Subjekt ist hier Gott selbst. Wenn man Gott um das Kommen seiner Herrschaft bittet, setzt dies allerdings auf Seiten des Beters voraus, dass dieser selber „Gottes Reich sucht“ (6,33). Im Vergleich zum Kaddisch (s. o.) fällt die Kürze der Reich- Gottes-Bitte auf: Es wird nicht ausgeführt, was das Reich Gottes genau ist und bedeutet; insbesondere aber fehlt ein ausdrücklicher Bezug auf Israel. Die Aufrichtung der Königsherrschaft Gottes wird universal gedacht. In der dritten, bei Matthäus hinzugekommenen Bitte kehrt die interpretatorische Schwierigkeit der ersten wieder, denn auch hier ist unklar, wer als Subjekt einzudenken ist. Damit ist die andere Frage verbunden, ob wie in 18,14 Gottes Heilswille gemeint ist oder „Wille“ wie in 7,21; 12,50; 21,31 ethisch aufzufassen ist. Im von Matthäus eingefügten Bittgebet Jesu in Getsemani in 26,42, in dem der Evangelist Jesus die dritte Vaterunserbitte wörtlich aufnehmen lässt, sind beide Bedeutungsaspekte enthalten: Im Blick ist hier zum einen Gottes heilsgeschichtlicher Wille; zum anderen spielt aber auch das Motiv des Gehorsams des Gottessohnes hinein, also die eigene aktive Bejahung des Gotteswillens – und insofern ein ethisches Moment. Im Lichte der sonstigen mt Verwendung von „Wille“ empfiehlt sich – analog zur ersten – auch für die dritte Bitte eine offene Deutung mit mehreren Sinnaspekten, die von der (eschatologischen) Durchsetzung des Willens bzw. des Heilsplans Gottes mit der Welt über das (aktive) Einstimmen in den Willen Gottes für den einzelnen bis hin zum Tun des ethischen Willens Gottes reichen. „Dein Wille geschehe“ ist also eine vielfältig applikable bzw. konkretisierbare Bitte. Im Kontext der Bergpredigt erhält der Aspekt des Tuns des Willens Gottes (vgl. 7,21) ein besonderes Gewicht. Auch in diesem Aspekt geht die dritte Bitte – wie auch die erste – allerdings nicht in einer in Gebetsform gehüllten Selbstaufforderung bzw. in einer verdeckten Paränese auf, sondern der Ton liegt darauf, dass Befähigung und Kraft zum Tun von Gott erbeten werden. Im Nachsatz „wie im Himmel so auf Erden“ liegt der Ton auf dem Ende. Im Himmel geschieht der Wille Gottes ohnehin; es kommt darauf an, dass er auch auf Erden manifest wird. Die drei Wir-Bitten nehmen die irdische Situation des Betenden in den 11 Blick und sprechen drei zentrale Problemkreise an: die materielle Versorgung mit dem Lebensnotwendigen, das Angewiesensein auf Vergebung, die Verführbarkeit zur Sünde. Die These, dass die drei Wir-Bitten durchgehend eschatologisch zu interpretieren seien – das Brot wäre dann die Speise beim endzeitlichen Festmahl, die Vergebung bezöge sich allein auf das Endgericht und die Versuchung auf die eschatologische Drangsal 10

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(vgl. Offb 3,10) –, ist im mt Kontext schon aufgrund des Verweises auf die alltäglichen Nöte in V. 8 nicht plausibel. Das genaue Verständnis der Brotbitte ist durch das Problem belastet, dass „Brot“ durch ein hier erstmals in der antiken Literatur belegtes Adjektiv (epiousios) näherbestimmt wird, dessen Ableitung und damit Bedeutung kontrovers diskutiert wird. Gänzlich unwahrscheinlich ist eine Deutung im Sinne von „das Brot für den heutigen Tag“. Häufiger vertreten wird der Vorschlag, das Adjektiv im Sinne von existenznotwendig zu verstehen, so dass man übersetzen könnte: „Das Brot, das wir nötig haben, gib uns heute.“ Philologisch am plausibelsten ist, dass das Adjektiv den kommenden (Tag) bezeichnet, so dass sich als Übersetzung ergibt: „Gib uns heute unser Brot für morgen.“ Im zu den jüdischen Hauptgebeten zählenden Achtzehnbittengebet begegnet in der neunten Bitte eine Anrufung Gottes um eine gute Ernte. Demgegenüber spricht die vierte Bitte des Vaterunsers in einen sozialen Kontext hinein, in dem die materielle Versorgung von Tag zu Tag geregelt werden muss. In der Antike trifft dies auf weite Teile, ja auf die Mehrheit der Bevölkerung zu. Die Brotbitte zeigt, dass für Jesus das physische Wohlergehen der Menschen alles andere als belanglos ist (vgl. Mt 14,13–21; 15,32–39), was in anderer Weise auch durch die Heilungen Ausdruck findet. Der Plural „unser“ gewinnt hier eine besondere Bedeutung: Hier bittet nicht nur ein Einzelner für die eigene Sättigung, sondern eine Gemeinschaft dafür, dass alle von ihnen zu essen haben. Zugleich ist die Brotbitte – im unmittelbaren Kontext der Bergpredigt – von 6,19–34 her zu beleuchten. Für die Jünger Jesu geziemt es sich demnach, eine materiell bescheidene Existenz zu führen und nicht in der Sorge um die materielle Existenzsicherung aufzugehen, sondern vielmehr die Suche nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit ins Zentrum zu stellen. Mit dem Verweis darauf, dass sie das andere gewissermaßen als Zugabe hinzuerhalten, wird dabei deutlich, dass die physischen Belange an sich auch hier keineswegs diskreditiert werden. Das Ziel des Textes ist vielmehr, das Grundvertrauen zu nähren, dass Gott für die Seinen sorgt. Die Brotbitte im Vaterunser fügt sich dem ein. Sie speziell auf die Situation von umherziehenden Wandercharismatikern einzugrenzen, wird durch nichts im Text angezeigt. Mit der Vergebungsbitte nimmt das Vaterunser wiederum ein geläufiges 12.14f Thema jüdischer Gebete auf, wie die sechste Bitte des Achtzehnbittengebets exemplarisch zu illustrieren vermag: „Verzeihe uns, unser Vater, ja, wir haben gesündigt. Vergib uns, unser König, ja, wir haben treulos gehandelt …“ In Mt 6,12 wird mit der Metapher von Geldschulden operiert (vgl. 18,23–35), die gnadenhaft erlassen werden (in Lk 11,4 ist dies in die gängige Rede von „Sünden“ übersetzt). Wie in 18,23–35 wird ein Konnex zwischen der Vergebung Gottes und der eigenen Bereitschaft, dem Mitmenschen zu vergeben, vorausgesetzt, doch geht die dem Mitmenschen gewährte Vergebung in 6,12.14f anders als in Mt 18 der Vergebung Gottes

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voraus. Aus dieser Differenz ist allerdings nicht künstlich ein Widerspruch zu konstruieren. Vielmehr kann man in 18,21–35 darin ein Pendant zu 6,12.14f sehen, dass der gewährte Schuldenerlass revoziert wird, nachdem sich der Knecht einem Mitknecht gegenüber als unbarmherzig erwiesen hat. Und umgekehrt ist zu beachten, dass 6,12.14f nicht auf den Moment der gnadenhaften Gewährung eines (Neu-)Anfangs fokussiert ist, sondern auf das Leben der Jünger im Ganzen ausgreift. Das in 18,23–27 vorgebrachte Moment der zuvorkommenden Gnade Gottes ist dabei auch in 6,12.14f nicht ausgeschlossen. Indem Jesus seine Jünger lehrt, um die Vergebung der Sünden zu beten, wird zugleich deutlich, dass Jesus seine Jünger als Menschen in den Blick nimmt, die auch in der Nachfolge (fortwährend) der Vergebung bedürfen – und auf das Erbarmen Gottes vertrauen dürfen. Schon hier – inmitten der Bergpredigt selbst – wird damit deutlich, dass die Radikalität der ethischen Forderung, wie sie in Mt 5 exemplarisch zur Sprache kam, bei Matthäus nicht mit einer unbarmherzigen ethischen Rigidität einhergeht, sondern durch die von Matthäus nicht weniger stark gewichtete Vergebungsthematik ausbalanciert wird. Die Deutung des Jesusnamens in 1,21 zeigt sich auch in dieser Hinsicht als strukturierendes Zentrum mt Theologie. Geht es in der fünften Bitte um die Vergebung begangener Sünden, so in 13 der sechsten um die Bewahrung vor weiteren. Das in der obigen Übersetzung mit „Versuchung“ wiedergegebene griechische Nomen (peirasmos) kann auch im neutralen Sinn „Prüfung“ bedeuten. Dass Gott Menschen auf die Probe stellt, ist ein biblisch geläufiger Gedanke (z. B. Gen 22,1; Sir 2,1–5; TestJos 2,7). Eine solche Prüfung birgt allerdings die Gefahr, dass sie zur Versuchung mutiert, der der Geprüfte unterliegt, so dass er zum Tun des Bösen verleitet wird. Darauf liegt hier der Akzent. Der Text will dabei nicht eine grundsätzliche theologische Aussage treffen, inwiefern Gott selbst letztlich Urheber bzw. Initiator des Bösen ist (Jak 1,13 weist diese Option kategorisch zurück), sondern der Beter sieht sich in der ihm eigenen Schwäche und bittet Gott, von Situationen, die ihn überfordern könnten, verschont zu bleiben bzw. in solchen Situationen nicht versucht, d. h. zum Tun des Bösen verleitet zu werden. V. 13b fügt dem keine siebte Bitte hinzu, sondern verstärkt die sechste, indem er sie positiv wendet. Der grammatikalischen Form nach kann die Rede vom Bösen hier neutrisch oder maskulinisch sein, also das Böse oder den Bösen meinen. Für Letzteres kann man geltend machen, dass der Satan in 13,19 „der Böse“ und, zieht man die erste Hälfte der Doppelbitte in 6,13 hinzu, in 4,3 „der Versucher“ heißt; 13,38 spricht ferner von den „Söhnen des Bösen“. Für die neutrische Deutung kann man auf das Gebet in Did 10,5 verweisen, in dem Mt 6,13b (vgl. Did 8,2) widerhallen dürfte: „Gedenke, Herr, deiner Kirche, dass du sie bewahrst vor allem Bösen.“ Die Zufügung von „allem“ weist hier auf ein neutrisches Verständnis. In Mt 6,13b kann man wiederum keine der beiden

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Optionen ausschließen. Für die heutige theologische Reflexion ist diese Frage aber ohnehin sekundär, insofern man im Satan eine mythische Figur erblickt und also unter dem Satan „entmythologisiert“ eine Chiffre für lebenshindernde, ja -zerstörende Phänomene, Strukturen und Personen versteht. Die sechste Bitte trifft sich insofern mit der dritten in deren ethischer Dimension, als wiederum um etwas gebeten wird, was man selbst mit beeinflusst. Im Blick auf die in der Moderne zuweilen laut gewordene Gebetskritik ist an dieser Stelle festzuhalten, dass das Vaterunser exemplarisch lehrt, dass Beten nicht im Gegensatz zum Handeln steht. Neben anderem erweist sich das Gebet vielmehr auch als ein Ort, um sich des Willens Gottes zu vergewissern, in ihn einzustimmen und ihn für das eigene Leben verbindlich gelten zu lassen. Zugleich gewinnt das Handeln aus dem Beten seine Kraft. Zu beachten ist schließlich, dass bei der Bitte um Erlösung von dem Bösen eine eschatologische Sinndimension mitzuhören ist, die an die ersten drei Bitten, insbesondere an die zweite anschließt: Wenn Gott seine Herrschaft vollendet, werden die, die in sein Reich eingehen, vom Bösen erlöst sein (vgl. 13,36–43). Die Doxologie am Ende des Vaterunsers (vgl. 1Chr 29,11f) findet sich erstmals – allerdings nur zweigliedrig (Kraft und Herrlichkeit) – in der Mt 6,9–13 nahestehenden Fassung in Did 8,2, doch liegt im Lichte jüdischer Gebetspraxis, in der abschließende Doxologien üblich sind, die Annahme nahe, dass dies von Anfang an auch für das Vaterunser gegolten hat und Did 8,2 lediglich die erste Verschriftung mit Doxologie bietet.

Mit der Einfügung von V. 14f greift Matthäus das Thema der fünften Bitte 14–15 auf, was exemplarisch das Gewicht der Vergebungsthematik für Matthäus deutlich werden lässt (zur Auslegung s. o. bei V. 12). Zugleich weist die Einstellung des Logions über die Vergebung in die Thematisierung des Gebets in Mt 6,7–15 darauf hin, dass eben das Gebet der Ort ist, in dem der Mensch Gott um Vergebung ersucht (vgl. die Verbindung von Gebet und Vergebung in Mk 11,24f oder auch Jak 5,15f). Der Gedanke, dass der, der Gott um Vergebung ersucht, dadurch qualifiziert sein muss, seinerseits zur zwischenmenschlichen Vergebung bereit zu sein, begegnet auch anderorts im antiken Judentum (vgl. exemplarisch Sir 28,2–5). Nach Almosen und Gebet tritt in V. 16–18 als drittes Glied der Illus- 16–18 tration von V. 1 noch das Fasten als elementares Moment jüdischer Frömmigkeitspraxis hinzu. Fasten ist Ausdruck der (demütigen) Ausrichtung auf die Beziehung zu bzw. Begegnung mit Gott hin (z. B. Ex 34,28; TestJos 3,4; 9,2). Es begegnet daher häufig im Zusammenhang des Gebets (z. B. Dan 9,3; TestJos 4,8). Fasten ist ferner insbesondere mit Trauer (z. B. Dan 10,2; Jdt 8,6) und Buße verbunden (z. B. Joel 2,12; Neh 9,1; Jona 3,5, vgl. dazu frühjüdisch PseudPhiloJona 136f). Mt 9,14 gibt zu erkennen, dass nicht nur die Pharisäer (nach Lk 18,12 an zwei Tagen pro

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Woche, vgl. Did 8,1), sondern auch die Anhänger des Johannes regelmäßig fasteten; das Fasten ist hier nicht durch besondere Ereignisse veranlasst, sondern zu einer festen religiösen Praxis geworden. Matthäus wendet sich in 6,16–18 nicht gegen das Fasten an sich (in 4,2 ist, wohl redaktionell [vgl. Lk 4,2], vom Fasten Jesu die Rede, vgl. zu 9,14–17), sondern allein gegen dessen Missbrauch zur Zurschaustellung der eigenen Frömmigkeit, indem man, um Ernst und Schwere des Fastens zu unterstreichen, gezielt eine mürrische Miene aufsetzt und das Gesicht unansehnlich macht (Matthäus denkt hier möglicherweise an das Bestreuen des Hauptes mit Asche). Jesu Jünger sollen dagegen die übliche Körperpflege fortsetzen (oder gar intensivieren, vgl. zum Salben Koh 9,8), damit das Fasten allein für Gott sichtbar ist. II 4.3.4 Das Verhältnis der Jünger zum Besitz und die Sorge um die materielle Sicherung der Existenz (6,19–34) 19 Sammelt euch nicht Schätze auf der Erde, wo Motte und Fraß zerstören und wo Diebe einbrechen und stehlen; 20 sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Fraß zerstören und wo Diebe nicht einbrechen und nicht stehlen! 21 Denn wo dein Schatz ist, dort wird auch dein Herz sein. 22 Die Lampe des Leibes ist das Auge. Wenn nun dein Auge lauter ist, wird dein ganzer Leib voll Licht sein. 23 Wenn aber dein Auge böse ist, wird dein ganzer Leib voll Finsternis sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß (ist) die Finsternis! 24 Niemand kann zwei Herren dienen; denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird einem anhangen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. 25 Deshalb sage ich euch: Seid nicht besorgt um euer Leben, was ihr esst oder was ihr trinkt, auch nicht um euren Leib, was ihr anzieht! Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib (mehr als) die Kleidung? 26 Seht hin auf die Vögel des Himmels: Sie säen nicht und ernten nicht und sammeln nicht in Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? 27 Wer aber unter euch kann, indem er besorgt ist, seiner Lebenszeit auch nur eine Elle hinzufügen? 28 Und warum seid ihr besorgt um Kleidung? Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen: Sie mühen sich nicht ab und spinnen nicht. 29 Ich sage euch aber: Auch Salomo war in all seiner Herrlichkeit nicht gekleidet wie eine von diesen. 30 Wenn aber Gott das Gras des Feldes, das heute ist und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet, dann nicht viel mehr euch, ihr Kleingläubigen? 31 So seid nun nicht besorgt, indem ihr sagt: ‚Was sollen wir essen?‘ Oder: ‚Was sollen wir trinken?‘ Oder: ‚Was sollen wir anziehen?‘ 32 Denn nach all diesem trachten

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die Heiden; denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. 33 Trachtet aber zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit! Und das alles wird euch hinzugefügt werden. 34 So seid nun nicht besorgt um den morgigen Tag! Denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Genug ist für (je)den Tag sein (eigenes) Übel. Wie in 6,1–18 nimmt Matthäus auch in 6,19–34 Stoff auf, der nicht der Grundrede Q 6,20–49 entstammt. Anders als in 6,1–18 schöpft er hier aber ausschließlich aus Q. Folgt man der Grundregel, dass Lukas die Reihenfolge von Q besser bewahrt hat als Matthäus, hat Matthäus hier Texte aus verschiedenen Passagen der Logienquelle zusammenkomponiert. 6,19–21 und 6,25–33 bildeten bereits in Q einen Zusammenhang (Lk 12,33f + Lk 12,22–32), wenngleich in umgekehrter Reihenfolge. Zwischen diese beiden Blöcke hat Matthäus weiteres Q-Material, das ihm thematisch passend erschien, eingestellt: 6,22f hat eine Parallele in Lk 11,34–36, 6,24 in Lk 16,13. Nachdem das Thema der Wohltätigkeit in 5,42; 6,2–4 bereits angeschnitten worden ist, wendet Matthäus sich nun umfassender Fragen des Verhältnisses der Jünger zum Besitz und der Sorge um die materielle Sicherung der Existenz zu. Die Besitzethik steht ansonsten noch in 19,16–26 im Zentrum (vgl. ferner 13,22). Quantitativ betrachtet fällt Matthäus damit gegenüber dem breiten Vorkommen besitzethisch relevanter Texte bei Lukas deutlich ab (s. v. a. Lk 12,13–34; 16). Gleichwohl zeigt sich an den wenigen Stellen, an denen im Mt besitzethische Fragen aufgeworfen werden, die immens hohe Bedeutung, die auch Matthäus dem rechten Umgang mit Besitz zuschreibt. Die Komposition in 6,19–24 macht dies in eindrücklicher Weise deutlich, und die Positionierung dieser von Matthäus gebildeten Komposition innerhalb der ethischen Grundrede des Evangeliums unterstreicht diesen Sachverhalt mit Nachdruck. Die Warnung vor der Sorge in V. 25–34 ist durch die Einleitung mit „deshalb sage ich euch“ in einem schlussfolgernden Sinn an das Voranstehende angeschlossen. In der Auslegung wird zu fragen sein, worin der damit angezeigte Zusammenhang genau besteht. Die 6,1–18 kennzeichnende formale Struktur der Gegenüberstellung 19–21 von negativer und positiver Aussage findet in den streng analog gehaltenen Mahnungen in V. 19f ihre Fortsetzung. Statt Schätze auf Erden sollen die Jünger Schätze im Himmel sammeln. Die Erläuterung in V. 19b trägt weisheitliche Züge: Die Erde ist für das Sammeln von Schätzen ein ungeeigneter Ort, weil hier Motten und Fraß (vgl. Jak 5,2f) sowie Diebe als Gefährdungen lauern. Mit „Fraß“ ist wohl ein fressendes Insekt gemeint, vielleicht der Holzwurm, der Schatztruhen angreift (vgl. EvThom 76). Im Zuge der strengen Symmetrie zwischen V. 19 und V. 20 wird der Vorteil der himmlischen Schätze allein via negationis begründet: Die „irdischen“

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Gefahren sind hier nicht gegeben. Der himmlische Schatz besteht im Zugang zum Himmelreich (5,20; 21,31 u. ö.) und in der Teilhabe am ewigen Leben (vgl. 7,14; 19,16f u. ö.). Wie man diesen Schatz sammeln kann, sagt Matthäus nicht ausdrücklich. Man kann hier allgemein an die Praxis der Gerechtigkeit denken (vgl. PsSal 9,5), doch liegt es im Lichte frühjüdischer Parallelen (vgl. Tob 4,8f; 2Hen 50,5) sowie angesichts der Antithese zu V. 19 nahe, vor allem an Wohltätigkeit zu denken. Die Wiederkehr des Motivs des himmlischen Schatzes im Zusammenhang der Aufforderung an den reichen Jüngling in 19,21, den Besitz den Armen zu geben, bestätigt dies. Lukas hat in seiner Aufnahme von Q 12,33 durch die Vorschaltung der Mahnung „gebt Almosen“ also nur ausformuliert, was in der Aufforderung, Schätze im Himmel zu sammeln, bereits inbegriffen ist (vgl. auch 1Tim 6,17–19). Mt 6,21 macht deutlich, dass es bei der Frage, ob man durch das Anhäufen von Gütern Schätze auf Erden oder durch das Teilen der Güter des Lebens Schätze im Himmel sammelt, um nicht weniger als die grundsätzliche Ausrichtung des ganzen Menschen geht, denn das Herz steht für das Zentrum der Person (s. zu 5,28). Das Verhältnis von Schatz und Herzensausrichtung lässt sich dabei als ein wechselseitiges fassen: Im Sammeln des jeweiligen Schatzes manifestiert sich die Herzensausrichtung; zugleich wird das Herz mit dem Sammeln des Schatzes an diesen gebunden, wie die gescheiterte Berufung des reichen Jünglings (19,21f) exemplarisch zeigt. Das in V. 22f angefügte Logion vom Auge unterstreicht das Moment, 22–23 dass an der Stellung zum Besitz die Ausrichtung der ganzen Existenz ansichtig wird. Die in V. 22a als Ausgangspunkt dienende antike Vorstellung, dass das Auge ein Licht enthält, durch das das Sehen möglich ist, wird im Folgenden ins Metaphorische gewendet. Es geht um den Blick eines Menschen als Ausweis seines Charakters. Das einfältige, lautere Auge steht für die Aufrichtigkeit, Integrität und Güte eines Menschen, die sich in Freigebigkeit niederschlagen (vgl. Spr 22,9), das böse Auge (vgl. TestIss 4,6) für Missgunst, Geiz und Neid (vgl. Mt 20,15!). Je nachdem, wie sich das „Auge“ zeigt, ist der ganze Mensch entweder finster oder voll Licht. Im Kontext von 6,19–21.24 bedeutet dies: Am Umgang mit dem Besitz entscheidet und zeigt sich die moralische Qualität eines Menschen im Ganzen. V. 24 arbeitet schließlich den Gottesbezug ausdrücklich heraus: Der 24 Grundsatz, dass niemand zwei Herren dienen kann, wird am Versende auf Gott und „Mammon“ appliziert. Das aus dem Aramäischen stammende, in der neutralen Verwendung „Vorrat, Habe, Reichtum“ bedeutende Wort „Mammon“ ist hier deutlich negativ konnotiert. Mammondienst steht in strenger Antithese zum Dienst an Gott. Es geht immer nur eines von beiden. Die Pointe ist dabei, dass der Mammon als eine Art Gegengott, als Götze erscheint, dem der Mensch in all seinem Streben dient und von dem

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er insofern beherrscht wird. Hinter dieser Warnung vor dem Mammon steht die Beobachtung, dass sich im Umgang mit Besitz und Geld eine eigentümliche Dynamik zu entwickeln vermag, die götzendienerische Züge annimmt: Das, was Mittel zum Leben – und zwar zum Leben aller – sein soll, wird sukzessiv zum eigentlichen Inhalt und Ziel des Lebens und schwingt sich so zu dessen Herrn auf. Beim Umgang mit dem Besitz geht es entsprechend letztlich um die Frage, ob man Gott zugewandt ist oder sich einem anderen Herrn verschrieben hat. Der Zusammenhang von V. 24 mit V. 19–21 macht des Näheren deutlich, dass Matthäus nicht nur den Aspekt der Einstellung zum Besitz vor Augen hat – nach dem Motto, dass man Besitz ruhig anhäufen darf, solange man sein Herz nicht daran hängt. Der Alternative „Gott oder Mammon“ korrespondiert vielmehr die Alternative „konkrete Hilfstätigkeit oder das Sammeln von Schätzen auf Erden“. Umgekehrt läuft das Verbot, Schätze auf Erden anzuhäufen, nicht auf ein Ethos der prinzipiellen Besitzlosigkeit hinaus (s. noch zu 19,21). Aber Matthäus erwartet von einem Christenmenschen, der über entsprechende Güter verfügt, ein klares karitatives Engagement. Die binäre Struktur der Handlungsoptionen setzt sich in V. 25–34 fort. 25–34 Die fundamentale Alternative ergibt sich hier aus dem den gesamten Passus sachlich bestimmenden Gegenüber der Mahnungen in V. 25 bzw. V. 31 und V. 33: Seid nicht besorgt um euer Leben, was ihr esst oder was ihr trinkt, auch nicht um euren Leib, was ihr anzieht (V. 25, vgl. V. 28.31.34), sondern trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit (V. 33)! Auch formal weist der Text eine klare Struktur auf: Die einleitende Mahnung in V. 25 wird zunächst in V. 26–30 durch zwei Naturvergleiche, die die Fürsorge des Schöpfers zum Ausdruck bringen, theologisch unterbaut. V. 31–33 zieht daraus die paränetische Schlussfolgerung und arbeitet zugleich das in V. 26–30 zugrunde liegende theologische Argument weiter aus. In V. 34 wird die Eingangsmahnung in variierter Form noch einmal abschließend aufgenommen. Bei der Mahnung in V. 25 geht es schwerlich darum, dass sich ein 25 Mensch gar nicht selbst um die Stillung seiner vitalen Grundbedürfnisse Essen, Trinken und Kleidung kümmern soll. Das Augenmerk ist, wie die rhetorische Frage am Schluss von V. 25 deutlich macht, vielmehr zum einen darauf gerichtet, dass die Sorge das Leben bestimmt, dass sich das Leben also in der materiellen Sorge – im doppelten Wortsinn – erschöpft, obwohl das Leben viel mehr ist als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung. Dieses – entscheidende – „Mehr“ wird durch V. 33 benannt. Zum anderen erscheint die Sorge als Ausdruck der Lebenshaltung eines Menschen, der Gott nicht im Blick hat und daher meint, ganz allein für sein Dasein sorgen zu müssen, der sich also so verhält, als ob sein (Über-)Leben allein in seinen Händen läge. Die Verweise auf den Kleinglauben und auf die Heiden (V. 30.32) fügen sich hier ein.

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Damit die Jünger Einsicht in die gütige Fürsorge des Schöpfers gewinnen, bietet V. 26–30 die Schöpfung als „Sehschule“ auf. Die beiden Beispiele in V. 26f.28–30 nehmen nacheinander die beiden Bereiche des Sorgens aus V. 25 auf, also zum einen Essen und Trinken (V. 26f), zum anderen die Kleidung (V. 28–30). Beide Unterabschnitte werden jeweils durch einen Imperativsatz eingeleitet: Die Jünger sollen auf die Vögel des Himmels sehen (V. 26) und die Lilien des Feldes betrachten (V. 28). Zu beobachten ist dann, dass Gott, der in V. 26 wieder – wie zuvor in 6,1–18 – betont als himmlischer Vater bezeichnet wird (anders Lk 12,24: Gott), die Vögel, obwohl sie weder säen noch ernten noch in Scheunen sammeln, ernährt (vgl. Ps 147,9; Ijob 38,41; PsSal 5,9) und die Lilien, obwohl sie sich nicht abmühen und nicht spinnen, wachsen lässt, ja so prächtig umkleidet, dass menschliche Kulturleistung sogar in so entwickelter Form wie bei Salomo (vgl. 1Kön 10,4f) dagegen erblasst. Der Text stellt eine in der Antike typisch männliche und eine typisch weibliche Arbeit zusammen und erzeugt so den Eindruck exemplarischer Ganzheit. Das Gegenüber von Vögeln des Himmels und Lilien des Feldes korrespondiert dem Moment der Ganzheit auf Seiten der Fürsorge des Schöpfers. Das an den Beispielen zu lernende Vertrauen in die Fürsorge des Schöpfers wird durch einen Schluss vom Kleineren auf das Größere untermauert: Wenn Gott sich auf diese Weise schon um Vögel und Lilien kümmert, um wie viel mehr dann um Menschen, die wesentlich kostbarer sind (V. 26.30). Mit den Naturvergleichen in V. 26–30 verbindet Matthäus nicht einen impliziten Appell, dass Menschen nicht mehr der Feldarbeit nachgehen oder Kleidung herstellen sollen, weil Vögel und Lilien dies nicht tun. Menschen sind keine Vögel oder Lilien, und diese fungieren hier nicht als Verhaltensmodelle, an denen Menschen sich orientieren sollen. Der Ton liegt in den Beispielen jeweils auf dem zweiten Teil, auf der Aussage, dass Gott für seine Geschöpfe sorgt. Die Kritik an der Sorge um Leben und Leib, was man essen, trinken und anziehen soll, zielt also nicht darauf, dass der Mensch seine Existenz sichernden Tätigkeiten aufgibt, sondern dass er ihnen gelassen im Vertrauen auf den Schöpfer nachgeht, statt sich in ängstliche Sorge um sein Dasein zu verlieren (entsprechend ist oben als Übersetzung „seid nicht besorgt …“ gewählt, da die Übersetzung mit „sorgt euch nicht“ im Sinne eines Aufrufs zur Untätigkeit missverstanden werden kann). Da die Sorge auf mangelndes Gottvertrauen verweist, werden die adressierten Jünger am Ende von V. 30 als „Kleingläubige“ angesprochen. Matthäus hat dieses hier in der Q-Vorlage (vgl. Lk 12,28) vorgefundene Motiv zu einem gewichtigen Aspekt seiner Darstellung der Jünger ausgebaut, um die spezifische Form des Versagens der Jünger in ihrem Vertrauen auf Gott zu kennzeichnen (vgl. 8,26; 14,31; 16,8; 17,20). Mit der Einsicht, dass die Beispiele in V. 26–30 nicht zur Untätigkeit, sondern zum Vertrauen in die „väterliche“ Fürsorge des Schöpfers bei den

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menschlichen Tätigkeiten anleiten sollen, geht einher, dass der Text nicht allein umherziehende Wanderprediger anspricht, die ihre sesshafte Existenz aufgegeben haben oder hintanstellen, sondern offen adressiert ist, wie dies der von Matthäus in 4,25–5,2; 7,28f gezeichneten Szenerie der Bergpredigt entspricht. Stellt der Text die „väterliche“ Fürsorge des Schöpfers ins Zentrum, ohne dabei zu verneinen, dass die Befriedigung der elementaren Lebensbedürfnisse im Falle des Menschen im Normalfall voraussetzt, dass er seinen Tätigkeiten nachgeht, so steht dem die anthropologische Einsicht zur Seite, dass umgekehrt der Mensch, egal wie er sich abmüht, in seinem Tätigsein vom fürsorgenden Walten Gottes abhängig ist. Der Mensch ist in seiner Geschöpflichkeit nicht Herr über sein Leben, sondern die Verfügungsgewalt über alles Leben liegt allein bei Gott. V. 27 bringt dies ex negativo mit dem gemeinantiken Motiv zum Ausdruck, dass der Mensch seiner Lebenszeit mit seinem Besorgtsein nicht einmal eine Elle hinzuzufügen vermag. Seine Lebenszeit bestimmt sein Schöpfer. V. 31–33 zieht aus dem, was nach V. 26–30 aus der Schöpfungsbeobach- 31–33 tung zu lernen ist, die paränetische Konsequenz, indem nicht nur das Verbot aus V. 25 in verkürzter Form wiederholt wird (V. 31), sondern diesem nun zugleich als Gegenpart eine positive Handlungsanweisung gegenübergestellt wird (V. 33). Ferner werden sowohl das Verbot in V. 31 als auch das Gebot in V. 33 jeweils kurz kommentiert, indem das leitende theologische Argument der Perikope, Gottes Fürsorge für seine Geschöpfe, weiter ausgebaut wird. Das Verbot in V. 31 wird zunächst in V. 32a zusätzlich dadurch untermauert, dass das Trachten nach Essen, Trinken und Kleidung als Haltung der Heiden ausgewiesen wird, die den lebendigen Gott nicht kennen. V. 32a bestätigt zugleich das oben dargelegte Verständnis der Mahnung in V. 25.31, denn die Sorge wird hier mit einer Lebensorientierung verbunden, die allein durch das Streben nach den irdischen Gütern bestimmt wird. Im Verweis auf die Heiden ist ein Abgrenzungsappell impliziert: Die Jünger sollen sich damit nicht gemein machen; schließlich können sie ihr Leben auf der Basis und im Lichte der Glaubenserkenntnis gestalten, dass Gott als der himmlische Vater um die menschlichen Bedürfnisse weiß (V. 32b, vgl. V. 8). Daraus erwächst die Freiheit, das Reich und die Gerechtigkeit Gottes zur obersten Priorität zu machen. Matthäus hat hier die Q-Vorlage um die Worte „und nach seiner Gerechtigkeit“ ergänzt; „seine Gerechtigkeit“ meint dabei wie zuvor in der Bergpredigt (5,6.10.20; 6,1) im ethischen Sinn die Gerechtigkeit, die Gott fordert. Diese Ergänzung unterstreicht, dass das Trachten nach dem Reich Gottes für Matthäus nicht bloß sehnsüchtiges Hoffen auf dessen Kommen bedeutet (vgl. 6,10), sondern in einem eminent aktivischen Sinn impliziert, sich der Herrschaft Gottes zu unterstellen, indem man nach Gottes Willen lebt. An den Imperativ schließt sich eine Zusage an, die erneut das fürsorgende Walten des Schöpfers bekräftigt: Wer nach Gottes

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Reich trachtet, wird nicht nur am Ende in das Himmelreich eingehen (5,20), sondern er wird zusätzlich auch jetzt „das alles“, also Nahrung und Kleidung zur Verfügung haben. Im Gesamtkontext der Bergpredigt ist V. 33 im Lichte von 5,16 zu lesen: Weil sie auf die Fürsorge ihres himmlischen Vaters vertrauen dürfen, können und sollen die Jünger sich auf ihre Aufgabe konzentrieren, durch das Trachten nach Gerechtigkeit mit ihren guten Werken Licht der Welt zu sein. Die Gegenüberstellung von Sorge um Nahrung und Kleidung auf der einen Seite und Suche der Königsherrschaft Gottes auf der anderen hat eine enge Entsprechung in EpArist 140 f. Auch hier begegnet die Abgrenzung von den Heiden, denen vorgeworfen wird, dass ihr Streben allein auf Nahrung und Kleidung gerichtet ist. Menschsein ist damit aber unterbestimmt. Denn menschliches Leben ist mehr als Vegetieren. EpArist definiert dieses „Mehr“ durch die (philosophische) Betrachtung der Herrschaft Gottes. In Mt 6 findet die in V. 25b aufgeworfene Frage nach diesem „Mehr“ des Lebens ihre Antwort in V. 33 durch den Verweis auf das Trachten nach dem Reich Gottes und der von ihm geforderten Gerechtigkeit. V. 34, der nicht in der lk Parallele begegnet, dürfte sekundär an die Kom34 position angefügt worden sein. Auf der Basis der Zusage in V. 33b wird die Aufforderung, nicht besorgt zu sein, noch einmal abschließend aufgenommen und konsequent ausformuliert: Nicht einmal um den morgigen Tag soll man besorgt sein. Im mt Kontext lässt V. 34 an die Bitte um das Brot für morgen im Vaterunser zurückdenken (6,11). Statt sich in Sorge zu verlieren, sollen die Jünger ihr Anliegen im Vertrauen auf die Fürsorge des Schöpfers im Gebet vor ihren himmlischen Vater bringen (vgl. zum Gegenüber von Sorgen und Beten Phil 4,6). V. 34b fügt dem noch eine weisheitlich kolorierte Erläuterung an, die auf die Mühsal verweist, die ein jeder Tag ganz von selbst mit sich bringt (vgl. Sir 40,1–7). Der Mensch kann dies ohnehin nicht beeinflussen (vgl. Spr 27,1). Also sollte er nicht heute schon um den nächsten Tag besorgt sein, sondern im jeweiligen Heute im Vertrauen auf Gott nach seinem Reich und seiner Gerechtigkeit trachten. Durch den Anschluss mit „deshalb sage ich euch“ hat Matthäus die in 19–34 V. 25–34 folgende Ermahnung als direkte Konsequenz aus V. (19–)24 ausgewiesen. Auf die Fortsetzung der in V. 19–24 vorliegenden binären Struktur der Handlungsoptionen in V. 25–34 ist oben bereits hingewiesen worden. Die vorangehende Auslegung zeigt, dass der formalen Korrespondenz ein sachlicher Zusammenhang entspricht. V. 33 knüpft an die Handlungsoption von V. 20 an und schildert die Grundorientierung des Menschen, der Gott dient. 19,16–22 wird deutlich machen, dass die karitative Nutzung von Besitz für Matthäus Entfaltung der im Liebesgebot enthaltenen Forderung ist. Mit der Warnung vor der Sorge wird hingegen die Mahnung in V. 19 weitergeführt, keine Schätze auf Erden anzuhäufen (vgl. zu diesem Zusammenhang Sir 31,1–3). Dass in 13,22 „die Sorge der

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Welt“ und „der Betrug des Reichtums“ nebeneinandergestellt sind und als die beiden Größen vorgebracht werden, die das Wort ersticken, fügt sich hier ein. Im Schätzesammeln manifestiert sich eine von der Sorge bestimmte Lebenshaltung, und umgekehrt befreit der in V. 25–34 laut werdende Zuspruch von dem irregeleiteten, durch die Sorge getriebenen Bestreben, sein Leben durch das Anhäufen von irdischen Schätzen „sichern“ zu wollen (vgl. Lk 12,16–21). Wo aber die „Sorge“ um die materielle Sicherung der Existenz das Leben bestimmt, weist dies darauf hin, dass ein Mensch nicht Gott, sondern dem Mammon dient. Das götzendienerische Streben nach (immer mehr) Besitz und die „heidnische“ Angst um die Existenzsicherung erscheinen dem Evangelisten als die beiden Seiten ein und derselben Medaille, der er das Vertrauen auf die Fürsorge des Schöpfers entgegenstellt. Im heutigen Kontext, in dem Menschsein unter dem Diktat des Ökonomischen allzu oft auf rein materialistisch bestimmte Lebensperspektiven verkürzt erscheint, ist dabei die Einsicht des Textes zu betonen, dass menschliches Leben in Essen und Trinken nicht aufgeht, sondern erst in der aktiven Suche nach Gottes Reich und Gerechtigkeit zu seinem Eigentlichen findet. II 4.3.5 Vom Richten und von der Zuversicht beim Beten (7,1–11) 1 Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! 2 Denn mit welchem Richtspruch ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden. 3 Was aber siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken aber in deinem Auge nimmst du nicht wahr? 4 Oder wie wirst du deinem Bruder sagen: ‚Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen!‘? Und siehe, der Balken ist in deinem Auge. 5 Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge heraus! Und dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen. 6 Gebt das Heilige nicht den Hunden; und werft eure Perlen nicht vor die Schweine, damit sie sie nicht mit ihren Füßen zertreten und sich umwenden und euch zerreißen! 7 Bittet, und es wird euch gegeben werden; sucht, und ihr werdet finden; klopft an, und es wird euch geöffnet werden! 8 Denn jeder, der bittet, empfängt, und wer sucht, findet, und dem, der anklopft, wird geöffnet werden. 9 Oder wer unter euch ist ein Mensch, den sein Sohn um ein Brot bitten wird – er wird ihm doch nicht einen Stein geben? 10 Oder auch um einen Fisch wird er bitten – er wird ihm doch nicht eine Schlange geben? 11 Wenn nun ihr, obwohl ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben versteht, um wie viel mehr wird euer Vater in den Himmeln denen Gutes geben, die ihn bitten?

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In 7,1–5 nimmt Matthäus den in 5,48 liegen gelassenen Q-Faden der Grundrede (Q 6,20–49) genau an der Stelle, an der er ihn verlassen hat, wieder auf (vgl. Lk 6,37 f.41f). Zum Spruch vom Messen in V. 2b liegt ferner eine Parallele in Mk 4,24 vor, die Matthäus in der Gleichnisrede übergeht. Die Logien in Lk 6,39.40 begegnen bei Matthäus in anderen Textzusammenhängen (Mt 10,24f; 15,14). Ob Matthäus die Logien versetzt oder in diesem Fall Lukas sie sekundär in die Grundrede eingefügt hat, lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Man kann nur auf der synchronen Ebene sagen, dass das Bildwort vom Splitter und Balken in Mt 7,3–5 thematisch gut an 7,1f anschließt. 7,6 ist mt Sondergut. Mit 7,7–11 fügt Matthäus ausweislich der Parallele in Lk 11,9–13 wiederum einen Q-Text ein, der in der Logienquelle außerhalb der Grundrede stand. Dabei handelt es sich um den Q-Passus, dem Matthäus zuvor das Vaterunser entnommen hat (vgl. Lk 11,2–4). Mit dem Verbot zu richten nimmt Matthäus erneut das Thema des Um1–2 gangs mit den Vergehen anderer auf, dessen Gewicht für den Evangelisten bereits durch die Vergebungsbitte im Vaterunser (6,12) und deren Aufnahme in 6,14f deutlich wurde. Die eschatologisch ausgerichtete Motivierung der Warnung vor dem Richten wird in V. 2 durch den Grundsatz konkretisiert, dass der Maßstab, den man selbst an andere anlegt, (im Endgericht) auf einen selbst zurückfällt (vgl. mSota 1,7: „Mit dem Maß, mit dem ein Mensch misst, misst man [= Gott] ihn.“). Da V. 2 als Begründung oder Erläuterung der prinzipiellen Mahnung in V. 1 vorgebracht wird, impliziert V. 2 nicht bloß die Mahnung, einen milden Maßstab anzulegen, sondern die Einsicht, dass jeglicher Richtspruch gegenüber anderen Menschen die eigene Verurteilung nach sich zieht. Denn dem, was ein Mensch bei einem anderen als zu richtendes Vergehen entdecken mag, steht gegenüber, dass vor Gott die gesamte Schuld eines Menschen offenbar ist. Allerdings folgt nach V. 3–5 aus V. 1 nicht, dass die Sünde des anderen gar nicht anzusprechen ist. Mit dem „Richten“ ist also eine spezifische Weise gemeint, das Vergehen des anderen anzusprechen, nämlich das lieblose Verurteilen des anderen (von oben herab). Es besteht daher kein Widerspruch zu 18,15–17, wo Matthäus – im Einklang mit einer frühjüdischen Auslegungstradition des Liebesgebots Lev 19,17f – mit der Mahnung zur Zurechtweisung die Sorge für in die Irre gegangene Gemeindeglieder (18,10–14) entfaltet. Das „Richten“ wäre hingegen ein Verstoß gegen das Liebesgebot (vgl. Jak 4,11f und TestGad 4,2f). Der Sünde des anderen soll man also begegnen, indem man sich ihm in Milde und Barmherzigkeit zu3–5 wendet, nicht aber, indem man ihn brandmarkt und aburteilt. Das Bildwort vom Splitter und Balken in 7,3–5 (vgl. bBB 15b; bAr 16b) macht überdies deutlich, dass der Fokus konkret auf den persönlichen Bereich gerichtet ist (und nicht etwa auf Staat und Gesellschaft), auch wenn V. 1 an sich grundsätzlich formuliert ist. Der Gebrauch des Brudertitels zwingt

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allerdings so wenig wie in 5,22.23f dazu, die Unterweisung als allein innergemeindlich ausgerichtet zu verstehen (vgl. unten zur sich aus 5,13–16 ergebenden Leseperspektive); im Unterschied zur ekklesialen Verwendung des Brudertitels (12,49f; 18,15.21.35; 23,8; 28,10, vgl. auch 5,47) fungiert der Brudertitel hier vielmehr als ein appellatives Signal, das den Gedanken zwischenmenschlicher Verbundenheit evozieren soll: Der andere ist wie ein „Bruder“ zu behandeln. Die Pointe liegt in V. 3–5 darin, dass der Blick auf die eigene ethische Unzulänglichkeit gelenkt wird – und damit auf das eigene Angewiesensein auf Barmherzigkeit. Der, der sich mit den Fehlern und Sünden anderer kritisch auseinandersetzen will, hat sich zunächst einmal mit seinem eigenen Versagen zu befassen. Er wird dann erkennen, dass es ihm nicht zusteht zu richten und dieses Gott zu überlassen ist (vgl. wiederum Jak 4,11f). „Richten“ ist daher nur etwas für Heuchler (V. 5), die andere verurteilen, aber das eigene Versagen ausblenden und vor anderen zu verdecken suchen. Die Rede vom „Balken im Auge“ überzeichnet das Bild bewusst ins Groteske: Der Urteilende kann selbst gar nicht sehen, also auch nicht den Splitter des anderen. Entsprechend macht V. 5 das Herausreißen des eigenen Balkens zur Voraussetzung, um sich um den Splitter des anderen kümmern zu können. Letzteres soll dann allerdings auch geschehen. Die Sünde des „Bruders“ wird demnach nicht zu dessen Privatsache erklärt, nur kann die Entfernung des „Splitters“ nach der Einsicht in die eigene Schuld eben nicht mehr abkanzelnd von oben herab geschehen, sondern nur im geschwisterlichen Geist freundlicher, von der Liebe bestimmter Zurechtweisung. Schwierig ist die Deutung von V. 6. Die beiden Mahnungen, das Heilige 6 nicht den streunenden Straßenkötern zu geben und Perlen nicht vor die Schweine zu werfen, bezeichnen jeweils unpassendes, ja absurdes Verhalten, denn die kostbaren Perlen werden von den Schweinen in den Dreck getreten, und bei den Hunden muss man damit rechnen, dass sie aggressiv werden (die beiden Imperative und die beiden Finalsätze bilden einen Chiasmus: abba). Die Option, Hunde und Schweine als Metaphern für die Heiden aufzufassen, lässt sich durch 15,26f nicht begründen, weil dort den (Haus-)Hunden ein Anteil am Brot zukommt, und ist im Gesamtkontext des Mt auszuschließen (vgl. 28,19). Auf einen Bezug auf den Ausschluss von Ungetauften von der Mahlfeier, wie er bereits in der dem Mt nahestehenden Did begegnet (9,5), weist im Mt nichts. Vielmehr wird man das Logion im engeren Kontext von 7,1–5 dahingehend zu deuten haben, dass dem Bemühen um andere eine Grenze gesetzt wird. Es gibt Fälle, in denen jegliche Liebesmüh vergebens und eine klare Distanzierung angezeigt ist. Das gilt auch für die Mission. Im Lichte des Themawortes der Bergpredigt in 5,13–16 lässt sich sogar die gesamte Komposition 7,1–6 speziell auf das Verhalten der Jünger in ihrer missionarischen Existenz beziehen: Sie sollen „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ wie auch den Heiden nicht

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von oben herab als lieblose Richter ihres bisherigen Wandels begegnen, sondern sich ihnen liebevoll und barmherzig (vgl. 9,13.36) zuwenden. Zugleich gibt es, so V. 6, Grenzen: Wo den Jüngern mit ihrer Evangeliumsbotschaft von der Nähe des Himmelreiches (10,7) und mit ihrer Lehre (28,20) dezidierte Ablehnung entgegentritt, können und sollen sie sich gemäß dem Grundsatz, dass man Heiliges nicht den Hunden gibt und Perlen nicht vor die Schweine wirft, abwenden (vgl. Mt 10,14f). Wurde mit 7,1–5 im weiteren Sinn das Thema der durch 6,14f verstärkten 7–11 Vergebungsbitte aufgenommen, so wird in 7,7–11 ein Motiv entfaltet, das Matthäus im dem Vaterunser vorangehenden Kontext kurz angerissen hat: Man muss nicht viele Worte machen, weil der Vater weiß, was seine Kinder brauchen (6,8). Es geht aber nun nicht mehr um das Wie oder Was des Betens, sondern um Ermutigung zum Beten, indem in V. 7f eine uneingeschränkte Erhörungsgewissheit ausgesprochen wird (vgl. Jer 29,12f; Ijob 22,27; Sir 3,5 u. ö.). „Suchen“ und „anklopfen“ sind Variationen zu „bitten“. Die Futura in den Nachsätzen in V. 7 sind nicht eschatologisch, sondern logisch, d. h. sie bestimmen nur das zeitliche Verhältnis zwischen den Handlungen; der Wechsel zum Präsens in V. 8a.b unterstreicht dies (in 8c steht wieder ein Futur). Die Erhörungsgewissheit wird durch eine Gegenüberstellung von Mensch und Gott in V. 9–11 untermauert. Theologisch basiert der Passus wieder auf der Vorstellung von Gott als gütigem, sorgendem Vater (vgl. V. 11), der die Gotteskindschaft der Beter korrespondiert; entsprechend geht es auch in den Beispielen in V. 9f um die Bitten eines Sohnes. Indem mit Brot und Fisch Grundnahrungsmittel als Gegenstand der Bitte genannt werden (Lk 11,11f nennt Fisch und Ei), erscheint deren Erfüllung als etwas Selbstverständliches, was durch die wirkungsvollen Kontrastierungen von Brot und Stein (vgl. Mt 4,3) sowie Fisch und Schlange sowie die rhetorisch geschickte, die Adressaten einbeziehende Form der Frage („wer ist unter euch?“) noch unterstrichen wird. Die Antwort kann nur ein emphatisches „natürlich niemand von uns“ sein. Das Moment der Selbstverständlichkeit der Erfüllung der Bitte ist die Voraussetzung dafür, dass die Beispiele in V. 9f den Schluss a minori ad maius in V. 11 unterbauen können. Die Differenz zwischen Menschen und Gott wird dabei noch durch die Kennzeichnung der Menschen als „böse“ unterstrichen, was allerdings nicht als eine programmatische anthropologische Wesensaussage zu verstehen ist, sondern eben in der kontextuellen Funktion, den Kontrast zu Gott zu schärfen, der in 19,17 als der eine, der „gut“ ist, tituliert wird. Dass in V. 9f auf Grundnahrungsmittel rekurriert wird (vgl. 14,17.19; 15,34.36), lässt sich zugleich insofern auf die Frage nach dem Inhalt von Gebeten, die bei Gott auf Erhörung hoffen dürfen, beziehen, als V. 7f trotz der allgemeinen Formulierung keine Zusage für alle möglichen Bitten intendiert. In der Rede vom Guten, das Gott dem Bittenden gibt (V. 11, vgl. Jak 1,17), ist dies mitzuhören. Für den Beter gilt, dass sich sein Gebet daran

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orientiert, was Gottes Wille für das Leben von Menschen ist (vgl. die Abgrenzung in Jak 4,3). Das Gebet ist zugleich der Ort, um sich dieses Willens Gottes zu vergewissern. Liest man 7,7–11 wiederum im Horizont der in 5,13–16 vorgebrachten Aufgabe der Jünger, kann man speziell an Gebete um positive Aufnahme ihrer Botschaft bzw. Hilfe in den mit der Mission verbundenen Bedrängnissen denken. 7,1–11 im Ganzen wäre dann nicht bloß ein thematisch bunter Appendix zu den großen thematischen Blöcken 5,17–48; 6,1–18; 6,19–34 im Korpus der Bergpredigt, sondern es ließe sich in diesen Versen ein thematischer Faden entdecken: Matthäus nimmt abschließend die konkrete Begegnung der Jünger mit den Menschen in den Blick, für die sie Salz und Licht sein sollen (vgl. Burchard, Versuch, 47–49). Deutet man so, wird zudem verständlich, warum 7,7–11 nicht schon im Zusammenhang mit dem Vaterunser eingefügt wurde. II 4.3.6 Der Schlussrahmen: Die Goldene Regel als Summe von Gesetz und Propheten (7,12) 12 Alles nun, was ihr wollt, dass die Menschen euch tun, so tut auch ihr ihnen, denn dies ist das Gesetz und die Propheten. Matthäus hat die in Q (vgl. Lk 6,31) wohl im Zusammenhang mit dem Feindesliebegebot (Lk 6,27–35) vorgefundene Goldene Regel direkt vor den eschatologischen Schlusspassus (7,13–27) platziert, durch den von ihm in V. 12b angefügten Kommentar, dass dies das Gesetz und die Propheten sei (vgl. bShab 31a), einen Bogen zu 5,17 geschlagen und so das Korpus der Bergpredigt durch Aussagen über das Gesetz und die Propheten gerahmt. Die Goldene Regel ist in der griechisch-römischen Antike (inkl. des Frühjudentums) in vielfältigen Varianten verbreitet. Formal kann man zwischen einer negativen Formulierung (z. B. Philo, Hyp [bei Eusebius, PraepEv VIII] 7,6: Was jemand nicht erleiden möchte, tue er nicht anderen.) und einer positiven wie in Mt 7,12 unterscheiden. Eine Differenz zwischen beiden besteht insofern, als bei der negativen Form der Ton auf der Unterlassung von schädigendem Verhalten liegt, während die positive Formulierung aktive Zuwendung einschließt und dabei auch initiatives Handeln erfordert. Durch ihre allgemeingültige Fassung hebt sich die positive Form der Goldenen Regel in Mt 7,12; Lk 6,31 insofern von verwandten vorchristlichen Belegen ab, als sich bei der positiven Form ansonsten eine Konzentration auf bestimmte Lebensbereiche beobachten lässt, namentlich auf die Bereiche des Familienethos (Isokrates, Or 1,14; Diogenes Laertios, VitPhil 1,37), des Freundschaftsethos (Diogenes Laertios, VitPhil 5,21) sowie des Herrschaftsethos (Isokrates, Or 2,24; 3,49; 4,81; EpArist 207); nur die negative Form begegnet vorchristlich auch als grundsätzlich gefasste Maxime (Isokrates, Or 3,61; Tob 4,15; Philo [s. o.], vgl. Theißen, Goldene Regel).

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Für die Interpretation von Mt 7,12 (und Lk 6,31) ist die Einsicht von zentraler Bedeutung, dass die Goldene Regel in der hier begegnenden Fassung weder dem Vergeltungs- noch dem Reziprozitätsdenken verhaftet ist; es geht weder darum, eine erwiesene Wohltat zu erwidern (anders z. B. Xenophon, Cyr 6,1,47), noch darum, eine Wohltat in der Erwartung zu erweisen, sie anschließend auch vom anderen zu empfangen (anders z. B. Seneca, EpMor 94,43 [= Publilius Syrus, Sent 2]). Der Kerngedanke ist vielmehr allein, das vom anderen erhoffte Verhalten zum Maßstab des eigenen Handelns zu machen: Unabhängig davon, wie der andere sich tatsächlich verhält bzw. verhalten hat, soll man alles, von dem man will, dass man es von anderen erfährt, auch ihnen zukommen lassen. Im mt Kontext ist das „Wollen“ dabei nicht der individuellen Willkür unterstellt, wie schon der Plural „was ihr wollt“ deutlich macht. Der in diesem Plural vorausgesetzte moralische Konsens wird von Matthäus zum einen durch den angehängten Verweis auf Gesetz und Propheten bestimmt, zum anderen durch die voranstehende ethische Unterweisung Jesu, die ihrerseits durch die Rahmung des Korpus der Bergpredigt in 5,17; 7,12 auf die Willenskundgabe Gottes in Tora und Propheten bezogen wird. Der für Q anzunehmende Zusammenhang der Goldenen Regel mit dem Feindesliebegebot ist demnach bei Matthäus nicht aufgelöst, sondern um das übrige Unterweisungsgut in 5,21–7,11 erweitert. Der Zusammenhang von Goldener Regel und Liebesgebot (vgl. [Sir 31,15]; TPsJ zu Lev 19,18; Did 1,2) und damit die materialethische Explikation der in der Goldenen Regel anvisierten Handlungsperspektive durch die von Matthäus radikal interpretierte Liebesforderung wird im Gesamtkontext des Mt noch dadurch unterstrichen, dass neben der Goldenen Regel auch das Doppelgebot der Liebe als Zusammenfassung von Gesetz und Propheten ausgewiesen wird (22,40). Als Schlusspunkt des Korpus der Bergpredigt taucht die Goldene Regel die voranstehenden anspruchsvollen Unterweisungen in das Licht der ihr eigenen inneren Evidenz und fungiert so als Beitrag zu deren Plausibilisierung: Die hier entwickelten Handlungsperspektiven formulieren im Grunde „nur“ das, was man auch von seinen Mitmenschen (inklusive des „Feindes“) erhofft. Man selbst möchte auch nicht von anderen im Zorn beleidigt werden (vgl. 5,22), sich auf das Wort anderer verlassen können (5,37), in Notlagen Almosen (5,42, vgl. 6,1–4.20) oder anderweitige Hilfe empfangen und von anderen nicht lieblos von oben herab „gerichtet“ werden (7,1–5). Die in 7,12 vorliegende positive Form der Goldenen Regel setzt dabei, da sie als allgemein gültiger Grundsatz auch auf asymmetrische Konstellationen zu beziehen ist, eine entwickelte Fähigkeit zur Empathie voraus. Denn sie erfordert das Vermögen, von der eigenen Lebenssituation abstrahieren und sich vorstellen zu können, wie man behandelt werden möchte, wenn man in der Situation des anderen wäre – auch dann, wenn man es für ganz und gar unwahrscheinlich erachten mag, in die Situation des anderen zu gelangen.

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II 4.4 Schlussmahnungen (7,13–27) Im Schlusspassus der Bergpredigt, in dem sich mit V. 13f, V. 15–23 und V. 24–27 drei Unterabschnitte abgrenzen lassen, schärft Matthäus nachdrücklich die soteriologische Bedeutung des zuvor inhaltlich entfalteten ethischen Wandels ein, die in den Seligpreisungen (5,3–12) bereits anklang und auch im Korpus der Bergpredigt verschiedentlich zum Ausdruck kam (5,19f; 6,2.4; 7,1f u. ö.). Matthäus hat dazu zwei Q-Passagen zusammenkomponiert: den Schluss der Feldrede in Q 6,43–45.46.47–49 (= Mt 7,15–20.21.24–27) und die eschatologische Paränese in Q 13,23 f.25–27 (= Mt 7,13 f.22f). Der Ausblick auf das eschatologische Ergehen ist charakteristisch für den Schluss der fünf großen Redekompositionen des Evangeliums (vgl. z. B. 10,41f; 13,49f; 18,34f; 24,42–25,46). Überhaupt spielt der Gerichtsgedanke im Mt eine erheblich größere Rolle als im Mk. Dieser Bedeutungsgewinn des Gerichtsgedankens korrespondiert der Betonung der Handlungsdimension christlicher Existenz im gesamten Evangelium. II 4.4.1 Das enge und das weite Tor (7,13f) 13 Geht hinein durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und breit der Weg, der ins Verderben führt, und viele sind, die durch es hineingehen. 14 Wie eng ist das Tor und mühselig der Weg, der ins Leben führt, und wenige sind, die es finden. Die Übereinstimmung von Mt 7,13f mit Lk 13,23f ist marginal. Wahrscheinlich hat Matthäus in Q nur die Mahnung vorgefunden, durch das enge Tor einzugehen, und diese zum einen durch die Gegenüberstellung mit dem weiten Tor ausgebaut (vgl. TestAbr B 8,3–16 [die Parallele in TestAbr A 11 steht deutlich unter dem Einfluss von Mt 7,13f]), zum anderen um die Metapher von den zwei Wegen erweitert, die nicht nur im biblischen Traditionsraum im paränetischen Zusammenhang verbreitet (Jer 21,8; Ps 1,6; 1Hen 91,18f; 2Hen 30,15; Philo, SpecLeg 4,180; Did 1–6; Barn 18–20 u. ö.), sondern auch sonst in der griechisch-römischen Antike geläufig ist (s. z. B. Xenophon, Mem 2,1,20–34; Cicero, Off 1,117f). Weg und Tor dürften dabei so einander zuzuordnen sein, dass das Tor am Ende des Weges steht. Mit der Mahnung, durch das enge Tor zu gehen, lenkt Matthäus programmatisch zum Leitaspekt des Schlussabschnitts über: Im Zentrum steht nun die Frage des Zugangs zum Himmelreich, für den 5,20 die „bessere Gerechtigkeit“ als Bedingung vorgebracht hat. Die Beschreibung des Tores als „eng“ nimmt vorweg, dass nur wenige durch es hindurchgehen

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werden (V. 14). Zugleich dürfte darin impliziert sein, dass es nicht leicht ist, durch das Tor hindurchzukommen, was sich wiederum zum hohen ethischen Anspruch der mt Gerechtigkeitsforderung fügt. Zur Erläuterung der Mahnung lässt Matthäus zunächst einen Verweis auf die negative Alternative folgen. Im Kontrast zur dargelegten Konnotation des engen Tores kann man beim breiten Weg und weiten Tor das Moment des bequemen Mitschwimmens mit der Masse assoziieren. Am Ende aber steht das Verderben. Schwierig ist in V. 14 das Verständnis der Kennzeichnung des zum engen Tor führenden Weges. Das oben mit „mühselig“ übersetzte griechische Partizip (tethlimmene) könnte auch mit „eng“ – in dem Sinn von „beengt“ (das zugrunde liegende Verb thlibein bedeutet „drücken, drängen, einengen, bedrängen, quälen“) – wiedergegeben werden, doch fügt sich dies schlecht zu der Aussage, dass nur wenige auf dem Weg gehen. Vorzuziehen ist daher, von der Wortbedeutung „bedrängen, quälen“ auszugehen und hier die Bedrängnis der Jünger angesprochen zu sehen (vgl. 13,21; 24,9.21.29, wo im Griechischen das zugehörige Nomen thlipsis begegnet), die nach 5,10–12 daraus erwächst, dass sie auf dem „Weg der Gerechtigkeit“ (vgl. 21,32) gehen. Zum Einsatz, den das Streben nach Gerechtigkeit erfordert, tritt die äußere Bedrängnis. Die Motive, dass nur wenige auf dem mühsamen Pfad der Tugend wandeln (z. B. Philo, Agr 104; Kebes, Tab 15,2) bzw. nur wenige ins Heil eingehen (z. B. 4Esra 7,47–61; 8,1; 2Bar 44,15; TestAbr B 8,15f), sind durchaus geläufig. Für die Gemeinde impliziert die Rede von „wenigen“ eine Vergewisserung: Sie müssen sich von ihrer Minderheitensituation keineswegs irritieren lassen, sondern sollten umso mehr angespornt sein, zu den wenigen zu gehören. Dass dies nach Matthäus auch für die Christusgläubigen kein Selbstläufer ist, machen die nachfolgenden Verse unmissverständlich deutlich (vgl. auch 22,14). II 4.4.2 Warnung vor den falschen Propheten (7,15–23) 15 Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Gewändern von Schafen zu euch kommen! Inwendig aber sind sie reißende Wölfe. 16 An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen! Sammelt man etwa von Dornengewächsen Trauben oder von Disteln Feigen? 17 So bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber der faule Baum bringt böse Früchte. 18 Ein guter Baum kann nicht böse Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. 19 Jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. 20 Folglich: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. 21 Nicht jeder, der zu mir sagt: ‚Herr, Herr!‘, wird in das Himmelreich hineingehen, sondern der, der den Willen meines Vaters in den Him-

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meln tut. 22 Viele werden an jenem Tage zu mir sagen: ‚Herr, Herr! Haben wir nicht in deinem Namen als Propheten geredet und in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und in deinem Namen viele Machttaten vollbracht?‘ 23 Und dann werde ich ihnen bekennen: ‚Ich habe euch nie gekannt. Weicht von mir, die ihr die Gesetzlosigkeit verübt!‘ Matthäus hat in V. 15–23 aus unterschiedlichen Q-Passagen (vgl. Lk 6,43–45.46; 13,25–27) eine zusammenhängende Einheit geschaffen, indem er das rezipierte Traditionsgut stark bearbeitet und durch die Voranstellung der ganz aus seiner Feder stammenden Warnung vor den Falschpropheten in V. 15 thematisch neu ausgerichtet hat. Nach der Gegenüberstellung der beiden Wege und Tore in V. 13f macht V. 15–23 deutlich, dass das Verderben, dem die „Vielen“ auf dem breiten Weg entgegengehen, nicht nur auf die Außenstehenden zukommt, sondern auch auf die, die Jesus zwar als ihren Herrn bekennen, aber nicht den Willen Gottes befolgen (V. 21) – auch in diesem Zusammenhang ist wieder von „vielen“ die Rede (V. 22). Der Ausblick auf das Endgericht wird bei Matthäus also nicht nur gegen die Außenstehenden gewendet, sondern auch paränetisch nach innen gerichtet. Wenn die Jesusnachfolger durch das enge Tor zum Leben eingehen wol- 15–20 len, müssen sie sich vor der Verführung durch Falschpropheten (vgl. 24,11.24) in Acht nehmen. Die metaphorische Rede von reißenden Wölfen (vgl. Apg 20,29; Did 16,3), die in Schafskleidern daherkommen und sich damit als zur „Herde“ der Gemeinde (10,16; 18,12–14; 26,31) gehörend darstellen, stellt in scharfer Weise die Diskrepanz zwischen ihrem freundlichen Auftreten und der von ihnen ausgehenden Gefahr heraus. Der Kontrast zwischen der äußeren Erscheinung und dem Inneren von Menschen begegnet anderorts im Mt im Kontext der Polemik gegen die Pharisäer (s. bes. 23,27f). Diese sind zudem bei der erneuten Rede von den „Wölfen“ in 10,16 zumindest mit im Blick. Ferner begegnet das Bildwort vom Baum und seiner Frucht noch einmal in 12,33–35 im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Pharisäern. Im Licht von 7,21–23, wo mit der Erwähnung prophetischer Rede (V. 22) der Zusammenhang mit V. 15 hergestellt wird, geht es bei den Falschpropheten in 7,15 aber um Christusgläubige. Die Parallelen zur Auseinandersetzung mit den Pharisäern kann man als Hinweis darauf verstehen, dass Matthäus die von den Falschpropheten ausgehende Gefahr analog zu den Pharisäern sieht. Die Wendung „die … zu euch kommen“ legt nahe, dass sie nicht aus der Gemeinde selbst stammen, sondern von außen eindringen (vgl. 10,41). Die Zusammenfügung von prophetischer Rede mit Dämonenaustreibungen und Machttaten in V. 22 lässt daran denken, dass sich die Propheten durch Letztere auszeichneten. Als Kriterium für die Beurteilung von Propheten (vgl. dazu Did 11,3–13,7) reichen diese aber nicht; Matthäus hebt vielmehr

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allein auf ihre „Früchte“ ab (V. 16). Gemeint sind damit nicht die positiven oder negativen Auswirkungen ihres Auftretens in der Gemeinde, sondern ihre eigenen Werke (vgl. Mt 3,8.10), wie im engeren Kontext nicht nur wiederum durch 7,21–23 erwiesen, sondern auch bereits dadurch nahegelegt wird, dass Matthäus in dem Bildwort V. 17f die ethischen Wertungsbegriffe „gut“ und „böse“ verwendet (in Q dürfte durchgehend von „schönen/guten“ und „faulen“ Früchten die Rede gewesen sein, vgl. Lk 6,43 und Mt 12,33). Da Matthäus in den Falschpropheten eine schwere Gefahr für die Gemeinde erblickt (V. 15), liegt die Vermutung nahe, dass das ethische Defizit, das Matthäus auf der Grundlage seiner eigenen torabezogenen Ethik meint diagnostizieren zu können, nicht bloß auf Charakterschwäche beruht, sondern mit einer für Matthäus fragwürdigen Lehre einhergeht. Matthäus geht auf ihre Lehre aber nicht ausdrücklich ein. Er muss dies auch nicht, da seine Adressaten wohl gewusst haben, wer im Blick ist. Für spätere Leser macht es diese Sachlage aber schwierig, Näheres über die Falschpropheten zu sagen. Zieht man – angesichts des Vorwurfs der Gesetzlosigkeit in 7,23 – 5,17 hinzu, kann man vermuten, dass die Stellung zur Tora ein gewichtiger Differenzpunkt war. Da Matthäus das Mk in dieser Hinsicht offenbar als defizitär wertete (vgl. in der Einleitung unter 4.), kann man diejenigen, die das Mk im mt Umfeld bekannt machten, in 7,15 eingeschlossen sehen, doch ist die Warnung kaum auf sie zu beschränken. Schon gar nicht wird man sich durch die kontrastive Berührung von 7,21 mit Röm 10,9, wonach der, der Jesus als Herrn bekennt (vgl. 1Kor 12,3), gerettet werden wird, zu der Annahme einer spezifisch antipaulinischen Front verleiten lassen dürfen, zumal Paulus in Röm 10,9 auf Traditionsgut rekurriert. Anders als beim Mk gibt es jedenfalls keinen stichhaltigen Hinweis darauf, dass Paulus zur Zeit der Abfassung des Mt im mt Gemeindeumfeld eine relevante Größe war. Dabei ist grundlegend zu bedenken, dass die im NT gesammelten Texte nur einen sehr fragmentarischen Einblick auf die Details der frühchristlichen Entwicklungsgeschichte erlauben und vieles im Dunkeln bleibt. Im Blick auf die Identifizierung der Falschpropheten ist entsprechend Zurückhaltung geboten. Eine präzise Näherbestimmung ist angesichts der Datenlage im Grunde aussichtslos.

Klar ist hingegen, dass sich Propheten für Matthäus durch ihr tadelloses Verhalten als wahre Propheten ausweisen müssen. Das Motiv des Erkennens anhand der Früchte ist in Lk 6,44a Teil des Bildwortes („jeden Baum erkennt man an seiner Frucht“), was, wie Mt 12,33 bestätigt, der Q-Vorlage entspricht. Matthäus hat den Satz nicht nur umgestaltet (die Falschpropheten sollen an ihren Früchten erkannt werden), sondern auch vorgezogen und schafft so den Übergang von der von ihm gestalteten Mahnung in V. 15 zum Bildwort vom Baum und seiner Frucht. Zudem nimmt er V. 16a in V. 20 noch einmal bekräftigend auf, so dass sich eine Rahmung um das Bildwort vom Baum und seinen Früchten ergibt, das in Mt 7 also dazu dient, das Beurteilungskriterium für Propheten zu illustrie-

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ren. Den Schluss der Q-Passage (vgl. Lk 6,45) hat Matthäus hier – anders als in 12,33–35 – weggelassen, weil der Vers nicht zu der mit 7,15 gesetzten thematischen Ausrichtung passt. Im Zuge der Voranstellung von Q 6,44a hat Matthäus auch die rhetorischen Fragen aus Q 6,44b vorgezogen: Natürlich kann man von Dornengewächsen keine Trauben und von Disteln keine Feigen sammeln (vgl. Jak 3,12; Theognis 1,537; Seneca, De ira 2,10,6). Durch die Textumstellung erscheint V. 17 bei Matthäus als aus den Beispielen gefolgerter Grundsatz, dessen Allgemeingültigkeit der Evangelist durch die Einfügung von „jeder“ unterstrichen hat. Anders als Lk 6,43 (= Q) formuliert Matthäus den Grundsatz zunächst als positives Entsprechungsverhältnis von Baum und Frucht: Jeder gute Baum bringt gute Früchte, jeder verdorbene Baum aber böse Früchte. Der Plural „Früchte“ erleichtert die Anwendung auf die menschlichen Taten. V. 18 bekräftigt den Grundsatz dann, indem eine Ausnahme von der Grundregel ausgeschlossen wird: Ein guter Baum kann keine bösen Früchte bringen, und umgekehrt ein verdorbener Baum auch keine guten Früchte. V. 19, der wörtlich das Ende der Täuferpredigt in 3,10b aufnimmt, lässt das Bild zum Gerichtsgedanken übergleiten: Wie ein Baum, der keine gute Frucht trägt, abgehauen und ins Feuer geworfen wird, so gehen Menschen, die keine guten Werke aufzuweisen haben, dem Verderben entgegen (vgl. Jak 2,14–26). Diese düstere Perspektive gilt im Kontext zunächst den Falschpropheten, an zweiter Stelle aber auch denen, die – unter dem Einfluss ihres schlechten Vorbildes – meinen, das von Jesus gebotene Tun vernachlässigen und der Mühsal, die mit dem zum engen Tor führenden Weg verbunden ist (7,13f), ausweichen zu können. V. 21 unterstreicht dies, denn der Vers wird in V. 22f zwar auch im Blick 21 auf die Falschpropheten konkretisiert, geht mit seiner grundsätzlichen Formulierung aber nicht in diesem Bezug auf. Die Berührung mit der Parallele in Lk 6,46 beschränkt sich auf den Kerngedanken, dass bloßes „Herr, Herr“-Sagen nichtig ist, wenn es an entsprechenden Taten mangelt. Wiederum dürfte Matthäus den Q-Text signifikant verändert haben. Die Rede vom Eingehen in das Himmelreich, mit der das Q-Logion explizit auf die Heilsfrage bezogen wird, entspricht ebenso mt Diktion (vgl. z. B. 5,20) wie die vom Tun des Willens des Vaters (vgl. 12,50; 21,31 sowie auch 6,10), das – ganz auf der Linie von 5,20 – als das entscheidende soteriologische Kriterium vorgebracht wird. Ähnlich wie Mt 7,21 stellt Jak 2,19 pointiert die soteriologische Insuffizienz eines bloßen Bekenntnisglaubens, der nicht mit Werken einhergeht, heraus. Indem Matthäus in V. 22 22–23 das doppelte „Herr, Herr“ wiederholt, erscheint V. 22f im Kontext als eine exemplarische Illustration des Grundsatzes von V. 21, die diesen – durch die Erwähnung der prophetischen Rede (V. 22) – an die Warnung vor den Falschpropheten anbindet. Mit dem Q-Text ist Matthäus dabei wiederum recht frei umgegangen (vgl. Lk 13,25–27). Der eschatologische Horizont,

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der durch V. 19 eingeführt und durch die Rede vom Eingehen in das Himmelreich in V. 21 bekräftigt wurde, bleibt bestimmend, doch wird nun konkret der Vorgang des Gerichts in den Blick genommen: An jenem Tag, also am Tag des Gerichts, werden viele, denen der Zugang ins Himmelreich verwehrt wurde, gegen das gegen sie ergangene Urteil geltend machen, dass sie in Jesu Namen prophetisch geredet (möglicherweise spielt Matthäus auf Jer 14,14 bzw. 27,15 [= 34,15 LXX] an), Dämonen ausgetrieben und viele Machttaten vollbracht haben. In der lk Parallele ist an dieser Stelle vom Essen und Trinken vor Jesus und dem Hören seiner Lehre die Rede (Lk 13,26). Die Trias in Mt 7,22 dürfte auf Matthäus zurückgehen, der damit den Zusammenhang mit V. 15 herstellt. Trotz ihres Wirkens im Namen Jesu wird Jesus sie in seiner Funktion als Weltenrichter (vgl. 25,31–46) schroff abweisen und die von ihnen in Anspruch genommene Verbundenheit mit ihm („in deinem Namen“) verneinen: „Ich habe euch nie gekannt“ (vgl. 25,12). Der Grund für diese Ablehnung ist ihre Gesetzlosigkeit. Matthäus hat den Schluss an Ps 6,9 LXX angeglichen, er untermauert den Geltungsanspruch seiner Position also mit der Schrift. Der Bezug auf das Gesetz ist für Matthäus zentral (Lk 13,27 spricht hingegen von denen, die „Unrecht“ tun). Von „Gesetzlosigkeit“ ist in den Evangelien nur bei Mt die Rede (s. noch 13,41; 23,28; 24,12). In 7,23 muss man nicht an schwere Vergehen denken; „Gesetzlosigkeit“ liegt auch dann vor, wenn jemand sich nicht an die von Jesus in ihrem Vollsinn erschlossene Tora hält. 24,12 verbindet das Überhandnehmen der Gesetzlosigkeit mit dem Erkalten der Liebe, mit der sich nach 22,40 die Tora zusammenfassen lässt. 7,22f ist nicht gegen die Prophetie (vgl. vielmehr 5,12; 10,41; 23,34) oder Wundertätigkeit an sich gerichtet (vgl. 10,1), relativiert sie aber in ihrer soteriologischen Bedeutsamkeit gegenüber dem Tun des Willens Gottes als nach Matthäus alles entscheidendem Kriterium. Mk 9,38–40 hat Matthäus konsequenterweise ausgelassen. II 4.4.3 Das Gleichnis vom Hausbau (7,24–27) 24 Jeder nun, der diese meine Worte hört und sie tut, wird einem klugen Mann gleichen, der sein Haus auf den Felsen baute. 25 Und der Platzregen fiel herab, und die Ströme kamen, und die Winde bliesen, und sie stießen gegen jenes Haus; und es stürzte nicht zusammen, denn es war auf den Felsen gegründet. 26 Und jeder, der diese meine Worte hört und sie nicht tut, wird einem törichten Mann gleichen, der sein Haus auf den Sand baute. 27 Und der Platzregen fiel herab, und die Ströme kamen, und die Winde bliesen, und sie prallten an jenes Haus; und es stürzte zusammen, und sein Sturz war groß.“

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Mit dem Gleichnis vom Hausbau, das schon in Q die Grundrede abschloss (vgl. Lk 6,47–49), wird die fundamentale Bedeutung des Tuns am Ende der Bergpredigt ebenso eindringlich wie einprägsam unterstrichen. Die Ausgestaltung des Bildes weist bei Matthäus und Lukas deutliche Differenzen auf. Lukas unterscheidet, ob beim Hausbau die Erde ausgehoben und das Fundament auf Fels gesetzt wird oder das Haus einfach auf die Erde gebaut wird; die Gefahr geht von einem reißenden Fluss bei Hochwasser aus. Matthäus hingegen führt nicht verschiedene Bautechniken an, sondern unterschiedliche Standorte: Ein Haus wird auf Sand oder auf Felsen errichtet. Ferner spricht er von Regen, einem (in einem Wadi dadurch entstehenden) Fluss und Wind. Anders als bei Lukas sind die beiden Hälften des Gleichnisses bei Matthäus streng parallel gebaut. „Diese meine Worte“ bezieht sich auf die gesamte vorangehende Unterweisung Jesu seit 5,3 zurück (vgl. „diese Worte“ in V. 28). An deren Ende schärft Jesus ein, dass es nicht genügt, sie nur wohlwollend zu hören. Entscheidend ist, dass man das Gehörte im Anschluss auch tatsächlich zum Maßstab des eigenen Handelns macht und ein entsprechendes Tun folgt (vgl. Jer 11,4–6; Ez 33,31f; Sir 3,1; TestHiob 4,2; Jak 1,22–25 sowie auch Röm 2,13). Das Unwetter steht sinnbildlich für das Gerichtsgeschehen (vgl. Jes 28,2; Ez 13,11 u. ö.), Bestand bzw. Einsturz des Hauses entsprechend für das Ergehen im Endgericht. Diesem Bezug korrespondiert die Wahl des Futurs „wird gleichen“ in V. 24.26 (vgl. 25,1): Im Endgericht wird sich zeigen, dass der, der Jesu Worte nur hört, mit einem törichten Menschen zu vergleichen ist, während der, der sie hört und tut, einem klugen Menschen gleichen wird. Jesus erhebt also die Befolgung seiner eigenen Unterweisung zu dem Kriterium, das über Heil oder Unheil entscheidet (vgl. 10,32f), so wie zuvor das Tun des Willens des Vaters als entscheidendes Moment vorgetragen wurde (7,21–23). Für Matthäus tritt dieser Anspruch Jesu nicht in Konkurrenz zur Tora, denn Jesu Unterweisung ist der Tora und den Propheten im Sinne der Entfaltung des in ihnen zum Ausdruck kommenden Gotteswillens zugeordnet. Die – von Matthäus stammende, weisheitliches Kolorit (s. z. B. Sir 21,11–28) eintragende – Kennzeichnung der Hausbauer als „klug“ und „töricht“ (vgl. wiederum 25,1–13) ist im Sinne des Vergleichs auch auf die zu beziehen, die nur hören bzw. hören und entsprechend handeln: Wer im Blick hat, dass im Endgericht das Tun des Gotteswillens den Ausschlag gibt, erweist sich als verständig (vgl. Lk 16,8f); sein „Haus“ hat Bestand (vgl. Spr 12,7; 14,11). Wer hingegen meint, beim Hören verharren zu können, statt die eigene Lebenspraxis durch das Gehörte bestimmt sein zu lassen, ist ein Tor. Der negative Fall steht am Ende und trägt so den Ton. Die Bergpredigt endet mit einer deutlichen Warnung: Der Einsturz des Hauses war groß. Die Hörer der Bergpredigt sollten alles tun, um ein solch katastrophales

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Ende ihres Lebens zu verhindern. Dass sie Acht geben, auf das enge Tor zuzusteuern (7,13f), ist dabei nicht nur für sie selbst von Gewicht: Als „Salz der Erde“ dürfen sie nicht „dumm, töricht“ werden; vielmehr soll ihr Tun der Worte Jesu andere anziehen und auch diese zum Lobpreis des himmlischen Vaters führen (5,16). II 4.5 Der erzählerische Schlussrahmen (7,28f) 28 Und es geschah, als er diese Worte beendet hatte, da gerieten die Volksmengen außer sich über seine Lehre. 29 Denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten. Die Wendung „und es geschah, als Jesus … beendet hatte“ (V. 28a) verwendet Matthäus nach allen fünf großen Reden (vgl. 11,1; 13,53; 19,1; 26,1), die damit von anderen Reden abgehoben werden. Die Wendung dürfte zum einen durch Q inspiriert sein (vgl. Lk 7,1), zum anderen ist aber auch auf den möglichen Einfluss atl. Analogien zu verweisen (z. B. Dtn 31,1 LXX .24; 32,45). Matthäus leitet mit der Wendung in 7,28 aber nicht sogleich zur nachfolgenden Erzählung über, sondern schildert zunächst die Reaktion auf die Bergpredigt, was wiederum Mt 5–7 von den übrigen großen Reden unterscheidet. 7,28b.29 nimmt den Markusfaden wieder auf (Mk 1,22), doch geht die explizite Nennung der Volksmengen in V. 28 auf Matthäus zurück, der damit auf den Anfangsrahmen der Bergpredigt in 4,25–5,2 zurücklenkt: Die großen Volksmengen, die aus ganz Israel (4,25) zu Jesus gekommen sind und bereits seine heilende Zuwendung erfahren haben (4,24), geraten nun außer sich über Jesu Lehre, die sie – nach 5,1f „in zweiter Reihe“ – mit angehört haben. Im Licht von V. 29 ist es evident, dass ein Überwältigtsein und Erstaunen im positiven Sinn gemeint ist (vgl. 22,33). Denn nach V. 29 erkennen die Volksmengen in der Lehre Jesu etwas Besonderes, was ihn von den ihnen bekannten Schriftgelehrten abhebt: Er lehrt sie mit Vollmacht. Insbesondere dürfte hier an das autoritative „ich aber sage euch“ der Antithesen zu denken sein. Jesu Vollmacht ist ein wichtiges christologisches Motiv des Mt (9,6; 21,23.24.27, s. auch 8,9; 9,8; 10,1), das in dem Wort des Auferstandenen in 28,18 kulminiert. Die Volksmengen sind hier also auf einem guten Weg der christologischen Erkenntnis (vgl. 9,33; 12,23; 21,9). Entsprechend bleiben sie in seinem Gefolge (8,1, vgl. 4,25), da er vom Berg herabsteigt.

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II 5 Jesu vollmächtiges Handeln (8,1–9,34) Während die exemplarische Präsentation der vollmächtigen Lehre Jesu in Mt 5–7 aus Q-Stoff und Sondergut komponiert ist, basiert die in Mt 8–9 folgende Darlegung seines vollmächtigen Handelns mit wenigen Ausnahmen (8,5–13.19–22; 9,32–34) auf Mk. Anders als ab Mt 12,1 weicht Matthäus hier in auffälliger Weise von der mk Perikopenreihenfolge ab: Er nimmt zuerst Mk 1,40–45 auf, um dann, nachdem er in 8,5–13 noch einen Q-Text eingefügt hat, in 8,14f auf Mk 1,29–31 zurückzugehen. Der im Mk an 1,40–45 anschließende Passus 2,1–22 folgt erst in 9,2–17. Zuvor fügt Matthäus noch in 8,18–9,1 mit Mk 4,35–5,20 den ersten Teil des Wunderzyklus in Mk 4,35–5,43 ein, dessen zweiten Teil (Mk 5,21–43) er in 9,18–26 verarbeitet. Am Ende der Einheit, in 9,27–31.32–34, dupliziert Matthäus Texte, die er später noch einmal bringt (20,29–34; 12,22–24). Matthäus hat hier also relativ frei gestaltet, was nach der Absicht seines kompositionellen Arrangements fragen lässt. Grundlegend zu beachten ist dabei, dass Mt 8–9 keineswegs allein eine Zusammenstellung von Wundergeschichten darstellt, die das letzte Glied von 4,23 illustrieren. In 9,9–13.14–17 begegnet gar kein Wunder, und auch in 9,2–8 steht nicht die Heilung im Zentrum, sondern die Sündenvergebung. Nicht zuletzt die Einfügung der Nachfolgesprüche in 8,19–22 gibt zu erkennen, dass Matthäus mehr intendiert, als einen Wunderzyklus zu bieten. Es ist daher für Mt 8–9 umfassender vom vollmächtigen Handeln Jesu statt allein von seinem heilenden Wirken zu reden. Zudem deutet sich mit 8,19–22 exemplarisch an, dass bei der Auslegung auf die ekklesiologischen Implikate der Präsentation des Handelns Jesu in 8,1–9,34 zu achten sein wird (vgl. in der Einleitung unter 2.2). – Die Komposition lässt sich mit 8,1–17; 8,18–9,1; 9,2–17 und 9,18–34 in vier größere Unterabschnitte untergliedern. Die Erläuterung dieser Gliederung ist der nachfolgenden Auslegung vorbehalten. II 5.1 Jesu heilendes Wirken (8,1–17) Durch das Summarium und das nachfolgende Erfüllungszitat in 8,16f ist 8,1–17 deutlich als ein erster Unterabschnitt erkennbar. Die drei Heilungsgeschichten in 8,1–4.5–13.14f sind geographisch dem Weg Jesu vom Berg der Lehre in das Haus des Petrus in Kafarnaum zugeordnet; alle drei Perikopen beginnen mit einem Verb der Bewegung und einer Ortsangabe: Jesus steigt vom Berg herab (V. 1), kommt nach Kafarnaum hinein (V. 5) und geht schließlich in das Haus des Petrus (V. 14). Ausweislich Lk 7,1–10 folgte die Heilung des Sohnes des Hauptmanns in Q direkt auf die Unterweisung in Q 6,20–49. Der Gang nach Kafarnaum nach der Lehre war

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also in Q vorgegeben. Die Heilung von Petrus’ Schwiegermutter, die in Mk 1,29–31 direkt auf den – bei Matthäus durch die Bergpredigt ersetzten – Besuch der Synagoge in Kafarnaum folgt (Mk 1,21–28), konnte daran passend angefügt werden. Die Heilung des Aussätzigen (Mk 1,40–45) wird vorgezogen, denn sie eignete sich als Episode auf dem Weg, da Aussätzige außerhalb von Ortschaften zu erwarten sind (vgl. Lev 13,46; Num 5,2f; 2Kön 7,3; Josephus, Ant 3,261). Blickt man auf die ekklesiologische Sinndimension des Passus, so verweist die Zusammenstellung von Heilungen eines durch seine Krankheit sozial ausgegrenzten Aussätzigen, eines Nichtjuden und einer in der patriarchalen Gesellschaft benachteiligten Frau paradigmatisch auf die sozial integrative Kraft und Gestalt der Gemeinde. II 5.1.1 Die Heilung eines Aussätzigen (8,1–4) 1 Als er aber von dem Berg herabgestiegen war, folgten ihm große Volksmengen (nach). 2 Und siehe, ein Aussätziger trat hinzu und fiel vor ihm nieder und sagte: „Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen.“ 3 Und er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: „Ich will. Werde rein!“ Und sogleich wurde sein Aussatz rein. 4 Und Jesus sagt zu ihm: „Sieh zu, sage es niemandem; sondern geh hin, zeige dich dem Priester, und bring die Opfergabe dar, die Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis!“ Mt 8,2–4 basiert auf Mk 1,40–45, doch hat Matthäus den Wortbestand der Vorlage um fast die Hälfte gekürzt. Mk 1,43 und 1,45 wurden als (an dieser Stelle) unpassend (s. aber 9,30f) ganz übergangen. V. 1 ist als Überleitung von Matthäus selbst formuliert worden. Die Rede vom Abstieg vom Berg erinnert an Mose am Sinai (Ex 19,14; 1 32,15; 34,29). Die aus ganz Israel stammenden großen Volksmengen sind 2–3 weiterhin in Jesu Gefolge (vgl. zu 4,25), als ihm auf dem Weg nach Kafarnaum ein Aussätziger begegnet. Das Niederfallen (vgl. 2,11; 9,18; 15,25 u. ö.) und die – bei Matthäus von Jüngern und Hilfesuchenden gebrauchte – Anrede Jesu als „Herr“ bringen die Hoheit zum Ausdruck, die der Aussätzige Jesus zuschreibt. Dass er von der Vollmacht Jesu ausgeht, ihn heilen zu können (vgl. 9,28), nimmt dies ebenso auf wie das Moment, dass er die nur implizierte Bitte ehrfurchtsvoll unter den Vorbehalt „wenn du willst“ stellt. Erzähllogisch ist hier die in 4,24 erwähnte Verbreitung der Kunde von Jesus vorausgesetzt. Die Heilung geschieht unmittelbar auf Jesu Wort hin (vgl. V. 8.16). Im griechischen Text besteht Jesu Rede nur aus zwei Wörtern: Dem Heilungswort „werde rein“ geht ein die Worte des Aussätzigen aufnehmendes „ich will“ voraus, das nur hier im Mt in einem Heilungswort begegnet und in dieser ersten ausgeführten Heilungs-

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geschichte paradigmatisch den seiner messianischen Sendung entsprechenden Heilswillen Jesu zum Ausdruck bringt. Eine Aussätzigenheilung wird in 2Kön 5 von Elisa erzählt: Während dieser aber den aussätzigen Naaman sich siebenmal im Jordan waschen lässt, steht in Mt 8 das gebietende Wort Jesu im Zentrum. Das (aus Mk 1,44 übernommene) Schweigegebot in V. 4 ist bei Mat- 4 thäus funktional dem Befehl, sich dem Priester zu zeigen (vgl. Lk 17,14), zugeordnet: Dem Urteil des Priesters, der nach der Tora den Befall mit Aussatz (Lev 13) sowie die Heilung von diesem (Lev 14,3) festzustellen hat, soll der Geheilte nicht selbst vorgreifen, wenngleich der Ausgang der Prüfung durch den Priester nicht in Zweifel steht, wie der sogleich nachfolgende Befehl, das vorgeschriebene Opfer darzubringen (Lev 14,4–32), bekräftigt. Zusätzlich zur oben in der Einleitung zu 8,1–17 dargelegten geographischen Sequenz ist die Platzierung der Perikope direkt nach der Bergpredigt auch im Blick auf die Torathematik verständlich: 8,1–4 illustriert, dass Jesus Tora und Propheten in der Tat nicht auflöst, sondern auch das kleinste Iota beachtet (5,17f). „Ihnen zum Zeugnis“ ist hier positiv gefüllt: Diejenigen, die die Heilung konstatieren oder davon erfahren, erhalten damit ein Zeugnis nicht nur von der Vollmacht Jesu, sondern auch von seinem in 5,17f erhobenen Anspruch, Tora und Propheten nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen. II 5.1.2 Die Heilung des Sohnes des Hauptmanns von Kafarnaum (8,5–13) 5 Als er aber nach Kafarnaum hineinging, trat ein Hauptmann zu ihm und bat ihn 6 und sagte: „Herr, mein Sohn liegt gelähmt zu Hause, schrecklich gequält.“ 7 Und er sagt zu ihm: „Ich soll kommen und ihn heilen?“ 8 Und der Hauptmann antwortete und sprach: „Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach kommst. Aber sprich nur ein Wort, und mein Sohn wird gesund werden. 9 Denn auch ich bin ein Mensch unter Befehlsgewalt und habe Soldaten unter mir. Und sage ich diesem: ‚Geh hin!‘, so geht er hin; und einem anderen: ‚Komm!‘, so kommt er; und meinem Sklaven: ‚Tu dies!‘, so tut er es.“ 10 Als aber Jesus das hörte, wunderte er sich und sagte zu denen, die nachfolgten: „Amen, ich sage euch, bei niemandem habe ich so großen Glauben in Israel gefunden. 11 Ich sage euch aber: Viele werden von Osten und Westen kommen und sich mit Abraham und Isaak und Jakob zu Tisch legen im Himmelreich; 12 die Söhne des Reiches aber werden in die äußerste Finsternis hinausgeworfen werden; dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.“ 13 Und Jesus sagte zum Hauptmann: „Geh hin, dir geschehe, wie du geglaubt hast!“ Und der Sohn wurde in jener Stunde gesund.

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Die mt Version und die lk Rezeption der aus Q stammenden Erzählung weisen bis zum dialogischen Passus in Mt 8,8–10 par Lk 7,6b–9 erhebliche Divergenzen auf. Bei Matthäus kommt es sogleich zu einer direkten Begegnung des Hauptmanns mit Jesus; bei Lukas hingegen schickt jener zwei Gesandtschaften. Von ihnen ist die zweite sicher sekundär, da die direkte Rede in Mt 8,8f; Lk 7,6b–8 auf den Hauptmann als (ursprünglichen) Sprecher verweist. Ein hinreichend plausibles Urteil über die erste Gesandtschaft ist nicht möglich. Selbst dann aber, wenn diese erst von Lukas oder der vorlukanischen Tradition eingefügt worden sein sollte, legt die starke Prägung von Mt 8,5–7 durch mt Spracheigentümlichkeiten nahe, dass Matthäus seine Vorlage bearbeitet hat. Auf Matthäus geht zudem auf jeden Fall die Einfügung des Doppellogions in V. 11f zurück, das sich bei Lukas in einem anderen Zusammenhang findet (Lk 13,28f). Der Schluss in V. 13 ist analog zu Mt 15,28 gestaltet, womit Matthäus deutlich anzeigt, dass er die beiden Erzählungen, in denen Nichtjuden für ihr Kind bitten und ihnen am Ende jeweils, was ohne weitere Parallele im Mt ist, großer Glaube attestiert wird, als eng zusammengehörig verstanden wissen möchte. Die Worte des – wohl im Dienst von Herodes Antipas stehenden und 5–7 jedenfalls heidnischen – Hauptmanns, mit denen er auf die Lage seines Sohnes (wegen der Analogie zum Wortgebrauch in 17,[15.]18 schwerlich seines Knechtes, wie das griechische Wort pais auch übersetzt werden könnte) verweist (V. 6), werden in V. 5 zwar als eine Bitte gekennzeichnet, doch wird eine solche zumindest nicht explizit ausgesprochen. Stattdessen ergreift sogleich Jesus das Wort. Für das Verständnis des Textes ist die Einsicht zentral, dass es sich in V. 7 nicht um einen Aussagesatz handelt, der Jesu Bereitschaft signalisiert, mit ihm zu kommen. Vielmehr ist am Ende des Satzes ein Fragezeichen zu setzen (die frühen Handschriften enthalten keine Satzzeichen; diese basieren also auf Entscheidungen der modernen Herausgeber). Dafür spricht philologisch, dass in Jesu Reaktion das Personalpronomen der 1. Pers. Sg. hinzugesetzt ist, was im Griechischen nicht nötig ist und also eine Betonung anzeigt, die sich bei einem Fragesatz erheblich besser erschließt. Entscheidend aber ist, dass das Motiv der (anfänglichen) Zurückweisung des heidnischen Bittstellers auch in der Parallelperikope 15,21–28 begegnet und dort von Matthäus signifikant verstärkt wurde. Jesus reagiert also auf den Hauptmann mit einer Frage, die nicht nur Erstaunen, sondern auch Unwillen artikuliert, denn seine Sendung gilt „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (15,24, vgl. 2,6). Für den Hauptmann ist er (noch) nicht zuständig. Das Zurückweisungsmotiv begegnet nicht in der Lukasparallele (und auch nicht in der verwandten joh Erzählung in Joh 4,46–54). Sehr wahrscheinlich stand es nicht in Q, sondern ist von Matthäus im Sinne seiner Gesamtkonzeption, Jesu irdische Sendung auf Israel zu konzentrieren, eingefügt worden. Im Verbund mit der Einfügung des Zurückweisungsmotivs ist zu sehen, dass

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der Sohn bei Matthäus nicht wie in Lk 7,2 (und Joh 4,47) im Sterben liegt. Um der Ablehnung die bei Lebensgefahr ungleich größer erscheinende Härte zu nehmen, hat Matthäus die Krankheitsschilderung geändert, wobei die Rede von einem Gelähmten durch Mk 2,1–12, also dem Text, der in der Markusvorlage auf die Heilung des Aussätzigen (Mk 1,40–45 par Mt 8,1–4) folgt, beeinflusst sein dürfte. Eine Konsequenz des Zurückweisungsmotivs in V. 5–7 ist, dass die 8–10 Worte des Hauptmanns in V. 8f, anders als in Lk 7,6b–8, nicht Ausdruck der Demut sind, sondern stärker argumentativen Charakter besitzen: Sie bewegen Jesus dazu, von seiner Ablehnung abzugehen. Das entscheidende Moment wird häufig in dem außerordentlichen Vertrauen des Hauptmanns auf die Wirkmacht des Wortes Jesu gesehen: Jesus könne, ohne zu kommen, durch ein Wort aus der Ferne heilen (V. 8). V. 9 würde dann nur noch die Vollmacht des Wortes illustrieren, indem der Hauptmann Beispiele aus seinem eigenen Erfahrungsbereich aufbietet. Als jemand, der unter einer Befehlsgewalt steht (in V. 9 wird dasselbe Wort verwendet, das in 7,29 mit „Vollmacht“ übersetzt wurde), hat er seinerseits Befehlsgewalt über seine Soldaten, und diese befolgen, was er ihnen aufträgt. Ebenso habe Jesus Vollmacht, durch sein bloßes Wort zu heilen. So richtig dies im Einzelnen ist, so wenig kann es allerdings überzeugen, darin schon den entscheidenden Punkt dafür zu sehen, dass Jesus ihm in V. 10 einen Glauben bescheinigt, den er in Israel nicht hat finden können. Denn auch die jüdischen Volksmengen zeigen Vertrauen in Jesu Vollmacht, indem sie ihre Kranken zu ihm bringen (4,24; 8,16); schon in V. 16 ist wieder von Heilungen durch das Wort die Rede; und verschiedentlich wird Jesus denen, die sich an ihn wenden, Glauben bescheinigen (9,2.22.29). Als zentraler Aspekt, der den Glauben des Hauptmanns als „groß“ qualifiziert, kommt vielmehr hinzu, dass er die Universalität des mit Jesus verbundenen Heils antizipiert (vgl. Burchard, Zu Matthäus 8,5–13, 74). In V. 8 fungiert „sprich nur ein Wort …“ primär als positives Gegenstück zu den Worten, dass er nicht wert sei, dass Jesus zu ihm komme. Der Hauptmann akzeptiert, dass die Sendung Jesu Israel gilt, so dass es ihm fernsteht, Jesus in sein Haus kommen zu lassen. Er erbittet nicht mehr, als dass Jesus quasi en passant durch sein Wort heilt. Erst V. 9 führt dann aus, wieso der Hauptmann trotz der Sendung Jesu zu Israel von ihm Hilfe erwartet. Das entscheidende Stichwort ist dabei die Rede von der „Befehlsgewalt/Vollmacht“, mit der der Hauptmann, wie oben angeführt, eine Analogie zwischen sich und Jesus aufbaut. Durch den Kontext ist nun evident, dass es dabei im Blick auf Jesus um die Universalität seiner Vollmacht geht. Neben die Akzeptanz des Vorrechts des Gottesvolkes, dass diesem die Sendung Jesu zugutekommt, tritt damit ein Glaube, der in Jesus schon jetzt den sieht, dessen Vollmacht über Israel hinausreicht, was Jesus selbst erst nach seiner Auferstehung offenbar macht (28,19). Jesus hat, auch wenn dies im Rah-

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men seiner irdischen Sendung noch nicht vorgesehen ist, prinzipiell die Macht, auch außerhalb Israels Heil zu wirken. Der Hauptmann bittet Jesus, davon extra ordinem Gebrauch zu machen. Der Glaube an die letztendliche Universalität des von Gott durch Jesus gewirkten Heils verbindet den Hauptmann mit der Kanaanäerin (15,28) und unterscheidet ihn von dem, was Jesus bis dahin in Israel angetroffen hat (V. 10). Dabei fällt auf, dass Jesus den großen Glauben des Hauptmanns in V. 10 nicht diesem gegenüber bescheinigt, sondern die anredet, die ihm (nach)folgen. Die Formulierung ist gezielt offen. Sie lässt im Kontext an 4,25; 8,1 zurückdenken, wonach Volksmengen (aus ganz Israel, 4,25) Jesus „(nach)folgen“, doch sind daneben auch die „nachfolgenden“ Jünger (vgl. 4,20.22) eingeschlossen (anders Lk 7,9 [= Q?]); erst in 8,23 treten sie als in das Boot (der Gemeinde) Nachfolgende wieder aus der Volksmenge heraus. Die Bezeichnung der Adressaten von V. 10 unterstreicht, dass dem großen Glauben des Hauptmanns nicht Unglaube gegenübersteht. Aber den jüdischen Volksmengen wie auch den Jüngern fehlt (noch) der Glaube an die universale Reichweite des Heilshandelns Gottes in Jesus. Das in V. 11f von Matthäus eingefügte Doppellogion führt den Aspekt 11–12 der Universalität des Heils fort. V. 11 ist häufig als Anknüpfung an das Motiv der Völkerwallfahrt (Jes 2,2f; 60,3–6; 66,18; PsSal 17,30f) gelesen und auf das Hinzukommen der Völker zum Heil gedeutet worden, während die Ausstoßung der „Söhne des Reiches“ vor allem in der älteren Forschung verbreitet als ein Hauptbeleg für die vermeintliche Verwerfung Israels im Mt interpretiert wurde. Beides ist nicht haltbar. Die Nennung von Himmelsrichtungen („von Osten und Westen“) begegnet in keinem der Belege für die Vorstellung von der Völkerwallfahrt zum Zion; breit belegt ist sie dagegen in Texten, die von der Sammlung der exilierten Israeliten sprechen (Jes 43,5f; Sach 8,7; Bar 4,37; 1Hen 57,1; PsSal 11,2). „Westen“ spielt hier auf Ägypten (vgl. Jes 27,13; Sach 10,10) an, „Osten“ auf Assyrien/ Babylonien (Lukas hat in 13,29 „Norden und Süden“ in Anlehnung an Ps 107,3 ergänzt). Fragt man nach der Bedeutung des Doppellogions in Q (vgl. Lk 13,28f), so ist tatsächlich von einem innerjüdischen Kontrast auszugehen: Dem Heilsausschluss palästinischer Juden, bei denen die persönliche Begegnung mit Jesus (Q 13,26) nicht gefruchtet hat, wird das eschatologische Heil von Diasporajuden gegenübergestellt (vgl. Allison, Observations, 165–167). Mit der Einfügung von Q 13,28f in den Kontext der Hauptmannperikope hat Matthäus die rein innerjüdische Ausrichtung des Kontrastes zwar aufgebrochen, aber keineswegs durch eine Entgegensetzung von Heiden und Juden ersetzt. Vielmehr wird – in Entsprechung zum Glauben des Hauptmanns – die Universalität des Heils herausgestellt, das Juden und Heiden umfasst: Zusätzlich zur eschatologischen Sammlung Israels, die Gott durch die Sendung Jesu und seiner Jünger begonnen hat (vgl. zu 10,2–4 und zu 10,6), werden auch Menschen aus

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den Völkern zu „Abrahamkindern“ (3,9) und im Himmelreich am eschatologischen Mahl (Jes 25,6–8; 1Hen 62,14; 2Hen 42,5; 2Bar 29,3–8) mit Abraham, Isaak und Jakob teilhaben. Matthäus verleiht dem hinter V. 11 stehenden Motivfeld damit gegenüber Q 13,28f einen neuen Akzent, ohne es aber gegen den Strich zu bürsten. Sein neuer Akzent hat Anknüpfungspunkte an der Tradition selbst. So begegnet das Motiv des eschatologischen Festmahls in Jes 25,6–8 in universalistischer Ausrichtung; ferner lässt sich in einigen Texten die Verbindung des Motivs der Sammlung des zerstreuten Israels mit dem des Hinzuströmens von Heiden beobachten (Tob 13,5–13; 14,5f; TestBenj 9,2, s. auch Sach 8,23). Matthäus geht es auch hier wieder um das die atl. Verheißungen erfüllende Heil für Juden und Heiden. Ist die Rede von den „Vielen“ universalistisch bzw. inklusiv zu verstehen, so ist umgekehrt die Wendung „Söhne des Reiches“, die Matthäus in V. 12 als Subjekt des Satzes eingefügt hat (vgl. Lk 13,28: „ihr“), nicht einfach auf die Israeliten zu beziehen. Für sich genommen könnte man die Phrase zwar als (ironische) Anspielung auf die Heilszuversicht Israels auf Zugang zum eschatologischen Heil verstehen, doch liegt es im Kontext des Mt näher, sie mit der Botschaft Jesu vom Himmelreich in Zusammenhang zu bringen. Die hier Gemeinten heißen „Söhne des Reiches“, weil sie sich vom „Evangelium vom Reich“ (4,23) haben ansprechen lassen. Dazu passt, dass das Drohwort in V. 12 immer noch an die adressiert ist, die Jesus „(nach)folgen“. Zudem hat Matthäus die Wendung „Söhne des Reiches“ in 13,38 noch ein weiteres Mal redaktionell eingefügt, wo sie sich positiv auf die „Früchte“ des Wirkens des Menschensohnes, also auf Jesu Nachfolger, bezieht. Der Unterschied beider Vorkommen besteht allein darin, dass die „Söhne des Reiches“ in 13,38 ans Ziel gelangt sind, während die von 8,12 scheitern. Angesichts dessen, dass Matthäus das Gericht auch über Christen für keineswegs (positiv) entschieden hält (vgl. zu 7,13–27), bereitet eine solche Differenzierung sachlich keine Schwierigkeit. Mit 22,14 gesprochen: Wer von den berufenen „Söhnen des Reiches“ zu den auserwählten gehören wird, wird sich erst am Ende zeigen. Der Grund des Scheiterns der „Söhne des Reiches“ in 8,12 ist dem Kontext nach, dass sie nicht wie der Hauptmann an die Universalität des Heils glauben. Auf der Erzählebene erscheint diese Glaubensdimension für die in V. 10–12 Angeredeten als Neuland. Zu lesen ist dies allerdings primär auf der Kommunikationsebene des Evangelisten mit seinen Adressaten. Ist V. 11f als ein Indiz zu werten, dass die Völkermission im judenchristlichen Umfeld des Evangelisten nicht unumstritten war, so liest sich V. 12 als ein Drohwort an solche Gemeindeglieder, die aufgrund eines partikularistischen Heilsverständnisses gegen die Völkermission opponieren: Wer daran festhält, dass das messianische Heil allein Israel gilt und daher andere ausschließen will, wird selbst dieses Heils nicht teilhaftig werden.

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Für diese „ekklesiologische“ Stoßrichtung von 8,12 sprechen nicht zuletzt auch die mt Rekurse auf die Gerichtsmotive vom Hinausgestoßenwerden in die äußerste Finsternis und vom Heulen und Zähneknirschen. Während in 13,42.50 ein warnender Unterton gegenüber Christen mitschwingt, stehen die weiteren drei Belege in 22,13; 24,51; 25,30 deutlich im Rahmen der Gemeindeparänese. In 8,12 ist dies nicht anders: Zum Thema Juden und Heiden sagen die Verse 10–12 innergemeindlich etwas, von einer Verwerfung Israels nichts. Erst in V. 13 wendet sich Jesus dem Hauptmann zu. An die Stelle der 13 Abweisung (V. 7) tritt die Heilungszusage, die das Glaubensmotiv aufnimmt und damit betont: Nicht die Herkunft, sondern der Glaube wird zum entscheidenden Moment für den Empfang des Heils. Das in der kurzen abschließenden Heilungsnotiz verwendete Verb, das hier durch V. 8 (par. Lk 7,7) inspiriert ist, begegnet in einer Heilungsgeschichte bei Matthäus ansonsten nur noch redaktionell in 15,28, was als Detail noch einmal die Zusammengehörigkeit beider Erzählungen unterstreicht. Zum näheren Verständnis von 8,5–13 im Rahmen der theologischen Konzeption des Mt ist daher parallel die Auslegung von 15,21–28 heranzuziehen. II 5.1.3 Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus und vieler Kranker (8,14–17) 14 Und als Jesus in das Haus des Petrus kam, sah er dessen Schwiegermutter daniederliegen und fiebern. 15 Und er berührte ihre Hand, und das Fieber verließ sie, und sie stand auf und diente ihm. 16 Als es aber Abend geworden war, brachten sie viele Besessene zu ihm; und er trieb die Geister durch das Wort aus, und er heilte alle Kranken, 17 so dass erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaja gesagt wurde, der spricht: „Er nahm unsere Schwachheiten (weg) und trug die Krankheiten (fort).“ 8,14–17 untergliedert sich in eine ganz knapp erzählte Heilungsgeschichte (V. 14f), in der Matthäus die mk Vorlage (Mk 1,29–31) deutlich gekürzt hat, ein auf Mk 1,32–34 basierendes, aber die Vorlage wiederum verkürzendes Summarium in V. 16 (Mk 1,33 und 1,34b sind gestrichen) und ein von Matthäus angefügtes Erfüllungszitat (V. 17). Der Weg Jesu vom Berg der Lehre endet im Haus des Petrus. Gegenüber 14–15 Mk 1,29–31 ist die Erwähnung der Jünger als Begleiter weggefallen; der Scheinwerfer ist allein auf Jesus gerichtet. Eine Besonderheit der Erzählung ist, dass keine Bitte an Jesus herangetragen wird, sondern die Initiative zu der – durch bloße Berührung vollzogenen (vgl. 20,34) – Heilung von Jesus ausgeht. Dass Petrus’ Schwiegermutter Jesus daraufhin sogleich „dient“, was hier zwar in erster Linie auf Tischdienst zu beziehen sein

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dürfte, aber losgelöst von der konkreten Situation darin nicht aufgeht (vgl. 27,55 sowie auch 25,44), illustriert ihre wundersame augenblickliche Genesung vom Fieber. Das in V. 16 folgende Summarium lässt die drei vorangehenden Ge- 16 schichten als Beispiele aus einer größeren Fülle erscheinen. Eingefügt hat Matthäus, dass Jesus die Geister durch das Wort austrieb (vgl. V. 8); es wird also die Vollmacht des Wortes Jesu betont. Während bei Markus alle Kranken zu Jesus gebracht werden und er viele heilt (1,32.34), werden in Mt 8,16 viele Besessene gebracht, und Jesus heilt alle Kranken. Die Zuwendung des messianischen Hirten (2,6) zu der daniederliegenden Herde (9,36) ist umfassend. Mit dem Zitat aus Jes 53,4 weist Matthäus Jesu 17 Heilungstätigkeit abschließend ausdrücklich als Erfüllung der Schrift aus (vgl. zu 11,5). Das Zitat steht dem MT nahe, während in der LXX vom Tragen der Sünden die Rede ist. „Die Krankheiten“ im Zitat lässt an 4,23.24 zurückdenken, wo jeweils dasselbe Wort begegnet (nosos, im Mt ansonsten nur noch in 9,35; 10,1), d. h. 8,17 ist schon durch 4,23.24 vorbereitet. Umstritten ist, ob der Kontext des Zitats in Jes 53 mit dem Motiv des Leidens des Gottesknechts mitzuhören ist oder Matthäus Jes 53,4a hier „atomistisch“, also losgelöst vom Kontext zitiert. Wenn im mt Kelchwort (26,28) eine Anspielung auf Jes 53,12 vorliegt, könnte dies ein Indiz für Ersteres sein: Mit dem in 8,17 zitierten Vers wird zwar der Fokus auf die Heilungen gerichtet, aber über dessen Kontext schwingt bereits als Andeutung mit, dass die heilbringende Zuwendung Jesu zu den Menschen schließlich darin mündet, dass er für sie das Leiden auf sich nimmt. Dabei ist zu bedenken, dass in 9,2–8 Heilung mit Sündenvergebung verbunden wird, Jesu Aufgabe, „sein Volk von ihren Sünden zu retten“ (1,21), ihre finale Erfüllung aber nach 26,28 in seinem Tod findet, so dass im Blick auf das tiefere Verständnis der Heilungen Jesu eine Konvergenz zwischen der soteriologischen Konzeption des Evangelisten und der den Kontext von Jes 53,4a einbeziehenden Deutung von Mt 8,17 zu verzeichnen ist. II 5.2 Die Nachfolge in den Sturm und die Zurückweisung bei den Menschen (8,18–9,1) Mit den nächsten beiden Perikopen (8,18–27; 8,28–9,1) greift Matthäus auf den ersten Teil eines bei Markus erst nach der Gleichnisrede (Mk 4,1–34) stehenden Zyklus von Wundergeschichten (4,35–5,43) voraus. Wie dies bereits für 8,1–17 zu konstatieren war, ist die Präsentation des vollmächtigen Handelns Jesu auch hier mit einer ekklesiologischen Sinndimension verbunden.

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II 5.2.1 Nachfolge in den Sturm (8,18–27) 18 Als aber Jesus eine Volksmenge um sich sah, befahl er, ans andere Ufer zu fahren. 19 Und einer, ein Schriftgelehrter, trat hinzu und sagte zu ihm: „Lehrer, ich will dir nachfolgen, wo immer du hingehst.“ 20 Und Jesus sagt zu ihm: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, aber der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege.“ 21 Ein anderer aber, von seinen Jüngern, sagte zu ihm: „Herr, erlaube mir, zuerst fortzugehen und meinen Vater zu begraben.“ 22 Jesus aber sagt zu ihm: „Folge mir nach und lass die Toten ihre Toten begraben!“ 23 Und als er in das Boot gestiegen war, folgten ihm seine Jünger nach. 24 Und siehe, ein großes Beben geschah im Meer, so dass das Boot von den Wellen bedeckt wurde. Er aber schlief. 25 Und sie traten hinzu, weckten ihn und sagten: „Herr, rette! Wir kommen um.“ 26 Und er sagt zu ihnen: „Was seid ihr furchtsam, Kleingläubige?“ Da stand er auf und fuhr die Winde und das Meer an, und es geschah eine große Stille. 27 Die Menschen aber wunderten sich und sagten: „Was für einer ist dieser, dass ihm auch die Winde und das Meer gehorchen?“ Matthäus hat in 8,18–27 die auf Mk 4,35–41 basierende Sturmstillungsperikope mit Nachfolgelogien aus Q (vgl. Lk 9,57–60) zusammengearbeitet und so eine neue Aussageeinheit geschaffen: Die Sturmstillungsgeschichte 18 ist bei ihm zugleich auch eine Nachfolgegeschichte. Nach den Heilungen am Abend befiehlt Jesus angesichts des andauernden Andrangs des Volkes, ans andere Ufer zu fahren. Ist hier impliziert, dass Jesus sich – mit seinen Jüngern – zurückziehen möchte, so schwingt, wie die nachfolgenden Verse erweisen, zugleich das Moment der Einladung in die Nachfolge mit. Denn Matthäus sagt nicht, wem der Befehl gilt; Jesus spricht bei ihm nicht wie in Mk 4,35 gezielt die Jünger an, die im Übrigen auch zuvor in 8,1–17 nicht eigens hervorgetreten sind (vgl. oben zu 8,10), sondern in die Menge hinein. Im Zusammenhang mit V. 19–22.23 betrachtet, eignet der in V. 18 ergehenden Aufforderung eine symbolische Dimension: Nach dem Hören vollmächtiger Lehre (5–7) und der Erfahrung der heilenden Zuwendung (4,24; 8,1–17) geht es um die Konsequenz, die persönlich daraus gezogen wird. Nun steht eine Entscheidung an: Wer in das Boot steigt, gehört nicht mehr nur zur interessierten Menge, sondern tritt im vollen Sinne des Wortes in die Nachfolge ein. In diesem Sachzusammenhang ist die Einfügung der beiden Nachfolge19–20 szenen in V. 19–22 zu lesen. Matthäus lässt zunächst einen Schriftgelehrten auftreten, der auf Jesu Befehl hin seine Bereitschaft erklärt, Jesus überallhin zu folgen (im Griechischen steht für „hingehen“ [V. 19] dasselbe Verb wie für „fahren“ in V. 18). Seine Anrede Jesu als „Lehrer“ weist ihn

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als einen (noch) Außenstehenden aus (vgl. 12,38; 19,16; 22,16.24.36); Jünger reden Jesus mit „Herr“ an. Indem Matthäus den Nachfolgewilligen zu einem Schriftgelehrten macht (dagegen Lk [= Q] 9,57: „einer“), wird implizit mit dem Logion in V. 20 die Aussage verbunden, dass Nachfolge wesentlich mehr und anderes meint, als bei Jesus in die Lehre zu gehen, wie man dies bei Rabbinen üblicherweise tut. Denn die sein Wirken kennzeichnende Wanderexistenz (4,23; 9,35; 11,1) bedingt, dass er nicht einmal, wie selbst Füchse und Vögel, eine feste Ruhestätte hat. Zum „Menschensohn“: Erstmals im Mt kommt hier die Wendung „der Sohn des Menschen“ vor, mit der Jesus mit vielfältigen Bezügen über sich selbst spricht: als den, der gegenwärtig auf Erden wirkt (neben 8,20 noch 9,6; 11,19; 12,8.32; 20,28); der leidet und aufersteht (17,9.12.22f; 20,18f; 26,2 u. ö.) und zu Gott erhöht ist (13,37; 26,64); der (als Richter) kommen wird (z. B. 10,23; 16,27; 19,28; 25,31). Letzteres ist bei Matthäus von besonderem Gewicht. Die Wendung begegnet ausschließlich im Munde Jesu; nirgends wird Jesus von anderen oder vom Erzähler so bezeichnet. Dem korrespondiert, dass die Wendung keine zu „Sohn Davids“ oder „Sohn Gottes“ analoge titularische Funktion hat. Mit ihren vielfältigen Bezügen dient sie vielmehr dazu, die Zusammengehörigkeit der unterschiedlichen Stationen bzw. Phasen des Wirkens Jesu zu betonen: Der, dessen irdisches Wirken durch Entbehrung gekennzeichnet war (8,20) und der als Fresser und Weinsäufer beschimpft wurde (11,19), wird sich am Ende als der erweisen, vor dessen Thron sich alle Menschen im Gericht zu verantworten haben. Traditionsgeschichtlich ist zu den Worten vom kommenden Menschensohn auf Dan 7,13f, einem für Matthäus zentralen atl. Bezugstext (vgl. zu 24,30; 26,64; 28,18), sowie auf die von Dan 7,13f ausgehende Rede von einem Menschensohn in den Bilderreden des äthiopischen Henochbuches (1Hen 37–71) zu verweisen (1Hen 46,2–4; 48,2; 62,5–11 u. ö., vgl. ferner noch 4Esra 13). Hingegen lassen die Worte vom gegenwärtigen Menschensohn an ein alltagssprachliches aramäisches Idiom als Kontext denken: „Sohn des Menschen“ kann hier im generischen oder indefiniten Sinn für „den Menschen“ generell oder für „jemand, irgendeiner“ stehen. Der Haftpunkt beim historischen Jesus dürfte hier zu suchen sein: Er benutzte die Wendung in verfremdender und zugleich emphatischer Weise, um über sich selbst zu sprechen.

Als zweites tritt einer hinzu, der um eine zeitlich befristete Freistellung 21–22 bittet, weil er erst seinen Vater beerdigen möchte (vgl. Gen 50,5; Tob 4,3). Da der Bittsteller bereits ein Jünger ist, kann Jesu Aufforderung zur Nachfolge (vgl. Mt 9,9; 19,21) hier nur meinen, diese ohne Rücksichtnahme auf familiäre Belange fortzusetzen. Sollte das – ansonsten nicht nur rätselhafte, sondern absurde – Logion so aufzulösen sein, dass die geistlich Toten (vgl. Lk 15,24; Eph 2,1; Kol 2,13; Offb 3,1) die physisch Toten begraben sollen, schwingt hier eine dezidiert kritische Sicht der Lage derer mit, die nicht zum Jüngerkreis gehören (vgl. 4,16). So oder so verstößt Jesu Antwort gegen jedes Pietätsgefühl (vgl. aber Lev 21,11; Num 6,6f);

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drastisch kommt hier der afamiliäre Zug der Nachfolge mit ihrer Forderung einer konsequenten Prioritätensetzung zum Ausdruck (vgl. zu 4,21f). Beide Logien in V. 20.22 machen zupackend die hohe Anforderung, ja die totale Beanspruchung in der Nachfolge deutlich. Im Kontext betrachtet sind damit die „Konditionen“ genannt, unter denen die, die sich zum Einsteigen in das Boot entschließen, in die Nachfolge gehen. Dem Einschub von V. 19–22 korrespondiert die Neuformulierung von V. 23: Jesus steigt ins Boot, die Jünger folgen ihm nach. Angesichts des hier noch nachklingenden Nachfolgerufes in V. 22 ist dies, anders als in 4,25; 8,1, eindeutig im gefüllten Wortsinn der Jüngernachfolge zu verstehen. War der Befehl in V. 18 offen ergangen, so treten nun die, die zur echten Nachfolge entschlossen sind, aus dem weiteren Kreis der interessierten Volksmengen hervor. Ob der Schriftgelehrte von V. 19 und der „Jünger“ von V. 21 dabei sind, bleibt offen. Dadurch, dass Matthäus die Reihenfolge der Stillung des Sturms und des an die Jünger gerichteten Wortes Jesu in 8,26 gegenüber Mk 4,39f umgestellt hat, ergibt sich bei Matthäus eine streng konzentrische Komposition. Der Einleitung in V. 23 korrespondiert V. 27; die „große Stille“ (V. 26c) kontrastiert das „große Beben“ in V. 24; der Handlung der Jünger (V. 25) steht das souveräne gebieterische Handeln Jesu (V. 26b) gegenüber. Im Zentrum findet sich ein kurzer Dialog (V. 25b.26a); auf diesen kommt es Matthäus besonders an. Die symbolische Dimension der Erzählung deutet sich bereits durch die Schilderung der Notlage an. Der bedrohliche Wellengang ist nicht wie in Mk 4,37 durch einen Wirbelsturm, sondern durch ein Erdbeben verursacht, womit Matthäus die Notlage der Jünger als Element der endzeitlichen Drangsal kennzeichnet, denn Erdbeben gehören in der Apokalyptik zum Inventar der Schilderung der Endereignisse (TestMos 10,4; 2Bar 70,8; Offb 6,12 u. ö., vgl. Mt 24,7). Das Wasser symbolisiert die bedrohliche Macht des Todes (vgl. z. B. Ps 69,2 f.15f). Trotz der Gefahr schläft Jesus (die Auslassung von „auf einem Kissen“ aus Mk 4,38 könnte Konsequenz aus Mt 8,20 sein) und muss von den ängstlichen Jüngern geweckt werden. An die Stelle der geradezu vorwurfsvollen Frage der Jünger: „Lehrer, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?“ in Mk 4,38 hat Matthäus eine Anrufung Jesu um Hilfe treten lassen, in der die Jünger ihn zudem deutlich respektvoller mit „Herr“ ansprechen. Neu gestaltet hat Matthäus auch Jesu Replik. Statt vom fehlenden Glauben der Jünger ist nun von ihrem Kleinglauben die Rede. Souverän gebietet Jesus dem Wind und dem Meer. Die hier aufscheinende Vollmacht übersteigt noch die, die in den Heilungen manifest wird; hier zeigt sich in besonderer Weise die Teilhabe Jesu an göttlicher Macht (vgl. Ps 65,8; 89,10; 107,28–33; Ijob 26,12 LXX). Szenisch überraschend (die begleitenden Boote aus Mk 4,36 hat Matthäus gestrichen) und in Wundergeschichten im Mt

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singulär ist, dass in V. 27 offen von Menschen die Rede ist, die sich erstaunt fragen, „was für einer dieser ist“. Soll man sich vorstellen, dass die in V. 18 zurückgelassene Volksmenge das Geschehen noch beobachtet hat? Näher liegt es, dass wie in Mk 4,41 die Jünger reden. So oder so ist Matthäus’ Wortwahl auffällig und erklärungsbedürftig: Indem er gezielt von den Menschen spricht, die sich ob des Geschehens nur wundern können, wird indirekt auf die übermenschliche Vollmacht verwiesen, die sich in der Sturmstillung manifestierte. In 14,33 sind die Jünger in ihrer Erkenntnis einen Schritt weiter. Die Frage von 8,27 findet dort ihre Antwort, indem Jesus als Sohn Gottes bekannt wird. Besondere Aufmerksamkeit gebührt der Bezeichnung der Jünger als 26 „Kleingläubige“. Kleinglaube ist ein für den ersten Evangelisten typischer Begriff, den er in der Logienquelle vorgefunden (Mt 6,30 par Lk 12,28) und neben 8,26 auch noch in 14,31; 16,8 und 17,20 redaktionell aufgegriffen hat. Vom Kleinglauben redet Matthäus ausschließlich im Blick auf die Jünger, die sich auf das „Wagnis“ der Nachfolge (8,19–22) eingelassen haben; stets geht es um ihr spezifisches Versagen und Verzagen in Situationen, in denen kraftvoller Glaube und gefestigtes Vertrauen gefragt wären. Konkret: Die Jünger sind kleingläubig, wenn sie sich, statt auf Gottes Fürsorge zu vertrauen, in Sorge verlieren (6,30; 16,8), wenn sie in Bedrängnissen und Gefahren verzagen (8,26; 14,31) und in ihrem Heilungsauftrag (vgl. 10,1.8) scheitern, weil sie an Gottes machtvollem Eingreifen Zweifel haben (17,20). Das breite Vorkommen des Motivs im Mt legt nahe, dass Matthäus Kleinglauben als Problem in seinem Gemeindeumfeld ansieht. In Mt 8 ist der Kleinglaube dabei spezifisch mit der Frage des Mit-Seins Jesu verbunden, das durch die inclusio in 1,23; 28,20 als ein christologisches Leitmotiv des Mt hervorgehoben ist: Dass Jesus schläft, nimmt auf der Kommunika- 24–25 tionsebene des Evangelisten betrachtet das Problem auf, dass Jesus abwesend zu sein scheint und die – durch das Boot symbolisierte – Gemeinde sich in ihrer Not allein gelassen sieht. Durch den Fortgang der Geschichte soll das mangelnde Vertrauen in die Zusage Jesu, mit ihnen zu sein (28,20), überwunden werden. 8,25 wird im Blick auf die nachösterliche Situation transparent für das Gebet um Beistand und Hilfe. Jesus ist nicht abwesend, sondern tritt dem Beter helfend zur Seite (vgl. 10,19f). Es ist auch für die heutige theologische Reflexion von großer Bedeutung, dass sich für Matthäus in den Glauben immer wieder Zweifel mischt. Anfechtung gehört zum Glauben. Matthäus sucht diesem Kleinglauben durch die Erzählungen von der erfahrenen Hilfe durch Jesus zu begegnen. Jeder Christenmensch soll sich in der Anfechtung, wenn Zweifel aufkommen, an die gemachten Erfahrungen der Bewahrung erinnern. In 16,8 wird genau dieses Moment des Rückverweises auf frühere Erfahrungen auf der Ebene der erzählten Welt selbst vorgebracht.

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II 5.2.2 Die Heilung der beiden besessenen Gadarener (8,28–9,1) 28 Und als er ans andere Ufer in das Land der Gadarener gekommen war, begegneten ihm zwei Besessene, die aus den Grabstätten herauskamen. Sie waren sehr bösartig, so dass niemand auf jenem Weg vorbeigehen konnte. 29 Und siehe, sie schrien und sagten: „Was haben wir mit dir zu schaffen, Sohn Gottes? Bist du hierhergekommen, um uns vor der Zeit zu quälen?“ 30 Es weidete aber weit weg von ihnen eine Herde von vielen Schweinen. 31 Die Dämonen aber baten ihn und sagten: „Wenn du uns austreibst, schick uns in die Herde Schweine!“ 32 Und er sagte zu ihnen: „Geht fort!“ Sie aber fuhren aus und fuhren in die Schweine. Und siehe, die ganze Herde stürmte den Abhang hinab in das Meer, und sie kamen im Wasser um. 33 Die Hirten aber flohen, und sie gingen weg in die Stadt und verkündeten alles, auch das von den Besessenen. 34 Und siehe, die ganze Stadt ging hinaus, Jesus entgegen; und als sie ihn sahen, baten sie, dass er aus ihrem Gebiet fortgehe. 9,1 Und er stieg in ein Boot und fuhr hinüber. Und er kam in seine eigene Stadt. 28 Nach der nächtlichen Überfahrt gelangt Jesus im Gebiet der Gadarener an Land. Gadara ersetzt bei Matthäus das mk Gerasa, das weit landeinwärts liegt und nicht zu der in der Erzählung vorausgesetzten Szenerie am See Gennesaret (V. 32) passt. Beide Orte gehören zur Dekapolis, die Matthäus in 4,25 anführte, um in biblischer Perspektive das „Land Israel“ zu umreißen. Anders als in Mk 5 (V. 20) fällt die Bezeichnung „Dekapolis“ in Mt 8 freilich nicht, und die in der Markusvorlage vorgegebene Erwähnung einer Schweineherde (8,30 par Mk 5,11) weist hier darauf hin, dass die Menschen, denen Jesus im Gebiet der Gadarener begegnet, Heiden sind. Die mt Bearbeitung des Textes bestätigt dies. Als Jesus an Land geht, sieht er sich sogleich damit konfrontiert, dass ihm zwei Besessene begegnen. Die Erzählung ist gegenüber Mk 5,1–20 extrem gestrafft. Markus’ anschauliche Schilderung der unbändigen Kräfte und des sogar selbstdestruktiven Verhaltens des Besessenen (5,3–5) ist zu der knappen Notiz geronnen, dass die beiden Besessenen – der Sinn der Verdoppelung (vgl. 9,27–31; 20,29–34) bleibt unklar – sehr gefährlich waren und deshalb niemand den Weg passieren konnte. Die Erzählung ist ganz auf Jesus, auf den Erweis seiner Vollmacht in seinem wirkmächtigen 29 Wort, konzentriert. In der Begegnung mit Jesus werden aus den gefährlichen Wegelagerern Bittsteller. Während Mk 5,8 den Eindruck erweckt, dass den Worten des Besessenen in V. 7 ein exorzistischer Befehl Jesu vorausging, geht die Initiative bei Matthäus von den Besessenen aus. Wie der Teufel in 4,3.6 wissen auch sie, dass es sich bei Jesus um den Gottessohn handelt (vgl. Mk 1,24.34; 3,11f); Dämonen sind Eingeweihte (vgl. noch Apg 19,15; Jak 2,19). Im Kontext betrachtet ist mit ihrer Anrede Jesu

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als Sohn Gottes eine Antwort auf die Frage in 8,27 gegeben. Ihre besondere Note erhalten die Worte der Dämonen durch die Einfügung der Wendung „vor der Zeit“. Die Option, dass der Zeitpunkt des Endgerichts gemeint ist, da nach verbreiteter Vorstellung der Teufel und die Dämonen am Ende der Zeit vernichtet werden (1Hen 55,4; TestSim 6,6; TestLevi 3,3; TestMos 10,1; Offb 20,10 u. ö.), scheitert daran, dass Mt 12,28 gerade das Austreiben von Dämonen als Erweis der in Jesu Wirken bereits anbrechenden Gottesherrschaft vorbringt. Man wird vielmehr zu beachten haben, dass die genannte Wendung im Mt überhaupt nur hier, im heidnischen Kontext, begegnet. Ihre Einfügung reflektiert, dass die Zeit der Zuwendung zu den Heiden erst nach und auf der soteriologischen Basis von Tod und Auferstehung Jesu beginnt (28,19). Die Dämonen wissen (auch) das; deshalb fragen sie, ob Jesus etwa gekommen sei, um sie schon jetzt, vor der Zeit, zu quälen. Dieser Deutung fügt sich ein, dass Matthäus Markus’ Rede von der erfüllten Zeit zu Beginn des Wirkens Jesu (Mk 1,15) gestrichen hat (Mt 4,17), dafür aber Jesus im Zusammenhang der Passion sagen lässt: „Meine Zeit ist nahe“ (26,18 diff. Mk 14,14). Eine Reaktion Jesu wird noch nicht geschildert. Stattdessen fahren die 30–31 Dämonen mit einer Bitte fort. Um ihren Inhalt vorzubereiten, ist in V. 30 eine Notiz des Erzählers über eine größere Schweineherde eingeschoben. Sie steht bei Matthäus nicht „dort am Berg“ (Mk 5,11), sondern ist weit weg von ihnen, was den judenchristlichen Standort des Evangelisten illustriert: Jesus befindet sich nicht in der Nähe unreiner Tiere (Lev 11,7; Dtn 14,8). Die Dämonen suchen nun ein Zugeständnis zu erwirken: Für den Fall, dass Jesus sie tatsächlich austreiben wolle, möge er ihnen gewähren, in die Schweine zu fahren. An die Stelle der mk Phrase „und er er- 32 laubte es ihnen“ (5,13) hat Matthäus einen knappen Befehl Jesu treten lassen: „Geht fort!“ Der Fortgang zeigt, dass Jesus der Bitte der Dämonen damit keineswegs entspricht. Denn die Dämonen fahren zwar in die Schweine, erhalten aber keine neue „Wohnung“, da die ganze Herde sogleich ins Meer stürzt. Der Wechsel in den Plural im Schlusssatz von V. 32 macht wahrscheinlich, dass die Dämonen das Subjekt sind und Matthäus also davon ausgeht, dass mit den Schweinen auch sie im Meer umkommen. Im Kontext erinnert der Befehl an Jesu Antwort an den Teufel in 4,10, wo dasselbe Verb begegnet (vgl. auch 16,23). Wie dieser werden auch die Dämonen zurückgewiesen. Jesus erweist eindrucksvoll seine Vollmacht. Eine positive Resonanz erfährt Jesu Wirken bei den Gadarenern aber 33–34 nicht. Vielmehr bittet ihn die von den Hirten unterrichtete Stadtbevölkerung, ihr Gebiet zu verlassen. 8,20 findet damit eine baldige Illustration. Von den Geheilten ist gar nicht mehr die Rede. Die Notiz, dass sie den zuvor Besessenen gesittet dasitzen sehen (Mk 5,15), ist ebenso übergangen wie Mk 5,18–20, weil die von Markus geschilderte Verkündigung unter Nichtjuden nicht in Matthäus’ Konzeption der vorösterlichen Sendung

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9,1 Jesu und seiner Jünger passt (10,6; 15,24). Die Episode bleibt folgenlos. Jesus steigt ins Boot und fährt wieder hinüber. Mit der Rückkehr nach Kafarnaum, „in seine Stadt“, wird der in 8,18 eröffnete geographische Bogen geschlossen. II 5.3 Jesu Zuwendung zu Sündern und die Praxis der Jüngergemeinschaft in ihrem Bezug auf Jesus (9,2–17) Mit 9,2–17 greift Matthäus einen Textkomplex auf, der im Mk (2,1–22) direkt auf die Heilung des Aussätzigen (Mt 8,1–4 par Mk 1,40–45) folgt. Nach 8,18–9,1 wird auch in 9,2–17 deutlich, dass es in Mt 8–9 um weit mehr als um eine bloße Zusammenstellung von Wundererzählungen geht (vgl. in der Einleitung zu 8,1–9,34). Erneut tritt das ekklesiologische Interesse des Evangelisten hervor. II 5.3.1 Die Vergebung der Sünden (9,2–8) 2 Und siehe, sie brachten einen Gelähmten zu ihm, der auf einem Bett lag. Und als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: „Sei guten Mutes, Kind, deine Sünden sind vergeben!“ 3 Und siehe, einige der Schriftgelehrten sprachen bei sich selbst: „Dieser lästert.“ 4 Und Jesus sah ihre Gedanken und sagte: „Warum denkt ihr Böses in euren Herzen? 5 Denn was ist leichter, zu sagen: ‚Deine Sünden sind vergeben‘, oder zu sagen: ‚Steh auf und geh umher‘? 6 Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben –“, da sagt er zu dem Gelähmten: „Steh auf, nimm dein Bett auf, und geh in dein Haus!“ 7 Und er stand auf und ging weg in sein Haus. 8 Als aber die Volksmengen das sahen, fürchteten sie sich und verherrlichten Gott, der den Menschen solche Vollmacht gegeben hat. In Mt 9,2–8 ist eine Heilungsgeschichte mit einem Streitgespräch verbunden. Auch hier hat Matthäus die mk szenische Einbettung radikal gekürzt (vgl. Mt 9,2a mit Mk 2,2–4), so dass wieder alles auf die Dialoge hin ausgerichtet ist: Im Zentrum steht der Konflikt mit den Schriftgelehrten. Während die ausführliche mk Einleitung eine besondere Begebenheit 2 schildert, reiht sich die mt Exposition der Erzählung mit der knappen Notiz, dass sie einen Gelähmten zu Jesus brachten, in andere mt Texte ein (4,24; 8,16; 9,32; 12,22; 14,35). Der Glaube der Träger und des Gelähmten wird durch die Kürzungen nicht mehr an den besonderen Umständen, wie sie zu Jesus gelangen, festgemacht, so dass die Konstatierung des Glaubens stärker als eine exemplarische Aussage erscheint: Wenn Kranke

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Jesus um Hilfe bitten oder Menschen ihre Kranken zu Jesus bringen, ist (allein) dies (schon) Ausdruck ihres Glaubens. In V. 2 folgt allerdings nicht sogleich die Heilung, sondern der Zuspruch der Sündenvergebung (vgl. 2Sam 12,13), dessen passivische Formulierung Gott als Subjekt impliziert. Sündenvergebung wurde durch 1,21 als ein Leitmotiv der Erzählung exponiert. Dem korrespondiert in 26,28 die Einfügung von „zur Vergebung der Sünden“ in das Kelchwort. Rezipientenorientiert betrachtet folgt daraus, dass die Adressaten als Teilnehmer an der Mahlfeier in Jesu Vergebungszuspruch an den Gelähmten ihre eigene Heilserfahrung gespiegelt sehen können. Matthäus greift hier – unkritisch – den traditionellen Konnex von Krankheit und Sünde auf (vgl. z. B. 2Chr 21,15; TestGad 5,9f; Joh 5,14), wobei 9,2–8 kaum bloß als Einzelfall zu verstehen ist. Jedenfalls ist in der Rede von den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (10,6; 15,24) nicht nur physische Not, sondern auch eine soteriologische Notlage angesprochen, doch erfolgt die Zuwendung des davidisch-messianischen Hirten Jesus (2,6) zu seinem Volk im Mt ganz wesentlich eben in Gestalt seines heilenden Wirkens. Die Genesung körperlicher Gebrechen und die Vergebung der von Gott trennenden Sünden gehören für Matthäus also eng zusammen (vgl. Ps 103,3), ohne dass damit allerdings als eine strenge Gesetzmäßigkeit etabliert wäre, dass Sünde immer Krankheit nach sich zieht (ansonsten müssten alle Gesunden sündlos sein) und Krankheit stets auf Sünde beruht (vgl. das „falls“ in Jak 5,15). Die die Szene beobachtenden Schriftgelehrten werten die von Jesus zu- 3–7 gesprochene Sündenvergebung als eine blasphemische Selbstanmaßung. Matthäus lässt Jesus die Gedanken der Schriftgelehrten im Gegenzug ausdrücklich als boshaft bezeichnen (diff. Mk 2,8), womit ein zentrales Motiv der Darstellung der Gegner im Mt aufgegriffen ist (vgl. 12,34.39). 9,2–8 kommt im Gesamtaufbau des Mt die prominente Rolle der ersten Auseinandersetzung zwischen Jesus und den jüdischen Autoritäten zu. Gleich hier wird der Kern der feindseligen Opposition gegen Jesus sichtbar: Sie richtet sich gegen die exzeptionelle Autorität Jesu. Die auffallenden Querbeziehungen zur Passionsgeschichte unterstreichen dies: Nur in 9,3 und in 26,65 wird gegen Jesus der Vorwurf der Blasphemie erhoben. Auch dort geht es um die Würdestellung Jesu, und auch dort redet Jesus von sich als dem Menschensohn – nun ausblickend auf seine Erhöhung zur Rechten Gottes (26,64). Dass Jesus die Gedanken der Schriftgelehrten „sah“ (V. 4), wie er zuvor den Glauben der Träger und des Gelähmten „sah“ (V. 2), illustriert seine Überlegenheit und gibt bereits einen Hinweis, dass sein Anspruch zu Recht besteht, denn es ist sonst Gott vorbehalten, Herz und Gedanken der Menschen zu kennen (z. B. 1Sam 16,7; Ps 94,11). Die Frage in V. 5 ist so aufzulösen, dass es insofern schwerer ist zu sagen „steh auf und geh umher“, als sich die Wirkmächtigkeit dieser Worte anders als beim Zuspruch der Sündenvergebung empirisch nachprüfen lässt. Dies

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schließt aber nicht ein, dass die Vergebung der Sünden selbst leichter ist als die Heilung. Letztere ist daher kein Beweis im strengen Sinne, sondern „nur“ ein kräftiges Indiz, dass Jesus sich keineswegs eine ihm nicht zustehende Autorität angemaßt hat, wenn er, an Gottes Stelle, vollmächtig die Vergebung der Sünden zuspricht. Den Schluss in V. 8 hat Matthäus neu gestaltet. Während in Mk 2,12 alle 8 Zeugen der Heilung Gott priesen, weist Matthäus den Lobpreis den Volksmengen zu und schließt so die in Mk 2,12 bestehende Verständnismöglichkeit aus, dass auch Schriftgelehrte unter den Lobpreisenden sind. Matthäus hat ferner den Lobpreis verändert: formal, indem er ihn nicht in wörtlicher Rede wiedergibt, sondern in einer Gottesprädikation zusammenfasst; inhaltlich, indem der Lobpreis nicht das Wunder der Heilung betont, sondern V. 6a aufnimmt. Die Verallgemeinerung, dass Gott „solche Vollmacht den Menschen gegeben hat“, ist kaum so zu verstehen, dass die Volksmengen die änigmatische Rede vom Menschensohn (V. 6) als Aussage über den Menschen schlechthin (miss)deuten; dies passt nicht zur positiven Qualifizierung der Aussage als Lobpreis Gottes. Die Ausweitung ist vielmehr von der Intention bestimmt, auf die entsprechende Vollmacht der Gemeinde auszublicken (vgl. 8,27 für den Gebrauch von „Menschen“ für die Jünger), die sich von Jesu Vollmacht ableitet: Sündenvergebung ist für Matthäus ein zentrales Kennzeichen der Gemeinde (vgl. zu 18,18). II 5.3.2 Die Berufung des Zöllners Matthäus und die Barmherzigkeit gegenüber den Sündern (9,9–13) 9 Und als Jesus von dort weiterging, sah er einen Menschen, der Matthäus hieß, am Zoll sitzen, und er sagt zu ihm: „Folge mir nach!“ Und er stand auf und folgte ihm nach. 10 Und es geschah, als er im Haus zu Tisch lag, und siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und lagen mit Jesus und seinen Jüngern zu Tisch. 11 Und als die Pharisäer es sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: „Warum isst euer Lehrer mit den Zöllnern und Sündern?“ 12 Als aber er es hörte, sagte er: „Nicht die Starken brauchen einen Arzt, sondern die Kranken. 13 Geht aber hin und lernt, was es heißt: ‚Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer!‘ Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“ 9–10 Nach 4,18–22 bietet 9,9 die einzige weitere Notiz über eine erfolgreiche Jüngerberufung. Die Ersetzung von Levi (Mk 2,14) durch einen der in 10,1–4 angeführten zwölf Jünger illustriert das Interesse des Evangelisten am Zwölferkreis. Dass die Wahl dabei auf Matthäus fiel, könnte darin begründet sein, dass Matthäus, wie 10,3 bekräftigt (diff. Mk 3,18; Lk 6,15),

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tatsächlich Zöllner war, doch ist hier über Vermutungen nicht hinauszukommen. Wie in 4,18–22 tritt der Berufene sogleich in die Nachfolge ein. Der Fokus ist hier jedoch darauf gerichtet, dass Jesus ausgerechnet einen Zöllner beruft. Zöllner standen als Handlanger der finanziellen Interessen der Herrschenden und wegen der ihnen wohl oft zu Recht unterstellten Bereicherungsmentalität (vgl. Lk 3,12f; 19,8) in einem denkbar schlechten Ruf (vgl. Mt 5,46; 18,17). Die Wendung „Zöllner und Sünder“ (9,10.11; 11,19) hebt Erstere nicht von den Sündern ab, sondern ist im Sinne von „Zöllner und andere Sünder ihres Schlages“ zu verstehen (vgl. noch Lk 18,13; 19,7). Das weibliche Pendant zu den Zöllnern sind in 21,31f die Huren! Die thematische Anbindung an 9,2–8 ist evident: Mit der Berufung eines Zöllners und dem anschließenden Mahl wird die Thematik der Sündenvergebung unter einem neuen Aspekt weitergeführt. Wieder kommt es zum Konflikt mit den jüdischen Autoritäten, nun mit 11–13 den Pharisäern. Dabei erreicht die Auseinandersetzung insofern eine neue Stufe, als die Pharisäer sich zwar noch nicht direkt an Jesus wenden, ihre Gedanken aber auch nicht mehr wie die Schriftgelehrten in 9,3f bloß „bei sich selbst“ äußern, sondern Jesu Jünger ansprechen. Es empört sie, dass Jesus sich auf eine Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern einlässt (vgl. 11,19). Die Antwort erfolgt allerdings nicht von den Jüngern, sondern von Jesus selbst. Das Bild von den Kranken, die des Arztes bedürfen, fügt sich gut in den vorangehenden Kontext und den dort vorgebrachten Konnex von Heilung und Sündenvergebung ein. Zugleich fungiert die gewährte Tischgemeinschaft als Entsprechung zum Vergebungswort in V. 2. Charakteristisch für Matthäus ist, dass Jesu Praxis mit der Einfügung des Zitats von Hos 6,6 in V. 13 (vgl. 12,7) von der Schrift her profiliert wird: Jesu Verhalten steht im vollkommenen Einklang mit der zentralen Forderung der Schrift nach Barmherzigkeit. Bevor die Pharisäer Jesus weiter anklagen, sollen sie daher lieber hingehen und das Prophetenwort studieren. Ihre vorwurfsvolle Frage in V. 11 wird zum Ausweis ihrer mangelnden Schriftkenntnis. Im weiteren Kontext ist das Hoseazitat im Zusammenhang des programmatischen Anspruchs Jesu zu lesen, Tora und Propheten zu erfüllen (5,17). Dass in 9,13b ein weiteres Wort über den Sinn des Gekommenseins Jesu folgt (das erste nach 5,17, ferner nur noch 10,34f), erhärtet den Zusammenhang: Die barmherzige Zuwendung zu den Sündern ist für den Evangelisten gerade keine gelebte Torakritik, sondern im Gegenteil Manifestation der Erfüllung von Tora und Propheten durch Jesus. Hos 6,6 stellt für Matthäus dabei nicht nur in seinem positiven Glied einen Schlüsseltext für die in der Liebe zentrierte Gesetzeshermeneutik (s. zu 22,34–40) dar, sondern er sieht mit der Rede vom „Opfer“ zugleich leitwortartig das Programm der Pharisäer charakterisiert: Ihnen wird vorgeworfen, dass sie sich auf Kosten der zwischenmenschlichen Barmherzigkeit auf äußere Regeln von Kultausübung und

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Reinheit konzentrieren, welche sie die Gemeinschaft mit Sündern meiden lassen. Da das Verhalten Jesu den Jüngern als Modell dienen soll und ohnehin bereits in 5,7 die Barmherzigkeit als ein ethisches Leitmotiv vorgebracht wurde, folgt in Ergänzung zu 9,2–8: Zur Vergebung der Sünden als Kennzeichen der ecclesia tritt die barmherzige Zuwendung zu den (groben) Sündern, den religiös am Rande Stehenden, hinzu. Zur von Barmherzigkeit geprägten Gemeinschaftsstruktur, die die Kirche kennzeichnen soll, gehört elementar, dass niemand auf das Vergangene festgelegt bleibt, sondern durch die Vergebung der Sünden (immer wieder) ein Neuanfang ermöglicht wird, neue Lebensperspektiven und Chancen eröffnet werden. Das gemeinschaftliche Mahl der Gemeinde, in dem Jesu Tod zur Vergebung der Sünden erinnert wird (26,28), stellt dabei in Anknüpfung an die Tischgemeinschaften Jesu einen hervorgehobenen Ort dar, an dem die barmherzige Annahme der Sünder auch in ihrer zwischenmenschlichen Dimension lebensweltlich konkret wird. II. 5.3.3 Die Frage nach dem Fasten der Jünger (9,14–17) 14 Da kommen die Jünger des Johannes zu ihm und sagen: „Warum fasten wir und die Pharisäer viel, deine Jünger aber fasten nicht?“ 15 Und Jesus sagte zu ihnen: „Können etwa die Hochzeitsgäste trauern, solange der Bräutigam mit ihnen ist? Es werden aber Tage kommen, da der Bräutigam von ihnen weggenommen wird, und dann werden sie fasten. 16 Niemand aber setzt einen Flicken von ungewalktem Stoff auf ein altes Gewand; denn sein Füllstück reißt (etwas) vom Gewand ab, und ein schlimmerer Riss entsteht. 17 Auch füllt man nicht neuen Wein in alte Schläuche; sonst reißen die Schläuche, und der Wein wird verschüttet, und die Schläuche gehen kaputt; sondern man füllt neuen Wein in neue Schläuche, und beide werden bewahrt.“ 14–15 Klarer als Markus hat Matthäus die neue Szene direkt mit dem Vorangehenden verbunden. Jesus ist noch immer „im Haus“ beim Mahl (V. 10), als Jünger des Johannes (vgl. 11,2) hinzutreten. Stießen sich die Pharisäer daran, mit wem Jesus speist, so wundern sich die Johannesjünger, dass (ausgerechnet) bei den Jüngern des Umkehrpredigers Jesus (vgl. 4,17) das Fasten als Ausdruck der Buße offenbar nicht Bestandteil ihrer Frömmigkeitspraxis ist, obwohl doch selbst ansonsten so unterschiedliche Gruppen wie sie und die Pharisäer (vgl. 3,7–10) an dieser Stelle übereinstimmen. Der thematische Faden des Voranstehenden wird des Näheren mit V. 14f nicht nur insofern weitergesponnen, als es analog zur Sündenvergebung und der Barmherzigkeit gegenüber Sündern um eine Praxis der Jün-

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gergemeinschaft geht, die diese von anderen Gruppierungen unterscheidet. Darüber hinaus ist auch hier das entscheidende Moment, dass sich die Praxis der Jünger aus ihrem Bezug zu Jesus ergibt: In dem Bildwort in V. 15 steht der Bräutigam natürlich für Jesus, die Jünger begegnen in Gestalt der Hochzeitsgäste. Das Bild kehrt in 22,1–14; 25,1–13 mit einem anderen zeitlichen Bezug wieder. Hier hebt das Bild der Hochzeitsfeier die Phase der irdischen Gegenwart Jesu als eine besondere Zeit festlicher Freude hervor. Für die Jünger ist daher, solange Jesus auf Erden mit ihnen ist und sie Zeugen seines Heilswirkens werden, nicht die Zeit, um zu fasten. Matthäus interpretiert hier das Fasten als Ausdruck der Trauer. Nach Karfreitag ist die Situation eine andere (mit den Worten, dass „der Bräutigam von ihnen weggenommen wird“, weist Jesus erstmals auf seine Passion hin). Schon 6,16–18 deutete an, dass das Fasten zur Frömmigkeitspraxis auch der mt Gemeinde gehört; es kommt dort nur auf das Wie an. Die beiden sich in V. 16f anschließenden Bildworte dienen im Kontext 16–17 dazu, die Unvereinbarkeit zwischen der Zeit der irdischen Anwesenheit Jesu und der überkommenen Praxis des Fastens zu illustrieren, sie greifen also über V. 15b auf V. 15a zurück: Beides passt zueinander so wenig wie ein Flicken von ungewalktem Stoff auf ein altes Gewand oder so wenig, wie es sich empfiehlt, für neuen Wein alte, spröde gewordene lederne Schläuche zu benutzen, weil diese infolge des durch die Gärung entstehenden Drucks zerreißen könnten (vgl. Ijob 32,19). Das Neue und das Alte hier allegorisch auszudeuten – etwa auf das Neue, das Jesus gebracht hat, und die alte Ordnung der Tora, die alte Frömmigkeitspraxis oder gleich pauschal das Judentum – scheitert an dem die mt Theologie prägenden Erfüllungs- und Kontinuitätsgedanken (vgl. ferner das Miteinander von Altem und Neuem in 13,52!). Eine solche Deutung hat zudem gegen sich, dass Matthäus das Fasten für seine Gegenwart, wie gesehen, keineswegs ablehnt. II 5.4 Weitere Heilungen in Israel (9,18–34) Nach den drei Konfliktszenen schließen sich in 9,18–34 als positiver Kontrast dazu weitere Heilungserzählungen an, so dass in der Gesamtkomposition von 8,1–9,34 Heilungsgeschichten den Rahmen um die beiden mittleren Einheiten 8,18–9,1 und 9,2–17 bilden. Die Komposition in 9,18–34 ist auffällig, weil die letzten beiden Heilungen in 9,27–34 später noch einmal vorkommende Texte duplizieren. Auf den Sinn dieses kompositionellen Arrangements ist in der Auslegung einzugehen.

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II 5.4.1 Die Heilung der blutflüssigen Frau und die Auferweckung der Tochter eines Vorstehers (9,18–26) 18 Während er dies zu ihnen redete, siehe, da kam ein Vorsteher, fiel vor ihm nieder und sagte: „Meine Tochter ist soeben gestorben; aber komm und lege deine Hand auf sie, so wird sie leben.“ 19 Und Jesus stand auf und folgte ihm mit seinen Jüngern. 20 Und siehe, eine Frau, die zwölf Jahre an Blutfluss litt, trat von hinten heran und berührte die Quaste seines Gewandes; 21 sie sagte nämlich bei sich selbst: „Wenn ich nur sein Gewand berühre, werde ich gerettet werden.“ 22 Jesus aber wandte sich um, und als er sie sah, sagte er: „Sei guten Mutes, Tochter! Dein Glaube hat dich gerettet.“ Und die Frau wurde von jener Stunde an gerettet. 23 Und als Jesus in das Haus des Vorstehers kam und die Flötenspieler und die lärmende Volksmenge sah, 24 sagte er: „Geht fort! Denn das Mädchen ist nicht gestorben, sondern es schläft.“ Und sie lachten ihn aus. 25 Als aber die Volksmenge hinausgetrieben war, ging er hinein und ergriff ihre Hand; und das Mädchen stand auf. 26 Und diese Kunde ging hinaus in jenes ganze Land. Matthäus nimmt hier in extrem gestraffter Form Mk 5,21–43 auf, also den zweiten Teil des Wunderzyklus aus Mk 4,35–5,43, nachdem er 18–19 Mk 4,35–5,20 bereits in 8,18–9,1 verarbeitet hat. Infolge der veränderten kompositorischen Platzierung der Perikope hat er die Einleitung neu gestaltet und dabei einen direkten szenischen Anschluss hergestellt: Ein Vorsteher sucht Jesus beim Mahl mit den Zöllnern auf, um Jesu Hilfe zu erbitten. Bei Matthäus liegt die Tochter des Vorstehers in diesem Moment nicht erst im Sterben, sondern sie ist bereits tot. Der Vorsteher traut Jesus also von vornherein nicht nur eine wundersame Heilung, sondern die Auferweckung einer Toten zu! Aus dem mk Synagogenvorsteher Jairus ist bei Matthäus ein anonymer Vorsteher geworden; der explizite Bezug zur Synagoge ist gestrichen, was dem angespannten Verhältnis der mt Gemeinden zum synagogalen Gegenüber geschuldet sein dürfte. Die in V. 20–22 analog zur mk Vorlage eingeschobene Erzählung von 20–22 der Heilung der blutflüssigen Frau ist auf ein dürres Gerippe ohne jedes farbige Detail reduziert worden. Nichts verlautet über das Versagen der Ärzte, die die Frau auch noch um ihre Habe gebracht haben (Mk 5,26), oder über das Gedränge der Menge (Mk 5,24.27) – bei Matthäus folgen nur die Jünger Jesus (V. 19). Entsprechend ist auch Mk 5,30–33 vollständig gestrichen. Umso mehr tritt die übernatürliche Einsicht Jesu hervor, der, als er sich umdreht, sofort über die Frau und das Geschehene im Bilde ist. Der Aspekt, dass die Frau wegen ihres Blutflusses nach Lev 15,19 unrein ist und ihre Unreinheit durch Berührung überträgt,

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spielt hier keine Rolle. Vielmehr geht umgekehrt von Jesus eine heilende Wirkung auf die Frau aus. Ihre Erwartung, durch die Berührung des Gewandes gerettet zu werden, wird durch Jesu Zuspruch „dein Glaube hat dich gerettet“ (V. 22) interpretiert. Ein (rein) magisches Verständnis des Geschehens, als würde die Berührung für sich schon genügen, ist damit ausgeschlossen: Das entscheidende Moment ist der Glaube. Die Heilung bedeutet für die Frau nicht nur körperliche Gesundung; mit ihr ist zugleich die mit der Unreinheit verbundene soziale Beeinträchtigung überwunden. In dem über Mk 5,27 hinausgehenden, aber auch in Lk 8,44 begegnenden Detail, dass die Frau die Quasten des Gewandes Jesu (vgl. Num 15,38f; Dtn 22,12) berührt (vgl. Mk 6,56 par Mt 14,36), kommt in für Matthäus typischer Weise das jüdische Kolorit seiner Jesusgeschichte zum Ausdruck. Am Haus des Vorstehers angekommen trifft Jesus bereits auf die zum 23–26 festen „Inventar“ einer Trauergemeinde gehörenden Flötenspieler (Josephus, Bell 3,436f; mKet 4,4; Dion Chrysostomos, Or 32,57) und auf lärmendes, d. h. wohl klagendes Volk. Da diese hier fehl am Platz sind, schickt Jesus sie fort, doch werden seine Worte, dass das Mädchen nur schlafe, für lächerlich erachtet. Sie sind allerdings gar nicht, wie die Menge sie offenbar missversteht, im Sinne einer medizinischen Diagnose gemeint, als sei das Mädchen nur scheintot, sondern sind Ausdruck der Verneinung ihres (bzw. des) Todes als einer endgültigen Realität, weil Jesus Vollmacht hat, sie ins Leben zurückzuholen (vgl. 11,5: „Tote werden auferweckt“). Die Auferweckung wird mit nur wenigen Worten geschildert. Das in den atl. Analogien, den Totenauferweckungen Elias und Elisas (1Kön 17,17–24; 2Kön 4,18–37), konstitutive Gebet findet kein Pendant; Jesus handelt souverän aus der ihm von Gott gegebenen Vollmacht (vgl. 11,27; 28,18). Matthäus erwähnt, anders als Mk 5,41, nicht einmal ein Heilungswort; analog zu 8,15 genügt auch hier, wie dies schon in der Bitte des Vaters (V. 18) zum Ausdruck kam, die bloße Berührung. Ebenfalls nur ganz knapp (und gegenüber Mk 5,42 verkürzt) wird die Auferweckung konstatiert. Die Reduktion der Erzählzüge lässt die Szene für die Leser umso leichter zum Sinnbild für ihre eigene Lebenshoffnung werden. Dies gilt umso mehr, als Matthäus hier für „sie stand auf“ – wie ebenfalls zuvor schon in 8,15 – redaktionell dieselbe Verbform (egerthe) verwendet, die in 27,64; 28,6.7 die Auferweckung Jesu bezeichnet (vgl. noch 14,2). Man könnte also auch übersetzen „sie wurde auferweckt“, was den Bezug zur Heilshoffnung der Gemeinde noch deutlicher hervortreten ließe. Die abschließende Notiz über die Verbreitung des Geschehenen (zur Formulierung vgl. Lk 4,14) in jenem ganzen Land (vgl. Mt 9,31) lässt nicht nur an 4,24 zurückdenken, sondern hebt zugleich auch das Besondere dieses Wunders hervor.

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Ebendiese Dimension des Wunders stellt für die heutige Rezeption allerdings ein nicht zu verschweigendes Problem dar. Werfen schon die wundersamen Heilungen schwierige Fragen über ihren Realitätsgehalt auf, ohne dass man freilich einen historischen Kern a priori verneinen kann, so ist die hier erzählte Wiederbelebung einer Toten schlechthin jenseits des medizinisch Möglichen. Matthäus hat die Auferweckung des Mädchens, wie gesehen, für die Auferstehungshoffnung durchsichtig gemacht. Der heutigen Rezeption ist damit die einzig gangbare Fährte gewiesen. Damit ist 9,18 f.23–26 aber kein Einzelfall. Nichts anderes gilt etwa für die Sturmstillung in 8,23–27 und ihre symbolische Dimension.

II 5.4.2 Der heilende Davidsohn und die Reaktion auf sein Wirken in Israel (9,27–34) 27 Und als Jesus von dort weiterging, folgten ihm zwei Blinde nach, die schrien und sagten: „Erbarm dich unser, Sohn Davids!“ 28 Als er aber in das Haus gekommen war, traten die Blinden zu ihm; und Jesus sagt zu ihnen: „Glaubt ihr, dass ich dies tun kann?“ Sie sagen zu ihm: „Ja, Herr.“ 29 Da berührte er ihre Augen und sagte: „Nach eurem Glauben geschehe euch!“ 30 Und ihre Augen wurden geöffnet. Und Jesus fuhr sie an und sagte: „Seht zu, niemand soll es erfahren!“ 31 Sie aber gingen hinaus und machten ihn in jenem ganzen Land bekannt. 32 Als sie aber hinausgingen, siehe, da brachten sie einen (taub)stummen Menschen zu ihm, der besessen war. 33 Und als der Dämon ausgetrieben war, redete der (Taub-)Stumme. Und die Volksmengen wunderten sich und sagten: „Noch nie ist so etwas in Israel sichtbar geworden.“ 34 Die Pharisäer aber sagten: „Durch den Herrscher der Dämonen treibt er die Dämonen aus.“ V. 27–31 ist vom Evangelisten in freier Aufnahme von Elementen aus Mk 10,46–52 und mit dichten Bezügen zu den in Mt 8–9 vorangehenden Texten gestaltet worden. In 20,29–34 wird Matthäus Mk 10,46–52 an dem der Markusvorlage entsprechenden kompositorischen Ort und in engerer Anlehnung an diese noch einmal aufnehmen. Auch V. 32–34 hat eine innermatthäische Parallele (12,22–24), wo Matthäus den zugrunde liegenden Q-Text (vgl. Lk 11,14f) mit dem in Q nachfolgenden Kontext aufgenommen hat. Der Grund für diesen auffälligen Befund ist zum einen darin zu sehen, dass Matthäus als Hintergrund für 11,5 noch die Heilung eines Blinden und eines Taubstummen braucht, doch sind darüber hinaus, wie sich zeigen wird, noch weitere Gesichtspunkte zu bedenken. Auf dem Weg zurück vom Haus des Vorstehers (9,23) folgen Jesus zwei 27 Blinde (vgl. dazu bei 20,34). Ihr Ruf „erbarm dich unser, Sohn Davids“ nimmt Mk 10,47 auf. Während diese Anrufung Jesu als Sohn Davids bei Markus aber ein vereinzelter Beleg ist, hat Matthäus die davidische Mes-

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sianität Jesu – in Korrespondenz zu seiner Betonung der Sendung Jesu zu Israel und der Erfüllung der dem Gottesvolk geltenden Heilsverheißungen – zu einem Leitmotiv seiner christologischen Konzeption entwickelt (s. in der Einleitung unter 2.1). Ganz in diesem Sinne kommt der Einstellung von 9,27–31 in die Komposition von Mt 8–9 – neben der im Blick auf 11,5 notwendigen Ergänzung einer Blindenheilung – zugleich die Funktion zu, Jesus am Ende des Zyklus und damit paradigmatisch für das Ganze als Messias Israels zu präsentieren. 9,27 ist der erste Beleg für die betonte Verbindung des Davidsohntitels mit dem heilenden Wirken Jesu (s. noch 15,22; 20,30.31 sowie auch 12,22f; 21,14f), das in diesem Zusammenhang als zentraler Ausdruck für die barmherzige Zuwendung Gottes dient, die „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (10,6; 15,24) durch den davidisch-messianischen Hirten zuteilwird (vgl. 2,6 und als Traditionshintergrund Ez 34). Die Erbarmensbitte ist mit der einzigen Ausnahme von 17,15 bei Matthäus stets mit der Anrufung Jesu als Sohn Davids verbunden (neben 9,27 noch 15,22; 20,30.31). Auffallend ist zudem, dass Matthäus den Davidsohntitel im Gefolge von 9,27–31; 20,29–34 auch sonst vornehmlich mit Blindenheilungen verbunden hat (12,22f; 21,14f); anders ist dies nur bei der Kanaanäerin, also einer Heidin, in 15,22. Deutlich schwingt hier eine metaphorische Dimension mit, die sich im Lichte der Abqualifizierung der Pharisäer und Schriftgelehrten als „blinde Führer“ (15,14; 23,16–26) erschließt: Israel wird vom davidischen Messias von der geistigen „Blindheit“ geheilt, die durch die inkompetenten Autoritäten verursacht ist (vgl. 5,20). Erst als Jesus wieder „in das Haus“ zurückgekehrt ist (vgl. 9,10), geht er 28–30a auf die beiden Blinden ein, die ihm bis dahin gefolgt sind. Matthäus greift hier, ebenfalls in Anlehnung an Mk 10,46–52, erneut das Glaubensmotiv auf (vgl. zuvor 8,10.13; 9,2.22). Anders als in Mk 10,52 steht dieses aber nicht erst am Ende in Gestalt des Zuspruchs „dein Glaube hat dich gerettet“, womit sich in Mt 9 eine perfekte Analogie zu V. 22 ergeben hätte, sondern Matthäus hat das Motiv in einen konstruiert wirkenden Dialog vorgezogen: Jesus lässt sich vorab ausdrücklich bestätigen, dass die beiden Blinden glauben, dass er sie zu heilen vermag (V. 28). Dieser auffällige und im Mt einmalige Zug dürfte am plausibelsten vor dem Hintergrund der erstmaligen Anrufung Jesu als Sohn Davids zu erklären sein. Matthäus will die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass es bei dem Vertrauen, das Jesus als dem Sohn Davids entgegengebracht wird, um Glauben an ihn (vgl. 18,6 zur personalen Dimension des Glaubens) als den davidischen Messias geht, der zu heilen vermag, da er das Medium der barmherzigen Zuwendung Gottes zu seinem Volk ist. Das in Analogie zu 8,13 gebildete Heilungswort in V. 29b (vgl. noch 15,28) nimmt das Glaubensmotiv noch einmal bekräftigend auf. Die knappe Konstatierung der Heilung mit den Worten „ihre Augen wurden geöffnet“ (vgl. 20,33 diff. Mk 10,51) lässt

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Jes 35,5 (LXX) anklingen (vgl. noch Jes 42,7 sowie 29,18; 61,1): Die prophetische Heilsverheißung erfüllt sich in Jesu Wirken. Das sich anschließende Schweigegebot erinnert an 8,4. Doch während es 30b–31 in 8,4 die Funktion hat, dem Entscheid des Priesters nicht vorzugreifen, geht es hier – wiederum erstmals – tatsächlich um Geheimhaltung. Das Schweigegebot in Mk 5,43a hat Matthäus in 9,26 übergangen, doch lehnt er sich hier an die dortige mk Formulierung an, dass niemand es erfahren soll. Anklänge sind überdies an Formulierungen aus der Markusparallele zu 8,4 in Mk 1,43–45 zu verzeichnen. Matthäus hatte für diese Passagen an ihrem mk Ort keine Verwendung; in 9,27–31 hingegen sieht er eine geeignete Stelle, um sie nachzutragen. Wiederum ist der Schlüssel in der Anrufung Jesu als Sohn Davids zu sehen. Das, wovon die Geheilten (noch) nicht reden sollen, ist, dass Jesus der davidische Messias ist, denn dies wird, wie sich in der weiteren Erzählung bestätigen wird, die Gegner Jesu auf den Plan rufen (vgl. 12,22–24; 21,9–17 und bereits 2,1–6). Die Geheilten halten sich allerdings nicht an Jesu Gebot und machen ihn ( ! ), d. h. Jesus als heilenden Sohn Davids, bekannt. Der Zuspitzung des Konfliktes mit den Autoritäten ist damit die Bahn bereitet; sie deutet sich in 9,32–34 bereits an. Szenisch schließt die nächste Heilung wieder direkt an das Voranste32–34 hende an: Als die einen gehen, wird der nächste Kranke gebracht. Die Heilung des Stummen wird in 9,32–33a nur kurz und prägnant mitgeteilt. Leitend ist das Anliegen, am Ende von 8,1–9,34 und damit wiederum paradigmatisch für das Ganze die unterschiedlichen Reaktionen auf Jesus in Israel darzustellen. Während Lk 11,14f (= Q) ein geteiltes Echo unter den Volksmengen schildert, schreibt Matthäus diesen in V. 33 wie dann auch in 12,23 allein die positive Reaktion zu. Er konstatiert zudem nicht nur ihre Verwunderung, sondern gibt dieser in wörtlicher Rede Ausdruck. Dazu lässt er sich durch den – an der Parallelstelle 9,8 ersetzten – mk Schluss der Perikope von der Heilung des Gelähmten (Mk 2,12) inspirieren, doch wird aus der auf den Erfahrungsschatz der Menge begrenzten mk Bemerkung („niemals haben wir so etwas gesehen“) eine die gesamte Geschichte Israels umspannende Aussage über die Einzigartigkeit der Zuwendung Gottes zu seinem Volk in Jesus. Erneut wird damit Israel als Bezugsrahmen des Wirkens Jesu herausgestellt (vgl. 4,23). Die negative Reaktion wird hingegen den – unvermittelt wieder auftauchenden – Pharisäern zugeschrieben (vgl. Mk 3,22). Die Jesus feindlichen Autoritäten sind durch die positive Resonanz, die Jesus im Volk findet, auf den Plan gerufen, und sie schrecken nicht vor dem Vorwurf zurück, dass Jesus mit dem Teufel im Bunde steht. In 12,24 wird dieser Vorwurf dann Ausgangspunkt einer längeren Auseinandersetzung werden. Hier bleibt eine Reaktion Jesu noch aus, denn innerhalb der Komposition in 8,1–9,34 kommt es Matthäus allein darauf an, abschließend die Differenz zwischen den Volksmengen und den Autoritäten in ihrer Stellung zu Jesus festzuhalten.

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II 6 Abschließendes Summarium des Wirkens Jesu (9,35) 35 Und Jesus zog umher in allen Städten und Dörfern, lehrte in ihren Synagogen und verkündigte das Evangelium vom Reich und heilte jede Krankheit und jede Schwäche. Mit nur zwei kleinen Abweichungen wiederholt Matthäus das Summarium in 4,23. „In ganz Galiläa“ (4,23) wird nun in Anlehnung an Mk 6,6b durch „alle Städte und Dörfer“ (vgl. Mt 10,11) spezifiziert. „Im Volk“ (4,23) fehlt, weil Matthäus den Israelbezug bereits durch 9,27–34 in Erinnerung gerufen hat und auch die nachfolgende Aussendungsrede diesen Faden aufnimmt. Jesu Verkündigung des Evangeliums vom Reich, seine Lehre und sein vollmächtiges, vor allem heilendes Handeln sind in 5,1–9,34 entfaltet worden. Indem Matthäus am Ende der Komposition in Korrespondenz mit 4,23 noch einmal ein die ganze Region umfassendes Gesamtbild folgen lässt, unterstreicht er, dass das Voranstehende – mit seiner lokalen Konzentration auf Kafarnaum – exemplarisch zu verstehen ist. So oder ähnlich muss man es sich vorstellen, wenn Jesus in allen Städten und Dörfern Galiläas umherzog.

II 7 Die Sendung der Jünger (9,36–11,1) Nachdem die Jünger durch das in 4,23–9,35 dargestellte Wirken Jesu die nötige Instruktion und Anschauung erhalten haben, werden sie in 9,36–11,1 mit der Weiterführung des Wirkens Jesu beauftragt (vgl. zur Makrostruktur die Einleitung zu 4,17–11,1). Diese kompositionelle Anlage lässt nicht nur erneut die enge Verklammerung von Christologie und Ekklesiologie in der mt Jesusgeschichte deutlich werden, sondern auch die fundamentale Bedeutung des Sendungsauftrags im mt Jüngerverständnis, die sich bereits in der kompositorischen Funktion von 5,13–16 als thematischem Kopfstück zum Korpus der Bergpredigt andeutete – die Jünger sind „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ – und im universalen Missionsbefehl als Klimax der mt Jesusgeschichte in 28,16–20 ihren finalen Ausdruck findet. Kirche ist für Matthäus ihrem Wesen nach missionarisch. Auffallend ist, dass die Rede in 10,32–39 in eine Erörterung der Situation der Jünger in der Welt übergleitet, die den Zusammenhang mit der Aussendung zwar nicht aufgibt, aber transzendiert, da hier Fragen angesprochen werden, die auch sesshafte Gemeindeglieder betreffen. Matthäus scheint in den Wandermissionaren und den sesshaften Gemeindegliedern freilich nicht zwei klar voneinander abzugrenzende Gruppen zu sehen. Sesshafte können für eine gewisse Zeit Wandermission betreiben, Wandermissionare sich niederlassen (vgl. Did 12,3–13,1). Missionarisches Wir-

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ken am eigenen Ort ist für Matthäus ohnehin Aufgabe eines jeden Christenmenschen. Im Blick auf die Quellen zeigt sich die Aussendungsrede in 10,5–42 als ein aus Steinen unterschiedlicher Herkunft komponiertes Mosaik. Matthäus hat sowohl in Mk 6,7–13 (par Lk 9,1–6) als auch in Q (vgl. Lk 10,1–16) eine Aussendungsrede vorgefunden. Anders als Lukas hat Matthäus die beiden Reden nicht gesondert aufgenommen, sondern ineinander gearbeitet. Sieht man von der Aufnahme von Q 10,16 in Mt 10,40 ab, hat er den aus den Aussendungsreden (Q 10; Mk 6) stammenden Stoff allerdings bereits mit V. 16 verarbeitet, d. h. er hat ab V. 17 verschiedenes anderweitiges Material aus Mk und vor allem aus Q aufgenommen und an einzelnen Stellen noch durch Sondergut (oder redaktionell) ergänzt. Der umfangreiche Ausbau der Rede und die eigenständige kompositorische Arbeit des Evangelisten spiegeln die Bedeutung, die die Rede für Matthäus, insbesondere für sein Kirchen- bzw. Jüngerverständnis, besitzt. Fragt man synchron nach der Struktur des Textes, so lassen sich nach der in sich gegliederten Einleitung in 9,36–10,4 (bzw. 10,5a) in der eigentlichen Rede in einem ersten Schritt V. 5–15.16–23.24–25.26–33.34–39.40–42 als Untereinheiten abgrenzen. Mit einer solchen kleinteiligen Segmentierung ist allerdings die eigentliche Gliederungsaufgabe, die übergreifenden thematischen Strukturen zu erfassen, nicht erledigt, sondern nur angebahnt. Als Hauptgliederungssignal werden zuweilen die drei Amen-Worte in V. 15.23.42 aufgefasst, die jeweils einen Hauptabschnitt abschließen sollen. Dagegen spricht aber, dass V. 24f die Ankündigung von Verfolgung und Bedrängnis in dem vorangehenden Passus V. 16–23 weiterführt und bündelt, während sich von V. 26 an der Akzent von der Ansage der Verfolgung auf die Ermahnung der Jünger zum richtigen Verhalten angesichts dieser Situation verlagert, so dass V. 24f zu V. 16–23 zu ziehen ist. Der Auslegung liegt daher folgende Gesamtgliederung zugrunde: Nach der Einleitung in 9,36–10,4 ergeht in 10,5–15 der eigentliche Sendungsauftrag samt grundlegender Verhaltensregeln für das Vorgehen der Jünger. In V. 16–25 tritt die Ansage von Bedrängnis und Verfolgung als Signatur des missionarischen Wirkens in den Vordergrund, während dann in V. 26–39 den Jüngern angesichts dieser schwierigen Situation eingeschärft wird, ihrem Bekenntnis und Auftrag treu zu bleiben und standzuhalten. V. 40–42 wechselt noch einmal die Perspektive: Thema ist nun positiv die Bedeutung gastfreundlicher Aufnahme der Wandermissionare.

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II 7.1 Die Einleitung zur Aussendungsrede (9,36–10,4) 36 Als er aber die Volksmengen sah, hatte er Mitleid mit ihnen, denn sie waren geplagt und daniederliegend wie Schafe, die keinen Hirten haben. 37 Da sagt er zu seinen Jüngern: „Die Ernte ist zwar groß; aber die Arbeiter sind wenige. 38 Bittet nun den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende!“ 10,1 Und als er seine zwölf Jünger herbeigerufen hatte, gab er ihnen Vollmacht über die unreinen Geister, um sie auszutreiben und jede Krankheit und jede Schwäche zu heilen. 2 Die Namen der zwölf Apostel aber sind diese: Der erste Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, sein Bruder; und Jakobus, der (Sohn) des Zebedäus, und Johannes, sein Bruder; 3 Philippus und Bartholomäus; Thomas und Matthäus, der Zöllner; Jakobus, der (Sohn) des Alphäus, und Thaddäus; 4 Simon, der Kananäer, und Judas aus Iskariot, der ihn auch auslieferte. Mit der auffallend ausführlichen Einleitung, für die Matthäus verschiedene Passagen seiner Vorlagen zusammenkomponiert hat (zu den Details s. im Folgenden), hat der Evangelist der Rede mehrere für ihr Verständnis zentrale Interpretamente vorangestellt. Von fundamentaler Bedeutung ist, 9,36 dass er die Sendung der Jünger im mitleidigen Erbarmen Jesu begründet sein lässt. Matthäus hat dazu mit Mk 6,34 einen Vers aus der mk Erzählung von der Speisung der Fünftausend nach 9,36 vorgezogen. Das Sehen der Volksmengen (vgl. 5,1), das Jesu Mitleid hervorruft, ist im mt Kontext durch das Summarium in V. 35 gefüllt: Im Zuge seiner Wanderungen durch alle Städte und Dörfer (Galiläas) sieht Jesus das ganze Ausmaß der Not des Volkes, die durch die Einfügung der beiden Partizipien „geplagt“ und „daniederliegend“ noch über Mk 6,34 hinaus betont wird. Der Grund für die desolate Lage ist das Fehlen eines Hirten. Mit diesem im AT verbreiteten Bildmotiv (Num 27,17; 1Kön 22,17/2Chr 18,16; Jes 13,14; Ez 34,5.8; Sach 10,2; Jdt 11,19) ist hier keine tatsächliche Vakanz ausgesagt. Im Lichte des für Matthäus insgesamt zentralen Referenztextes Ez 34 sowie angesichts der das gesamte Mt durchziehenden Konfliktkonstellation ist vielmehr zu folgern, dass hier eine Anklage des Verhaltens der bisherigen Autoritäten impliziert ist (Ez 34,2–10). Deren Versagen zieht in Ez 34 ihre Ablösung nach sich, indem Gott sich selbst seiner Herde annimmt (V. 11–16) und seinen „Knecht David“ als Hirten einsetzt (V. 23). Matthäus sieht diese Konstellation als in Jesus erfüllt an: Jesus tritt als davidisch-messianischer Hirte (vgl. Mt 2,6) an die Stelle der bisherigen Autoritäten, die als Hirten des Volkes versagt haben (vgl. neben Ez 34 auch Jer 23,1–6). Mit der Aussendung der Jünger reagiert Jesus auf die Größe der Not: Die Jünger werden in den Dienst der messianischen Zuwendung des Hirten Israels zu seiner Herde gestellt und nehmen insofern

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an Jesu Hirtenamt teil. Dies bedeutet zugleich: Sie lösen nach Matthäus die bisherigen Autoritäten Israels ab. Der mt Kernvers 21,43 wird diesen Faden aufnehmen: Der Weinberg Israel bekommt neue Winzer. Durch das in 9,37f folgende Erntelogion, das die Aussendungsrede in 9,37–38 Q eingeleitet hat (vgl. Lk 10,2), hat Matthäus sodann einen eschatologischen Horizont über die Israel-Mission gespannt (vgl. Mt 13,39). „Ernte“ dient häufig als Gerichtsmetapher (z. B. Jes 18,4–6; 4Esra 4,28–32.39; Offb 14,14–20). Dieser Aspekt ist auch in Mt 9,37f nicht auszuklammern: Mit der Aufnahme oder Ablehnung der Jünger entscheiden die Menschen über ihr Heil (10,13–15). Beachtet man aber die Rahmung der Erntemetapher durch das Motiv des Erbarmens über die daniederliegende Herde (9,36) und die Sendung der Jünger zu „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (10,6) sowie die Herausstellung der Größe der Ernte in dem Logion selbst, wird deutlich, dass hier positiv der Gedanke der Sammlung des Volkes angesichts des nahe gekommenen Himmelreiches (10,7) im Vordergrund steht. Die spezifische Pointe der gewählten Metapher ist, dass die Zeit für die Ernte begrenzt ist und daher alle zur Verfügung stehenden Kräfte eingesetzt werden müssen, um die mögliche Ernte einzufahren. Von daher ist nicht nur die Einbeziehung der zwölf Jünger nötig, sondern auch deren Gebet um weitere „Erntehelfer“. In 10,1 greift Matthäus den Beginn der mk Aussendung auf (Mk 6,7, vgl. 10,1 auch 3,15). Jesus überträgt seinen Jüngern seine – in Mt 8–9 an einzelnen Beispielen sichtbar gewordene – Vollmacht über die unreinen Geister, damit sie diese austreiben und, wie Matthäus unter wörtlicher Aufnahme von 4,23; 9,35 ausformuliert, jede Krankheit und jede Schwäche heilen. Die Sendung der Jünger wird über diesen Rückverweis auf 4,23; 9,35 betont als direkte Weiterführung des irdischen Wirkens Jesu dargestellt. 10,5–8 wird diesen Aspekt nachdrücklich unterstreichen. In 10,1 ist erstmals im Mt von den zwölf Jüngern die Rede. Dazu pas10,2–4 send fügt Matthäus in V. 2–4 die Namensliste der Zwölf ein, die im Mk (wie auch im Lk) weit vor der Aussendung steht (Mk 3,13–19; Lk 6,12–16). In 10,5a wie auch in der Schlussnotiz in 11,1a spricht Matthäus wiederum explizit von den zwölf Jüngern. In Verbindung mit der programmatischen Konzentration der Sendung auf Israel in 10,6.23 lenkt Matthäus durch die auffällige Betonung der Zwölfzahl der Ausgesandten das Augenmerk auf die Korrespondenz zwischen dem Zwölferkreis und der Zwölfzahl der Stämme Israels (vgl. 19,28) und macht so theologisch deutlich, dass es bei der Sendung der Jünger um die endzeitliche Restitution des Zwölfstämmevolkes Israel geht. Die im Mt nur in der Einleitung der Namensliste in 10,2 begegnende Bezeichnung der zwölf Jünger als Apostel (= Gesandte, vgl. V. 5) passt zu V. 5a. Während Markus in der Liste – durch die Reihenfolge und die von Matthäus ausgelassene Erwähnung der Verleihung von Beinamen – die be-

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sondere Rolle von Petrus und den beiden Söhnen des Zebedäus als engerem Kreis aus den Zwölfen abbildet (Mk 3,16–18, vgl. 5,37; 9,2; 14,33, zusammen mit Andreas noch 1,29; 13,3), nennt Matthäus – wie Lk 6,14 – in Analogie zu 4,18–22 zunächst die beiden dort berufenen Brüderpaare. Der von Markus hervorgehobene Dreierkreis tritt bei Matthäus nur bei der Verklärung (17,1 par Mk 9,2) und in Getsemani (26,37 par Mk 14,33) gesondert in Erscheinung. Hervorgehoben wird durch die Hinzufügung von „der erste“ in 10,2 aber die Sonderstellung von Simon Petrus als primus inter pares (vgl. zu 16,18f); nur bei ihm wird auch der Beiname eigens genannt. Die weiteren acht Jünger werden analog zu den Brüdern paarweise aufgelistet. Mit dem redaktionellen Zusatz „der Zöllner“ bei Matthäus wird 9,9 in Erinnerung gerufen. Die Näherbestimmung des anderen Simon als „der Kananäer“ geht auf das aramäische Wort für „Eiferer“ zurück (vgl. Lk 6,15; Apg 1,13). Judas Iskariot (= Mann aus Kerioth?) steht wie in Mk 3,19; Lk 6,16 am Ende und wird bereits hier als der, der Jesus ausliefern wird, bezeichnet (vgl. Mt 26,15 f.21–25.46.48; 27,3f). II 7.2 Die Aussendungsrede (10,5–42) II 7.2.1 Sendungsauftrag und Verhaltensregeln (10,5–15) 5 Diese Zwölf sandte Jesus aus und gebot ihnen und sagte: „Geht nicht weg auf den Weg zu den Heiden und in eine Stadt der Samaritaner geht nicht hinein! 6 Geht aber vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel! 7 Wenn ihr aber hingeht, verkündigt und sagt: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. 8 Kranke heilt, Tote weckt auf, Aussätzige macht rein, Dämonen treibt aus! Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebt! 9 Verschafft euch nicht Gold, auch nicht Silber, auch nicht Kupfer(geld) in eure Gürtel, 10 nicht einen Reisesack für den Weg, auch nicht zwei Untergewänder, auch nicht Sandalen, auch nicht einen Stock! Denn der Arbeiter ist seiner Nahrung wert. 11 Wenn ihr aber in eine Stadt oder in ein Dorf hineinkommt, forscht, wer es darin wert ist; und dort bleibt, bis ihr hinausgeht! 12 Wenn ihr aber ins Haus hineinkommt, grüßt es! 13 Und wenn es das Haus wert ist, soll euer Friede auf es kommen; wenn es aber nicht wert ist, soll euer Friede zu euch zurückkehren. 14 Und wer immer euch nicht aufnimmt und nicht eure Worte hört – geht hinaus aus dem Haus oder jener Stadt, und schüttelt den Staub von euren Füßen! 15 Amen, ich sage euch: Es wird für das Land von Sodom und Gomorra erträglicher sein am Tag des Gerichts als für jene Stadt. Die Eröffnung der Rede in 10,5b–15 weist einen klaren Aufbau auf. V. 5b–6 benennt die Adressaten der Sendung, V. 7f umreißt den Auftrag

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inhaltlich. V. 9f fügt eine Mahnung zum Erwerbsverzicht und Ausrüstungsregeln für den Weg an, V. 11–14 Weisungen für das Verhalten an den jeweiligen Orten, woran sich in V. 15 eine Gerichtsdrohung anschließt. Der Vergleich mit den knappen Instruktionen in Mk 6,8–11 (par Lk 9,2–5) und der etwas ausführlicheren Aussendungsrede in Q, deren Aufbau Lk 10,2–12 getreu wiedergeben dürfte, zeigt, dass Matthäus beide Vorlagen zusammengearbeitet und die genannte Struktur von V. 5b–15 selbst geschaffen hat. V. 5b–6 ist ohne Parallele und dürfte als Bildung des Evangelisten zu werten sein. Doch auch dann, wenn diese Verse dem mt Sondergut (bzw. Q Mt) entstammen sollten, wird hier ein besonderes Anliegen des Evangelisten sichtbar. Matthäus beginnt die Aussendungsrede mit einer Begrenzung des Radius 5–6 der Mission: Wie Jesu eigene Sendung (15,24) gilt auch die der Jünger vor Ostern ausschließlich Israel. 28,19 zeigt, dass dies nicht das letzte Wort ist. Das Verhältnis zwischen 10,5f und 28,19 ist eine der zentralen Fragen der Matthäusinterpretation. In 28,19 die Antwort auf die (am Ende) angeblich kollektive Ablehnung Jesu in Israel zu sehen, die die Verwerfung Israels nach sich ziehe, lässt sich exegetisch nicht halten, weil Matthäus keineswegs eine solche kollektive Ablehnung Jesu in Israel vertritt, sondern die Reaktionen differenziert darstellt und auch nirgends der Verwerfung Israels das Wort geredet wird (vgl. in der Einleitung unter 2.1). Die Heidenvölker werden nach Ostern vielmehr auf der soteriologischen Basis von Tod, Auferstehung und Erhöhung Jesu in die Heilszuwendung einbezogen. 10,5b wird damit aufgehoben. 10,6 allerdings bleibt auch nach Ostern in Kraft (vgl. 10,23!); die Zuwendung zu „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ mit dem spezifischen Horizont der Restitution des Gottesvolkes (s. zu 10,2–4) ist eine bleibende Aufgabe der ecclesia. 28,19 tritt ergänzend zu 10,6 hinzu. In seinem irdischen Wirken erfüllt Jesus seine Aufgabe als davidischer Messias; die Jünger aber haben an dieser Aufgabe teil. 10,5–8 reflektiert den Stand, den die Erzählung der Jesusgeschichte bis dahin erreicht hat. Mit dem Heilstod des Gottessohnes und der Erhöhung des Auferweckten ist ein neuer Stand gegeben, dem 28,19 Rechnung trägt. Zu beachten ist darüber hinaus, dass die Verbote in 10,5b in Form von geographischen Aussagen gestaltet sind: Sich nicht auf einen Weg zu den Heiden zu begeben und nicht in eine Stadt der Samaritaner hineinzugehen, bedeutet in der Redesituation von 10,5–42 faktisch, dass die Jünger – wie zuvor und im Anschluss Jesus (4,23; 9,35; 11,1b) – in Galiläa umherziehen sollen, denn Galiläa ist im Süden von Samaria und ansonsten von überwiegend heidnischen Gebieten umgeben. 10,5f konzentriert die Mission also nicht allein auf Israel, sondern impliziert zugleich Galiläa als Ort der Zuwendung: Diese gilt dem Gottesvolk, und ihr Ort ist der Schrift gemäß Galiläa (vgl. 4,12–16). Die „verlorenen Schafe“ sind im Lichte von 9,36 die daniederliegenden Volksmengen im Unterschied zu den Autoritäten, die für die desolate

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Lage des Volkes verantwortlich sind. Die zuvor in 9,33f betonte Differenzierung ist auch hier leitend. Indem die Jünger von Jesus als dem messianischen Hirten Israels mit der Verantwortung für die Volksmengen betraut werden, treten sie an die Stelle der alten Autoritäten (vgl. zu 9,36). Dem fügt sich ein, dass die Rede von den „verlorenen Schafen“ auf Jer 27,6 LXX (= 50,6 MT) und Ez 34,4.16 anspielt, und in beiden Referenztexten die Situation der Herde mit dem Versagen der Hirten erläutert wird. Die Wendung „die verlorenen Schafe“ impliziert für Matthäus an dieser Stelle nicht, dass es daneben Schafe gibt, die nicht verloren sind. Matthäus greift hier vielmehr die umfassende soteriologische (vgl. 18,14) Notlage auf, die er in 4,16 mit dem Zitat aus Jes 9,1 als Sitzen des Gottesvolkes in der Finsternis und im Schatten des Todes umrissen hat. Der Auftrag in V. 7f, zu dem Lk 10,9 eine kürzere Parallele bietet (= Q), 7–8 unterstreicht, dass Matthäus die Sendung der Jünger als Fortsetzung des Wirkens Jesu versteht. So ist der Verkündigungsauftrag in V. 7 parallel zu 3,2 und 4,17 gestaltet: Der Täufer als Vorläufer, Jesus als Hauptfigur und die Jünger werden als Boten Gottes zusammengebunden (vgl. 21,28–22,14). Nur der Umkehrruf ist in 10,7 ausgelassen, wodurch der Ton umso mehr auf der von den Jüngern auszurichtenden Heilsbotschaft zu liegen kommt. Die Nähe des Himmelreiches ist dabei zugleich Fundament und Horizont ihres gesamten, also auch des ihnen in V. 8 aufgetragenen heilenden Wirkens, denn in den Heilungen wird diese Nähe bereits erfahrbar, wie Jesus in 12,28 im Blick auf seine Dämonenaustreibungen ausführt. Der zu einer viergliedrigen Imperativreihe ausgestaltete Heilungsauftrag (vgl. neben Lk [= Q] 10,9 noch Mk 3,15; 6,13; Lk 9,2) lässt an Jesu eigene Taten in Mt 8f zurückdenken, was den Zusammenhang mit 12,28 unterstreicht. Mit der am Ende von V. 8 angefügten Weisung, das umsonst Empfangene auch umsonst weiterzugeben, bildet Matthäus eine Brücke zwischen dem Auftrag in V. 7f und den nachfolgenden Verhaltensregeln. Beim „umsonst Empfangenen“ ist im Kontext zunächst einmal an die Übertragung der Vollmacht in 10,1 zu denken. Darüber hinaus schwingt aber auch die barmherzige Zuwendung im Ganzen mit, die die Jünger selbst von Jesus erfahren haben. Der ehemalige Zöllner Matthäus ist dafür ein gutes Beispiel (9,9–13): Er, dem selbst Jesu Barmherzigkeit (9,13) zuteilwurde, gehört nun zu denen, die mit der in Jesu Erbarmen (9,36) begründeten Aussendung betraut werden. Als selbst von Gott durch Jesus Beschenkte ist es nun Aufgabe der Jünger, sich den (noch) verlorenen Schafen des Hauses Israel zuzuwenden, zu denen auch sie zuvor zählten. In V. 9f hat Matthäus die Ausrüstungsregeln aus Mk 6,8f und Q 10,4 zu 9–10 einem Erwerbsverbot umformuliert und ganz auf der Linie des Schlusses von V. 8 („umsonst gebt es weiter!“) die Mahnung vorangestellt, nicht Gold, Silber oder Kupfergeld (vgl. zu dieser Trias Ex 25,3) zu erwerben. In

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den weiteren Bestimmungen wird im Anschluss an Q 10,4, aber im Unterschied zu Mk 6,9 selbst das Tragen von Schuhwerk und das Mitführen eines Stocks (vgl. Lk 9,3, wo Einfluss von Q 10,4 vorliegt), mit dem man sich gegen Tiere und bei Überfällen verteidigen konnte, untersagt. Im weiteren Kontext betrachtet bietet V. 9f mit dem Verzicht auf Geld und Proviant eine kompromisslose Fortschreibung von 6,19–24.25–34 im Blick auf die spezifische Situation von Wandermissionaren. Der Verzicht sogar auf das Selbstverständliche und die ostentative Armut und Bedürfnislosigkeit werden als Zeichenhandlung verständlich, die auf die Bedeutung des verkündigten Himmelreiches verweist, dem die Jünger ihre irdischen Belange kategorisch unterordnen (vgl. 6,33). Dem Verweis auf die Fürsorge des himmlischen Vaters in 6,26.30.32 korrespondiert hier die Zuversicht, dass die Wandermissionare von Menschen, denen sie begegnen, versorgt werden: „Denn der Arbeiter ist seiner Nahrung wert“ (vgl. Did 13,1f). Für den Wortlaut der Logienquelle wird man der in Lk 10,7 begegnenden Rede vom Lohn den Vorzug geben (vgl. 1Kor 9,14.17f; 1Tim 5,18). Mit der Konkretisierung von Lohn durch Nahrung, die durch die in Q (vgl. Lk 10,7a) vorangehende, von Matthäus aber ausgelassene Mahnung inspiriert sein dürfte, das zu essen und zu trinken, was vorgesetzt wird, meidet Matthäus eine Spannung zu V. 8fin.9a, die bei einem (Miss-)Verständnis von Lohn im Sinne einer Geldleistung entstehen würde (vgl. Did 11,6). Zugleich entgeht er durch die Auslassung der Weisung, das jeweils Angebotene zu essen (s. neben Lk 10,7 noch 10,8), einem möglichen Konflikt mit der Beachtung von Speisegeboten, der leicht eintreten konnte, wenn Mt 10,9f auch der Völkermission zugrunde gelegt wurde. Das im Schlusssatz in V. 10 eingeführte Moment des Wertseins bzw. der 11–15 Würdigkeit wird in V. 11–15 zum Leitmotiv. Matthäus hat den Text so strukturiert, dass anders als in Lk 10,4–11 (= Q) die Ereignisfolge beim Eintreffen an einem neuen Ort abgebildet wird. Wenn die Jünger „in eine Stadt oder in ein Dorf“ – der Anklang an 9,35 unterstreicht noch einmal die Korrespondenz zum Wirken Jesu – hineinkommen, sollen sie nicht beim erstbesten Haus anklopfen, sondern zunächst Erkundigungen einholen, welches Haus es wert ist, dass sie dieses als Unterkunft und Basis für ihr Wirken am Ort nutzen. Zur Zeit des Matthäus dürfte V. 11 bereits bedeutet haben, dass Wandermissionare, falls es schon Jesusanhänger an einem Ort gab, bei einem von diesen unterzukommen suchten. Im Falle der Erstmission an einem Ort muss sich hingegen anhand der Reaktion der Bewohner erst noch erweisen, ob das Haus wirklich würdig ist (V. 13). Der Gruß beim Hineingehen in das ausgewählte Haus (V. 12) ist in Lk 10,5, wohl auf der Basis von Q, als Friedensgruß expliziert. V. 13 zeigt, dass daran auch bei Matthäus gedacht ist. Dabei geht es nicht bloß um eine alltägliche Grußformel, sondern es wird der Friede Gottes im Sinne eines umfassenden Heilszuspruchs zugesagt (vgl. Jes 52,7). Haben die Jünger

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eine Unterkunft gefunden, ist ein Wechsel in ein anderes Haus untersagt (V. 11) – wohl um auszuschließen, dass Wandermissionare, wenn sie sich an einem Ort näher orientiert haben, auf eine noblere Unterkunft schielen, sie dadurch selbst in Verruf geraten oder Zwist unter den unterschiedlichen Gastgebern entsteht. Der negative Fall, dass sich das Haus nicht als würdig erweist (V. 13b), also die Jünger ablehnt, wird durch V. 14 weiter entfaltet und zugleich, den Bogen zu V. 11 zurückschlagend, im Blick auf eine ganze Stadt verallgemeinert. Das Abschütteln des Staubes symbolisiert die mit dem Hinausgehen vollzogene Abwendung und Trennung und damit das kommende Gericht. Die in V. 15 folgende Gerichtsdrohung (vgl. Lk 10,12) untermauert in drastischer Form die Konsequenz, die die Zurückweisung der Jünger nach sich zieht, denn mit Sodom und Gomorra (Gen 18,16–19,29; Jes 1,7–10; Jer 23,14 u. ö.) werden die Prototypen sündhafter Orte aufgerufen, die Gottes Vernichtungsgericht zu spüren bekommen haben (vgl. Mt 11,22.24). II 7.2.2 Verfolgung und Bedrängnis der Jünger (10,16–25) 16 Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter Wölfe. Werdet also klug wie die Schlangen und lauter wie die Tauben! 17 Hütet euch aber vor den Menschen! Denn sie werden euch an Synedrien ausliefern, und in ihren Synagogen werden sie euch geißeln; 18 und vor Statthalter und Könige werdet ihr geführt werden um meinetwillen, ihnen und den Heiden zum Zeugnis. 19 Wenn sie euch aber ausliefern, sorgt euch nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es wird euch in jener Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt. 20 Denn nicht ihr seid es, die reden, sondern der Geist eures Vaters ist es, der durch euch redet. 21 Es wird aber der Bruder den Bruder zum Tode ausliefern und der Vater das Kind; und Kinder werden sich erheben gegen die Eltern und sie zu Tode bringen. 22 Und ihr werdet von allen gehasst werden um meines Namens willen. Wer aber bis zum Ende durchhält, der wird gerettet werden. 23 Wenn sie euch aber verfolgen in dieser Stadt, flieht in die andere! Denn amen, ich sage euch, ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende sein, bis der Menschensohn kommt. 24 Ein Jünger ist nicht über dem Lehrer und ein Sklave nicht über seinem Herrn. 25 Es ist genug für den Jünger, dass er wie sein Lehrer werde und der Sklave wie sein Herr. Wenn sie den Hausherrn Beelzebul genannt haben, um wie viel mehr seine Hausgenossen! Das Logion in V. 16a, das ausweislich Lk 10,3 in Q zu Beginn der Aussendungsrede stand, ohne im Fortgang inhaltlich näher entfaltet zu werden, fungiert in Mt 10,16–25 als thematisches Kopfstück eines ganzen Ab-

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schnitts über die Bedrängnis, auf die die Jünger im Rahmen ihres missionarischen Wirkens gefasst sein müssen. Matthäus hat dazu in V. 17–22 thematisch einschlägige Passagen aus der mk Endzeitrede in Mk 13,9.11–13 vorgezogen bzw. zum Teil dupliziert. Schon dieser Befund lässt evident werden, dass Mt 10, von V. 5b abgesehen, keineswegs bloß eine vergangene Phase der Mission thematisiert. Allerdings wurde Mk 13,10 wegen des im Kontext von Mt 10 unpassenden expliziten Verweises auf die universale Mission hier ausgelassen (vgl. 24,14), so dass zu präzisieren ist: Mt 10 ist insofern dem narrativen Kontext angepasst, als Matthäus der vorösterlichen Konzentration auf Israel Rechnung trägt. Ansonsten spricht der Text aber in die Gegenwart der Adressaten des Mt hinein, und zwar auch insofern, als Israel – nun neben den Völkern – weiterhin Adressat der Sendung ist. In V. 19f fließt neben Mk 13,11 ferner Q 12,11f ein. V. 23 findet sich nur bei Matthäus und könnte, wie 10,5b.6, auf ihn zurückgehen. V. 16a überträgt die zuvor auf die Volksmengen bezogene Schafmeta16 pher auf die ausgesandten Jünger (vgl. 18,12–14; 26,31). Damit werden nun nicht die verlorenen Schafe von 9,36; 10,6, also die eigentlichen Adressaten der Sendung, zu Wölfen, die die Jünger verfolgen. Vielmehr entsprechen die Wölfe den in 9,36 implizierten alten Hirten: Im Rahmen ihrer missionarisch-diakonischen Zuwendung zum Volk müssen die Jünger auf den Widerstand, ja die Feindschaft der bisherigen Autoritäten gefasst sein, die gegenüber den Jüngern ihre Position zu verteidigen suchen, wie sie dies auch gegen Jesus selbst versucht haben. Deshalb ist es nötig, sowohl klug wie die Schlangen (vgl. Gen 3,1) zu sein, um unnötigen Gefährdungen aus dem Weg zu gehen (vgl. das Fluchtmotiv in V. 23!), als auch lauter wie die Tauben, um den Gegnern keine Gründe für Anklagen zu liefern. Dass solche – auch ohne einen Grund, wie dies im Prozess gegen Jesus der Fall ist – dennoch kommen werden, führt der nachfolgende Kontext aus. Die Entfaltung von V. 16 in V. 17–23 wird mit einer von Matthäus selbst 17–18 redaktionell gestalteten allgemeinen Warnung vor den Menschen eröffnet (V. 17a), für die V. 17b.18 die Begründung liefert. Mit den Synedrien in V. 17b sind lokale jüdische Gerichtsinstanzen gemeint. Von den Synagogen ist distanzierend als „ihren Synagogen“ die Rede, doch weist die Bestrafung von Jesusjüngern mit Geißelung (vgl. 23,34), also den 39 (40 – 1) Geißelhieben (vgl. Dtn 25,3; 2Kor 11,24), zugleich darauf hin, dass die Synagogen noch den Lebenskontext von Gemeindegliedern bilden und insbesondere auch Ort ihrer missionarischen Aktivität sind. Blickt V. 17b auf den innerjüdischen Bereich, so ergänzt V. 18 diesen um von Rom eingesetzte politische Instanzen. Der Horizont der auf Israel konzentrierten Mission wird damit allerdings nicht zwingend transzendiert. Im Duktus der Aussendungsrede ist vielmehr zunächst einmal an Verfolgung von jüdischer Seite zu denken, die über die den eigenen Instanzen mögliche Ver-

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folgung hinaus – als eine zweite Stufe – zur Anklage vor den heidnischen Instanzen führt (vgl. Apg 17,1–9; 18,12–17), wie dies analog auch beim Prozess gegen Jesus der Fall ist. Die pluralische Rede von Statthaltern und Königen lässt allerdings für V. 18 immerhin an eine implizite Ausweitung auf das Diasporajudentum denken, und mit der von Matthäus um die explizite Nennung der Heiden erweiterten Schlusswendung „ihnen und den Heiden zum Zeugnis“ wird zugleich zumindest ein Signal auf Kommendes gesetzt (vgl. 24,14). Die genannte Schlusswendung blickt dabei positiv auf das Verkündigungszeugnis, das die Jünger anlässlich der gegen sie erhobenen Anschuldigungen ablegen. Die Anklage vor Gericht mutiert zu einer missionarischen Gelegenheit (vgl. Apg 26,28). Das sich in V. 19f anschließende Trostwort führt den Aspekt des Zeug- 19–22 nisses vor Gericht weiter. Die Jünger können ohne Angst und Sorge (vgl. 6,25) solchen Situationen entgegensehen, weil der ihnen verliehene Heilige Geist (28,19) ihnen die jeweils angemessenen Worte eingeben wird. Matthäus greift in V. 19 wie dann noch einmal in V. 21 das Verb „ausliefern“ aus V. 17 auf, wo es (als erste Stufe) um die innerjüdischen Instanzen ging. Dies steht auch hier zumindest im Vordergrund. „Ausliefern“ fungiert auch in der Passionserzählung als Leitwort (26,2.15f; 27,2–4.18.26 u. ö., vgl. auch 17,22; 20,18f); die Verwendung des Verbs in Mt 10 (vgl. 24,9f) verbindet die Erfahrungen der Jünger also mit dem Schicksal Jesu. V. 21 deutet dabei an, was in V. 34–39 breiter ausgeführt wird: Risse werden durch Familien hindurch gehen (vgl. Mi 7,6; 1Hen 100,2). Die pauschale Aussage, dass die Jünger „von allen gehasst werden“, ist natürlich nicht zu pressen, sondern dient rhetorisch der Dramatisierung der verbreiteten Ablehnung, auf die die Jünger stoßen werden. In ebenso pauschaler Weise wird in 24,9 vom „Gehasstwerden von allen Völkern“ die Rede sein. Wären diese Aussagen nicht aspekthaft zu verstehen, wäre die Aussendung zu Israel – wie die zu „allen Völkern“ in 28,19 – völlig sinnlos. Die Parallelität von 10,17–22 und dem bereits die universale Mission voraussetzenden Passus in 24,9–14 macht deutlich, dass die Erfahrung von Ablehnung gleichermaßen Signatur der Israel- wie der Völkermission ist. Setzt nun das „Gehasstwerden von allen Völkern“ den Missionsauftrag gegenüber den Völkern nicht außer Kraft, so gilt ebenso, dass Negativerfahrungen unter Juden keine Beendigung der Zuwendung zu „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (10,6) begründen können. Vielmehr illustriert schon die Sequenz in Mt 5,11f.13–16, dass die Jünger gerade auch als Verfolgte zur missionarischen Existenz aufgerufen sind. V. 22b fügt ein weiteres Trostwort an, das die Jünger durch den Ausblick auf den Empfang ewigen Lebens zum Durchhalten motivieren soll. Mit V. 23 schlägt Matthäus den Bogen zum in V. 6 vorgebrachten Bezug 23 der Sendung auf Israel zurück. Der Vers bestätigt, dass Matthäus die Israelmission als eine bis zur Parusie fortbestehende Aufgabe ansieht, denn die

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Zeitangabe „bis der Menschensohn kommt“ lässt sich hier nicht anders als im Sinne von 24,27.30.37–39.44 (vgl. auch 13,41; 16,27; 19,28; 25,31) verstehen. Auch die in V. 22b vorangehende Rede vom Durchhalten bis zum Ende unterstreicht diesen eschatologischen Horizont. Ablehnung oder gar Verfolgung in einer Stadt (vgl. wiederum 23,34) führt also bis zur Parusie nicht zum Abbruch der missionarischen Bemühungen, sondern zu ihrer Fortsetzung in einer anderen. Mit den „Städten Israels“, mit denen die Jünger bis zur Parusie nicht zu Ende kommen werden, sind dabei kaum nur die Städte im „Land Israel“ (2,20f) gemeint – dies hätte sich entsprechend sagen lassen –, sondern V. 23 weitet die Israelmission, über die in 10,5f gesetzte geographische Beschränkung hinaus, auf den Raum der Diaspora aus: Im Rahmen ihrer nachösterlichen Mission werden sich die Jünger auch in der Diaspora den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (V. 6) zuwenden. Nur so kann dem mit der Sendung der Zwölf symbolisierten Anspruch der Restitution Israels entsprochen werden. Unterstreicht V. 23 also, dass V. 6, anders als V. 5b, für die Adressaten des Mt nicht bloß Rückblick auf Vergangenes ist, sondern in die Gegenwart der Gemeinde hineinspricht, so lenkt der Vers das Augenmerk des Näheren ganz im Sinn von 9,37f erneut auf die Größe der Aufgabe. Unterscheidet man an dieser Stelle die Ebene der erzählten Welt und die Kommunikationsebene des Evangelisten, so können und sollen sich die Adressaten in der Rolle der Arbeiter sehen, um die die Jünger damals den Herrn der Ernte gebeten haben. Zugleich klingt in V. 23 ein tröstendes Moment mit: Die Missionare werden trotz aller Verfolgung immer noch eine Zufluchtsstätte finden. In V. 24f hat Matthäus ein sprichwortartiges Logion aus Q, das in 24–25 Lk 6,40 in einer nur die Relation „Jünger – Lehrer“ enthaltenden Fassung vorliegt (zur Relation „Sklave – Herr“ vgl. Joh 13,16; 15,20), durch die Platzierung in der Aussendungsrede neu kontextualisiert und mit der Anfügung von V. 25b in den Zusammenhang des Konflikts Jesu mit den Autoritäten eingebunden (vgl. 9,34; 12,24). Anders als in Lk 6,40 (aber analog zu Joh 15,20) wird das Logion damit inhaltlich auf die Schicksalsgemeinschaft zwischen Jesus und seinen Jüngern bezogen. V. 24f bündelt und expliziert damit, was durch die Anklänge an die Passion in V. 17–22 bereits angedeutet wurde. Da es in 9,34; 12,24 die Pharisäer sind, die den Beelzebulvorwurf gegen Jesus erheben, findet die Deutung, dass bei den „Wölfen“ in 10,16 an die Autoritäten zu denken ist, von denen die Pharisäer die für Matthäus’ Gegenwart wichtigste Gruppe bilden (vgl. 23,34!), von 10,25 her eine Bestätigung. Wenn Jesus nun von den Jüngern im Bild der Hausgenossen spricht, deutet sich die Vorstellung der familia Dei an (vgl. 12,46–50). Profiliert man dies im Kontext von V. 21.34–39, tritt der Aspekt hinzu, dass die geschwisterliche Gemeinschaft der Glaubensnachfolger den Verlust familiärer Bindungen kompensiert.

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II 7.2.3 Mahnungen angesichts der Bedrängnis (10,26–39) 26 Fürchtet euch nun nicht vor ihnen! Denn es ist nichts verdeckt, das nicht aufgedeckt, und (nichts) verborgen, das nicht erkannt werden wird. 27 Was ich euch in der Finsternis sage, das sagt im Licht; und was ihr ins Ohr zu hören bekommt, das verkündigt auf den Dächern! 28 Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht zu töten vermögen; fürchtet aber vielmehr den, der sowohl Seele als auch Leib zu verderben vermag in der Hölle! 29 Verkauft man nicht zwei Spatzen für ein Assarion? Und nicht einer von ihnen wird auf die Erde fallen ohne euren Vater. 30 Bei euch aber sind sogar die Haare des Hauptes alle gezählt. 31 Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen. 32 Jeder nun, der sich zu mir bekennen wird vor den Menschen, zu dem werde auch ich mich bekennen vor meinem Vater in den Himmeln. 33 Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich verleugnen vor meinem Vater in den Himmeln. 34 Meint nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen; ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern ein Schwert. 35 Denn ich bin gekommen, einen Menschen zu entzweien mit seinem Vater und eine Tochter mit ihrer Mutter und eine Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; 36 und seine eigenen Hausgenossen sind Feinde des Menschen. 37 Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig; 38 und wer nicht sein Kreuz nimmt und hinter mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig. 39 Wer sein Leben findet, wird es verlieren, und wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden. Stand in V. 16–25 thematisch die Ansage von Bedrängnis und Verfolgung „um Jesu willen“ (V. 18.22) im Vordergrund, die in V. 24f durch die Herausstellung der Schicksalsgemeinschaft zwischen Jesus und seinen Jüngern auf den Punkt gebracht wurde, so verlagert sich der Schwerpunkt in V. 26–42 auf die Ermahnung der Jünger. In V. 26–33 verarbeitet 26–33 Matthäus einen Passus aus der Logienquelle (vgl. Lk 12,2–9), dessen Abschluss er bereits in V. 19f (vgl. Lk 12,11f) hat einfließen lassen. Die Jünger sollen sich durch die Bedrängnis nicht entmutigen lassen, sondern sich ohne Furcht zu Jesus bekennen. Die Mahnung zur Furchtlosigkeit gegenüber Menschen war Matthäus in V. 28.31 in Q vorgegeben (vgl. Lk 12,5.7). Matthäus hat sie redaktionell auch an den Beginn der Einheit 26–27 in V. 26a gestellt und sie so deutlich zum Leitmotiv gemacht. V. 26a weist dabei nicht nur durch das Personalpronomen „fürchtet sie nicht“ auf den vorangehenden Kontext zurück – gemeint sind die, welche die Jünger verfolgen und sie wie ihren Herrn „Beelzebul“ schimpfen (V. 25) –, sondern wird zudem auch durch die Partikel „nun“ als Folgerung aus dem Voran-

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stehenden ausgewiesen. Das bedeutet umgekehrt, dass der vorangehende Kontext begründet, warum die Jünger sich nicht fürchten sollen: weil sie sich des Beistands des Geistes gewiss sein dürfen (V. 19f), sie, sofern sie durchhalten, auf das Heil zugehen (V. 22), sie immer eine Stadt zur Zuflucht finden werden (V. 23) und – liest man den Text auf der Ebene der Kommunikation des Evangelisten mit seiner Gemeinde – die Verfolger am Ende so wenig obsiegen werden, wie dies im Licht der Auferstehung bei Jesus der Fall war (V. 24f). V. 26b fügt dem eine weitere Begründung hinzu. Da der in V. 26b leitende Kontrast „verborgen – offenbar“ in V. 27 eine Entsprechung findet, kann man erwägen, dass das, was V. 26b passivisch (im Sinne eines passivum divinum) formuliert, in V. 27 aktivisch im Blick auf die beteiligten Akteure ausgesagt und zugleich konkretisiert wird, so dass in V. 26b an die den Jüngern von Jesus mitgeteilten Verkündigungsinhalte oder die „Geheimnisse des Himmelreiches“ (Mt 13,11) zu denken wäre. Nimmt man V. 26b.27 für sich, ist eine solche Deutung durchaus plausibel, der mt Kontext weist aber in eine andere Richtung. Zum einen erscheint V. 27 mit seiner imperativischen Gestalt (diff. Lk 12,3) durch die Voranstellung der Mahnung in V. 26a bei Matthäus als deren positives Gegenstück: Die Jünger sollen ihre Verfolger nicht fürchten (vgl. 1Petr 3,14; Offb 2,10), sondern offen von den Dächern aus ihre Botschaft ausrichten. Zum anderen ist im Blick auf das Logion in V. 26b nicht ohne Weiteres klar, inwiefern dieses beim dargelegten Verständnis tatsächlich eine Begründung oder Erläuterung zu V. 26a bieten würde. Insbesondere ist es aufgrund der Anbindung an V. 26a misslich, die offene, pauschale Formulierung, dass nichts verborgen bleiben wird, durch V. 27 engzuführen. Vielmehr ist zu erwarten, dass das, was alles offenbar wird, sich auf das Geschehen bezieht, das den Hintergrund der Mahnung in V. 26a darstellt, also die Bedrängnis der Jünger und deren Umgang damit. Das Logion in V. 26b ist in diesem Zusammenhang des Näheren nicht bloß als eine weisheitliche Sentenz nach dem Motto „am Ende kommt alles raus“ zu lesen (vgl. Sophokles, Aias 646f: „Die unermesslich lange Zeit macht offenbar alles Verborgene …“), sondern im Lichte von V. 28.32f auf das Endgericht zu beziehen. V. 26b birgt dabei sowohl einen tröstenden als auch einen paränetisch-warnenden Aspekt. Tröstend mag für die Jünger sein, dass alles, was ihre Gegner gegen sie unternehmen, im Gericht offenbar sein wird (vgl. z. B. Weish 1,8f; 1Hen 98,6–8). Zugleich schwingt insofern ein paränetisches Moment mit, als auch nicht verborgen bleiben wird, wie sich die Jünger zu ihrem Auftrag verhalten. Angesichts der Gefährdung sind Achtsamkeit und Klugheit geboten (V. 16b.17a); Flucht ist ein Ausweg bei anhebender Verfolgung (V. 23a); aber es darf nicht dazu kommen, dass die Jünger ihrem Sendungsauftrag aus Furcht nicht mehr nachkommen und sich in ihren „Winkel“ zurückziehen.

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V. 28 kontrastiert die zu meidende Furcht vor Menschen mit der gebo- 28–31 tenen Furcht Gottes unter dem Gesichtspunkt der ungleich geringeren Reichweite der Macht von Menschen. Die auch in der frühjüdischen Martyriumsparänese begegnende Vorstellung, dass Menschen zwar den Leib, nicht aber die Seele töten können (vgl. z. B. 2Makk 6,30; 4Makk 13,13–15), wird im Gesamtkontext des Evangeliums durch Jesu eigenes Ergehen, durch Jesu Tod und Auferweckung, substantiiert. In der Art und Weise, wie der Verweis auf die umfassende Macht Gottes in V. 28b gestaltet ist, wird der in V. 26b aufscheinende drohend-paränetische Charakter des Passus offensichtlich: Es wird nun nicht wie in V. 22 mit dem Ausblick auf die endzeitliche Rettung zum Durchhalten motiviert, sondern auf die Hölle geblickt (vgl. 5,22.29f; 18,9). Die alles menschliche Handeln übergreifende Souveränität Gottes wird in V. 29 durch ein Alltagsbeispiel veranschaulicht: Selbst bei den preiswertesten Vögeln, mit denen Menschen auf dem Markt zu handeln pflegen, ist es so, dass sie nicht ohne Gott auf die Erde fallen. Im Lichte von V. 30 ist bei der offenen Formulierung „nicht ohne euren Vater“ primär an Gottes Wissen zu denken, was auch gut zu V. 26b passt. Wenn Gott sogar die Spatzen im Blick hat, dürfen die Adressaten umso mehr gewiss sein, dass Gottes Augenmerk auf sie gerichtet ist, da jeder einzelne von ihnen viel mehr wert ist als viele Spatzen zusammen (vgl. 6,26). Gegenüber dem in 10,26b.28b anklingenden warnenden Ton verlagert sich der Akzent hier auf die väterliche Fürsorge Gottes. V. 29–31 spricht den Jüngern zwar nicht – gegen V. 28a – zu, dass ihnen die Gegner gar nichts anhaben können. Wohl aber sollen sie aus dem in V. 29–31 Gesagten die Gewissheit beziehen, dass Gott über allem wacht und er die, die ihn und nicht Menschen fürchten, selbst im Fall ihres Martyriums (vgl. 23,34) an das verheißene Ziel (10,22) führen wird – so wie nach dem Glauben der Adressaten der Tod bei Jesus nicht das letzte Wort war. Die Gegenüberstellung von Furcht Gottes und Furcht vor Menschen 32–33 wird in V. 32f in der Alternative, sich zu Jesus zu bekennen oder ihn zu verleugnen, fortgeschrieben. Das Augenmerk ist wieder auf die endgerichtliche Konsequenz gerichtet, wobei die „Verleugnung des Verleugners“ durch die Schlussstellung betont ist. Diese Gerichtsperspektive ist aber in den Gesamtzusammenhang der mt Jesusgeschichte einzuordnen: Petrus ist trotz seiner Verleugnung Jesu (26,69–75) der „Fels“, auf dem Jesus seine Kirche errichten wird (16,18). Dies macht deutlich, dass auch für den Verleugner das Tor der Vergebung offen steht (vgl. zu 18,21–35). In V. 34–39 greift Matthäus nach V. 21 erneut das Problem innerfamiliä- 34–39 rer Spaltungen auf, was darauf hindeuten dürfte, dass dieses im mt Umfeld von aktueller Bedeutung war. Basiert V. 21 auf einem Passus der mk Endzeitrede (Mk 13,12), so hat Matthäus in V. 34–36.37–39, wie die lk Parallelen in Lk 12,51–53 + 14,26f + 17,33 zeigen, verschiedene Q-Passagen zusammengestellt; 17,33 dürfte in Q mit 14,26f zusammen gestanden ha-

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ben, so dass Matthäus hier die Q-Abfolge treuer bewahrt hat als Lukas. Zu V. 38f ist zudem auf die Parallele in Mk 8,34f hinzuweisen, die Matthäus in 16,24f aufnimmt (vgl. ferner Joh 12,25f). Die Einleitung von V. 34 ist parallel zu 5,17 gestaltet. „Frieden“ ist Teil 34–36 der (eschatologischen) Heilserwartung (Jes 9,5f; Sach 9,10; 1Hen 1,8; 11,2; TestLevi 18,4; 2Bar 73; Sib 3,750–755, vgl. Lk 1,79; 2,14), doch geht diesem die (eschatologische) Drangsal voraus. Gehört zu deren Kennzeichen das „Schwert“ (z. B. Jub 23,20; 2Bar 27,5; Sib 3,796–799; Offb 6,4), so kann entsprechend dessen Beseitigung ausdrücklich als Aspekt des kommenden Friedens genannt werden (z. B. Sib 3,751.781). Die Zeit des irdischen Wirkens Jesu wird in V. 34 der Zeit des „Schwertes“ zugeordnet; sie ist noch nicht die Zeit des Friedens. Der Fortgang macht freilich deutlich, dass sich „Schwert“ hier nicht auf kriegerische Auseinandersetzungen bezieht (es besteht daher auch kein Widerspruch zu 26,52), sondern auf familiäre Spaltungen, die sich an der Haltung zu Jesus entzünden bzw. durch Jesus selbst, etwa durch sein rigoroses Nachfolgeethos (vgl. 8,21f), hervorgerufen werden. V. 35f greift dazu, ohne das Zitat als solches auszuweisen, auf ein Prophetenwort aus Mi 7,6 zurück, das die Zerrüttung der elementaren familiären Beziehungen als Signatur der Unheilszeit anführt. Durch die Anfügung von V. 36 hat Matthäus die Anspielung auf Mi 7,6 noch verstärkt. Das Provokante an Mt 10,34–36 ist, dass die Spaltung als Sinn und Ziel des Kommens Jesu ausgesagt wird. Die Differenz zur Erwartung der Wiederherstellung der elementaren sozialen Beziehungen durch den wiedergekommenen Elia in Mal 3,23f ist offenkundig. Bezeichnend für den Kontrast zur frühjüdischen Erwartung ist auch, dass mSota 9,15 Mi 7,6 im Kontext der Darstellung der Zustände vor dem Kommen des Messias rezipiert (vgl. z. B. Jub 23,15–20; 1Hen 100,2). Dies lässt erwägen, dass hinter V. 34(–36) ein von Außenstehenden tatsächlich erhobener oder ein von den Jüngern befürchteter Einwand gegen den Glauben an Jesus als Messias steht. Die Einleitung des Passus mit „meint nicht, dass ich gekommen bin“ (vgl. 5,17) fügt sich beiden Optionen gut ein. Den Jüngern wird auf diese Weise eingeschärft, dass sie sich nicht von unzutreffenden Vorstellungen über das Kommen des Messias leiten oder beirren lassen sollen. Die Nachfolge Jesu führt ins Leiden. Die Jünger haben zwar die Aufgabe, den Menschen Frieden zuzusprechen (10,13a), und sie sollen Frieden stiften (5,9), aber mit dem Kommen des Messias Jesus ist eben noch nicht die Aufrichtung eines umfassenden Friedensreiches verbunden. Vielmehr führt sein eigener irdischer Weg ans Kreuz, und sein Wirken evoziert Spaltungen, die selbst Familien auseinanderdividieren. All dies ist letztlich Manifestation und Konsequenz des (noch) unheilvollen Zustands der Welt, in die Jesus gekommen ist und in die hinein er seine Jünger sendet, und mithin Zeichen für das Anheben der eschatologischen Drangsal (vgl. zu 8,24).

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V. 37 zieht aus V. 34–36 die paränetische Konsequenz. Während in der 37–39 lk Parallele der Eintritt in die Nachfolge im Blick ist (Lk 14,26), hat Matthäus das Logion – der Platzierung in der Aussendungsrede entsprechend – auf die Bewährung in der Nachfolge bezogen. Matthäus verwendet anders als Lk 14,26 und wohl Q nicht die missverständliche Formulierung, dass die Familienangehörigen zu „hassen“ sind – gemeint ist die Nachordnung, die Zurücksetzung (vgl. Gen 29,30–33) bzw. abseits emotionaler Facetten die Aufgabe familiärer Bindungen –, sondern er bejaht mit seiner komparativischen Formulierung ein im Grundsatz positives Verhältnis zu diesen (vgl. zu den Eltern 15,4–6). Es geht um Prioritätensetzung im Konfliktfall (vgl. dazu Dtn 13,7–12!). In einer solchen Situation muss der, der Jesus nachfolgt, selbst Eltern und Kinder (erst Lk 14,26 bezieht auch die Ehefrau mit ein) hintanstellen. Matthäus hat seine Quelle hier also so bearbeitet, dass die Spannung zum Gebot der Elternehre (vgl. Mt 15,4–6; 19,19) spürbar reduziert wird. Die sich in V. 38 anschließende Mahnung, das Kreuz auf sich zu nehmen, schließt die Bereitschaft ein, selbst Bindungsverluste im Blick auf die familiären Grundbeziehungen in Kauf zu nehmen, geht darin aber nicht auf, sondern umfasst jede Form der Bedrängnis, in die ein Jünger in der Nachfolge durch die Anfeindung seiner Umwelt hineingeraten kann. Im schlimmsten Fall kann dies, wie V. 39 zeigt, bedeuten, sein Leben um Jesu willen zu verlieren. Der Nachsatz „er wird es gewinnen“ bezieht sich auf den Empfang des ewigen Lebens. Umgekehrt wird der, der in der Bedrängnis zurückschreckt und Jesus verleugnet, um sein Leben zu bewahren, im Gericht nicht bestehen können. Er wird das (ewige) Leben verlieren. Um Martyriumssehnsucht geht es hier nicht, wie die Anweisung zur Flucht in V. 23 mit hinreichender Deutlichkeit zeigt. II 7.2.4 Die Aufnahme der Missionare (10,40–42) 40 Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat. 41 Wer einen Propheten aufnimmt, weil er ein Prophet ist, wird den Lohn eines Propheten empfangen; und wer einen Gerechten aufnimmt, weil er ein Gerechter ist, wird den Lohn eines Gerechten empfangen. 42 Und wer immer einem dieser Geringen auch nur einen Becher kalten Wassers zu trinken gibt, weil er ein Jünger ist, amen, ich sage euch, er wird seinen Lohn gewiss nicht verlieren.“ Am Ende der Rede lenkt Matthäus auf das Thema der Annahme der Jünger zurück (vgl. V. 11–15). Genauer: V. 40 liest sich wie das positive Pendant zu V. 14. Lk 10,16 zeigt, dass Matthäus hier durch den Schluss der Aussendungsrede in Q inspiriert ist. Zugleich ist auch auf die Berührung

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mit Mk 9,37 (par Mt 18,5) zu verweisen (vgl. ferner noch Joh 13,20), zumal V. 42 eine Parallele in Mk 9,41 hat. V. 41 findet sich nur bei Matthäus. Wurde in V. 24f die Gemeinschaft zwischen Jesus und seinen Jüngern im Sinne ihrer Leidensgemeinschaft herausgestellt, so nimmt V. 40 diesen Gedanken in variierter Gestalt auf: In den Boten ist der, der sie gesandt hat, präsent. Da Jesus die Jünger gesandt hat (vgl. V. 5), Jesus selbst aber von Gott gesandt ist, nimmt der, der einen Jünger aufnimmt, letztlich Gott auf. Den Jüngern wird damit eine nicht zu übertreffende Würde zugeschrieben. Die Weiterführung in V. 41f nennt mit Propheten, Gerechten und den Geringen nicht drei verschiedene Gruppen, sondern bezeichnet die in V. 40 angeredeten Jünger in verschiedener Hinsicht (zur Verbindung von Propheten und Gerechten vgl. 13,17; 23,29). Als von Jesus bzw. Gott Gesandte sind die Jünger (bzw. haben sie den Rang von) Propheten (vgl. 5,11f; 23,34). Als solche, die sich Gottes Willen unterstellen und sich von ihm in Dienst nehmen lassen, indem sie dem Sendungsauftrag Jesu folgen, sind sie Gerechte. Die Schutzlosigkeit und Bedürftigkeit, der sie sich infolge ihrer Sendung aussetzen (vgl. 10,9f), macht sie zu (sozial) Geringen. In 18,6–14 wird Matthäus die Bezeichnung „die Geringen“ in anderer Ausrichtung aufgreifen. Mit den drei Bezeichnungen in V. 41f werden zugleich einander ergänzende Beweggründe aufgefächert, aus denen heraus Menschen die Wandermissionare aufnehmen bzw. unterstützen. Den Gastgebern wird für ihre Gastfreundschaft ein im Grunde unverhältnismäßiger und daher gnadenhafter Lohn verheißen: Sie erhalten den Lohn, der Propheten und Gerechten zukommt. Bei den Geringen genügt schon ein Becher kalten Wassers, um Lohn zu empfangen (vgl. 25,31–46). Sofern bei den Gastgebern, ohne dass hier eine prinzipielle Eingrenzung vorzunehmen ist, an sesshafte Christen (und damit an Leser/ Hörer des Mt) gedacht ist, dient V. 40–42 dazu, sie zur freundlichen Aufnahme der Wandermissionare zu motivieren. Zugleich wird darin, dass ihre Unterstützung himmlischen Lohn nach sich zieht, manifest, welche Wertschätzung die Wandermissionare bei Gott genießen und welch große Bedeutung ihrem missionarischen Wirken zukommt. II 7.3 Der Abschluss der Aussendungsrede (11,1) 1 Und es geschah, als Jesus die Anweisungen an seine zwölf Jünger beendet hatte, da zog er weg von dort, um in ihren Städten zu lehren und zu verkündigen. Wie in den anderen vier großen Reden leitet Matthäus mit der Formel „und es geschah, als Jesus … beendet hatte“ (vgl. 7,28; 13,53; 19,1; 26,1) zur nachfolgenden Erzählung über. Anders als Mk 6,12 f.30 berichtet Mat-

Die Sendung der Jünger (9,36–11,1)

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thäus nicht, dass die Jünger loszogen, wieder zurückkehrten und von ihren Erfolgen berichteten. Stattdessen bleibt Jesus selbst im Fokus: Er zieht weiter, um mit seiner Lehre und Verkündigung fortzufahren. Daraus ist aber schwerlich zu folgern, dass Matthäus gar nicht daran dachte, dass die zwölf Jünger vorösterlich an der Sendung Jesu zu Israel (15,24) aktiv partizipierten; vielmehr ist die Aussendung in 10,5a eindeutig konstatiert worden. Instruktiv ist der Vergleich mit der Rezeption der Aussendungsrede aus Q in Lk 10: Anders als in Mk 6,12 wird auch dort nicht im Anschluss an die Rede ausgeführt, dass die Jünger loszogen; dies ist in Lk 10,1 (par Mt 10,5a) gesagt. Aber in Lk 10,17 ist dann von ihrer Rückkehr die Rede. Dieses Element fehlt bei Matthäus, nicht aber die Aussendung. Matthäus sucht auf diese Weise herauszustellen, dass die in Mt 10 thematisierte Mission keine abgeschlossene Episode darstellt. Mit der Ausnahme der in 10,5b enthaltenen Beschränkung gilt Mt 10 vielmehr auch für die Gegenwart.

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Reaktionen auf Jesu Wirken in Israel und ihre Folgen (11,2–16,20)

III Zwischen Feindschaft und Messiasbekenntnis. Reaktionen auf Jesu Wirken in Israel und ihre Folgen (11,2–16,20) Nach der systematisch komponierten Präsentation der vollmächtigen Lehre und des vollmächtigen Handelns Jesu und der darauf basierenden Aussendung der Jünger in 4,17–11,1 tritt in 11,2–16,20 der Aspekt der divergierenden Reaktionen auf dieses Wirken, der unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach der Identität Jesu, in den Vordergrund. Dieses Moment ist in der Erzählung nicht völlig neu. Verschiedene Reaktionen auf Jesus haben sich in den vorangehenden Kapiteln schon angedeutet – mit der Entstehung eines Kreises von Jüngern (vgl. neben 4,18–22; 9,9 auch 8,18–23) und den unterschiedlichen Reaktionen der Volksmengen und der Pharisäer, in die der Erzählkomplex in Mt 8–9 in 9,33f mündete. Neu ist in 11,2–16,20, dass dieses Moment mit der Anfrage des Täufers in 11,2f als Leitaspekt der Erzählung hervortritt: „Bist du der Kommende, oder sollen wir einen anderen erwarten?“ Im Bekenntnis des Petrus in 16,16 findet diese Frage ihre gültige Antwort. Der durch 11,2f eröffnete Spannungsbogen wird damit geschlossen. Im Blick auf die divergierenden Reaktionen sind, wie sich dies in den vorangehenden Kapiteln andeutete, die Gruppen der Jünger, der Volksmengen und der Autoritäten deutlich zu unterscheiden: Die Differenz zwischen den Autoritäten und dem Volk bleibt ein bestimmendes Erzählmotiv, aber es wird – insbesondere durch die Gleichnisrede in Mt 13 und den ihr vorangehenden Passus in 12,46–50 – auch die Unterscheidung zwischen den Jüngern und den Volksmengen vorangetrieben. Immerhin keimt in den Volksmengen die Erkenntnis, dass Jesus der Sohn Davids ist (12,23). Die Jünger hingegen dringen zum Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes vor (14,33; 16,16). Damit aber ist die Grundlage gegeben für die Verheißung des Baus der Kirche in 16,18. Die Feindschaft, die Jesus von Seiten der Autoritäten entgegengebracht wird, wird deren Verwerfung und Bestrafung im Endgericht zur Folge haben (12,31–37.41f; 15,13f), doch droht schon denen, die „lediglich“ eine adäquate positive Reaktion auf Jesu Wirken schuldig bleiben, das Gericht (11,20–24). So ergibt sich als Folge der unterschiedlichen Reaktionen auf Jesu Wirken letztlich eine Scheidung in zwei Lager (vgl. 13,19–23.36–43.47–50). Für die Volksmengen bedeutet dies, dass sie sich positionieren müssen. Im Vergleich zu Mt 4,17–11,1 fällt die kompositorische Tätigkeit des

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Evangelisten in 11,2–16,20 wesentlich konservativer aus. Mt 11 besteht im Wesentlichen aus Q-Stoff, der in Q der Aussendungsrede voranging. Q 7,18–23 dient Matthäus dabei, wie angedeutet, als programmatische Eröffnung des neuen thematischen Schwerpunkts. Von 12,1 an vertraut sich Matthäus dem Markusfaden ab Mk 2,23 an, in den er, was seine kompositorische Tätigkeit betrifft, nur noch den einen oder anderen Text aus Q oder aus seinem Sondergut einfügt. Einige Markustexte von Mk 2,23 an wurden schon im vorangehenden Hauptteil verarbeitet, allen voran der große Block von Wundergeschichten Mk 4,35–5,43 (par Mt 8,18.23–27; 8,28–9,1; 9,18–26) sowie die Berufung und Aussendung der zwölf Jünger in Mk 3,13–19; 6,7–13 (par Mt 10,1–14*). Weniges übergeht Matthäus ganz (z. B. Mk 3,20f; 8,22–26); Mk 7,31–37 wird in Mt 15,29–31 durch ein Summarium ersetzt. Obwohl Matthäus nun die mk Perikopenfolge zugrunde legt, gelingt es ihm, den Texten seinen von Markus klar zu unterscheidenden eigenen Gestaltungswillen aufzuprägen, wie im Folgenden immer wieder deutlich werden wird.

III 1 Johannes der Täufer und die Frage nach der Identität Jesu (11,2–6) 2 Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken des Christus hörte, sandte er durch seine Jünger 3 und ließ ihm sagen: „Bist du der Kommende, oder sollen wir einen anderen erwarten?“ 4 Und Jesus antwortete und sagte zu ihnen: „Geht hin und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: 5 Blinde sehen wieder, und Lahme gehen, Aussätzige werden rein, und Taub(stumm)e hören, und Tote werden auferweckt, und Armen wird das Evangelium verkündet. 6 Und glückselig ist, wer nicht Anstoß nimmt an mir!“ Die Parallele in Lk 7,18–23 gibt zu erkennen, dass Matthäus die Täuferanfrage der Logienquelle entnommen hat. In V. 3–6 scheint Matthäus der Vorlage ohne substantielle Änderungen gefolgt zu sein, während im erzählerischen Rahmen in V. 2 seine gestaltende Hand greifbar wird. Die Notizen über die Verbreitung der Kunde von Jesus in 4,24; 9,26.31 2–3 bilden erzähllogisch die Voraussetzung, dass auch Johannes der Täufer im Gefängnis (vgl. 4,12) vom Wirken Jesu hört. Matthäus spricht ausdrücklich von „den Werken des Christus“. Da die Wendung auf das in 4,23–9,35 Erzählte rückverweist (s. zu V. 5), ist das Christusprädikat hier speziell auf Jesus als davidischen Messias (9,27, vgl. 1,1; 2,4.6) zu beziehen. Die Frage des Täufers in V. 3 wäre im Erzählfaden unverständlich, wenn Johannes die Himmelsstimme in 3,17 vernommen hätte, doch werden Vision und Audition in 3,16f allein Jesus zuteil. Immerhin wurde ihm aber in

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3,14 die Erkenntnis zugeschrieben, dass Jesus ihm übergeordnet ist. Die verbreitete Deutung, dass bei Johannes Zweifel aufgekommen sind, stößt sich hart mit der mt Darstellungsintention, dass Jesu Heilungen sichtbarer Ausweis seiner davidischen Messianität sind, die sich auf diese Weise sogar den Volksmengen sukzessiv erschließt (12,23; 21,9). Man müsste also in Kauf nehmen, dass ausgerechnet der Täufer mit dem Erkenntnisprozess der Volksmengen nicht nur nicht Schritt hält, sondern sogar eine gegenläufige Entwicklung zeigt, bzw. müsste man annehmen, dass der Täufer in der Erzählung als Protagonist einer nach Matthäus verfehlten Messiaserwartung fungiert, für die das, was von Jesus zu hören ist, nicht genügt. Letzteres mag für den „historischen“ Johannes sogar durchaus zutreffend sein, doch geht es im hier verfolgten Zusammenhang nicht um Johannes als historische Person, sondern als Figur der mt Erzählung. Das Hören von den Werken Jesu kann aber im literarischen Kontext des Mt kaum anders denn positiv als Auslöser einer Frage nach der Identität Jesu verstanden werden (vgl. 12,22f). Will man nicht von einer Inkohärenz in der Erzählung ausgehen, was immer nur ultima ratio sein kann, bleibt die Option, 3,14 im Licht von 11,2f zu lesen und den Ton in 3,14 darauf zu legen, dass der Text eine Leerstelle lässt: Der genaue Status Jesu wird in Johannes’ Worten nicht explizit spezifiziert. Für 11,2f kann man dann folgern, dass beim Täufer nun auf der Basis der Kunde vom Wirken Jesu die Überlegung aufkommt, ob Jesus möglicherweise sogar der von ihm angekündigte Kommende ist (3,11). Jesus geht auf die Frage des Täufers nicht mit einer direkten Bejahung 4–5 oder einer Definition seiner Person ein, sondern verweist auf das Zeugnis seiner Werke zurück, das die Frage des Täufers ausgelöst hat, und fordert damit dazu auf, auf dieser Grundlage ein eigenes Urteil zu fällen und zur Erkenntnis seiner Person zu gelangen. Im Kontext liest sich V. 5 wie eine kurze Zusammenfassung von 4,17–11,1: Alles, was hier genannt wird, wurde zuvor exemplarisch erzählt: Blinde sehen (9,27–31), Lahme/Gelähmte gehen (9,2–8), Aussätzige werden rein (8,1–4), Taube hören (9,32–34) und Tote werden auferweckt (9,18–26). Die „Verkündigung des Evangeliums an die Armen“ bezieht mit der Anspielung auf 5,3 ferner den Bergpredigtkomplex ein. Zugleich ist V. 5 so formuliert, dass in den intratextuellen Rückverweisen auf 4,17–11,1 intertextuell ein Netz von Anspielungen auf Verheißungen aus dem Jesajabuch vernehmbar ist, nach denen die Beseitigung physischer Gebrechen ein wesentliches Kennzeichen der Israel verheißenen Heilszeit darstellt (Jes [29,18f]; 35,5f; 61,1). Über den bloßen Rückverweis auf das, was zu hören und zu sehen ist, hinaus impliziert die Antwort Jesu damit die Aufforderung zu entdecken, dass sich im Wirken Jesu die Israel in den Heiligen Schriften gegebenen Heilsverheißungen erfüllen. Als Spezifika der Reihe in V. 5 zeigen sich im Vergleich mit den genann-

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ten Jesajatexten die Heilung Aussätziger (vgl. 2Kön 5) und die Auferweckung Toter. Zu Letzterem ist aber – neben Jes 26,19 (vgl. 1Kön 17,17–24; 2Kön 4,18–37) – auf 4Q521 Fragm. 2 2,12 zu verweisen. Der Qumrantext ist insofern von hervorgehobener Bedeutung, als hier Heilungen und, im Gefolge von Jes 61,1, die Verkündigung froher Botschaft an die Armen mit dem Auftreten des Messias verbunden sind (Fragm. 2 2,1). Zwar werden die Heilungen hier wohl durch Gott selbst und nicht durch den Messias vollbracht, doch bietet der Text ein wichtiges Zeugnis für die Vorstellung, dass die Beseitigung von Krankheiten im Frühjudentum – spezifischer als im Jesajabuch – als Signatur der messianischen Heilszeit aufgefasst werden konnte (vgl. noch 2Bar [29,7]; 73,2). 4Q521 bezeugt damit eine Traditionsspur der messianischen Heilserwartung Israels, an die die christologische Interpretation des Wirkens Jesu in der nachösterlichen Jesusbewegung anknüpfen konnte: Jesu Heilungen sind Ausweis seiner messianischen Würde (vgl. 12,22f; 21,9.14f). Der abschließende Makarismus in V. 6 lenkt zu dem Moment einer di- 6 rekten Stellungnahme zu Jesu Person über. Auffällig ist, dass die glückselig Gepriesenen nicht positiv durch Nachfolge oder Bekenntnis zu Jesus (10,32) charakterisiert werden, sondern via negationis dadurch, dass sie nicht Anstoß nehmen. Das Augenmerk wird auf diese Weise darauf gelenkt, dass Jesu Weg und Wirken angesichts der etablierten Erwartungen und Überzeugungen – trotz seiner machtvollen Taten – nicht dazu angetan ist, einen ungeteilten enthusiastischen Zuspruch auszulösen, sondern Widerspruch evoziert. So nehmen nicht nur die Pharisäer aufgrund des Dissenses über Reinheitsfragen Anstoß an Jesus (15,12), sondern auch die Synagogenbesucher in Nazaret, weil seine Machttaten ihres Erachtens nicht dazu passen, dass er – wie sie meinen – Sohn eines einfachen Zimmermanns ist (vgl. 1,18–25) und aus ganz normalen Verhältnissen stammt (13,55–57). Der gegenteilige Fall, an Jesus nicht Anstoß zu nehmen, kann für Matthäus nicht darin aufgehen, auf Jesus lediglich nicht negativ zu reagieren. Jesu Wirken erfordert eine Stellungnahme; einen neutralen Grund, auf dem man stehen bleiben kann, gibt es nicht. Vor diesem Hintergrund ist denn auch 26,31 zu lesen, wonach in der Passion auch die Jünger Anstoß an Jesus nehmen. Keinen Anstoß zu nehmen, schließt demnach ein, Jesu Wirken und Weg uneingeschränkt zu bejahen und verlässlich in der Nachfolge zu bleiben, die auch die Bereitschaft einschließt, sein Kreuz auf sich zu nehmen (10,38; 16,24).

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III 2 Der Ruf zur Entscheidung (11,7–30) Auf die Täuferfrage folgt mit 11,7–30 eine längere Rede Jesu, die nur in V. 20 und V. 25 durch erneute Redeeinleitungen unterbrochen wird. Die Täuferfrage wird zum Anlass, das heilsgeschichtliche Stadium, das mit dem Auftreten des Täufers erreicht ist und sich entsprechend im Wirken Jesu manifestiert, deutlich zu machen und damit die entscheidende eschatologisch-soteriologische Bedeutung der Antwort auf das Wirken des Täufers und insbesondere Jesu selber herauszustellen. Zugespitzt gesagt: V. 7–30 ist Entfaltung des Makarismus in V. 6. V. 7–15 und V. 16–19 bildeten zusammen mit V. 2–6 schon in Q einen fortlaufenden Textzusammenhang (vgl. Lk 7,18–35). Allerdings schloss das Gleichnis von den spielenden Kindern (V. 16–19) in Q direkt an V. 11 an. In V. 12f hat Matthäus einen weiteren Q-Passus eingestellt (vgl. Lk 16,16). V. 14f sind der mt Redaktion zuzuweisen. V. 20–24 und V. 25–27 folgen auch im Lk eng aufeinander (Lk 10,13–15.21f). V. 28–30 findet sich nur bei Matthäus. Durch die Redeeinleitungen in V. 20.25 sind V. 20–24 und V. 25–30 als Unterabschnitte klar erkennbar. Die Zäsur zwischen V. 15 und V. 16 ist schwächer. Der oben skizzierte Quellenbefund illustriert dies. Die beiden Abschnitte sind thematisch dadurch miteinander verbunden, dass Jesus über den Täufer spricht, von dem ab V. 20 nicht mehr die Rede ist. Gleichwohl bietet der Weckruf in V. 15 einen gewissen Abschluss, und V. 16–19 setzt auch inhaltlich einen neuen Akzent, so dass es sich empfiehlt, V. 7–30 in vier Unterabschnitte zu untergliedern. III 2.1 Die Belehrung der Volksmengen über den Täufer (11,7–15) 7 Als sie aber hingingen, fing Jesus an, zu den Volksmengen über Johannes zu reden: „Warum seid ihr in die Wüste hinausgegangen? Um ein Schilfrohr zu beschauen, das vom Wind schwankt? 8 Doch warum seid ihr hinausgegangen? Um einen mit weichen Gewändern bekleideten Menschen zu sehen? Siehe, die, die weiche Gewänder tragen, sind in den Häusern der Könige. 9 Doch warum seid ihr hinausgegangen? Um einen Propheten zu sehen? Ja, sage ich euch, sogar mehr als einen Propheten. 10 Dieser ist es, über den geschrieben steht: ‚Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten wird.‘ 11 Amen, ich sage euch: Unter den von Frauen Geborenen ist kein Größerer aufgestanden als Johannes der Täufer – der Kleinste im Himmelreich aber ist größer als er; 12 aber von den Tagen Johannes des Täufers an bis jetzt erleidet das Himmelreich Gewalt, und Gewalttätige reißen es weg –, 13 denn alle Propheten und das Gesetz haben bis hin zu Johannes ge-

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weissagt. 14 Und wenn ihr es annehmen wollt: Er ist Elia, der kommen soll. 15 Wer Ohren hat, soll hören! Das Auftreten der Täuferjünger nimmt Jesus zum Anlass, das Volk über 7–10 den Täufer zu belehren. Die in V. 4–6 implizierte Aufforderung, dessen gewahr zu werden, dass in Jesu Wirken die Erfüllung der „messianischen“ Heilsverheißungen anhebt, wendet sich gegenüber den Volksmengen zur Mahnung, der seit Johannes entstandenen eschatologischen Entscheidungssituation innezuwerden. Die dreimalige, auf den Zustrom des Volkes zu Johannes in 3,5f zurückverweisende Frage „warum seid ihr hinausgegangen?“ (V. 7.8.9) und die ebenfalls in Frageform in den Raum gestellten Antwortoptionen dienen dazu, einen Konsens her- bzw. festzustellen. Die Vergangenheitsform der Frage entspricht dem Umstand, dass das Wirken des Täufers aufgrund seiner Inhaftierung (4,12; 11,2) abgeschlossen ist. Die ersten beiden Antworten treffen offenkundig nicht zu. Vielmehr sind die Volksmengen zu Johannes hinausgegangen, um einen Propheten zu sehen (vgl. 14,5; 21,26). Mit 11,9c–15 will Jesus die Volksmengen über ihre Erkenntnis hinausführen: Johannes ist sogar mehr als ein Prophet. Was dies genau besagt, wird in V. 10 zunächst durch ein von Ex 23,20 beeinflusstes Prophetenzitat bestimmt, das Matthäus bei der Rezeption von Mk 1,2–6 in Mt 3,1–6 noch ausgelassen hat, um es hier im Q-Zusammenhang als Element der Belehrung des Volkes zu bringen: Johannes ist der in Mal 3,1 verheißene eschatologische Wegbereiter. Die Hinführung zum Zitat mit „dieser ist“ erinnert im mt Kontext an 3,3, wo auf diese Weise die Identifikation des Johannes mit dem in Jes 40,3 angekündigten Rufer in der Wüste vorgebracht wurde. In V. 11–14 wird die Identitätszuschreibung von V. 9c.10 näher erläutert. 11–15 Allerdings erschließt sich nicht sogleich, wie sich hier die einzelnen Aussagen zueinander fügen. Entscheidend dürfte sein, sich bei der Erfassung der Sinneinheiten nicht vom diachronen Befund leiten zu lassen, nach dem V. 11 Q 7,28 verarbeitet und in V. 12.13 Q 16,16a.b in inverser Reihenfolge aufgenommen ist. Vielmehr ist V. 11b–12 als Parenthese zu nehmen, während V. 13 an V. 11a anschließt. Matthäus zeigt sich hier als ein Meister, durch neues Arrangement und Bearbeitung seiner Quellen eine neue Textstruktur und Sinneinheit zu schaffen. Im Einzelnen: V. 11a unterstreicht 11a.13–14 Johannes’ selbst die übrigen Propheten überstrahlende Bedeutung. Das Problem, dass auch Jesus von einer Frau geboren wurde (1,16.25, vgl. zu dieser Wendung z. B. Ijob 14,1; 15,14; 1QS 11,21), er für Matthäus aber größer als Johannes ist (vgl. 3,14), kann man im Kontext von Mt 11,7–15 dadurch zu lösen suchen, dass man das Verb „ist aufgestanden“ (diff. Lk 7,28) auf das Auftreten von Propheten bezieht (vgl. Lk 7,16; Joh 7,52, von Falschpropheten Mt 24,11.24) und in V. 11a also konkret die Einstellung von Johannes in die Reihe der Propheten (V. 9) aufgenommen sieht.

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V. 13 begründet diese besondere Bedeutung des Johannes. Gegenüber Q 16,16 hat Matthäus durch die Einfügung des Verbs „weissagen“ die Möglichkeit ausgeschlossen, das Logion so zu verstehen, dass Propheten und Gesetz überhaupt einer vergangenen Epoche zugehören. Für Matthäus geht es allein darum, dass nun die Zeit der Erfüllung der Verheißungen gekommen ist. Diesem Fokus auf die prophetischen Weissagungen korrespondiert, dass Matthäus anders als in 5,17; 7,12; 22,40 nicht die Wendung „Gesetz und Propheten“ (= Q 16,16) benutzt, sondern die Propheten vorangestellt hat. Im engeren Kontext ist an V. 10 zurückzudenken, im weiteren zudem an 3,3: Mit Johannes hat sich die Verheißung des eschatologischen Wegbereiters (Mal 3,1) und des Rufers in der Wüste (Jes 40,3) erfüllt. In V. 14 führt Matthäus dies noch einen Schritt weiter, indem er Johannes explizit mit dem in Mal 3,23f (vgl. Sir 48,10) geweissagten Elia redivivus identifiziert (vgl. Mt 17,12f). Überblickt man das Ganze, ist festzuhalten: Johannes ist – mit seiner Ankündigung des Kommenden (3,11f) – selbst ein Prophet, aber er ist zugleich mehr als das (11,9) und größer als alle anderen (V. 11), weil mit ihm als dem angekündigten Elia redivivus (V. 14) die Erfüllung der prophetischen Verheißungen anhebt (V. 13). In der Parenthese ist in beiden Hälften (V. 11b.12) vom Himmelreich die 11b–12 Rede. Um diese Zuordnung zu erreichen, musste Matthäus die Reihenfolge von Q 16,16a.b umstellen. V. 11b hat nicht im Sinn, den Täufer abzuwerten; vielmehr dient das Urteil über seine „Größe“ unter „den von einer Frau Geborenen“ als Widerlager, um pointiert die alles überragende Bedeutung des Himmelreiches herauszustellen. Die Aussage ist zwar präsentisch formuliert, doch geht es hier – wie in 5,3.10 – um die zukünftige Teilhabe am ewigen Leben im Himmelreich. Wer in das Himmelreich eingeht, ist auch dann, wenn er dort „der Kleinste“ ist (vgl. 5,19), größer, als selbst Johannes auf Erden war. Zur Gegenwart gehört nach V. 12 allerdings noch, dass Gewalttäter das Himmelreich wegreißen (wollen). Wie dessen Nähe vor Jesus und seinen Jüngern (4,17; 10,7) schon von Johannes verkündigt wurde (3,2), so erleidet es eben auch schon seit Johannes’ Auftreten Gewalt. Die Opposition gegen die Boten des Himmelreiches wird als Widerstand gegen dieses selbst verstanden. Matthäus hat dabei die jüdischen Autoritäten im Blick. Keineswegs sind hier dagegen die angeredeten Volksmengen einzureihen. Diese werden vielmehr gerade über die „Gewalttäter“ belehrt und sollen trotz der „Gewalttäter“ zum Verstehen gelangen. Zur Illustration kann man – neben 12,24, wo die Autoritäten der keimenden christologischen Erkenntnis der Volksmengen zu wehren suchen – auf die Deutung des Sämannsgleichnisses verweisen, wo der Böse das in das Herz Gesäte, d. h. das Wort des Reiches, wegreißt (13,19) – Matthäus gebraucht hier redaktionell ( ! ) dasselbe Verb wie in 11,12. Liest man 11,12 im Lichte von 13,19, erscheinen die Autoritäten hier als Agenten des Bösen (vgl. 12,25–45).

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Im Duktus der Belehrung über den Täufer ist V. 11b.12 ein Zwischengedanke, doch ist dieser alles andere als nebensächlich oder beiläufig eingestreut. Vielmehr wird hier mit dem Verweis auf das Himmelreich namhaft gemacht, worum es jetzt – da der eschatologische Wegbereiter, der Elia redivivus, bereits gekommen ist – geht. Indem Jesus die Volksmengen über Johannes belehrt, sagt er – vor dem Hintergrund der Frage in V. 3, ob er der Kommende sei – indirekt etwas über sich selbst und verdeutlicht, in welchem Horizont der Makarismus in V. 6 zu sehen ist: An der Reaktion auf ihn entscheidet sich die Teilhabe am ewigen Leben im Himmelreich. Der Weck- 15 ruf (11,15, vgl. 13,9.43) unterstreicht die Dringlichkeit der Entscheidung. Im Gesamtaufriss des Mt kann man 11,7–15 dem sich zwischen 9,33 und 12,23 manifestierenden Erkenntnisfortschritt als verbindendes Glied zuordnen: Geht es in 9,33 zunächst noch unbestimmt um die Einzigartigkeit des Wirkens Jesu im Rahmen der Geschichte Israels, so reift nach der Belehrung über die Identität des Täufers als Elia redivivus die Überlegung, ob Jesus dann nicht der Sohn Davids, der Messias, sein müsse. III 2.2 Das Gleichnis von den spielenden Kindern (11,16–19) 16 Mit wem aber soll ich dieses Geschlecht vergleichen? Es ist Kindern gleich, die auf den Märkten sitzen und den anderen zurufen 17 und sagen: ‚Wir haben für euch Flöte gespielt, und ihr habt nicht getanzt; wir haben Klagelieder gesungen, und ihr habt euch nicht auf die Brust geschlagen.‘ 18 Denn Johannes ist gekommen, aß nicht und trank nicht, und sie sagen: ‚Er hat einen Dämon.‘ 19 Der Menschensohn ist gekommen, aß und trank, und sie sagen: ‚Siehe, der Mensch ist ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder!‘ Und (doch) ist die Weisheit gerechtfertigt worden aus ihren Werken.“ In V. 16–19 wird – nach V. 12 erneut – die Johannes und Jesus entgegengebrachte Ablehnung thematisch. Die Anknüpfung des Gleichnisses (V. 16b–17) an die Einleitung (V. 16a) sowie der Bezug der Deutung (V. 18f) auf das Gleichnis sind insofern schwierig, als in V. 18f die Reaktion auf Johannes und Jesus geschildert wird, während in V. 16b.17 die Kinder reden, die zum Tanzen aufspielen bzw. die Trauerklage anstimmen, nicht die, die unwillig reagieren. Trotz dieser Ungenauigkeit ist der entscheidende Punkt aber unschwer zu erkennen: Es geht in V. 16b.17 um den prinzipiellen Unwillen, der in dem Geschehen zum Ausdruck kommt; ebenso verhält sich „dieses Geschlecht“ dem Täufer und Jesus gegenüber. Die zentrale Frage ist, wer mit „diesem Geschlecht“ gemeint ist. Das zugrunde liegende griechische Wort (genea) kann Geschlecht im Sinne von Sippe (die von einem Ahnherrn Abstammenden) oder zeitlich die Ge-

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neration, die Zeitgenossen, bedeuten. Von Gewicht ist, dass in biblischer Tradition Belege zu verzeichnen sind, in denen sich das Wort nicht auf ein ganzes Volk, sondern auf eine bestimmte Menschengruppe bezieht, die positiv (z. B. Ps 13,5 LXX ; 23,6 LXX) oder negativ (Ps 11,8 LXX ; Weish 3,19; Josephus, Bell 5,566) qualifiziert sein kann. In Mt 11,16 ist eine kollektive Deutung auf Israel bzw. dessen gegenwärtige Generation, welche die angeredeten Volksmengen einbezogen sieht, im Kontext unplausibel. Die Volksmengen halten Johannes nicht für dämonisch besessen, sondern für einen Propheten (V. 7–9). Der Kontrast zwischen dem Volk und den Autoritäten in der Reaktion auf den Täufer in 3,5–10 gibt einen ersten Hinweis, dass Matthäus bei der Rede von „diesem Geschlecht“ Letztere im Blick hat. In dieselbe Richtung weist die Korrespondenz zwischen der Ablehnung Jesu als Freund der Zöllner und Sünder mit dem Vorwurf der Pharisäer in 9,11. Ferner wird die Wendung „dieses Geschlecht“ von Matthäus auch in 12,38–45; 16,4; 23,36 auf die Autoritäten bezogen. Und schließlich verwendet Matthäus in der Anwendung des Gleichnisses (V. 18f) nicht wie Lk 7,33f (= Q) die 2. Pers. Pl. „ihr sagt“, sondern analog zum Gleichnis in V. 17 die 3. Pers. Pl. Der mt Jesus spricht also zu den Volksmengen (V. 7) über Dritte („sie sagen“): Die Volksmengen sollen nicht nur in ihrer Erkenntnis über den Täufer weitergeführt werden (V. 7–15), sondern auch Einsicht in die Rolle der Autoritäten gewinnen. Der Gebrauch der Wendung „dieses Geschlecht“ trägt dabei einen abschätzigen Ton ein. Diesem Tonfall korrespondiert, dass das Gleichnis und seine Anwendung den willkürlichen und absurden Charakter der Opposition hervorheben; es handelt sich um Ablehnung um der Ablehnung willen: Was auch „gespielt“ wird, die „Musik“ will den Autoritäten nicht gefallen. Ihre Haltung wird aber Folgen haben, wie das hintergründige Wortspiel andeutet, das V. 19 im Gesamtkontext des Mt gelesen bietet: Der, der hier als fressender und weinsaufender Mensch abgelehnt wird, ist in Wirklichkeit der Menschensohn, der einst die Welt richten (16,27; 24,29–31; 25,31–46) und dann seine Gegner verurteilen wird. Zugleich vermag die Polemik der Autoritäten (V. 18f) auch hic et nunc die für sich selbst sprechende Evidenz des Wirkens Jesu nicht zu verstellen, wie der Schlusssatz in V. 19 deutlich macht. Indem Matthäus redaktionell von den Werken, statt wie Lk 7,35 (= Q) von den Kindern, spricht, greift er gezielt auf die Rede von „den Werken des Christus“ in V. 2 zurück. Jesus wird damit indirekt mit der Weisheit in Beziehung gesetzt, die in der frühjüdischen Weisheitsspekulation personifiziert, ja hypostasiert wurde (Spr 8,22–31; Sir 24; Weish 6–9) und zur Schöpfungsmittlerin (z. B. Spr 8,27–31; Weish 9,9; Philo, Fug 109) und Throngenossin Gottes (Weish 9,4) aufgestiegen ist: Jesu Werke sind Manifestationen der göttlichen Weisheit. Das Motiv fließt aber eher beiläufig ein; Matthäus hat es nicht zu einer substantiellen Weisheitschristologie ausgebaut.

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III 2.3 Weherufe über galiläische Städte (11,20–24) 20 Da fing er an, die Städte zu schelten, in denen seine meisten Machttaten geschehen waren, weil sie nicht umgekehrt waren: 21 „Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Betsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Machttaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind, wären sie längst in Sack und Asche umgekehrt. 22 Jedoch ich sage euch: Tyrus und Sidon wird es erträglicher ergehen am Tag des Gerichts als euch. 23 Und du, Kafarnaum! Wirst du etwa bis zum Himmel erhöht werden? Bis zum Hades wirst du hinabfahren! Denn wenn in Sodom die Machttaten geschehen wären, die bei dir geschehen sind, es wäre geblieben bis auf den heutigen Tag. 24 Jedoch ich sage euch: Dem Land Sodom wird es erträglicher ergehen am Tag des Gerichts als dir.“ Die Weherufe stammen, wie die Parallele in Lk 10,13–15 erweist, aus Q und dürften dort in dem von Lukas gebotenen Zusammenhang der Sendungsrede gestanden haben. Das Gerichtswort in V. 24 hat Matthäus schon in 10,15 (par Lk 10,12) gebracht. Indem er es in 11,24 noch einmal aufgenommen und ferner zuvor in Analogie zu V. 21 in V. 23 einen Begründungssatz angefügt hat, ergibt sich ein weitgehend paralleler Aufbau der beiden Weherufe. Nur das Gerichtswort von der Hinabfahrt zum Hades in V. 23 (par Lk 10,15) schießt über. Um den Übergang von der in V. 16–19 thematisierten Opposition der 20 Autoritäten zu den Weherufen gegen Chorazin, Betsaida und Kafarnaum abzufedern, hat Matthäus Letzteren in V. 20 eine von ihm redaktionell gebildete einführende Erläuterung vorangestellt. Mit V. 20 ist dabei nicht verbunden, dass sich die Adressaten der Rede ändern. Schon in V. 16–19 hat Jesus zu den Volksmengen (V. 7) über andere gesprochen. Entsprechend sind in V. 20–24 die Objekte der Schelte und das eigentliche Auditorium nicht identisch. Gegenüber V. 16–19 wird die Gerichtsperspektive in V. 20–24 ausgeweitet. Mit V. 20 profiliert Matthäus die Weherufe vor dem Hintergrund, dass die gescholtenen Städte in privilegierter Weise Zeuginnen der Machttaten Jesu waren. Für Kafarnaum lässt sich dies durch 8,5–17; 9,1–34 illustrieren; für Chorazin und Betsaida, beide unweit von Kafarnaum gelegen, kann man nur die Summarien (4,23; 9,35; 11,1) anführen. Der Verweis auf die Machttaten oder Krafterweise Jesu (vgl. Q 10,13) greift die Rede von den Werken Christi bzw. der Weisheit (11,2.19) auf, dient Matthäus also zur Verklammerung mit dem Kontext, d. h. mit der Thematik der Erkenntnis Jesu aufgrund seines Wirkens und der entsprechenden Reaktion darauf. Der die Weherufe begründende Vorwurf, dass die genannten Städte trotz der Machttaten Jesu nicht zur Umkehr gefunden haben, hat sich in der vorangehenden Erzählung nicht abgezeichnet, steht aber auch nicht in Spannung zu ihr, denn Umkehr ist noch mehr

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und anderes als die positive Resonanz im Volk, die in Mt 8–9 erkennbar wird. Umkehr angesichts des Andringens der Himmelsherrschaft wurde in 4,17 als Kernbestand der Botschaft Jesu vorgebracht. 11,20–24 bietet Fälle, in denen diese Forderung trotz der Machterweise Jesu, in denen sich nach 12,28 die andringende Himmelsherrschaft bereits gegenwärtig manifestiert, verhallt ist, ohne befolgt zu werden. Daher droht, auch wenn das Ausbleiben der Umkehr von der zuvor in V. 16–19 verhandelten Gegnerschaft gegen Jesus (V. 19) zu unterscheiden ist, die Verurteilung im Endgericht. Die beiden Weherufe in V. 21–24 führen diese Gerichtsperspektive in 21–24 pointierter Weise aus. Die kollektive Anrede der Städte ist, wie die Kontrastierung mit Tyrus und Sidon (Jes 23; Ez 26–28; Joel 4,4–8 u. ö.) sowie Sodom (s. zu Mt 10,15) zeigt, durch biblische Vorbilder inspiriert. Der Vergleich mit den heidnischen Städten, dem im Wort gegen Kafarnaum in V. 23a noch die Imitation eines Passus aus dem Gerichtswort gegen Babel in Jes 14,13–15 zur Seite steht, stellt in drastischer Weise die Schwere des Versagens heraus: Selbst die in der biblischen Tradition für ihre Sündhaftigkeit bekannten heidnischen Städte hätten sich angesichts der Machttaten Jesu zur Umkehr führen lassen. Zwischen den beiden Weherufen lässt sich eine Steigerung ausmachen: Den in der Erzählung ansonsten nicht weiter relevanten Orten Chorazin und Betsaida – die Zweizahl findet in dem atl. etablierten Paar Tyrus und Sidon ihre numerische Entsprechung – tritt mit Kafarnaum die Stadt Jesu zur Seite (9,1); auf Tyrus und Sidon folgt das geradezu sprichwörtlich sündhafte Sodom. Die Ankündigung, dass es den heidnischen Städten im Gericht besser ergehen wird als den drei galiläischen, blickt dabei nicht auf Heil für Erstere aus, sondern unterstreicht allein die Schwere des Letztere betreffenden Strafgerichts. Für das Verständnis der mt Gesamtkonzeption ist von Bedeutung, dass in die Gerichtsankündigung nicht pauschalisierend ein über ganz Israel ergehendes Gericht hineinzulesen ist. Nicht nur sind die drei Orte nicht identisch mit dem in 4,23; 9,35; 11,1 summarisch anvisierten Wirkungsfeld Jesu, sondern es ist ferner der Rückverweis von 11,24 auf 10,14f zu beachten: Die Ablehnung der missionierenden Jünger und das Ausbleiben der Umkehr angesichts der Machttaten Jesu ziehen gleichermaßen ein Gericht nach sich, das noch schlimmer sein wird als das Gericht an Sodom. Im Duktus von Mt 10 führt die Ablehnung in einer Stadt aber nicht zum Abbruch der Zuwendung zu Israel, sondern allein zum Weiterziehen in eine andere Stadt. Die drei Orte in 11,20–24 stehen also schwerlich pars pro toto. Ohnehin meint die pauschale Anrede der Orte schwerlich konsequent alle Individuen in ihnen (in Kafarnaum lebt nach 8,14 auch Petrus’ Schwiegermutter in dessen Haus). Schließlich ist zu beachten, dass V. 20–24 nicht den Schlusspunkt der Komposition in Mt 11 setzt, sondern diese in V. 28–30 in einen – an die Volksmengen ergehenden – Einladungs-

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ruf einmündet. Im Duktus von Mt 11 kommt V. 20–24 die Funktion zu, den Volksmengen die Notwendigkeit einer eindeutigen Positionierung einzuschärfen: Nicht erst offene Gegnerschaft (V. 16–19), sondern bereits das Ausbleiben der Umkehr (V. 20–24) führt ins Verderben. III 2.4 Der Einladungsruf Jesu (11,25–30) 25 Zu jener Zeit fuhr Jesus fort und sagte: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du diese vor Weisen und Verständigen verborgen und sie Unmündigen offenbart hast. 26 Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir. 27 Alles ist mir übergeben worden von meinem Vater; und niemand kennt den Sohn außer der Vater, noch kennt jemand den Vater außer der Sohn, und der, dem der Sohn es offenbaren will. 28 Kommt alle zu mir, die ihr euch abmüht und belastet seid! Und ich werde euch Ruhe geben. 29 Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir! Denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen; 30 denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.“ Mit V. 25–27 folgt Matthäus weiter dem Faden der Logienquelle (vgl. Lk 10,21f). V. 28–30 ist mt Sondergut. Der Passus lässt sich in drei Untereinheiten gliedern: den Lobpreis in V. 25f, Jesu Selbstoffenbarung in V. 27 und den Einladungsruf in V. 28–30, der zum Abschluss von V. 7–30 Jesu ethische Unterweisung in den Vordergrund rückt. V. 27 bildet die christologische Basis für V. 28–30; umgekehrt betrachtet zeigt die Ausrichtung der Konkretisierung von V. 27 in V. 28–30 die große Bedeutung, die Matthäus dem christlichen Handeln beimisst. Als Traditionshintergrund des Lobpreises ist vor allem das Motiv der 25–26 den Menschen verborgenen (Ijob 28,12–28; 1Hen 42,1f), aber den Auserwählten offenbarten Weisheit (z. B. Dan 2,19–23) namhaft zu machen. Im Duktus von Mt 11 nehmen die Pronomina „diese“ bzw. „sie“ in V. 25 die Rede von den „Werken des Christus“ in V. 2 auf, auf die schon in V. 19 („Werke der Weisheit“) und in V. 20.21.23 („Machttaten“) zurückverwiesen wurde. Während dort aber Ablehnung (11,16–19) und Gleichgültigkeit (11,20–24) thematisiert wurden, tritt mit dem Lobpreis Gottes nun hinzu, dass Gott Unmündigen bzw. Unwissenden (vgl. Ps 19,8; 119,130) das Wirken Jesu als das, was es ist, nämlich als Wirken des Messias hat offenbar werden lassen. Treten damit die Jünger ins Blickfeld (vgl. 13,11), so ist bei den „Weisen und Verständigen“, die Gott bei seiner Offenbarung übergangen hat (vgl. die Kritik an den Weisen in Jes 29,14; 1Kor 1,20), im mt Kontext an die religiösen Autoritäten zu denken. Man wird dabei zu beachten haben, dass das, was hier als offenbarendes und verbergendes Han-

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deln Gottes ausgesagt wird, für Matthäus zugleich auch in der Verantwortung der Menschen liegt, wie schon durch den vorangehenden Kontext illustriert wird: Die Volksmengen sollen zu einem tieferen Verstehen geführt werden (11,7–15). Gottes Wirken und menschliches Erkennen und Handeln sind in ihrer spannungsvollen Dialektik zusammenzuhalten. Es liegt in der Konsequenz der Geschöpflichkeit des Menschen, dass all sein Erkennen und Handeln grundständig vom Wirken Gottes abhängig ist; zugleich kommt Gottes Offenbarungshandeln dort zum Ziel, wo Menschen sich diesem nicht verschließen. Mit der Selbstoffenbarung Jesu als Sohn, d. h. als Sohn Gottes, dem 27 „alles“ vom Vater übergeben wurde (V. 27, vgl. Joh 3,35; 13,3; 17,2), wird die Thematisierung der durch 11,2f aufgeworfenen Frage nach der Identität Jesu zu einem ersten Gipfelpunkt geführt. Im Blick ist hier die Handlungseinheit Jesu mit dem Vater, die anderorts in dem Moment der – von Gott stammenden – Vollmacht Jesu zum Ausdruck kommt (7,29; 9,6; 21,23–27; 28,18), d. h. „alles“ in V. 27a bezieht sich umfassend auf die Jesus von Gott her zukommende und sich in seinem Wirken manifestierende Vollmacht. Die Fortführung der Selbstpräsentation Jesu durch das Motiv der exklusiven wechselseitigen Kenntnis von Vater und Sohn (V. 27b.c) ist entsprechend nicht so zu verstehen, dass hier „alles“, was Jesus von seinem Vater übergeben wurde, auf seine Gotteserkenntnis bzw. die Offenbarung eingegrenzt wird. Vielmehr fokussiert V. 27b.c das Thema der Handlungseinheit des Sohnes mit dem Vater auf den darin vorausgesetzten Aspekt der einzigartigen Kenntnis des Sohnes durch den Vater und des Vaters durch den Sohn (vgl. Joh 10,15), was dann im Anschluss an die Aussage über die Rolle des Sohnes als Offenbarer (V. 27d) in V. 28–30 im Blick auf die Kundgabe des Willens Gottes durch Jesus entfaltet wird. Der Einladungsruf in V. 28–30 ist der Zielpunkt der in V. 7 begonnenen 28–30 Rede Jesu. Neben den Weisen und Unmündigen, also den religiösen Autoritäten und den Jüngern, erscheint hier mit denen, die sich abmühen und belastet sind, eine dritte Gruppe, die zwar noch nicht zur Jüngerschaft gehört, aber eingeladen ist, zu kommen (vgl. 4,19) und bei Jesus Ruhe zu finden. Zieht man 23,4 hinzu, wonach die Schriftgelehrten und Pharisäer den Menschen durch ihre Gesetzesauslegung schwere Lasten aufbürden, wird deutlich, dass Jesu Einladung – ganz im Sinne des Auditoriums in 11,7 – an die Volksmengen gerichtet ist und eine antipharisäische Spitze besitzt. Der kontrastive Bezug auf 23,4 macht zudem deutlich, dass die Aufforderung Jesu in V. 29, sein Joch auf sich zu nehmen, die Befolgung der Tora, wie Jesus sie lehrt, im Blick hat. Dies wird traditionsgeschichtlich durch die Nähe von V. 28–30 zur in der frühjüdischen Weisheitstradition begegnenden Einladung der Weisheit, zu ihr zu kommen bzw. sie zu suchen (Spr 8; Sir 6,18–37; 24,19–22; Weish 6,11–16), unter-

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mauert. Besonders auffällig sind die Konvergenzen mit Sir 51,23–27: Im Gefolge der an die „Ungebildeten“ gerichteten Mahnung, sich der Weisheit zu nähern (V. 23), begegnet hier nicht nur die Aufforderung, den Nacken unter das Joch zu beugen (V. 26), sondern auch die Verheißung, Ruhe zu finden (V. 27, vgl. 6,28). Als weiterer Kontext ist zum einen die enge Verknüpfung von Weisheit und Tora im Frühjudentum zu beachten (Sir 24; Bar 3,9–4,4; TestLevi 13), zum anderen, dass die Metapher des Jochs im Gefolge der Weisheitstradition auch auf die Tora bezogen wurde (2Hen 34,1; 2Bar 41,3; mAbot 3,5, vgl. dazu Jer 2,20; 5,5). In Mt 11 tritt Jesus an die Stelle, die in Sir 51 von der Weisheit besetzt wird. Zugleich dokumentiert sich darin, dass eben nicht vom Joch der Tora, sondern von seinem Joch die Rede ist, die singuläre Bedeutung der Erschließung des in der Tora niedergelegten Gotteswillens durch Jesus. Dass Anstrengung und das Schultern von Lasten zu einem gerechten Leben gehören, ist in Mt 11 ganz im Sinne der frühjüdischen Tradition als gegeben vorausgesetzt. Entscheidend ist daher allein, wie das auferlegte Joch beschaffen ist (vgl. V. 30). Bei der Aufforderung, von ihm zu lernen, ist neben dem Hören und Befolgen der Unterweisung Jesu auch an das Leben nach seinem Vorbild zu denken. Der nachfolgende Begründungssatz bezieht sich in doppelter Weise auf die beiden vorangehenden Mahnungen zurück. Zum einen begründen Jesu Sanftmut und Demut, warum die Menschen sein Joch aufnehmen sollen: Im Unterschied zu den Schriftgelehrten und Pharisäern, denen es nach 23,5–7 nur um ihr Sozialprestige geht, weist Jesus sich als der wahre Lehrer (vgl. 23,8.10) dadurch aus, dass er den Menschen verständnisvoll, barmherzig und als Dienender (20,28) begegnet. Zum anderen bezeichnen Sanftmut und Demut, warum und worin man Jesus nachahmen soll. Entsprechend zeigen 5,5 und 18,4; 23,12 die Bedeutung von Sanftmut und Demut (vgl. Zef 3,12; Sir 3,17 f.20; 10,14f LXX) als ethischer Leitlinie für die Jünger auf. Die Aufforderungen in V. 28.29 werden durch die zweimalige Verheißung der Ruhe motiviert. Als Kontrast zum Sich-Abmühen und BelastetSein birgt die Ruhe in V. 28 das Moment, bei Jesus von den Lasten befreit zu sein, welche die Autoritäten auferlegen (23,4). Ruhe bedeutet aber nicht Passivität, wie in traditionsgeschichtlicher Hinsicht durch die analogen Verheißungen der Weisheit in Sir 6,28; 51,27 illustriert und in V. 29 selbst durch den Konnex mit dem Motiv des Jochs erwiesen wird. Vielmehr erwächst die Ruhe für die Seele aus dem Gewinn einer klaren Lebensorientierung, aus dem festen Wissen um den „Weg der Gerechtigkeit“ (21,32). Dazu passt, dass die Verheißung der Ruhe in V. 29 mit Worten aus Jer 6,16 formuliert ist, wo sie mit der Rückkehr zu dem von Gott vorgegebenen Weg verbunden ist und im Kontext der gegenwärtige Schaden des Volkes thematisiert wird, an dem auch die religiösen Autoritäten in Gestalt der Propheten und Priester Anteil haben (Jer 6,13–15). Als weiterer

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Resonanzraum ist mitzuhören, dass mit der Ruhe das mit der Landnahme erreichte Ziel des Exodus benannt werden kann (z. B. Dtn 12,9f; Jos 21,44; 1Kön 8,56), und die Ruhe als Heilsgut zudem auch in prophetischen Heilsverheißungen wiederkehrt (Jes 14,1–3; 32,18). Nicht zuletzt verbindet sich mit der Ruhe, die Jesus jetzt gibt, die Verheißung, dass sie ihre Vollendung in der Teilhabe am Himmelreich finden wird (vgl. zu diesem eschatologischen Horizont 4Esra 7,36.38; 8,52; latLAE 51,2). Die abschließende Begründung der Verheißung der Ruhe, dass Jesu Joch sanft und seine Last leicht ist (V. 30), mag angesichts der gar nicht „leicht“ erscheinenden ethischen Herausforderung, die in der Bergpredigt vorgebracht wird, prima vista befremden, doch ist zum einen die Einbettung dieser Forderungen in die mt Betonung der Barmherzigkeit zu beachten, mit der Jesus Sündern begegnet (9,9–13) und die entsprechend die ekklesiale Gemeinschaft prägen soll (vgl. 18,10–35). Zum anderen erweist sich Jesu Last insofern als leicht, als er die Menschen eben von der Bürde entlastet, alltäglich auf die strengen rituell-kultischen Anforderungen der pharisäischen Gesetzesauslegung (vgl. 15,2; 23,4) Acht geben zu müssen. Der in 12,1–8 direkt nachfolgende Konflikt Jesu mit den Pharisäern über eine menschenfreundliche, durch Barmherzigkeit bestimmte Praxis des Sabbats, des Ruhetages (Ex 23,12; 31,15; 35,2; Lev 23,3), bietet dafür eine exemplarische Illustration.

III 3 Die Verschärfung des Konflikts mit den Pharisäern und die Jüngergemeinschaft als Familie Jesu (12,1–50) Während Jesus sich in 11,7–30 mit dem Einladungsruf in 11,28–30 an die Volksmengen gewandt hat, tritt in Mt 12 der Konflikt mit den Pharisäern als Leitthema hervor. Mit den Sabbatkontroversen in 12,1–14, die das Entweichen Jesu vor den Pharisäern in 12,15(–21) auslösen, und dem eine längere Auseinandersetzung nach sich ziehenden Beelzebulvorwurf (12,22–45) lassen sich zwei größere Blöcke unterscheiden. In die Konfliktlinie wird abschließend die Relativierung familiärer Bande eingestellt, der die Herausstellung der Jüngergemeinschaft als neuer Familie gegenübertritt (12,46–50). III 3.1 Die Sabbatkonflikte und der heilende Gottessohn (12,1–21) Matthäus nimmt in 12,1–21 den Markusfaden (vgl. Mk 2,23–3,12) wieder auf. Während Mk 2,1–22 bereits in Mt 9,1–17 verarbeitet worden ist, hat er die beiden Sabbatkontroversen aus Mk 2,23–3,6 für die mit Mt 11,2 eröffnete Komposition aufbewahrt, in der die Reaktionen auf Jesus in den Vordergrund treten. Die Sabbatkontroversen, die aufgrund der mt Auslas-

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sung der Sabbatdatierung in Mk 1,21(–34) die ersten und einzigen Sabbatepisoden im Mt darstellen, dienen hier dazu, die schroff ablehnende Haltung der Pharisäer in Szene zu setzen, die in dem Tötungsbeschluss in V. 14 einen ersten Höhepunkt erreicht, doch vermögen sie, wie 12,15f zeigt und 12,17–21 durch ein ausführliches Schriftzitat unterstreicht, Jesu Wirken nicht zu unterbinden. III 3.1.1 Die Auseinandersetzungen mit den Pharisäern über den Sabbat (12,1–14) 1 Zu jener Zeit ging Jesus am Sabbat durch die Saaten; seine Jünger aber hatten Hunger und fingen an, Ähren zu rupfen und zu essen. 2 Als aber die Pharisäer es sahen, sagten sie zu ihm: „Siehe, deine Jünger tun, was am Sabbat zu tun nicht erlaubt ist.“ 3 Er aber sagte zu ihnen: „Habt ihr nicht gelesen, was David tat, als er Hunger hatte und die, die mit ihm waren? 4 Wie er in das Haus Gottes ging und die Schaubrote aß, die zu essen ihm nicht erlaubt war, auch nicht denen, die mit ihm waren, sondern allein den Priestern? 5 Oder habt ihr nicht im Gesetz gelesen, dass am Sabbat die Priester im Tempel den Sabbat entweihen und unschuldig sind? 6 Ich sage euch aber: Größeres als der Tempel ist hier. 7 Wenn ihr aber erkannt hättet, was es heißt: ‚Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer‘, so hättet ihr die Unschuldigen nicht verurteilt. 8 Denn der Menschensohn ist Herr über den Sabbat.“ 9 Und als er von dort weitergegangen war, kam er in ihre Synagoge. 10 Und siehe, (da war) ein Mensch, der eine verdorrte Hand hatte. Und sie fragten ihn und sagten: „Ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen?“, damit sie ihn anklagen könnten. 11 Er aber sagte zu ihnen: „Wer von euch wird ein Mensch sein, der ein einziges Schaf hat und, wenn dieses am Sabbat in eine Grube fällt, es nicht ergreift und aufrichtet? 12 Wie viel mehr ist nun ein Mensch als ein Schaf! Also ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun.“ 13 Da sagt er zu dem Menschen: „Strecke deine Hand aus!“ Und er streckte sie aus, und sie wurde wiederhergestellt, gesund wie die andere. 14 Die Pharisäer aber gingen hinaus und fassten den Beschluss gegen ihn, ihn zu vernichten. Durch die kompositorische Voranstellung des Einladungsrufes in 11,28–30 erscheinen die Sabbatauseinandersetzungen in 12,1–14 bei Matthäus als Entfaltungen der von Jesus verheißenen „Ruhe für die Seelen“ (11,29) und seines Verweises auf sein sanftes Joch. Dessen kontrastiver Bezug auf die von den Pharisäern auferlegten schweren Lasten (23,4) manifestiert sich in 12,1–14 in der Verschärfung des Konflikts, die sich an der Sabbatpraxis entzündet.

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Ausgehend von Ex 34,21, wo das sabbatliche Ruhegebot ausdrücklich auf Pflügen und Ernten bezogen wird, gilt Ährenraufen als am Sabbat verbotene Tätigkeit (Jub 50,12; CD 10,20f; mShab 7,2). Auch Matthäus stellt nicht in Abrede, dass damit ein Bruch des Sabbats gegeben ist. Aber mit der von ihm eingefügten Notiz, dass die Jünger Hunger hatten, führt er einen Grund für ihr Verhalten an, der sie als unschuldig ausweist (V. 7): Sie übertreten das Ruhegebot nicht aus Missachtung des Sabbats und mit böser Absicht, sondern aus Not. Diese Zufügung dient des Näheren nicht nur der Analogisierung des Verhaltens der Jünger mit dem Davids (V. 3f), sondern bereitet vor allem das für die Argumentation wesentlich gewichtigere Argument in V. 5–7 vor, das Matthäus in die Markusvorlage einge2 fügt hat. Betrachtet man die Reaktion der Pharisäer in V. 2 im Gesamtduktus des Mt, so zeigt sich im Vergleich mit 9,9–13 deutlich die Verschärfung des Konflikts: Während sich die Pharisäer dort mit einer Frage an die Jünger wenden, adressieren sie hier ihren Protest erstmals direkt an Jesus, und dies geschieht anders als in Mk 2,24 nicht mehr in Form einer Frage nach einem möglichen Grund für das Verhalten der Jünger, sondern Matthäus lässt die Pharisäer in anklagendem Ton die Übertretung konstatieren. Die Möglichkeit, dass die Übertretung einen (überzeugenden) Grund haben könnte, wird erst gar nicht erwogen. Jesu Replik besteht bei Matthäus aus zwei auf der Schrift basierenden 3–4 Argumenten, deren Einleitung jeweils namhaft macht, dass der Vorwurf der Pharisäer nur ihre eigene Inkompetenz in der Kenntnis der Schrift dokumentiert (vgl. 19,4). Jesus führt zunächst mit dem Rekurs auf 1Sam 21,1–7 einen analogen Fall an: Auch David sah sich dazu legitimiert, ein Gebot zu übertreten, um den Hunger zu stillen, denn David und seine Leute aßen die nach Lev 24,9 den Priestern vorbehaltenen Schaubrote, die jeweils am Sabbat zugerichtet werden (Lev 24,8). Auch David ordnete also die Stillung seines Hungers einem in den Bereich der kultischen Observanz gehörenden Gebot über. Das bloße Vorliegen eines analogen Falls kann die Legitimität der Übertretung allerdings noch nicht hinreichend be5–7 gründen. Deshalb ergänzt Matthäus den Rekurs auf David um ein der Tora entnommenes Argument, das Mk 2,27 (der Vers fehlt bis auf die erneute Redeeinleitung auch in Lk 6,1–5) ersetzt, aber mit der Etablierung der Barmherzigkeit als Leitkriterium dem Sinn nach durchaus entspricht. Matthäus lässt Jesus darauf rekurrieren, dass die Priester durch das nach Num 28,9f gebotene Sabbatopfer regelmäßig den Sabbat entweihen. Er verweist damit auf einen Fall, in dem Gebote miteinander konfligieren und die Tora selbst mit einer Hierarchie unter den Geboten operiert: Der Tempeldienst wird dem Sabbatgebot übergeordnet. Im vorliegenden Fall geht es aber sogar um Größeres als den Tempel (V. 6), nämlich, wie V. 7 aufschlüsselt, um die Barmherzigkeit (das griechische Wort für Barmherzigkeit in V. 7 [to eleos] ist wie „das Größere“ in V. 6 ein Neutrum): Wenn 1

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schon das Opfer den Sabbat verdrängt, dann muss dies im Lichte von Hos 6,6 umso mehr von der Barmherzigkeit gelten, wobei die Argumentation in V. 5–7 deutlich macht, dass Matthäus die Gegenüberstellung von Barmherzigkeit und Opfer in Hos 6,6 komparativisch versteht: „Barmherzigkeit will ich mehr als Opfer.“ Die Jünger haben demnach den in der Schrift zum Ausdruck kommenden Willen Gottes auf ihrer Seite. Zwar bedeutet ihr Ährenraufen tatsächlich eine Übertretung des Sabbatgebots. Aber da bei Gott der Barmherzigkeit oberste Priorität zukommt, sind die Jünger schuldlos, weil sie Hunger hatten und es ein Gebot der Barmherzigkeit ist, dass Hungernde sich etwas zu essen beschaffen dürfen. V. 7 unterstreicht zugleich die Legitimität des Vorgehens Davids in 1Sam 21: Hier wird zwar mit Lev 24,9 ein kultisches Gebot verletzt, doch führt auch hier der Maßstab der Barmherzigkeit gegenüber den Hungernden zwingend dazu, dass ihnen kein Vorwurf zu machen ist. Die Einleitung des Zitats aus Hos 6,6 in V. 7 mit „wenn ihr erkannt hättet, was es heißt“ weist auf 9,13 zurück. 12,7 konstatiert nun, dass die Pharisäer der Aufforderung Jesu zu lernen, was dieses Prophetenwort bedeutet, nicht nachgekommen sind. Darin, dass Matthäus mit dem Hunger der Jünger einen Grund anführt, der ihr Verhalten legitimiert, wird deutlich, dass Matthäus den Text nicht so verstanden wissen will, dass hier das Sabbatgebot selbst außer Kraft gesetzt wird (s. auch 24,20). Wohl aber wird die für Matthäus’ Gesetzeshermeneutik fundamentale Differenzierung zwischen kleinen und großen Geboten ansichtig (vgl. zu 5,17–20; 23,23). Im Konfliktfall ist dem wichtigeren Gebot der Vorrang einzuräumen. Die Praxis des Sabbats ist entsprechend nach dem Maßstab der zentralen Forderungen von Gesetz und Propheten, also der Liebe und Barmherzigkeit, zu gestalten. Die Kritik an den Pharisäern in 12,1–8 liest sich damit wie eine Illustration des in 5,20 implizierten Vorwurfs: Sie bleiben hinter den großen Geboten zurück. In traditionsgeschichtlicher Hinsicht ist Mt 12,1–8 in die kontroverse frühjüdische Diskussion über die Sabbatheiligung einzuordnen. Neben der Definition der verbotenen Tätigkeiten selbst (mShab 7,2) ist dabei die Regelung von Ausnahmen von Bedeutung. In der Makkabäerzeit entwickelte sich aus der Überlebensnotwendigkeit heraus die Position, sich am Sabbat verteidigen zu dürfen (vgl. 1Makk 2,29–41), doch zeigt z. B. Josephus, Vita 161, dass dies umstritten blieb. In Weiterführung der Entscheidung der Makkabäer konnte sich aus dieser aber der Grundsatz entwickeln, dass Lebensgefahr den Sabbat verdrängt (tShab 15,11–16; bJoma 85a). Die entsprechende Diskussion sei exemplarisch durch mJoma 8,6 illustriert: „Wenn jemand Halsschmerzen hat, so darf man ihm [auch] am Sabbat Medizin in den Mund einflößen, weil hierbei ein Zweifel der Lebensgefahr vorliegt, und jeder Zweifel der Lebensgefahr verdrängt den Sabbat.“ Direkt voran geht eine Ausnahmebestimmung zum strengen Fastengebot am Versöhnungstag: „Wenn jemand von Heißhunger befallen wird, so gebe man ihm zu essen, selbst unreine Dinge, bis seine Augen erhellen.“

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Dass Matthäus den Hunger der Jünger im Sinn von Lebensgefahr konnotiert sein lassen wollte, ist allerdings in keiner Weise eine notwendige Annahme. Denn mit der prinzipiellen Vorordnung der Barmherzigkeit bezieht er eine Position, bei der, wie V. 9–14 weiter illustriert, nicht erst Lebensgefahr gegeben sein muss, um für den Sabbat – auch nach Matthäus – an sich geltende Verbote in die zweite Reihe rücken zu lassen. Matthäus vertritt also innerhalb des frühjüdischen Spektrums in besonders konsequenter Weise eine liberale Gegenposition zu den strengen Ausprägungen der Sabbathalacha, die im Jub (2,29f; 50,6–13) oder in Qumran (CD 10,14–11,18) begegnen. Mehr noch: Die Etablierung der Barmherzigkeit als Leitkriterium führt letztlich dazu, dass jede Form einer ausgeklügelten Sabbathalacha funktionslos wird (vgl. Doering, Schabbat, 435 f.462).

8 An die Schriftargumentation in V. 3–7 hängt V. 8 eine christologisch ausgerichtete Begründung an, die im mt Kontext auf die in Mt 5 entfaltete Autorität Jesu zurückverweist: Als derjenige, der den in Tora und Propheten zum Ausdruck kommenden Willen Gottes den Menschen in vollgültiger Weise erschließt, ist er Herr auch über den Sabbat, d. h. er ist derjenige, der den Sinn der Gabe des Sabbats und die dementsprechende Sabbatpraxis mit letztgültiger Autorität vermittelt, indem er die Barmherzigkeit ins Zentrum rückt. In V. 9–14 bleibt der Fokus ganz auf die Auseinandersetzung zwischen 9–14 Jesus und den Pharisäern gerichtet. Die Anweisung an den Kranken in Mk 3,3 ist ebenso ausgelassen wie der Verweis auf die Gemütsregung Jesu in Mk 3,5a; dafür ist die Kontroverse mit den Pharisäern um das Argument in V. 11–12a erweitert worden, das, wie Lk 14,5 zeigt, keine freie Bildung des Evangelisten darstellt, sondern der Tradition entnommen ist. Durch die von Matthäus neu gestaltete Überleitung in V. 9 wird die 9–10 zweite Sabbatepisode zeitlich direkt an die voranstehende Auseinandersetzung angebunden. Die Anwesenheit eines Mannes mit einer verdorrten, d. h. wohl steif gewordenen bzw. gelähmten Hand nehmen die Pharisäer zum Anlass, um Jesus zu einer Handlung zu provozieren, die ihres Erachtens eine klare Übertretung des Sabbats bedeutet, denn die Heilung kann, da keine Lebensgefahr vorliegt, bis zum nächsten Tag warten. Anders als bei Markus warten die Pharisäer nicht ab, ob Jesus den Mann heilen wird, sondern sie konfrontieren ihn direkt und grundsätzlich mit der Frage, „ob es erlaubt ist, am Sabbat zu heilen“. Die Formulierung der Frage mit „ob es erlaubt ist“ erinnert an die Anklage in V. 2. Nach Jesu Replik in V. 3–8 können die Pharisäer mit Gewissheit davon ausgehen, dass Jesus, da er die Barmherzigkeit allem überordnet, Heilungen am Sabbat nicht nur für erlaubt halten, sondern sie auch ausführen wird. V. 10 macht damit auch deutlich, dass die Pharisäer sich durch Jesu Argumentation in V. 3–8 nicht animieren ließen, ihre Auffassung zu überdenken, wie sie ja auch der Aufforderung von 9,13 nicht gefolgt sind. Die Fronten sind längst, ja von Anfang an, verhärtet. Die Kenntnis der Position Jesu dient

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ihnen allein dazu, um ihn – in der Hoffnung, etwas gegen ihn in die Hand zu bekommen und ihn anklagen zu können (vgl. Ex 31,14) – gezielt zu provozieren. Entsprechend geht es nun anders als in V. 1f um das Verhalten von Jesus selbst, nicht mehr um das seiner Jünger. Das Kalkül der Pharisäer geht freilich nicht auf, denn bevor Jesus den 11–12 Mann heilt, stellt er seine Kontrahenten in einem kurzen halachischen Diskurs bloß. Mit dem Verweis auf die selbstverständliche Hilfe für ein am Sabbat in die Grube gefallenes Schaf behaftet Jesus die Pharisäer in V. 11 bei ihrer eigenen Sabbatpraxis. Quellenmäßig belegen lässt sich diese unabhängig von Mt 12,11 nicht. bShab 128b bezeugt immerhin die Erlaubnis, Kissen und Polster unterzulegen, wenn ein Vieh in einen Wassergraben fällt. Hingegen hielten die Essener es für verboten, Vieh, das in einen Brunnen oder in eine Grube gefallen ist, am Sabbat wieder herauszuholen (CD 11,13f). Der in Mt 12,11 geschilderte Fall gewinnt seine soziale Brisanz dadurch, dass es sich um das einzige Schaf eines Menschen handelt; der Verlust wäre also empfindlich, ja existentiell (vgl. 2Sam 12,3). Wenn aber in einem solchen Fall die Hilfe für das Schaf, jedenfalls von den Pharisäern, nicht in Frage gestellt wird, um wie viel mehr ist dann, so die Folgerung in V. 12b, einem Menschen zu helfen, da ein Mensch viel mehr wert ist als ein Schaf (V. 12a, vgl. 6,26; 10,31). Die Konsequenz kann also nur sein, dass Heilen nicht zu den am Sabbat verbotenen Arbeiten zu zählen ist. Dass die Pharisäer diese Konsequenz nicht ziehen, offenbart die Irrationalität ihrer Position und zugleich ihre Boshaftigkeit gegenüber Jesus sowie ihre Unbarmherzigkeit gegenüber den Menschen. Jesu Folgerung in V. 12b ist im Wortlaut direkt auf die Frage der Pharisäer von V. 10 bezogen, nur ist „heilen“ durch „Gutes tun“ ersetzt bzw. interpretiert. Die mk Alternativfrage (Mk 3,4) weicht einem programmatischen Grundsatz, der die Etablierung der Barmherzigkeit als Leitlinie der Sabbatpraxis in V. 1–8 fortschreibt: Es ist erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun. Die Heilung wird in V. 13 nur knapp konstatiert. Jesu Argument wird 13–14 von den Pharisäern nicht erwidert, wobei Matthäus zweifelsohne voraussetzt, dass sie ihm nichts zu erwidern vermochten (vgl. 22,46). Stattdessen gehen sie hinaus und fassen den Beschluss, Jesus umzubringen. Die Erwähnung der Herodianer (Mk 3,6) hat Matthäus ausgelassen; sein Interesse gilt den Pharisäern. Der Konflikt mit ihnen ist zu einem tödlichen geworden. Dem mit V. 14 gesetzten Vorausverweis auf die Passion fügt sich dabei ein, dass die Wendung „einen Beschluss fassen“ in den Jerusalem-Kapiteln mehrmals aufgenommen wird (22,15; 27,1.7; 28,12).

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III 3.1.2 Der heilende Gottesknecht als Hoffnung für die Völker (12,15–21) 15 Da aber Jesus es erkannte, entwich er von dort; und große Volksmengen folgten ihm (nach), und er heilte sie alle. 16 Und er gebot ihnen streng, dass sie ihn nicht offenbar machten, 17 damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaja gesagt wurde, der spricht: 18 „Siehe, mein Knecht, den ich erwählt habe, mein Geliebter, an dem meine Seele Wohlgefallen gefunden hat; ich werde meinen Geist auf ihn legen, und er wird den Völkern (das) Recht verkünden. 19 Er wird nicht streiten noch schreien, noch wird jemand seine Stimme auf den Straßen hören. 20 Ein geknicktes Rohr wird er nicht zerbrechen, und einen glimmenden Docht wird er nicht auslöschen, bis er das Recht zum Sieg führt. 21 Und auf seinen Namen werden (die) Völker hoffen.“ Matthäus bietet in V. 15f eine stark gekürzte Fassung von Mk 3,7–12. Die geographischen Angaben in Mk 3,7b.8 hat er bereits in 4,25 verarbeitet. Der Schwerpunkt des Textes liegt auf dem ausführlichen Zitat des sog. Gottesknechtslieds aus Jes 42,1–4 in V. 17–21, mit dem Matthäus über den unmittelbaren Kontext hinaus verschiedene Facetten des Wirkens Jesu im Lichte der Schrift reflektiert und dieses als schriftgemäß ausweist. Jesus entweicht, als er den Plan der Pharisäer erkennt, da die Zeit, zu 15–16 der er den Weg ans Kreuz auf sich nehmen wird (vgl. 26,18), noch nicht gekommen ist. Matthäus hat dasselbe – hier in Anknüpfung an Mk 3,7 verwendete – Verb bereits in Mt 2 im Zusammenhang der Flucht vor Herodes (2,14) und später vor seinem Sohn Archelaus (2,22) benutzt (vgl. noch 4,12; 14,13; 15,21). Die Pharisäer sind als Gegner, die Jesus nach dem Leben trachten, in deren Fußstapfen getreten. Die Volksmengen hingegen befinden sich weiterhin in seinem Gefolge (vgl. 4,25; 8,1; 14,13; 19,2), und wiederum heilt Jesus alle (nicht wie in Mk 3,10 „viele“, vgl. Mt 8,16 par Mk 1,34). Durch die Auslassung von Mk 3,11 ist das aus Mk 3,12 übernommene Schweigegebot in V. 16 nicht an die unreinen Geister gerichtet, die Jesus als Sohn Gottes offenbar machen wollen, sondern an die von ihm geheilten Volksmengen. Entsprechend bezieht es sich hier inhaltlich nicht auf das Offenbarmachen der Identität Jesu, sondern es ist im Zusammenhang des Rückzugs von den Pharisäern zu sehen: Jesus will diesen (vorerst) entzogen bleiben. Das in V. 17–21 folgende Zitat von Jes 42,1–4 ist das längste Erfüllungs17–21 zitat im gesamten Mt. Sein Wortlaut lässt vermuten, dass es sich um eine eigenständige Übersetzung des hebräischen Textes mit Einfluss von LXX (und möglicherweise der Targumtradition) handelt. Für die Anbindung des Zitats an den narrativen Kontext wird häufig allein oder primär V. 19 namhaft gemacht, der dem Schweigegebot in V. 16 korrespondieren soll.

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Gerade diese Brücke ist aber nicht tragfähig, weil es in V. 16 um das Schweigen der Volksmengen und nicht des Knechtes geht. Es bestehen aber anderweitig durchaus enge, im Folgenden aufzuweisende Bezüge zum Kontext, wobei diese die Annahme nahelegen, dass der Evangelist selbst für die Endgestalt des Zitats verantwortlich ist. Die Rede vom Knecht als von „meinem Geliebten, an dem meine Seele 18 Wohlgefallen gefunden hat“, wie auch der Verweis auf den Geist lassen an 3,16f zurückdenken (das hier mit „Knecht“ wiedergegebene griechische Wort pais kann auch „Sohn, Knabe“ bedeuten, vgl. zu 8,6). Die mt Rezeption von Jes 42,1–4 ist also in die Gottessohnchristologie des Evangelisten eingebunden. Die Rede vom Geistbesitz des Knechts weist im Kontext zugleich auf V. 28 voraus. Für V. 19 legt sich im mt Kontext ein Bezug auf den Konflikt Jesu mit 19 den Pharisäern und seinen Rückzug nahe. Jesus setzt sich nicht, wie man dies von einem König nach eingespielten Rollenmustern erwarten mag, mit Macht und Gewalt gegen seine Widersacher durch (vgl. 26,52–54), er „streitet nicht“, wie Matthäus abweichend von MT wie LXX schreibt, sondern entzieht sich zunächst der Konfrontation und stellt sich ihr dann in der Weise, dass er den Weg ins Leiden auf sich nimmt. Auch lautes oder ostentatives Auftreten auf den breiten Straßen (vgl. 6,5) ist nicht die Sache des sanftmütigen Königs Jesus (11,29; 21,5). Die – für sich genommen vielfach applikablen – Metaphern vom ge- 20 knickten Rohr und glimmenden Docht in V. 20a.b lassen im mt Kontext den desolaten Zustand der Volksmengen (9,36; 10,6) assoziieren, d. h. V. 20a.b reflektiert die Zuwendung Jesu zu den „daniederliegenden, verlorenen Schafen“, von der in V. 15 in Gestalt des heilenden Wirkens Jesu die Rede war. In dem V. 20 abschließenden Temporalsatz sind Jes 42,3c (LXX: „in Wahrheit wird er Recht hinausbringen“) und V. 4b (LXX: „bis er auf Erden Recht eingesetzt hat“) zusammengezogen und außerdem „in/ zur Wahrheit“ durch „zum Sieg“ ersetzt worden; die in Jes 42 dazwischenstehende Aussage „er wird aufleuchten und nicht zerbrochen werden“ (Jes 42,4a LXX) wurde ausgelassen, weil sie nicht mit Jesu Passion vereinbar ist. In Mt 12,20 schließt der Temporalsatz das Geschehen von Tod und Auferweckung Jesu ein, denn durch seinen Tod unterliegt er nicht seinen Gegnern, sondern er trägt mit seiner Erhöhung zum Weltenherrn den „Sieg“ davon, womit der Grund gelegt ist, dass er als erhöhter Herr das Recht zum Sieg führt. Die Parusie Jesu und das Endgericht werden diesen „Sieg“ vollenden. Im Blick auf die Platzierung des Zitats Jes 42,1–4 in der mt Jesuserzählung ist von V. 20 her festzuhalten, dass Matthäus den ersten Hinweis auf den Tod Jesu im Zusammenhang des Konflikts mit den jüdischen Autoritäten (V. 14) genutzt hat, um ein Zitat einzufügen, das er in seiner christologischen Perspektive auf diesen Konflikt und dessen heilvollen „siegreichen“ Ausgang hin lesen konnte.

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Mit der österlichen Erhöhung Jesu ist verbunden, dass sich die Hoffnung der Völker erfüllen wird, die sich in der mt Version des Zitats – mit LXX – konkret auf seinen „Namen“ bezieht. Im Gesamtkontext ist hierzu zum einen grundlegend auf die Namensgebung in 1,21.23 zu verweisen: Die Ankündigung von 1,21b findet in der Passion Jesu ihre letztgültige Erfüllung, und das Immanuelmotiv aus 1,23 wird in der Zusage des Auferstandenen in 28,20b aufgenommen. 12,21 bestätigt damit den Bezug von V. 20c auf Tod und Auferweckung Jesu. Zum anderen ist auch eine Verbindung von 12,21 zum Taufbefehl in 28,19 zu verzeichnen: Der Hoffnung der Völker auf seinen Namen korrespondiert, dass alle Völker „auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ getauft 18 werden sollen. Im Duktus des Zitats schlägt V. 21 den Bogen zu V. 18d zurück. Das Verkünden des Rechts wird Matthäus entsprechend auf der Linie von 28,19f, also im Sinne der Unterweisung in den die Rechtsordnung Gottes erschließenden Geboten Jesu verstanden haben (s. auch 24,14). Das Hinausführen des Rechts zum Sieg (V. 20c) bildet dabei die Voraussetzung für dessen Verkündigung unter den Völkern, worin sich die Hoffnung der Völker zu erfüllen beginnt (V. 21). Mit V. 18d.21 rahmen zwei die Völker betreffende Aussagen die Darlegung des Wirkens des Knechts. V. 18–21 verstärkt dabei nicht nur die bereits durch das Zitat von Jes 8,23–9,1 in Mt 4,15f geleistete Verankerung der universalen Dimension des Christusgeschehens in der Schrift, sondern führt diese Verankerung durch die Aussage in V. 20c mit Blick auf die Bedeutung von Tod und Auferstehung Jesu für die Universalität des Heils weiter.

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III 3.2 Jesu Abrechnung mit den böswilligen Pharisäern (12,22–45) Geht es in 12,1–14 um einen Konflikt um die Tora, so tritt dem in 12,22–45 eine lange Kontroverse zur Seite, die sich an Jesu heilendem Wirken entzündet. Matthäus folgt weiter dem Markusfaden und verarbeitet in 12,24–32 Mk 3,22–30 (Mk 3,13–19 wurde bereits in Mt 10,1–4 aufgenommen, Mk 3,20f lässt Matthäus wegen der ihm zu negativen Zeichnung der Familie Jesu weg), er zieht aber zusätzlich die Version der Beelzebulkontroverse aus Q heran (vgl. Lk 11,14–23*), arbeitet beide Versionen zusammen und nimmt ferner in V. 33–35 noch einmal Q 6,43–45 auf (vgl. Mt 7,16–20), diesmal inklusive Q 6,45. Ob das Gerichtswort in V. 36f (zum Teil) dem Sondergut entstammt oder (ganz) redaktionell ist, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit entscheiden, doch dürfte die im Kontext überraschende Rede vom „unnützen“ Wort für die vormatthäische Herkunft zumindest eines Teils von V. 36 sprechen. Der Logienquelle ist dann im Gefolge auch die Zeichenforderung (Mt 12,38–42) und das Wort von der Rückkehr des unreinen Geistes (12,43–45) entnommen (vgl. Lk 11,16.29–32

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+ 11,24–26). Matthäus hat nicht nur die Reihenfolge der beiden Texte umgestellt, sondern sie zugleich auch durch den Schlusssatz in V. 45 zu einer Sinneinheit zusammengefügt. III 3.2.1 Die Beelzebulkontroverse (12,22–37) 22 Da wurde ein Besessener zu ihm gebracht, der blind und (taub)stumm war; und er heilte ihn, so dass der (Taub-)Stumme redete und sah. 23 Und die ganzen Volksmengen gerieten außer sich und sagten: „Dieser ist doch nicht etwa der Sohn Davids?“ 24 Die Pharisäer aber sagten, als sie es hörten: „Dieser treibt die Dämonen nicht anders aus als durch den Beelzebul, den Obersten der Dämonen.“ 25 Da er aber ihre Gedanken kannte, sagte er zu ihnen: „Jedes Reich, das mit sich selbst entzweit ist, wird verwüstet; und jede Stadt oder jedes Haus, das mit sich selbst entzweit ist, wird nicht bestehen. 26 Und wenn der Satan den Satan austreibt, so ist er mit sich selbst entzweit. Wie wird also sein Reich bestehen? 27 Und wenn ich die Dämonen durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein. 28 Wenn ich aber die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, so ist also das Reich Gottes zu euch gelangt. 29 Oder wie kann jemand in das Haus des Starken eindringen und seine Habe rauben, wenn er nicht zuerst den Starken fesselt? Und dann wird er sein Haus ausrauben. 30 Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, zerstreut. 31 Deshalb sage ich euch: Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden; die Lästerung des Geistes aber wird nicht vergeben werden. 32 Und wer ein Wort redet gegen den Menschensohn, dem wird vergeben werden; wer aber gegen den Heiligen Geist redet, dem wird nicht vergeben werden, weder in dieser Welt noch in der zukünftigen. 33 Entweder nehmt an: Der Baum ist gut; dann ist seine Frucht gut. Oder nehmt an: Der Baum ist faul; dann ist seine Frucht faul. Denn an der Frucht wird der Baum erkannt. 34 Otternbrut! Wie könnt ihr Gutes reden, da ihr böse seid? Denn aus dem, wovon das Herz überfließt, redet der Mund. 35 Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz Gutes hervor, und der böse Mensch bringt aus dem bösen Schatz Böses hervor. 36 Ich aber sage euch: Für jedes unnütze Wort, das die Menschen reden werden, werden sie Rechenschaft ablegen am Tag des Gerichts; 37 denn aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verurteilt werden.“ Matthäus folgt bei der Rezeption von Q 11,14f + Mk 3,22 demselben Mus- 22–24 ter wie in 9,32–34, wo er den Passus schon einmal brachte: Die Heilung

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(vgl. V. 15) eines dämonisch Besessenen ruft eine positive Reaktion der Volksmengen hervor, die die Pharisäer mit dem Beelzebulvorwurf kontern. Anders als in 9,32 ist der Besessene in 12,22 nun nicht nur stumm, sondern auch blind, und die Volksmengen beginnen, die von ihnen in 9,33 festgestellte Besonderheit des Wirkens Jesu, wenngleich noch in Form einer mit Zweifel besetzten Frage, in messianischer Kategorie zu benennen. Sie zeigen also eine keimende christologische Erkenntnis, die man im Gesamtduktus des Mt durch die Belehrung in 11,7–30 vermittelt bzw. angebahnt sehen kann. Da der Davidsohntitel im Mt auch sonst mit Blindenheilungen verbunden ist (9,27–31; 20,29–34; 21,14f), ist zwischen der Erweiterung des Krankheitsbildes in V. 22 gegenüber 9,32 und der Überlegung der Volksmengen in V. 23 ein unmittelbarer Zusammenhang zu sehen, bei dem auch die metaphorische Sinndimension der Blindheit, die durch die Autoritäten bedingte geistige Blindheit, mit zu bedenken ist (vgl. zu 9,27). Mit dem Erkenntnisfortschritt der Volksmengen korreliert, dass die abwehrende Reaktion der Pharisäer an Schärfe gewinnt, denn der Vorwurf von 9,34 wird nun durch die Formulierung „nicht anders als durch Beelzebul“ noch eindringlicher gefasst. Matthäus kennzeichnet V. 24 zudem ausdrücklich als Reaktion auf die Worte der Volksmengen („als sie es hörten“). Die Aufnahme des Demonstrativpronomens „dieser“ (V. 23), das in V. 24 in einem despektierlichen Tonfall zu hören ist, unterstreicht den abwehrenden Bezug auf deren Überlegung. V. 24 ist also die dezidiert negative Antwort der Pharisäer auf die Frage der Volksmengen. Wurde Jesu Fähigkeit zu heilen von den Pharisäern in V. 10 noch als selbstverständlich gegeben vorausgesetzt, so wollen sie Jesus nun angesichts des Zuspruchs des Volkes durch die Unterstellung eines Bündnisses mit dem Teufel diskreditieren und die Überlegung der Volksmengen im Keim ersticken, um ihre eigene Autoritätsstellung zu behaupten. Anders als in 9,32–34 reagiert Jesus auf den Vorwurf der Pharisäer mit 25–37 einer ausführlichen Erwiderung (V. 25–37), was den veränderten Schwerpunkt in 11,2–16,20 gegenüber 4,17–11,1 illustriert. Eine Spannung zu V. 19 besteht insofern nicht, als der Streit nicht von Jesus entfacht wird, sondern er nur den diffamierenden Vorwurf der Pharisäer kontert. Jesu Replik lässt sich grob in zwei Unterabschnitte teilen: V. 25–30 führt die Auseinandersetzung mit dem in V. 24 erhobenen Vorwurf, während V. 31–37 die soteriologische Konsequenz der boshaften Rede der Pharisäer aufweist. Dass Jesus ihre Gedanken kannte (V. 25, vgl. 9,4), kann hier, da die Pha25–27 risäer ihren Vorwurf offen äußerten, nur besagen, dass er erkannte, was sie mit diesem im Schilde führten. Im näheren Kontext ist an V. 14f zu denken. Der Versuch, die positive Rezeption Jesu im Volk zu unterdrücken, ist ein erster Schritt in ihrem Plan, Jesus loszuwerden. Jesus illustriert in seiner Replik in V. 25f (par Lk 11,17f [= Q]; Mk 3,23–26) zu-

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nächst die Absurdität des Vorwurfs, denn ein mit sich selbst entzweites Reich – wie dies beim Reich des Satans (V. 26) der Fall sein müsste, wäre der Vorwurf der Pharisäer zutreffend – kann keinen Bestand haben (V. 25a); aus einem Bürgerkrieg ist noch kein Land gestärkt hervorgegangen. Analoges gilt mutatis mutandis für die darunter liegenden sozialen Größen Stadt und Haus (= Familie), die Matthäus in V. 25b anfügt. V. 27 (par Lk 11,19 [= Q]) deckt sodann die Böswilligkeit der Unterstellung auf: In ihren eigenen Reihen beurteilen die Pharisäer Dämonenaustreibungen anders; sie halten Exorzismen offenkundig nicht per se für „Teufelszeug“. Also geht es in V. 24 nicht um das Werk selbst, sondern darum, dass Jesus es gewirkt hat. In V. 28 (par Lk 11,20 [= Q]) stellt Jesus der Unterstellung der Pharisäer dann den tatsächlichen Sachverhalt entgegen: Nicht durch Beelzebul, sondern durch den Geist Gottes, dessen Kraft Jesu Leben und Wirken von Anfang an bestimmt (1,18.20; 3,16), treibt er die Dämonen aus. Q (vgl. Lk 11,20) sprach an dieser Stelle vom Finger Gottes (vgl. Ex 8,15); Matthäus hat dies – zum einen im Vorblick auf V. 31f, zum anderen im Rückgriff auf V. 18 – zu „durch den Geist“ geändert. Jesu Dämonenaustreibungen unterscheiden sich dabei dadurch von denen anderer, dass sich in diesen das Reich bzw. die Herrschaft Gottes bereits gegenwärtig manifestiert. Wo aber durch das geistgewirkte Heilen des Messias die Herrschaft Gottes hervortritt, beginnt die Macht des Teufels zu schwinden, ja sie ist im Prinzip schon gebrochen (vgl. TestDan 5,10; TestMos 10,1). Letzteres wird durch das in V. 29 (par Lk 11,21f; Mk 3,27) in Form einer rhetorischen Frage angeschlossene Bildwort (vgl. zum Bild Jes 49,24f; PsSal 5,3) illustriert: Das „Haus“ des Satans ist zwar nicht gegen sich selbst entzweit, aber der Satan ist schon wie ein Starker, der in seinem Haus gefesselt wurde, so dass man nun sein Haus ausrauben, d. h. die unter dem Dämonenheer Satans leidenden Menschen befreien kann. Die hier konstatierte Fesselung Satans ist freilich (noch) nicht das ganze Bild; sie gilt konkret im Blick auf das Heilsgeschehen, das sich in den Dämonenaustreibungen manifestiert. An anderer Stelle ist der Teufel hingegen nach wie vor aktiv (vgl. 13,19.39). Das Logion in V. 30 fungiert in der Lk-Parallele (11,23) als ein Aufruf zur Entscheidung, und dies dürfte auch für Q gelten; im mt Kontext ist es jedoch als Teil der Anklage gegen die Pharisäer zu lesen. Ihre Aufgabe – als religiöse „Elite“ – wäre gewesen, die hirtenlosen (9,36) und verlorenen Schafe (10,6) zusammen mit Jesus zu „sammeln“; in ihrer Bosheit tun sie jedoch genau das Gegenteil. Mit dem Neueinsatz „deshalb sage ich euch“ in V. 31 geht Jesus dazu über, die soteriologische Konsequenz zu entfalten, die das Verhalten der Pharisäer nach sich ziehen wird. V. 31f ist eine Kombination aus Mk 3,28f und dem bei Lukas in einem anderen Q-Zusammenhang stehenden Logion Q 12,10. Im mt Kontext greift der Passus auf V. 28 zurück: Die Äußerung der Pharisäer in V. 24 ist im Lichte von V. 28 eine Lästerung gegen

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den in Jesus wirkenden Geist Gottes, eine solche aber ist nicht vergebbar. Schwierig ist die Differenzierung in V. 32, dass der, der etwas gegen den Menschensohn sagt, Vergebung empfangen kann, der, der gegen den Heiligen Geist redet, hingegen nicht, denn es ist ja der Menschensohn Jesus, der durch den Geist wirkt. Soll man hier die Unterscheidung einziehen, dass nicht das gesamte Wirken Jesu in gleich unmittelbarer Weise die geistgewirkte Präsenz der Gottesherrschaft bedeutet wie sein heilendes, exorzistisches Handeln? Zur näheren Erläuterung könnte man konkret auf 11,19 zurückgehen, wo Jesus mit dem Vorwurf, er sei ein Fresser und Weinsäufer, ein Wort der Pharisäer gegen den Menschensohn angeführt hat. Ist eine solche Lästerung noch zu vergeben, so stellt der Beelzebulvorwurf eine andere Dimension dar. Mit dieser Verschärfung kann man dann einhergehen sehen, dass sich die Rede von diesem Geschlecht (11,16) in 12,39 zur Bezeichnung „böses und ehebrecherisches Geschlecht“ verschärft. Eine Schwierigkeit bleibt, weil auch die in 11,19 kritisierte Zuwendung Jesu zu Sündern zum Zentrum seines Handelns gehört und sie zudem von den Heilungen nicht völlig zu trennen ist (vgl. 9,2–13). Vielleicht ist V. 32 daher schlicht als eine rhetorisch überspitzte Formulierung zu lesen, in der V. 32a vor allem als Widerlager für V. 32b dient, um die Schwere des Vergehens der Sünde gegen den Heiligen Geist, also der Worte der Pharisäer in V. 24 zu betonen. Die wiederholte und so betonte Wendung „es wird (ihm) nicht vergeben werden“ (V. 31.32) erhält durch die angehängte Phrase „weder in dieser Welt noch in der zukünftigen“ noch zusätzliches Gewicht: Die Pharisäer werden im Endgericht ihre Strafe empfangen. Mit der Einstellung des nach 7,16–20 erneut aufgenommenen Bildwortes 33–35 vom Baum und seiner Frucht (V. 33) und seiner Anwendung auf die blasphemischen Worte der Pharisäer (V. 34f) stellt Matthäus heraus, dass die Pharisäer so wesenhaft böse sind, dass von ihnen gar nichts anderes als eine böse Zunge zu erwarten ist. Die Invektive „Otternbrut“ greift die Anrede der Pharisäer und Sadduzäer durch den Täufer in 3,7 auf (vgl. noch 23,33), was sich in die mt Tendenz einfügt, die Botschaft des Täufers und die Jesu einander anzugleichen (vgl. zu 3,2; 4,17 sowie zu 3,7–10). Die sich anschließende Wie-Frage in V. 34a ist rhetorisch und bedeutet nichts anderes, als dass es den Pharisäern aufgrund ihrer Boshaftigkeit völlig unmöglich ist, dass gute Worte von ihnen kommen; die Antwort ist also wie bei der analogen Frage in V. 29 „gar nicht!“. Die Worte der Pharisäer sind für Matthäus authentischer Ausdruck ihrer von Boshaftigkeit geprägten Herzensorientierung (V. 34b.35, vgl. zum Herzen als Quelle des Handelns 15,19). Mit V. 36f bündelt Matthäus die vorangehenden Aussagen, indem er – 36–37 noch einmal – die endgerichtliche Konsequenz der blasphemischen und boshaften Rede der Pharisäer aufweist. V. 36 scheint allerdings für sich genommen nicht präzise zum Kontext zu passen, denn das Motiv des „un-

Die Verschärfung des Konflikts mit den Pharisäern (12,1–50)

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nützen Wortes“ umschließt auch unbedachtes Geplapper oder das Problem, dass Worte nicht in Taten umgesetzt werden. V. 37 ist aber weiter gefasst, indem er als allgemeinen Grundsatz herausstellt, dass Worte im Gericht (mit)entscheiden. Für die Pharisäer lässt das Endgericht daher nichts Gutes erwarten; sie gehen ihrer Verurteilung entgegen. III 3.2.2 Die Zeichenforderung des bösen Geschlechts (12,38–45) 38 Da antworteten ihm einige der Schriftgelehrten und Pharisäer und sagten: „Lehrer, wir wollen ein Zeichen von dir sehen!“ 39 Er aber antwortete und sagte zu ihnen: „Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht fordert ein Zeichen, und es wird ihm kein Zeichen gegeben werden außer dem Zeichen des Propheten Jona. 40 Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte in dem Bauch des Seeungetüms war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein. 41 Die Männer von Ninive werden auferstehen im Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen, weil sie auf die Predigt Jonas hin umkehrten; und siehe, mehr als Jona ist hier. 42 Die Königin des Südens wird auferweckt werden im Gericht mit diesem Geschlecht und wird es verdammen, weil sie von den Enden der Erde kam, um die Weisheit Salomos zu hören; und siehe, mehr als Salomo ist hier. 43 Wenn aber der unreine Geist von dem Menschen ausgefahren ist, durchstreift er wasserlose Orte, sucht Ruhe und findet sie nicht. 44 Da sagt er: ‚Ich will in mein Haus zurückkehren, woher ich herausgegangen bin.‘ Und wenn er kommt, findet er es leer, gekehrt und geschmückt. 45 Da geht er hin und nimmt sieben andere Geister mit sich, böser als er selbst, und sie gehen hinein und wohnen dort; und am Ende ist es mit jenem Menschen schlimmer als am Anfang. So wird es auch mit diesem bösen Geschlecht sein.“ Analog zum Beelzebulvorwurf in 9,34; 12,24 zeigt sich auch bei der Zei- 38 chenforderung in 12,38 der Sachverhalt, dass Matthäus deren nicht näher bestimmtes Subjekt in Q (vgl. Lk 11,16) auf der Basis der von Matthäus in 16,1–4 aufgenommenen Markusparallele (Mk 8,11f) durch die Autoritäten ersetzt: Erstmals treten im Mt nun Pharisäer (= Mk 8,11) und Schriftgelehrte gemeinsam auf; die beiden Gruppen begegnen zuvor zwar schon in 5,20, aber auf der Ebene der Rede Jesu. Im Duktus von Mt 12 erscheint die Zeichenforderung als ihre Antwort auf die durch den Beelzebulvorwurf ausgelöste Abrechnung Jesu mit den Pharisäern. Auffallend ist der schroffe Ton ihrer Forderung in V. 38, die nur Matthäus in wörtliche Rede fasst (vgl. Lk 11,16; Mk 8,11). Sie treten Jesus in ihrem Selbstverständnis als Autoritäten gegenüber, vor denen Jesus sich auszuweisen hat. Das von ihnen geforderte Zeichen ist hier anders als in 16,1 und den synoptischen

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Parallelen (Mk 8,11; Lk 11,16) noch nicht als ein „Zeichen vom Himmel“ spezifiziert (= Q?). Die Forderung ist also auch für einen spektakulären, im „irdischen“ Raum bleibenden Erweis von Vollmacht offen (vgl. Ex 4,1–9.30). Gerade durch diese Offenheit der Forderung wird im Kontext deutlich, dass die Autoritäten Jesu Heilungen nicht als einen stichhaltigen Ausweis für die von den Volksmengen in V. 23 in Erwägung gezogene messianische Identität Jesu anzuerkennen bereit sind. Im Hintergrund steht hier nach wie vor die in 11,2f eingeführte Frage der Erkenntnis des messianischen Charakters der Werke Jesu. Durch die Zuweisung der Forderung an die Schriftgelehrten und Phari39–40 säer bezieht sich die Rede von „diesem bösen und ehebrecherischen Geschlecht“ zu Beginn der Replik Jesu in V. 39 eindeutig auf diese, und zwar allein auf diese. Matthäus hat hier den Definitionssatz „dieses Geschlecht ist ein böses Geschlecht“ (Q 11,29) aufgelöst und dafür die Rede vom „bösen Geschlecht“, ergänzt durch das Mk 8,38 entnommene Epitheton „ehebrecherisch“ (vgl. Ez 16; 23; Hos 3; Jak 4,4), zum Subjekt des Satzes gemacht, so dass die Wendung die 1. Pers. Pl. aus der wörtlichen Rede in V. 38 aufnimmt. Diese klare syntaktische Relation spricht dezidiert gegen die These, dass die Wendung „dieses Geschlecht“ über die Autoritäten hinaus auch auf den Rest des Volkes bzw. dessen gegenwärtige Generation blickt, zumal der enge Bezug der Wendung auf die Schriftgelehrten und Pharisäer durch die klare mt Differenzierung zwischen den Volksmengen und den Autoritäten in der bisherigen Erzählung unterstrichen wird (s. direkt zuvor 12,23f!). Das Postulat, dass die Autoritäten das Volk – im strengen Sinne des Wortes – repräsentieren, entspricht in keiner Weise der mt Erzählkonzeption. Nicht zuletzt wurden zudem die Pharisäer zuvor bereits explizit als böse bezeichnet (V. 34); V. 39 knüpft daran an. Jesus verweigert den Autoritäten das geforderte Zeichen, allerdings mit einer Ausnahme, dem Zeichen des Jona. Mit der Jona 2,1 aufnehmenden Explikation des Jonazeichens im Sinne des Verweises auf Tod und Auferstehung Jesu in V. 40 geht Matthäus einen eigenen Weg. Diese Deutung des Jonazeichens weist im Kontext nicht nur auf den Todesbeschluss der Pharisäer in 12,14 zurück, sondern auch und vor allem auf 27,62f voraus, wo die Hohepriester, auffallenderweise zusammen mit den ansonsten in der Passionsgeschichte nicht explizit erwähnten Pharisäern, also den Kontrahenten in 12,22–45, vor Pilatus auf Jesu Ankündigung seiner Auferstehung nach drei Tagen verweisen, um eine Bewachung des Grabes zu bewirken. Dieses Unterfangen endet freilich damit, dass die Autoritäten von den Soldaten von der wirklich geschehenen Auferstehung Jesu erfahren (28,11). Tatsächlich wird also speziell ihnen das Zeichen des Jona zuteil. In Lk 11,31f stehen die beiden Logien von den Niniviten und der Königin 41–42 des Südens, mit denen die bereits in V. 31–37 vorgebrachte endgerichtliche Konsequenz des Verhaltens der Autoritäten bekräftigt wird, in umgekehrter

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Reihenfolge. Vermutlich hat Matthäus hier die Q-Reihenfolge umgestellt, da V. 41 folgerichtig an die Explikation des Jonazeichens in 12,40 anschließt: Anders als im Fall der Verkündigung Jonas bei den Niniviten hat bei den Autoritäten nicht einmal das ihnen zuteilgewordene „Zeichen“ der Auferstehung Jesu zu einem Umdenken geführt. Der kontextuellen Verankerung des in V. 42 folgenden Verweises auf die Königin des Südens hat Matthäus durch seine Eingriffe in 11,19 und 12,23 vorgearbeitet: Wie die Königin des Südens (1Kön 10,1–13; 2Chr 9,1–12) nach ihrem anfänglichen Zweifel (1Kön 10,7; 2Chr 9,6) die Weisheit des Davidnachfolgers Salomo anerkannte, so hätten die Pharisäer das Walten der Weisheit (Mt 11,19) in den Werken des messianischen Davidsohnes (12,23) Jesus anerkennen müssen. Die Niniviten und die Königin des Südens haben dabei auf weit weniger als das, was Jesu Wirken ausmacht und bedeutet, adäquat reagiert. Daher werden sie am Tage des Gerichts „dieses Geschlecht“ verurteilen. Mit dem sich in V. 43–45 anschließenden Wort von der Rückkehr des 43–45 unreinen Geistes führt Matthäus Jesu Replik auf die Zeichenforderung ohne Anzeige eines Neuansatzes fort. Dem korrespondiert, dass der Schlusssatz in V. 45 zusammen mit V. 39 eine inclusio bildet und V. 43–45 zu einem auf dieses Geschlecht gemünzten Gleichnis macht. Die in V. 43 einleitend geschilderte Dämonenaustreibung schlägt den Bogen zu V. 22 zurück, doch wird nun der Fall aufgeworfen, dass der Dämon zurückkehren wird. Voraussetzung dafür, dass er erneut in dem Menschen Wohnung nehmen kann, ist, dass das „Haus“, wie Matthäus gegenüber der Q-Fassung ergänzt (vgl. Lk 11,25), unbewohnt geblieben ist. Ohne Bild gesprochen: Der Geheilte hat aus dem ihm widerfahrenen Heil nicht die Konsequenz gezogen, in die Nachfolge einzutreten. In diesem Fall wird der Dämon mit sieben weiteren Geistern erneut in dem Menschen Wohnung nehmen, so dass es diesem noch schlimmer ergeht als zuvor. Der Schlusssatz „so wird es auch mit diesem bösen Geschlecht sein“ vergleicht nun schwerlich „dieses böse Geschlecht“ mit dem erneut dämonisch besessenen Menschen, sondern mit dem Dämon, der sieben andere Geister, „noch böser als er selbst“, mitgenommen hat. Das Gleichnis thematisiert die Gefahr, dass die Autoritäten erneut Einfluss auf die Menschen gewinnen, denen sich Jesus zugewandt hat. Matthäus schreckt hier nicht vor einer Dämonisierung der Gegner zurück, die freilich weder ntl. singulär ist (vgl. Joh 8,44 und dazu z. B. Jub 15,33) noch im mt Kontext unvorbereitet kommt, wurden die Pharisäer in V. 34 doch als Otternbrut tituliert. Die Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern ist damit auf einen ersten polemischen Höhepunkt gelangt. In 15,12–14 und 23,1–36 wird diese fortgesetzt, nur redet Jesus dort nicht mehr zu den Pharisäern, sondern nur noch über sie – vor den Jüngern und den Volksmengen. Letztere sind, wie die Überleitung zur nachfolgenden Szene in V. 46 zeigt, auch Zeugen der Abrechnung Jesu mit den Pharisäern in V. 25–45

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gewesen. Die „Regieanweisung“ in V. 46a passt dabei gut zur oben dargelegten Deutung von V. 43–45, denn sie gibt zu verstehen, dass Jesus sich im Laufe seiner Replik in V. 39–45 von den Autoritäten ab- und den Volksmengen zugewandt hat (vgl. als Analogie 3,7–10.11f oder auch innerhalb einer Figurenrede 25,27.28). Diese werden durch V. 43–45 vor der ihnen drohenden Gefahr gewarnt: Nach der durch Jesus erfahrenen Zuwendung darf das „Haus“ nicht leer bleiben; es bedarf des Eintritts in die Nachfolge und damit in den Kreis der „Familie“ Jesu (12,46–50). Sonst wird man erneut den Autoritäten zum Opfer fallen. Mt 12,22–45 weist damit eine auch anderorts im Mt begegnende Sequenz auf: Auf die Auseinandersetzung mit den Autoritäten folgt die Belehrung des Volkes über diese (s. Mt 15,1–9 + 15,10f und 21,23–22,46 + 23,1–36). III 3.3 Die wahre Familie Jesu (12,46–50) 46 Als er noch zu den Volksmengen redete, siehe, da standen die Mutter und seine Brüder draußen und suchten mit ihm zu reden. 47 Es sagte aber jemand zu ihm: „Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen mit dir zu reden.“ 48 Er aber antwortete und sagte zu dem, der es ihm sagte: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?“ 49 Und er streckte seine Hand aus über seine Jünger und sagte: „Siehe, meine Mutter und meine Brüder! 50 Denn wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“ Mit V. 46–50 nimmt Matthäus wieder den Markusfaden auf (vgl. Mk 3,31–35). Wie 11,7–30 in 11,25–30 findet mit 12,46–50 auch der Text46–47 komplex Mt 12 einen positiven Ausklang. Da Matthäus die Notiz über die negative Sicht Jesu bei den Seinen aus Mk 3,21 („er ist von Sinnen“) weggelassen hat, ist das Begehren der Familienangehörigen, mit Jesus zu reden, bei Matthäus nicht erkennbar negativ motiviert. Man wird dabei zu bedenken haben, dass mit Jakobus einer der leiblichen Brüder Jesu (vgl. 13,55) nach Ostern zu einer führenden Gestalt der Jerusalemer Gemeinde avancierte (Gal 1,19; 2,9; Apg 12,17; 15,13–21; 21,18–26) und der Judenchrist Matthäus sich theologisch mit der von Jerusalem ausgegangenen Gestalt des entstehenden Christentums verbunden sah. Matthäus hat Mk 3,21 daher wohl deshalb übergangen, weil man in dem Passus einen Affront gegen die Jerusalemer Gemeinde sehen konnte. Für V. 46–50 folgt aus dem Wegfall der Notiz von Mk 3,21 als Kontext, dass das Moment der kritischen Distanz zwischen Jesus und seiner Her48–50 kunftsfamilie zurücktritt. Entsprechend ist in Jesu Frage in V. 48 nicht so sehr das Moment der Zurückweisung seiner Familienangehörigen zu akzen-

Die Gleichnisrede (13,1–52)

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tuieren, sondern die Aufnahme der Ansage von V. 47 in Form einer Frage dient im Wesentlichen als „Aufhänger“ für die in V. 49f folgende Definition seiner neuen Familie im Sinne seiner neuen primären sozialen Bezugsgröße. Durch die Neugestaltung der Einleitung in V. 49 hat Matthäus das Wort Jesu über seine Geschwister anders als Mk 3,32–34, wo das um Jesus herumsitzende Volk anvisiert ist, gezielt auf seine Jünger bezogen (vgl. 28,10). Den Willen des Vaters zu tun (vgl. 7,21), wie Jesus ihn erschlossen hat, ist für Matthäus zentrales Merkmal der Jüngerschaft (vgl. v. a. 5,3–7,27; 28,19f). Die Geste, dass Jesus seine Hand über seine Jünger ausstreckt (vgl. 14,31), symbolisiert dabei, was in 28,20 durch die Zusage des Mit-Seins zum Ausdruck gebracht wird. Am Ende von V. 50 fehlt die Vaterbezeichnung (neben Bruder, Schwester, Mutter), weil diese für Gott reserviert ist und Jesus zuvor von seinem himmlischen Vater gesprochen hat. Im Blick auf die Figurenkonstellation der mt Jesusgeschichte unterstreicht 12,46–50, dass Matthäus nicht nur sorgfältig zwischen den Volksmengen und den Autoritäten differenziert (12,23f), sondern ebenso auch zwischen den Volksmengen und den Jüngern (vgl. auch Mt 16,24 mit Mk 8,34). Die Gleichnisrede in Mt 13 wird Letzteres weiter vorantreiben (s. v. a. 13,10–17). In 12,46–50 geht es allerdings nicht um die Unterscheidung zwischen Jüngern und Volksmengen an sich, sondern die Jünger werden vor dem Forum der Volksmengen als Familie Jesu und damit diesen als nachzuahmendes Beispiel präsentiert. Der Einladungsruf, zu Jesus zu kommen und sein Joch auf sich zu nehmen (11,28–30), hat Bestand. Im Kontext von 12,43–45 gelesen, wird den Volksmengen hier verdeutlicht, was geschehen muss, damit der „Dämon“ nicht zurückkehrt: Sie müssen ihr „Haus“ füllen, indem sie Jesu Jünger werden und als solche den von Jesus gelehrten Willen Gottes tun.

III 4 Die Gleichnisrede (13,1–52) Wie bei den übrigen großen Reden in Mt 5–7; 10; 18; 24f gilt auch für die Gleichnisrede, dass ihre Platzierung im Erzählfaden wohlüberlegt ist. In 11,2–12,50 wurden die unterschiedlichen Reaktionen auf „die Werke des Messias“ (11,2) exemplarisch dargelegt. Im Anschluss daran dient die Gleichnisrede zum einen der Reflexion über die vorgeführte Konstellation, dass das Wirken Jesu keineswegs einhellig in seiner messianischen Dimension und soteriologischen Bedeutung begriffen und darauf angemessen reagiert wird, sondern es auch auf Unverständnis stößt oder sogar dezidierte Ablehnung erfährt. Zum anderen treibt die Gleichnisrede die Ausdifferenzierung zwischen den einzelnen Gruppen im Blick auf die Jünger und die Volksmengen auch selbst weiter voran. Als zentrales Moment wird dazu das im Mt erstmals in Mt 13 begegnende Motiv des Verstehens

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eingeführt: Während die Jünger verstehen bzw. zum Verstehen geführt werden (13,23.51, vgl. 16,12; 17,13), bleibt den Volksmengen das Verstehen versperrt (13,13–15.19, vgl. aber 15,10). Die Gleichnisrede bietet dabei die Besonderheit, dass sich ihre Funktion in der narrativen Strukturierung der Rede selbst abbildet. Denn anders als die Bergpredigt (Mt 5–7) oder die Aussendungsrede (Mt 10) wird sie durch szenische Zwischennotizen gegliedert. Die Hauptzäsur wird durch den Orts- und Adressatenwechsel in V. 36 gesetzt. Der erste Hauptteil (V. 3–35) ist, von dem Intermezzo in V. 10–23 abgesehen, öffentliche Rede vor den Volksmengen; der zweite Teil (V. 36–52) gilt hingegen nur den Jüngern, wobei der Adressatenwechsel im ersten Teil durch das Intermezzo der Jüngerunterweisung in V. 10–23 vorbereitet ist. Die szenischen Zwischennotizen gliedern die Rede damit auf eine Weise, dass mit den einzelnen Redeblöcken die Erzählung selbst voranschreitet und der Fortgang der Erzählung eine zentrale Botschaft der Gleichnisrede, die oben genannte Ausdifferenzierung von Jüngern und Volksmengen, abbildet. Die Entscheidung, die Hauptzäsur zwischen V. 35 und V. 36 zu setzen, lässt sich durch ein weiteres auffallendes Gestaltungsmoment untermauern: Nur die öffentliche Rede zu den Volksmengen wird durch die Wendung charakterisiert, dass Jesus zu ihnen „in Gleichnissen“ redete (V. 3.10.13.34f). Dem korrespondiert, dass die Gleichnisse in V. 24–30.31f.33 jeweils durch einen knappen Erzählerkommentar eingeleitet werden („ein anderes Gleichnis legte er ihnen vor / redete er zu ihnen“), während die drei Gleichnisse in 44.45 f.47–50 ohne Zwischenbemerkung des Erzählers aneinandergereiht sind. In beiden Blöcken stehen vier Gleichnisse. Zudem zeigt sich eine chiastische Gesamtstruktur. Das die Rede eröffnende Gleichnis vom vierfachen Acker (V. 3–9) und das am Ende stehende kurze Gleichnis vom Hausherrn (V. 52) entsprechen sich darin, dass beide im Unterschied zu den sechs übrigen nicht als Himmelreichgleichnisse eingeführt werden. Dieser äußeren Rahmung fügt sich ein, dass V. 51 das in V. 10–23 gewichtige Motiv des Verstehens aufnimmt. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (V. 24–30 [+ V. 36–43]) und das vom Schleppnetz (V. 47f [+ V. 49f]) thematisieren in verwandter Weise das Nebeneinander von Guten und Bösen; der Zusammenhang der beiden Gleichnisse wird zudem dadurch unterstrichen, dass die jeweils beigegebenen Deutungen eng miteinander übereinstimmen. Im Zentrum stehen mit den Gleichnissen vom Senfkorn und vom Sauerteig (V. 31 f.33) sowie denen vom Schatz im Acker und von der Perle (V. 44.45f) zwei Gleichnispaare. Die Rede zeigt sich damit als im Ganzen kunstvoll komponiert. Dem fügt sich ein, dass die drei Gleichnisdeutungen nach dem ersten Gleichnis (V. 18–23), vor dem letzten Gleichnis (V. 49f) und zwischen dem vierten und fünften Gleichnis, also genau in der Mitte, stehen (V. 36–43).

Die Gleichnisrede (13,1–52)

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Grundlage und Ausgangspunkt von Mt 13 ist die Gleichnisrede in Mk 4,1–34. Das Gleichnis vom Senfkorn fand Matthäus in Mk 4,30–32 wie auch in Q (vgl. Lk 13,18f) vor, wo es bereits mit dem Gleichnis vom Sauerteig zusammenstand (vgl. Lk 13,20f). Eine ganze Reihe von Gleichnissen findet sich nur bei Matthäus (V. 24–30 + 36–43; V. 44.45 f.47–50.52). Bezieht man den Quellenbefund und die synchrone Struktur der Rede aufeinander, zeigt sich, dass der Stoff der mk Gleichnisrede im ersten, an die Volksmengen adressierten Teil der Rede verarbeitet wird und auch Lk 13,18–21 (= Q) im ersten Teil sein mt Pendant findet. Das Sondergutgleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (V. 24–30) hat insofern eine Entsprechung in Mk 4, als es an die Stelle des Gleichnisses von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29) tritt. Der zweite, allein den Jüngern geltende Teil der Rede besteht hingegen ausschließlich aus Sondergut. III 4.1 Die Rede in Gleichnissen zu den Volksmengen (13,1–35) III 4.1.1 Das Gleichnis vom vierfachen Acker und der Sinn der Gleichnisrede (13,1–23) 1 An jenem Tag ging Jesus aus dem Haus hinaus und setzte sich an das Meer. 2 Und große Volksmengen versammelten sich bei ihm, so dass er in ein Boot stieg und sich setzte; und die ganze Volksmenge stand am Ufer. 3 Und er redete vieles in Gleichnissen zu ihnen und sagte: „Siehe, der Sämann ging hinaus, um zu säen; 4 und als er säte, fiel einiges an den Weg, und die Vögel kamen und fraßen es auf. 5 Anderes aber fiel auf das Steinige, wo es nicht viel Erde hatte; und sogleich ging es auf, weil es keine tiefe Erde hatte. 6 Als aber die Sonne aufging, wurde es verbrannt, und weil es keine Wurzel hatte, verdorrte es. 7 Anderes aber fiel unter die Dornen; und die Dornen wuchsen und erstickten es. 8 Anderes aber fiel auf guten Boden und gab Frucht, das eine hundert-, das andere sechzig-, das andere dreißigfach. 9 Wer Ohren hat, der höre!“ 10 Und die Jünger traten hinzu und sagten zu ihm: „Warum redest du in Gleichnissen zu ihnen?“ 11 Er aber antwortete und sagte zu ihnen: „Weil euch gegeben ist, die Geheimnisse des Himmelreiches zu kennen, jenen aber ist es nicht gegeben. 12 Denn wer hat, dem wird gegeben werden und überreich wird er gemacht werden; wer aber nicht hat, von dem wird auch das, was er hat, genommen werden. 13 Darum rede ich in Gleichnissen zu ihnen, weil sie sehend nicht sehen und hörend nicht hören noch verstehen. 14 Und die Weissagung Jesajas wird an ihnen erfüllt, die lautet: ‚Mit Gehör werdet ihr hören und nicht verstehen, und sehend werdet ihr sehen und nicht(s) wahrnehmen. 15 Denn das Herz dieses Volkes ist verfettet, und mit den Ohren haben sie schwer gehört,

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Reaktionen auf Jesu Wirken in Israel und ihre Folgen (11,2–16,20)

und ihre Augen haben sie geschlossen, damit sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren, und ich sie dann heilte.‘ 16 Glückselig aber eure Augen, dass sie sehen, und eure Ohren, dass sie hören; 17 denn amen, ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte haben begehrt zu sehen, was ihr schaut, und haben es nicht gesehen; und zu hören, was ihr hört, und haben es nicht gehört. 18 Hört ihr nun das Gleichnis vom Sämann: 19 Immer wenn jemand das Wort vom Reich hört und nicht versteht, kommt der Böse und raubt das in seinem Herzen Gesäte: Dieser ist der an den Weg Gesäte. 20 Der auf das Steinige Gesäte aber, dieser ist der, der das Wort hört und es sogleich mit Freuden aufnimmt. 21 Er hat aber keine Wurzel in sich, sondern ist ein Mensch des Augenblicks; wenn aber Bedrängnis entsteht oder Verfolgung um des Wortes willen, nimmt er sogleich Anstoß. 22 Der unter die Dornen Gesäte aber, dieser ist der, der das Wort hört, und die Sorge der Welt und der Betrug des Reichtums ersticken das Wort, und er bringt keine Frucht. 23 Der auf die gute Erde Gesäte aber, dieser ist der, der das Wort hört und versteht, der denn auch Frucht bringt; und der eine trägt hundert-, der andere sechzig-, der andere dreißigfach.“ 1–3a Nach der kurzen szenischen Überleitung in V. 1, die mit dem Ufer des Sees Gennesaret den neuen Ort der Handlung einführt, schildert V. 2 einen ungebrochen positiven Zuspruch des Volkes. Angesichts der großen Menge begibt Jesus sich für die nun folgende Rede in ein Boot. Im Lichte des in V. 1f geschilderten Zulaufs des Volkes mag die kritische Stellungnahme zu diesem in V. 3–23 überraschen. Allerdings ist in 12,43–50 deutlich geworden, dass bloßes, am Ende unverbindlich bleibendes Interesse nicht genügt. Das Gleichnis vom vierfachen Acker bzw., wie Matthäus selbst in V. 18 schreibt, vom Sämann (V. 3–9), die Jüngerunterweisung in V. 10–17 und die Deutung des Gleichnisses (V. 18–23) nehmen dieses Moment auf. Anders als Mk 4,1f kennzeichnet Matthäus die Gleichnisrede nicht als „Lehre“, denn „lehren“ bezieht sich bei ihm auf die ethische Unterweisung Jesu. Gleichnisse bzw. bildhafte Vergleiche stehen im Mt auch vor der Rede in Mt 13 (s. z. B. Mt 7,24–27; 9,15–17; 11,16–19), doch wird Jesu Verkündigung in V. 3 erstmals ausdrücklich als Rede in Gleichnissen gekennzeichnet (Mk 3,23 hat Matthäus in 12,25 nicht übernommen). Versuche, das Gleichnis von seiner Deutung (Mk 4,13–20 parr) zu tren3b–8 nen und in einer von dieser (signifikant) abweichenden Weise zu verstehen, haben zu keinem überzeugenden Ergebnis geführt. Man wird vielmehr urteilen müssen, dass das Gleichnis von Anfang an die unterschiedlichen Reaktionen auf Jesu Wirken thematisierte und also die Deutung nur ausformuliert, was auch ursprünglich gemeint war. Das Gleichnis entfaltet in knappen Zügen den durchaus nicht außergewöhnlichen Sachverhalt, dass

Die Gleichnisrede (13,1–52)

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nicht die ganze Aussaat Frucht bringt. V. 4–7 fächert zunächst drei Fälle auf, in denen es aus unterschiedlichen Gründen nicht zu einem Ernteertrag kommt: Beim Streuen gerät manches aus Versehen an den Wegesrand; manchmal erweist sich die Humusschicht über felsigem Untergrund als zu dünn; und an manchen Stellen des Ackers sprießen Dornpflanzen hervor, die den Samen „ersticken“. Bei V. 7 könnte es sich dabei um eine verkürzende Redeweise handeln: Dann würde nicht auf einem ungepflügten Acker in die nach der vorigen Ernte noch stehenden Dornpflanzen gesät (vgl. Jer 4,3), sondern es wird auf einem gepflügten Acker gesät und nach dem Unterpflügen der Aussaat treten in der Phase des Wachstums die Dornpflanzen mit hervor. V. 8 setzt den drei Fällen vergeblicher Aussaat den in sich differenzierten positiven Fall entgegen, dass der auf guten Boden gesäte Samen unterschiedlich hohen Ertrag bringt. Wie sich die vier Fälle in V. 4–8 quantitativ zueinander verhalten, wird nicht festgelegt. Insbesondere ist nicht gesagt, dass nur ein relativ bescheidener Anteil der Saat aufgeht. Es geht auch nicht darum, dass auf dem guten Land ein überreicher Ertrag zustande kommt, der den Misserfolg überstrahlt und nicht ins Gewicht fallen lässt, denn die genannten Zahlen beziffern zwar gute bis hohe, aber keine wundersamen Erträge (vgl. z. B. Gen 26,12; Sib 3,263f; Strabon, Geogr 15,3,11). Thema ist vielmehr allein die unterschiedliche Beschaffenheit des Bodens als entscheidender Faktor für den Erfolg der Aussaat (weitere Einflussfaktoren wie z. B. Klima und Wetter bleiben unbeachtet). Der Weckruf in V. 9 lässt an 11,15 zurückdenken, wo 9 ebenfalls die Volksmengen adressiert sind und es ganz ähnlich wie hier darum geht zu begreifen, was Jesu Wirken bedeutet und was entsprechend mit der Antwort darauf auf dem Spiel steht. Jesu Rede wird durch eine Frage der Jünger unterbrochen. Während 10 Mk 4,10 einen szenischen Neueinsatz bietet – Jesus ist (mit den Jüngern) allein –, lässt Matthäus die Jünger lediglich herzutreten. Möglicherweise ist vorausgesetzt, dass sie mit Jesus im Boot sind, das dann im Lichte von 8,23–27 als Metapher für die Gemeinde konnotiert sein dürfte (zum Hinzutreten vgl. 8,25); dazu würde jedenfalls passen, dass die Rede vom Einsteigen ins Boot in V. 2 an 8,23 erinnert. Indem Matthäus die Jünger nicht „nach den Gleichnissen“ (Mk 4,10) fragen lässt, sondern warum Jesus zu ihnen, d. h. den Volksmengen in Gleichnissen redet, meidet er ein für Mk 4,10 mögliches Verständnis, dass den Jüngern selber der Sinn der Gleichnisrede verborgen ist (vgl. die Streichung von Mk 4,13). Vor allem aber wird so bereits in der Frage der Jünger die für das Folgende leitende Unterscheidung zwischen diesen und den Volksmengen zur Geltung gebracht. In der Frage schwingt Zweifel mit, dass die verschlüsselte Form der Gleichnisrede – solange ihr keine Deutung beigegeben wird – dazu beizutragen vermag, die Volksmengen zum Eintritt in die Nachfolge zu bewegen. Genau dies soll die 11–17 Gleichnisrede nach V. 11–17 aber auch nicht bewirken.

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Die auf die Jüngerfrage antwortende Parabeltheorie (Mk 4,11f) hat Matthäus stark überarbeitet und ausgebaut. Jesu Antwort erfolgt in zwei Schritten (13,11 f.13–17); beide sind durch die direkte Kontrastierung von 11–12 Jüngern und Volksmengen gekennzeichnet. Der erste Begründungsgang in V. 11f argumentiert von der Perspektive des Offenbarungshandelns Gottes her. Auffallend ist die Übereinstimmung von Mt 13,11; Lk 8,10 („euch ist gegeben, die Geheimnisse des Reiches … zu kennen“) gegen Mk 4,11 („euch ist das Geheimnis des Reiches … gegeben“), die, wenn man nicht zu der Hypothese einer deuteromarkinischen Rezension greift, auf den Einfluss geprägter mündlicher Tradition verweisen dürfte, zumal auch Mt 13,13 und Lk 8,10b Übereinstimmungen gegen Mk 4,12 zeigen. Jedenfalls liegt das Augenmerk damit in Mt 13 schon hier auf der Erkenntnis, was im Folgenden durch die Rede vom Verstehen weitergeführt wird (V. 13.14.15.19.23.51). Sodann tritt durch die mt Bearbeitung des Schlusssatzes in V. 11 die sich an der Erkenntnis der Geheimnisse des Himmelreiches vollziehende Differenzierung von Jüngern und Volksmengen prononciert hervor: Euch ist die Erkenntnis gegeben (vgl. 11,25), jenen aber nicht. Immerhin spricht Matthäus aber nicht von „jenen, die draußen sind“ (Mk 4,11). Zieht man V. 12 hinzu, zeigt sich, dass V. 11 noch nicht die ganze Begründung für die Gleichnisrede bietet, sondern lediglich die Situation angibt, auf die Jesus mit dieser reagiert. V. 12 macht dann deutlich, dass die Gleichnisrede nicht dazu dient, diese Konstellation zu verändern, sondern dazu, sie voranzutreiben. Matthäus verarbeitet hier mit Mk 4,25 den letzten Vers aus Mk 4,21–25, den er noch nicht aufgenommen bzw. zu dem er im Voranstehenden noch keine Parallele geboten hat (vgl. Mk 4,21 mit Mt 5,15, Mk 4,22f mit Mt 10,26 par Lk 12,2 [= Q], Mk 4,24 mit Mt 7,2 par Lk 6,38 [= Q]). Im Lichte von V. 11 muss es bei dem, was die einen (= die Jünger) haben und die anderen (= die Volksmengen) nicht, eben um die Kenntnis der Geheimnisse des Himmelreiches gehen, d. h. die Jünger vermögen Jesu Wirken als messianisches Geschehen zu verstehen und darin das Andringen des Reiches Gottes zu erkennen (vgl. 12,28). Sie werden durch die Deutung des Gleichnisses vom vierfachen Acker über die Verkündigung des Himmelreiches bzw. in den in 13,24–50 nachfolgenden Gleichnissen über das Himmelreich selbst weiter belehrt und wachsen so in ihrer Erkenntnis. Den Volksmengen hingegen fehlt, da sie des Andringens des Himmelreiches in Jesu Wirken (bis jetzt) nicht gewahr geworden sind, die Grundvoraussetzung auch für das Verständnis der Gleichnisrede, so dass durch ihre Unfähigkeit, die Gleichnisse vom Himmelreich in ihrem Sinn und ihrer aktuellen Relevanz zu erfassen, ihr Defizit ans Licht tritt. Dass den Volksmengen auch das genommen wird, was sie haben, spiegelt, sofern dies nicht nur als rhetorische Zuspitzung zu lesen ist, dass sie Jesu Wirken nicht völlig verständnislos gegenüberstehen. V. 12b macht

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nun, wie dies durch 12,43–50 vorbereitet ist, deutlich, dass ein Verweilen in der Distanz der bloß Interessierten und von Jesu Wirken Faszinierten kein Dauerzustand sein kann. Entweder Interesse verdichtet sich zum Eintreten in die Nachfolge oder aber der bloß Interessierte fällt schließlich in den Status zurück, in dem er sich vor dem Hören des Wortes vom Reich (V. 19, vgl. 4,23; 9,35) befand. Die Gleichnisrede steht nach 13,11f im Dienste dieser Scheidung, indem sie die Schere zwischen Verstehenden und Nicht-Verstehenden weiter öffnet. Mit der wörtlichen Aufnahme der Jüngerfrage aus V. 11 in V. 13a leitet 13–17 Jesus zu einem zweiten Begründungsgang über. Was in V. 11 als Offenbarungshandeln Gottes angesprochen wurde, wird nun komplementär dazu im Blick auf das Hören und Sehen auf Seiten der Menschen thematisiert. 13–15 An die Stelle der verkürzenden, freien Wiedergabe von Jes 6,9f in Mk 4,12 hat Matthäus in V. 13 zunächst eine eigene kurze Zusammenfassung des im Zitat Ausgeführten treten lassen, bevor er Jes 6,9f dann in V. 14f ausführlich zitiert. Inhaltlich bedeutsam ist, dass die Aussage über das Nicht-Verstehen der Volksmengen in V. 13b analog zu V. 11 den Grund („weil“) – und nicht, wie man Mk 4,12 verstehen kann, das Ziel („damit“) – des Redens in Gleichnissen angibt. Da Jesu messianische Identität nach Matthäus an seinen Werken erkannt werden kann (11,2–6) und die Volksmengen Zeugen dieses Wirkens waren, manifestiert sich in ihrer mangelnden Erkenntnis (s. aber 12,23) ihr schuldhaftes Versagen: Sie sehen und hören (vgl. 11,4), ohne zu verstehen. Dass die Feststellung des Unverständnisses der Volksmengen in V. 14f durch das Zitat von Jes 6,9f unterbaut wird, dient indirekt der Vergewisserung der Jünger: Das Unverständnis anderer sollte für sie in keiner Weise Anlass für eigene Irritationen sein, weil diese Konstellation im völligen Einklang mit dem Zeugnis der Schrift steht (s. auch Jer 5,21; Ez 12,2). Die Hinführung zum Zitat in V. 14a lässt zwar die Gruppe der Erfüllungszitate assoziieren, doch ist V. 14f hier nicht einzustellen, denn jene besitzen eine relativ festgeformte Einleitungsformel, die hier nicht gegeben ist, und sie sind Kommentar des Evangelisten, nicht Rede Jesu. Während V. 14 im Wesentlichen V. 13 bekräftigt, führt V. 15 die Situation darüber hinaus auf den Zustand bzw. das Versagen der beteiligten „Organe“ Herz, Ohren und Augen zurück. Die Verfettung des Herzens, Schwerhörigkeit und geschlossene Augen werden von Matthäus – auf der Basis des LXX-Wortlauts von Jes 6,10 – nicht als ein von Gott bewirktes Verhängnis begriffen, sondern als schuldhaftes Versagen (dagegen im MT „mach das Herz dieses Volkes fett …“ als Auftrag an den Propheten). Der nachfolgende negierte Finalsatz (V. 15b), der die drei Glieder von V. 15a in chiastischer Stellung aufnimmt, bringt entsprechend die gezielte Verweigerung der Wahrnehmung zum Ausdruck. Die Wurzel des Übels bildet dabei, dass mit dem Herzen das Steuerungsorgan, das Zentrum der Person, dick, unempfind-

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lich geworden ist. Überschießend und damit besonders betont ist in V. 15b das Motiv der Umkehr, das an 4,17 zurückdenken lässt, auch wenn die Formulierung in V. 15 eine andere ist: Die Verfettung des Herzens, Schwerhörigkeit und geschlossene Augen verhindern bei den Volksmengen nicht nur die adäquate Aufnahme des Wirkens Jesu, sondern damit auch die nötige Umkehr, so dass Gottes Intention, sie durch Jesu Wirken – im umfassenden Sinne – heilen zu wollen, an ihnen nicht zum Ziel kommt. V. 13–15 besagt allerdings nicht, dass diese Situation für den Einzelnen irreversibel ist. Schon gar nicht ist die Gleichnisrede als Strafe für die Unverständigen zu verstehen. Ihre Funktion besteht vielmehr eben darin, dass dadurch, dass die Volksmengen dem, was in den Gleichnissen verhandelt wird, letztlich unverständig gegenüberstehen, ihre Stellung zum Wirken Jesu als unzureichend aufgedeckt wird und sie auf diese Weise mit ihrer tatsächlichen Distanz zu Jesus konfrontiert werden. Ändert sich daran nichts, wird die Verurteilung im Gericht die unausweichliche Folge sein (vgl. 11,20–24), doch ist das Urteil mit 13,11–15 eben keineswegs bereits ausgesprochen. Ein Sinneswandel ist nicht von vornherein ausgeschlossen, und Jesus wird sich weiterhin um die Volksmengen bemühen. Der Passus zieht im Blick auf die Volksmengen eine Zwischenbilanz, aber keinen Schlussstrich. Mt 13,10–17 ist zudem nicht das ganze Bild, das Matthäus von den Volksmengen zeichnet, sondern nur ein Ausschnitt. Neben die Verweise auf das Interesse der Volksmengen, die die Gemeinde in ihrem Werben ermutigen sollen, tritt die Reflexion von Negativerfahrungen. Die direkte Kontrastierung von Volksmengen und Jüngern in V. 11f fin16–17 det in V. 13–17 darin eine Entsprechung, dass durch die Anfügung des aus Q stammenden Makarismus (vgl. Lk 10,23f) und dessen Erweiterung in V. 16b dem Nicht-Hören und Nicht-Sehen der Volksmengen betont das Hören und Sehen der Jünger gegenübergestellt wird. V. 17 unterbaut dies – ganz auf der Linie von 11,4f – mit einem Verweis auf die privilegierte Situation der Jünger (wie allgemein der Zeitgenossen Jesu): Sie sehen und hören nicht irgendwas, sondern „die Werke des Messias“ (11,2), dessen Zeugen zu werden auch die Propheten und Gerechten früherer Tage erstrebten (vgl. PsSal 17,44; 18,6; 1Petr 1,10–12). Dass die Jünger sodann in V. 18–23 eine nähere Erläuterung des Gleich10–23 nisses erhalten, setzt um, dass denen, die bereits (Erkenntnis) haben, noch dazugegeben wird (V. 12). Indem in V. 19 und V. 23 das Motiv des Verstehens aus V. 13–15 aufgenommen wird und in Anklang an die Rede von den Geheimnissen des Himmelreiches in V. 11 das „ausgesäte“ Wort als Wort vom Reich (V. 19) näherbestimmt wird (vgl. das „Evangelium vom Reich“ in 4,23; 9,35), hat Matthäus das Gleichnis samt Deutung (V. 3–9.18–23) und die dazwischenstehende Unterweisung der Jünger (V. 10–17) eng aufeinander bezogen. V. 3–23 ist deutlich als thematische

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Einheit erkennbar: Verhandeln das Gleichnis und seine Deutung die unterschiedlichen Reaktionen auf das Wort vom Himmelreich, indem die unterschiedlichen Rezipienten näher charakterisiert werden, so erfolgt die Erläuterung des Sinns der Gleichnisrede in V. 10–17 in einer Weise, die direkt das Thema des Gleichnisses aufnimmt. Denn hier wird die tiefere Ursache für die unterschiedlichen Reaktionen genannt. Den einen ist die Kenntnis der Geheimnisse des Himmelreiches gegeben, den anderen nicht; die einen haben ein verständiges Herz, die anderen ein verfettetes. Für das Verständnis des Gleichnisses folgt aus dem Zusammenhang mit V. 10–17, dass in den drei Fällen, in denen es nicht zum Fruchtbringen kommt, in einer in sich differenzierten Weise die Reaktion der Volksmengen thematisiert wird, während in V. 23 von den verstehenden Jüngern (V. 11a.16f) die Rede ist. Das Moment des Nicht-Verstehens kehrt zwar im zweiten und dritten Fall (V. 20–22) nicht explizit wieder, da hier noch andere thematische Aspekte eingespielt werden, gilt aber im Ergebnis auch hier. In jedem Fall machen die Beziehungen zwischen V. 10–17 und V. 18–23 deutlich, dass im Gleichnis vom vierfachen Acker bei Matthäus nicht innergemeindliche Probleme im Fokus sind, sondern umfassend die Rezeption der Botschaft vom Himmelreich zur Sprache kommt, und zwar dem narrativen Kontext sowie der Identität der Volksmengen nach zunächst einmal die Rezeption in Israel. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen und seine Deutung (V. 24–30.36–43) werden dem mit der Deutung des Ackers auf die Welt (13,38) dann die universale Dimension des Wirkens des (erhöhten) Menschensohnes zur Seite stellen. V. 3–23 spricht dabei gerade nicht von einem völligen Scheitern der „Aussaat“ in Israel, es werden nicht das Versagen Israels und die Entstehung der Kirche einander gegenübergestellt. Vielmehr wird ein Differenzierungsprozess in Israel geschildert, aus dem die „Kirche“ bzw. die Jüngergemeinschaft als ein Teil Israels (und später: als ein Teil Israels und der übrigen Völker) hervorgeht. Da die mk Jüngerschelte (Mk 4,13) mit der positiven Profilierung der 18 Jünger in V. 11a.16f unvereinbar ist, hat Matthäus die Einleitung zur Gleichnisdeutung neu gestaltet und dabei dem Gleichnis den bekannten Namen „das Gleichnis vom Sämann“ gegeben. Der Sämann ist zunächst einmal Jesus selbst. Daneben ist aber in zweiter Hinsicht auch an die Jünger zu denken, die nach 9,36–11,1 Jesu Wirken fortzusetzen haben und ebenfalls die Nähe der Himmelsherrschaft verkündigen (10,7). Die Jünger kommen damit im Gleichnis in doppelter Weise vor. Sie sind die Empfänger des Wortes vom Reich, die hören und verstehen (V. 23). Als solche sind sie aber im Sinne der für Matthäus fundamentalen missionarischen Dimension der Jüngerschaft selbst in den Dienst der Ausbreitung der Botschaft vom Reich gestellt. Auf der Kommunikationsebene des Evangelisten thematisiert V. 3–23 daher keineswegs nur die Reaktion auf das Wir-

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ken Jesu im engeren Sinne, sondern zugleich auch Erfolg und Misserfolg der Mission der Jünger (vgl. zu 13,37–39). Die Deutung des vierfachen Ackers setzt mit dem Fall ein, bei dem es von Anfang an zu keinerlei positiver Reaktion auf das Wort vom Reich kommt. In doppelsinniger Weise spricht Matthäus – anstatt vom Satan (Mk 4,15) – von dem Bösen (V. 19), der das in das Herz Gesäte raubt. Im mt Kontext lässt die Formulierung neben dem Teufel auch an die Autoritäten denken, die Matthäus als wesenhaft böse darstellt (12,34f; 22,18) und auf die zudem die Aussage über die Gewalttäter in 11,12 zu beziehen ist, die das Himmelreich an sich zu reißen bzw. zu rauben suchen (in 11,12 und 13,19 steht im Griechischen dasselbe Verb). Kurz gesagt: Nach Matthäus agiert der Teufel durch die Autoritäten; entsprechend treten diese auch wie der Teufel (4,1.3) als Versucher auf (16,1; 19,3; 22,18.35). Wenn die Verkündigung bei einigen von vornherein vergeblich ist, liegt dies also daran, dass sie unter dem Einfluss der Autoritäten/ Pharisäer stehen. Der Schlusssatz in V. 19 „dieser ist der an den Weg Gesäte“ formuliert ungenau, denn eigentlich gemeint sein kann nur: Bei diesem verhält es sich so wie im Falle des Samens, der an den Weg fiel. Solche Ungenauigkeit findet sich bei Matthäus aber auch anderorts in Gleichnissen (in 13,38 stehen sich nicht Weizen und Unkraut, sondern guter Same und Unkraut gegenüber; in V. 44.45 gleicht das Himmelreich einmal dem Schatz, das andere Mal aber nicht der Perle, sondern dem Kaufmann; vgl. auch oben zu 11,16). Andere nehmen das Wort zunächst „mit Freuden“ auf, fallen aber ab, wenn sich „Bedrängnis oder Verfolgung um des Wortes willen“ erhebt (vgl. 5,10–12; 10,18). Auch hier ist im Wesentlichen an Bedrängnis zu denken, die von den Autoritäten/ Pharisäern ausgeht. V. 21 spiegelt also die Erfahrung, dass sich Menschen, die sich zunächst von der Botschaft vom Reich haben ansprechen lassen, aufgrund von sozialem Druck und (drohenden) Schikanierungen wieder zurückziehen. Das Panorama wird schließlich komplettiert durch diejenigen, die ihrem weltlichen Lebensentwurf verhaftet bleiben und die ethischen Konsequenzen der Jüngerschaft scheuen. Indem Matthäus die Rede von „den Begierden nach den übrigen Dingen“ aus Mk 4,19 streicht und damit den Fokus ganz auf die weltliche Sorge und den „Betrug des Reichtums“, d. h. den betrügerischen Reichtum, legt, klingt der Passus wie eine Kurzzusammenfassung von 6,19–34. 13,22 unterstreicht damit die zentrale Bedeutung, die der Abwendung vom Mammondienst in der mt Ethik zukommt. Der dreigliedrigen Binnendifferenzierung in der Gruppe derer, die keine Frucht bringen, korrespondiert in V. 23 eine ebenfalls triadische Binnendifferenzierung derer, die hören und verstehen, nur wird diese Trias analog zum Gleichnis, in dem es einfach um den guten Boden geht, nicht näher ausformuliert. Fruchtbringen basiert für Matthäus auf Verstehen, und umgekehrt manifestiert sich Verstehen darin, Frucht im ethischen Sinn zu

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bringen. Gleichnis und Deutung enden also mit dem ermutigenden Fall, dass die Botschaft vom Reich angenommen wird und den Lebenswandel bestimmt. Da das Gleichnis auch auf die Mission der Jünger hin zu lesen ist und 10–17. diese nach Matthäus – auch im Blick auf Israel – eine bis zur Parusie Jesu 18–23 andauernde Aufgabe darstellt (vgl. zu 10,23), ist mit Blick auf V. 10–17 zu ergänzen, dass der Passus nicht nur auf der Ebene der mt Erzählung keinen Schlussstrich darstellt, da Jesus sich weiterhin den Volksmengen zuwendet. Vielmehr gilt ebenso auf der Ebene der Kommunikation des Evangelisten mit seiner Gemeinde, dass diese Verse nicht anders denn als Zwischenfazit aufgefasst werden können: Die Gemeinde kann anhand von V. 10–17 (und der Deutung des Gleichnisses) auf die bisherige Entwicklung ihrer missionarischen Bemühungen zurückblicken und den erreichten status quo reflektieren, doch wird die damit anvisierte Situation zugleich dadurch dynamisiert, dass ihre Mission keineswegs bereits abgeschlossen ist. Entsprechend darf und soll die Gemeinde weiterhin darauf hoffen, dass das Wort auch auf guten Boden fällt. Daraus aber folgt, dass das Gegenüber von Jüngern und Volksmengen nicht in einem statischen Sinne fixiert ist. Es geht vielmehr um einen dynamischen Prozess, in dem Volksmengen zu Jüngern werden können. III 4.1.2 Die Gleichnisse vom Unkraut unter dem Weizen, vom Senfkorn und vom Sauerteig (13,24–35) 24 Ein anderes Gleichnis legte er ihnen vor und sagte: „Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. 25 Während aber die Menschen schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut mitten unter den Weizen und ging weg. 26 Als aber die Halme anfingen zu sprossen und Frucht zu bringen, da wurde auch das Unkraut sichtbar. 27 Es traten aber die Knechte des Hausherrn hinzu und sagten zu ihm: ‚Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er nun Unkraut?‘ 28 Er aber sprach zu ihnen: ‚Ein feindlicher Mensch hat dies getan.‘ Die Knechte aber sagen zu ihm: ‚Willst du also, dass wir hingehen und es zusammenlesen?‘ 29 Er aber spricht: ‚Nein, damit ihr nicht etwa, wenn ihr das Unkraut zusammenlest, gleichzeitig mit ihm den Weizen ausreißt. 30 Lasst beides zusammen wachsen bis zur Ernte, und zur Zeit der Ernte werde ich zu den Schnittern sagen: Lest zuerst das Unkraut zusammen, und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen; den Weizen aber sammelt in meine Scheune!‘“ 31 Ein anderes Gleichnis legte er ihnen vor und sagte: „Das Himmelreich ist gleich einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und auf seinen Acker säte; 32 es ist zwar der kleinste aller Samen, wenn es aber gewach-

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sen ist, so ist es das größte der Gartengewächse und wird ein Baum, so dass die Vögel des Himmels kommen und sich in seinen Zweigen niederlassen.“ 33 Ein anderes Gleichnis redete er zu ihnen: „Das Himmelreich ist gleich einem Sauerteig, den eine Frau nahm und in drei Sat Mehl verbarg, bis es ganz durchsäuert war.“ 34 Dies alles redete Jesus in Gleichnissen zu den Volksmengen, und ohne Gleichnis redete er nichts zu ihnen, 35 damit erfüllt würde, was durch den Propheten gesagt wurde, der spricht: „Ich werde meinen Mund öffnen in Gleichnissen; ich werde aussprechen, was von Grundlegung der Welt an verborgen war.“ Spätestens durch V. 34 wird evident, dass Jesus sich nun wieder den Volksmengen (V. 2–3a) zuwendet, um zu ihnen in Gleichnissen zu reden. Die drei folgenden Gleichnisse werden im Unterschied zum Gleichnis vom vierfachen Acker durch die Einleitung jeweils als Himmelreichgleichnisse ausgewiesen. Die Differenz in der genauen Formulierung der Einleitung in V. 24 gegenüber V. 31.33 korrespondiert dabei inhaltlich dem Sachverhalt, dass mit dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen auf der einen Seite und den Kurzgleichnissen vom Senfkorn und vom Sauerteig auf der anderen unterschiedliche Aspekte der gegenwärtigen Wirklichkeit des Himmelreiches illustriert werden. Folgt man dem Markusfaden, müsste Matthäus mit dem Gleichnis von 24–30 der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29) fortfahren (zu Mk 4,21–25 s. bei Mt 13,12), doch hat Matthäus dieses durch das nur bei ihm begegnende Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen ersetzt, zu dem er überdies in V. 36–43 – analog zum Gleichnis vom vierfachen Acker – noch eine Deutung bietet. Die auffallende Dichte der Berührungen zwischen V. 24–30 und Mk 4,26–29 – die Erzählmotive des Ausstreuens des Samens, des Schlafs der Menschen, der Entwicklung vom Aufsprossen der Halme bis zur Frucht und schließlich der Ernte begegnen ganz ähnlich auch in Mk 4,26–29 – legt zur Frage der Herkunft und Genese von V. 24–30 nahe, dass die Berührungspunkte nicht sekundär durch Überarbeitung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen entstanden sind, sondern daher rühren, dass Letzteres als kritische Variante zum Gleichnis von der selbstwachsenden Saat gebildet wurde: Während der Bauer sich schlafen legt, wächst nicht einfach die Saat von selbst, sondern es sät ein feindlicher Mensch Unkraut unter den Weizen. Statt allein die souveräne Selbstdurchsetzung des Gottesreiches zu thematisieren, wird die fortwährende Realität des Bösen in der Welt einbezogen (vgl. zu V. 36). Geht man von der m. E. plausiblen Annahme aus, dass das Gleichnis im gemeindlichen Umfeld des Evangelisten entstanden ist, liegt die weitere These nahe, dass die in V. 36–43 folgende Deutung ihm keine gänzlich neue Richtung gibt, son-

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dern organisch an das Gleichnis anknüpft. Spekulationen über eine etwaige vormatthäische Gestalt des Gleichnisses wären damit obsolet. Das Gleichnis lässt sich leicht in zwei Abschnitte untergliedern: die 24–26 kurze Erzählung der Begebenheit in V. 24–26 und den Dialog zwischen dem Hausherrn und seinen Knechten (V. 27–30). Dass der Same in V. 24 anders als in V. 3–8 ausdrücklich als gut bezeichnet wird, geschieht im Vorblick auf die boshafte Intervention des Feindes, der in der Nacht Unkraut, genauer: den giftigen Taumellolch, mitten unter den Weizen sät. Völlig realitätsfern ist dieser Erzählzug nicht; solche feindseligen Aktionen scheinen zuweilen vorgekommen zu sein. Als beim Aufsprossen der Halme der „Mischbefund“ sichtbar wird, 27–30 stellt sich die im Dialogteil verhandelte Frage, wie darauf zu reagieren ist. Der Mensch, der selbst gesät hat, wird nun zu einem Hausherrn, der Knechte hat und auch am Ende die Ernte nicht selbst durchführen wird, dazu aber auch nicht die Knechte, sondern Schnitter beauftragt. Angesichts der weiten Verbreitung von Taumellolch im Mittelmeerraum kann dessen Vorkommen auf dem Acker eigentlich nicht überraschen, sondern nur dessen Menge. Vielleicht muss man die Frage der Knechte in diesem Sinne lesen: Woher kommt so viel Unkraut auf dem Acker? Nur hätte Matthäus dies auch schreiben können. Der Hausherr zeigt sich über die Aktion des Feindes im Bilde (V. 28). Die Deutung auf den Menschensohn wird hier schon angebahnt. Dazu passt auch, dass Matthäus nicht wie Mk 4,27 den Bauern, sondern „die Menschen“ hat schlafen lassen (V. 25). Die von den Knechten aufgeworfene, dem üblichen Vorgehen entsprechende Option, das Unkraut auszujäten, wird vom Hausherrn aus Sorge um den Weizen abgewiesen. Das Problem ist dabei nicht, dass Weizen und Taumellolch verwechselt werden könnten, sondern dass durch die mögliche Verflechtung der Wurzeln des Taumellolchs mit denen des Weizens Letztere mit ausgerissen werden. Vom Hausherrn und seinen Knechten war zuvor in 10,25 mit Blick auf Jesus und seine Jünger die Rede. Die Frage der Knechte in V. 27 wird von daher transparent für die Frage der Gemeinde, warum durch das Wirken des Messias eben noch nicht das Himmelreich in seiner vollendeten Gestalt hervorgetreten ist, sondern die Gemeinde in der Welt Bedrängnis und Ablehnung erfährt. Die Antwort des Gleichnisses besteht darin, dass das Augenmerk auf die Ernte am Ende gerichtet wird. Ernte ist eine geläufige Metapher für das Gericht (s. zu 9,37f). Die Anspielung auf die Predigt des Täufers (3,12) in V. 30b (Verbrennen der Spreu/des Unkrauts, Einbringen des Weizens in die Scheune) weist zusätzlich in diese Richtung, und die in V. 36–43 folgende Gleichnisdeutung wird diese Erwartung nicht enttäuschen. Die Gegenwart hingegen ist für Matthäus noch die Phase, in der die jeweiligen „Früchte“ des Wirkens des Messias und seines Gegenspielers koexistieren.

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Analog zur Sequenz in Mk 4,26–29.30–32 folgt auch bei Matthäus als nächstes das Gleichnis vom Senfkorn, das Matthäus ausweislich Lk 13,18–21 ferner – gemeinsam mit dem Gleichnis vom Sauerteig – auch in der Logienquelle vorfand. Matthäus hat beide Versionen des Senfkorngleichnisses ineinander gearbeitet, wobei Mk 4,30–32 im Mittelteil V. 32a rezipiert ist, während Q Anfang und Ende bestimmt. Wie in den beiden vorangegangenen Gleichnissen begegnet auch hier wieder das Motiv der Aussaat; „auf seinen Acker“ ist gezielte Angleichung an V. 24 (diff. Lk [= Q] 13,19: „in seinen Garten“). Anders als zuvor geht es nun aber um das Größenverhältnis zwischen dem winzigen Korn und dem daraus entstehenden, in überspitzender Weise als Baum bezeichneten Gewächs. Geht das Gleichnis auf Jesus zurück, was Konsens ist, so dürfte es als Entgegnung auf Kritik an seinem Anspruch zu lesen sein, dass das Reich Gottes in seinem therapeutischen Wirken bereits gegenwärtig ist (Mt 12,28 par Lk 11,20). Denn die Aufrichtung der Königsherrschaft Gottes ist in frühjüdischer Erwartung als ein die Welt universal veränderndes Geschehen dimensioniert. Mit dem Gleichnis nimmt Jesus die Diskrepanz zwischen der universalen Weite des Himmelreiches und seinem Wirken in Galiläa auf: Der Anfang des Himmelreiches mag bescheiden daherkommen; aber aus diesem Anfang entwickelt sich mit Gewissheit die ganze Fülle der Königsherrschaft Gottes. Diese Stoßrichtung eignet dem Gleichnis auch im mt Kontext. Sofern der Schluss von V. 32 als eine Anspielung auf Dan 4,9.18 und damit auf das Weltreich Nebukadnezars zu lesen ist (vgl. aber auch Ez 17,22f; 31,5f; Ps 104,12), wird hier – zusammen mit dem Moment der finalen Durchsetzung Gottes über alle menschliche Herrschaft – die Universalität des Himmelreiches noch eigens betont. Aktuell aber gilt es, den Blick auf den geschehenen Anfang zu richten. Diesen samt der dadurch in Gang gesetzten Entwicklung zu erkennen, gehört zu den Geheimnissen des Reiches, deren Kenntnis den Jüngern im Unterschied zu den Volksmengen gegeben wurde (13,11). Das noch kürzere, aus Q stammende Gleichnis vom Sauerteig (vgl. 33 Lk 13,20f) führt die Stoßrichtung von V. 31f weiter. Obwohl der Sauerteig „verborgen“ ist, durchsäuert er gleichwohl sukzessiv den ganzen Teig, dessen Menge hier mit 3 Sat (= ca. 40 Liter) ungewöhnlich groß ist. Für das Himmelreich bedeutet dies: Damit, dass es durch Jesu Wirken in der Welt manifest geworden ist, ist, auch wenn dieser Anfang kaum wahrnehmbar sein mag, ein unaufhaltsamer Prozess in Gang gesetzt, der sukzessiv die gesamte Welt (um)prägen wird. Mit Säen und Brotbacken stehen wie in 6,26.28 eine in der Antike typischerweise von Männern und eine von Frauen ausgeübte Tätigkeit nebeneinander (vgl. auch 8,5–13 + 15,21–28; 7,24–27 + 25,1–13 sowie 24,40f). V. 34 ist eine gestraffte Wiedergabe von Mk 4,33–34a; die Aussage, dass 34–35 Jesus zum Volk redete, wie dieses zu hören vermochte (Mk 4,33b), hat Mat31–32

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thäus wegen der Spannung zu 13,10–17 übergangen. Zudem fungiert V. 34 nicht als Abschluss der Gleichnisrede überhaupt, sondern nur ihres öffentlichen, an die Volksmengen gerichteten Teils. Die Notiz zur Privatunterweisung der Jünger in Mk 4,34b hat Matthäus entsprechend gestrichen. Die durch V. 34b gesetzte Betonung, dass Jesus ausschließlich in Gleichnisform zu den Volksmengen redete, bezieht sich allein auf die Rede von den „Geheimnissen des Himmelreiches“ (13,11). Den Jüngern kommt hier das Privileg zu, dass Jesus ihnen die gleichnishafte Rede erläutert (V. 18–23.36–43.49f). Den Volksmengen hingegen wird durch die jeweilige Einleitung zu den Gleichnissen in V. 24–30.31 f.33 zwar gesagt, dass mit ihnen das Himmelreich illustriert wird, doch bleibt ihnen das eigentliche Verstehen verschlossen, solange sie nicht erkennen, dass die Gleichnisse ein Geschehen illustrieren, das mit Jesu Wirken angehoben hat. Das in V. 35 folgende Zitat von Ps 78,2 zeigt, dass Jesu Weise, zu dem Volk in Gleichnissen zu reden, von Gott so intendiert ist. Das Psalmwort wird, wie dessen Einstellung in die Reihe der Erfüllungszitate und die entsprechende Wendung „durch den Propheten“ ausweisen, von Matthäus als prophetische Verheißung verstanden. Das Zitat gibt in der ersten Zeile den LXX-Text wörtlich wieder (Ps 77,2a LXX), während die zweite Zeile eine freie Wiedergabe darstellt. Nimmt die erste Zeile den bloßen Vorgang der Gleichnisrede in den Blick, so deutet die zweite Zeile deren sich auf die Geheimnisse des Himmelreiches beziehenden Inhalt als Enthüllung dessen, was zwar von Anbeginn der Welt bereits festgelegt, aber bis jetzt verborgen war. Eine Spannung zu V. 11–17 besteht hier nicht, denn in V. 35 wird nur gesagt, dass die Gleichnisse Verborgenes kundtun, nicht aber, dass die Volksmengen dies auch zu erfassen vermögen. Anders ist dies bei den Jüngern (V. 11, vgl. 11,25–27). Ihnen allein gilt der zweite Teil der Rede. III 4.2 Die Weiterführung der Rede vor den Jüngern (13,36–52) III 4.2.1 Die Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen (13,36–43) 36 Da entließ er die Volksmengen und kam in das Haus; und seine Jünger traten zu ihm und sagten: „Erkläre uns das Gleichnis vom Unkraut des Ackers!“ 37 Er aber antwortete und sagte: „Der, der den guten Samen sät, ist der Menschensohn; 38 der Acker aber ist die Welt; der gute Same aber, das sind die Söhne des Reiches; das Unkraut aber sind die Söhne des Bösen; 39 der Feind aber, der es gesät hat, ist der Teufel; die Ernte aber ist das Ende der Welt; die Schnitter aber sind Engel. 40 Wie nun das Unkraut zusammengelesen und im Feuer verbrannt wird, so wird es am

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Ende der Welt sein. 41 Der Menschensohn wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reich alle, die Anstoß geben, zusammenlesen und die, die Gesetzloses tun, 42 und sie werden sie in den Feuerofen werfen; dort wird Heulen und Zähneknirschen sein. 43 Dann werden die Gerechten wie die Sonne leuchten im Reich ihres Vaters. Wer Ohren hat, der höre! 36 Die Weiterführung der Gleichnisrede mit einem zweiten, allein für die Jünger bestimmten Teil ist szenisch von einem Ortswechsel begleitet: Vom Ufer des Sees begibt Jesus sich zurück (vgl. V. 1) in den privaten Raum des Hauses (V. 36). Dass die Jünger ihn um eine Erläuterung des „Gleichnisses vom Unkraut des Ackers“ bitten, macht deutlich, dass ihre Kenntnis der „Geheimnisse des Himmelreiches“ (V. 11) nicht zwingend das Verständnis aller Details der Himmelreichgleichnisse einschließt und Jesus sie jedenfalls in diesem Fall zum Verstehen führen muss. Die Gleichnisse vom Senfkorn und Sauerteig bleiben hingegen ohne Auslegung. Wie in V. 18 gibt Matthäus dem Gleichnis in der Hinführung zu seiner Deutung einen Namen. In diesem Fall nimmt dieser allein die negative Seite in den Blick, was dem Gleichnis aber durchaus entspricht: Das Böse in der Welt, das trotz des Anbruchs des Gottesreiches im Wirken Jesu weiterhin Bestand hat, ist der erklärungsbedürftige Sachverhalt. Jesu Deutung in V. 37–43 gliedert sich in einen Deutekatalog, in dem 37–43 mit Ausnahme der Knechte (V. 27) alle Figuren des Gleichnisses sowie der Acker selbst aufgeschlüsselt werden (V. 37–39), und eine längere Explika37–39 tion der Ernte (V. 40–43), auf die damit deutlich das Hauptgewicht fällt. Während in V. 18–23 keine explizite Identifikation des Sämanns begegnete, wird dieser nun ausdrücklich mit dem Menschensohn, also mit Jesus selbst, identifiziert. Da die Rede vom Menschensohn die unterschiedlichen Phasen des Wirkens Jesu miteinander verbindet, namentlich sein irdisches Auftreten und Ergehen, seine Auferstehung und Erhöhung sowie seine Wiederkunft (s. zu 8,20), liegt es nahe, V. 37 in diesem umfassenden Sinn zu lesen: Die Aussaat hat mit dem irdischen Wirken Jesu begonnen, sie wird durch ihn als den erhöhten Herrn mittels der von ihm ausgesandten Jünger fortgesetzt, bis er am Ende der Zeit zum Gericht kommt. Die Wendung „Söhne des Reiches“ begegnete schon in 8,12. „Söhne“ drückt Zugehörigkeit aus. In 8,12 wie hier sind mit der Wendung diejenigen bezeichnet, die die Himmelreichbotschaft annehmen und verstehen; nur gelangen die „Söhne des Reiches“ in 13,38 ans Ziel, während die „Söhne des Reiches“ in 8,12 ihre Zuordnung zum Himmelreich zu verlieren drohen (s. zu 8,12). Jesu Gegenspieler ist wie in 13,19 der Teufel. Zur Verbindung mit V. 19 passt, dass seine „Früchte“ – in Korrespondenz zur Bezeichnung des Teufels als „der Böse“ in V. 19 – als „Söhne des Bösen“ bezeichnet werden, also als solche, die dem Bösen, dem Teufel, zugehörig sind. Zu be-

Die Gleichnisrede (13,1–52)

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achten ist des Näheren, dass die Söhne des Reiches wie die des Bösen hier zwar als „Früchte“ des Wirkens des Menschensohnes bzw. des Teufels präsentiert werden, sie aber zugleich auch das „Medium“ sein können, durch die der eine oder der andere wirkt. Die Jünger sind dazu ausgesandt, Jesu Werk fortzuführen, und analog zu V. 19 ist beim Teufel impliziert, dass dieser sich nach Matthäus’ Weltsicht mit den Jesus gegenüber feindlich gesinnten Autoritäten menschlicher Handlanger bedient. So gelesen, zeigt sich – analog zu V. 3–23 – die enge Verbindung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen zum narrativen Kontext: Es bietet einen Deuterahmen für die feindliche Gegenreaktion auf Jesu Wirken, wie sie etwa in 12,24 zutage trat. Das Wirkungsfeld der „Aussaat“ Jesu wird hier – in Korrespondenz zu 28,18 und zur Reichweite des Menschensohntitels – universal bestimmt (vgl. 5,14). Die beliebte, schon in der Alten Kirche begegnende Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen auf innergemeindliche Probleme hat die Identifizierung des Ackers mit der Welt eindeutig gegen sich. Entsprechend kann der Text nicht die These belegen, dass Matthäus sich die Gemeinde als ein corpus mixtum vorstelle. Gegen diese Deutung spricht im Übrigen auch, dass Matthäus in der Gemeinde durchaus den Grenzfall der Exkommunikation kennt (18,17). Das Gleichnis sucht vielmehr die Situation der Jünger in der Welt zu deuten, indem es diese auf den Antagonismus zwischen Gott/ Jesus und dem Teufel zurückführt und deutlich macht, dass die Ergebnisse des Wirkens Jesu (und seiner Jünger) auf der einen Seite und des Teufels (und seiner Handlanger) auf der anderen in der Welt koexistieren werden, bis das Endgericht kommt, auf das hin die Rede von der Ernte im Gleichnis – erwartungsgemäß – aufgelöst wird. Bis dahin muss die Gemeinde mit einer feindlichen Umwelt zurechtkommen, denn die Fesselung des Satans, von der im Rahmen der Heilungen Jesu die Rede war (12,29), ist nur eine Facette des Gesamtbildes. Am Ende aber wird das Böse gänzlich überwunden und beseitigt sein. In V. 40–43 wird Letzteres ausführlich entfaltet: Wie der Hausherr die 40–43 Schnitter, so sendet der Menschensohn seine ( ! ) Engel aus. Der mit der 41 Welt identifizierte Acker wird nun als Herrschaftsbereich des Menschensohnes bestimmt (hier ist nicht von der Kirche als Reich des Menschensohnes die Rede!). Grundlage dieser Aussage ist die Erhöhung Jesu zum Weltenherrn, wie sie in 28,18 zum Ausdruck gebracht wird. Dieser Sachzusammenhang mit 28,18 unterstreicht, dass bei der Aussaat die nachösterliche Sendung der Jünger zu allen Völkern inbegriffen ist (28,19f), ohne dass man den Beginn der Aussaat mit Jesu irdischem Wirken ausklammern muss. Anzufügen ist: Jesus „herrscht“ in der Welt eben nicht in der Gestalt, dass ihm alles unterworfen ist, sondern dadurch, dass sich Menschen dem unterstellen, was er geboten hat (28,20), und das Reich Gottes in Heilungen zeichenhaft manifest wird.

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Die „Söhne des Bösen“ kehren nun in denen wieder, die anderen Anstoß geben, d. h. andere zur Sünde bzw. zum Abfall zu verleiten suchen und deren eigenes Handeln durch Gesetzlosigkeit charakterisiert ist (vgl. mit Blick auf die Schriftgelehrten und Pharisäer 23,28), wobei Matthäus’ For42 mulierung hier möglicherweise von Ps 140,9 LXX inspiriert ist. Wenn die Aussage, dass die Söhne des Bösen in den Feuerofen geworfen werden, gezielt auf Dan 3,6 anspielen sollte (vgl. aber ferner 1Hen 98,3; 4Esra 7,36), kann man darin bekräftigt sehen, dass sich das Böse nicht durchsetzt, sondern von Gott überwunden wird: Die Gerechten wurden nach Dan 3 im Feuerofen wundersam bewahrt; für die Gesetzlosen aber wird der Feuerofen am Ende zum unausweichlichen Ort der Strafe. „Heulen und Zähneknirschen“ ist ein bei Matthäus beliebtes Gerichtsmotiv (s. zu 8,12). V. 43 stellt dem das kommende Heil für die Gerechten gegenüber. Das 43 (gegenwärtige) Reich des Menschensohnes geht dann über in das Reich des Vaters (vgl. 1Kor 15,24–28). Die Lichtmetaphorik, genauer: das Leuchten wie die Sonne (vgl. 17,2), ist ein charakteristischer Zug in der Schilderung himmlischer Herrlichkeit (1Hen 104,2; 2Hen 66,7; 4Esra 7,97; 2Bar 51,3.10). Zu vergleichen ist zudem die Gestalt der Auferstehungsaussage in Dan 12,3. Der nach V. 9 erneut aufgenommene Weckruf schärft den Jüngern ein, dass sie selbst des bevorstehenden Gerichts gewahr sein müssen. In zweiter Linie wird das Gleichnis damit auch zur Warnung an die Jünger: Wenn sie sich als solche erweisen, „die Gesetzloses tun“ (V. 41), werden auch sie, die Jesus als Herrn anrufen, nicht am Reich des Vaters teilhaben (vgl. 7,22f). III 4.2.2 Die Gleichnisse vom Schatz im Acker, von der Perle und vom Schleppnetz (13,44–50) 44 Das Himmelreich ist gleich einem im Acker verborgenen Schatz, den ein Mensch fand und verbarg; und in seiner Freude geht er hin und verkauft alles, was er hat, und kauft jenen Acker. 45 Wiederum ist das Himmelreich gleich einem Kaufmann, der schöne Perlen suchte. 46 Als er aber eine sehr kostbare Perle gefunden hatte, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie. 47 Wiederum ist das Himmelreich gleich einem Schleppnetz, das ins Meer geworfen wurde und (Fische) von jeder Gattung zusammenbrachte. 48 Als es voll war, zogen sie es ans Ufer herauf, und sie setzten sich nieder und lasen die guten (Fische) in Gefäße zusammen, die faulen aber warfen sie hinaus. 49 So wird es am Ende der Welt sein: Die Engel werden hinausgehen und die Bösen aus der Mitte der Gerechten aussondern 50 und sie in den Feuerofen werfen; dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.

Die Gleichnisrede (13,1–52)

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Die Unterweisung speziell der Jünger wird ergänzt durch drei weitere Gleichnisse vom Himmelreich, die Matthäus stereotyp mit der bereits aus V. 31.33 vertrauten Wendung „das Himmelreich ist gleich …“ einleitet. 44–46 Wurde mit dem Gleichnispaar V. 31f.33 am Ende der Rede vor den Volksmengen die gegenwärtige Verborgenheit des Himmelreiches bzw. dessen unscheinbarer Anfang thematisiert, so wird den Jüngern mit dem Gleichnispaar in V. 44.45f (zur chiastischen Komposition s. in der Einleitung zu 13,1–52) dessen unvergleichbare Bedeutung eingeschärft, die ein entsprechendes Handeln verlangt. Der glückliche Finder des im Acker verborgenen (vgl. V. 35!) Schatzes in V. 44 und der Kaufmann in V. 45f verkaufen jeweils alles andere, um des einen teilhaftig zu werden. Ebenso ist die Teilhabe am Himmelreich ein so kostbares Gut, dass alles andere diesem gegenüber bestenfalls nebensächlich wird, ja letztlich zur Irrelevanz verurteilt ist (vgl. 6,33). Der beiden Gleichnissen gemeinsame Zug, dass alles verkauft wird, um das eine zu erwerben, lässt des Näheren speziell die Forderung Jesu an den reichen Mann in 19,21 assoziieren, seine Habe zugunsten der Armen zu verkaufen und in die Nachfolge einzutreten (vgl. 6,19–24). Zugleich werden die Jünger als Adressaten der beiden Gleichnisse in ihrer Entscheidung bestätigt, alles zurückgelassen zu haben, um Jesus zu folgen (19,27, vgl. 4,18–22). Das Gleichnis vom Schleppnetz weist wieder auf das Nebeneinander 47–50 von Guten und Bösen in der Welt, das bereits Thema von V. 24–30.36–43 war; zugleich erinnert die Bezeichnung der Fische als „gute“ und „faule“ an das Wort vom Baum und seinen Früchten in 7,17–19; 12,33. Das Gleichnis beschreibt knapp einen alltäglichen Vorgang. In einem Schleppnetz verfangen sich auch Fische, die entweder nicht genießbar sind oder als unrein gelten (vgl. Lev 11,9–12) und entsprechend aussortiert werden, wenn das Netz an Land gezogen wurde. Die dem Gleichnis in V. 49f angefügte kurze Deutung nimmt das Aussortieren der Fische in enger Anlehnung an V. 40–43 auf und bezieht es auf das Endgericht. V. 49a entspricht wörtlich V. 40b; V. 49b variiert V. 41; V. 50 wiederholt wiederum wörtlich V. 42. V. 43 findet dagegen nur darin Resonanz, dass in V. 49 erneut von den Gerechten die Rede ist, doch wird deren Teilhabe am Heil nicht wie in V. 43 eigens entfaltet. Der Ton fällt also wie in V. 36–43 auf die Scheidung am Ende (vgl. 25,32f), nur tritt dabei nun noch stärker die negative Seite des Ergehens „der Bösen“ (V. 49, vgl. „die Söhne des Bösen“ in V. 38) ins Zentrum.

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Reaktionen auf Jesu Wirken in Israel und ihre Folgen (11,2–16,20)

III 4.2.3 Das Gleichnis vom Hausherrn (13,51f) 51 Habt ihr dies alles verstanden?“ Sie sagen zu ihm: „Ja.“ 52 Er aber sagte zu ihnen: „Darum gleicht jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreiches geworden ist, einem Hausherrn, der aus seinem Schatz Neues und Altes herausholt.“ 51 Der zweite Teil der Rede endet mit einem kurzen Dialog, in dem die einleitende Frage Jesu auf die Jüngerbitte in V. 36 zurückgreift, die die Weiterführung der Gleichnisrede allein vor den Jüngern eröffnet, darüber hinaus aber auch an die den Jüngern geltende Aufforderung in V. 18 anknüpft, das Gleichnis vom Sämann zu hören. Nun fragt er unter Einbeziehung der weiteren Gleichnisse, ob sie alles verstanden haben. Mit ihrer Bejahung der Frage treten die Jünger noch einmal als die hervor, die im Unterschied zu den Volksmengen hören und verstehen (V. 23). Die Bejahung der Frage durch die Jünger bekräftigt Jesus seinerseits 52 durch ein abschließendes Kurzgleichnis, das der Evangelist wohl auf der Basis einer sentenzhaften Beschreibung des Wirkens bzw. der Aufgabe von Schriftgelehrten, die aus ihrem Schatz Neues und Altes hervorholen, gestaltet hat und das wie V. 3–9 – anders als die sechs Gleichnisse in V. 24–50 – kein Himmelreichgleichnis ist. Mit den Schriftgelehrten, die „Jünger des Himmelreiches“ geworden sind, tritt eine – schwerlich fest umrissene – Gruppe von Jesusnachfolgern in den Blick, zu der der Evangelist selbst zu zählen ist. Ihr zentrales Kennzeichen ist ihre intime Kenntnis der Heiligen Schriften, des „Alten“; das „Neue“ sind – in Entsprechung zu ihrer Näherbestimmung als „Jünger des Himmelreiches“ – die nun offenbarten „Geheimnisse des Himmelreiches“, deren Kenntnis den Jüngern gegeben ist (V. 11). Zugespitzt auf die Gruppe der in der Schrift besonders bewanderten Nachfolger Jesu zieht V. 52 also die Konsequenz aus der Feststellung von V. 51, dass die Jünger das, was in den vorangehenden Gleichnissen über das Himmelreich gesagt wurde, verstanden haben. Wichtig ist für Matthäus dabei die Kontinuität und der Zusammenhang zwischen Altem und Neuem, die die schriftgelehrten Jünger den Menschen vermitteln sollen: Das von der Grundlegung der Welt an verborgene (V. 35), nun offenbar gewordene Neue ist, wie jene Jünger darzulegen vermögen, vom Alten vorhergesagt, und das Alte erschließt sich nun vom Neuen her in seiner wahren Bedeutung. Wenn Jesu Wirken nicht verstanden wird, geht dies damit einher, dass auch der Sinn der Schriften verborgen ist und bleibt.

Die Vollmacht des Gottessohnes und weitere Reaktionen auf sein Wirken

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III 5 Die Vollmacht des Gottessohnes und die weitere Profilierung der Reaktionen auf sein Wirken (13,53–16,12) Im Unterschied zu den ersten Kapiteln von 11,2–16,20 ist eine Untergliederung von 13,53–16,20 schwierig, weil Matthäus keine klaren Zäsuren gesetzt hat und weder thematisch noch von der Figurenkonstellation her ein größerer einheitlicher Block erkennbar ist. Vielmehr wechseln sich Perikopen, in denen der Konflikt mit den Gegnern Jesu (vgl. 12,1–45) fortgeführt wird (15,1–20; 16,1–4, vgl. auch 14,1–12), mit solchen, in denen sich die Zuwendung zum Volk fortsetzt (14,13–21.34–36; 15,29–39) oder die Jünger im Zentrum stehen (14,22–33; 16,5–12.13–20, vgl. auch 15,12–20), in lockerer, am Markusfaden orientierter Folge ab. Einzelne Motive wiederholen sich, wie z. B. das Rückzugsmotiv (14,13; 15,21, vgl. auch 16,4) oder das Gottessohnbekenntnis (14,33; 16,16), doch lässt sich von da aus so wenig eine klare Gliederungsstruktur für das Ganze gewinnen wie von der auffälligsten Doppelung, den beiden Speisungsgeschichten (14,13–21; 15,29–39), her. Die Strukturierung von 13,53–16,20 muss sich daher darauf beschränken, dort, wo dies möglich ist, thematisch verwandte Perikopen zu kleineren Textblöcken zusammenzubinden (13,53–14,12; 14,13–36; 15,1–20; 15,21–39; 16,1–12). 16,13–20 klammere ich hier aus, weil dieser Passus als Zielpunkt von 11,2–16,20 im Ganzen eine Sonderstellung innehat. Inhaltlich wird die bereits bekannte Profilierung von Gegnern, Volksmengen und Jüngern fortgeschrieben. Der Konflikt mit den Gegnern verschärft sich insofern, als nun Pharisäer und Schriftgelehrte sogar eigens aus Jerusalem herbeikommen (15,1) und die Pharisäer zudem – wie schon beim Täufer (3,7) – das Bündnis selbst mit den Sadduzäern suchen (16,1). Die Volksmengen bleiben Jesus zugewandt, der sich weiterhin ihrer erbarmt, aber die relative Distanz zwischen ihnen und den Jüngern vergrößert sich, weil jene in ihrer Erkenntnis fortschreiten. III 5.1 Zurückweisung und Gefährdung (13,53–14,12) III 5.1.1 Die Zurückweisung Jesu in Nazaret (13,53–58) 53 Und es geschah, als Jesus diese Gleichnisse beendet hatte, ging er von dort weg. 54 Und er kam in seine Vaterstadt und lehrte sie in ihrer Synagoge, so dass sie außer sich gerieten und sagten: „Woher hat der diese Weisheit und die Machttaten? 55 Ist der nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria und seine Brüder Jakobus und Josef und Simon und Judas? 56 Und sind nicht seine Schwestern alle bei uns? Woher hat der nun dies alles?“ 57 Und sie nahmen Anstoß an ihm.

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Reaktionen auf Jesu Wirken in Israel und ihre Folgen (11,2–16,20)

Jesus aber sagte zu ihnen: „Nicht ist ein Prophet ungeehrt, außer in seiner Vaterstadt und in seinem Haus.“ 58 Und er vollbrachte dort nicht viele Machttaten wegen ihres Unglaubens. 53 Mit der üblichen Übergangswendung leitet Matthäus in V. 53 zur nachfolgenden Erzählung über (vgl. 7,28; 11,1; 19,1; 26,1). Da er Mk 4,35–5,20 bereits verarbeitet hat (8,18.23–9,1; 9,18–26), ist das Auftreten Jesu in seiner Vaterstadt der nächste im Markusfaden folgende Text (Mk 6,1–6a). Matthäus nimmt diesen hier auf, weil ihm die Perikope, wie sich zeigen wird, eine sinnvolle Fortsetzung seines eigenen Darstellungsgangs ermöglicht. Kam vor der Gleichnisrede Jesu leibliche Familie zu ihm, so führt ihn 54–56 sein Weg nach dieser zu seiner Vaterstadt, die auf der Linie von 2,23 mit Nazaret zu identifizieren ist. Seine Lehre in der dortigen Synagoge bietet die einzige narrative Konkretion der summarischen Notizen in 4,23; 9,35. Wie nach der Bergpredigt (7,28) geraten auch hier die Menschen ob seiner Lehre außer sich, doch verbindet sich dies bei den Nazarenern nicht damit, dass sie sich dem Wirken Jesu öffnen. Vielmehr führt in ihrem speziellen Fall das Bedenken der (vermeintlichen) Herkunft Jesu aus der Familie eines einfachen Zimmermanns zur Irritation, die sich in ihrer Frage in V. 54 nach dem Ursprung seiner Fähigkeiten artikuliert. Matthäus hat die wörtliche Rede der Nazarener klar strukturiert. Die Frage nach dem Woher in V. 54, die sich für den Leser von 11,27 her beantwortet, wird in V. 56 in gekürzter Form (vgl. Mk 6,2) wiederholt, so dass sich eine Rahmung um die in rhetorische Fragen gekleideten Verweise auf Jesu familiäre Herkunft ergibt. Bezieht sich die Frage nach dem Ursprung seiner Weisheit (vgl. 11,19) auf seine Lehre zurück, so wird mit der Rede von den Machttaten (vgl. 7,22; 11,20.21.23; 14,2) ferner das heilende Wirken Jesu einbezogen. V. 58 zeigt, dass die Nazarener davon nicht nur gehört haben, sondern Jesus auch in Nazaret Wunderheilungen vollbrachte, wenngleich „nicht viele“. Es geht also im umfassenden Sinn um die in 11,2–6 als Leitthema des Textblocks 11,2–16,20 eingeführte Frage der Beurteilung der „Werke des Messias“. Für die Nazarener lässt der Blick auf Jesu Herkunft aus einfachen Verhältnissen die Option, dass er der erwartete davidische Messias sein könnte, allerdings außerhalb der Reichweite des Denkbaren sein. Matthäus hat die mk Frage „ist dieser nicht der Zimmermann?“ (Mk 6,3) geändert in „ist dieser nicht der Sohn des Zimmermanns?“ (vgl. Lk 4,22; Joh 6,42). Er hat damit nicht nur die Herkunft Jesu gegenüber Mk 6,3 als das Moment, an dem die Nazarener Anstoß nehmen (V. 57), noch deutlicher herausgearbeitet, sondern zugleich auch gezielt einen Rückverweis auf 1,18–25 gesetzt: Der durch 1,18–25 „informierte“ Leser des Mt weiß, dass die Nazarener in entscheidender Hinsicht von einer unzutreffenden Voraussetzung ausgehen; Josef hat Jesus als Sohn angenom-

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men, ist aber nach 1,18–25 nicht sein leiblicher Vater, denn Jesus ist vom Heiligen Geist gezeugt. Das Persongeheimnis Jesu ist den Nazarenern also verborgen; sie vermögen Jesu Werke nicht angemessen zu beurteilen, weil sie sich nicht von ihrer Perspektive zu lösen vermögen, die von ihrem (vermeintlichen) Wissen um seine Herkunft bestimmt ist. Der Frage in V. 55a tritt dabei noch der Verweis auf Mutter, Brüder und Schwestern bekräftigend zur Seite. Der Kommentar „und sie nahmen Anstoß an ihm“, 57 mit dem Matthäus die Äußerung der Nazarener interpretierend resümiert, lässt im mt Kontext an 11,6 zurückdenken: Die Nazarener hören (die Lehre) und sehen (die Machttaten), aber sie verstehen nicht (vgl. 13,13–15), sondern nehmen Anstoß, weil Jesu Wirken nicht zu ihrem Bild von ihm passt, das sich für sie aus seiner familiären Herkunft ergibt. Jesu Replik mit dem Wort vom Propheten in V. 57b, der nur in seiner Vaterstadt und in seinem Haus nicht geehrt wird (vgl. Joh 4,44; EvThom 31 sowie die verwandte Aussage über die Philosophen bei Dion Chrysostomos, Or 47,6), greift ebendieses Moment auf. Den Schluss hat Matthäus neu formuliert. Dass Jesus nicht viele Macht- 58 taten in Nazaret wirkte, liegt für Matthäus nicht daran, dass er dies nicht vermocht hätte – dies würde nicht in seine hohe Christologie passen –, sondern „an ihrem Unglauben“, der in Mk 6,6 „lediglich“ als Gegenstand der Verwunderung Jesu erscheint. Jesus heilt nach Matthäus dort, wo er auf Glauben stößt (vgl. zu 9,2). Da V. 58 impliziert, dass Jesus zumindest wenige Machttaten vollbrachte (vgl. oben zu V. 54), ist hier streng genommen vorausgesetzt, dass nicht ganz Nazaret Unglauben zeigte. Matthäus legt den Akzent aber auf das – negative – Gesamtbild. Dass dieses nicht auf die jüdischen Volksmengen im Ganzen zu verallgemeinern ist, ist im Gesamtduktus des Mt evident. Allerdings bilden die Nazarener auch keinen einsamen Sonderfall. Zwar erwächst der Grund für das Unverständnis der Nazarener spezifisch aus ihrer Vertrautheit mit der Herkunftsfamilie Jesu, doch stehen sie damit prototypisch für die, die Jesus wegen seiner (vermeintlich) niedrigen Herkunft mit Ablehnung entgegentreten (vgl. Joh 6,41f; 7,41). III 5.1.2 Das Urteil des Herodes Antipas über Jesus und der Tod Johannes des Täufers (14,1–12) 1 Zu jener Zeit hörte Herodes, der Vierfürst, die Kunde von Jesus 2 und sagte zu seinen Dienern: „Dieser ist Johannes der Täufer. Er ist von den Toten auferweckt worden, und darum wirken die Kräfte in ihm.“ 3 Herodes hatte nämlich Johannes ergriffen, ihn gebunden und ins Gefängnis geworfen um der Herodias willen, der Frau seines Bruders Philippus. 4 Denn Johannes hatte ihm gesagt: „Es ist dir nicht erlaubt,

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sie zu haben.“ 5 Und als er ihn töten wollte, fürchtete er die Volksmenge, weil sie ihn für einen Propheten hielten. 6 Als aber der Geburtstag des Herodes begangen wurde, tanzte die Tochter der Herodias in (ihrer) Mitte, und sie gefiel dem Herodes. 7 Daher sagte er mit einem Eid zu, ihr zu geben, was immer sie erbitte. 8 Sie aber, von ihrer Mutter angewiesen, spricht: „Gib mir hier auf einem Teller den Kopf von Johannes dem Täufer!“ 9 Und der König wurde traurig, aber um der Eide und um derer willen, die mit zu Tisch lagen, befahl er, dass (er) gegeben werde. 10 Und er sandte hin und ließ den Johannes im Gefängnis enthaupten. 11 Und sein Kopf wurde auf einem Teller gebracht und dem Mädchen gegeben, und sie brachte (ihn) ihrer Mutter. 12 Und seine Jünger traten hinzu, holten den Leichnam und begruben ihn. Und sie kamen und berichteten es Jesus. Da Matthäus die Aussendung der Jünger (vgl. Mk 6,7–13) bereits in Mt 10 platziert hat, fährt er nun mit der Notiz über das Urteil des Landesfürsten Herodes Antipas über Jesus fort (vgl. Mk 6,14–16), an die zur Erläuterung von V. 2 eine Rückblende über den Tod des Täufers anschließt (Mk 6,17–29), hinter der eine volkstümliche Erzählung mit legendenhaften Zügen stehen dürfte. Nach Josephus (Ant 18,116–119) weckte der Zulauf des Volkes zu Johannes den Argwohn von Antipas, der den Täufer deshalb aus Furcht vor einem Aufruhr inhaftierte und hinrichten ließ. Von einer Kritik des Täufers an Antipas wegen seiner nach Lev 18,16; 20,21 verbotenen Heirat mit Herodias, die zuvor mit einem nicht weiter bekannten Halbbruder von Antipas namens Herodes – nicht mit dem bekannten Vierfürst Philippus, wie es in Mk 6,17; Mt 14,3 heißt – verheiratet war (vgl. Ant 18,136), sagt Josephus hingegen nichts, doch schließt dies nicht aus, dass es sich hier um eine historisch zuverlässige Reminiszenz handelt. Mit V. 1f setzt Matthäus die Thematisierung der Beurteilung der Werke 1–2 Jesu (11,2) fort, indem die Reaktion von Herodes Antipas, der von 4 v. Chr. bis 39 n. Chr. Landesfürst von Galiläa sowie Peräa war, auf die Kunde von Jesus ins Blickfeld gerückt wird. Während Mk 6,14–16 zunächst verschiedene Meinungen über Jesus zitiert, bevor schließlich die Einschätzung von Herodes Antipas angeführt wird, konzentriert Matthäus die Szenerie ganz auf dessen Urteil: Eine Erklärung für die in Jesus wirkenden Kräfte sucht er darin, dass Jesus der von den Toten auferstandene Täufer sei. Nach der knappen Notiz über die Gefangennahme des Täufers in 4,12 war dieser zuletzt in 11,2–6 durch die Sendung seiner Jünger zu Jesus in Erscheinung getreten. Seine Ermordung muss sich nach Matthäus also in dem Zeitraum der in 11,7–13,58 dargestellten Ereignisse zugetragen haben. Der Verweis auf Johannes wird im Folgenden zum Anlass, um die Um3–12 stände seines Todes nachzutragen. Matthäus hat die mk Vorlage nicht nur 3–5 deutlich gestrafft, sondern auch inhaltlich neu akzentuiert. V. 3f trägt im

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Gefolge von Mk 6,17f knapp den Grund für die Inhaftierung des Täufers nach (s. o.), doch hat Matthäus der weiteren Erläuterung der Situation in V. 5 eine gegenüber Mk 6,18–20 signifikant veränderte Richtung gegeben: Der mk Kontrast zwischen Herodes Antipas, der Johannes (im positiven Sinn) fürchtet, weil er ihn für einen gerechten und heiligen Mann hält (Mk 6,20), und seiner Frau Herodias, die Groll gegen Johannes hegt und ihn töten will, weicht bei Matthäus der Kontrastierung zwischen dem Landesfürsten und den Volksmengen. Herodes selbst will Johannes töten, aber er fürchtet das Volk, das Johannes als einen Propheten wertschätzt (vgl. 11,9; 21,26). Durch diese Änderung der Konstellation schafft Matthäus eine deutliche Analogie zum Vorgehen gegen Jesus in 21,45f: Die Hohepriester und die Pharisäer suchen Jesus zu ergreifen, aber sie fürchten die Volksmengen, weil diese Jesus für einen Propheten halten. Matthäus betont damit, dass Jesus und Johannes nicht nur durch die Botschaft, die sie verkündigen (3,2; 4,17), sondern auch durch das Schicksal, das sie erleiden, miteinander verbunden sind. 17,12f wird diesen Aspekt erneut herausstellen. Die Veränderung der Konstellation in V. 3–5 zieht nach sich, dass die in 6–11 V. 6–11 folgende Geburtstagsszene nicht dazu führt, dass Herodes gegen seine eigene Wertschätzung des Täufers dessen Hinrichtung anordnen muss; bei Matthäus muss er lediglich seine Vorsicht gegenüber einer möglichen Reaktion im Volk hintanstellen. Immerhin geben V. 8a und V. 11b noch zu erkennen, dass Herodias im Hintergrund die Fäden gesponnen hat. Zur Erreichung ihres Ziels, den Kritiker ihrer nach jüdischem Recht illegitimen Ehe auszuschalten, bedient sie sich kaltblütig ihrer Tochter (nach Josephus, Ant 18,136 hieß diese Salome). Das düstere Bild, das die Erzählung vom Herrscherhaus zeichnet, wird bei Matthäus noch dadurch verstärkt, dass schon der Schwur an sich im Lichte von Mt 5,33–37 eine Missachtung des Gotteswillens bedeutet. Im Übrigen stellt auch das Auftreten der eigenen Stieftochter als Tänzerin bei einem Festbankett nach jüdischen, aber auch griechischen Gepflogenheiten einen eklatanten Verstoß gegen die guten Sitten dar; sie übt hier eine Rolle aus, die sonst von Dirnen ausgefüllt wird. Matthäus erzählt also, wie sich eine Verletzung des Gotteswillens an die andere reiht und wie dies schließlich in dem Kapitaldelikt der grausamen Hinrichtung des Täufers endet. Die in V. 9 erwähnte Traurigkeit des Antipas (par Mk 6,26) kommt im mt Duktus überraschend, denn sie kann sich nach V. 5 nicht auf Trauer über den Tod des Täufers an sich beziehen. Wenn dies nicht schlicht als eine Inkonsequenz des Evangelisten bei der Neufassung von Mk 6,17–29 aufzufassen ist, kann man – neben der Störung der Festivität ( ? ) – an die Art des Vorgehens denken: Trotz der Furcht vor dem Volk wird Johannes nun sogar ohne Gerichtsverfahren hingerichtet, und die Geburtstagsgäste sind auch noch Zeugen dieses Vorgehens.

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V. 12 lässt noch einmal die Jünger des Johannes auftreten (vgl. 9,14; 11,2f). Anders als in Mk 6,29 holen sie nicht nur den Leichnam des Täufers und bestatten ihn, sondern benachrichtigen auch Jesus, wie sie umgekehrt in 11,4 dem Täufer Bericht erstatten sollten. Matthäus bereitet mit V. 12b nicht nur den Rückzug Jesu in V. 13 vor, sondern stellt auch erneut die Zusammengehörigkeit von Johannes und Jesus heraus. III 5.2 Jesu Erweis seiner göttlichen Vollmacht (14,13–36) Mit der Speisung der Fünftausend und dem Seewandel stehen zwei außergewöhnliche Erweise der Vollmacht Jesu im Zentrum dieses Textblocks. Auffallend ist, dass die beiden Perikopen nicht nur in Mk 6,30–44.45–52 zusammenstehen, sondern auch in Joh 6,1–15.16–21. Bei Matthäus werden die beiden Perikopen durch zwei summarische Darstellungen des heilenden Handelns Jesu gerahmt (V. 13 f.34–36), die das Besondere der wundersamen Speisung und des Seewandels in das alltägliche Wirken Jesu (vgl. 4,23; 9,35) einbetten. III 5.2.1 Die Speisung der Fünftausend (14,13–21) 13 Als Jesus es aber hörte, entwich er von dort in einem Boot für sich allein an einen einsamen Ort. Und als die Volksmengen es hörten, folgten sie ihm auf dem Landweg aus den Städten. 14 Und als er ausstieg, sah er eine große Volksmenge, und er hatte Mitleid mit ihnen und heilte ihre Kranken. 15 Als es aber Abend geworden war, traten die Jünger zu ihm und sagten: „Der Ort ist einsam, und die Stunde ist schon vergangen. Schick die Volksmengen fort, damit sie in die Dörfer gehen und sich Speise kaufen!“ 16 Jesus aber sagte zu ihnen: „Sie brauchen nicht wegzugehen. Gebt ihr ihnen zu essen!“ 17 Sie aber sagen zu ihm: „Wir haben hier nichts außer fünf Broten und zwei Fischen.“ 18 Er aber sagte: „Bringt sie mir hierher!“ 19 Und er befahl, dass die Volksmengen sich auf dem Gras niederlegen, nahm die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel hinauf, sprach den Lobpreis und brach und gab die Brote den Jüngern, die Jünger aber den Volksmengen. 20 Und sie aßen alle und wurden satt. Und sie hoben auf, was an Brocken übrigblieb, zwölf Körbe voll. 21 Die Essenden aber waren ungefähr fünftausend Männer, ohne Frauen und Kinder. Matthäus folgt weiter dem Markusfaden (vgl. Mk 6,32–44), hat aber durch die Notiz in V. 12b insofern einen neuen Erzählzusammenhang herge-

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stellt, als die Hinrichtung des Täufers nicht mehr nur als Rückblende fungiert, sondern in den Strang der Haupthandlung eingebunden ist. V. 13a 13–14 knüpft daran an: Das Vorgehen von Herodes Antipas gegen Johannes bedeutet auch für Jesus eine Gefahr, zumal Herodes Jesus für den von den Toten auferweckten Täufer hält (V. 2). Wie nach der Nachricht von der Inhaftierung des Täufers (4,12) zieht Jesus sich daher erneut zurück (vgl. ferner 12,15; 15,21), diesmal in einem Boot an einen einsamen Ort. Mit dieser Ortsangabe und der Notiz, dass ihm die Volksmengen auf dem Landweg folgten, ist die szenische Voraussetzung für das nachfolgende Speisungswunder geschaffen (vgl. V. 15: „Der Ort ist einsam.“). Vom mitleidvollen Erbarmen Jesu über das Volk war bereits in 9,36 die Rede. Matthäus nimmt dieses ihm wichtige Motiv hier auf der Basis von Mk 6,34 erneut auf, übergeht aber den Vergleich der Volksmengen mit hirtenlosen Schafen, da er diesen bereits in 9,36 aufgenommen hat, und ersetzt Jesu Lehre (Mk 6,34) durch sein heilendes Handeln (vgl. 19,2 par Mk 10,1), da sich für Matthäus die barmherzige Zuwendung Jesu zu seinem Volk vornehmlich in den Heilungen manifestiert. Auffallend ist, dass Matthäus in V. 13–21 wiederholt explizit von den Volksmengen spricht (V. 13.14.15.19[2x]), während das Wort in Mk 6,32–44 nur in V. 34 begegnet. Dieser Befund, der auch für die zweite Speisungsgeschichte in 15,29–39 charakteristisch ist, zeigt deutlich, dass die Gleichnisrede trotz 13,10–17 keinen Wendepunkt in der Erzählung darstellt: Jesu Zuwendung gilt nach wie vor den Volksmengen, und von ihnen heißt es weiterhin doppeldeutig, dass sie Jesus (nach)folgten (V. 13, vgl. zu 4,25). Die in V. 15–21 nachfolgende Erzählung von der Speisung der Menge, 15–21 der Matthäus durch Straffung und Neuformulierungen eigene Konturen gegeben hat, fügt sich an V. 14 organisch an, da es auch in dieser um das physische Wohl geht (vgl. die analoge Sequenz in 15,29–31.32–39), das zugleich transparent ist für Gottes Heilszuwendung überhaupt. Die Inter- 15–18 vention der Jünger, die Volksmengen angesichts der fortgeschrittenen Stunde zu entlassen, geschieht in fürsorglicher Absicht, doch wird man darin im Zusammenspiel mit V. 17 zugleich eine Manifestation des für sie charakteristischen Kleinglaubens (s. zu 8,26) zu erblicken haben, zumal in dem Rückblick auf die Speisungsgeschichten in 16,7–10 dann auch explizit die Anrede der Jünger als Kleingläubige begegnet. Dem Verhalten der Jünger steht die Souveränität Jesu kontrastiv gegenüber, die Matthäus gleich zu Beginn betont, indem er in V. 16 dem Befehl Jesu „gebt ihr ihnen zu essen“ die Aussage voranstellt, dass es nicht nötig sei, dass die Volksmengen weggehen. Der Betonung der Souveränität Jesu dient ferner die Auslassung des Wortwechsels in Mk 6,37b.38a: Der mt Jesus muss sich nicht erkundigen, wie viele Brote die Jünger bei sich haben. Stattdessen hat Matthäus den Verweis auf nur fünf Brote und zwei Fische als Einwand der Jünger auf den Befehl Jesu gestaltet, mit dem sie die nach ihrem Urteil be-

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stehende Unmöglichkeit des Ansinnens Jesu zum Ausdruck bringen. Zugleich wird durch die Auslassung von Mk 6,37b aber auch das mk Negativportrait der Jünger abgemildert, indem den Jüngern nicht der angesichts der realen Kassenlage geradezu spöttisch klingende Vorschlag untergeschoben wird, für 200 Denare Brot einzukaufen. Die mt Jünger reagieren auf Jesu Befehl mit einem nüchternen Verweis auf die Fakten, der für den mt Jesus Ausdruck von Kleinglauben ist, aber sie reagieren nicht respektlos. Bei Matthäus setzt sich Jesus sodann mit dem – vom Evangelisten eingefügten – Befehl, die Brote und Fische zu ihm zu bringen (V. 18), über den Einwand seiner Jünger souverän hinweg, um nachfolgend sein Tun für sich sprechen zu lassen. Zugleich füllt V. 18 eine Leerstelle der mk Version: Bevor Jesus die Brote und Fische verteilen kann, muss er sie erhalten haben. Die detaillierteren Ausführungen in Mk 6,39f über die „tischweise“ Un19 terteilung in Hundert und Fünfzig, die auf die Gliederung des Gottesvolkes in Ex 18,25; Num 31,14 (vgl. 1QS 2,21f; CD 13,1f u. ö.) anspielen dürften, hat Matthäus in dem knappen Befehl Jesu an die Volksmengen, sich auf dem Gras niederzulegen (V. 19a), bündig zusammengefasst. Das Augenmerk bleibt damit ganz auf Jesus gerichtet. Die Aufeinanderfolge von Nehmen der Brote, Sprechen des Lobpreises, Brechen der Brote und Weitergabe an die Jünger lässt an die Verteilung des Brotes beim letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern denken (26,26), d. h. die Erzählung wird hier für die Leser transparent für ihren Empfang der Heilsgaben Jesu beim Abendmahl. Die Anklänge an das Abendmahl, die Matthäus durch die Zeitangabe „als es Abend geworden war“ (V. 15, vgl. 26,20) noch verstärkt hat, sind allerdings nicht zu der Leitkategorie der Deutung zu machen, denn in erster Linie geht es um die leiblich konkrete Zuwendung zu den Volksmengen. Die Jünger fungieren dabei als Vermittler des heilvollen Handelns Jesu, wie dies durch 9,36–11,1 grundgelegt ist und in 14,19 gegenüber Mk 6,41 dadurch noch klarer hervortritt, dass Matthäus die Handlung der Jünger, ohne ein neues Verb zu setzen, direkt an Jesu Handlung anfügt: Jesus gibt die Brote den Jüngern, die Jünger den Volksmengen. Letzteres löst zugleich die Aufforderung Jesu aus V. 16 ein, doch ist nach V. 17–19 evident, dass das Tun der Jünger auf dem Initiativhandeln Jesu basiert. Die Notiz über die Fische hat Matthäus hier wie dann auch in V. 20 (vgl. Mk 6,43) unterdrückt. V. 20f konstatiert das Wunder: Alle essen, alle werden satt. Die in V. 21 20–21 näher spezifizierte Größe der Volksmenge lässt die Erzählung als eine Überbietung der wundersamen Speisung erscheinen, die in 2Kön 4,42–44 von Elisa erzählt wird (vgl. ferner 1Kön 17,7–16), zumal in struktureller Analogie zu Mt 14 auch in 2Kön 4 dem Befehl, den Leuten zu essen zu geben, mit einem Verweis auf die zu geringe Brotmenge begegnet wird. Elisa speiste mit zwanzig Broten hundert Männer, und es bleibt in nicht näher

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bestimmter Menge etwas übrig; Jesus speiste mit nur fünf Broten und zwei Fischen ungefähr fünftausend Männer plus Frauen und Kinder, die Matthäus ausdrücklich in der Menge des sich um Jesus scharenden Volkes einbezogen wissen möchte, und das Übriggebliebene scheint noch mehr zu sein, als zur Verfügung stand. Die implizite Botschaft ist daher, dass Jesus weit mehr ist als Elisa (vgl. 12,41f). Eine Reaktion wird weder von den Jüngern noch von den Volksmengen geschildert. Bei Letzteren ist ohnehin offen, inwiefern sie in der Erzählung überhaupt als Zeugen des wundersamen Geschehens gedacht sind. Die Jünger hingegen wissen, wie wenig Nahrung zur Verfügung stand, und angesichts der zwölf Körbe wird Matthäus auch bei denen, die die Brocken einsammelten (V. 20b), allein an die Jünger gedacht haben. Diese erhalten also wiederum in besonderer Weise einen Einblick in Jesu Vollmacht (vgl. bereits 8,23–27). Die nachfolgende Erzählung in 14,22–33 setzt ebendiesen Aspekt unmittelbar fort und bietet dann auch in V. 33 eine Antwort der Jünger auf das wundersame Geschehen. Fragt man nach dem Realitätsgehalt der Erzählung, ist nüchtern zu konstatieren, dass das Geschenkwunder der Speisung der Fünftausend ähnlich wie die Totenauferweckung in 9,18–26 jenseits des Denkmöglichen steht. Der neuzeitliche Leser kann Mt 14,13–21 kaum anders denn als eine mythische Erzählung verstehen, die – anknüpfend an die Erfahrungen der Tischgemeinschaften Jesu und mit einem Seitenblick auf das eschatologische Festmahl (Jes 25,6–8; 1Hen 62,14; 2Hen 42,5) oder möglicherweise gar auf die Vision endzeitlicher Nahrungsfülle (2Bar 29,3–8), die alle menschliche Not behoben sein lässt – als Überbietung von 2Kön 4,42–44 geformt wurde. Wenn man sie nicht einfach als eine schöne Geschichte auf sich beruhen lassen möchte, bleibt die Option, sie als eine symbolische Geschichte aufzufassen: Ausgehend von V. 19 kann man in ihr die Heilszuwendung im Abendmahl illustriert sehen, oder man kann sie – auf der Linie des in 4,4 zitierten Wortes aus Dtn 8,3 – auf die Stillung des Lebenshungers durch Jesus beziehen. Man muss dann allerdings umgekehrt ehrlicherweise konstatieren, dass Matthäus selber in ihr mehr gesehen hat und sich zumindest die zweite Option von Matthäus erheblich entfernt, weil die konkrete Dimension der Stillung des Hungers für ihn analog zu den Heilungen von Gewicht war. In diesem Sinn kann man, auch wenn das Moment der wundersamen Brotvermehrung unzugänglich bleibt, der Erzählung – zumal im Zusammenspiel mit der Brotbitte des Vaterunsers (6,11) – immerhin die Botschaft entnehmen, dass Gottes Heilswille sich auch auf die Stillung der leiblichen Grundbedürfnisse bezieht. Wenn Letzteres so ist, müsste im heutigen globalen Kontext für die, die Jesus nachfolgen, aus dem Wunder der Brotvermehrung das „Wunder“ des zwischenmenschlichen Teilens der Lebensgüter folgen: Alle essen, alle werden satt, und es bleibt noch mehr als genug übrig.

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III 5.2.2 Der Seewandel Jesu (14,22–36) 22 Und sogleich drängte er die Jünger, in das Boot zu steigen und ihm ans jenseitige Ufer vorauszufahren, bis er die Volksmengen fortgeschickt hätte. 23 Und als er die Volksmengen fortgeschickt hatte, stieg er auf den Berg, für sich allein, um zu beten. Als es aber Abend geworden war, war er dort allein. 24 Das Boot aber war schon viele Stadien vom Land entfernt, als es von den Wellen bedrängt wurde, denn der Wind war (ihnen) entgegen. 25 Aber in der vierten Nachtwache kam er zu ihnen, indem er auf dem Meer einherging. 26 Und als die Jünger ihn auf dem Meer einhergehen sahen, gerieten sie in Verwirrung und sagten: „Es ist ein Gespenst!“ Und sie schrien vor Furcht. 27 Sogleich aber redete Jesus zu ihnen und sagte: „Seid guten Mutes! Ich bin es. Fürchtet euch nicht!“ 28 Petrus aber antwortete ihm und sagte: „Herr, wenn du es bist, so befiehl mir, auf dem Wasser zu dir zu kommen!“ 29 Er aber sprach: „Komm!“ Und Petrus stieg aus dem Boot hinab und ging auf dem Wasser einher und kam auf Jesus zu. 30 Als er aber den starken Wind sah, fürchtete er sich; und als er anfing zu versinken, schrie er und sagte: „Herr, rette mich!“ 31 Sogleich aber streckte Jesus die Hand aus, ergriff ihn und sagt zu ihm: „Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“ 32 Und als sie in das Boot (hinauf)gestiegen waren, legte sich der Wind. 33 Die aber in dem Boot waren, huldigten ihm und sagten: „Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn!“ 34 Und als sie hinübergefahren waren, kamen sie in Gennesaret an Land. 35 Und als die Männer jenes Ortes ihn erkannten, schickten sie in jene ganze Umgegend. Und sie brachten alle Kranken zu ihm. 36 Und sie baten ihn, dass sie nur die Quaste seines Gewandes berühren (dürften). Und alle, die berührten, wurden gerettet. Die Perikope vom Seewandel Jesu aus Mk 6,45–52 hat Matthäus insbesondere durch die Einfügung der Petrusepisode in V. 28–31 und die Neufassung des Schlusses in V. 33 (par Mk 6,51b.52) in inhaltlich bedeutsamer Weise umgestaltet. Im weiteren Kontext betrachtet, zeigt sich die Perikope als enge Verwandte der Sturmstillungsgeschichte in 8,18.23–27. V. 22f bereitet nicht nur die neue Szene vor, sondern weist zugleich 22–23 enge Bezüge zur vorangehenden Erzählung auf, so dass die Verse am besten als Überleitung zu klassifizieren sind. In V. 13f zog Jesus sich für sich allein an einen einsamen Ort zurück, wurde dabei aber durch die bei ihm zusammenströmende Volksmenge unterbrochen. Nun heißt er zunächst die Jünger, ihm mit dem Boot (vgl. V. 13) vorauszufahren, schickt dann die nunmehr gesättigten Volksmengen fort (vgl. V. 15), um schließlich, für sich allein (vgl. V. 13), auf den Berg (vgl. 5,1; 15,29) zu steigen, um zu beten. Die Zeitangabe „als es Abend geworden war“ wiederholt –

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angesichts der dazwischenliegenden Ereignisse eigentlich unpassend – V. 15a. Mit V. 24 wendet sich die Erzählung den Jüngern auf dem See zu. Ähnlich wie in 8,24 geraten sie durch den Wellengang in Not. Anders als Mk 6,48a schildert Matthäus die Begebenheit nicht als das, was Jesus vom Land aus wahrnimmt. Die Not der Jünger steht erst einmal für sich. Im Unterschied zu Mt 8,24 ist Jesus diesmal nicht einmal schlafend bei ihnen. Erst gegen Ende der Nacht – die vierte Nachtwache meint die Zeit zwischen 3 und 6 Uhr – kommt Jesus zu ihnen. Das Epiphaniemotiv aus Mk 6,48, dass Jesus an den Jüngern vorbeigehen wollte (vgl. Ex 33,19–23; 34,6; 1Kön 19,11), hat Matthäus zugunsten der Konzentration auf das Kommen Jesu zu den Jüngern ausgelassen. Das Gehen von Menschen über Wasser kommt in der hellenistischen Umwelt vereinzelt als Motiv vor (z. B. Dion Chrysostomos, Or 3,30; Lukian, Philops 13), gilt aber gemeinhin, zumal im atl.-jüdischen Kontext, als Privileg Gottes und ist entsprechend Ausweis einer göttlichen bzw. von (einer) Gott(heit) verliehenen Fähigkeit. Instruktiv ist die Polemik gegen Antiochus IV. in 2Makk 5,21, dass jener geglaubt habe, er könne „das Land schiffbar und das Meer begehbar machen“. Zu Mt 14,25 ist insbesondere Ijob 9,8 (LXX) als Intertext zu beachten, wo es von Gott heißt, dass er auf dem Meer umhergeht wie auf dem Erdboden. Jesus wird hier also eine Vollmacht zugeschrieben, die für atl.-jüdisch geprägte Leser ansonsten allein Gott zukommt. Die Reaktion der Jünger in V. 26 ist daher nur allzu verständlich. Jesu Worte an die Jünger in V. 27 führen in christologischer Hinsicht die mit dem Seewandel angezeigte Linie fort. Denn die Wendung „ich bin es“ lässt eine im AT mehrfach im Zusammenhang der Offenbarung Gottes begegnende Selbstvorstellungsformel anklingen (Dtn 32,39; Jes 43,10; 45,18f u. ö., vgl. auch Ex 3,14). Jesu Worte „seid guten Mutes! Ich bin es“ sind also nicht nur beruhigender Zuspruch an die Jünger, mit dem er sich ihnen zu erkennen gibt und ihrer Furcht begegnet, dass sie es mit einem Gespenst zu tun hätten, sondern zugleich auch Ausdruck seiner göttlichen Dignität. Dem fügt sich ein, dass der Zuspruch „fürchtet euch nicht!“ im AT verbreitet im Kontext der Selbstoffenbarung Gottes begegnet (Gen 15,1; 26,24; 28,13 LXX ; Ri 6,23; Jes 41,13; 43,1 u. ö.). Auf die Selbstvorstellung und den Zuspruch Jesu hin fasst Petrus Glaubensmut, Jesus auf dem Wasser entgegenzugehen. Petrus weiß allerdings, dass er dies nicht aus eigener Macht vermag. Vielmehr macht er sein Gehen auf dem Wasser von einem entsprechenden Befehl Jesu abhängig; ihm muss die Fähigkeit dazu von Jesus zugesprochen werden. Die einleitende Wendung „wenn du es bist“ greift dabei direkt Jesu hoheitsvolles „ich bin es“ auf. Petrus’ Worte unterstreichen damit, dass das Gehen auf dem Wasser eben ein göttliches Privileg ist, das Menschen nur dann zukommen kann, wenn Gott ihnen diese Fähigkeit verleiht. Jesus handelt hier also in

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göttlicher Vollmacht, wenn er Petrus heißt, zu ihm zu kommen. Tatsächlich kann nun auch Petrus das an sich Unmögliche tun – wie dem Glaubenden in 17,20; 21,21 zugesagt ist, Berge versetzen zu können. Erst als Petrus nicht mehr auf Jesus, sondern auf den starken Wind schaut, der hier zum Symbol für die Bedrängnis der Nachfolger Jesu wird, und sein Glaube der erneuten Furcht weicht (V. 30, vgl. V. 26), beginnt er zu sinken. Sein Schrei (vgl. wiederum V. 26) „Herr, rette mich“ lässt zum einen an 8,25 zurückdenken, zum anderen werden die mit dem Psalter vertrauten Leser aber auch den Anklang an Ps 69,2 f.15f vernehmen. Dies bedeutet umgekehrt: Wenn die Gemeinde den Psalm betet, sollen die Versammelten an die Bewahrung des Petrus durch Jesus denken und dadurch in ihren eigenen Notlagen Zuversicht gewinnen. Jesus zeigt sich wie in 8,23–27 als souveräner Herr der Situation. Das Ausstrecken der Hand (vgl. 12,49) trägt wiederum biblisches Kolorit (vgl. z. B. Ex 3,20; 14,16.21; Ps 144,7) und ist hier Zeichen für die Jesus zukommende Macht: Jesu göttliche Dignität zeigt sich nicht nur in seiner Fähigkeit, über Wasser gehen zu können, sondern nicht weniger auch in seiner Vollmacht, retten zu können. Sein Wort an Petrus in V. 31 erinnert wiederum an die Sturmstillung: Wie Jesus dort die Angst der Jünger als Ausdruck von Kleinglauben dechiffrierte (8,26), so spricht er nun Petrus als Kleingläubigen an, dem der Blick auf die stürmischen Umstände die Fähigkeit raubte, die ihm als Glaubendem zunächst zugekommen war (zum Kleinglauben s. zu 8,26). Neu ist in 14,31, dass Kleinglaube explizit als Zweifel ausgelegt wird. In 28,17 wird Matthäus auf das Motiv des Zweifels zurückkommen. Im Blick auf die Figur des Petrus zeigen die Aufnahme von Motiven aus der ersten Jüngerszene in V. 26 (Furcht, schreien) und die Querverbindungen zu 8,23–27 sowie 28,17, dass Petrus hier nicht eine Sonderstellung zugewiesen werden soll, sondern er als exemplarischer Jünger zu verstehen ist. Dem Hinabsteigen von Petrus aus dem Boot in V. 29 entspricht in V. 32, 32 dass Jesus und er nun in das Boot hinaufsteigen. Wie in 8,26 beruhigt sich nun der Wind. Der Schilderung der Notlage in V. 24 korrespondiert nun die Behebung der Not, so dass sich V. 24 und V. 32 strukturell als Rahmen 33 um die beiden Episoden in V. 25–27.28–31 erweisen. V. 33 beleuchtet abschließend die christologische Konsequenz, die sich den Jüngern aus dem Geschehen erschließt. Anders als in 8,27 steht nun nicht nur fassungslose Verwunderung am Ende, sondern ein Bekenntnis. Die Frage in 8,27, wer dieser sei, dass ihm auch die Winde und das Meer gehorchen, erhält jetzt ihre vollgültige Antwort, und zugleich findet, im engeren Kontext betrachtet, die Äußerung der Nazarener in 13,55, Jesus sei der Sohn des Zimmermanns, ihre Korrektur: Wer Vollmacht über die Elemente hat, über Wasser gehen und auch noch retten kann, der kann niemand anders als der Sohn Gottes sein. Wie die Vollmacht Jesu, die sich hier manifes-

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tiert, die in seinen Heilungen zutage tretende Vollmacht übersteigt, so übersteigt die in dem Gottessohnbekenntnis der Jünger sich äußernde christologische Erkenntnis die von den Volksmengen in 12,23 erwogene Identifizierung Jesu als davidischer Messias. Vergleicht man den mt Schluss der Perikope mit Mk 6,51b.52, so ist die Proskynese der Jünger und ihr Gottessohnbekenntnis das wohl offenkundigste Beispiel für die Korrektur, die Matthäus am mk Jüngerbild vorgenommen hat, denn die mk Perikope endet damit, dass die Jünger sich entsetzen und der Erzähler dies mit den Worten quittiert, dass sie durch die Brote (Mk 6,30–44) nicht verständig geworden waren, sondern ihr Herz verstockt war. Und während in der mk Konzeption erstmals mit dem Hauptmann unter dem Kreuz ein Mensch Jesus als Gottessohn bekennt (Mk 15,39), erschließt sich bei Matthäus schon in 14,33 dem Kreis der mit „verstehendem Herzen“ wahrnehmenden Jünger (vgl. 13,10–17) die Gottessohnschaft Jesu. Die mt Fassung des Bekenntnisses des Petrus in 16,16 schreibt diesen Aspekt fort. Dabei sind zusammenfassend zwei Aspekte festzuhalten, die das Gottessohnbekenntnis der Jünger inhaltlich bestimmen: Jesus hat zum einen durch seinen Wandel über das tobende Wasser und das abschließende Ablassen des Windes (vgl. 8,23–27) eine Vollmacht bewiesen, die ihn in die Nähe Gottes rückt. Zum anderen hat sich Jesus gegenüber dem sinkenden Petrus als Retter erwiesen (vgl. neben Ps 144,7 z. B. noch Ps 18,17; 107,23–32): In Jesus, dem Immanuel (1,23), manifestiert sich die rettende Macht Gottes (vgl. 1,21). Im weiteren Kontext des Mt bedeutet dies: Das Gottessohnbekenntnis ist in 14,33 noch einseitig an der göttlichen Vollmacht Jesu orientiert; die Integration der Passion in das Verständnis Jesu als Sohn Gottes steht den Jüngern noch bevor (vgl. zu 16,21–23). Gingen der Speisung der Fünftausend in V. 14 Heilungen voran, so 34–36 schließt sich in V. 34–36 eine weitere summarische Darstellung des heilenden Handelns Jesu an: Als Jesus und seine Jünger in Gennesaret an Land gehen, werden sogleich wieder die Kranken zu Jesus gebracht (vgl. 4,24; 8,16; 9,2.32; 12,22). Matthäus hat die Vorlage Mk 6,53–56 erheblich gekürzt; insbesondere wird das Geschehen durch die Streichung von Mk 6,56a örtlich auf Gennesaret konzentriert. Im Unterschied zu den Summarien in 4,23; 9,35 geht es also in V. 34–36 – analog zu V. 14 – allein um Jesu heilendes Wirken an einem bestimmten Ort (vgl. 8,16). Die an Mk 6,56b anschließende Weise, wie die Heilungen in V. 36 beschrieben werden, ist im Konzert der sonstigen mt Summarien ungewöhnlich. Sie lässt im weiteren Kontext sowohl mit dem Motiv des Berührens der Quaste des Gewandes Jesu (vgl. zu 9,20) als auch mit der Rede vom Gerettetwerden an die blutflüssige Frau in 9,20–22 zurückdenken und reiht damit, umgekehrt formuliert, 9,20–22 nachträglich als ein Beispiel in einen größeren Zusammenhang ein.

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III 5.3 Der Streit mit den Pharisäern und Schriftgelehrten über die Reinheit (15,1–20) 1 Da kommen Pharisäer und Schriftgelehrte von Jerusalem zu Jesus und sagen: 2 „Warum übertreten deine Jünger die Überlieferung der Alten? Denn sie waschen ihre Hände nicht, wenn sie Brot essen.“ 3 Er aber antwortete und sprach zu ihnen: „Warum übertretet auch ihr, (nämlich) das Gebot Gottes um eurer Überlieferung willen? 4 Denn Gott hat gesagt: ‚Ehre den Vater und die Mutter!‘, und: ‚Wer Vater oder Mutter schmäht, soll des Todes sterben!‘ 5 Ihr aber sagt: ‚Wer zum Vater oder zur Mutter sagt: Eine Opfergabe sei das, was immer du von mir an Nutzen hättest, 6 der darf seinen Vater nicht ehren.‘ Und so habt ihr das Wort Gottes außer Kraft gesetzt um eurer Überlieferung willen. 7 Heuchler! Treffend hat Jesaja über euch geweissagt, der sagte: 8 ‚Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von mir. 9 Vergeblich aber verehren sie mich, indem sie als Lehren Gebote von Menschen lehren.‘“ 10 Und er rief die Volksmenge herbei und sagte zu ihnen: „Hört und versteht! 11 Nicht was in den Mund hineingeht, macht den Menschen unrein, sondern was aus dem Mund herausgeht, das macht den Menschen unrein.“ 12 Da traten die Jünger hinzu und sagen zu ihm: „Weißt du, dass die Pharisäer Anstoß nahmen, als sie das Wort hörten?“ 13 Er aber antwortete und sagte: „Jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerissen werden. 14 Lasst sie! Sie sind blinde Führer. Wenn aber ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in eine Grube fallen.“ 15 Petrus aber antwortete und sagte zu ihm: „Deute uns dieses Gleichnis!“ 16 Er aber sagte: „Seid auch ihr noch unverständig? 17 Versteht ihr nicht, dass alles, was in den Mund hineingeht, in den Bauch geht und in den Abort ausgeworfen wird? 18 Was aber aus dem Mund herausgeht, kommt aus dem Herzen heraus, und jenes macht den Menschen unrein. 19 Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken heraus, Morde, Ehebrüche, Unzuchtsünden, Diebstähle, falsche Zeugnisse, Lästerungen. 20 Das ist es, was den Menschen unrein macht. Aber mit ungewaschenen Händen zu essen, macht den Menschen nicht unrein.“ Auf den Block in 14,13–36, in dem die Darstellung des vollmächtigen Wirkens Jesu fortgeführt wurde, folgt in 15,1–20 eine erneute Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten und Pharisäern. Gegenüber der Markusvorlage (Mk 7,1–23) hat Matthäus nicht nur den Aufbau des Textes bedeutsam verändert, indem er Mk 7,3f ausgelassen, 7,6f und 7,8–13 umgestellt sowie mit V. 12–14 einen neuen Passus eingefügt hat. Es tritt in Mt 15 vielmehr auch inhaltlich eine grundlegend andere Position zur Geltung der Tora zutage, denn anders als Markus hat Matthäus aus dem Spezialfall des Hän-

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dewaschens vor dem Essen keine prinzipielle Außerkraftsetzung der Unterscheidung von reinen und unreinen Speisen abgeleitet (vgl. Mk 7,19). Die Auslassung von Mk 7,3f ist nicht nur darin begründet, dass die mk Erläuterung jüdischer Bräuche dem ersten Evangelisten angesichts seines jüdisch geprägten Adressatenkreises überflüssig erschien; er wird sie vielmehr auch als unzutreffend erachtet haben, da es sich für ihn beim Händewaschen vor dem Essen nicht, wie Markus aus seiner Außenperspektive postuliert, um einen von allen Juden praktizierten Brauch handelt (Mk 7,3), sondern um eine pharisäische Sonderlehre (ausführlicher thematisiert werden Händewaschen und Unreinheit der Hände in mJad 1,1–3,5). Matthäus selbst würde – wie wohl die Mehrzahl der Gemeindeglieder in seinem Umfeld – kaum unterschreiben, kein Jude zu sein. Die Auseinandersetzung über das Händewaschen vor dem Essen liest 1–2 sich im Gesamtkontext von 11,2–16,20 als eine Art Seitenstück zur Sabbatkontroverse in 12,1–8. In beiden Fällen geht es um im pharisäischen Verständnis zentrale Bereiche jüdischer Identität, und wie in 12,2 wird Jesus mit einem Vorwurf konfrontiert, der das Verhalten seiner Jünger betrifft. Zugleich dokumentiert sich in 15,1–9 auch die durch die Sabbatkontroversen eingetretene Verschärfung des Konflikts. In Mt 9,2–13; 12,1–14 ging es noch um lokale Konflikte mit vor Ort befindlichen Pharisäern und Schriftgelehrten. Nun aber treten – im Mt erstmals (vgl. im Mk zuvor 3,22) – Pharisäer und Schriftgelehrte aus Jerusalem auf. Es kommt hinzu, dass anders als in 12,1f – und auch anders als in Mk 7,2 – kein aktueller Anlass für die Anklage der Pharisäer und Schriftgelehrten geschildert wird. Dies vermittelt den Eindruck, dass das religiöse Establishment aus Jerusalem auf Jesus aufmerksam (gemacht) wurde und nun durch die Nachrichten über Jesus und seine Jünger aufgeschreckt eigens aus der Metropole herbeigekommen ist, um die Auseinandersetzung mit ihm zu suchen. Zentral für das Verständnis des Textes ist, dass es sich beim Händewaschen vor dem Essen nicht um ein Gebot der Tora handelt. Nach Ex 30,17–21 sollen sich die Priester die Hände in einem eigens dafür aufgestellten Kupferbecken waschen, bevor sie in die Stiftshütte oder zum Altar gehen (vgl. Josephus, Ant 8,86f). Aus Lev 15,11 wird ferner deutlich, dass das Waschen der Hände vor der Übertragung von Unreinheit schützt. Aber ein Gebot zum Waschen der Hände für Laien beim Essen gibt es nicht. Dieses ist vielmehr Teil des pharisäischen Programms zur Heiligung des Alltags durch entsprechende Extension priesterlicher bzw. für den Tempel geltender Reinheitsvorstellungen. Der christusgläubige Jude Matthäus weiß dies. Er legt daher sein Augenmerk in V. 1–9 auf die klare Unterscheidung zwischen den Geboten Gottes in der Tora und den Satzungen von Menschen, rechnet die „Überlieferung der Alten“, womit die – mündlich tradierte – Gesetzesauslegung der Pharisäer (vgl. Josephus,

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Ant 13,297f) würdevoll bezeichnet wird, diskussionslos eben zur Menschensatzung (vgl. V. 9) und lässt so den Vorwurf der Übertretung der „Überlieferung der Alten“ als irrelevant ins Leere laufen: Diese ist im kategorialen Unterschied zur Tora keine autoritative Größe, sondern bloßes Menschenwerk. Vor diesem Hintergrund ist es nichts anderes als konsequent, dass Jesus 3 auf die Frage in V. 2 inhaltlich überhaupt nicht eingeht. Stattdessen geht Jesus sogleich zum Gegenangriff über. Matthäus hat dabei in V. 3–9 nicht nur Mk 7,8–13 vor Mk 7,6f gestellt, sondern zugleich auch Mk 7,8f so umgestaltet, dass der Vorwurf der Schriftgelehrten und Pharisäer (V. 2) in V. 3 prägnant durch einen zu diesem parallel formulierten Gegenvorwurf erwidert wird: „Warum übertretet auch ihr …?“. Matthäus’ rhetorische Gestaltung birgt dabei die Gefahr eines Missverständnisses, sofern man in dem „auch ihr“ impliziert sehen kann, dass die Jünger ebenfalls Gottes Gebot übertreten. Matthäus kommt es aber darauf an, die Übertretung der Überlieferung der Alten auf der einen Seite und die Übertretung des Gebots Gottes um der Überlieferung der Alten willen einander gegenüberzustellen. Das „auch“ ist also allein darauf zu beziehen, dass die Schriftgelehrten und Pharisäer ebenfalls „Übertreter“ sind, aber – im Unterschied zu den Jüngern – des Gebots Gottes. Sachlich ist also in V. 3 nach „warum übertretet auch ihr“ eine Zäsur zu setzen, die in der obigen Übersetzung durch die Einfügung von „nämlich“ verdeutlicht ist. Klingt der Ton der Frage in V. 2 aufgrund der Ersetzung von „nicht wandeln nach“ (Mk 7,5) durch „übertreten“ bei Matthäus (noch) schärfer als bei Markus, so erschließt sich diese Änderung vollends erst von V. 3 her: Matthäus möchte die Autoritäten prägnant als Übertreter des Gebots Gottes darstellen. Zudem deutet sich in V. 3 die Abwertung der pharisäischen Überlieferung als Menschensatzung bereits darin an, dass Jesus die ehrwürdige Bezeichnung „Überlieferung der Alten“ nicht aufnimmt und stattdessen wie dann auch in V. 6 von „eurer Überlieferung“ spricht. Ist mit V. 3 pointiert der Vorwurf eines inhaltlichen Dissenses zwischen 4–6 Gottes Gebot und der pharisäischen Überlieferung erhoben, so wird dies in V. 4–6 am Beispiel der mit dem Dekaloggebot der Elternehre konfligierenden pharisäischen Gelübdepraxis exemplifiziert. In der Einleitung zum Gebot der Elternehre aus Ex 20,12; Dtn 5,16 hat Matthäus – ganz im Sinne der Gegenüberstellung von Gebot Gottes und Satzung von Menschen – „Mose sagte“ (Mk 7,10) durch „Gott sagte“ (V. 4) ersetzt, um dem in V. 5 pointiert „ihr aber sagt“ entgegenzustellen. Dem Dekaloggebot ist in V. 4b mit dem Zitat von Ex 21,17 bzw. 21,16 LXX (s. auch Lev 20,9) noch ein zweites die Eltern betreffendes Schriftwort zur Seite gestellt, um über den Hinweis auf die in der Tora für die Schmähung der Eltern vorgesehene Todesstrafe die große Bedeutung der Elternehre zu betonen. Dennoch haben die Pharisäer, so der in V. 5f erhobene Vorwurf, eine Gelübdepraxis ent-

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wickelt, die auf eine Entbindung von Versorgungspflichten gegenüber den Eltern hinauslaufen kann und dann gegen das Gebot der Elternehre verstößt: Besitz, der für die Versorgung der Eltern, die nicht mehr für sich selbst sorgen können, aufgewendet werden sollte, wird mittels eines Gelübdes dem Tempel geweiht und damit den hilfsbedürftigen Eltern entzogen. Matthäus legt den Pharisäern dabei sogar eine Regelung in den Mund, die in V. 6a als direkte Aufhebung des Dekaloggebots formuliert ist. Historisch gerecht ist dieser Vorwurf sicher nicht, denn die Pharisäer haben keineswegs gezielt eine Aushöhlung des fünften Gebots betreiben wollen. Historische Grundlage des Vorwurfs könnte aber die Hochschätzung von – nach der Tora selbst unbedingt einzuhaltenden (Num 30,3; Dtn 23,24) – Gelübden bei den Pharisäern sein, deren Missbrauch sie nicht entschieden genug einen Riegel vorgeschoben haben. Mt 15,4–6 behaftet die Pharisäer – in polemischer Überspitzung – mit dem damit gegebenen Problem: Auf der Basis einer falschen Gewichtung unter den Torageboten, nach der das Einhalten von Gelübden sogar dem Dekaloggebot der Elternehre übergeordnet wird, haben sie in ihrer „Überlieferung“ die Gelübdefrage in einer Weise ausgelegt, die zur offenen Missachtung der Elternehre führt. Nach Matthäus’ Gesetzesverständnis gebührte im Falle des Konfliktes zwischen zwei Geboten – wie hier zwischen dem Einhalten von Gelübden und der Elternehre – hingegen der sozialen Verpflichtung der Vorrang (vgl. 12,5–7). Ein ethisch fragwürdiges Gelübde wäre daher für Matthäus von vornherein widergöttlich und damit gegenstandslos. Auf der Basis des Aufweises einer von ihrer Überlieferung legitimierten 7–9 Übertretung eines zentralen Gebotes Gottes in V. 4–6 lässt Jesus in V. 7–9 eine generelle Charakterisierung seiner Gegner folgen, indem er sie als Heuchler – also als Menschen, die den Schein zu erwecken suchen, etwas anderes zu sein als sie sind – anspricht (vgl. 22,18; 23,13–29) und das, was Jesaja zu seiner Zeit über das Volk gesagt hat, auf sie bezieht. Das Zitat aus Jes 29,13 fügt sich ausgesprochen gut in den Kontext ein. Die erste Zeile nimmt das Verb des Gebots der Elternehre auf; die letzte Zeile bringt die Abqualifizierung ihrer Überlieferung als „Gebote von Menschen“ auf den Punkt. Mittels ihrer Pflege der „Überlieferung der Alten“ suchen sie den Eindruck zu erwecken, fromm zu sein, doch trügt der Schein. Denn wenn Gott durch ein Gelübde geehrt werden soll, das die Elternehre untergräbt, kann es sich bei dieser Form von Gottesehre nur um Lippenbekenntnisse von Menschen handeln, deren Herz in Wirklichkeit weit von Gott entfernt ist, und bei den halachischen Bestimmungen, die eine solche Form vermeintlicher Gottesehre gestatten, um Menschengebote, die mit dem Willen Gottes unvereinbar sind. Die Pharisäer und Schriftgelehrten kommen nicht mehr zu Wort. Die Auseinandersetzung mit ihnen ist mit dem Aufweis ihrer Missachtung des Gotteswillens und ihrer Heuchelei, die sie als Kritiker der Jünger denkbar

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ungeeignet erscheinen lässt, für Jesus beendet. Sie überzeugen zu wollen, hat sich längst als sinnlos erwiesen; sie sind ohnehin nicht willens auf Jesus 10–11 zu hören, wie 12,7 im Kontext von 9,13 gezeigt hat. Stattdessen wendet Jesus sich den Volksmengen zu. Erst jetzt geht er inhaltlich auf den Vorwurf in V. 2 ein. Den Volksmengen gegenüber ist eine Klärung des Vorwurfs wichtig, denn sie sollen davor bewahrt werden, durch die Autoritäten in die Irre und damit ins Verderben geführt zu werden (vgl. V. 14). Der einleitende Aufruf „hört und versteht“ macht deutlich, dass mit 13,13–15 kein finales Urteil über die Volksmengen gefällt wurde. Inhaltlich ist zu beachten, dass Matthäus in V. 11a die kategorische und pauschale Formulierung von Mk 7,15 „nichts ist, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein zu machen vermag“ zu der einfachen Feststellung abgemildert hat: „nicht was in den Mund hineingeht, macht den Menschen unrein“. Zieht man die Änderung von Mk 7,18f in V. 17, die Streichung des mk Kommentars in Mk 7,19 („damit erklärte er alle Speisen für rein“) sowie den in V. 20b angefügten Rekurs auf die Ausgangsfrage in V. 2 hinzu, legt sich die Annahme nahe, dass Matthäus auch V. 11a allein auf den in V. 2 aufgeworfenen Fall bezieht und bezogen wissen möchte. V. 11b stellt dem ethisches Fehlverhalten gegenüber; dieses verunreinigt den Menschen. Analog zur Formulierung in V. 11a spricht Matthäus dabei von dem, was aus dem Mund herausgeht und lässt so insbesondere an Zungensünden denken. Matthäus dürfte dabei zumindest auch einen Rückverweis auf die Auseinandersetzung mit den Pharisäern in 12,34–37 im Sinn gehabt haben: Böswillige Worte, wie sie die Pharisäer gegen Jesus äußern, sind es, die unrein machen. Die Unterweisung der Jünger wird dann in V. 18–20 noch andere Vergehen neben den Zungensünden in den Blick nehmen. Der kurzen Belehrung der Volksmengen folgt in V. 12–20 ein zweiglied12–14 riger Dialog mit den Jüngern, in dem der Erläuterung von V. 11 in V. 15–20 mit V. 12–14 ein erster kürzerer Gesprächsgang vorgeschaltet ist, mit dem Matthäus der Abqualifizierung der Pharisäer Nachdruck verleiht. Ob der Hinweis der Jünger, dass die Pharisäer (von den in V. 1 aus Mk 7,1 übernommenen Schriftgelehrten ist nun nicht mehr die Rede) an Jesu Wort Anstoß nahmen, eher auf V. 11 – die Jerusalemer Autoritäten wären dann bei der Unterweisung des Volkes noch zugegen gewesen – oder eher auf V. 3–9 zu beziehen ist, lässt sich kaum (alternativ) entscheiden. So oder so weist ihre Reaktion sie im Lichte von 11,6 betrachtet (vgl. auch 13,57) als solche aus, die im Unheil verharren. Jesu Replik untermauert dies. Das Wort von der Pflanzung in V. 13 nimmt einen geläufigen erwählungstheologischen Terminus auf (Jes 61,3; Jer 32,41; 1Hen 62,8; 93,2.5.10; Jub 7,34; CD 1,7; 1QS 8,5 u. ö.); Jesus bestreitet den Pharisäern also mit einer solennen Gerichtsansage ihren erwählungstheologischen Anspruch, um sie dann in V. 14 (vgl. Lk 6,39 [= Q]) speziell als Toralehrer zu diskreditieren: Sie sind blinde Führer (vgl. 23,16.24; die Lesart „blinde Führer der

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Blinden“ in 15,14 dürfte sekundär sein). Dass die Jünger hier mit den Worten „lasst sie!“ ausdrücklich aufgefordert werden, die Pharisäer zu ignorieren, könnte dabei ein Indiz sein, dass diese für einige Gemeindeglieder eine durchaus attraktive Alternative darstellten. Gerade deshalb fällt die mt Polemik so konsequent und so scharf aus. Nachdem in V. 12 wie in Mk 7,17 die Jünger gesamthaft auf die Reaktion 15–16 der Pharisäer verwiesen haben, lässt Matthäus in V. 15, der eigentlichen Parallele zu Mk 7,17, Petrus (vgl. zuvor 14,28–31) als Sprecher der Gruppe fungieren (vgl. zu dieser Abfolge 18,1.21 und 19,25.27). Die Bitte um Erläuterung des Gleichnisses bzw. Denkspruchs bezieht sich, wie die Replik Jesu zwingend erweist, auf V. 11 zurück. Sollten die Volksmengen in V. 10f zum Verstehen geführt werden, so erweisen sich nun die Jünger ihrerseits als noch unverständig (V. 16) und der Verstehenshilfe bedürftig. Die klare Gegenüberstellung von Volksmengen und Jüngern in 13,10–23 wird hier also auch auf Seiten der Jünger aufgeweicht. Die Erläuterung von V. 11a in 17–18 V. 17 ist gegenüber Mk 7,18b.19 signifikant verkürzt. Wiederum hat Matthäus den grundsätzlichen Charakter der mk Aussage (V. 18: „… vermag nicht unrein zu machen“) abgemildert. Die Aussage, dass es durch das, was in den Mund hineingeht, nicht zur Verunreinigung kommt, findet nun darin ihre Erläuterung, dass dieses lediglich in den Magen geht und schließlich ausgeschieden wird. V. 18 wendet sich der Entfaltung von V. 11b zu: Das aus dem Mund Herausgehende verunreinigt den Menschen, weil es aus dem Herzen kommt. Matthäus folgt Markus zwar nicht darin, dass aus dem Spezialfall des Händewaschens vor dem Essen eine grundsätzliche Abrogation der Speisegebote abgeleitet wird (Mk 7,19) – dies würde Matthäus in einen Widerspruch zu 5,18 bringen –, aber er etabliert die Herzensreinheit (vgl. 5,8) als das entscheidende Moment, das über Reinheit bzw. Unreinheit entscheidet. Reinheit wird damit zu einer vornehmlich ethischen Kategorie (vgl. z. B. TestAss 2,8f; PseudPhok 228; Philo, SpecLeg 1,257–260; 3,208f, frühchristlich z. B. Jak 1,27; 4,8). Die Rede vom Herzen, die im Kontext an das Zitat von Jes 29,13 (V. 8 par Mk 7,6) zurückdenken lässt, fehlt in der direkten mk Parallele zu V. 18 (Mk 7,20), ist aber durch Mk 7,19.21 inspiriert. Im mt Textduktus wird mit der expliziten Rückführung der Verunreinigung durch das, was aus dem Mund hervorgeht, auf das Herz der Übergang zum Lasterkatalog in V. 19 19 geschaffen. Denn während V. 11a zunächst eine Konzentration dessen, was den Menschen unrein macht, auf Zungensünden nahelegte, erscheinen die Zungensünden, indem das Herz als Quelle der Unreinheit namhaft gemacht wird, nunmehr lediglich als ein Beispiel, dem in V. 19 weitere zur Seite treten. Die deutliche Anlehnung an den Dekalog in V. 19 gibt – analog zur Eröffnung der Antithesenreihe in 5,21–30 und zu 19,18f – die große Bedeutung zu erkennen, die Matthäus den Zehn Geboten bzw. vor allem der zweiten Tafel des Dekalogs beimisst. Wie er in 19,18f das nicht-

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dekalogische Gebot „du sollst nicht berauben“ (Mk 10,19) gestrichen hat, so hat er hier zum einen von den dreizehn Gliedern des mk Katalogs (Mk 7,21f) sieben gestrichen, die sich nicht direkt auf den Dekalog beziehen, und zum anderen mit der Rede von den Falschzeugnissen die Anspielungen auf Dekaloggebote erweitert. Zudem wurde auch die Reihenfolge an den Dekalog angepasst, so dass eine folgerichtige Bezugnahme auf das sechste bis neunte Gebot (Ex 20,13–16; Dtn 5,17–20) entstanden ist. „Unzuchtsünden“ verstärkt (und verallgemeinert) dabei „Ehebrüche“; „Lästerungen“, was hier dem Kontext nach nicht auf Gotteslästerung, sondern auf Verleumdung anderer Menschen zu beziehen sein dürfte (vgl. Did 3,6), ergänzt „falsche Zeugnisse“. Zieht man die Zitation des Gebots der Elternehre in V. 4 hinzu, werden damit in Mt 15 genau dieselben Gebote aufgenommen, die Jesus in 19,18f herausstellt. Das – im Gefolge von Mk 7,21 – voranstehende Glied „böse Gedanken“ dient als allgemeine Einleitung zur nachfolgenden Spezifizierung anhand des Dekalogs und signalisiert als solche mit der Einbeziehung der Ebene der Gedanken zugleich das weite Verständnis des durch die Dekaloggebote inkriminierten Verhaltens, wie sich dies in 5,21–30 anhand von Mord und Ehebruch ausgeführt findet. V. 20a bündelt den Katalog zu einem abschließenden Fazit. Matthäus 20 hat dem noch einen Rekurs auf die Ausgangsfrage angefügt. Wie den Jüngern in V. 14 geheißen wurde, die Reaktion der Pharisäer zu ignorieren, so wird ihnen hier ausdrücklich bedeutet, die rituelle Praxis der Pharisäer als gegenstandslos und unsinnig zu betrachten. Zu beachten ist zugleich, dass V. 20 die antithetische Struktur von V. 11 und V. 17f aufnimmt. V. 20b tritt dabei funktional an die Stelle von V. 11a.17 und sucht damit zugleich abzusichern, dass die Aussagen nicht, wie Markus interpretiert hat, auf eine grundsätzliche Aufhebung der Speisegebote hinauslaufen, sondern allein auf die Zurückweisung der pharisäischen Forderung des Händewaschens vor dem Essen zu beziehen sind. Im Zentrum der Diskussion um Unreinheit steht für Matthäus aber lasterhaftes soziales Verhalten, während der Aspekt ritueller Reinheit, ohne grundsätzlich obsolet geworden zu sein, spürbar zurücktritt. Rituelle Reinheitsbestimmungen gehören für Matthäus zu den kleinen Geboten (vgl. 5,19; 23,23): Sie gelten im Grundsatz noch, haben aber kein besonderes Gewicht. Die Fokussierung der Unreinheit auf an der zweiten Tafel des Dekalogs orientierte zwischenmenschliche Vergehen führt dabei im Duktus von Mt 15,1–20 nahtlos die in V. 4–6 deutlich gewordene kategorische Überordnung des sozialethischen Gebots über den kultischen Bereich fort.

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III 5.4 Die Sendung Jesu zu Israel und die Universalität des Heils (15,21–39) Der Konfliktszene in 15,1–20 folgt in 15,21–39 wieder ein Block, der die Darstellung des vollmächtigen Handelns Jesu weiterführt. Es geht thematisch allerdings um weit mehr als darum, weitere Beispiele für Jesu Vollmacht einzufügen. Von leitender Bedeutung ist hier vielmehr das für Matthäus insgesamt zentrale Thema der Verbindung der spezifischen Sendung Jesu zu Israel mit der Universalität des von Jesus gebrachten Heils. III 5.4.1 Die Heilung der Tochter der kanaanäischen Frau (15,21–28) 21 Und Jesus ging von dort weg und entwich in die Gegenden von Tyrus und Sidon. 22 Und siehe, eine kanaanäische Frau aus jenem Gebiet kam heraus, schrie und sagte: „Erbarm dich meiner, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter ist schlimm besessen.“ 23 Er aber antwortete ihr nicht ein Wort. Und seine Jünger traten hinzu und baten ihn und sagten: „Schick sie weg! Denn sie schreit hinter uns her.“ 24 Er aber antwortete und sagte: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.“ 25 Sie aber kam, fiel vor ihm nieder und sagte: „Herr, hilf mir!“ 26 Er aber antwortete und sagte: „Es ist nicht gut, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden vorzuwerfen.“ 27 Sie aber sagte: „Ja, Herr! Und doch essen ja die Hunde von den Brocken, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“ 28 Da antwortete Jesus und sagte zu ihr: „Oh Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst!“ Und geheilt war ihre Tochter von jener Stunde an. Wie in der vorangehenden Perikope hat Matthäus auch der Erzählung in V. 21–28 (par Mk 7,24–30), die im Makrokontext eine Parallele zu 8,5–13 bildet (zu Einzelheiten s. im Folgenden), ein deutlich eigenes Gepräge verliehen. Angesichts des im Voranstehenden geschilderten erneuten Kon- 21 flikts mit den Pharisäern zieht Jesus sich – ein letztes Mal – zurück (vgl. 12,15; 14,13), diesmal in das ausgedehnte Umland der syrischen Küstenstädte Tyrus und Sidon. Auch wenn es hier einen jüdischen Bevölkerungsanteil gab, ist dies für Matthäus „theologisch“ heidnisches Gebiet (vgl. zu 4,25). Die Einkehr in ein Haus (Mk 7,24) hat Matthäus daher als unpassend gestrichen, und zugleich gibt Matthäus durch nichts zu erkennen, dass dieser Abstecher neben dem Bestreben, sich den Autoritäten zu entziehen, durch Jesu Absicht motiviert ist, sein Wirken auf heidnischem Territorium fortzusetzen. Im Gegenteil: Als eine Frau (aus ihrem Dorf?) zu Jesus he- 22 rauskommt und ihn, während dieser seines Weges zieht (vgl. V. 23: „sie schreit hinter uns her“), um Hilfe ersucht – erzähllogisch ist die Begegnung Jesu mit einer Bittstellerin auf syrischem Territorium durch 4,24 vorberei-

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tet (s. auch 9,31) –, erfährt sie eine massive Zurückweisung durch Jesus. Mit der Bezeichnung der Frau als Kanaanäerin, die die mk Rede von einer Griechin, die der Abstammung nach eine Syrophönizierin war (Mk 7,26), ersetzt, hat Matthäus wie schon durch die Ergänzung von Tyrus (Mk 7,24) durch Sidon in V. 21 (vgl. zu 11,21) biblisches Kolorit in die Erzählung eingetragen. Das Folgende, insbesondere V. 24.26, erhält seine Konturen auf dem Hintergrund des klassischen Gegensatzes zwischen Israel und Kanaan (Gen 9,25–27; 24,3.37; 28,1–8; Lev 18,3 u. ö.). Charakteristisch ist für Mt 15,21–28 sodann, dass die szenischen Rahmennotizen äußerst knapp gehalten sind und das Geschehen, im Unterschied zur mk Beschränkung direkter Rede auf 7,27–29, durch einen viergliedrigen dialogischen Passus entfaltet wird, in dem Jesus durchgehend die „antwortende“ Position zukommt (V. 23a.24.26.28a, s. dagegen Mk 7,28: die Frau antwortet). Der Effekt der mt Ausgestaltung ist, dass vor der abschließenden Zuwendung Jesu zur Kanaanäerin deren dreifache Ablehnung durch Jesus erfolgt ist. Im ersten Gesprächsgang trägt sie ihre Bitte vor. Das von Matthäus in V. 22 bei „sie schrie“ wie dann auch in V. 25 bei „sie fiel nieder“ verwendete griechische Tempus, das Imperfekt, bringt an den genannten Stellen einen durativen bzw. iterativen Aspekt zum Ausdruck: Die Frau ruft anhaltend und inständig bzw. wiederholt. Wie die beiden Blinden in 9,27 bittet sie – in der Sprache der Psalmen (Ps 6,3; 9,14 u. ö.) – um Erbarmen und ruft Jesus als Sohn Davids an; wie der Hauptmann in 8,5–13 bittet sie nicht für sich. Die Rede von Jesus als Davidsohn steht im Kontext von Heilungen sonst immer im Zusammenhang mit Blindenheilungen (s. zu 9,27). Dies ist hier anders, weil Blindheit bei Matthäus als ein israelbezogenes und gegen die Autoritäten gerichtetes Motiv fungiert (s. zu 9,27 und zu 15,14). In 15,22 hingegen ist die Rede von Jesus als Davidsohn im Zusammenhang mit dem für Matthäus wichtigen Thema des Verhältnisses von Zuwendung zu Israel und Universalität des Heils zu sehen: Matthäus macht deutlich, dass die Kanaanäerin sich an Jesus als den Messias Israels wendet und gerade von diesem Heil erwartet. Jesus freilich ignoriert sie zunächst (V. 23a); er ist nicht zuständig (vgl. 23 8,7). Der zweite Gesprächsgang wird durch die Bitte der Jünger eröffnet, 24 die Frau wegen ihres ihnen lästigen Geschreis fortzuschicken. Jesus reagiert auf den Einwurf der Jünger, indem er seine Nichtzuständigkeit mit einer programmatischen Aussage über seine Sendung begründet: Wie er die Jünger in 10,5f allein zu Israel sandte, so gilt auch seine eigene Sendung als Hirte Israels (2,6) allein „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ 25 (V. 24, zum näheren Verständnis der Wendung s. die Auslegung von 10,6). Ob die Frau die Worte der Jünger und die Replik Jesu in V. 24 mitbekommen hat, ist nicht ersichtlich. Erst in V. 25 scheint sie bei Jesus angelangt zu sein. Sie wirft sich nun vor ihm nieder und erneuert ihre Bitte um Hilfe. Wieder eignet ihrem Hilferuf biblisches Kolorit (Ps 70,6 [69,6LXX]; 109,26

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[108,26 LXX]). Auffallend ist in der Redeeinleitung in V. 26, dass Matthäus 26 anders als Mk 7,27 nicht explizit sagt, dass Jesus der Frau antwortet. Er wendet sich ihr nach wie vor nicht zu, sondern scheint vor sich hinzusprechen. Markus’ Satz, dass zuerst die Kinder satt werden sollen, fällt nach der grundsätzlich gefassten exklusiven Aussage in V. 24 weg. In dem Bildwort in V. 26 stehen die Kinder für Israel (vgl. Dtn 14,1; Jes 43,6; Jub 1,24f; PsSal 17,27 u. ö.) und die Hunde für die Heiden; das Brot ist Metapher für das von Jesus gebrachte Heil. Jesus wiederholt in V. 26 also seine in V. 24 ausgesagte Nichtzuständigkeit mit anderen Worten: Er ist gesandt, um als der „(Haus-)Herr“ im „Haus Israel“ die „Kinder“ mit „Brot“ zu versorgen, nicht aber, um das den „Kindern“ zu reichende „Brot“ den „Hunden“ vorzuwerfen. Erst V. 27 bringt die Wende. Matthäus lässt die kanaanäische Frau mit 27 „Ja, Herr!“ zunächst ausdrücklich bestätigen, dass es nicht gut ist, Israel das Heil zugunsten der Heiden wegzunehmen. Die vorangehende Anrede Jesu als „Sohn Davids“ gewinnt von hierher an Profil. Wie der Hauptmann in 8,8f akzeptiert hat, dass die Sendung Jesu Israel gilt, so bewegt sich das Argument der Frau in V. 27 im Rahmen der heilsgeschichtlichen Differenz von Israel und Heiden. Dennoch geht sie wie der Hauptmann davon aus, dass auch sie Heil von Jesus empfangen kann. Denn neben die ausdrückliche Bestätigung der Position Jesu in V. 26 tritt nun, dass sie Jesu Bildwort um ein entscheidendes Moment erweitert. In ihrer Weiterführung des Bildes in V. 27 geht es zweifelsfrei nicht um die ungeliebten streunenden Hunde, sondern um Haushunde (V. 26 für sich betrachtet ist hingegen trotz der Verwendung der Diminutivform von Hund nicht eindeutig). Haushunde aber wurden mit Überresten versorgt (Apuleius, Met 7,14,2; Philostratos, VitAp 1,19 u. ö.). Die Kanaanäerin knüpft daran in zurückhaltender Weise an, indem sie auf die bei der Mahlzeit herabfallenden Krümel bzw. Brocken verweist. Die Pointe ihrer Erweiterung des Bildes ist, dass unbeschadet der Versorgung der Kinder etwas für die Hunde abfällt. Statt von den „Brocken der Kinder“ (Mk 7,28) spricht Matthäus dabei von den „Brocken, die vom Tisch ihrer Herren fallen“. Matthäus verlagert den Akzent damit vom Brot als Besitz der Kinder auf den Herrn, der dem Mahl vorsteht und das Brot gibt. Der Plural „Herren“ ergibt sich dabei aus der allgemeingültig gehaltenen Formulierung des Bildes: Hunde essen Brocken, die vom Tisch ihrer Herren (= ihres jeweiligen Herrn) herabfallen. Der Herr ist hier auf der Sachebene Jesus. Bei der Tischgemeinschaft, die er gewährt, erscheinen die Israeliten als Kinder. Ihretwegen wird Brot gereicht, davon profitieren die Heiden. Die beschriebene Akzentverlagerung in V. 27 bewirkt dabei jedoch, dass das Heil nicht statisch – eben als Besitz –, sondern relational als den „verlorenen Schafen“ gewährte Gabe in den Blick kommt und damit zugleich die Heiden nicht Anteil an etwas erhalten, was Israel „gehört“ (die Brocken der Kinder), sondern Jesus gibt.

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V. 28 ist von Matthäus, in enger Anlehnung an 8,13, im Ganzen neu formuliert worden. Erstmals spricht Jesus die Frau nun direkt an. Analog zum Hauptmann (vgl. 8,10.13) gewährt er ihr ihre Bitte am Ende aufgrund des großen Glaubens, den er bei ihr entdeckt hat. Dessen Größe allein an der Beharrlichkeit festmachen zu wollen, mit der sie sich an Jesus gewandt hat, greift zu kurz, denn in V. 26 wurde sie trotz ihres zu diesem Zeitpunkt schon anhaltenden und inständigen Bittens noch abgewiesen. Das entscheidende Moment ist vielmehr – wiederum analog zum Hauptmann – darin zu sehen, dass sie einen Glauben zeigt, der schon jetzt in Jesus nicht nur den Messias Israels erkennt, sondern den, der als Messias Israels der Heilsbringer auch für die Völker ist. Sie antizipiert damit die Universalität der Heilszuwendung, die Jesus selbst erst nach seiner Auferstehung und Erhöhung zum Weltenherrn kundtun wird, und sie vermittelt dies in ihrem Argument zugleich mit dem heilsgeschichtlichen status quo der noch absoluten Differenz zwischen Israel und den Heiden. Die in 8,13 und 15,28 gewährten Heilungen erscheinen im Rahmen der irdischen Sendung Jesu (15,24) als – begründete – Ausnahmen, die, mit 8,29 gesprochen, „vor der Zeit“ geschehen und als solche auf die Zeit nach Ostern vorausverweisen. Blickt man auf die Gesamtanlage der mt Jesusgeschichte, so sind 8,5–13 und 15,21–28 die erste und die letzte Erzählung im Mt, in denen vom Glauben von Hilfesuchenden die Rede ist, denn Matthäus hat weder in 17,14–20 das Glaubensmotiv aus Mk 9,23f, noch in 20,29–34 das aus Mk 10,52 übernommen. Die beiden Perikopen, die vom großen Glauben von Heiden reden, bilden also einen Rahmen. Angesichts der sorgfältigen Kompositionsarbeit, die Matthäus anderorts erkennen lässt, wird dieser Befund kaum auf Zufall beruhen. Nur in diesen „Rahmenstücken“ ist jeweils von einem großen Glauben die Rede, und zwar, wie ausgeführt, aus demselben Grund: Der Hauptmann und die Kanaanäerin antizipieren in ihrem Glauben bereits das letztendliche Ziel der Sendung Jesu. Der kompositorische Befund deutet darauf hin, dass auch für Matthäus der auf Jesus bezogene Glaube ein zentraler Faktor für das Hinzukommen von Menschen aus den Völkern und für die Überwindung der Grenze zwischen Israel und Völkerwelt ist. Er ist allerdings nicht das einzige Moment, wie die prominente Stellung der Unterweisung in den Geboten Jesu in 28,19f deutlich macht. III 5.4.2 Die Speisung der Viertausend (15,29–39) 29 Und als Jesus von dort weitergegangen war, kam er an das Meer von Galiläa. Und als er auf den Berg hinaufgestiegen war, setzte er sich dort. 30 Und große Volksmengen kamen zu ihm hinzu, die Lahme, Blinde, Krüppel, (Taub-)Stumme und viele andere bei sich hatten, und sie legten

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sie zu seinen Füßen. Und er heilte sie, 31 so dass die Volksmenge sich wunderte, als sie sahen, dass (Taub-)Stumme redeten, Krüppel gesund (wurden), Lahme umhergingen und Blinde sahen. Und sie priesen den Gott Israels. 32 Jesus aber rief seine Jünger zu sich und sagte: „Ich habe Mitleid mit der Volksmenge, denn schon drei Tage harren sie bei mir aus, und sie haben nichts zu essen. Und ich will sie nicht hungrig entlassen, damit sie nicht etwa auf dem Weg ermatten.“ 33 Und die Jünger sagen zu ihm: „Woher (sollen) uns in der Einöde so viele Brote (zukommen), um eine so große Volksmenge zu sättigen?“ 34 Und Jesus sagt zu ihnen: „Wie viele Brote habt ihr?“ Sie aber sagten: „Sieben und wenige Fischlein.“ 35 Und er forderte die Volksmengen auf, sich auf die Erde zu lagern, 36 nahm die sieben Brote und die Fische und dankte und brach (sie) und gab (sie) den Jüngern, die Jünger aber den Volksmengen. 37 Und sie aßen alle und wurden satt; und was an Brocken übrigblieb, hoben sie auf, sieben Körbe voll. 38 Die Essenden aber waren viertausend Männer, ohne Frauen und Kinder. 39 Und als er die Volksmengen entlassen hatte, stieg er in das Boot und kam ins Gebiet von Magadan. Die im Markusfaden folgende Heilung eines Taubstummen (Mk 7,31–37) hat Matthäus schon wegen der in ihr begegnenden magisch anmutenden Heilungspraxis nicht übernehmen wollen (vgl. die Auslassung von Mk 8,22–26 zwischen Mt 16,12 und 16,13). Indem er sie durch ein weiteres Heilungssummarium ersetzt (V. 29–31), erreicht er, dass sich das Kompositionsschema von 14,13–21 hier wiederholt: Der wundersamen Speisung einer großen Menschenmenge geht jeweils voran, dass die Volksmengen bei Jesus zusammenströmen und er im großen Stil die Kranken heilt. Eine für das Gesamtverständnis von Mt 15 folgenreiche Veränderung des 29 Sinns ergibt sich aus der Korrektur der geographischen Angaben aus Mk 7,31 in Mt 15,29. Während Markus Jesus über Sidon reisen und in der Dekapolis weiterwirken lässt, führt Matthäus Jesus nach dessen Abstecher in heidnisches Territorium sogleich wieder „an das Meer von Galiläa“, womit wie in 4,18 die galiläische Seite des Sees gemeint ist (vgl. auch 13,1). Der Aufstieg auf den Berg (vgl. Joh 6,3) lässt im engeren Kontext an 14,23 zurückdenken (vgl. ferner 5,1). Die gewichtige Konsequenz der Änderung 30–31 der geographischen Konstellation ist, dass es sich bei denen, die mit ihren Kranken bei Jesus zusammenkommen (vgl. 8,16; 12,15; 14,13f; 19,2), wieder um jüdische Volksmengen handelt. Von daher dürfte auch die Streichung der Notiz aus Mk 8,3, dass einige von weit her gekommen waren, in V. 32 zu verstehen sein: Matthäus wollte die Assoziation ausschließen, dass nichtjüdische Mengen zugegen sind. Formal fällt auf, dass analog zu 14,13–21 auch in 15,29–39 die explizite Rede von den Volksmengen (V. 30.31.32.33.35.36.39) gegenüber Mk (8,1.2.6[2x]) deutlich vermehrt ist.

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Von den vier in V. 30f genannten Gruppen von Kranken kamen die Lahmen, Blinden und Stummen schon in 11,5 zusammen vor (von „Krüppeln“ redet Matthäus, von 18,8 abgesehen, nur hier). Dass Matthäus hier einen gezielten Rückverweis auf 11,2–6 intendiert hat, wird durch V. 31 untermauert, da die Auflistung, dass (Taub-)Stumme redeten usw., 11,5 nachgebildet ist (die in 11,5 ferner noch erwähnten Aussätzigenheilungen und Totenauferweckungen haben in der Massenszene in 15,30f nachvollziehbarerweise keinen Ort). Matthäus schildert hier also die Fortsetzung der „Werke des (davidischen) Messias“ (11,2) und ruft erneut die hinter 11,5 stehenden jesajanischen Heilsverheißungen in Erinnerung. Insbesondere zu Jes 35,5f weist Mt 15,30f eine beachtliche Nähe auf (vermutlich hat Matthäus die Berührung von Mk 7,32 mit Jes 35,5 erkannt und sich von daher inspirieren lassen). Dem damit gesetzten Bezug auf die Israel geltenden Heilsverheißungen korrespondiert, dass Matthäus den Lobpreis der Volksmengen (vgl. 9,8) ausdrücklich auf den „Gott Israels“ bezogen sein lässt, womit Matthäus eine im AT wie in der außerkanonischen frühjüdischen Literatur weit verbreitete und auch speziell im jüdischen Lobpreis fest verankerte (Ps 41,14; 72,18; 106,48; 1QM 13,2 u. ö.) Wendung aufgreift. 15,29–31 im Ganzen stellt also heraus, dass sich in Jesus der Gott Israels seinem Volk zuwendet. Die in V. 32–38 folgende Speisungsgeschichte führt dieses Moment fort. 32 Die Exposition in V. 32–34 ist gegenüber 14,15–17 verändert. Es treten nicht die Jünger an Jesus heran, um ihn auf das Problem der Versorgung des Volkes aufmerksam zu machen, sondern Jesus ruft die Jünger zu sich. Im Gefolge von Mk 8,2 wird analog zu 14,14 das Motiv des mitleidvollen Erbarmens aufgegriffen. Während dieses aber in 14,14 auf Jesu heilendes Wirken bezogen ist, dient das Motiv in 15,32 – komplementär zu 14,14 – dazu, die Speisung zu initiieren. Grundlage dieser veränderten Zuordnung ist, dass das Volk bereits drei Tage bei Jesus ausharrte. Sie sind daher mithin bereits so von Hunger geplagt, dass die von den Jüngern in 14,15 vorgebrachte Option, die Volksmengen fortzuschicken, von vornherein nicht in Frage kommt, da sie auf dem Weg ermatten könnten. Nach den Heilungen ergreift Jesus daher in seinem Mitleid mit ihnen die Initiative, sich auch ihres Hungers anzunehmen. Den Jüngern kommt in V. 33 wieder die Rolle zu, auf die Unmöglichkeit 33–34 hinzuweisen, die große Menschenmenge vor Ort zu versorgen. Allerdings hätten sie es nach 14,15–21 besser wissen können. Wenn Matthäus Jesus in V. 34 – entgegen seiner Änderung von Mk 6,37f in 14,16f – nach der Zahl der Brote fragen lässt, ist dies daher schwerlich als eine reine Informationsfrage zu verstehen. Vielmehr schwingt hier ein tadelnder Rückverweis auf ihren Einwand in 14,17 mit: Aufgrund ihrer zuvor mit Jesus gemachten Erfahrung sollten sie wissen, dass Jesu in 15,32 angedeutetes Vorhaben nicht unmöglich ist. Die Jünger aber verharren unbeirrt in ihrem

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Kleinglauben. Matthäus macht dies in der Replik der Jünger in V. 34 auf subtile Art deutlich: Indem er die in Mk 8,7 merkwürdig nachklappende Erwähnung „wenige Fischlein“ in die Antwort der Jünger vorzieht und also die Jünger eine Diminutivform verwenden lässt, während er selbst in V. 36 wie in 14,17.19 von Fischen spricht, unterstreicht der Evangelist, dass die Jünger die vorhandene Menge als viel zu gering ansehen. V. 35–38 läuft weitgehend parallel zu 14,19–21 (zu Anklängen an das 35–38 Abendmahl s. zu 14,19), nur ist nun in V. 36 von der Danksagung statt vom Aufblicken zum Himmel und vom Sprechen des Lobpreises (14,19) die Rede (vgl. Lk 22,19; 1Kor 11,24 sowie Did 9,3, beim Kelchwort auch Mt 26,27 par Mk 14,23). Vor allem aber gewinnt die Verteilung des Brotes, da sie wie in 14,15–21 wiederum jüdischen Volksmengen zuteilwird, nun von 15,26 her eine vertiefte Bedeutung: Jesus geht weiter seiner Aufgabe nach, die ihm mit seiner Sendung zu „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (15,24) zugewiesen ist, und reicht den „Kindern“ das „Brot“. Die Jünger erscheinen wie in 14,19 als Mittler des von Jesus gebrachten Heils. Wieder bleibt reichlich übrig. Bei der Bezifferung der Größe der Menge weist Matthäus analog zu 14,21 darauf hin, dass bei den viertausend Männern Frauen und Kinder nicht eingerechnet sind; die Menge der satt Gewordenen war also noch größer. Das Zusammenspiel von Wiederholung und Variation, das das Verhält- 39 nis zu 14,13–21 kennzeichnet, setzt sich darin fort, dass in V. 39 und in 14,22 im Anschluss an die Speisung in zwar unterschiedlichen, aber doch miteinander verwandten Konstellationen von der Entlassung des Volkes die Rede ist: In 14,22 steigen die Jünger ins Boot, während Jesus die Volksmengen entlässt; in 15,39 entlässt Jesus die Volksmengen und steigt selbst ins Boot. Die Lage des Zielorts Magadan ist unbekannt. Überblickt man Mt 15,1–39 im Ganzen, ist zusammenfassend festzuhalten, dass Matthäus der hier verarbeiteten mk Komposition Mk 7,1–8,9 eine deutlich veränderte Sinnrichtung aufgeprägt hat. Nachdem in Mk 7,1–23 mit den Speisegeboten ein zentrales Instrument der Abgrenzung Israels von den Völkern für obsolet erklärt worden ist, bildet die Heilung der Tochter der Syrophönizierin (7,24–30) in der mk Komposition den Auftakt für die Einbeziehung von Heiden in das Heilshandeln Jesu, die in 7,31–8,9 durch die in der Dekapolis (einem vornehmlich von Nichtjuden besiedelten Gebiet) verortete Heilung eines Taubstummen und vor allem durch die Speisung der Viertausend illustriert wird. In Mk 7,1–8,10 vollzieht sich also ein Umbruch, der verdichtet durch das Nebeneinander der beiden Speisungsgeschichten (6,30–44; 8,1–9) dargestellt werden kann: Zuerst wurden die Kinder satt (vgl. 7,27), danach ist auch den Heiden das Heil zuteilgeworden. Matthäus hingegen hat in 15,1–20 keine Abrogation der Speisegebote vertreten. Er lässt Jesus zudem nach der Hei-

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lung in 15,21–28 umgehend wieder nach Galiläa zurückkehren (V. 29), und es befinden sich sogleich wieder jüdische Volksmengen in seinem Gefolge (V. 30). Auch die Speisung der Viertausend in V. 32–39 ist bei ihm eine Speisung der „Kinder“ (V. 26). V. 21–28 bleibt damit zunächst Episode, doch weist sie auf die mit Tod und Auferweckung Jesu anhebende Universalität der Zuwendung voraus. In Mt 15,1–39 par Mk 7,1–8,10 bilden sich also paradigmatisch die Differenzen in den Konzeptionen von Matthäus und Markus ab. Bei Markus findet die Einbeziehung der Völker in das Heil schon während des irdischen Wirkens Jesu statt; bei Matthäus hingegen ist diese Phase durch die Konzentration der Sendung auf Israel geprägt, während die Universalität der Heilszuwendung erst mit Ostern durchbricht. III 5.5 Die zweite Zeichenforderung und die Warnung der Jünger vor der Lehre der Pharisäer und Sadduzäer (16,1–12) 1 Und die Pharisäer und Sadduzäer traten hinzu. Und um ihn zu versuchen, baten sie ihn, ihnen ein Zeichen aus dem Himmel vorzuweisen. 2 Er aber antwortete und sagte zu ihnen:* 4 „Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht fordert ein Zeichen, und es wird ihm kein Zeichen gegeben werden außer dem Zeichen des Jona.“ Und er verließ sie und ging weg. 5 Und als seine Jünger ans jenseitige Ufer gekommen waren, hatten sie vergessen, Brote mitzunehmen. 6 Jesus aber sagte zu ihnen: „Seht zu und hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer!“ 7 Sie aber machten sich Gedanken und sagten: „Wir haben keine Brote mitgenommen.“ 8 Als aber Jesus es erkannte, sagte er: „Was macht ihr euch Gedanken, Kleingläubige, dass ihr keine Brote habt? 9 Begreift ihr noch nicht, erinnert ihr euch auch nicht an die fünf Brote der Fünftausend, und wie viele Körbe ihr eingesammelt habt? 10 Auch nicht an die sieben Brote der Viertausend, und wie viele Körbe ihr eingesammelt habt? 11 Wie, begreift ihr nicht, dass ich nicht von Broten zu euch sprach? Hütet euch aber vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer!“ 12 Da verstanden sie, dass er nicht gesagt hatte, sie sollten sich vor dem Sauerteig der Brote hüten, sondern vor der Lehre der Pharisäer und Sadduzäer. * Die Verse 2b.3 („Wenn es Abend geworden ist, so sagt ihr: ‚Heiteres Wetter, denn der Himmel ist feuerrot‘; 3 und frühmorgens: ‚Heute stürmisches Wetter, denn der Himmel ist feuerrot und trübe.‘ Das Aussehen des Himmels versteht ihr zwar zu beurteilen, aber die Zeichen der Zeiten könnt ihr nicht [beurteilen].“) sind eine nur in Teilen der handschriftlichen Überlieferung bezeugte spätere Einfügung; die Verse gehören nicht zum ursprünglichen Textbestand.

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In die Darstellung des vollmächtigen Handelns Jesu wird mit 16,1–4 ein letztes Mal innerhalb des Abschnitts 11,2–16,20 eine Konfliktszene eingestreut. Wie schon beim Beelzebulvorwurf (9,34; 12,24) hat Matthäus gezielt eine Dublette geschaffen, indem er nach der Q-Version in 12,38f auch die entsprechende Mk-Perikope (Mk 8,11–13) aufgenommen hat. Matthäus streicht auf diese Weise die Beharrlichkeit der Feindschaft und des Widerstands der Autoritäten, hier der Pharisäer und Sadduzäer, gegen Jesus heraus. Die markante Figurenkonstellation „Pharisäer und Sadduzäer“ kehrt in Matthäus’ Version der sich anschließenden Warnung der Jünger vor deren Sauerteig (16,5–12 par Mk 8,14–21) wieder, so dass es sich empfiehlt, die beiden Szenen zu einer Sinneinheit zusammenzuziehen: Die kurze Szene in V. 1–4 dient als Anlass für die in V. 5–12 ausgesprochene Warnung. Das gemeinsame Auftreten von Pharisäern und Sadduzäern lässt an 3,7 1–4 zurückdenken: Jesus hat es nun mit derselben Gegnerkonstellation zu tun wie sein Vorläufer Johannes. Der ebenfalls wie in 3,7 fehlende bestimmte Artikel vor Sadduzäer in 16,1 (ebenso auch V. 6.11.12) zeigt an, dass „die Pharisäer und Sadduzäer“ hier als eine Einheit aufgefasst werden sollen. Nun ist Matthäus schwerlich anzulasten, dass ihm die Differenzen zwischen diesen Gruppierungen unbekannt waren. Ebenso wenig verrät die Hinzufügung der Sadduzäer zu den in Mk 8,11 erwähnten Pharisäern ein eigenständiges Interesse des Evangelisten an Ersteren. Matthäus benutzt die Sadduzäer vielmehr in polemischer Absicht, um die Pharisäer, mit deren Opposition sich die mt Gemeinde konfrontiert sieht, zu diskreditieren: Nachdem sie mit ihrer ersten Zeichenforderung in 12,38 nicht zu reüssieren vermochten und auch das Auftreten ihrer Gesinnungsgenossen aus Jerusalem (15,1–9) nicht von Erfolg gekrönt war, haben sie, wie schon beim Täufer (3,7), sogar ein Bündnis mit den Sadduzäern nicht gescheut. Anders als bei der ersten Zeichenforderung in 12,38 ist nun ausdrücklich von einer versucherischen Frage die Rede, was sich im Nachfolgenden mehrfach wiederholen wird (vgl. 19,3; 22,18.35). Bedenkt man, dass in 4,3 „der Versucher“ als Teufelsbezeichnung begegnet, kann man darin auf der Linie von 12,33–45 einen weiteren Baustein in der mt Strategie sehen, die Gegner als Agenten des Bösen zu diffamieren. Dass das geforderte Zeichen gegenüber 12,38 als „Zeichen aus dem Himmel“ präzisiert ist, dürfte der Anknüpfungspunkt für die sekundäre Einfügung der Wetterregel (V. 2b–3, vgl. Lk 12,54–56) gewesen sein. Jesu Antwort in V. 4 stimmt, abgesehen von der expliziten Kennzeichnung Jonas als Propheten, wörtlich mit dem Beginn seiner Replik auf die Zeichenforderung in 12,39 überein. Während aber dort das Zeichen des Jona noch erläutert wird, lässt Jesus seine Opponenten hier nach dem erneuten Verweis auf dieses einfach stehen. Weiteres Reden mit ihnen hat sich als sinnlos erwiesen. Es geht nur noch darum, andere vor ihnen zu warnen.

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Entsprechend fährt die Szenerie im Gefolge von Mk 8,14–21 mit einer 5–12 5–7 Warnung der Jünger fort (vgl. Mt 23!). Die Notiz vom Eintreffen der Jünger am anderen Ufer macht nachträglich deutlich, dass Jesus in 15,39 tatsächlich allein ins Boot gestiegen war (vgl. dagegen 9,1 im Lichte von 9,10) und entsprechend die Jünger in 16,1–4 nicht zugegen waren. Die Warnung vor dem „Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer“ (V. 6, anders Mk 8,15: Sauerteig der Pharisäer + Sauerteig des Herodes) kommt für sie daher unvermittelt, was ihr Missverständnis erklären mag: Sie denken bei dem Wort „Sauerteig“ daran, dass sie, wie V. 5 notierte, vergessen haben, Brote mitzunehmen (V. 7). Die Sorge um Alltagsbelange verschließt ihnen 8–11 den Zugang zum Verstehen der Worte Jesu. Der Jüngertadel in V. 8.9a ist gegenüber Mk 8,17f radikal gekürzt und damit abgeschwächt. Nach der einleitenden, die Überlegung der Jünger aufgreifenden Frage in V. 8 ist in V. 9a nur der Vorwurf „begreift ihr noch nicht?“ stehen geblieben. Dessen Verstärkung durch den Vorwurf des Nicht-Verstehens hat Matthäus ebenso übergangen wie die durch das Zitat von Jer 5,21 in Mk 8,18 untermauerte mk Rede vom verstockten Herzen, die nicht in das mt Jüngerbild passt (vgl. Mt 13,10–17 und die Korrektur von Mk 6,52 in Mt 14,33!). Stattdessen hat Matthäus in V. 8 den für ihn charakteristischen Begriff des Kleinglaubens eingefügt, der in V. 9b–10 durch die Rückverweise auf die Erfahrungen, die die Jünger bei den beiden Speisungen (14,15–21; 15,32–38) machen konnten, konturiert wird: Ihr Kleinglaube besteht darin, dass ihr Vertrauen in Gottes Fürsorge trotz solcher Erfahrungen noch unterentwickelt ist. Positiv gewendet dienen die Speisungsgeschichten als Anschauungsbeispiele, an denen die Jünger lernen sollen, dass sie ihre existentiellen Nöte Gott anheimstellen dürfen. 16,8–10 schlägt damit den Bogen zum allerersten Passus zurück, in dem die Jünger als Kleingläubige angesprochen wurden (6,30). Wurde durch den Rekurs auf die wunderbaren Speisungen das Unbegreifliche des Missverständnisses der Jünger herausgestellt, so nimmt Jesus in V. 11 auf dieser Basis die tadelnde Frage aus V. 9a in variierter Form auf, doch bricht die Rede Jesu nicht – analog zu Mk 8,21 – mit dem Tadel ab. Vielmehr sucht der mt Jesus seine Jünger zum Verstehen zu führen, indem er zum einen explizit ausführt, dass er nicht, wie die Jünger annahmen, von Broten geredet hat, und zum anderen nach dem Ausschluss dieses Missverständnisses die Warnung wieder12 holt. Auch V. 12 ist von Matthäus hinzugefügt: Neben die mt Veränderung des mk Jüngerbildes durch die Streichung von Mk 8,17b.18 tritt, dass am Ende ausdrücklich das Verstehen der Jünger konstatiert wird (vgl. 13,51). Indem Matthäus den Sauerteig auf die Lehre der Pharisäer und Sadduzäer bezieht (anders Lk 12,1: der Sauerteig ist die Heuchelei), also trotz der (auch ihm!) bekannten Lehrdifferenzen zwischen den Pharisäern und den Sadduzäern (vgl. Josephus, Bell 2,162–165; Ant 13,171–173; Apg 23,6–8) ihre jeweiligen Überzeugungen unter ein Dach bringt, setzt

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er mit diesem – historisch betrachtet kühnen – Schritt konsequent die polemische Delegitimation der Pharisäer fort. Matthäus insinuiert, dass die pharisäischen Anschauungen in keiner Weise besser sind als die Überzeugungen der – vor 70 n. Chr. zwar politisch einflussreichen, aber beim Volk unbeliebten (vgl. Josephus, Ant 13,298; 18,17) – Sadduzäer und die Unterschiede zwischen ihnen insofern vernachlässigt werden können, als sie im Licht der übereinstimmenden Ablehnung Jesu als Messias und seiner wahren Interpretation der Tora bzw. angesichts ihrer Ignoranz gegenüber der sich in Jesu Handeln ausdrückenden Vollmacht belanglos sind. Insofern die Pharisäer und die Sadduzäer also an diesem entscheidenden Punkt übereinstimmen, ist von ihrer Lehre zu sprechen. Die metaphorische Bezeichnung ihrer Lehre als Sauerteig stellt die von ihr ausgehende Gefahr eindringlich vor Augen, genügt doch ein wenig Sauerteig, um den ganzen Teig zu durchsäuern (vgl. 1Kor 5,6; Gal 5,9). Für Matthäus und seine Gemeinden dürfte die Warnung vor der Lehre der Pharisäer von großer aktueller Bedeutung gewesen sein. Gemeindeglieder, die neben den gemeindlichen Versammlungen auch noch die Synagogen besuchten, waren dort dem Einfluss der Pharisäer ausgesetzt. Möglicherweise gab es auch – für Matthäus leidvolle – Erfahrungen, dass für einige, die sich eine Zeit lang zur christusgläubigen Gemeinde gehalten hatten, am Ende die pharisäisch dominierte Synagoge die attraktivere Alternative darstellte. In diesem Zusammenhang mahnt 16,5–12 (wie auch Mt 23) zu entschiedener innerer Distanznahme.

III 6 Das Gottessohnbekenntnis des Petrus und die Verheißung an ihn (16,13–20) 13 Als aber Jesus in die Gegenden von Cäsarea Philippi gekommen war, fragte er seine Jünger und sagte: „Wer sagen die Menschen, dass der Sohn des Menschen sei?“ 14 Sie aber sagten: „Die einen (sagen): ‚Johannes der Täufer‘; andere aber: ‚Elia‘; andere aber: ‚Jeremia oder einer der Propheten‘.“ 15 Er sagt zu ihnen: „Ihr aber, wer sagt ihr, dass ich sei?“ 16 Simon Petrus aber antwortete und sagte: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ 17 Jesus aber antwortete und sagte zu ihm: „Glückselig bist du, Simon, Bar-Jona. Denn nicht Fleisch und Blut haben es dir offenbart, sondern mein Vater in den Himmeln. 18 Und ich aber sage dir: Du bist Petrus (= Stein), und auf diesem Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Tore des Hades werden sie nicht überwältigen. 19 Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben, und was immer du auf der Erde bindest, wird in den Himmeln gebunden sein, und was immer du auf der Erde lösest, wird in den Himmeln gelöst sein.“ 20 Dann gebot er den Jüngern, dass sie niemandem sagten, dass er der Christus sei.

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Der in 11,2f mit der Täuferfrage eröffnete Textblock gelangt mit dem Messiasbekenntnis des Petrus an seinen Kulminationspunkt. Folgt V. 13–16.20 Mk 8,27–30, so bildet die Antwort Jesu auf Petrus’ Bekenntnis in V. 17–19 einen mt Einschub, der nicht nur nach 14,28–31 erneut die prominente Rolle von Petrus hervortreten lässt, sondern im Zusammenspiel mit V. 16 auch die für das Mt insgesamt charakteristische Vernetzung von Christologie und Ekklesiologie deutlich macht. Mit den „Gegenden von Cäsarea Philippi“ ist der nördlichste Punkt der 13 mt Jesusgeschichte erreicht. Blickt man auf das Siedlungsgebiet der zwölf Stämme (vgl. zu 4,25), befindet sich Jesus mit seinen Jüngern im Gebiet des Stammes Dan und damit in der nördlichsten Region des „Landes Israel“ (2,20f). Von V. 21 an kann man Jesus dann auf dem Weg gen Süden nach Jerusalem sehen. In Jesu Frage nach dem Urteil der Menschen über ihn hat Matthäus Markus’ 1. Pers. Sg. durch die Rede vom Menschensohn (vgl. den Exkurs bei 8,20) ersetzt (anders Mt 16,21 par Mk 8,31), so dass nicht nur in V. 13 ein kleines Wortspiel entsteht – es geht um die Meinungen der Menschen über den Sohn des Menschen –, sondern auch eine Korrespondenz zu Petrus’ Bekenntnis in V. 16: Der Sohn des Menschen ist der Christus, der Sohn Gottes. Matthäus dürfte hier allerdings mehr im Sinn gehabt haben als Wortästhetik. Jesus hat von sich als Menschensohn zuvor nicht nur im Blick auf sein gegenwärtiges Wirken gesprochen (vgl. 8,20; 9,6; 11,19 u. ö.), sondern gegenüber den Jüngern in 10,23; 13,37.41 auch seine Erhöhung und Wiederkunft bzw. seine Rolle im Endgericht einbezogen. Insofern schwingt mit der Verwendung von Menschensohn in der Frage Jesu schon seine Hoheitsstellung mit. In 26,63f wird sich die Trias „Menschensohn, Christus, Sohn Gottes“ wiederholen. Die Antwort der Jünger impliziert, dass sie wissen, dass Jesus mit dem 14 Menschensohn sich selbst meint. Die Identifizierung Jesu mit dem Täufer lässt an die Befürchtung des Herodes in 14,2 zurückdenken, sie wird hier aber als eine weiter verbreitete Einschätzung präsentiert. Auch die weiteren Optionen suchen die Identität Jesu zu erfassen, indem sie ihn mit (prophetischen) Gestalten der Vergangenheit in Beziehung setzen, nur geht es nun mit dem nach 2Kön 2,11 gen Himmel entrückten Elia sowie mit Jeremia, der in 2Makk 15,14 als himmlischer Fürbitter „für das Volk und die Heilige Stadt“ erscheint, oder „einem (anderen) der Propheten“ um Gestalten aus den Schriften Israels („einer der Propheten“ besagt nicht bloß im Sinne von 21,46, dass Jesus „ein Prophet“ sei). Auch wenn es hier um im Grundsatz positive Voten geht, artikuliert sich in ihnen für Matthäus in keiner Weise eine suffiziente Position zur Identität Jesu; der „Elia redivivus“ ist nach Matthäus tatsächlich gekommen, aber mit dem Täufer (11,14; 17,12). Die negativen Äußerungen der Pharisäer (9,34; 12,24) werden ebenso übergangen wie die – positive – Überlegung der Volksmengen in 12,23 (vgl. 21,9), die sich dort zumindest auf dem Weg zeigten, einen

Das Gottessohnbekenntnis des Petrus (16,13–20)

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für Matthäus wichtigen Aspekt der messianischen Identität Jesu zu erfassen. Diese Auslassungen sind allerdings schon insofern geradezu zwingend, als Jesus selbst Zeuge dieser Äußerungen war. Im Übrigen folgt Matthäus in V. 14 schlicht Mk 8,28; die einzige Besonderheit von Mt 16,14, die Einfügung von „Jeremia“, ist durch „einer der Propheten“ angeregt. Das Mt ist die einzige ntl. Schrift, in der Jeremia explizit erwähnt wird (s. noch 2,17; 27,9). Für seine Einfügung in 16,14 dürfte ein ganzes Cluster von zusammengehörigen Motiven zu beachten sein, die zum Teil über den in 16,14 erreichten Stand der Erzählung hinausgreifen: Auch Jeremia hat sich kritisch mit den schlechten „Hirten“ des Volkes auseinandergesetzt (Jer 2,8; 10,21; 12,10f; 23,1–4 u. ö.); die Rede von den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (10,6; 15,24) ist eine Jeremiareminiszenz (Jer 27,6 LXX = 50,6 MT). Jeremia ist zudem geradezu der Prototyp des Verfolgung erleidenden Propheten (Jer 20,1f.7f; 37,15–38,28; Sir 49,7; VitProph 2,1 u. ö.). Und nicht zuletzt ist zu beachten, dass Matthäus die Zerstörung Jerusalems mit dem Motiv des unschuldig vergossenen Blutes in Zusammenhang bringt (23,30.35f; 27,4.24f) und dieses Motiv im Jeremiabuch nicht nur besonders häufig, sondern auch direkt im Zusammenhang mit der Begründung der Zerstörung Jerusalems begegnet (Jer 7,6; 19,4; 22,3.17; 33,15 LXX , s. auch Klgl 4,13), wie Jeremia überhaupt der Prophet ist, der in der atl.-frühjüdischen Tradition aufs Engste mit der Zerstörung des Tempels verbunden ist (s. neben Jer selbst z. B. 2Chr 36,19–21; Sir 49,6f). Es verwundert daher nicht, dass im Kontext der Auseinandersetzung mit der Zerstörung des zweiten Tempels nach 70 n. Chr. eine breite Rezeption von Jer bzw. der Gestalt Jeremias greifbar ist (2Bar; 4Bar; Josephus, Ant 10,79 f.89–96.112–130.156–158.176–180 u. ö.). Die im Mt ansichtig werdende Jeremiarezeption (vgl. zu 2,17f; 21,13; 23,35; 27,9f) ist in diesen Kontext einzustellen.

Jesu Frage in V. 13 dient, wie der Fortgang zeigt, lediglich dazu, die ihm 15–16 eigentlich wichtige Frage nach der Meinung der Jünger anzubahnen. Das vorangestellte „ihr aber“ trägt deutlich den Ton. Die Jünger sollten eine adäquatere Antwort geben können als die übrigen Menschen. Wie schon in 15,15 tritt Petrus als Sprecher der Jünger hervor. Die im Mt singuläre Verwendung des Doppelnamens „Simon Petrus“ (V. 16) – statt des sonst üblichen (14,28f; 15,15; 16,22f; 17,1 u. ö.) und in Mk 8,29 vorgegebenen Beinamens Petrus – geschieht hier im Vorblick auf V. 18: Um den Zuspruch „du bist Petrus“ sinnvoll einzubetten, lag es für Matthäus nahe, den Genannten auf der Erzählebene zuvor mit seinem eigentlichen Namen zu bezeichnen. Nur „Simon“ wäre aber nicht eindeutig gewesen, da es im Mt vier weitere Träger dieses Namens gibt, darunter mit „Simon, dem Kananäer“ einen weiteren Zwölferjünger (10,4, s. ferner 13,55; 26,6; 27,32); ebenso wäre die in 4,18; 10,2 begegnende Form „Simon, der Petrus genannt wird“ im unmittelbaren Kontext von 16,18 misslich. Inhaltlich ist von Gewicht, dass das aus Mk 8,29 übernommene Bekenntnis „Du bist der Christus“ von Matthäus um die Worte „der Sohn des lebendigen Gottes“ erweitert wurde. Der damit im mt Erzählduktus gesetzte Rückverweis auf die Erkenntnis der Jünger in 14,33 unterstreicht,

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dass Petrus hier als deren Sprecher fungiert. Neu ist in 16,16 die explizite Verbindung mit dem Christustitel. Zu konturieren ist die mt Erweiterung des Petrusbekenntnisses auf dem Hintergrund, dass Matthäus Jesu messianische Identität durch den Zusammenhang von David- und Gottessohnschaft entfaltet, wie er in 1,18–25 grundgelegt wurde und in 22,41–46 aufgegriffen wird. Zu 11,2 war anzumerken, dass das Christusprädikat dort davidisch koloriert ist (s. auch 1,1 [Jesus Christus, Sohn Davids]; 2,2–4). In 12,23 keimte in den Volksmengen die Erkenntnis, dass Jesus der Sohn Davids sein könne (vgl. 21,9.15), und von Hilfesuchenden wurde Jesus als Sohn Davids angerufen (9,27; 15,22, vgl. noch 20,30f). Die genannten Stellen zeigen, dass Matthäus davon ausgeht, dass die davidische Messianität Jesu anhand der Heilszuwendung zu Israel, wie sie sich in den Heilungen manifestiert, erkennbar ist. Eine tiefere Erkenntnis der Messianität Jesu, nämlich als Gottessohn, ist hingegen den Jüngern vorbehalten, denen die Vollmacht Jesu in Gestalt der Sturmstillung (8,23–27) sowie des Seewandels und der Errettung des Petrus (14,22–33) in besonderer Weise offenbart wurde. Betrachtet man 16,16 in diesem Kontext, so wird deutlich, dass das Bekenntnis „du bist der Christus“ für sich genommen nicht genügt, um die besondere Erkenntnis der Jünger über die Identität Jesu von der Erkenntnis der Hilfesuchenden wie auch (ansatzweise) der Volksmengen mit der nötigen Trennschärfe abzuheben. Die Hinzufügung des Gottessohntitels dient in 16,16 entsprechend dazu, die den Jüngern vorbehaltene tiefere Erkenntnis der Messianität Jesu zum Ausdruck zu bringen. Dabei tritt der Gottessohntitel des Näheren nicht additiv zum Christustitel hinzu, sondern er qualifiziert und interpretiert diesen (vgl. 22,42!): Jesus ist als der Messias nicht allein der Sohn Davids, sondern der Sohn Gottes. Hat Matthäus Petrus in V. 16 sozusagen die volle christologische Erkenntnis aussprechen lassen, so wird im nachfolgenden Kontext allerdings schon in 16,21–23 deutlich, dass diese Erkenntnis nur dem Wortlaut nach eine volle Erkenntnis ist, nicht aber im Blick auf Petrus’ Verständnis der Messianität und Gottessohnschaft Jesu. Denn in ihm fehlt noch der Leidensgedanke, dessen Integration der nächste Großabschnitt dient (16,21–20,34). In 11,2–16,20 liegt demgegenüber das Augenmerk zunächst allein darauf, dass sich den Jüngern Jesu Identität als Sohn Gottes erschlossen hat (zur Gottessohnschaft Jesu vgl. in der Einleitung unter 2.1 sowie die Ausführungen zu 1,18.20, zu 3,13–17 und zu 4,1–11). Das Bekenntnis zu Jesus als Gottessohn ist die sachliche Grundlage für 17–19 die in V. 17–19 von Matthäus eingefügte Replik Jesu an Petrus. Hat die Täuferfrage aus 11,2f mit 16,16 ihre adäquate Antwort gefunden, so tritt dieser christologisch bestimmten Sinnlinie zur Seite, dass die in 11,2–16,20 vorangetriebene Profilierung der Jüngergemeinschaft (12,46–50; 13,10–23.36–52 17 u. ö.) in ein Wort einmündet, das explizit auf den Bau der Kirche ausblickt. Der einleitende Makarismus in V. 17 dürfte vom Evangelisten selbst gebil-

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det worden sein. Da auch in der Eröffnung des kompositorischen Blocks 11,2–16,20 ein Makarismus begegnet (11,6), kann man mit 16,17 die Korrespondenz zwischen 11,2–6 und 16,13–20 als den Rahmenstücken von 11,2–16,20 unterstrichen sehen. Die Anrede mit „Simon“ hat ein Pendant in 17,25, während der Beiname Petrus immer nur auf der Erzählebene begegnet. Der Zusatz „Bar-Jona“ ist semitisierend für „Sohn des Johannes“ (Joh 1,42; 21,15–17). Die zur Begründung der Seligpreisung angeführte Offenbarungsaussage macht explizit, dass die die Gottessohnschaft Jesu einschließende christologische Erkenntnis in einem besonderen Offenbarungshandeln Gottes gründet, das von dem Offenbarwerden Jesu als davidischer Messias anhand seines heilenden Wirkens (vgl. 11,2) zu unterscheiden ist. „Fleisch und Blut“ stehen hier für die rein menschliche Sphäre (vgl. Sir 14,18; 17,31; 1Kor 15,50; Gal 1,16; Eph 6,12; Hebr 2,14); nur mit der ihm eigenen Erkenntnisfähigkeit kann der Mensch die Identität Jesu nicht umfassend erschließen. Im Kontext lässt der Verweis auf das Offenbarungshandeln des himmlischen Vaters an 11,25–27 zurückdenken, was wiederum anzeigt, dass Petrus hier paradigmatisch für die Jünger steht. Gottes Offenbarungshandeln kommt aber nur dann zum Ziel, wenn es verstehend aufgenommen wird, bzw. gehört es zum Offenbarungshandeln selbst, dass Gott Augen und Ohren „öffnet“ und ein „verstehendes Herz“ verleiht. Als Kontext ist daher zugleich auch auf 13,16f zu verweisen. Beachtet man schließlich, dass 16,16 durch 14,33 vorbereitet ist, liegt es nahe, die Rede von der Offenbarung durch den Vater in 16,17 durch das Widerfahrnis, das den Jüngern in 14,22–33 zuteilwurde, exemplarisch konkretisiert zu sehen, zumal die Form des Makarismus in 16,17 neben 11,6 eben an 13,16 zurückdenken lässt und unter dem, was den Jüngern – mit verständigen Augen – zu sehen gewährt wird, auch das zu subsumieren ist, was sie in 14,22–33 „sehen“. In V. 18 folgt, feierlich durch „und ich aber sage dir“ eingeleitet, die Ver- 18 heißung. Die einleitenden Worte „du bist Petrus“ sind „du bist der Christus …“ (V. 16) nachgebildet. Dem Beinamen „Petrus“ wird damit in Analogie zu „der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ gewissermaßen die Funktion eines titularisch verdichteten Bedeutungsträgers zugewiesen: Wie Jesus „der Christus“ ist, so ist Simon „Petrus“, nur ist „Petrus“ anders als „Christus“ kein etablierter Titel, weshalb die Aussage im Fortgang erklärt wird. Leitend ist dabei ein Wortspiel: „Petros (latinisiert: Petrus) ist die petra = der Fels“, wobei Petrus seinerseits Übertragung des aramäischen Beinamens „Kepha“, gräzisiert „Kephas“, ist (vgl. Joh 1,42 sowie 1Kor 1,12; 9,5; Gal 1,18 u. ö.). In Jes 51,1 ist Abraham der „Felsen, aus dem ihr gehauen seid“, doch legt sich ein näherer Bezug zu diesem Text – Petrus wäre dann eine mit Abraham vergleichbare Funktion zugeschrieben – schon deshalb nicht nahe, weil die Entfaltung der Metapher in V. 18 mit dem Bild des Hausbaus einen anderen Weg als Jes 51,1f ein-

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schlägt. Der Fels, auf dem Jesus seine Kirche bauen wird, ist Petrus dem Kontext nach insofern, als er mit seiner Antwort in V. 16 zum Ausdruck gebracht hat, dass sich ihm das, was er von Jesus gesehen und gehört hat (11,4), dank des Offenbarungshandelns Gottes adäquat erschlossen hat. Die Metapher des Bauens lässt an 7,24 zurückdenken: Ein auf einem Felsenfundament gegründetes Haus steht fest und kann von den Stürmen nicht erschüttert werden. Ganz in diesem Sinn ist in V. 18 eine Schutzbzw. Bestandszusage angefügt. „Tore des Hades“ ist eine verbreitete Wendung (vgl. z. B. Homer, Il 5,646; Od 14,156; Diogenes Laertios, VitPhil 8,34; 2Hen 42,1); an den Toren des Hades zu stehen, ist Ausdruck für unmittelbare Todesgefahr (Jes 38,10; 3Makk 5,51; Weish 16,13). Die „Vitalität“ der Kirche aber vermögen die Tore des Hades nicht zu gefährden, d. h. die Kirche wird nicht an die Tore des Hades gelangen und durch diese in den Hades „hineingezogen“ werden, sondern sie wird Bestand haben. Dass Matthäus bei der Vorstellung von der Kirche als Haus (vgl. 1Kor 3,10–15; Eph 2,20) des Näheren Tempelmetaphorik im Sinn hatte (vgl. 1Kor 3,16f; Eph 2,21; 1Petr 2,5), wird in 16,18 durch nichts angedeutet und lässt sich auch nicht durch einen Verweis auf 26,61 mit hinreichender Plausibilität begründen, da eine Anspielung auf die Gemeinde in 26,61 mehr als unsicher ist. Die Futurform „werde bauen“ in V. 18 verweist auf die Zeit nach Ostern (vgl. 21,43 im Lichte von 21,42). Während des irdischen Wirkens Jesu werden Menschen in die Nachfolge gerufen und es entsteht ein Kreis von Jüngern, aber vom Bau der Kirche ist erst auf der Basis der Vollendung der irdischen Sendung Jesu und seiner Auferstehung und Erhöhung zu sprechen. Dem fügt sich ein, dass V. 18 im oben dargelegten Sinn auf dem Gottessohnbekenntnis in V. 16 beruht und die Gottessohnschaft Jesu erst mit Tod und Auferstehung Jesu Gegenstand öffentlicher Proklamation wird: Kirche entsteht dort, wo Jesus als der Sohn Gottes bekannt wird und Menschen sich entsprechend „auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ taufen lassen (28,19). Der Bau der ecclesia ist also für Matthäus ein Werk des Auferstandenen. Dies bedeutet im Lichte von 28,18–20 zugleich, dass die dort zum Ausdruck kommende universale Dimension für Matthäus eine Grundbestimmung von Kirche darstellt. Matthäus gibt dabei nirgends zu erkennen, dass er die universale Kirche als das neue Gottesvolk versteht, das an die Stelle Israels getreten ist (vgl. zu 21,43 und in der Einleitung unter 2.2). „Israel“ und „Kirche“ sind bei Matthäus – entgegen dem heute geläufigen Sprachgebrauch, wie er sich infolge der jüdisch-christlichen Trennungsprozesse entwickelt hat – noch nicht auf derselben Ebene stehende Größen, die das Gegenüber zweier Religionen, des Judentums und des Christentums, bezeichnen. Mit ihrem wesenhaft universalen Charakter ist Kirche allerdings auch nicht bloß eine Sondergemeinschaft in Israel. Vielmehr ist die ecclesia Jesu für

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Matthäus die in Israel und der übrigen Völkerwelt entstehende Heilsgemeinde. Genauer: Ihre Keimzelle ist der von Jesus im Rahmen seines Wirkens in Israel herausgebildete Jüngerkreis, der nachösterlich Menschen aus allen Völkern offensteht. V. 19 nimmt die Funktion von Petrus als Felsenfundament der Kirche 19 näher in den Blick. Die Futurform „werde geben“ blickt wieder auf die Zeit nach Ostern. Als dem, dem die Schlüssel des Himmelreiches (vgl. zur Metaphorik Jes 22,22 MT) übergeben sind, kommt Petrus dann die Rolle zu, den Menschen den Zugang zum Himmelreich zu eröffnen. Zum Eintritt in das Himmelreich bedarf es, wie 5,20–48 deutlich gemacht hat, eines an der Toraauslegung Jesu orientierten gerechten Lebens. Die Rede von der Übergabe der Schlüssel des Himmelreiches nimmt also in den Blick, dass Petrus anvertraut ist, die Gesetzesauslegung und ethische Unterweisung Jesu authentisch weiterzugeben, um so den Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, in das Himmelreich einzugehen. Im Gesamtkontext des Mt ist V. 19 im Zusammenhang mit 23,13 zu lesen und zu profilieren: Den Schriftgelehrten und Pharisäern gilt das Wehe Jesu, weil sie aufgrund ihrer falschen Lehre, in der Gottes Wille durch Menschensatzungen verdeckt ist (15,3–9), das Himmelreich vor den Menschen verschließen. 16,19 bildet das positive Pendant zu 23,13 und formuliert in diesem Kontrast den Anspruch der ecclesia, die wahre Sachwalterin der theologischen Traditionen Israels zu sein. Dem steht zur Seite, dass die Jünger im direkt vorangehenden Kontext vor der Lehre der Pharisäer und Sadduzäer gewarnt wurden (16,5–12). Diachron betrachtet dürfte dabei davon auszugehen sein, dass 16,19a vom Evangelisten als Gegenstück zu 23,13 (vgl. Lk 11,52) gebildet wurde. Die Metapher der Schlüssel des Himmelreiches wird durch das Begriffspaar „binden“ und „lösen“ entfaltet, das im Lichte rabbinischer Zeugnisse im Sinne von „verbieten“ und „erlauben“ zu verstehen (z. B. mTer 5,4; mPes 4,5; 6,2) und eben auf die Auslegung der Tora zu beziehen ist. 18,18 wird zeigen, dass darin auch die Vollmacht zu Disziplinarmaßnahmen bzw. zur Sündenvergebung inbegriffen ist (vgl. Joh 20,23 sowie Josephus, Bell 1,111 in Bezug auf die richterliche Aufgabe, zu inhaftieren und freizusprechen). In 16,19 liegt der Ton aber, wie dies durch die Metapher der Schlüssel des Himmelreiches angebahnt ist, zunächst auf der Lehre. Die Binde- und Lösegewalt des Petrus meint also die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass das von Jesus in seiner Unterweisung erschlossene Verständnis der Tora (vgl. v. a. 5,17–48) in der Gemeinde getreu tradiert und in den konkreten ethischen Herausforderungen als grundlegender Orientierungsmaßstab fruchtbar gemacht wird. Einer Gesetzesauslegung bzw. ethischen Handlungsanweisung, die auf Jesu Lehre basiert (vgl. 28,20a), aber gilt die Zusage, dass das, was auf Erden entschieden wird, auch bei Gott Gültigkeit besitzt.

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Die Aufgabe, mit der Jesus Petrus in V. 19 betraut, begründet kein exklusives Leitungsamt des Petrus. Ein solches „Petrusamt“ wäre für Matthäus mit der geschwisterlichen Grundstruktur der Gemeinde, wie er sie in 23,8–12 betont herausstellt, unvereinbar. Dem fügt sich ein, dass die Binde- und Lösegewalt in 18,18 der gesamten Gemeinde zukommt. Entsprechend wird Petrus seine Aufgabe in 16,19 als primus inter pares und stellvertretend für den Zwölferkreis zugesprochen; über Petrus als Symbolfigur des Zwölferkreises besitzt die Gemeinde dank der in ihr tradierten Lehre Jesu die Schlüssel des Himmelreiches. Schon gar nicht schwebt Matthäus bei der Petrus in V. 18 zugesprochenen Bedeutung als Felsenfundament der Kirche ein dauerhaftes „Amt“ vor, das an Nachfolger weitergegeben werden könnte; vielmehr ist seine Bedeutung an seine spezifische Rolle während des irdischen Wirkens Jesu gebunden: Petrus symbolisiert als Fundament der Kirche deren Bindung an die Geschichte Jesu, an das, was Petrus im Rahmen seiner Nachfolge Jesu „gesehen und gehört“ hat (11,4; 13,16f), was ihm im Rahmen seiner Augen- und Ohrenzeugenschaft von Gott offenbart wurde und sich in seinem Bekenntnis in 16,16 verdichtet hat. Auf den – in 28,16–20 um Judas reduzierten – Zwölferkreis bezogen heißt dies: Für ihre Aufgabe, durch ihre nachösterliche Aussendung Keimzelle der ecclesia zu werden, sind die Jünger dadurch gerüstet und qualifiziert, dass sie Jesu Wirken in Wort und Tat begleitet haben. Dass Petrus im mt Erzählduktus in 16,16 „nur“ wiederholt, was die Jünger bereits in 14,33 bekannt haben, unterstreicht, dass er auch in seiner Bedeutung als Fundament der Kirche als primus inter pares des Zwölferkreises erscheint. Aber, umgekehrt formuliert, ist Petrus für Matthäus eben die zentrale Gestalt des Zwölferkreises und hat als solche für die Kirche grundlegende Bedeutung.

20 Mit dem Schweigebefehl in V. 20 kehrt Matthäus zur Verarbeitung der Markusvorlage zurück, doch formuliert Matthäus den inhaltlichen Bezugspunkt des Schweigegebots präziser als Mk 8,30. Dass sie niemandem sagen sollen, dass er „der Christus“ ist, meint dabei konkret seine durch die Gottessohnschaft bestimmte Messianität, wie sie Petrus in 16,16 vorgebracht hat. Ein wichtiger Grund für die Übernahme des mk Schweigegebots in V. 20 wird schon in V. 21–23 deutlich: Die Jünger müssen selbst erst noch lernen, was die Identität Jesu als messianischer Sohn Gottes wirklich bedeutet. Wie können sie dann schon über ihn als solchen öffentlich reden? Daneben ist grundlegend zu beachten, dass Matthäus die öffentliche Kundgabe der Gottessohnidentität Jesu über den Jüngerkreis hinaus für die Passion reserviert hat.

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IV Die Passion als zentrales Moment des Weges des Messias – Leiden und Dienst als Signaturen der Christusnachfolge (16,21–20,34) Aufbauend auf den mit 16,13–20 erreichten Stand der Erzählung leitet Matthäus analog zu 4,17 mit der Wendung „von da an fing Jesus an“ ein neues inhaltliches Moment ein, das die Erzählung von nun an bestimmen wird: Der Fokus wird auf Leiden, Tod und Auferweckung Jesu gerichtet, deren – im Wortlaut jeweils variierte – dreifache Ankündigung (16,21; 17,22f; 20,17–19) das Grundgerüst der Erzählung in 16,21–20,34 bildet. Jesu bisheriges Wirken hat die Jünger zum Bekenntnis seiner Gottessohnschaft geführt (14,33; 16,16). Von nun an geht es darum, den Jüngern aufzuzeigen, dass zu dem Weg, der dem Gottessohn von Gott bestimmt ist, sein Leiden und sein gewaltsamer Tod gehören. Die sich in 11,2–16,20 anbahnende Tendenz, dass Jesus die Jünger gesondert unterweist (13,10–23.36–52; 15,12–20, s. auch 16,5–12), verstetigt sich nun und wird in 16,21–20,34 zu einem bestimmenden Moment (16,24–28; 17,9–13.19 f.22f; 18,1–35; 19,10–12; 19,23–20,28). Zugleich verschiebt sich gegenüber 11,2–16,20 der Inhalt der Jüngerunterweisung, denn nun treten die Anforderungen der Nachfolge und die Kennzeichen der Gemeinschaft der Jünger thematisch in den Vordergrund. Hingegen bleibt die Konfliktthematik zwar durch die Leidensankündigungen indirekt präsent, doch kommt es mit der Ausnahme von 19,3–9 zu keinem weiteren Zusammenstoß. Auch die Volksmengen spielen in 16,21–20,34 nur eine marginale Rolle (17,14; 19,2; 20,29.31), was noch einmal die Zentralität der ekklesiologischen Thematik in diesem Abschnitt unterstreicht. Matthäus hat aus Markus nicht nur die Dreizahl der Leidens- und Auferweckungsankündigungen übernommen, sondern lehnt sich in 16,21–20,34 im Ganzen eng an die Perikopenfolge in Mk 8,31–10,52 an. Allerdings hat Matthäus den Block zwischen der zweiten und der dritten Leidens- und Auferweckungsankündigung (17,24–20,16) durch die Einfügung von Sonderguttexten am Anfang und am Ende (17,24–27; 20,1–16) sowie vor allem durch die Erweiterung von Mk 9,33–47 zur Rede über das Gemeinschaftsleben (18,1–35) erheblich ausgebaut. Die Thematisierung der mit der Passion Jesu zusammenhängenden Züge des Nachfolge- und Gemeindeverständnisses erhält damit deutlich mehr Raum. Fragt man nach der übergreifenden Struktur in 16,21–20,34, so können die drei Leidensankündigungen als Ausgangspunkt dienen. In 16,21–28

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und 20,17–28 kann man zueinander analoge Sequenzen ausmachen: Auf Jesu Ankündigung folgt jeweils eine Jüngerszene, d. h. der Petrusszene in 16,22f korrespondiert in 20,20–23 die Intervention (der Mutter) der Zebedaiden; am Ende steht jeweils eine kurze Unterweisung aller Jünger (16,24–28; 20,24–28). Die zweite Leidensankündigung (17,22f) steht hingegen für sich. Zwischen 16,21–28 und 17,22f sowie 17,22f und 20,17–28 stehen ein kürzerer und ein durch Matthäus’ Erweiterungen (s. o.) längerer Block, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen. In 17,1–20 wird mit der Verwandlungsszene auf die künftige österliche Herrlichkeit vorausgeblickt und passend dazu in 17,14–20 das Unvermögen der Jünger während der Abwesenheit Jesu thematisiert. 17,24–20,16 beleuchtet das Handeln der Jünger im Lichte ihres Status als Kinder des Königs, die ihr Leben vom Himmelreich her gestalten, um am Ende in dieses hineingehen zu können (Näheres in der Einleitung zu 17,24–20,16). Die Blindenheilung auf dem Weg von Jericho nach Jerusalem (20,29–34) leitet zu den Jerusalemkapiteln über.

IV 1 Die erste Leidens- und Auferweckungsankündigung, der Petrustadel und die Kreuzesnachfolge (16,21–28) 21 Von da an fing Jesus an, seinen Jüngern aufzuzeigen, er müsse nach Jerusalem weggehen und durch die Ältesten und Hohepriester und Schriftgelehrten viel leiden und getötet werden und am dritten Tag auferweckt werden. 22 Und Petrus nahm ihn zu sich und fing an, ihn anzufahren, und sagte: „(Gott) sei dir gnädig, Herr! Keineswegs soll dieses dir widerfahren!“ 23 Er aber wandte sich um und sagte zu Petrus: „Geh fort, hinter mich, Satan! Du bist mir ein Ärgernis; denn du richtest deinen Sinn nicht auf das, was Gottes, sondern auf das, was der Menschen ist.“ 24 Dann sagte Jesus seinen Jüngern: „Wenn jemand hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf und folge mir nach! 25 Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden. 26 Denn was wird einem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt gewönne, sein Leben aber einbüßte? Oder was wird ein Mensch als Gegenwert für sein Leben geben? 27 Denn der Menschensohn wird kommen in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln, und dann wird er einem jeden vergelten nach seinem Handeln. 28 Amen, ich sage euch, dass unter denen, die hier stehen, einige sind, die gewiss den Tod nicht schmecken werden, bis sie den Menschensohn kommen sehen werden in seinem Reich.“

Die erste Leidens- und Auferweckungsankündigung (16,21–28)

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Zu der Zäsur, die Matthäus durch die Einfügung von „von da an“ (s. o.) 21 markiert, passt, dass er sowohl Jesus als Subjekt explizit nennt, als auch nach 16,20 erneut ausdrücklich von den Jüngern spricht, statt wie Mk 8,31 ein Pronomen zu verwenden. Matthäus redet anders als Markus nicht vom „lehren“ (s. auch Mt 17,22 diff. Mk 9,31), was seiner Tendenz entspricht, „lehren“ auf die (torabezogene) ethische Unterweisung zu beziehen (vgl. 5,19; 7,29; 28,20 u. ö., s. auch zu 13,1–3a). In 16,21 geht es jedoch darum, den Jüngern den Heilsplan Gottes und den darin vorgesehenen Leidensweg des Messias aufzuzeigen. Anders als 17,22f und 20,18f ist 16,21 nicht als wörtliche Rede gehalten, so dass es möglich ist, das Weggehen nach Jerusalem, das Leiden, den gewaltsamen Tod und die Auferweckung als stichwortartige Zusammenfassung der Hauptpunkte der Unterweisung Jesu zu lesen, mit der Jesus die Jünger von nun an wiederholt konfrontiert. Man kann erwägen, dass dazu auch das „Aufzeigen“ des Schriftzeugnisses gehört. Dazu würde jedenfalls passen, dass Matthäus das göttliche „Muss“ (vgl. Dan 2,28 LXX/TH), mit dem Jesus in V. 21 die Notwendigkeit seines Leidensweges herausstellt, in 26,54 noch einmal redaktionell aufnimmt und mit der Erfüllung der Schrift verbindet. Dieses „Muss“ findet ferner seine Erläuterung in der soteriologischen Bedeutung, die (auch) Matthäus dem Tod Jesu zuweist (20,28; 26,28). An der vollen Verantwortung der Autoritäten für die Kreuzigung Jesu und ihrer Schuld ändert dieses „Muss“ nichts. Menschliche Verantwortung und göttliches Heilshandeln bilden für Matthäus keine Alternative. Daraus, dass Matthäus, anders als Markus, Jerusalem nicht erst in der dritten, sondern schon in der ersten Leidensankündigung nennt, folgt nicht nur, dass man Jesus von 16,21 an auf dem Weg nach Jerusalem sehen kann, sondern vor allem, dass auch der Ort des Leidens ausdrücklich unter das Vorzeichen des Vor(her)gesehenen gestellt wird. 16,21 ist damit ein weiterer Mosaikstein in der theologischen Topographie des Evangelisten (vgl. 2,3; 21,10f; 23,37–39). Matthäus hat in allen drei Ankündigungen die mk Rede von der Auferstehung nach drei Tagen durch die von der Auferweckung am dritten Tag ersetzt, worin sich der Einfluss einer kerygmatischen Formel manifestieren dürfte, die schon in 1Kor 15,4 als altes Traditionsgut greifbar ist. Die Reaktion von Petrus zeigt, dass er einen gewaltsamen Tod Jesu nicht 22 mit der Identität, die er Jesus in V. 16 zugeschrieben hat, zu vereinbaren vermag. Matthäus begnügt sich dabei nicht wie Mk 8,32 damit, die abwehrende Haltung von Petrus zu benennen, sondern er legt Petrus wörtliche Rede in den Mund. Der vom LXX- Griechisch beeinflusste, elliptische Ausruf „gnädig dir, Herr“, in dem Gott als Subjekt zu ergänzen ist, dürfte als Wunsch zu verstehen sein (vgl. z. B. 1Chr 11,19 LXX ; 1Makk 2,21; JosAs 6,7; VitProph 4,18). Trotz des quantitativen Gewichts von Belegen für das Adjektiv, in denen es um Gottes Nachsicht angesichts begangener Sünden

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geht (Ex 32,12; 1Kön 8,34.36.50; 2Chr 6,39; Jer 27[50],20 LXX ; JosAs 6,7 u. ö.), geht es in V. 22 kaum darum, dass Petrus Jesu vorangehende Ankündigung entsprechend wertet und ihm daher wünscht, Gott möge ihm angesichts seiner Äußerung gnädig sein. Vielmehr ist die formelhafte Wendung im Licht und auf der Linie des nachfolgenden Satzes so zu verstehen, dass Gott Jesus vor dem Leidensweg bewahren solle. Mit seiner scharfen Zurückweisung von Petrus bewährt Jesus seinen ihn 23 als Gottessohn auszeichnenden Gehorsam, mit welchem er seinen Leidensweg beschreitet. Die einleitenden Worte „geh fort, hinter mich, Satan!“ lassen im mt Kontext auf die Zurückweisung des Teufels in 4,10 („geh fort, Satan“) zurückdenken. Die Einfügung von „du bist mir ein Ärgernis (skandalon)“ unterstreicht diesen Zusammenhang, denn die Ärgernisse (skandala), von denen in 13,41 im Sinne von Menschen, die andere zum Abfall zu verführen suchen, die Rede ist, gehen im dortigen Kontext nach 13,39 auf die Aussaat des Teufels zurück. In 16,22f erscheint Petrus also insofern in der Rolle des Satans, als er Jesus – wie der Satan in 4,1–10 – von seinem von Gott gewiesenen Weg abzubringen versucht, nur ist dies keineswegs die Intention seiner Handlung. Sein theologisches Versagen besteht, wie V. 23b deutlich macht, darin, dass er Leiden und Tod Jesu allein nach menschlichen Kriterien beurteilt, ohne dessen gewahr zu sein, dass das „Muss“ in V. 21 auf den Heilsplan Gottes verweist. Der auch anderorts begegnende Gedanke einer grundlegenden Differenz zwischen göttlichem und menschlichem Denken (vgl. Jes 55,8f) tritt in der Vorstellung vom Tod des Gottessohnes pointiert hervor. Paulus hat das in dem Disput zwischen Petrus und Jesus aufscheinende Problem, das Kreuz als Ort des Heils zu begreifen, in 1Kor 1,18–25 präzise auf den Punkt gebracht: Nach den Kriterien menschlicher Weisheit ist das Wort vom Kreuz eine Torheit. Im Kontext steht der Petrustadel in einem scharfen Kontrast zur Seligpreisung in V. 17. Christologisch wird durch V. 22f deutlich, dass Petrus’ Messiasbekenntnis zwar, wie V. 17 festhält, auf göttlicher Offenbarung beruht, er die messianische Gottessohnschaft Jesu aber auf der Grundlage seiner bisherigen Erfahrungen mit Jesus füllt, insbesondere mit der Erfahrung der Teilhabe Jesu an göttlicher Macht über die Elemente wie bei der Sturmstillung (8,23–27) und dem Seewandel (14,22–33). Dazu tritt die Ankündigung des Leidens und Sterbens Jesu in einen scharfen Kontrast, geht es hier doch – jedenfalls dem äußeren Anschein nach – um ein Ausgeliefertsein an die irdische Macht anderer, um Ohnmacht, um Machtlosigkeit (s. aber zu 26,2 und 26,53). Die Reaktion des Petrus zeigt das Schockierende, das die Leidensankündigung für die Jünger bedeutet. Von 16,21 an geht es um die Integration des Leidens und Sterbens als eines wesentlichen Momentes in das Messias- und Gottessohnverständnis der Jünger. Nicht schon in der von den Jüngern bisher erlebten Zuwendung Jesu zu seinem Volk in Lehre und Heilungen, sondern erst durch sein Lei-

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den und Sterben kommt der Weg des Messias und Gottessohnes zur Erfüllung. Von der gegenüber 4,10 überschießenden Ortsanweisung „hinter mich“ in V. 23 lässt sich ferner ein Bogen zur Berufung des Petrus mit den Worten „auf, hinter mich“ in 4,19 zurückschlagen. Statt Jesus auf seinem Weg ins Leiden im Weg stehen zu wollen, wird Petrus erneut sein Platz in der Nachfolge angewiesen. Zu dieser Nachfolge gehört nicht nur die Aussendung als Menschen- 24 fischer (4,19, vgl. 10,5–8), mit der die Jünger das Wirken Jesu weitertragen, sondern angesichts des Jesus selbst bestimmten Leidenswegs auch die Bereitschaft, selbst das Kreuz auf sich zu nehmen. Die Unterweisung in V. 24–28 führt ebendies unter erneuter Aufnahme der Rede vom „HinterJesus-Hergehen“ aus und zieht damit aus V. 21 die Konsequenz für das Verständnis der Nachfolge. Während Jesus in der szenischen Einbettung bei Markus das Volk gemeinsam mit den Jüngern zusammenruft (Mk 8,34), sind bei Matthäus allein die Jünger Adressaten der Unterweisung. Es geht hier nicht darum, allgemein die Schwere der Nachfolge zu kennzeichnen, sondern konkreter darum, sie den Jüngern gegenüber einzuschärfen. Im weiteren Kontext betrachtet wiederholt und verstärkt V. 24f, was Jesus den Jüngern schon am Ende der Aussendungsrede in 10,38f vorgetragen hat; die im Kontext von 16,21 hervortretende Anbindung an Jesu eigenen Lebensweg hat in der Aussendungsrede ein Pendant in 10,24f. Neu ist gegenüber 10,38 die aus Mk 8,34 übernommene Rede von der Selbstverleugnung. Die im Griechischen ungewöhnliche Wendung, sich selbst zu (ver)leugnen, dürfte eine Kontrastbildung zu „Christus verleugnen“ (26,34f.75, vgl. auch 10,33) sein. Damit gerät nicht eine strenge asketische Lebensform in den Blick, sondern die Bereitschaft, sich in der Nachfolge zugunsten der völligen Ausrichtung auf Jesus von den Bestrebungen des eigenen Ichs, von sich selbst, loszusagen und im Konfliktfall das Bekenntnis zu Jesus auch auf die Gefahr hin durchzuhalten, das eigene Leben zu verlieren, also das fundamentale Interesse eines jeden Menschen, das eigene Leben zu bewahren, zurückzustellen. V. 25 begrün- 25f det dies mit dem Verweis auf das eschatologische Ergehen: Wer sich dann, wenn er als Christ bedrängt wird, durch Leugnung seines Christseins aus der Affäre ziehen möchte, wird im Endgericht dafür verurteilt werden; wer hingegen sein Leben um Jesu willen verliert, wird es finden, d. h. auferweckt werden zum ewigen Leben. V. 26 führt den ersten Fall von V. 25 näher aus: Aller weltlicher Gewinn, sei es Besitz oder Macht (vgl. 4,8f), zerrinnt zu nichts angesichts des Verlustes des ewigen Lebens; keine Besitzanhäufung kann als Tauschmittel oder Lösegeld für das Leben dienen (vgl. Ps 49,7–9, ferner auch 2Bar 51,15). Die in 6,19–24 pointiert vorgetragene Kritik am Besitzstreben findet hier ein Echo. V. 27 macht die endgerichtliche Perspektive von V. 25f explizit: Der, 27 dem es unter der Gefahr, das Martyrium zu erleiden (vgl. 23,34), nachzu-

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folgen gilt, ist der Menschensohn, der ihnen im Endgericht als Richter gegenübertreten (vgl. 25,31f) und dann einem jeden, wie Matthäus mit einer atl. geläufigen Wendung formuliert (vgl. z. B. Ps 62,13; Spr 24,12), nach seinem Handeln vergelten wird. Selbstverleugnung und Kreuztragen in der Nachfolge Jesu werden eschatologisch „rationalisiert“. Dem Schluss der kurzen Jüngerunterweisung in V. 28, der anders als die 28 vorangehenden Verse nicht begründend an das Vorige anschließt, sondern feierlich mit „amen, ich sage euch“ eingeleitet und so hervorgehoben wird, hat Matthäus eine gegenüber Mk 9,1 veränderte Ausrichtung gegeben. Es ist nicht mehr davon die Rede, dass einige der Anwesenden nicht sterben werden, „bis sie das Reich Gottes in Kraft haben kommen sehen“, sondern Matthäus nimmt aus V. 27 die Rede vom Kommen des Menschensohnes auf. Dieser kommt aber nun nicht „in der Herrlichkeit seines Vaters“ zum Gericht, sondern „in seinem ( ! ) Reich“. Vom Reich des Menschensohnes war bereits in 13,41 die Rede, und zwar in dem Sinne, dass die Welt schon jetzt Herrschaftsbereich des Menschensohnes ist, was durch 26,64; 28,18–20 illustriert wird (vgl. zu 13,41). Auf diesem Hintergrund liegt es nahe, dass Matthäus in 16,28 ein Naherwartungslogion, das für ihn insofern problematisch war, als zu seiner Zeit wohl niemand aus dem Zwölferkreis noch am Leben war, in eine Ankündigung der Christophanie in 28,18–20 transformiert hat. Indem Matthäus die Rede vom Menschensohn nicht nur in 16,13, sondern auch in V. 28 redaktionell eingefügt (und das Vorkommen in Mk 8,31 in 16,21 durch das Personalpronomen ersetzt) hat, bildet diese eine Klammer um das Diptychon 16,13–20.21–28. Die Frage nach der Identität des Menschensohnes findet ihre Antwort darin, dass er, wie Petrus richtig bekennt, der Sohn Gottes ist, der jedoch, wie der Zwölferjünger noch zu lernen hat, leiden muss, aber von Gott auferweckt werden und am Ende als Richter erscheinen wird. Den Jüngern wird nach Ostern gewährt werden zu „sehen“, dass Jesus seine universale königliche Herrschaft angetreten hat. In 17,1–9 wird drei Jüngern bereits eine proleptische Schau seiner kommenden Auferstehungsherrlichkeit gewährt.

IV 2 Jesu kommende Herrlichkeit und das Unvermögen der kleingläubigen Jünger angesichts der Abwesenheit Jesu (17,1–20) Die Verwandlung Jesu und die Heilung des Mondsüchtigen bilden einen zusammengehörenden Erzählkomplex. Während drei Jünger auf einem hohen Berg Zeugen der Verwandlung Jesu werden, scheitern die Übrigen in der Ebene daran, die Bitte eines Vaters um Heilung seines Sohnes zu erfüllen. Diese Begebenheit auf dem Weg zur Passion nimmt die Situation der Jünger angesichts der kommenden irdischen Abwesenheit Jesu vor-

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weg. Ihrer Aufgabe werden sie nur dann erfolgreich nachkommen können, wenn sie ihren Kleinglauben überwinden. IV 2.1 Die Verwandlung des Gottessohnes und das Leiden der Boten Gottes (17,1–13) 1 Und nach sechs Tagen nimmt Jesus Petrus und Jakobus und Johannes, seinen Bruder, und führt sie allein hinauf auf einen hohen Berg. 2 Und seine Gestalt wurde verwandelt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, seine Kleider aber wurden weiß wie das Licht. 3 Und siehe, Mose und Elia erschienen ihnen und unterredeten sich mit ihm. 4 Petrus aber hob an und sagte zu Jesus: „Herr, es ist gut, dass wir hier sind. Wenn du willst, werde ich hier drei Hütten machen, dir eine und Mose eine und Elia eine.“ 5 Als er noch redete, siehe, eine Wolke voll Licht überschattete sie. Und siehe, eine Stimme (kam) aus der Wolke und sagte: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe. Hört auf ihn!“ 6 Und als (es) die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und fürchteten sich sehr. 7 Und Jesus trat hinzu, berührte sie und sagte: „Steht auf und fürchtet euch nicht!“ 8 Als sie aber ihre Augen erhoben, sahen sie niemanden außer ihm, Jesus, allein. 9 Und als sie vom Berg herabstiegen, gebot Jesus ihnen und sagte: „Sagt niemandem von dem Gesicht, bis der Menschensohn von den Toten auferweckt ist.“ 10 Und die Jünger fragten ihn und sagten: „Warum sagen denn die Schriftgelehrten, dass zuerst Elia kommen müsse?“ 11 Er aber antwortete und sagte: „Elia kommt fürwahr und wird alles ‚wiederherstellen‘, 12 aber ich sage euch: Elia ist schon gekommen, und sie haben ihn nicht erkannt, sondern an ihm getan, was sie wollten. Ebenso wird auch der Menschensohn durch sie leiden.“ 13 Da verstanden die Jünger, dass er von Johannes dem Täufer zu ihnen sprach. Führte Jesus das Bekenntnis des Petrus auf Gottes Offenbarung zurück (16,16f), so wird nun Petrus und den beiden Zebedäussöhnen eine Vision (V. 9) zuteil, in der sie Jesus in der österlichen Herrlichkeitsgestalt des erhöhten Herrn schauen und ihnen Jesus durch die Himmelsstimme als Sohn Gottes offenbart wird. Die (aus Mk übernommene) Zeitangabe 1 „nach sechs Tagen“ fällt auf, da präzise Zeitangaben sonst nicht üblich sind, doch erschließt sich ihr genauer Sinn nicht ohne Weiteres. Sie könnte, da weitere Anklänge an die Sinaiperikope zu verzeichnen sind (s. u.), als intertextuelle Referenz auf Ex 24,16 zu lesen sein. Vielleicht soll sie aber auch nur der engen Anbindung der Verwandlung an 16,28 dienen: Bereits binnen einer Woche (fest verankert ist die Rede von „sechs Tagen“

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in der Schrift im Kontext des Sabbatgebots, also der Wochenstruktur) erfüllt sich Jesu Ankündigung für drei der Jünger in proleptischer Weise. Der „hohe Berg“ erinnert zum einen an 4,8, wo der Teufel Jesus die Weltherrschaft anbietet, zum anderen an 28,16–20, wo der Auferstandene seinen Jüngern wiederum auf einem Berg (28,16) seine universale Vollmacht kundtut und sie aussendet. In diesen Rahmen fügt sich die proleptische Schau der kommenden Auferstehungsherrlichkeit des inthronisierten Gottessohnes (zum Inthronisationsgedanken s. zu V. 5) thematisch nahtlos ein. In der Beschreibung der Verwandlung Jesu hat Matthäus durch die Ein2 fügung der Notiz, dass Jesu Angesicht wie die Sonne leuchtete (vgl. 13,43 und 2Hen 66,7; 4Esra 7,97; Offb 1,16), und des Vergleichspunktes „wie das Licht“ in der Bearbeitung von Mk 9,3 die Zugehörigkeit Jesu zur himmlischen Welt unterstrichen (zum „Licht“ als deren Attribut s. z. B. 1Hen 14,15–22; 2Hen 25,1–5). Dazu passend spricht Matthäus dann in V. 5 von 3–5 einer Wolke voll Licht. Die Bedeutung der Verwandlung Jesu wird in V. 3.5 durch ein dreigliedriges Geschehen entfaltet, dessen drei Glieder – das Erscheinen von Mose und Elia, das Kommen einer Wolke voll Licht und das Ertönen der Himmelsstimme – Matthäus jeweils durch die biblischem Erzählstil folgende Einfügung von „(und) siehe“ eingeleitet hat. Die primäre Bedeutung von Mose und Elia dürfte im Kontext von V. 2 darin zu sehen sein, dass sie als Repräsentanten der himmlischen Welt fungieren: Ihre Unterredung mit Jesus bestätigt entsprechend Jesu Zugehörigkeit zu dieser, wie sie zuvor durch die Darstellung seiner Verwandlung angezeigt wurde. Dies schließt weitere Sinngehalte wie den, dass Mose und Elia darüber hinaus Gesetz und Propheten repräsentieren, nicht aus. Die bei Matthäus gegenüber Mk 9,4 („Elia mit Mose“) veränderte Reihenfolge (V. 3: Mose und Elia) passt jedenfalls gut zum Dual „Tora und Propheten“. Petrus’ Vorschlag, drei Hütten (oder Zelte) zu errichten, zielt darauf, das Geschehen festzuhalten. Der von Matthäus vorangestellte Konditionalsatz „wenn du willst“ betont Petrus’ ehrfürchtige Haltung Jesus gegenüber. Petrus’ Worte bleiben jedoch ohne Erwiderung; die drei Jünger sind allein in der Rolle der Zuschauer. Noch während Petrus redet, überschattet „sie“ eine Wolke. Die Wolke ist hier Zeichen der Gegenwart Gottes (vgl. z. B. Ex 13,21f; 40,34–38; 1Kön 8,10f). Die Frage, ob das Personalpronomen „sie“ sich allein auf Jesus, Mose und Elia bezieht oder (wie in Lk 9,34) die Jünger eingeschlossen sind, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten, doch würde die erste Option gut dazu passen, dass die Jünger bisher als Zuschauer in das Geschehen selbst nicht involviert waren. Die Klimax des Geschehens bildet die aus der Wolke ertönende göttliche Stimme, die Jesus, im Wortlaut mit 3,17 identisch, erneut als Sohn Gottes proklamiert, nur hört nun anders als in 3,17 nicht nur Jesus die Himmels-

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stimme. Dem Auditorium in 17,5 korrespondiert, dass mit „hört auf ihn!“ ein Imperativsatz folgt, dem in dem Auftrag des Auferstandenen an die Jünger in 28,18–20 der Verweis auf seine Gebote zur Seite steht. Hört man in der Gottessohnprädikation die Anspielung auf Ps 2,7 mit, wird deutlich, dass hier das Motiv der himmlischen Inthronisation Jesu als Weltenherrn (vgl. 28,18b) mitklingt. Der Bezug zur Rede vom Kommen des Menschensohnes „in seinem Reich“ in 16,28 unterstreicht diesen Aspekt. Die Schilderung der Reaktion der Jünger in V. 6f bildet eine redaktio- 6–8 nelle Einlage des ersten Evangelisten. Sie dient dazu, die klimaktische Bedeutung der Audition zu unterstreichen und also das Hauptaugenmerk auf die Proklamation Jesu als Gottessohn zu richten. Matthäus greift in V. 6f auf traditionelle Motive zurück: Niederfallen (vgl. Gen 17,3; Ez 1,28; 1Hen 14,14; Offb 1,17) und (Ehr-)Furcht (vgl. Hab 3,2 LXX ; 1Hen 60,3) sind die angemessene Reaktion auf die Begegnung mit dem Göttlichen. So schildert Tob 12,16 in exakt derselben Weise die Reaktion von Tobit und Tobias auf den Erzengel Rafael. In Dan 8,16–18 begegnet darüber hinaus das Moment, dass der Erzengel Gabriel den vor ihm auf sein Angesicht niedergefallenen Daniel berührt und aufrichtet (s. auch Dan 10,9f). Ebenso topisch ist die Entgegnung mit „fürchtet euch nicht“ (vgl. Dan 10,12.19; 1Hen 15,1; Offb 1,17). Vom Hinzutreten Jesu spricht Matthäus ansonsten nur noch in 28,18 (ansonsten treten immer andere zu Jesus hinzu), womit eine weitere Querverbindung zwischen der Verwandlungsszene und der Ostervision gegeben ist. Nach dem Abstieg vom Berg folgt – nach 16,20 erneut – ein Schweige- 9 befehl, dem nun eine Befristung beigegeben wird. Im jeweils vorangehenden Kontext steht in 16,20 wie 17,9 jeweils die messianische Identität Jesu als Gottessohn im Vordergrund. Als davidischer Messias ist Jesus anhand seiner Werke erkennbar (11,2–6; 12,22f). Seine Offenbarung als Gottessohn ist hingegen bislang auf den Jüngerkreis beschränkt. Im Zuge der Passion wird Jesu Gottessohnschaft zum öffentlichen Thema ([21,37–42]; 26,63f; 27,43); erst danach, nach der Auferweckung Jesu, wenn sich ereignet hat, was Petrus, Jakobus und Johannes in 17,3–5 geschaut haben, dürfen auch die Jünger darüber reden. Die redaktionelle Kennzeichnung des Geschehens von V. 3–5 als „Gesicht“ verstärkt den zu V. 6f notierten Bezug zum Danielbuch, denn die Belege für das zugrunde liegende griechische Wort (horama) konzentrieren sich in der LXX auffallend auf Dan. Matthäus dürfte hier insbesondere durch Dan 7,13.15 LXX inspiriert gewesen sein, also durch den Textzusammenhang, der nicht nur in 24,30; 26,64 rezipiert ist, sondern auf den auch in 28,18–20 angespielt wird. Der Charakter von Mt 17,1–9 als Antizipation der Auferstehungswirklichkeit wird dadurch noch unterstrichen.

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Überblickt man die Verwandlungsgeschichte im Ganzen, zeigt sich – neben dem erwähnten Danielkolorit – in mehreren Einzelzügen eine auffallende Affinität zur Sinaitradition. Auch Mose steigt mit drei Begleitern (und siebzig Ältesten) auf einen Berg, den Berg Sinai (Ex 24,9.12–15), der von einer Wolke verhüllt wird, aus der heraus Gott nach Mose ruft (24,15f). Als Mose nach seinem erneuten Aufstieg auf den Berg zurückkehrt, ist sein Angesicht strahlend (Ex 34,29–35, vgl. 2Kor 3,7; LAB 12,1). Zudem besitzt die Aufforderung „hört auf ihn“ (Mt 17,5) ein Pendant in der Ankündigung eines Propheten wie Mose in Dtn 18,15. Die Differenzen in der Zuordnung der Motive zueinander und ihrer Ausgestaltung machen zugleich deutlich, dass die Verwandlungsgeschichte nicht einfach der Moseerzählung nachgebildet ist. Dies spricht aber nicht dagegen, dass Matthäus Assoziationen an die Sinaitradition evozieren wollte (die Rede vom Leuchten des Angesichts Jesu geht auf den ersten Evangelisten zurück!) und die Verwandlungserzählung darüber mit einer biblischen Aura umgeben wird: Die Anklänge an die Gottesoffenbarung am Sinai sollen dazu beitragen, die den drei Jüngern zuteilgewordene Schau der Verwandlung Jesu in den Kontext der heilsgeschichtlichen Basiserzählung Israels einzustellen. Die weiteren intertextuellen Bezüge auf Ps 2,7 und Dan 7,13.15 in V. 5 und V. 9 konkretisieren dies: Es geht um nichts Geringeres als die Schau der Inthronisation des Gottessohnes (Ps 2,7), dem auf ewig königliche Vollmacht gegeben ist und dessen Königsherrschaft nicht vergehen wird (Dan 7,13f). Das „Gesicht“, das den drei Jüngern zuteilwurde, evoziert bei diesen die 10–11 Rückfrage, warum den Schriftgelehrten zufolge erst Elia kommen müsse. Es ist möglich, dass in dieser Frage ein Einwand aufgenommen wird, der gegen die Christusgläubigen vorgebracht wurde: Da Elia noch nicht da war, kann Jesus nicht der Messias sein. Betrachtet man die Frage in ihrem vorliegenden literarischen Kontext, also auf der Ebene der mt Jesusgeschichte, steht für die Jünger aufgrund ihrer christologischen und heilsgeschichtlichen Erkenntnis, die durch das Geschehen von V. 1–9 weiter befördert wurde, freilich umgekehrt die Aussage der Schriftgelehrten in Frage. Bezugspunkt ist das Prophetenwort in Mal 3,22–24 (vgl. Sir 48,10), das auch Jesus in seiner Antwort mit der Rede von der „Wiederherstellung“ aufgreift, nur ist das Objekt in Mal 3,23f nicht summarisch „alles“, sondern das Herz der Menschen – eine Tendenz zur Ausweitung begegnet 12 aber schon in Sir 48,10 („die Stämme Jakobs“). Im Folgenden hat Matthäus die über das überlieferte „Wissen“ hinausführende Aussage, dass Elia schon gekommen ist, vorgezogen und daran erklärend angefügt, dass „sie ihn nicht erkannt haben“. Im Textduktus erläutert diese Unkenntnis, warum sie vielmehr gewaltsam gegen ihn vorgegangen sind. Mit der ausdrücklichen Analogisierung des Geschicks des Menschensohnes mit dem des Elia redivivus wird dem „Bergerlebnis“ der Verwandlung nach dem

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Abstieg sogleich ein erneuter Verweis auf das bevorstehende Leiden Jesu gegenübergestellt, so dass die in 16,16.21 eingeführte christologische Spannung in 17,5.12 erneut zum Ausdruck kommt, d. h. analog zur Sequenz in 16,13–20.21–28 wird auch in 17,1–9.10–13 die Hoheit des Gottessohnes (als Bergerfahrung) mit der Ankündigung seines Leidens (nach dem Abstieg) verbunden (V. 12). Dem fügt sich ein, dass der engere Jüngerkreis aus Petrus und den beiden Zebedaiden (V. 1) bei Matthäus nur ein einziges weiteres Mal begegnet, nämlich beim Gebet Jesu in Getsemani (26,37, Mk 5,37 hat Matthäus nicht übernommen, vgl. auch Mt 24,3 mit Mk 13,3), so dass auch über diese Figurenkonstellation die himmlische Herrlichkeit des Gottessohnes und die Notwendigkeit seines Leidens als die beiden Seiten der christologischen Medaille miteinander verbunden werden. Der Schlusssatz in V. 13 stammt wiederum aus Matthäus’ Feder. Die 13 Jünger sind wieder Verstehende (s. auch die Streichung von Mk 9,10). In 11,14 hat Jesus den Täufer vor dem Forum der Volksmengen als den Elia redivivus identifiziert. Nun begreifen die Jünger (in umgekehrter Richtung der Identifikation) nach Jesu Verweis auf das Leiden, das dem wiedergekommenen Elia widerfahren ist, dass von Johannes dem Täufer die Rede ist. Auf dem Hintergrund von Petrus’ Reaktion auf Jesu Ankündigung seines Leidens in 16,21f bedeutet die Erkenntnis des gewaltsamen Geschicks des Elia redivivus eine Hilfe für die Jünger, ihr Unverständnis gegenüber dem Gedanken an das Leiden des Messias abzubauen. Johannes bereitet als Vorläufer nicht nur der Botschaft Jesu den Weg (vgl. 3,2 mit 4,17); zugleich weist auch sein gewaltsamer Tod auf Jesu Leiden voraus. Dass die Jünger tatsächlich auch in dieser Hinsicht schon zum Verstehen gelangt sind, sagt Matthäus in V. 13 aber nicht. IV 2.2 Die Heilung des mondsüchtigen Kindes und der Kleinglaube der Jünger (17,14–20) 14 Und als sie zu der Volksmenge kamen, trat zu ihm ein Mensch und fiel vor ihm auf die Knie 15 und sagte: „Herr, erbarm dich meines Sohnes, denn er ist mondsüchtig und leidet schlimm. Oft fällt er nämlich in das Feuer und oft in das Wasser. 16 Und ich brachte ihn zu deinen Jüngern, und sie vermochten nicht, ihn zu heilen.“ 17 Jesus aber antwortete und sagte: „O ungläubiges und verdrehtes Geschlecht! Bis wann werde ich mit euch sein? Bis wann werde ich euch ertragen? Bringt ihn mir hierher!“ 18 Und Jesus fuhr ihn an, und der Dämon ging aus ihm heraus, und das Kind war von jener Stunde an geheilt. 19 Da traten die Jünger für sich zu Jesus und sagten: „Warum vermochten wir nicht, ihn auszutreiben?“ 20 Er aber sagt ihnen: „Wegen eures Kleinglaubens! Amen, ich sage euch

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nämlich: Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, werdet ihr zu diesem Berg sagen: ‚Geh fort von hier nach dort!‘ Und er wird fortgehen. Und nichts wird euch unmöglich sein.“ * * V. 21 („Diese Art aber fährt nur durch Gebet und Fasten aus.“) ist eine durch Mk 9,29 inspirierte, nur in Teilen der handschriftlichen Überlieferung bezeugte Anfügung; der Vers gehört nicht zum ursprünglichen Textbestand.

Es entspricht der übergreifenden Thematik in 16,21–20,34, dass Matthäus die bei Markus ausführlich geschilderte Heilung auf ihr Grundgerüst hin elementarisiert hat. Den Kürzungen ist auch der Dialog über den (Un-)Glauben des Vaters in Mk 9,22–24 zum Opfer gefallen. Statt noch einmal das Motiv des Glaubens des Bittstellers aufzunehmen (vgl. zu 15,28), konzentriert Matthäus die Erzählung ganz und gar auf die Thematisierung des Glaubens der Jünger als Voraussetzung für ihr therapeutisches Handeln bzw. auf das Versagen der Jünger aufgrund ihres Kleinglaubens. Mit dem Motiv der Abwesenheit Jesu wird dabei auf die Zeit nach dem Tod Jesu ausgeblickt, in der die Jünger ohne die Gegenwart des irdischen Jesus den ihnen gegebenen Auftrag ausführen müssen (vgl. 10,7f). Die mk Einleitung hat Matthäus radikal gekürzt. Die Auseinanderset14–16 zung zwischen den Jüngern, die Jesus in V. 1 zurückgelassen hat, und Schriftgelehrten wird übergangen. Matthäus notiert nur, dass nach der Ankunft der Gruppe um Jesus bei den Volksmengen (nicht bei den übrigen Jüngern wie in Mk 9,14) jemand an Jesus herantritt, der ihn um Erbarmen für seinen Sohn bittet (vgl. [8,6]; 15,22). Markus’ plastische und im Zusammenhang der Begegnung des Dämons mit dem Wundertäter noch erweiterte Krankheitsschilderung (Mk 9,17 f.20–22) wird in der Bezeichnung des Krankheitsbildes als Mondsucht (vgl. 4,24, gemeint ist Epilepsie, die in der Antike auf die Mondgöttin Selene zurückgeführt wurde) zusammengefasst. Zur Erläuterung der von der Krankheit ausgehenden Lebensgefahr begnügt sich Matthäus mit dem aus Markus’ zweiter Schilderung vorgezogenen Hinweis, dass der Dämon den Jungen oft ins Feuer oder Wasser wirft (vgl. Mk 9,22). Der besondere Akzent, der Mt 17,14–20 von den anderen Heilungsgeschichten unterscheidet, wird durch den Rückblick auf das Jüngerversagen in V. 16 eröffnet. Bis jetzt sind Kranke oder Bittsteller immer direkt an Jesus herangetreten. Während seiner Abwesenheit, als Petrus und den Zebedaiden eine Schau des Auferstandenen gewährt wurde, waren die übrigen Jünger gefordert, ihren Auftrag gemäß 10,1.8 auszuführen. Ihr Scheitern zieht die Klage Jesu in V. 17 nach sich, die in den beiden 17 „bis wann“-Fragen (vgl. Ps 13,2.3; 74,10 u. ö.) auf das bald eintretende Ende seiner Anwesenheit in der bis jetzt gewohnten Gestalt hinweist. Die

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Klage Jesu über „das ungläubige und verkehrte Geschlecht“ wird von vielen Auslegern auf Israel bzw. auf die in V. 14 erwähnten Volksmengen (als Repräsentanten Israels) bezogen, doch wirkt V. 17 bei diesem Verständnis im Textduktus deplatziert. Thema im vorangehenden wie nachfolgenden Kontext ist das Unvermögen der Jünger, so dass sich V. 17 im Textduktus nur auf diese beziehen kann: Der Vers ist eine – auf die nachösterliche Situation der Gemeinde zielende – Klage Jesu, dass die Jünger ohne ihn nichts vermögen, obwohl sie nach 10,1 dazu in der Lage sein müssten. Zum Bezug auf die Jünger passt, dass Jesu Aufforderung „bringt ihn mir hierher!“ dem Kontext nach als an die Jünger gerichtet zu denken ist, da der Vater seinen Sohn V. 16 zufolge zu diesen gebracht hat. Die Anrede der Jünger als „ungläubiges und verdrehtes Geschlecht“ ist im Mt zwar singulär, doch gälte dies auch bei einem Bezug auf die Volksmengen, denn sonst sind Worte von „diesem Geschlecht“ bei Matthäus auf die Autoritäten bezogen (11,16–19; 12,38–45; 16,1–4; 23,36). Zu beachten ist dabei, dass die Epitheta in 17,17 sich von der Charakterisierung der Autoritäten als „böse“ und „ehebrecherisch“ (12,39.45; 16,4) in den diese betreffenden Worten gegen „dieses Geschlecht“ deutlich unterscheiden. Die Heilung des Jungen wird von Matthäus nur ganz knapp vermerkt 18 und aller dramatischen Momente (Mk 9,26f) entkleidet. Hingegen hat 19–20 Matthäus die sich anschließende Jüngerbelehrung ausgebaut. Während diese bei Markus geradezu nachklappt, bildet sie bei Matthäus den Hauptund Zielpunkt. In Jesu Antwort auf die Frage der Jünger, warum sie den Dämon nicht auszutreiben vermochten, hat Matthäus den mk Verweis auf das Gebet durch ein wohl aus Q 17,6 stammendes Logion vom Senfkornglauben (vgl. Mt 21,21 par Mk 11,23) ersetzt, so dass das in V. 17 eingeführte Glaubensthema weitergeführt wird. Die Differenz zwischen dem dort diagnostizierten Unglauben und dem in V. 20 den Jüngern zur Last gelegten Kleinglauben korrespondiert der Differenz zwischen Klage und Unterweisung. Dem Glaubenden wird von Jesus mit dem Bildwort vom Bergeversetzen (vgl. Ijob 9,5; Josephus, Ant 2,333; bSanh 24a u. ö.) in hyperbolischer Weise eine Vollmacht zugesprochen, die sogar an sich Unmögliches umfasst: Glaube kann Berge versetzen. Glaube erscheint als Vertrauen in Gottes Macht, Verhältnisse (zum Guten hin) zu verändern. Der Vergleich mit einem Senfkorn dient dabei angesichts der Kontrastierung mit dem Kleinglauben nicht dazu, den Glauben (als gering oder entwicklungsfähig) zu qualifizieren, sondern fungiert rhetorisch als Widerlager für das Große, das dem Glauben im Sinne des unbedingten Vertrauens in Gott verheißen ist. Der Schlusssatz „und nichts wird euch unmöglich sein“ bezieht sich antithetisch auf das Unvermögen der Jünger (V. 16.19) zurück und weist dieses damit als Leitmotiv der mt Version aus.

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IV 3 Die zweite Leidens- und Auferweckungsankündigung (17,22f) 22 Als sie aber in Galiläa zusammenkamen, sagte Jesus zu ihnen: „Der Menschensohn wird in die Hände der Menschen ausgeliefert werden, 23 und sie werden ihn töten, und am dritten Tag wird er auferweckt werden.“ Und sie wurden sehr traurig. Im Anschluss an das Versagen der Jünger bekräftigt Jesus, was er in 16,21 den Jüngern aufzuzeigen begonnen hat: In Zukunft müssen die Jünger dauerhaft mit der physischen Abwesenheit Jesu zurechtkommen. Der Verweis auf das Zusammenkommen in Galiläa in der von Matthäus neu gestalteten Einleitung fällt auf, weil zuvor nicht von einer Trennung Jesu und der Jüngergruppe die Rede war. Verständlich wird die Notiz als Hinweis auf die bevorstehende Pilgerreise nach Jerusalem, denn Festpilger pflegten in Gruppen zu reisen. Anders als in 16,21 übernimmt Matthäus in der zweiten Leidensankündigung die Rede vom Menschensohn und damit das im Mk vorgefundene Wortspiel: Der Sohn des Menschen wird in die Hände der sündigen (vgl. die Variation zu „in die Hände der Sünder“ in 26,45) Menschen ausgeliefert. „Ausliefern“ ist Leitwort in der Passionserzählung (wie hier im Passiv ohne Nennung des Subjekts der Handlung noch in 26,2.46) und wird dort sowohl für das Handeln von Judas Iskariot (26,15 f.21–25.46.48; 27,3f, s. auch 10,4 sowie 20,18) als auch für die Übergabe Jesu an Pilatus durch die Mitglieder des Synedriums (27,2.18, vgl. 20,19) und schließlich auch von der Übergabe an die Soldaten durch Pilatus (27,26) gebraucht. In 4,12 wurde dasselbe Verb von Johannes dem Täufer gebraucht, und auch die Jünger müssen damit rechnen, „ausgeliefert“ zu werden (10,17.19.21; 24,9f), so dass auch über dieses Motiv Johannes, Jesus und die Jünger als leidende Boten Gottes zusammengespannt werden. Markus’ Verweis auf das erneute Unverständnis der Jünger (Mk 9,32) hat Matthäus wieder nicht übernommen; er spricht vielmehr von ihrer Trauer angesichts des bevorstehenden Todes Jesu (vgl. 26,22). Die Rede von seiner Auferweckung scheinen sie ob dieser Trauer noch gar nicht wahrzunehmen.

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IV 4 Das Leben und Handeln der Jünger im Lichte des Königtums Gottes (17,24–20,16) In dem längeren Passus zwischen der zweiten und dritten Leidensankündigung treten ethische Gesichtspunkte des Lebens der Jünger in den Vordergrund. Kennzeichnend ist dabei der durchgehende Bezug auf das Königtum Gottes. Schon in 17,24–27 ist impliziert, dass die Jünger als Kinder des Königs in den Blick kommen. Das die Rede vom Gemeinschaftsleben in 18,1–35 abschließende Gleichnis nimmt die Bezeichnung Gottes als König auf (18,23). Die Rede wird zudem programmatisch durch die Frage, wer der Größte im Himmelreich sei, eingeleitet (18,1). Nach dem Gemeindebezug von Mt 18 werden in Mt 19 mit Ehe, Kindern und Umgang mit dem Besitz die grundlegenden Dimensionen des Alltagslebens berührt. Die Ausrichtung auf das Himmelreich bleibt auch hier als Leitmotiv präsent. So mündet die Thematisierung von Ehescheidung und Wiederheirat in eine Aussage über jene ein, die um des Himmelreiches willen ehelos bleiben (19,12). Kindern ist nicht zu wehren, weil ihnen das Himmelreich gehört (19,14). Für Reiche sind die Aussichten, in das Himmelreich hineingehen zu können, hingegen denkbar schlecht (19,23f). Das Ende des Abschnitts (19,27–20,16) blickt auf das Heil für die Jünger aus, die hundertfach empfangen werden (19,29); das Himmelreichgleichnis von den Arbeitern im Weinberg mit seiner Darstellung der eschatologischen Lohnzuteilung (20,1–16) wirbt in diesem Zusammenhang für ein solidarisches Gemeinschaftsverhalten. IV 4.1 Die Tempelsteuer (17,24–27) 24 Als sie aber nach Kafarnaum kamen, traten die, die die Doppeldrachmen einzogen, zu Petrus und sagten: „Zahlt euer Lehrer keine Doppeldrachme?“ 25 Er sagt: „Doch!“ Und als er in das Haus kam, kam ihm Jesus zuvor und sagte: „Was meinst du, Simon? Von wem ziehen die Könige der Erde Zölle oder Steuer ein? Von ihren Söhnen oder von den Fremden?“ 26 Als er aber sagte: „Von den Fremden“, sprach Jesus zu ihm: „Also sind die Söhne frei. 27 Damit wir ihnen aber keinen Anstoß geben, geh an das Meer, wirf die Angel aus und nimm den ersten Fisch, der heraufkommt! Und wenn du sein Maul geöffnet hast, wirst du einen Stater finden. Nimm jenen und gib ihn ihnen für mich und dich!“ Zwischen die zweite Leidensankündigung und die Aufnahme von Mk 9,33–37 zu Beginn der Rede über das Gemeinschaftsleben (Mt 18,1–5) hat Matthäus aus seinem Sondergut die Frage nach der Entrichtung der Tempelsteuer gestellt. Die Einfügung an dieser Stelle des Markusfadens

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mag zum einen durch die Verbindung der Erzählung mit Kafarnaum (V. 24, vgl. Mk 9,33) motiviert sein; zum anderen passt die Perikope zeitlich, weil die Steuer vor den Pilgerfesten eingesammelt wurde (mSheq 1,1; 3,1, vgl. Philo, SpecLeg 1,77f; Josephus, Ant 18,312f), so dass V. 24–27 das mit V. 22 gegebene Signal auf die bevorstehende Wallfahrt nach Jerusalem verstärkt. Da die Perikope ferner indirekt auf die konfliktbeladene Situation der Christusgläubigen im Judentum verweist („damit wir aber keinen Anstoß geben“), passt sie zudem in die im Kontext verhandelte Leidensthematik. Schließlich wird durch die in 17,25f implizierte Vorstellung vom Königtum Gottes die leitmotivische Bedeutung des Himmelreiches in 18,1–20,16 vorbereitet (s. o. in der Einleitung zu 17,24–20,16). Biblische Grundlage für die Tempelsteuer ist Ex 30,11–16. Als von allen männlichen, jüdischen Erwachsenen jährlich zu entrichtende Abgabe (vgl. Neh 10,33) wurde die Tempelsteuer vermutlich um die Mitte des 1. Jh. v. Chr. auf pharisäische Initiative hin etabliert, während die Sadduzäer offenbar die ältere Praxis einer freiwilligen Abgabe zur Finanzierung des Kultes favorisierten und die Essener Ex 30,11–16 im Sinne einer nur einmal im Leben zu entrichtenden Abgabe verstanden (4Q159 2,6f). Auf diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Frage der Steuereintreiber in V. 24 nicht bloß eine implizite Aufforderung darstellt bzw. keineswegs rein rhetorisch ist. Die Perikope gliedert sich in zwei Gesprächsszenen an unterschiedlichen Orten: den im Freien lokalisierten kurzen Dialog zwischen Petrus und den Steuereintreibern und das Gespräch zwischen Jesus und Petrus im Haus (zum Haus vgl. 8,14; 9,28; 13,1.36). Der schlichten Bejahung der Frage der Steuereintreiber durch Petrus steht im Gespräch Jesu mit seinem Jünger eine differenzierte Position gegenüber. Das genaue Verständnis von V. 25f hängt davon ab, ob man unter den „Söhnen“ speziell Jesus und seine Nachfolger oder aber alle Israeliten versteht. Im ersten Fall bezeichnete die Freiheit der Söhne einen Sonderstatus der christlichen Gemeinde, den man dann in dem durch Jesus, den Sohn Gottes, vermittelten Verhältnis zu Gott als Vater begründet sein lassen und ferner dadurch profilieren kann, dass für die Jünger der Tempelkult insofern an Bedeutung verloren hat, als sie in Jesus die Vergebung ihrer Sünden erfahren (1,21; 26,28). Bei diesem Verständnis würde sich die Perikope auch in dieser Hinsicht gut an 17,22f anfügen. Gegen diese Deutung spricht, dass sie eine Einordnung der nicht-christusgläubigen Juden unter die Fremden impliziert, die im Gesamtkontext völlig unvermittelt käme und nicht zur mt Israeltheologie passt (vgl. die Bezeichnung der Israeliten als Kinder in 15,26!). Im zweiten Fall kann man V. 25f in die oben skizzierte kontroverse Diskussionslage über die Tempelsteuer einzeichnen: Mit dem Vergleich mit der unter den Königen auf Erden üblichen Praxis, Steuern allein den Fremden (gemeint sind wohl alle, die nicht zur Königsfamilie gehören) aufzuerlegen, bezieht

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der mt Jesus Position gegen die Praxis einer jährlich zu entrichtenden Steuer für den Tempel; Gott fordert von seinen Kindern keine jährliche Zwangsabgabe. Als Beleg für eine torakritische Tendenz (des mt) Jesu(s) eignet sich der Text so oder so nicht, weil eine jährlich zu entrichtende obligatorische Abgabe, wie gesehen, keineswegs ohne Weiteres aus der Tora abzuleiten ist. Die Bereitschaft, die Abgabe dennoch zu entrichten, folgt dem Bestreben, Konflikte zu vermeiden. Sichtbar wird hier die gefährdete Lage judenchristlicher Gruppen, die ein besonders besonnenes Verhalten erforderte, um die Gemeinde nicht unnötigen Angriffen auszusetzen. Die wundersame Beschaffung des für Jesus und Petrus fälligen Steuerbetrags (in der Antike ist verschiedentlich das Motiv eines kostbaren Fundes in einem Fischleib belegt, z. B. Herodot, Hist 3,42; bShab 119a) verschafft der von Jesus vertretenen Position in geradezu spielerischer Weise Geltung: Zwar wird die Abgabe geleistet, doch da hier im Grunde Gott selbst für den verlangten Betrag sorgt, kommt zugleich eindrücklich zum Ausdruck, dass die Kinder selbst nicht zur Zahlung verpflichtet sind. Zur Zeit des Evangelisten hatte Rom die Tempelsteuer durch den sog. fiscus Judaicus ersetzt, eine Juden auferlegte Kopfsteuer, die dem Jupiter Capitolinus gewidmet war (Josephus, Bell 7,218; Cassius Dio, HistRom 66,7,2). Im Blick auf diesen war die Argumentation mit dem Status der Kinder nicht applikabel. Eine aktuelle Bedeutung der Perikope für die mt Gemeinde kann man daher nur in ihrer paradigmatischen Bedeutung sehen: Mt 17,24–27 liefert ein Exempel für eine deeskalierende Strategie im Blick auf die sozial schwierige Lage der Gemeinde. Der textpragmatische Zielpunkt der Perikope ist also das in V. 27 vorgebrachte Bestreben, keinen unnötigen Anstoß zu bereiten. So verstanden ordnet sich der Text komplementär der nach der ersten Leidensankündigung thematisierten Bereitschaft zu, sein Kreuz auf sich zu nehmen. Dass V. 27 dabei nicht im Sinne einer bloßen Anpassungsmoral zu generalisieren ist, ist schon ausweislich 15,12 evident, wo Jesus sich in keiner Weise daran stört, den Pharisäern Anstoß bereitet zu haben. IV 4.2 Die Rede über das Gemeinschaftsleben in der Gemeinde (18,1–35) Wie die übrigen Reden ist auch Mt 18 eng in den narrativen Zusammenhang eingebettet. Dem durch 17,22 gegebenen und durch die Einstellung der Tempelsteuerperikope aufgenommenen Signal auf die bevorstehende Wallfahrt nach Jerusalem im vorangehenden Kontext steht in 19,1 der Hinweis zur Seite, dass Jesus Galiläa verließ und ins Gebiet von Judäa ging. Mt 18 wird damit betont als Jesu Rede im Angesicht seines Gangs ins Lei-

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den nach Jerusalem präsentiert. Dieser Situierung korrespondiert, dass der mt Jesus in Mt 18 zum einen ein Ethos der Niedrigkeit einschärft und zum anderen dieses zentral anhand der Vergebungsthematik konkretisiert. Beides steht in direktem Zusammenhang mit dem mt Verständnis des Todes Jesu: Dieser bedeutet einen freiwilligen Verzicht Jesu auf die ihm als Sohn Gottes zukommende Machtstellung und kann insofern als Modell der Selbsterniedrigung fungieren; zugleich dient der Tod Jesu der Vergebung der Sünden (26,28). Die zuweilen begegnende Bezeichnung der Komposition in Mt 18 als „Gemeinderede“ ist insofern unpräzise, als man in einer solchen auch Ausführungen über bestimmte Funktionen oder Ämter in der Gemeinde erwarten könnte. Mt 18 thematisiert aber allein das Gemeinschaftsleben innerhalb der als Ganze adressierten Jüngerschaft, und dies unter einem bestimmten Blickwinkel, nämlich eben unter den Aspekten von Niedrigkeit, Umgang mit Sündern und eigener Gefährdung. Matthäus verarbeitet in Mt 18, grob gesagt, in V. 1–9 Markusstoff (Mk 9,33–47*), an den sich dann Logien aus Q (Mt 18,10–15a.21f par Lk 15,4–7; 17,3f) und Sondergut (Mt 18,15b–20.23–35) anschließen. Die Gliederung der Rede ist schwierig. Das diachrone Profil bietet dazu keine Hilfe, weil Matthäus seinen Stoff seinem eigenen kompositorischen Willen unterworfen hat. In V. 21 ist durch die Frage des Petrus eine Zäsur gesetzt, ansonsten aber sind die Übergänge eher fließend. In V. 6–20 kann man mit V. 6–9, V. 10–14 und der in sich noch einmal ausdifferenzierbaren Einheit V. 15–20 drei Abschnitte definieren. Der Vorschlag, nach V. 14 eine Hauptzäsur zu setzen, hat gegen sich, dass V. 15–20, wie sich zeigen wird, V. 10–14 als Ausführungsbestimmungen zugeordnet ist. Da zugleich V. 6–9 und V. 10–14 durch das Stichwort der „Kleinen“ zusammengehalten werden, empfiehlt es sich, V. 6–20 zu einer – in sich dann dreiteiligen – Einheit zusammenzuziehen. Die Ausgangsfrage der Jünger in V. 1 (Mt 18 ist die erste Rede im Evangelium, die mit einer Jüngerfrage beginnt, vgl. noch Mt 24,3) und Jesu Replik darauf in V. 2–4 haben für das Ganze grundlegenden Charakter: Hier wird der für das Weitere fundamentale Niedrigkeitsgedanke etabliert. V. 5 schließt durch die Weiterführung der Rede vom „Kind“ an V. 2–4 an. Mit der Eröffnung durch einen Relativsatz entspricht V. 5 syntaktisch aber V. 6. Da zudem die Jüngerfrage in V. 1 mit V. 4 eine Antwort gefunden hat, empfiehlt es sich, mit V. 5 die Entfaltung der Grundlegung in V. 1–4 beginnen zu lassen.

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IV 4.2.1 Grundlegung: Hinwendung zum Niedrigsein (18,1–4) 1 In jener Stunde traten die Jünger zu Jesus und sagten: „Wer ist nun der Größte im Himmelreich?“ 2 Und er rief ein Kind zu sich, stellte es mitten unter sie 3 und sagte: „Amen, ich sage euch: Wenn ihr euch nicht umwendet und wie die Kinder werdet, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineingehen. 4 Wer nun sich selbst erniedrigen wird wie dieses Kind, dieser ist der Größte im Himmelreich. 18,1–5 fußt auf Mk 9,33–37. Matthäus hat seine Markusvorlage jedoch recht frei behandelt und in einem Maße umgestaltet, dass sich für V. 5 (par Mk 9,37a) eine neue kompositorische Zuordnung innerhalb der Rede ergibt (s. in der Einleitung zu Mt 18). Mk 9,33–37 kann man in zwei Untereinheiten untergliedern (V. 33–35.36f): Der Beschäftigung der Jünger mit der Frage, wer der Größte sei (V. 33f), begegnet Jesus mit dem Logion in V. 35; die Zeichenhandlung in V. 36 findet in V. 37 ihre Erläuterung. Bei Matthäus hingegen ist die Zeichenhandlung vorgezogen und Mk 9,35 (Matthäus bringt Varianten des Logions in 20,26f [par Mk 10,43f] und 23,11) der Umformulierung des Ausgangsproblems entsprechend (dazu gleich) durch V. 3f als Antwort auf V. 1 ersetzt. Aufgrund der bereits in 17,24f vorgebrachten szenischen Angaben kann 1 Matthäus Mk 9,33 übergehen. Er hat zugleich die negative Darstellung der Jünger aus Mk 9,33f abgemildert. An die Stelle der Unterredung der Jünger, wer der Größte sei, über deren Inhalt sie, von Jesus gefragt, betreten schweigen, hat Matthäus eine direkte Frage der Jünger an Jesus gesetzt, der er durch die Hinzufügung von „im Himmelreich“ eine neue Ausrichtung gegeben hat: Es geht darum, wer im Himmelreich der Größte ist. Jesus reagiert, indem er ein Kind in ihre Mitte ruft, um dieses den Jün- 2–4 gern – in einer der gesellschaftlichen Stellung des Kindes in der Antike diametral entgegengesetzten Weise – als Orientierungspunkt zu präsentieren. Die in V. 3f folgende Erläuterung ist zweigliedrig. Matthäus bietet zunächst ein in Form eines Konditionalsatzes formuliertes Logion über das Eingehen in das Himmelreich (vgl. 5,20), das eine Variante zu Mk 10,15 bildet. Statt von einer besonderen Position im Himmelreich zu reden, geht es also zunächst darum, überhaupt hineinzugelangen. Dieses setzt eine grundlegende Wende der Lebensorientierung voraus („wenn ihr euch nicht umwendet“). Impliziert ist hier, dass den Jüngern unterstellt wird, dass sie ihre Frage nicht bloß aus intellektueller Neugier gestellt haben, sondern selbst darauf aus sind, groß zu sein. Während V. 3 offenlässt, was die nachfolgende positive Mahnung, wie die Kinder zu werden, genau besagt, bringt V. 4, der im Ganzen redaktionell gebildet ist, hier Klarheit: Nicht Naivität, Unschuld, Gehorsam gegenüber den Eltern, Offenheit für

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Neues oder eine andere Kindern zuweilen zugeschriebene Eigenschaft bilden Vergleichspunkte, sondern ihr allgemein niedriger Status in antiken Gesellschaften. „Sich niedrig zu machen“ umfasst die innere Haltung der Demut ebenso wie konkreten Statusverzicht bzw. soziale Niedrigkeit. Statt auf Größe aus zu sein (V. 1, vgl. 20,26f), sollen die Jünger „sich klein machen“; statt Ehrenplätze und Prestige anzustreben (vgl. negativ 23,6f), sollen sie sich nach unten orientieren. V. 4 nimmt auf die Ausgangsfrage der Jünger explizit Bezug und lässt so ein Paradoxon entstehen: Die, die sich nach unten orientieren, werden im Himmelreich die Größten sein. Matthäus lässt Jesus zu Beginn der Rede also eine grundlegende Neubestimmung der Werteskala vorbringen, mit der das entscheidende Vorzeichen vor die weiteren Ausführungen der Rede gesetzt ist: Diese exemplifiziert das Ethos der Niedrigkeit im Blick auf den Umgang mit den Kleinen und Sündern in der Gemeinde. Die narrative Einbettung der Gemeinschaftsrede in den Kontext der Leidensankündigungen Jesu deutet dabei an, dass für Matthäus die Niedrigkeit als Wesensmerkmal christlicher Orientierung ein ethisches Implikat des Weges ist, den Jesus in seinem Leiden gegangen ist. Denn diesen Weg kennzeichnet in der mt Deutung eben der Verzicht auf die Inanspruchnahme von Machterweisen bis hin zum verächtlichen Tod am Kreuz, worauf Jesus aber von Gott erhöht wird. Analog dazu ist den Christen verheißen: Wer sich erniedrigen wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich. IV 4.2.2 Konkretisierungen des Niedrigkeitsethos (18,5–35) IV 4.2.2.1 Die Aufnahme eines Kindes (18,5) 5 Und wer ein einziges solches Kind in meinem Namen aufnimmt, nimmt mich auf. Die erste Konkretion des in V. 2–4 etablierten Niedrigkeitsethos in V. 5 knüpft direkt an die Eingangsszene an: Wer sich selbst erniedrigt wie ein Kind, sich also mit ihm „auf Augenhöhe“ begibt, behandelt ein solches in dessen sozial niedrigem Status nicht verächtlich, sondern „nimmt es an“. Dies fängt bei freundlich-respektvollem Umgang an, dürfte aber auch konkrete Unterstützung im Blick haben, etwa in Form der Versorgung von hilfsbedürftigen, möglicherweise verwaisten Kindern. V. 5 spricht dabei nicht appellativ in Form einer direkten Mahnung, sondern die Pointe liegt in der christologisch orientierten Erläuterung, dass die Annahme eines Kindes bedeute, Jesus selbst anzunehmen (vgl. 25,40.45). Dieser christologische Horizont ist durch die Rede von der Annahme eines Kindes „in meinem Namen“ im Relativsatz bereits vorbereitet. Der eschato-

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logischen Motivierung des Verhaltens (V. 3f) tritt deren Plausibilisierung über eine christologisch orientierte Weltsicht zur Seite, in der die Geringen durch die Solidarität Jesu mit ihnen geadelt sind (vgl. 25,31–46 und für Jesu Verhalten gegenüber Kindern 19,13–15). IV 4.2.2.2 Das Verhalten gegenüber den „Geringen“ (18,6–20) IV 4.2.2.2.1 Die Warnung vor der Verführung der „Geringen“ (18,6–9) 6 Wer aber einem dieser Geringen, die an mich glauben, Anlass zur Sünde gibt, für den ist es ein Vorteil, dass ein Eselmühlstein um seinen Hals gehängt und er in der Tiefe des Meeres ertränkt würde. 7 Wehe der Welt wegen der Verführungen! Denn es ist (zwar) unausweichlich, dass die Verführungen kommen. Jedoch wehe dem Menschen, durch den die Verführung kommt! 8 Wenn aber deine Hand oder dein Fuß dich zur Sünde veranlasst, hau ihn ab und wirf ihn von dir! Es ist besser für dich, verstümmelt oder lahm in das Leben einzugehen als mit zwei Händen oder Füßen in das ewige Feuer geworfen zu werden. 9 Und wenn dein Auge dich zur Sünde veranlasst, reiß es heraus und wirf es von dir! Es ist besser für dich, einäugig in das Leben einzugehen als mit zwei Augen in die Feuerhölle geworfen zu werden. Die im Markusfaden in 9,38–41 folgende Duldung eines im Namen Jesu exorzierenden Wundertäters, der sich nicht zur Jüngergemeinde hält, hat Matthäus ausgelassen; sie passt nicht in das mt Gemeindekonzept und vor allem nicht in den thematischen Duktus der mt Gemeinschaftsrede. Matthäus fährt stattdessen im Gefolge von Mk 9,42–48 mit einer Warnung vor den Verführungen in unterschiedlichen Perspektiven fort. In V. 7 hat er ein Logion aus einem thematisch verwandten Passus der Logienquelle eingefügt (vgl. Lk 17,1[f]). V. 6a formuliert – syntaktisch analog zu V. 5a – in einem vorangestellten 6 Relativsatz einen Tatbestand: Einem dieser Geringen wird ein Anlass zur Sünde gegeben. Die Anbindung an V. 5 wird noch dadurch unterstrichen, dass dadurch, dass Matthäus neben Mk 9,38–41 auch Mk 9,37b gestrichen hat, die christologische Näherbestimmung des Glaubens („die an mich glauben“) direkt an die christologische Sinnorientierung in V. 5 anschließt. Die christologische Grundlegung der Unterweisung wird also nicht nur durch deren narrative Einbettung angezeigt, sondern auch in der Rede selbst zur Geltung gebracht: Jesu eigener Weg bildet das Zentrum der Plausibilitätsbasis für das von den Jüngern erwartete Verhalten gegenüber dem seiner sozialen Stellung nach niedrigen Kind und den „Geringen“.

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Die Wiederaufnahme der Rede von den Geringen in den Rahmenversen zum Gleichnis vom verirrten Schaf (18,10.14) legt nahe, dass „Geringe“ hier kaum potentiell jeden Christen meint, sofern dieser die in V. 3f geforderte Orientierung „nach unten“ zeigt, und V. 6 entsprechend nicht ein Trostwort für die Jünger ist, dass die, die sie gefährden, ihre gerechte Strafe empfangen werden. Im Blick sind vielmehr gefährdete Christusgläubige, die in ihrer christlichen Lebensorientierung (noch) unsicher und schwankend sind. Für 18,6–35 ergibt sich damit ein durchgehender thematischer Faden: Es geht um den Umgang mit in ihrer Orientierung noch ungefestigten Christusgläubigen, die sündigen bzw. vom rechten Weg abzukommen drohen. „Ihnen Anlass zur Sünde zu geben“ blickt umfassend auf „Verleitung zum Abfall vom Glauben“ (Luz, Evangelium III, 19). Dies schließt Verführung zu moralischem Fehlverhalten ein, kann aber – ganz unspektakulär – z. B. auch heißen, dass ungefestigte Christusgläubige in der Gemeinde nicht die nötige Zuwendung erfahren, sondern despektierlich behandelt und so aus der Gemeinde herausgetrieben werden. Die Drohung für den, der zur Sünde verleitet, ist massiv: Angesichts der endgerichtlichen Strafe, die den Verführer erwartet, wäre für diesen sogar der grausame Tod durch Ertränktwerden, beschwert mit einem Mühlstein, 7 noch besser. V. 7 zeichnet mit einem zweifachen Weheruf die Verführungen in einen apokalyptischen Zusammenhang ein. Wichtig ist dabei, dass die, von denen die Verführungen ausgehen, nicht dadurch entlastet werden, dass das Kommen von Verführungen an sich unausweichlich ist. V. 8f wendet die Perspektive. Nun geht es um das eigene Verführtwer8–9 den. Matthäus hat die hier aus Mk übernommenen Logien, bei denen Mk 9,43 (Hand, vgl. Mt 5,30) und 9,45 (Fuß) in Mt 18,8 zu einem Logion zusammengezogen sind, ähnlich bereits in 5,29f gebracht. Die dortige Anwendung der Bildworte macht es unwahrscheinlich, Hand, Fuß und Auge metaphorisch auf Gemeindeglieder zu beziehen. Es geht hier also nicht um Meidung oder gar Exkommunikation, zumal der rigorose Ton nicht zu den differenzierteren Ausführungen in V. 15–17 passt und die Aussage, besser als Einäugiger etc. in das ewige Leben einzugehen als am Leib unversehrt im ewigen Höllenfeuer zu enden, kaum anders als auf ein Individuum gemünzt zu verstehen ist. Hand, Fuß und Auge stehen also analog zu 5,29f exemplarisch für die eigenen Körperglieder, von denen Verführung ausgeht, wobei ebenfalls wie in 5,29f auch hier nicht real zur Selbstverstümmelung aufgefordert wird. Den Zusammenhang mit V. 6f kann man darin sehen, dass eigenes Zu-Fall-Kommen andere mitreißen könnte.

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IV 4.2.2.2.2 Das Gleichnis vom verirrten Schaf (18,10–14) 10 Seht zu: Behandelt einen dieser Geringen nicht verächtlich! Denn ich sage euch: Ihre Engel in den Himmeln sehen allezeit das Angesicht meines Vaters in den Himmeln. * 12 Was meint ihr? Wenn ein Mensch hundert Schafe hat und sich eines von ihnen verirrt, wird er nicht die neunundneunzig auf den Bergen lassen, und er geht hin und sucht das verirrte? 13 Und wenn es geschieht, dass er es findet: Amen, ich sage euch: Er freut sich über es mehr als über die neunundneunzig, die sich nicht verirrt haben. 14 So ist es nicht der Wille vor eurem Vater in den Himmeln, dass eines dieser Geringen verloren geht. * V. 11 („Denn der Menschensohn ist gekommen, das Verlorene zu retten.“) gehört nicht zum ursprünglichen Textbestand.

Matthäus verlässt den Markusfaden und nimmt ein Gleichnis auf, das trotz der geringen Wortlautübereinstimmung mit Lk 15,3–7 aus Q stammen dürfte, denn die lk/mt Differenzen lassen sich plausibel als unterschiedliche Ausformulierungen einer gemeinsamen Grundlage verständlich machen. Matthäus hat das Gleichnis durch zwei von ihm formulierte Verse gerahmt, die über das Stichwort der Geringen den Zusammenhang mit dem Kontext herstellen. Waren in V. 8f einzelne angeredet, so wendet sich V. 10 mit dem Wechsel 10 zur 2. Pers. Pl. wieder der Gesamtheit der Jüngergemeinde zu, um die in V. 6 begonnene Unterweisung über das Verhalten gegenüber den Geringen fortzusetzen. Die Mahnung, ihnen nicht mit Geringschätzung gegenüberzutreten, findet in V. 10b eine erste Begründung über einen Verweis auf die himmlische Ordnung, in der den persönlichen Engeln der Geringen die bevorzugte Position unmittelbarer Nähe zu Gott zukommt. Gesagt ist damit: Bei Gott wird gerade den Geringen ein besonderer Wert beigemessen. Entsprechend sind sie in der Gemeinde nicht verächtlich zu behandeln. Positiv bedeutet dies, sich um die Geringen zu kümmern und ihnen nachzugehen, wenn sie in ethischer Hinsicht vom rechten Weg abgekommen sind oder überhaupt die Bindung an den Christusglauben und damit an die Gemeinde verlieren. Das in V. 12f folgende Gleichnis führt dies aus. 12–13 Anders als bei Lukas und wohl in Q ist bei Matthäus nicht vom verlorenen Schaf die Rede, sondern vom verirrten, das zu suchen ist, während das tatsächliche Finden in V. 13a allein als etwas Mögliches erscheint. Diese Ausrichtung hängt mit der Einstellung des Gleichnisses in die Rede über die Gemeinschaft zusammen. Matthäus spricht von verlorenen Schafen im Zusammenhang der missionarischen Zuwendung Jesu und seiner Jünger zu Israel (10,6; 15,24). In Mt 18 ist hingegen die Situation von Menschen

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adressiert, die sich der Jüngergemeinde angeschlossen haben, sich danach aber wieder abwenden (vgl. 13,19–22) und damit wiederum verloren zu gehen drohen (V. 14), wenn man ihnen nicht nachgeht und sie nicht „gefunden“ werden bzw. sich „finden“ lassen. Thematisierte die Parabel ursprünglich die Zuwendung Jesu zu den Verlorenen, so bietet Matthäus eine auf innergemeindliche Belange bezogene, paränetisch orientierte Adaption des Gleichnisses. Im Kontext kommt ihm die Funktion zu, das Verhalten gegenüber den Kleinen durch die Analogisierung mit der Sorge eines Hirten für ein abgeirrtes Schaf neu zu perspektivieren. Ihr Abirren ist nicht Grund, sie zu verurteilen (vgl. Mt 7,1), sondern kann allein Anlass sein, sich ihnen barmherzig zuzuwenden. Dieser durch das Gleichnis gesetzte Impuls wird noch deutlicher, wenn man die große Bedeutung hinzuzieht, die der Hirtenmetaphorik zur Charakterisierung des Wirkens Jesu im Evangelium insgesamt zukommt: Jesus ist der messianische Hirte Israels, der sich den Verlorenen barmherzig zuwendet (2,6; 9,36; 15,24). Wer ihm nachfolgt und damit im Sinne von 10,5f an seinem Hirtenamt teilhat, wer sich von ihm in seiner Lebensorientierung bestimmen lässt, für den muss es selbstverständlich sein, ungefestigte oder auf Abwege geratene Gemeindeglieder nicht zu verachten, sondern ihnen mit derselben Barmherzigkeit und Fürsorge zu begegnen, wie diese das Wirken des messianischen Hirten kennzeichnen. Dies gilt umso mehr, wenn man den atl. Hintergrund der mt Rezeption der Hirtenmetaphorik bedenkt, wobei Ez 34 nicht nur aufs Ganze gesehen, sondern auch speziell für Mt 18,12f von leitender Bedeutung ist. Das Suchen der Schafe (vgl. Ez 34,11 f.16), die Rede vom Abirren (vgl. Ez 34,4.16, aber auch Jes 53,6; Jer 27,17 LXX [= 50,17 MT]) sowie schließlich die Lokalisierung der neunundneunzig Schafe „auf den Bergen“ (vgl. Ez 34,13.[14], aber auch Jer 27,6 LXX [= 50,6 MT]) sind allesamt Züge, die der mt Version eigentümlich sind und ein Pendant in Ez 34 finden. Die Mahnung, sich den Verirrten zuzuwenden, kongruiert also mit dem in der Schrift verheißenen und für die Christusgläubigen in Jesus erfüllten Heilshandeln Gottes als Hirten des Volkes (Ez 34,11–22) durch den von ihm eingesetzten davidisch-messianischen Hirten (Ez 34,23; 37,24) und wird insofern von der 14 Autorität der Schrift gestützt. Entsprechend verweist Matthäus in V. 14 explizit auf den (Heils-)Willen Gottes: Die Geringen sollen (im Endgericht) nicht verloren gehen. Daher ist jetzt für sie Sorge zu tragen. Die Jünger sollen sich, indem sie Abirrenden nachgehen, als gute Hirten in der Nachfolge Jesu erweisen.

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IV 4.2.2.2.3 Die Zurechtweisung des Sünders und die Vollmacht der Gemeinde (18,15–20) 15 Wenn aber dein Bruder sündigt, geh und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein! Wenn er auf dich hört, hast du deinen Bruder gewonnen. 16 Wenn er aber nicht hört, nimm mit dir noch einen oder zwei, damit jede Sache auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen gestellt sei! 17 Wenn er aber nicht auf sie hört, sage es der Gemeinde! Wenn er aber auch auf die Gemeinde nicht hört, sei er für dich wie der Heide und der Zöllner! 18 Amen, ich sage euch: Was immer ihr auf der Erde bindet, wird im Himmel gebunden sein; und was immer ihr auf der Erde löst, wird im Himmel gelöst sein. 19 Wiederum, amen, sage ich euch: Wenn zwei von euch auf der Erde einig sind über jede beliebige Sache, um welche sie bitten, wird es ihnen von meinem Vater in den Himmeln geschehen. 20 Denn wo zwei oder drei auf meinen Namen hin versammelt sind, dort bin ich mitten unter ihnen.“ Mt 18,15–22 bietet eine wohl schon vormatthäisch erheblich erweiterte Fassung von Q 17,3 f. Die Mahnung, einen Bruder, der gesündigt hat, zurechtzuweisen und ihm im Falle der Umkehr zu vergeben, ist zu einer dreistufigen Verfahrensregelung für den Fall, dass der Betreffende auf die Zurechtweisung nicht in gewünschter Weise reagiert, ausgearbeitet. Der Evangelist hat ferner das Wort vom Binden und Lösen in V. 18 und ein Logion zur Gebetserhörung V. 19f angefügt. Das genaue Verständnis von Mt 18,15–17 ist durch die schwierige und kaum mit letzter Sicherheit zu entscheidende textkritische Frage belastet, ob in V. 15a „wenn dein Bruder gegen dich sündigt“ oder „wenn dein Bruder sündigt“ die ursprüngliche Lesart bildet. Die Wendung „gegen dich“ ist zwar handschriftlich solide bezeugt, fehlt mit dem Vaticanus und dem Sinaiticus aber gerade in besonders gewichtigen Handschriften. Für die These einer sekundären Streichung wird geltend gemacht, dass sich diese durch Einfluss der Parallele in Lk 17,3 erklären lasse. Mindestens ebenso plausibel ist aber, dass „gegen dich“ in Mt 18,15 von V. 21 her sekundär eingedrungen ist. Bei der kürzeren Lesart wird besser verständlich, dass in V. 15–17 die persönliche Aussöhnung zwischen dem Sünder und dem Zurechtweiser keine Rolle spielt, sondern wie in V. 14 das Heil des Sünders im Vordergrund steht. Kontextuell ist ferner zu beachten, dass die kürzere Lesart ohne „gegen dich“ besser zur mt Zusammenfügung von 18,15–17 mit dem Gleichnis vom verirrten Schaf passt, da sich so, wie zu zeigen sein wird, ein nahtloser Zusammenhang von 18,12–14.15–17 ergibt. Erst in V. 21f spitzt Matthäus im Gefolge von Q 17,4 die Thematik auf persönlich erlittenes Unrecht zu.

Der in V. 12f auf die Hand des Evangelisten zurückgehende Konditional- 15–17 satzstil setzt sich in V. 15–17 fort. Dem korrespondiert inhaltlich, dass es

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schon in V. 12–14 um das Verhalten gegenüber Sündern ging, d. h. die Fallschilderung „wenn dein Bruder sündigt“ entspricht der metaphorischen Rede vom Abirren eines Schafes. Näher ausgeführt wird nun, wie die Suche des Verirrten geschehen soll. Dabei findet der in V. 13a genannte Fall, dass das Schaf gefunden wird, eine Entsprechung in V. 15b. Ist in der auffälligen Formulierung „und wenn es geschieht, dass es [das Schaf] gefunden wird“ in V. 13 impliziert, dass dieser positive Fall keineswegs selbstverständlich ist, und setzt ferner auch V. 14 die Möglichkeit voraus, dass ein verirrtes Schaf verloren gehen kann, so kann man in V. 16f eben den negativen Fall, dass die Zurechtweisung vergeblich ist, näher reflektiert sehen. Die Affinität von Hirtenmetaphorik und Zurechtweisung lässt sich gut durch Sir 18,13 illustrieren, wo beides im Rahmen einer Aussage über Gottes Barmherzigkeit ( ! ) zusammensteht: Gott „weist zurecht und erzieht und lehrt und bringt zurück wie ein Hirte seine Herde“. In kompositorischer Hinsicht macht Sir 18,13 deutlich, dass sich die mt Zusammenfügung des Gleichnisses in V. 12–14 mit der Zurechtweisungsregel in V. 15–17 von einer traditionellen Motivverbindung her verständlich machen lässt. Zu beachten ist ferner, dass Matthäus mit „er weise ihn zurecht“ auf 15 Lev 19,17 anspielt – und damit auf den Kontext des Liebesgebots, das in Lev 19 in den thematischen Zusammenhang des Umgangs mit dem „Bruder“, der eine Verfehlung begangen hat, eingestellt ist. Dieser Bezug lässt sich erhärten, wenn man die frühjüdische Rezeptionsgeschichte von Lev 19,17f hinzuzieht, wie sie zum einen durch CD 9,2–8; 1QS 5,24–6,1, zum anderen durch die TestXII, hier besonders durch das TestGad, dokumentiert ist. Die Qumrantexte bieten eine Analogie zur Sequenz in Mt 18,16 f. Nach 1QS 6,1 darf eine Angelegenheit erst dann vor die Gemeinde gebracht werden, wenn eine Unterredung vor Zeugen stattgefunden hat (vgl. CD 9,3). Noch gewichtiger als dieses Moment ist allerdings, dass TestGad 4,2f die Missachtung des Liebesgebots anhand der öffentlichen Zurschaustellung von Vergehen exemplifiziert: Ein hassender Mensch, der Gottes Gebote über die Liebe zum Nächsten nicht hören möchte (V. 2), sucht die Verfehlung eines Bruders sofort allen publik zu machen (V. 3). Positiv gewendet heißt dies: Wer sich an der Liebe orientiert, stellt andere nicht ob ihrer Verfehlungen öffentlich bloß. Vielmehr wird er den Betreffenden selbst zur Rede stellen und ihn zurechtweisen. TestGad 6 führt ebendies aus, indem das Gebot, einander von Herzen zu lieben (V. 3a), mit einer Reflexion über das Verhalten gegenüber dem Sünder verbunden wird. Beachtet man diesen intertextuellen Horizont, wird deutlich, dass die geforderte Zurechtweisung als Ausdruck der Liebe aufzufassen ist und hinter der Weisung von V. 15a das Motiv steht, dass die Sünde des anderen nicht sogleich publik zu machen ist, um ihn nicht in der Gemeinde in ein schlechtes Licht zu rücken. Der Sünder soll nicht

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coram publico bloßgestellt werden; vielmehr ist das Gespräch mit ihm zu suchen. Die Erörterung des positiven Falls, dass der Sünder die Zurechtweisung akzeptiert, nimmt die soteriologische Dimension von V. 14 auf: Die Zurechtweisung dient der (Rück-)Gewinnung des Bruders (vgl. 1Kor 9,19–22 und 1Petr 3,1), damit dieser nicht verloren geht (vgl. Jak 5,19f). Bleibt das 16 Gespräch unter vier Augen hingegen erfolglos, ist als nächstes die begrenzte Öffentlichkeit von ein bis zwei weiteren Gemeindegliedern hinzuzuziehen. Matthäus begründet diesen Schritt durch ein Zitat von Dtn 19,15, dessen Sinn im mt Kontext freilich signifikant verschoben erscheint. Denn es wird nicht erkennbar, dass die Personen selbst Zeugen der Tat waren und entsprechend der – vor Gericht notwendigen – zuverlässigen Feststellung des Tatbestandes dienen können (vgl. z. B. CD 9,16–23). Dass die Zurechtweisung begründet (und notwendig) ist, steht schon in 18,15a nicht in Frage, doch beurteilt der Sünder sein Verhalten offenbar anders als der Zurechtweiser. Die Funktion der „Zeugen“ ist daher darin zu sehen, dem Sünder Einsicht in sein Fehlverhalten zu vermitteln und damit dem Votum des Zurechtweisers Nachdruck zu verleihen. Erst wenn auch dieser Versuch keinen Erfolg zeitigt, soll die Angelegen- 17 heit vor die Gemeinde gebracht werden. Der Sünder steht damit nicht mehr nur im Disput mit einzelnen, sondern die Gesamtgemeinde konfrontiert ihn damit, dass sie sein Verhalten als Missachtung des Willens Gottes ansieht. Bleibt auch dieser Versuch ohne Erfolg, ist das Scheitern der Zurechtweisung zu konstatieren. Der Sünder hat dokumentiert, dass er das in der Gemeinde gültige Verständnis des Willens Gottes nicht teilt, und er hat damit selbst seine Nicht-Zugehörigkeit zum Ausdruck gebracht. Der in V. 17 implizierte Ausschluss aus der Gemeinde zieht daraus die formelle Konsequenz: Er soll fortan „wie der Heide und der Zöllner“ sein, also als ein Außenstehender gelten. Für das Gesamtverständnis ist es von fundamentaler Bedeutung, dass das Ziel der Zurechtweisung keineswegs die Exkommunikation, sondern die Rückgewinnung des Sünders ist. Ebendies hat Matthäus durch seine Komposition betont, indem er V. 15–17 der Mahnung zur „Suche des Verirrten“ als Ausführungsbestimmungen zugeordnet und damit umgekehrt die poimenische Sorge um die Sünder als Vorzeichen vor V. 15–17 gesetzt hat. In ethischer Hinsicht ist dabei an zentralen Aussagen zweierlei festzuhalten: Zum einen soll der Sünder geschützt werden, indem die Zurechtweisung – anders als in 1Tim 5,20 – zunächst abseits der Öffentlichkeit der Gemeinde geschieht. Dies ist Ausdruck der Liebe. Zum anderen wird mit der Verpflichtung auf ein mehrstufiges Verfahren deutlich gemacht, dass die „Suche des Verirrten“ nicht schon nach einem ersten Misserfolg beendet werden darf; sie verlangt einen längeren Atem. Sie endet erst, wenn der Sünder sogar die Zurechtweisung der Gesamtgemeinde missachtet.

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Mit dem in V. 18 angefügten Logion vom Binden und Lösen wird den Entscheidungen der Gemeinde himmlische Gültigkeit zugesagt. War in 16,19 vom Binden und Lösen im Sinne der Bevollmächtigung zu autoritativer Toraauslegung die Rede, so geht es nun dem Kontext nach um Vergebung und Behalten von Sünden. Letzteres setzt freilich einen gemeindlichen Konsens über die ethischen Normen voraus. Unabhängig von der umstrittenen Frage nach der traditionsgeschichtlichen Priorität von 16,19 oder 18,18 ist daher festzuhalten, dass die Abfolge der Logien in der mt Komposition Sinn ergibt: Die in 16,19 Petrus (stellvertretend) zugesprochene Vollmacht ist die Voraussetzung für 18,18. Der Zusammenhang beider Verse wird noch dadurch unterstrichen, dass im jeweils unmittelbar vorangehenden Vers (16,18; 18,17) die einzigen Belege von ecclesia im Mt begegnen. Die in der Gemeinde gewährte Vergebung ist nach V. 18 nicht nur ein zwischenmenschlicher Akt zur Erneuerung des sozialen Miteinanders, sondern bedeutet zugleich, dass die Schuld vor Gott getilgt wird (vgl. 9,8). Umgekehrt folgt aus V. 18 für den Sünder, dass seine mangelnde Einsicht nicht nur durch den Gemeindeausschluss soziale Konsequenzen nach sich zieht, sondern auch soteriologische. Dass seine Sünde von der Gemeinde mit himmlischer Geltung „gebunden“ wird, bedeutet jedoch schon deshalb keine Vorwegnahme des Gerichts, weil spätere Umkehr nicht prinzipiell ausgeschlossen ist. Zumal im Lichte von V. 21–35 kann dabei kein Zweifel bestehen, dass die Gemeinde den Sünder dann wieder aufzunehmen hätte. V. 17b steht dem nicht entgegen, denn hier geht es allein darum, dass die Gemeindeglieder dem Sünder nach erfolglosem Beschreiten des dreigliedrigen „Instanzenwegs“ nicht mehr nachgehen sollen. V. 17b begrenzt die Versuche der Zurechtweisung, aber nicht die Vergebungsbereitschaft. Kommt der Sünder später von selbst doch noch zurück, ist damit eine neue Situation gegeben. Matthäus hat in V. 19 ein Logion über das Gebet angefügt, das für sich 19 genommen allgemein die Gebetserhörung zum Thema macht. Im hiesigen Kontext liegt nahe, dass es speziell um das Gebet für den Sünder geht. Dies kann sich auf die „Suche des Verirrten“ (V. 12–14) beziehen, aber auch auf Fürbitte nach dem Scheitern des Verfahrens: War die Zurecht20 weisung erfolglos, bleibt den Jüngern noch das Gebet für den Sünder. Dass die Jünger dabei darauf vertrauen dürfen, dass ihre Bitte Erhörung findet, begründet der mt Jesus in V. 20 damit, dass er selbst gegenwärtig ist (vgl. 28,20), wo zwei oder drei auf seinen Namen hin versammelt sind. Matthäus verweist mit V. 20 zugleich auf das christologische Fundament, das die gesamte Rede trägt. Zielt der Heilswille Gottes darauf, dass niemand verloren geht (V. 14), so zentriert Matthäus die Aufgabe Jesu in 1,21 programmatisch in der Rettung von den Sünden. Realisiert wird diese Rettung bei Matthäus zum einen in der konkreten Begegnung mit dem Irdischen (9,2–8), zum anderen und vor allem aber durch den Tod Jesu 18

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(26,28). Das bevorstehende Leiden Jesu ist christologischer Themenschwerpunkt im narrativen Kontext der Rede über das Gemeinschaftsleben. Sich im Namen Jesu zu versammeln, bedeutet in diesem Zusammenhang, der Gegenwart dessen gewiss sein zu dürfen, dessen Blut für die Vielen zur Vergebung der Sünden vergossen wurde (26,28) und dessen Einsatz für die Sünder die in seinem Namen Versammelten zur Sorge um die Sünder verpflichtet. IV 4.2.2.3 Grenzenlose Vergebung auch bei persönlich erlittenem Unrecht (18,21–35) 21 Da trat Petrus hinzu und sagte zu ihm: „Herr, wie oft wird mein Bruder gegen mich sündigen, und ich soll ihm vergeben? Bis zu siebenmal?“ 22 Sagt zu ihm Jesus: „Ich sage dir nicht: bis zu siebenmal, sondern bis zu siebenundsiebzigmal. 23 Darum gleicht das Himmelreich einem König, der mit seinen Knechten Abrechnung halten wollte. 24 Und als er angefangen hatte abzurechnen, wurde einer vor ihn gebracht, ein Schuldner von zehntausend Talenten. 25 Weil er aber nicht zurückzahlen konnte, befahl der Herr, dass er mit Frau und Kindern und allem, was er besaß, verkauft werde und zurückgezahlt werde. 26 Der Knecht fiel nun nieder, huldigte ihm und sagte: ‚Hab Geduld mit mir, und ich werde dir alles zurückzahlen.‘ 27 Der Herr jenes Knechts aber hatte Mitleid, ließ ihn gehen und erließ ihm das Darlehen. 28 Als aber jener Knecht hinausgegangen war, fand er einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldig war, und er packte ihn, würgte ihn und sagte: ‚Zahle alles zurück, was du schuldig bist!‘ 29 Da fiel nun sein Mitknecht nieder, bat ihn und sagte: ‚Hab Geduld mit mir, und ich werde (es) dir zurückzahlen.‘ 30 Er aber wollte nicht, sondern ging weg und warf ihn ins Gefängnis, bis er das Geschuldete zurückgezahlt hätte. 31 Als nun seine Mitknechte sahen, was geschehen war, wurden sie sehr betrübt, gingen und schilderten ihrem Herrn alles, was geschehen war. 32 Da rief ihn sein Herr herbei und sagt ihm: ‚Du böser Knecht! Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich batest. 33 Hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen müssen, wie auch ich mich deiner erbarmt habe?‘ 34 Und sein Herr wurde zornig und übergab ihn den Folterern, bis er alles Geschuldete zurückgezahlt hätte. 35 So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht, ein jeder seinem Bruder, von Herzen vergebt.“ War im positiven Fall der Wiedergewinnung des Bruders in 18,15b die 21f Sündenvergebung impliziert (vgl. Lk 17,3 [= Q]) und ist 18,18b auf die Sündenvergebung zu beziehen, so tritt diese Thematik mit V. 21 in den

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Vordergrund. Matthäus nimmt dazu den in 18,15 verlassenen Q-Faden wieder auf, gestaltet aber die Unterweisung Jesu aus Q 17,4 zu einem Dialog um. Waren in 18,1 die Jünger zu Jesus hinzugetreten, so tritt nun Petrus mit einer Frage hervor. Er hat verstanden, dass dem Bruder, der sich die Zurechtweisung zu Herzen nimmt, zu vergeben ist, wirft aber nun die noch offene Frage nach der Grenze der Vergebung auf und spitzt sie dabei auf das persönlich erlittene Unrecht zu, was sachlich insofern miteinander verhängt ist, als sich die Frage nach der Grenze der Vergebung umso schärfer stellt, wenn man selbst von der Sünde des anderen betroffen ist. Wenn Petrus nach seiner Frage noch nachschiebt „bis zu siebenmal?“, dürfte dies als ein großzügig gedachtes Angebot gemeint sein. Jesu Antwort läuft jedoch darauf hinaus, dass die Vergebung gar keine Grenze kennt. Die Radikalität der Forderung tritt durch die Anspielung auf das Lamech-Lied in Gen 4,24 (vgl. TestBenj 7,4) noch schärfer hervor: Grenzenlose Vergebung tritt an die Stelle strenger Vergeltung. Jesus bleibt in seiner Antwort aber nicht bei der radikalen Forderung 23–27 stehen, sondern er fügt ein Gleichnis von einem König an, dem ein Knecht die riesige Schuldenlast von zehntausend Talenten am Zahltag nicht zurückzuzahlen vermag und der seinem Schuldner auf dessen flehentliche Bitte hin viel mehr als den erbetenen Zahlungsaufschub gewährt, denn der König erlässt seinem Knecht einfach die ganze Schuld. Die Parabel ist als ein Himmelreichgleichnis eingeführt. Sie illustriert plastisch, dass mit dem Andringen der Königsherrschaft Gottes gerade für Sünder die Eröffnung einer neuen Lebenschance verbunden ist. Da mit dem in V. 25 anvisierten Verkauf nur ein Bruchteil dieser Summe gedeckt werden könnte, kann man mit Blick auf die Erzähllogik vermuten, dass ursprünglich von einem geringeren, wenngleich immer noch hohen Betrag die Rede war, der realistisch durch den Verkauf des Sklaven, seiner Frau, seiner Kinder und seines Besitzes hätte aufgebracht werden können. Matthäus hätte dann die Summe drastisch gesteigert, um Gottes Barmherzigkeit gegenüber Sündern herauszustellen. In der zweiten Szene tritt der soeben begnadigte Schuldner selbst als 28–30 Gläubiger auf: Auf dem Weg trifft er einen Mitknecht, der ihm einen vergleichsweise minimalen Betrag, nämlich den 600 000sten Teil der ihm erlassenen Summe, schuldet und von dem er nun das Geld zurückfordert. Matthäus erzählt die Reaktion des Mitknechts im Wortlaut in enger Anlehnung an V. 26, um die Parallelität zu betonen, nur ist nun die Huldigung, die sich dem König (= Gott) gegenüber gebührt, durch ein bloßes „bitten“ ersetzt; die Bitte selbst aber stimmt wörtlich mit V. 26 überein. Der Sklave aber verweigert seinem Mitknecht gegenüber das Erbarmen, das er selbst zuvor gnadenhaft erfahren hat. Auffallend ist, dass der Erzähler die Nachricht über dieses Geschehen 31–35 durch darüber betrübte Mitknechte an den König gelangen lässt (V. 31).

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Die Mitknechte sind transparent für die Glieder der Gemeinde; ihre Trauer zeigt an, wie diese auf die Verweigerung von Vergebung in ihrer Mitte reagieren sollen, da damit das Gruppenethos verletzt wird. Der König zieht nun seinen Schuldenerlass zurück. Mit seiner Unbarmherzigkeit, die mit der Anrede des Knechts in V. 32 als Ausdruck von Bosheit gewertet wird, die sonst als Kennzeichen der Gegner Jesu fungiert (12,34.39; 16,4; 22,18), hat der Knecht das ihm zuteilgewordene Erbarmen verwirkt (vgl. Jak 2,13). Er wird nun mit dem Maß gemessen, mit dem er selbst gemessen hat (Mt 7,1b, vgl. Luz, Evangelium III, 72), und den Peinigern überantwortet (V. 34). Die Anklage in V. 32f stellt dabei pointiert die unbedingte Verpflichtung zur Weitergabe der empfangenen Barmherzigkeit heraus und lässt damit das Motiv der imitatio Dei anklingen (V. 33, vgl. 5,48), das bereits in 18,12–14 durch die intertextuellen Bezüge mitzuhören war. Im Gesamtkontext ist ferner an 6,14f zu erinnern, wo die Vergebung durch Gott ebenfalls an die zwischenmenschliche Vergebung gebunden ist, nur geht dort der zwischenmenschliche Akt der göttlichen Vergebung voraus. Im Blick auf V. 21f könnte man die Funktion des Gleichnisses darin 21–35 sehen, dass Jesus seine radikale Forderung mit einer massiven Drohung untermauert (V. 34f): Wer seinem „Bruder“ nicht vergibt, wird im Endgericht für seine eigenen Sünden konsequent zur Verantwortung gezogen, und dies heißt: verurteilt. Ein solcher Interpretationsansatz genügt aber nicht. Denn im Kontext betrachtet ist die zentrale Funktion der Erzählung in V. 23–35, dass sie Petrus in der verfremdenden Sprache des Gleichnisses auf subtile Weise in einen Rollenwechsel verwickelt. Der Frage des Petrus entspricht in dem Gleichnis das Verhältnis zwischen dem Knecht und seinem Mitknecht. Für sich betrachtet erscheint es als alltäglich und durchaus legitim, die Bezahlung der Schuld von dem Mitknecht zu verlangen, also auf sein Recht zu pochen. In der Parabel ist aber eine Szene vorgeschaltet, die den Knecht als jemanden bestimmt, dem selber eine riesige Schuld erlassen wurde. Sein Verhalten rückt dadurch in ein völlig anderes Licht. Es erscheint als grotesk und absurd – und verstößt im Übrigen gegen die Goldene Regel (7,12): Der Knecht verweigert seinem Mitknecht, worum er selbst gebeten hat. Im Blick auf die Ausgangsfrage des Petrus macht das Gleichnis deutlich, dass sich jene nicht adäquat im Rahmen einer isolierten Betrachtung der Beziehung zwischen den beiden beteiligten Personen erörtern lässt. Denn der, der um Vergebung gebeten wird, wird durch die Parabel als jemand aufgewiesen, der selbst aus der (ungleich größeren) Vergebung Gottes heraus lebt. Dass Matthäus in V. 21 anders als in V. 1 speziell Petrus als Fragesteller einführt, erhält auf diesem Hintergrund einen tieferen Sinn. Petrus fungiert zwar auch anderorts als Sprecher der Jünger (15,15; 16,16; 17,4; 19,27, allerdings sonst nie in einer der fünf großen Reden, vgl. 13,10.36: die Jün-

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ger), doch dürfte auch daran zu denken sein, dass gerade Petrus, der Jesus verleugnet hat, aber nach der Auferstehung Jesu wieder zur Jüngerschaft gehört, Sinnbild für die Vergebung als Grundprinzip der Kirche ist. Petrus entspricht tatsächlich dem Knecht im Gleichnis, denn auch Petrus ist eine große Schuld erlassen worden. Er eignete sich daher hervorragend als Fragesteller, um mittels des Gleichnisses die radikale Forderung zur grenzenlosen Vergebung zu plausibilisieren. Das Moment des Rollenwechsels, in den Petrus durch das Gleichnis verwickelt wird, passt dabei gut zum Ethos der Niedrigkeit, das zu Beginn der Rede in V. 1–4 als Basis für die weiteren Ausführungen vorgebracht wird: Der, der um Vergebung gebeten wird, kann – selbst wenn er Petrus ist, der Fels der Kirche – dem Sünder nicht in hochmütiger Selbstgerechtigkeit gegenübertreten (vgl. 7,1–5), sondern nur eingedenk dessen, dass er selbst der Barmherzigkeit Gottes bedarf, und damit eingedenk seiner eigenen Niedrigkeit. Zusammenfassend ist festzuhalten: Mt 18 zeigt sich als eine thematisch wie positionell kohärente Rede. An ihrem Beginn bringt Matthäus ein Ethos der Niedrigkeit vor. Der Rest der Rede exemplifiziert diese grundlegende Orientierung. Demut und Niedrigkeit manifestieren sich darin, einem Kind auf Augenhöhe zu begegnen; für die „Kleinen“ zu sorgen statt sie zu verachten, wie ein Hirte um ein verirrtes Schaf Sorge trägt; und Demut und Niedrigkeit manifestieren sich in einer unbegrenzten Bereitschaft zu vergeben, selbst dann, wenn man persönlich von den Taten anderer betroffen ist, denn man selbst lebt aus der Vergebung Gottes heraus. Zwischenmenschliche Vergebung ist nichts anderes als eine Konsequenz aus der selbst erfahrenen Vergebung. Die von Petrus in V. 21 aufgeworfene Frage ist im Lichte der von Gott gewährten Vergebung zu betrachten. IV 4.3 Die Radikalität der Nachfolge und ihre Verheißung (19,1–20,16) IV 4.3.1 Ehe, Ehescheidung und Eheverzicht (19,1–12) 1 Und es geschah, als Jesus diese Worte beendet hatte, begab er sich fort von Galiläa und kam ins Gebiet von Judäa, jenseits des Jordans. 2 Und große Volksmengen folgten ihm (nach), und er heilte sie dort. 3 Und Pharisäer traten zu ihm, um ihn zu versuchen, und sagten: „Ist es einem Menschen erlaubt, seine Frau aus jedem (beliebigen) Grund zu entlassen?“ 4 Er aber antwortete und sagte: „Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer sie von Anfang an männlich und weiblich schuf 5 und sagte: ‚Deswegen wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen und sich mit seiner Frau verbinden, und die zwei werden zu einem Fleisch werden‘, 6 so dass sie nicht mehr zwei sind, sondern ein Fleisch? Was nun

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Gott zusammengefügt hat, soll ein Mensch nicht trennen.“ 7 Sie sagen zu ihm: „Warum hat Mose dann geboten, eine Scheidungsurkunde zu geben und sie zu entlassen?“ 8 Er sagt zu ihnen: „Mose hat euch im Blick auf eure Hartherzigkeit erlaubt, eure Frauen zu entlassen. Von Anfang an aber ist es nicht so gewesen. 9 Ich sage euch aber: Wer seine Frau entlässt – nicht wegen Unzucht – und eine andere heiratet, bricht die Ehe.“ 10 Seine Jünger sagen zu ihm: „Wenn die Sache* des Menschen mit der Frau so ist, ist es nicht förderlich zu heiraten.“ 11 Er aber sagte zu ihnen: „Nicht alle fassen dieses Wort, sondern (nur die), denen es gegeben ist. 12 Denn es gibt Eunuchen, die von Mutterleib so geboren sind; und es gibt Eunuchen, die von den Menschen zu Eunuchen gemacht worden sind; und es gibt Eunuchen, die sich selbst zu Eunuchen gemacht haben um des Himmelreiches willen. Wer es zu fassen vermag, der fasse es!“ * Wörtlich: „der Grund“ (wie in V. 3).

Nach der Sammlung der Jünger in Galiläa (17,22) zieht Jesus auf dem Weg 1–2 nach Jerusalem durch Judäa. Nach wie vor befinden sich große Volksmengen in seinem Gefolge (vgl. zu 4,25). Matthäus betont noch einmal die Zuwendung Jesu zu ihnen: Trotz der großen Bedeutung der Lehre Jesu in seinem Evangelium lässt er Jesus die Volksmengen hier nicht unterweisen (Mk 10,1), sondern heilen (vgl. Mt 14,14 par Mk 6,34, ferner Mt 4,24; 8,16; 12,15; 15,30). Diese Szenerie ruft wiederum die Pharisäer auf den Plan, die Jesus in ein 3 Gespräch über die Ehescheidung verwickeln. Anders als bei Markus fragen sie nicht, ob es überhaupt erlaubt sei, seine Frau zu entlassen, sondern ob dies aus jedem beliebigen Grund gestattet ist. Über legitime Scheidungsgründe gab es im antiken Judentum kontroverse Diskussionen, wie mGit 9,10 exemplarisch illustriert: „Das Haus Schammai sagt: Ein Mann soll seine Frau nicht scheiden, es sei denn, er hat etwas Schändliches an ihr gefunden, wie es heißt [Dtn 24,1]: Wenn er etwas Schändliches an ihr gefunden hat. Und das Haus Hillel sagt: Sogar, wenn sie das Essen hat anbrennen lassen, wie es heißt: Wenn er etwas an ihr gefunden hat. Rabbi Akiba sagt: Sogar, wenn er eine andere schöner als sie gefunden hat, wie es heißt: Und wenn sie ihm nicht gefällt“. Die Rekurse auf Dtn 24,1 bei Philo (SpecLeg 3,30: aus irgendeinem Grund) und Josephus (Ant 4,253: es gibt viele Gründe) spiegeln die Diskussion über Scheidungsgründe und belegen damit ihre Verbreitung für das 1. Jh. n. Chr. Indem Matthäus „aus jedem (beliebigen) Grund“ einfügt, stellt er das Gespräch zwischen Jesus und den Pharisäern in den Horizont dieser halachischen Debatte ein, jedoch so, dass die Frage der Pharisäer durch die 4–6 Einleitung der Antwort Jesu in V. 4 mit „habt ihr nicht gelesen“ auf deren mangelnde Schriftkenntnis zurückgeführt wird (vgl. Mt 9,13; 12,3.5.7;

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21,16.42; 22,31). Jesus entzieht allen kasuistischen Verästelungen in der Reflexion legitimer Scheidungsgründe den Boden, indem er auf den Schöpferwillen rekurriert, der aus der Zusammenschau von Gen 1,27 und dem als Gottesrede verstandenen Vers Gen 2,24 abgeleitet wird: Die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau (Gen 1,27) zielt darauf, dass die beiden ein Fleisch werden. V. 6a verdeutlicht, dass diese Einheit impliziert, dass im Grunde gar nicht mehr von zwei Menschen geredet werden kann („sie sind nicht mehr zwei“). Das Verständnis von Gen 2,24 als Gottesrede und damit als direkter Ausdruck des göttlichen Willens schreibt sich sodann in der Deutung des Zusammenkommens zweier Menschen als Zusammenfügung durch Gott (V. 6b) fort, was ein Verständnis der Ehe als einer lebenslangen Gemeinschaft zur Folge hat. Wer sich wie die Pharisäer auf die Diskussion von legitimen Scheidungsgründen konzentriert, verfehlt daher den in der Schrift bezeugten Willen Gottes. Das durch ein Scheidungsverfahren rechtlich geregelte Auseinandergehen der Ehepartner wird entsprechend als eigenmächtiges Menschenwerk betrachtet. Jesu Rekurs auf den Schöpferwillen (vgl. CD 4,20f) evoziert bei den 7–9 Pharisäern die Rückfrage, warum im Gesetz des Mose dann die Möglichkeit einer Scheidung durch das Ausstellen einer Scheidungsurkunde (Dtn 24,1–4, vgl. zu Mt 5,31f) rechtlich geregelt wird. Jesus interpretiert diese Option als eine Erlaubnis, die auf die Hartherzigkeit der Menschen Rücksicht nimmt. Er grenzt diese aber noch einmal ausdrücklich gegen den ursprünglichen Schöpferwillen ab (V. 8c). Das in V. 9 folgende Logion, das Matthäus aus der privaten Jüngerunterweisung (vgl. Mk 10,10–12) in die Auseinandersetzung mit den Pharisäern vorgezogen hat, geht einen Schritt weiter und führt die Konsequenz des zuvor dargelegten Eheverständnisses aus: Scheidung dient dazu, eine erneute Heirat zu ermöglichen; wer aber nach einer Scheidung wieder heiratet, begeht Ehebruch. Vorausgesetzt ist hier, dass eine von Menschen vollzogene Scheidung (V. 6b) die von Gott gestiftete Ehe coram Deo nicht aufzuheben vermag; daher wird mit der Heirat einer anderen Frau die erste Ehe gebrochen. Matthäus fügt aber – wie schon in 5,32 – mit der Unzuchtsklausel eine Ausnahme zum strikten Scheidungsverbot ein, mit der zugleich die Ausgangsfrage der Pharisäer doch noch eine Antwort findet: Nur Unzucht (der Frau) ist ein legitimer Grund für eine Scheidung. Zugleich bedeutet in diesem Fall eine erneute Heirat keinen Ehebruch, da die Ehe durch die Untreue (der Frau) bereits gebrochen ist. Die gegenteilige Ansicht, nach der Wiederheirat auch im Fall einer durch die Unzucht (der Frau) verursachten Scheidung Ehebruch bedeutet und entsprechend verboten ist, missachtet, dass das Logion in V. 9 durch die Einfügung der Unzuchtsklausel nur von Scheidungen aus anderen Gründen spricht. Vergleicht man den mt Dialog mit der mk Vorlage, zeigt sich auch hier 3–9 das Bestreben, den Eindruck zu vermeiden, Jesus würde sich direkt gegen

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ein Gebot der Tora stellen. Der mk Jesus fragt die Pharisäer: „Was hat Mose euch geboten?“ (Mk 10,3) – „euch“ signalisiert hier deutlich Distanz. Jesus kontert dann den Verweis auf die Erlaubnis der Scheidung (10,4) mit dem Rekurs auf Gen 1–2 (10,5–9); hier wird also eine Torapassage aus der Schöpfungsgeschichte gegen eine andere Stelle der Tora in Stellung gebracht. Indem Matthäus den Rekurs auf die Schöpfung vorgezogen hat, vermeidet er, dass Jesus den Schöpferwillen direkt gegen den Verweis auf Dtn 24,1–4 vorbringt. Vielmehr ist es Jesus, der als erster auf Passagen der Tora rekurriert, um den Willen Gottes darzulegen. Matthäus hat ferner in V. 7f die Verben „gebieten“ und „erlauben“ umgekehrt zugeordnet als Mk 10,3f: Bei Matthäus sprechen die Pharisäer davon, dass Mose das Ausstellen einer Scheidungsurkunde geboten habe (19,7), während Jesus dies als Erlaubnis interpretiert (V. 8). Zudem existiert bei Matthäus mit der Unzuchtsklausel eben ein Fall, in dem die in Dtn 24 vorausgesetzte Option der Scheidung zur Anwendung kommt. Durch die Integration des Ehescheidungslogions (V. 9) in die Auseinan- 10–12 dersetzung mit den Pharisäern hat Matthäus Raum gewonnen, die Unterweisung der Jünger neu zu gestalten. Sie nehmen Anstoß an Jesu Position. Die Wortwahl ihres Einwandes greift deutlich auf V. 3 zurück. Bei „der Sache (wörtlich: dem Grund) des Menschen mit der Frau“ geht es also darum, dass die Option der Ehescheidung (und damit Wiederheirat) nur im Fall ehelicher Untreue der Frau offensteht. Wenn daher in allen anderen Fällen eine Ehe aufrechtzuerhalten ist, ist es nicht gut zu heiraten. V. 10 bestätigt zugleich die obige Auslegung von V. 9, denn der Rückbezug auf V. 3 zeigt, dass die Jünger sich an Jesu strikter Beschränkung der Scheidungsgründe auf Unzucht (der Frau) stoßen, nicht aber an einem vermeintlichen generellen Verbot der Wiederheirat. Umstritten ist in Jesu Replik in V. 11f, ob die Rede von „diesem Wort“ auf V. (3–)9 rückverweist, auf das Jüngerwort in V. 10 zu beziehen ist oder auf das Logion in V. 12 vorausverweist. Für Letzteres spricht, dass V. 11 am Ende von V. 12 variierend aufgenommen wird, so dass eine Inklusion entsteht. Die Wendung „denen es gegeben ist“ erinnert an 13,11 und spielt damit bereits die Gottesreichthematik ein, die V. 12 dann expliziert. Nicht mehr von der Schöpfung, sondern vom Reich Gottes her wird nun argumentiert. Die ersten beiden Gruppen von Eunuchen (nach Dtn 23,2 haben solche keinen Zugang zur Gemeinde des Herrn) dienen nur dazu, die Besonderheit der dritten Gruppe herauszustellen. „Eunuchen um des Himmelreiches willen“ ist metaphorisch zu verstehen, meint also Eheverzicht um des Himmelreiches willen. Das Logion mag ursprünglich eine Replik auf die Beschimpfung Jesu und seiner Jünger als „Eunuchen“ gewesen sein, mit der die Zeitgenossen die Wanderexistenz der Jesusgruppe spöttisch kommentierten. Im mt Kontext wendet das Logion die Ehelosigkeit, die von den Jüngern als das geringere Übel geradezu resignativ ins Auge gefasst

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wurde, ins Positive: Angesichts des andringenden Himmelreiches, das mit ganzer Kraft zu suchen ist (vgl. 6,33), würdigt Jesus Eheverzicht als eine mögliche Option. Eine allgemeine Empfehlung oder gar ein Gebot der Ehelosigkeit wird hier allerdings nicht ausgesprochen (vgl. 1Kor 7,7). Die Radikalität des Verbots der Ehescheidung und Wiederheirat steht hinter den absoluten Forderungen der prinzipiellen Feindesliebe und des Vergeltungsverzichts nicht zurück. Eine verantwortliche ethische Reflexion muss allerdings die reale conditio humana – mit V. 8 gesprochen: menschliche Hartherzigkeit – in Rechnung stellen und angesichts dessen den jeweils besten Weg suchen. Die Weisungen Jesu können dabei als wichtige Orientierungsmarken bzw. ideale Zielpunkte dienen, sie können aber als absolutes Gesetz verstanden auch zum tötenden Buchstaben degenerieren, indem (seitens kirchlicher Obrigkeit) verlangt wird, auch eine gescheiterte Ehe aufrechtzuerhalten. Wenn Liebe und Barmherzigkeit in der mt Ethik die hermeneutische Mitte der Interpretation des Willens Gottes sind, dann ist um der Barmherzigkeit willen eine gescheiterte Ehe aufzulösen, statt zwei Menschen darin gefangen zu halten. Mit der Einfügung der Unzuchtsklausel hat Matthäus selbst bereits den Weg beschritten, dass es Ausnahmen zum strikten Ehescheidungsverbot geben kann (Paulus kennt eine andere Ausnahme; er hält Scheidung bei Mischehen für erlaubt, vgl. 1Kor 7,12–16) und dann auch eine erneute Heirat möglich ist.

IV 4.3.2 Die Annahme der Kinder (19,13–15) 13 Da wurden Kinder zu ihm gebracht, damit er ihnen die Hände auflege und bete. Die Jünger aber fuhren sie an. 14 Jesus aber sagte: „Lasst die Kinder und hindert sie nicht, zu mir zu kommen, denn solchen gehört das Himmelreich.“ 15 Und nachdem er ihnen die Hände aufgelegt hatte, ging er weg von dort. 13 An die Thematisierung der Ehe schließt im Gefolge der Markusvorlage (vgl. Mk 10,13–16) die Zuwendung zu den Kindern an. Das gewählte griechische Wort (paidion) bezeichnet des Näheren die Kleinkinder (in der Einteilung der Lebensalter von Hippokrates, die Philo, Opif 105 anführt, reicht der Lebensabschnitt bis zum Alter von sieben Jahren). Dazu passt, dass sie gebracht werden. An die Stelle der unspezifischen mk Zielangabe „damit er sie berühre“ (Matthäus verwendet das Verb „berühren“ – mit der Ausnahme von 17,7 – allein im Kontext des heilenden Handelns Jesu, s. 8,3.15; 9,20 f.29; 14,36; 20,34) ist bei Matthäus in Entsprechung zum narrativen Schlussrahmen in V. 15 die Bitte um Handauflegung und Gebet getreten (vgl. 1QGenAp 20,28f; Apg 6,6; 13,3). Gemeint ist damit die 14 Bitte (der Eltern [ ? ]) um Segen (für ihre Kinder). Die abwehrende Haltung der durch 18,2–5 scheinbar unbeeindruckten Jünger, die Jesus wohl die „Belästigung“ durch die Kleinkinder ersparen möchten, gibt Jesus die

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Gelegenheit, das Willkommensein der Kinder zu begründen (vgl. die Hinzufügung von „Frauen und Kindern“ in 14,21; 15,38 sowie die „Unmündigen“ in 21,15). Den mk Hinweis auf Jesu Unwillen über die Jünger (Mk 10,14) hat Matthäus im Zuge seiner Revision des mk Jüngerbildes gestrichen (vgl. zu Mt 14,33). Jesu Replik spricht nicht allein den Kindern das Himmelreich zu, sondern redet verallgemeinernd davon, dass solchen das Himmelreich gehört. Die Offenheit der Aussage korrespondiert der Vorbildfunktion des Kindes in Mt 18,1–4, wo das Kind die Niedrigkeit verkörpert, die auch von den Nachfolgern Jesu erwartet wird. Auch denen, die niedrig werden wie ein Kind, gehört das Himmelreich (vgl. Mt 5,3.10). Das Logion aus Mk 10,15 übergeht Matthäus hier, weil er eine Variante davon bereits in 18,3 integriert hat. V. 15 schildert nur noch knapp den Voll- 15 zug des Erbetenen. Markus’ Rede von der Umarmung der Kinder hat Matthäus ebenfalls ausgelassen. Jesu Handeln wird auf den Akt des Handauflegens und damit auf das theologisch Zentrale konzentriert. Die Tradierung und Übernahme des Textes dürfte Licht auf die Anwesenheit von Kindern in den (gottesdienstlichen) Versammlungen werfen: Wenn solchen das Himmelreich gehört, haben sie auch einen selbstverständlichen Ort in der Gemeinde. Nur vermuten kann man, dass es in der mt Gemeinde einen Ritus der Kindersegnung gab und der Text dies reflektiert. Mit Sicherheit lässt sich hingegen sagen, dass die Perikope keinen Hinweis auf die Praxis einer Kleinkindertaufe enthält und zu dieser Frage auch gar nichts sagen will; eine solche Praxis ist für das gesamte 1. Jh. n. Chr. nicht belegt. IV 4.3.3 Reichtum auf Erden oder Schatz in den Himmeln (19,16–26) 16 Und siehe, einer trat zu ihm und sagte: „Lehrer, was soll ich Gutes tun, damit ich ewiges Leben habe?“ 17 Er aber sagte zu ihm: „Was fragst du mich über das Gute? Einer ist der Gute. Wenn du aber in das Leben eingehen willst, halte die Gebote!“ 18 Er sagt zu ihm: „Welche?“ Jesus aber sagte: „Diese: ‚Du sollst nicht töten, du sollst nicht Ehebruch begehen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsches Zeugnis geben, 19 ehre den Vater und die Mutter‘ und ‚du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!‘“ 20 Der junge Mann sagt zu ihm: „Alles das habe ich gehalten. Was fehlt mir noch?“ 21 Jesus sprach zu ihm: „Wenn du vollkommen sein willst, geh hin, verkaufe deine Habe und gib (sie) den Armen, und du wirst einen Schatz in den Himmeln haben, und komm, folge mir nach!“ 22 Nachdem der junge Mann aber das Wort gehört hatte, ging er betrübt weg, denn er hatte viele Besitztümer. 23 Jesus aber sagte zu seinen Jüngern: „Amen, ich sage euch: Ein Reicher wird schwer in das Himmelreich hineinkommen. 24 Weiterhin sage

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ich euch aber: Es ist leichter, dass ein Kamel durch das Loch einer Nadel hindurchkommt, als dass ein Reicher in das Reich Gottes hineinkommt.“ 25 Als aber die Jünger (das) hörten, gerieten sie ganz außer sich und sagten: „Wer vermag dann gerettet zu werden?“ 26 Jesus aber blickte (sie) an und sagte zu ihnen: „Bei Menschen ist das unmöglich, bei Gott aber ist alles möglich.“ Der Passus gliedert sich in eine Begegnung Jesu mit einem reichen jungen Mann (V. 16–22) und ein daran anschließendes Jüngergespräch zu den Heilschancen von Reichen (V. 23–26). Matthäus folgt weiter dem Markusfaden, doch hat er V. 16–22 konsequent bearbeitet, um eine gegenüber Mk veränderte Zuordnung von Gebotsbefolgung (V. 18f) und Nachfolge Jesu (V. 21) zu erreichen. Ein zunächst nicht näher charakterisierter Fragesteller tritt an Jesus mit 16–17 der Frage heran, was er zur Erlangung des ewigen Lebens tun müsse. Der zunächst marginal erscheinende redaktionelle Eingriff, dass Matthäus das Adjektiv in der mk Anrede Jesu mit „guter Lehrer“ (Mk 10,17) in die Frage nach dem, was zu tun ist, gezogen hat, erklärt sich von seiner Umgestaltung der Antwort Jesu her. Statt Jesus verbunden mit einem Verweis auf das alleinige Gutsein Gottes demütig seine Bezeichnung als „gut“ zurückweisen zu lassen (Mk 10,18), greift die Erwiderung des mt Jesus kritisch die Frage selbst auf: „Was fragst du mich über das Gute?“ Diese Rückfrage insinuiert, dass sich die Antwort von selbst ergeben sollte. Im Rahmen atl.-jüdischer Überzeugung ist die Antwort in der Tat an sich evident, und Jesu Replik bietet genau das, was im Lichte von Schriftstellen wie Lev 18,5 oder Dtn 30,15–20 von einem frommen Juden zu erwarten ist: Der Weg zum ewigen Leben führt über die Befolgung der Gebote. Der an Mk 10,18 angelehnte Verweis auf das Gutsein des Einen, der bei Matthäus durch die genannten redaktionellen Eingriffe viel deutlicher als bei Markus auf die Frage nach dem, was (Gutes) zu tun ist, bezogen ist, bietet dazu die theologische Basis: Das Gute bestimmt sich über den einen, der gut ist, also von dem guten Gott her, der seinen Willen in der Gabe der Gebote kundgetan hat (vgl. Mi 6,8). Mit „halte die Gebote“ ist die Eingangsfrage aus V. 16 bereits suffizient 18–19 beantwortet. Der Dialog könnte beendet sein, doch begnügt sich Jesu Gesprächspartner nicht mit dieser allgemeinen Auskunft. Die Nachfrage „welche?“ impliziert, dass es Gebote geben könnte, deren Beachtung in soteriologischer Hinsicht nicht zwingend ist. Dies ist nach 5,19 auch die Position des Evangelisten (vgl. dazu Did 6,2f). Jesus antwortet denn auch nicht mit „alle“, sondern zitiert fünf Dekaloggebote, die den zwischenmenschlichen Bereich betreffen (Ex 20,12–16; Dtn 5,16–20), sowie das Nächstenliebegebot aus Lev 19,18. Letzteres ist eine mt Anfügung, während das nicht-dekalogische Gebot „du sollst nicht berauben“ aus

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Mk 10,19 gestrichen wurde. Durch die Umgestaltung des vorangehenden Dialogs tritt bei Matthäus die Bedeutung dieser Gebote klar zutage: Ihre Befolgung ist das Kriterium für den Eingang in das ewige Leben. Da Matthäus das Doppelgebot der Liebe in 22,40 ausdrücklich als Summe von Tora und Propheten ausweist, liegt es nahe, dass das Liebesgebot in 19,19 nicht bloß als bei-, sondern als übergeordnet zu verstehen ist. Bei den Dekaloggeboten handelt es sich mit Ausnahme der Elternehre um Verbote. Sind sie im Lichte des Liebesgebots zu verstehen, geht ihre Bedeutung nicht darin auf, Fehlverhalten zu untersagen, wie dies für das Tötungsverbot bereits in 5,21–26 zutage trat. Überhaupt ist für den mt Leser durch die Bergpredigt bereits klar, dass Jesus die zitierten Gebote radikal und extensiv versteht. Die selbstsichere Antwort des nun als Jüngling bezeichneten Ge- 20 sprächspartners „alles das habe ich gehalten“ gibt hingegen ein oberflächliches, buchstäbliches Verständnis der Gebote zu erkennen, wie es in der Bergpredigt den Pharisäern angelastet wurde (5,20–48). Der Fortgang des Gesprächs unterstreicht dies. Matthäus hat die Aussage des mk Jesus „eines fehlt dir noch“ (Mk 10,21) zu einer Frage des Reichen transformiert, die dieser aus der Gewissheit seiner Gebotserfüllung formuliert: „Was fehlt mir noch?“. Die von Jesus formulierte Hürde kommt ihm niedrig vor, was freilich allein an seinem unzureichenden Verständnis der mit den Geboten verbundenen ethischen Forderung liegt. Dem korrespon- 21 diert, dass die mit „wenn du vollkommen sein willst“ eingeführte Weisung Jesu in V. 21, die Habe zugunsten der Armen zu verkaufen, im Textduktus nicht als eine über die zuvor genannten Gebote hinausgehende Forderung zu verstehen ist. Denn Jesus quittiert das Weggehen des Reichen aufgrund dieser Forderung (V. 22) nicht damit, dass diesem bloß ein besonders schöner Platz im Himmel versagt bleiben wird; es geht vielmehr nach wie vor um die grundlegende Frage des Zugangs zum Himmelreich (V. 23–25). Auf der Basis des in V. 17 klar formulierten Kriteriums ist daher zu folgern, dass der Reiche entgegen seiner Behauptung in V. 20 die Gebote nicht gehalten hat, zumindest nicht in dem konkreten Fall der Forderung, die Jesus in V. 21 an ihn herangetragen hat. Erst von hier aus wird nun auch der eigentliche Sinn der Anfügung des Nächstenliebegebots einsichtig. Matthäus möchte die Forderung Jesu aus Mk 10,21 nicht als eine die Gebote übersteigende höhere Stufe, sondern als Entfaltung des Willens Gottes, wie er in der Tora niedergelegt ist, erscheinen lassen. Dies aber wäre nur mit den bei Markus zitierten Dekaloggeboten nicht gegangen. Durch die Anfügung des Liebesgebots aber kann die in der Markusvorlage vorgegebene Forderung des Besitzverzichts zugunsten der Armen nun als Explikation dessen verstanden werden, was es für den Reichen in seiner konkreten Situation bedeutet, die Tora im Sinne des Liebesgebots vollkommen zu erfüllen. Dem fügt sich ein, dass die Vollkommenheitsthema-

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tik in dem einzigen weiteren, ebenfalls redaktionellen Vorkommen im Mt (5,48) ebenfalls mit der Interpretation des Liebesgebots (5,43–47) verbunden ist und der Rückbezug auf die von den Jüngern geforderte bessere Gerechtigkeit (5,20) auch in Mt 5 deren soteriologische Relevanz deutlich macht. Vollkommenheit basiert für Matthäus auf der vollkommenen Erfüllung der hermeneutisch im Liebesgebot zentrierten Tora nach der Auslegung Jesu, und sie ist die Voraussetzung dafür, „in das Himmelreich einzugehen“ (5,20, vgl. 19,23f). Daraus folgt zugleich, dass das Halten der Gebote (V. 17) in ihrem von Jesus vermittelten Verständnis von Matthäus als integraler Bestandteil der Nachfolge angesehen wird, in die Jesus den Jüngling einlädt. Die Perikope bietet bei Matthäus damit eine weitere Illustration, dass Jesus nicht gekommen ist, Tora und Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen (5,17), und sie zeigt, was Erfüllung der Tora konkret bedeutet. Festzuhalten ist schließlich, dass Matthäus kein Zweiklassensystem von Jesusnachfolgern kennt, in dem sich eine Gruppe von Vollkommenen von den übrigen Nachfolgern abhebt. Die Vollkommenheitsforderung (5,48) richtet sich an alle. Tritt neben die radikale Auslegung des Liebesgebots in der Bergpredigt mit 19,21 die nicht weniger radikale Interpretation, dass die vollkommene Erfüllung des Gebots die Bereitschaft einschließt, seine Habe zugunsten der Armen zu verwenden, so ist aus 19,21 freilich nicht geradewegs zu schließen, dass für Matthäus das Liebesgebot generell die Forderung des totalen Besitzverzichts einschließt. Denn die Situation der Gemeinde ist mit der des reichen jungen Mannes schon insofern nicht identisch, als Nachfolge seit Tod und Auferweckung Jesu nicht mehr die Gestalt hat, mit Jesus umherzuziehen. Auf der anderen Seite macht diese Situationsdifferenz den Text für die mt Gemeinde aber auch nicht belanglos. Sonst hätte Matthäus ihn nicht übernommen und seiner Torakonzeption angepasst. Der Text verweist vielmehr auf eine Gemeinschaft, der auf der Basis des Liebesgebots die intensive Sorge für die Armen ins Stammbuch geschrieben ist. Der weitere Kontext einer solchen Verhaltensforderung ist die Erwartung des nahen Gottesreiches, mit der eine Umkehrung der Werte verbunden ist. Da man nicht zwei Herren zugleich dienen kann, Gott und dem Mammon (6,24), muss jeder, der sich in die Nachfolge Jesu begibt, zuallererst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit suchen (6,33).

22 Der eben in seiner Gebotserfüllung noch selbstgewisse junge Mann geht nun betrübt davon. Er hängt an seinem Besitz, und auch die Verheißung eines Schatzes in den Himmeln vermag ihn nicht von seinem irdischen Besitz loszureißen. Die Erzählung wird so zu einer Kontrastgeschichte zu 4,18–22. Passend dazu wird Petrus in V. 27 darauf verweisen, dass sie, die Jünger, alles verlassen haben (vgl. 4,20.22). Analog zu 19,3–12 schließt sich auch hier an die Begegnung mit (einem) 23–24 Außenstehenden eine Unterredung mit den Jüngern an (V. 23–26). Mit dem ins Absurde driftenden Bild vom Kamel, das durch ein Nadelöhr geht, unterstreicht Jesus, dass Reichtum ein erstrangiger Stolperstein auf

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dem Weg ins Heil ist. V. 24 spitzt dabei V. 23 zu: Für einen Reichen ist es nicht nur schwer, ins Himmelreich einzugehen, es ist im Grundsatz unmöglich. Die verallgemeinernde Aussage im Munde Jesu in Mk 10,24 hat Matthäus gestrichen; es geht spezifisch um die soteriologische Perspektive der Reichen. Erst die Jünger fassen das Problem weiter: Obwohl die Jün- 25 ger nicht zu den Reichen gehören (vgl. V. 27), erschrecken sie, denn wenn die Bedingung „halte die Gebote“ (V. 17) allgemein so streng gefasst ist, wie dies anhand der Gebotsauslegung an den reichen Jüngling in V. 21 exemplarisch aufscheint und unmittelbar zuvor mit Blick auf das in V. 18 zitierte Verbot des Ehebruchs durch das Ehescheidungs- und Wiederheiratsverbot dargelegt wurde (V. 3–9), dann stellt sich die Frage, ob überhaupt jemand dieses Kriterium zu erfüllen vermag. Ähnlich wie schon in V. 10 bereitet ihnen die Radikalität der Position Jesu Schwierigkeiten. Hingegen ist ihr Erschrecken kaum speziell dadurch ausgelöst, dass sie Reichtum – trotz 6,19–24 und der kritischen Aussagen über den unrechtmäßig erworbenen oder ungerecht verteilten Besitz in der prophetischapokalyptischen Tradition (vgl. Jes 5,8–10; Am 5,6–12; 8,4–7; Mi 2,1–5; 1Hen 97,7–10 u. ö.) – als Ausdruck des Segens werten (Gen 24,35; 26,12–14; Ps 112,3, dagegen 1Hen 96,4) und sie deshalb aus V. 23f folgern, dass die soteriologischen Perspektiven allgemein düster sein müssen, wenn schon von Gott vermeintlich Gesegnete nicht in das Himmelreich kommen. V. 26 greift nicht über V. 25 hinweg auf V. 24 zurück, offeriert 26 also nicht doch noch speziell auf den an sich aussichtslosen Fall des Reichen blickend eine Heilschance für diesen, sondern antwortet auf V. 25 und bewegt sich damit auf der von den Jüngern betretenen grundsätzlichen Ebene: Wenn auf der Basis der Antwort Jesu in V. 17 die Einlasskriterien für das Himmelreich im Ganzen allein an der vollkommenen Befolgung des radikal gefassten Gotteswillens ausgerichtet sind, erscheint es tatsächlich als unmöglich, dass ein Mensch ins Heil eingehen kann. Der zweite Teil des Satzes „bei Gott aber ist alles möglich“ (vgl. Gen 18,14; Jer 32,17.27) balanciert die radikale Forderung dadurch aus, dass das Moment der Gnade und Barmherzigkeit Gottes eingebracht wird. Davon war zuvor in Mt 18 eindrücklich die Rede: Gott ist jemand, der auch riesige Schulden erlässt. Dadurch wird es möglich, dass Menschen gerettet werden. Auch das nachfolgende Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg setzt einen Kontrastakzent zur Befürchtung der Jünger, indem es die Güte Gottes (20,15) ins Spiel bringt. Weiter systematisiert wird das Verhältnis von Forderung und Barmherzigkeit Gottes hier nicht.

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IV 4.3.4 Die Verheißung des Heils für die Jünger und das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (19,27–20,16) 27 Da antwortete Petrus und sagte zu ihm: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was also wird mit uns sein?“ 28 Jesus aber sagte zu ihnen: „Amen, ich sage euch: Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, werdet bei der Wiedergeburt, wenn sich der Menschensohn auf den Thron seiner Herrlichkeit gesetzt hat, auch selbst auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. 29 Und jeder, der Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen verlassen hat, wird Hundertfältiges empfangen und ewiges Leben erben. 30 Viele Erste aber werden Letzte sein, und Letzte Erste. 20,1 Denn das Himmelreich ist gleich einem Hausherrn, der gleich am frühen Morgen hinausging, um Arbeiter in seinen Weinberg einzustellen. 2 Nachdem er aber mit den Arbeitern um einen Denar den Tag übereingekommen war, sandte er sie in seinen Weinberg. 3 Und als er um die dritte Stunde hinausging, sah er andere untätig auf dem Markt herumstehen 4 und sagte zu jenen: ‚Geht auch ihr hin in den Weinberg; und was gerecht ist, werde ich euch geben.‘ 5 Sie aber gingen hin. Als er aber um die sechste und die neunte Stunde wieder hinausging, machte er es ebenso. 6 Als er aber um die elfte Stunde hinausging, fand er andere stehen und sagt zu ihnen: ‚Warum steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum?‘ 7 Sie sagen zu ihm: ‚Weil niemand uns eingestellt hat.‘ Er sagt zu ihnen: ‚Geht auch ihr hin in den Weinberg!‘ 8 Als es aber Abend geworden war, sagt der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: ‚Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn, indem du bei den Letzten anfängst, bis zu den Ersten!‘ 9 Und als die von der elften Stunde kamen, empfingen sie je einen Denar. 10 Und als die ersten kamen, meinten sie, dass sie mehr empfangen würden; und auch sie empfingen je einen Denar. 11 Als sie ihn aber empfangen hatten, murrten sie gegen den Hausherrn 12 und sagten: ‚Diese Letzten haben eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns, die wir die Last des Tages und die Hitze ausgehalten haben, gleich gemacht.‘ 13 Er aber antwortete und sagte zu einem von ihnen: ‚Freund, ich tue dir nicht unrecht. Bist du nicht um einen Denar mit mir übereingekommen? 14 Nimm das Deine und geh hin! Ich will aber diesem Letzten geben wie auch dir. 15 Oder ist es mir etwa nicht erlaubt, mit dem Meinen zu tun, was ich will? Oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin?‘ 16 So werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein.“ An den Wortwechsel über die Heilschancen der Reichen (V. 23–26) schließt sich – wie in Mk 10,23–27.28–31 – ein weiterer Gesprächsgang an, der die eschatologische Zukunft der zwölf Jünger (V. 27–30) thematisiert.

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Die Antwort Jesu auf Petrus’ Frage nach ihrem Ergehen geht in 20,1–16 nahtlos – ohne eine erneute Redeeinleitung – in die Erzählung des zum mt Sondergut gehörenden Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg über, so dass es sich empfiehlt, 19,27–30 und 20,1–16 zusammenzuziehen. Dies gilt umso mehr, als das Logion von den Ersten und Letzten aus 19,30 in 20,16 wiederkehrt und damit das Gleichnis rahmt. Hat Jesu Replik in 19,26 die generelle soteriologische Skepsis, die in 27 dem Erschrecken der Jünger über die Strenge der Anforderung aufschien (V. 25), aufgebrochen, so rekurriert Petrus nun speziell auf die Forderung von V. 21 und verweist darauf, dass sie im Kontrast zum Jüngling alles verlassen haben und Jesus nachgefolgt sind. Mit der gegenüber Mk 10,28 ergänzten Frage lässt Matthäus Petrus als Sprecher der Jünger ausdrücklich nach ihrer Zukunft fragen. Durch die Einfügung des wohl Q entnomme- 28 nen Logions in V. 28 (vgl. Lk 22,30) steht bei Matthäus in Jesu Antwort eine Verheißung voran, die man angesichts der Rede von den zwölf Thronen kaum anders denn als streng auf den (später um Judas reduzierten) Kreis der zwölf Jünger bezogen lesen kann. 19,28 ist kompositorisch die erste Anspielung auf den Zwölferkreis seit seiner erstmaligen Erwähnung in 10,1–4, so dass es naheliegt, einen Zusammenhang zwischen den Texten herzustellen: Der spezifischen Rolle der Zwölf als Teilhaber an der irdischen Sendung Jesu allein zu Israel (10,6; 15,24) korrespondiert, dass ihnen bei der „Wiedergeburt“, womit die Neuschöpfung der Welt (vgl. Jes 65,17; 66,22; 2Petr 3,13; Offb 21,1) gemeint sein dürfte, eine exponierte Rolle im Blick auf das endzeitliche Ergehen der Glieder des Zwölfstämmevolkes zugeschrieben wird. „Richten“ ist dabei nicht einseitig im Sinne von „verurteilen“ zu verstehen. Anderorts tritt als für Matthäus charakteristische Vorstellung der Typus des Beurteilungsgerichts mit doppeltem Ausgang hervor (25,31–46). Für 19,28 liegt daher nahe, dass der Ausgang des Gerichts offen ist. V. 29 öffnet die Verheißung im 29 Gefolge von Mk 10,29f für alle, die um Jesu willen irdisch verzichtet haben, doch hat Matthäus das Motiv einer innerweltlichen Kompensation (Mk 10,30), bei der vor allem an die ekklesiale familia Dei gedacht ist, gestrichen und so die Verheißung auf den Empfang des ewigen Lebens (vgl. V. 16) konzentriert. Die in V. 28 angedeutete exponierte Stellung der Zwölf könnte Anknüpfungspunkt sein, um das eschatologische Ergehen im Ganzen differenziert auszuformulieren (vgl. 5,19). Matthäus nimmt aber diesen Faden im Folgenden nicht auf. V. 29 sagt vielmehr allen undifferenziert hundertfachen Empfang und ewiges Leben zu. Das nachfolgende Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg konterkariert sogar jeglichen Versuch der Ausdifferenzierung. Der gemeinsame Nenner von V. 28 und V. 29 besteht darin, dass das kommende Heil die Jünger für alles, was sie auf Erden in Kauf genommen haben, reichlich „entschädigt“. Darauf liegt hier der Ton. V. 28 formuliert dies plastisch im Blick auf die

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besondere Rolle der Zwölf in ihrem Bezug auf Israel aus (vgl. zu 10,1–6); V. 29 verallgemeinert dieses Moment. Das Logion von den Ersten und Letzten in V. 30 bezieht sich, wie seine kompositorische Funktion als Rahmung des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg zeigt, im Kontext nicht auf die Reichen als nach irdischen Maßstäben „Erste“ zurück, denen die mittellosen Jünger als „Letzte“ gegenüberstehen: Vielmehr ist das Logion – wie das Gleichnis selbst – innergemeindlich zu applizieren; es richtet eine Warnung an die Jünger: Viele, die sich in der Gemeinde in einer besonders exponierten Situation wähnen, werden Letzte werden, Letzte aber Erste. Das nachfolgende Gleichnis fungiert im Kontext als Erläuterung dieser Ankündigung: So, wie dies im Gleichnis dargestellt wird, wird es oder kann es zumindest dazu kommen, dass Erste zu Letzten und Letzte zu Ersten werden. Damit ist zugleich gesagt, dass die Frage eschatologischen Ergehens, die durch den reichen Jüngling in 19,16 aufgeworfen und durch Petrus in 19,27 aufgenommen wurde, das thematische Vorzeichen für die Bedeutung des Gleichnisses im mt Kontext bildet. Das Gleichnis erzählt eine ziemlich außergewöhnliche Begebenheit, wenngleich die Eröffnung zunächst in vertrauten Bahnen verläuft. Ein Weinbergbesitzer geht frühmorgens, d. h. gegen 6 Uhr, auf den Markt, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuheuern. In Zeiten erhöhten Arbeitsbedarfs, nämlich bei der Weinlese im Spätsommer und beim Rebschnitt im Winter, war die Einstellung von Tagelöhnern im Weinbau üblich. Damit, dass der Weinbergbesitzer im Folgenden aber nicht bloß einmal, sondern im Laufe des Tages noch vier Mal weitere Arbeiter anheuert, wird sukzessiv deutlich, dass die Geschichte auf die durch sie vermittelte Botschaft hin konstruiert wird. Eine konkrete Lohnvereinbarung wird nur mit der ersten Gruppe getroffen. Der vereinbarte Denar ist ein üblicher, wenn nicht guter Tageslohn; das zum Leben Notwendige ist damit gesichert. Bei der zweiten Gruppe wird keine gemeinsame Vereinbarung mehr getroffen, sondern der Weinbergbesitzer kündigt nur vage an, dass er ihnen geben werde, was gerecht ist (V. 4). Wenn bei der dritten und vierten Gruppe erzählökonomisch nur noch vermerkt wird, dass der Weinbergbesitzer mit ihnen genauso verfuhr, dürfte dies im Sinne von V. 4 zu lesen sein: Auch sie sollen erhalten, was gerecht ist. Was aber ist gerecht? Nach verbreitetem Gerechtigkeitsempfinden müsste der Lohn nach der jeweiligen Arbeitszeit bemessen werden. Die Erzählung arbeitet einer entsprechenden Kalkulation insofern zu, als sie mit präzisen Zeitangaben operiert, die sich zunächst im Drei-Stunden-Rhythmus bewegen und die jeweilige Arbeitslänge klar markieren. Der Hörer oder Leser kann also mitrechnen. Wenn die, die zwölf Stunden schuften, einen Denar erhalten, müssten die zur dritten Stunde Angeheuerten, die neun Stunden arbeiten, drei Viertel davon bekommen usw. Am Ende wird das Dreierschema durchbrochen. Der

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Weinbergbesitzer geht sogar noch einmal zur elften Stunde auf den Markt. Es lohnt sich jetzt schon fast nicht mehr. Die Tagelöhner der letzten Gruppe arbeiten nur noch eine einzige Stunde. Das Gleichnis nimmt zunehmend befremdliche, realitätsferne Züge an. Dass diese letzte Gruppe für die weitere Erzählung gleichwohl bedeutender ist als die vorangehenden beiden, gibt schon der kurze Dialog in V. 6f zu erkennen, der sie – nicht gerade schmeichelhaft – als die Übriggebliebenen kennzeichnet, die niemand haben wollte. Anders als bei den voranstehenden Gruppen wird hier nicht einmal mehr ein Lohn angekündigt, sondern nur noch lapidar geboten: Geht auch ihr in den Weinberg. Außergewöhnlich gestaltet sich dann vor allem die Auszahlung des Lohns 8 am Abend (zur Auszahlung am selben Tag s. Lev 19,13; Dtn 24,14f). Dass der Verwalter bei den Letzten beginnen soll, ist notwendig, damit die Langzeitarbeiter, die nun die „Ersten“ genannt werden, mitbekommen, was die anderen erhalten. Der Verwalter spielt im Folgenden keine Rolle mehr; er wird erzählerisch nur gebraucht, um den Auszahlungsmodus zu präsentieren. Auch die zweite bis vierte Gruppe verschwindet aus dem Blickfeld. Die Erzählung konzentriert sich im Sinne der Leitworte der Rahmenverse 19,30; 20,16 auf die Ersten und die Letzten. Die Überra- 9–12 schung kommt in der Gestalt, dass die Kurzarbeiter den vollen Tageslohn erhalten, wie er mit der ersten Gruppe vereinbart worden ist. Die Ersten rechnen nun damit, dass sie mehr erhalten werden. Ihr Kalkül entspricht den Erwartungen, die durch die Zeitangaben bei den Hörern aufgebaut wurden. Aber ihr Kalkül wird enttäuscht, auch sie erhalten den einen Denar. Damit wird zugleich die distributive Gerechtigkeitslogik der Hörer gestört und auf ein anderes Gerechtigkeitsverständnis hingelenkt. Denn da auch die Arbeiter der zweiten bis vierten Gruppe denselben Lohn erhalten, ist dies im Lichte von V. 4 der Lohn, den der Weinbergbesitzer als „gerecht“ ansieht: Die Gerechtigkeit des Weinbergbesitzers orientiert sich daran, dass jeder das zum Leben Notwendige erhält; sie steht nicht in Spannung zur Barmherzigkeit, sondern ist durch diese konzeptionell bestimmt. Zugleich ist festzuhalten, dass auch die Langzeitarbeiter einen gerechten Lohn erhalten: Sie werden für ihre Leistung angemessen besoldet. Bei den Übrigen mischt sich in die Würdigung der erbrachten Arbeitsleistung zunehmend ein gerütteltes Maß an Güte und Barmherzigkeit. Die Langzeitarbeiter wollen dies so nicht akzeptieren, da sie ihre höhere Leistung nun nicht adäquat gewürdigt sehen, und beginnen angesichts der ihres Erachtens ungerechten Gleichbehandlung zu murren. Zieht man den vorangehenden Kontext hinzu, liest sich der Verweis auf das Ertragen des Tages und der Hitze geradezu wie ein Echo der Worte des Petrus, dass sie, die Jünger, alles verlassen haben (19,27). Die vergleichsweise ausführliche 13–15 Antwort des Weinbergbesitzers, die persönlich an einen aus der ersten Gruppe gerichtet ist, stellt nicht die erbrachte Leistung oder den ihnen da-

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für gebührenden Lohn in Frage, sondern rückt die Missgunst gegenüber den anderen ins Zentrum. Die Anrede mit „Freund“ ist im mt Kontext nicht positiv konnotiert, sondern distanzierend, wie die weiteren beiden Belege in 22,12; 26,50 zeigen. Im ersten Teil seiner Antwort (V. 13–14a) thematisiert der Weinbergbesitzer sein Verhalten gegenüber dem Langzeitarbeiter: Ihm ist kein Unrecht widerfahren, da er genau die vereinbarte Summe erhalten hat. Der zweite Teil (V. 14b–15) greift das Verhalten gegenüber den Kurzarbeitern auf. Wieder steht im mittleren Glied eine rhetorische Frage, die als Begründung für den im ersten Glied ausgesagten Sachverhalt fungiert. Der Weinbergbesitzer hat den aus der getroffenen Vereinbarung erwachsenden Anspruch des Langzeitarbeiters erfüllt und kann im Übrigen mit dem Seinen nach seinem Willen verfahren, so dass er dem Letzten so viel geben kann wie dem Ersten. Die Langzeitarbeiter haben sich nicht anzumaßen, in die Verfügungsfreiheit des Weinbergbesitzers eingreifen zu wollen. Während der erste Teil in V. 14a mit einer Aufforderung endet („nimm das Deine und geh hin!“), schließt der zweite mit einer weiteren Frage, die unbeantwortet im Raum stehen bleibt und als Schlusspunkt der Rede Gewicht erhält. Der Langzeitarbeiter muss sich fragen lassen, ob er ein böses Auge habe (vgl. 6,23), das an dem Gutsein des Weinbergbesitzers Anstoß nimmt. Mit dem bösen Auge ist der missgünstige Blick auf die gemeint, die gnädig beschenkt wurden – statt sich mit ihnen zu freuen, dass auch sie ein Auskommen haben. Das Gleichnis bricht hier ab. Die Situation ist ähnlich wie beim Gleichnis vom barmherzigen Vater in Lk 15,11–32, das mit den Worten des Vaters an den älteren Sohn, dieser möge sich doch über die Rückkehr seines Bruders freuen, endet, ohne die Reaktion des älteren Sohnes zu schildern. Auch das Problem des älteren Sohnes in Lk 15 und das der Langzeitarbeiter in Mt 20 sind ähnlich gelagert. Zu sagen, dass sie sich an der Güte Gottes stoßen, griffe zu kurz. Ihr Problem ist, dass andere – der unwürdige jüngere Bruder und die, die nur kurz gearbeitet haben – sie in einer Weise erfahren, die als Entwertung des eigenen Status empfunden wird. Wie der Vater in Lk 15, so steht in Mt 20 der Weinbergbesitzer für Gott. Im Kontext lassen die Worte „weil ich gut bin“ daher an die ausdrückliche Bezeichnung Gottes als „der Gute“ in 19,17 zurückdenken. Weist Gott durch die Gabe seiner (guten) Gebote den Weg zum (ewigen) Leben, so gehört zu seinem Gutsein ebenso, auch die anzunehmen, die erst spät anfangen, diesen Weg zu gehen. Im Lichte der Petrusfrage von 19,27 ist die Lohnauszahlung am Ende des Tages transparent für den endgerichtlichen Empfang des Heils. Dem Denar als dem zum Lebensunterhalt notwendigen Entgelt entspricht der Empfang des ewigen Lebens (vgl. 19,16). Es spielt demnach keine Rolle, wann jemand in die Nachfolge bzw. in die Gemeinde eingetreten ist. Frühberufene und Spätberufene werden gleich

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behandelt; entscheidend ist, dass dem Ruf in den Weinberg Folge geleistet wurde. Für Spätberufene, unter denen in der Gegenwart des Evangelisten vornehmlich Heidenchristen zu verstehen sein könnten, ohne dass das Gleichnis auf die Frage des Verhältnisses von Juden- und Heidenchristen einzuengen ist, ist das tröstlich; die Langzeitarbeiter sollen sich mit ihnen mitfreuen und ansonsten davon ausgehen, dass es – abgesehen von den zwölf Thronen (19,28) – keine Sonderplätze im Himmelreich gibt. Allerdings geht es nicht allein um das eschatologische Ergehen, sondern dieses hat, wie die durch die Jüngerfrage nach dem Größten im Himmelreich ausgelöste Rede in Mt 18 illustriert, Konsequenzen für das Binnenverhältnis und das Gemeinschaftsleben unter den Jesusnachfolgern. Denn mit der eschatologischen Gleichbehandlung aller durch den Weinbergbesitzer wird zugleich das gegenwärtige Geltendmachen von besonderen Statuspositionen in der Gemeinde unterlaufen, wodurch das Gleichnis innerekklesial eine eminent kritische Stoßrichtung erhält. Dies aber konvergiert deutlich mit einer auch anderorts im Mt anzutreffenden Tendenz (s. v. a. 23,8–12). Das abschließende Kommentarwort, dass viele Erste zu Letzten und 16 Letzte zu Ersten werden, scheint sich auf den ersten Blick mit der Botschaft des Gleichnisses nicht harmonisch zusammenzufügen, da es dem Gleichnis nach nicht um Umkehrung der Verhältnisse geht, sondern darum, dass alle dasselbe bekommen. Bei näherem Hinsehen erweist sich die Rahmung durch 19,30; 20,16 aber als wohl bedacht. Dabei steht keineswegs im Zentrum, dass das Logion durch die Reihenfolge bei der Lohnauszahlung abgebildet wird. Wichtiger ist, dass die Letzten insofern zu Ersten werden, als (auch) sie aufgrund der Güte Gottes den mit den Ersten vereinbarten Lohn erhalten. Aber wieso werden Erste Letzte? Die Antwort dürfte in der in V. 15b anklingenden Kritik an den Langzeitarbeitern stecken sowie in dem Verweis auf ihr Murren, das bei einem biblisch geschulten Auditorium Assoziationen an das Verhalten der Wüstengeneration weckt (s. Ex 15,24; 16,2; 17,3; Num 14,2; Dtn 1,27; Ps 106,25 u. ö.), die das verheißene Land nicht betreten durfte. Die Ersten könnten tatsächlich zu Letzten werden, weil sie sich durch ihr Murren und ihre missgünstige, unsolidarische Haltung gegenüber den anderen „Arbeitern“ selbst an den Rand stellen – ähnlich wie der ältere Sohn in Lk 15 sich selbst vom Fest ausschließt (der Gang des Gleichnisses wird damit gleichwohl insofern gestört, als die Lohnauszahlung bereits erfolgt ist). Für die, die sich in der Gemeinde ob ihrer „Leistungen“ über andere erheben, enthält das Gleichnis eine Drohung, die textpragmatisch als Warnung fungiert: Das Gleichnis soll verhindern, dass „Erste“ durch unsolidarisches Verhalten zu „Letzten“ werden. Mt 20,1–16 zielt nicht auf eine Reform der Grundregeln irdischer Lohngerechtigkeit; seine in dieser Hinsicht außergewöhnlichen Züge stellen

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vielmehr umgekehrt heraus, dass Gottes Verhalten gegenüber Menschen bzw. speziell sein (endzeitliches) Gerichtshandeln durch die simple Übertragung irdischer Lohngrundsätze nicht adäquat zu erfassen ist. Denn eine solche Übertragung würde die unverrechenbare Güte Gottes ignorieren und missachten. Zugleich setzt das Gleichnis keinen Impuls, sich selbst untätig auf die Güte Gottes zu verlassen, und zwar schon deshalb nicht, weil seine Pointe gerade darin besteht, von der Güte Gottes gegenüber den anderen zu reden. Es will vielmehr dazu anleiten, sich mit den gnadenhaft Entlohnten zu freuen: Kennzeichen der Jüngergemeinschaft soll das geschwisterliche (vgl. 23,8) Miteinander sein. Es wird in der Regel angenommen, dass das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg auf Jesus zurückgeht. Über dessen Stoßrichtung bei Jesus kann man nur mutmaßen. Vielleicht adressierte es den Missmut der Frommen, dass Jesus sich den Sündern zuwandte und diese – sozusagen als Spätberufene – in seinen Dienst nahm. Möglich ist aber auch, dass das Gleichnis auf die Binnendifferenzierung innerhalb der Jesusbewegung, etwa zwischen den mit Jesus umherziehenden Jüngern und sesshaften Unterstützern der Bewegung, reagiert. Im ersten Fall wäre Matthäus mit dem Gleichnis ganz ähnlich verfahren wie mit dem Gleichnis vom verlorenen Schaf (Mt 18,12–14 par Lk 15,3–7): Ein Gleichnis, das ursprünglich Jesu Zuwendung zu den Sündern thematisierte, wurde ekklesiologisch appliziert.

IV 5 Die dritte Leidens- und Auferweckungsankündigung, die Frage der Zebedaiden und die Unterweisung über Großsein und Dienen (20,17–28) 17 Und als Jesus nach Jerusalem hinaufging, nahm er die zwölf Jünger beiseite und sagte auf dem Weg zu ihnen: 18 „Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und der Menschensohn wird den Hohepriestern und Schriftgelehrten ausgeliefert werden, und sie werden ihn zum Tode verurteilen, 19 und sie werden ihn den Heiden ausliefern, um ihn zu verspotten und zu geißeln und zu kreuzigen; und am dritten Tag wird er auferweckt werden.“ 20 Da trat die Mutter der Söhne des Zebedäus mit ihren Söhnen zu ihm, fiel nieder und wollte etwas von ihm erbitten. 21 Er aber sagte zu ihr: „Was willst du?“ Sie sagt zu ihm: „Sag, dass diese meine beiden Söhne in deinem Reich einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken sitzen werden!“ 22 Jesus aber antwortete und sagte: „Ihr wisst nicht, was ihr erbittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde?“ Sie sagen zu ihm: „Wir können es.“ 23 Er spricht zu ihnen: „Meinen Kelch werdet ihr zwar trinken, aber das Sitzen zu meiner Rechten und zu meiner Linken zu vergeben ist nicht meine Sache, sondern ist für die, denen es von meinem Vater bereitet ist.“

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24 Und als die Zehn es hörten, wurden sie unwillig über die beiden Brüder. 25 Jesus aber rief sie herzu und sagte: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Großen über sie Macht ausüben. 26 Unter euch soll es nicht so sein, sondern: Wer unter euch groß werden will, soll euer Diener sein. 27 Und wer unter euch der Erste sein will, soll euer Knecht sein, 28 wie der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele zu geben.“ Mit der Notiz vom Aufstieg nach Jerusalem, mit der das Itinerar in 19,1 aufgenommen wird, strebt der zur Passion hinführende Textblock 16,21–20,34 seinem Ende zu. An die dritte Leidens- und Auferweckungsankündigung schließt sich eine Unterredung zwischen Jesus und der Mutter der Zebedaiden sowie ihren Söhnen an (V. 20–23), auf die analog zu 16,21–28 (vgl. in der Einleitung zu 16,21–20,34) eine Unterweisung der Jünger folgt (V. 24–28). Gegenüber der Vorlage Mk 10,32–34 hat Matthäus die szenische Einlei- 17 tung zur Jesusrede deutlich gestrafft. Neben der genannten Itinerarnotiz ist für ihn nur der Hinweis, dass Jesus die Zwölf zur Seite nahm, von Belang, um deutlich zu machen, dass die Ankündigung des Leidens und der Auferweckung Jesu wie in 16,21; 17,22f allein den Jüngern gilt. Impliziert ist hier, dass sich nach wie vor eine größere Menschenmenge in Jesu Gefolge befindet (vgl. 19,2 sowie dann 20,29; 21,8f). Die Leidensankündigung wird mit der Nähe zum Ort des Leidens deut- 18–19 lich ausführlicher. 16,21 sprach nur summarisch davon, dass Jesus vieles erleiden müsse, 17,22 ebenso summarisch von der Auslieferung des Menschensohnes in die Hände der Menschen. Nun folgen die Details: Nach seiner Auslieferung (durch Judas) an die Hohepriester und Schriftgelehrten (26,47–57) wird Jesus von diesen zum Tode verurteilt (26,59–66) und dann den Heiden ausgeliefert werden (27,1f). Während Matthäus bis hier der Markusvorlage (Mk 10,33) wörtlich gefolgt ist, hat er bei den weiteren Gliedern in die mk Syntax eingegriffen und damit den Sinn bedeutsam verändert. Denn Matthäus hat aus der parataktischen Reihung von Mk 10,34, in der die Heiden das Subjekt von „verspotten“ (Mt 27,27–31), „anspeien“ (von Matthäus ausgelassen), „geißeln“ (Mt 27,26) und „töten“ (von Matthäus zu „kreuzigen“ präzisiert) sind, eine Finalkonstruktion gemacht, die von „ausliefern“ abhängig ist und also die Absicht des Auslieferns durch die Hohepriester und Schriftgelehrten benennt. Matthäus legt damit den Ton ganz auf die Hohepriester und Schriftgelehrten als treibende Kraft im Vorgehen gegen Jesus und damit als Verantwortliche für die Hinrichtung (27,32–50); die Darstellung der Verurteilung in 27,11–26 wird dies profilieren. Die mt Ersetzung von „töten“ (Mk 10,34) durch „kreuzigen“ kann man mit der erstmaligen expliziten Erwähnung der

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„Heiden“ in den Leidensankündigungen in Zusammenhang bringen: Die Erwähnung der Heiden zieht den Verweis auf die römische Hinrichtungsart der Kreuzigung nach sich. Traten nach der zweiten Leidensankündigung (17,22f) die Jünger mit 20–21 einer Frage nach dem Größten im Himmelreich zu Jesus hinzu (18,1), so wird Jesus in V. 20f ganz ähnlich mit einer Bitte konfrontiert, die erneut das Streben nach Größe als Antrieb zu erkennen gibt. Anders als in Mk 10,35–37 wird die Bitte nicht von den beiden Zebedaiden selbst, sondern von deren Mutter (vgl. 27,56) geäußert. Dies dient schwerlich dazu, die Jünger zu entlasten, denn ihre Mutter tritt mit ihnen zusammen an Jesus heran, und in Jesu Replik in V. 22 erscheinen die Jünger als (eigentliches) Subjekt der Bitte („ … was ihr bittet“). Das Herzutreten zu Jesus geschieht deutlich respektvoller als in der mk Fassung, wo die Brüder sich in einem geradezu fordernden Ton an Jesus wenden: „Lehrer, wir wollen, dass du uns tust, um was wir dich bitten werden“ (Mk 10,35). Die Mutter hingegen fällt vor Jesus nieder – und schweigt zunächst. Jesu Frage „was willst du?“, die im Kontext der Proskynese der Frau geradezu königlichen Klang besitzt, steht damit in einem deutlich anderen Kontext als das mk Pendant in Mk 10,36. Dem royalen Kolorit, das Matthäus der Eröffnung in V. 20f unterlegt hat, fügt sich schließlich ein, dass die Bitte um die Ehrenplätze zur Rechten und zur Linken nicht wie in Mk 10,37 durch „in deiner Herrlichkeit“, sondern durch „in deinem Reich“ (V. 21) ergänzt wird. Die so umgestaltete Bitte ist in doppelter Hinsicht in für das Mt spezifische kontextuelle Bezüge eingebettet. Zum einen schließt „in deinem Reich“ an die zuvor in 13,41 und 16,28 begegnende Vorstellung vom „Reich des Menschensohnes“ an. Nach 13,41 ist die Welt bis zum Endgericht Herrschaftsbereich des Menschensohnes; und in 16,28 verhieß Jesus den Jüngern, dass einige von ihnen den Menschensohn kommen sehen werden „in seinem Reich“. Zum anderen lässt die Rede vom „Sich-Setzen zur Rechten und zur Linken“ im mt Kontext an die den zwölf Jüngern geltende Verheißung in 19,28 zurückdenken, dass sie „bei der Wiedergeburt, wenn sich der Menschensohn auf den Thron seiner Herrlichkeit gesetzt hat, auch selbst auf zwölf Thronen sitzen werden“. Liest man 20,21 auf diesem Hintergrund, geht es in der Bitte der Zebedaiden um die Ehrenplätze in diesem Ensemble. Durch die genannten kontextuellen Bezüge stellt sich drittens der – durch Mk 10 vorgegebene – situative Zusammenhang mit V. 17–18a in neuer Weise dar: Nun, da Jesus mit seinen Jüngern nach Jerusalem hinaufgeht, folgern die Zebedaiden offenbar, dass die Aufrichtung der messianischen Herrschaft des Menschensohnes unmittelbar bevorsteht. Daher ist es an der Zeit, ihr Anliegen vorzutragen. Man muss dazu keineswegs annehmen, dass sie Jesu Aussagen in 20,18b–19 ignorieren und die Erwartung hegen, dass Jesus nun unmittel-

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bar als Messiaskönig in Jerusalem den Thron Davids besteigen wird. Im Gegenteil! Nur ist ihre Aufmerksamkeit diesmal nicht wie in 17,22f (und mutatis mutandis in 16,21–23) auf die Ankündigung des Todes Jesu gerichtet, so dass sie betrübt sind (17,23), sondern sie blicken auf die Auferweckung, die Jesu Tod als ein bloßes Durchgangsstadium verstehen lässt, und verbinden mit der Auferweckung eben die Einsetzung Jesu in seine Herrschaft. Dieser Konnex gewinnt Kontur und erzähllogische Plausibilität, wenn man noch einmal auf 19,28 zurückgeht. Jesus spricht dort von der Wiedergeburt bzw. der Wiederentstehung als dem Zeitpunkt, an dem er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen wird. Gemeint ist damit die mit dem Ende der Welt (13,39 f.49; 24,3; 28,20) verbundene Neuschöpfung, doch ist der in 19,28 verwendete griechische Terminus (paliggenesia) semantisch vieldeutig. Lexikalisch könnte er sich z. B. auch auf die Auferstehung beziehen (vgl. z.B Eusebius, HistEccl 5,1,63; 10,4,46), so dass 20,19 bei den Zebedaiden im Verbund mit 19,28 die Erwartung inspirieren konnte, dass Jesus sich alsbald auf seinen Thron setzen würde. Dies gilt umso mehr, als er ja in 16,28 verheißen hat, dass einige von ihnen den Menschensohn kommen sehen werden in seinem Reich. Die Bitte in 20,21 artikuliert damit nicht nur mit dem sich in ihr manifestierenden Statusstreben eine ethische Fehlorientierung, sondern auch ein Missverständnis der Bedeutung der Auferweckung und der Gestalt der Herrschaft des Menschensohnes. Die Verbindung von Auferweckung und Herrschaftseinsetzung ist zwar in bestimmter Hinsicht, wie 28,16–20 zeigen wird, nicht falsch. Aber Auferweckung bedeutet nicht, wie sich Herodes Antipas dies im Blick auf den Täufer vorgestellt hat (14,1f) und wie sich dies in den Voten der Menschen in 16,14 spiegelt, Rückkehr in die irdische Existenz. Und vor allem ist mit der Einsetzung des Auferweckten zum Weltenherrn (28,18) nicht seine machtvolle Rückkehr auf Erden und die Aufrichtung eines irdischen messianischen Reiches verbunden, in dem sie als Throngenossen fungieren könnten, sondern seine Auferweckung impliziert infolge seiner Erhöhung zur Rechten des Vaters (22,44; 26,64) irdische Entzogenheit. Dass Jesus die Bitte mit den Worten erwidert „ihr wisst nicht, was ihr 22–23 bittet“, gewinnt bei Matthäus auf dem Hintergrund des dargelegten Missverständnisses der Zebedaiden über die Gestalt der nachösterlichen Herrschaft des Menschensohnes Profil: Der auferstandene Herr sagt den Jüngern zwar sein Mit-Sein zu (28,20), aber das Reich des Menschensohnes zwischen Ostern und Parusie ist für sie eben nicht die Zeit der Mitherrschaft, sondern sie bleiben auf Erden zurück, und das hier für sie auch nach Ostern gültige Lebensmodell orientiert sich am Verhalten und Leiden des irdischen Menschensohnes (20,28). Mit der Rede vom Kelch, den er trinken muss (vgl. 26,39, die parallele Rede von der „Taufe“ in Mk 10,38f hat Matthäus gestrichen), lenkt Jesus daher das Augenmerk auf sein Lei-

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densgeschick. Dies sollten die Jünger vor Augen haben. Matthäus unterstreicht dies durch die subtile Querverbindung zwischen 20,20–23 und der Kreuzigungsszene, denn die Formulierung „einer zur Rechten, einer zur Linken“ (20,21.23) kehrt in 27,38 wortgetreu wieder, so dass 20,21 ein tiefgründiger Hintersinn unterlegt wird: In Jerusalem wird es Plätze zur Rechten und Linken Jesu geben, aber nicht auf einem Thron, sondern am Kreuz. Mit der Frage an die Zebedaiden, ob auch sie diesen Kelch zu trinken vermögen, bindet Jesus die Jünger explizit in sein Leidensgeschick ein (vgl. 10,24; 16,24). Die Bejahung der Frage möchte Matthäus trotz des Versagens der Jünger in 26,37–46 schwerlich in Analogie zum Beispiel des Petrus in 26,33–35 als vollmundige Fehleinschätzung verstanden wissen. Der Zebedaide Jakobus starb unter der Regierung von Agrippa I. (41–44) den Märtyrertod (Apg 12,1f), was Matthäus und seinen Adressaten zweifelsohne bekannt war; zudem bestätigt Jesus in V. 23 ausdrücklich ihre Antwort. Dennoch bleibt ihre Bitte unerfüllt. Denn selbst wenn Jesus wollte (was sicher zu verneinen ist), könnte er ihrer Bitte gar nicht entsprechen, da die (etwaige) Vergabe von Ehrenplätzen Gottes Privileg ist, wie Matthäus mit der Ergänzung von „denen es bereitet ist“ durch „von meinem Vater“ betont. Durch die dem Mt eigene Vorstellung vom Reich des Menschensohnes erhält der Text dabei auch an dieser Stelle wieder einen spezifischen Akzent. Denn für den informierten Leser verschiebt sich hier die Perspektive implizit vom Reich des Menschensohnes, in dem die Zebedaiden hofften, als Throngenossen zu Ehren zu kommen, auf das mit der Parusie verbundene Endgericht (vgl. das Echo zu „denen es bereitet ist“ in 25,34) bzw. auf die erhoffte Zukunft im Himmelreich. Im Blick auf V. 22 wird durch V. 23 deutlich, dass mit dem Vermögen, den Kelch zu trinken, nicht das Kriterium für das Erlangen der angestrebten Ehrenplätze benannt werden soll. Es steht ja gar nicht in Jesu Befugnis, diese für das „Reich des Vaters“, sofern es sie dort gibt, zu vergeben, und in seinem Reich zwischen Ostern und Parusie gibt es solche Plätze – entgegen der Annahme der Zebedaiden – jedenfalls nicht. Vielmehr geht es beim Verweis auf den Kelch in V. 22 darum, gegenüber dem Schielen nach zukünftiger Ehre im Reich Jesu eben die Kreuzesnachfolge als die jetzt relevante Aufgabe namhaft zu machen. Ihr ethisches Korrelat ist das Niedrigkeitsethos, das Jesus in V. 25–28 entfaltet. Ob der Unwille, mit dem die übrigen zehn Jünger auf die Unterredung 24 reagieren, im Unmut über das Statusstreben der Zebedaiden und ihr unsolidarisches Verhalten – Petrus hat in 19,27 nicht spezifisch nur nach seinem Lohn gefragt ( ! ) – oder im Gegenteil darin begründet ist, dass auch sie noch vom Streben nach den besten Plätzen beseelt sind, lässt Matthäus offen. Ein aussagekräftiges Indiz geht – entgegen der verbreiteten Vorliebe der Ausleger für die letztgenannte Option – auch nicht aus Jesu Unterwei-

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sung in V. 25–28 hervor, denn diese kann sich anknüpfend oder korrigierend auf die Reaktion der Jünger beziehen. Dass Jesus in V. 25–28 anders 25–27 als in 18,2–4 den Status im Himmelreich völlig ausklammert, entspricht der von 18,1 unterschiedenen Thematik in 20,20f: Da das, worum die Zebedaiden baten, gar nicht zu vergeben ist, richtet sich der Blick allein auf die irdischen Relationen, also darauf, „unter euch“ groß (V. 26) bzw. „der Erste“ (V. 27) zu sein. Zeigten die Zebedaiden eine Tendenz, das hierarchisch strukturierte Statusdenken irdischer Machtkonstellationen auf das Reich Jesu zu übertragen, so profiliert Jesus nun das für seine Jünger maßgebliche Verhaltensmodell auf der Kontrastfolie des Gebarens der heidnischen Herrscher. Mit den Verben „unterdrücken“ und „Macht ausüben“ werden dabei nicht bloß Sonderfälle von gravierendem Fehlverhalten der Herrscher in den Blick genommen, sondern es geht hier generell um die in der Welt üblichen Strukturen. Davon soll sich die Gemeinschaftsstruktur der Gemeinde fundamental unterscheiden. Knüpfen die beiden Vordersätze in V. 26b.27 – wer groß/der Erste sein will – an das übliche menschliche Streben an, das auch die Zebedaidenbitte bestimmte (vgl. V. 21: „was willst du?“), so wird dies durch den jeweiligen Nachsatz ad absurdum geführt. Denn wer sich am Diener (am „Diakon“) und am Sklaven als Verhaltensmodell orientiert, hat faktisch aufgehört, danach zu streben, groß und der Erste sein zu wollen. Ähnlich wurde in 18,1–4 die Frage nach dem Größten im Himmelreich damit konterkariert, dass eine himmlische Ehrenstellung Selbsterniedrigung auf Erden voraussetzt. Die Gemeinde ist für Matthäus grundsätzlich keine hierarchisch strukturierte Gemeinschaft, in der einzelne einen anderen überlegenen Status reklamieren (vgl. 23,8–12). Matthäus erteilt damit jeglicher Form von Herrschaftsgebaren in der Gemeinde eine dezidierte Absage: Die Gemeinde ist kein Ort, um über andere bestimmen zu wollen und sich bedienen zu lassen. Ihr Grundprinzip ist vielmehr der Dienst an anderen. Der christologische Schlussakkord der kurzen Unterweisung macht 28 deutlich, dass es sich in V. 26f um eine unaufgebbare Kernbestimmung christlicher Gemeinde handelt: Das Ethos des Dienens ist darin verankert, dass Jesus selber sein Leben als Dienst an anderen verstanden hat. Der Messiaskönig unterscheidet sich also fundamental von den irdischen Herrschern. Matthäus hat das begründende „denn“ aus Mk 10,45 durch die Vergleichspartikel „wie“ ersetzt, um deutlich zu machen, dass das Verhalten Jesu nicht nur der Grund, sondern auch der Maßstab der Orientierung der Jünger ist. Die Einkleidung der Aussage als Wort über den Sinn des Gekommenseins Jesu (vgl. 5,17; 9,13) unterstreicht ihre große Bedeutung. Die Jesusnachfolge findet ihre materiale Kernbestimmung im Dienst an anderen. Im Falle Jesu spitzt sich sein Dienst an den Menschen in seiner Lebenshingabe zu. Die Metapher des Lösegelds führt in den Bereich des Sklaven-

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oder Gefangenenfreikaufs, doch kann man für die Verwendung des Wortes z. B. auch auf den Freikauf aus einer – an sich die Todesstrafe nach sich ziehenden – Schuld in Ex 21,30 verweisen (vgl. atl. ferner z. B. Num 35,31f). Dem Tod Jesu wird hier eine soteriologische Dimension beigemessen. 26,28 wird diese Linie aufnehmen und im Verbund mit 1,21 deutlich machen, dass hier Sendung und Aufgabe Jesu zu ihrem Zielpunkt geführt werden. Die Rede von den „Vielen“ könnte durch Jes 53,11f inspiriert sein, jedenfalls ist angesichts der dichten Jesajarezeption bei Matthäus und zumal angesichts des Zitats von Jes 53,4 in 8,17 die Option nicht von der Hand zu weisen, dass Matthäus selbst in V. 28 den Jesajapassus assoziierte und diesen Sinnhorizont bei seinen Adressaten voraussetzte (vgl. zu 26,28).

IV 6 Die Heilung der beiden Blinden bei Jericho (20,29–34) 29 Und als sie aus Jericho hinausgingen, folgte ihm eine große Volksmenge (nach). 30 Und siehe, zwei Blinde, die am Weg saßen und hörten, dass Jesus vorübergeht, schrien und sagten: „Erbarme dich unser, Herr, Sohn Davids!“ 31 Die Volksmenge aber fuhr sie an, dass sie schweigen sollten. Sie aber schrien noch mehr und sagten: „Erbarme dich unser, Herr, Sohn Davids!“ 32 Und Jesus blieb stehen, rief sie und sagte: „Was wollt ihr, dass ich euch tun soll?“ 33 Sie sagen zu ihm: „Herr, dass unsere Augen geöffnet werden.“ 34 Jesus aber hatte Mitleid, berührte ihre Augen; und sogleich sahen sie wieder, und sie folgten ihm nach. Eine Variante zu 20,29–34 hat Matthäus bereits in 9,27–31 geboten. Hier, da Matthäus die Perikope noch einmal in ihrem mk Zusammenhang aufnimmt, ist die Anlehnung an Markus enger, doch setzt Matthäus auch in 20,29–34 eigene Akzente. Die Exposition hat Matthäus – wie gewohnt – gestrafft. Aus dem blin29–30a den Bettler Bartimäus (Mk 10,46) sind wie in 9,27 zwei (vgl. auch 8,28) anonyme Bettler geworden – vielleicht um den paradigmatischen Charak30b–31 ter der Erzählung herauszustellen. Noch einmal wird Jesus als Davidsohn um Erbarmen angerufen (V. 30, vgl. 9,27; 15,22). Der Versuch des Volkes, die blinden Bettler zum Schweigen zu bringen (vgl. 19,13), dient hier zum einen als Kontrasthintergrund, durch den die barmherzige Zuwendung Jesu umso klarer hervortritt (vgl. zu V. 34): Jesus ist gekommen, um (den am Rande Stehenden) zu dienen (vgl. 20,28). Zum anderen bietet sich durch diese Intervention erzählerisch die Möglichkeit, die Beharrlichkeit der Blinden darzustellen und, vor allem, ihren Erbarmensruf noch einmal aufzunehmen; Matthäus hätte es im Zuge seiner Straffungstendenz ja auch bei der Notiz belassen können, dass sie umso lauter schrien. So aber

Die Heilung der beiden Blinden bei Jericho (20,29–34)

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macht die wortgleiche Wiederholung des Rufes dessen Bedeutung deutlich: In Korrespondenz zur Stellung von 9,27–31 gegen Ende der Komposition in 8,1–9,34 hebt Matthäus auch hier, unmittelbar vor dem Einzug Jesu in Jerusalem, die davidische Messianität Jesu hervor. Zugleich schafft er damit einen Anknüpfungspunkt für den Akklamationsruf der Volksmengen in 21,9. Das Intermezzo in Mk 10,49b.50f hat Matthäus als überflüssige narra- 32 tive Digression weggelassen. Bei ihm ruft Jesus die Blinden selbst zu sich, um sie nach ihrem Anliegen zu fragen. Die Frage erinnert an V. 21; nur an diesen beiden Stellen fragt Jesus Bittsteller, was sie wollen. Der königliche Klang, den Matthäus in V. 21 eingebracht hat, ist hier noch mitzuhören, zumal Jesus zuvor als Sohn Davids angerufen wurde und unmittelbar im Anschluss der Einzug des „sanftmütigen Königs“ in Jerusalem folgt (21,1–9). Die Bitte der Blinden hat Matthäus neu formuliert: Die das mk 33 „Rabbuni“ ersetzende Anrede Jesu mit „Herr“ (vgl. 8,2.6; 9,28; 17,15) ergänzte bereits in V. 30 (textkritisch unsicher) und V. 31 (ebenfalls redaktionell) den Davidsohntitel (vgl. 15,22); ferner spielt Matthäus wie in 9,30 mit der Formulierung, dass die Augen der Blinden geöffnet werden, auf Jes 35,5 (LXX) an (vgl. auch Jes 42,7). Neu gestaltet ist schließlich auch der Schluss in V. 34. Matthäus fügt ein 34 letztes Mal das in seiner Präsentation Jesu wichtige Motiv des mitleidigen Erbarmens ein (vgl. 9,36; 14,14; 15,32), streicht aber den Zuspruch „dein Glaube hat dich gerettet“ (Mk 10,52), während er das Glaubensmotiv in 9,28f noch betont hat (zur kompositorischen Konsequenz vgl. zu 15,28). Das Gewicht fällt dadurch umso mehr auf die sich an die sofortige Heilung anschließende Nachfolge der Geheilten, mit der eine Heilungsgeschichte nur hier im Mt endet. Die einzige Heilungsgeschichte, in der das Motiv, wenngleich in anderer Position, begegnet, ist die Parallelerzählung in 9,27–31, wo Matthäus die Blinden Jesus zu Beginn ins Haus „nachfolgen“ lässt und, um dieses Motiv einbringen zu können, in 9,27f eine zumindest auffällige szenische Konstellation in Kauf nimmt. 9,27–31 ist zugleich, abgesehen von der kurzen Notiz in 8,15, neben 20,29–34 die einzige Heilungserzählung, in der am Ende eine (Re-)Aktion von Geheilten geschildert wird, die nicht bloß wie in 9,7.25 oder 12,13 die Funktion hat, die Heilung zu konstatieren. Folgen die beiden ehemals Blinden Jesus in 20,34 nach, so machen sie ihn in 9,31, trotz des Schweigebefehls Jesu, (als heilenden davidischen Messias) bekannt. Die Blindenheilungen erhalten durch diese Reaktionsschilderungen ein besonderes Gewicht. Darin aber spiegelt sich, dass sie für Matthäus auch eine wichtige metaphorische Bedeutung haben: Der Messias heilt die „verlorenen Schafe des Hauses Israel“ (10,6; 15,24) von ihrer Blindheit (vgl. zu 9,27).

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Jesu Abrechnung mit seinen Gegnern und das Endgericht (21–25)

V Jesu Abrechnung mit seinen Gegnern und das Endgericht (21–25) Jerusalem ist (vorbereitet durch das Signal in 2,3) bereits in der ersten Leidensankündigung in 16,21 als Ort des Leidens Jesu eingeführt worden. Entsprechend tritt mit dem Einzug Jesu in Jerusalem (21,1–11) die Konfliktthematik mit Vehemenz in den Vordergrund: Der Passionserzählung geht eine letzte große Auseinandersetzung zwischen Jesus und den (religiösen und politischen) Autoritäten des Volkes voran (21–23). Matthäus’ Darstellung folgt dabei einer klaren Struktur: Jesu Wirken in Jerusalem wird in Mt 21–23 auf zwei Tage verteilt (26,55 impliziert allerdings ein längeres Wirken). Am ersten Tag (21,1–17) zieht Jesus in Jerusalem und in den Tempel ein und heilt dort (21,14); von Lehre ist hier noch nicht die Rede. Am kommenden Tag kehrt er in den Tempel zurück, um dort zu lehren (21,23). In gewisser Weise wiederholt sich hier das aus Mt 5–9 bekannte Kompositionsschema in inverser Reihenfolge, nur wird nun weder Jesu heilendes Wirken noch seine Lehre näher entfaltet, sondern es tritt die Auseinandersetzung mit den Autoritäten ins Zentrum, denn in beiden Fällen wird Jesus von den Autoritäten zur Rede gestellt. Auf den kurzen Disput in 21,15–17 folgt in 21,23–22,46 eine ausführliche Auseinandersetzung. Die Abfertigung der Autoritäten bietet sodann den Anlass, um die Jünger und das Volk eindringlich vor den Schriftgelehrten und Pharisäern zu warnen (23). Mündet dies in 23,32–39 in eine Ansage des Gerichts ein, so wird der eschatologische Ausblick durch die letzte große Rede Jesu in 24–25 in extenso entfaltet. Die ausführliche Wachsamkeitsparänese unterstreicht dabei, dass sich auch die Nachfolger Jesu vor dem Richter werden verantworten müssen.

V 1 Jesu Einzug in Jerusalem und sein Wirken im Tempel (21,1–17) 1 Und als sie sich Jerusalem näherten und nach Betfage kamen, an den Ölberg, da sandte Jesus zwei Jünger 2 und sagte zu ihnen: „Geht hin in das Dorf, das euch gegenüberliegt; und sogleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Fohlen bei ihr. Bindet sie los und führt sie zu mir! 3 Und wenn jemand etwas zu euch sagt, sollt ihr sagen, dass der Herr sie braucht. Sogleich aber wird er sie senden.“ 4 Dies aber ist ge-

Jesu Einzug in Jerusalem und sein Wirken im Tempel (21,1–17)

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schehen, damit erfüllt würde, was durch den Propheten gesagt wurde, der spricht: 5 „Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig und auf einer Eselin reitend und auf einem Fohlen, dem Jungen eines Lasttiers.“ 6 Die Jünger aber gingen hin und taten, wie Jesus ihnen aufgetragen hatte, 7 und brachten die Eselin und das Fohlen und legten Gewänder auf sie; und er setzte sich auf sie. 8 Die sehr große Volksmenge aber breitete ihre Gewänder aus auf dem Weg; andere aber hieben Zweige von den Bäumen und breiteten sie auf dem Weg aus. 9 Die Volksmengen aber, die ihm vorausgingen und nachfolgten, riefen und sagten: „Hosanna dem Sohn Davids! Gepriesen sei, der im Namen des Herrn kommt! Hosanna in den Höhen!“ 10 Und als er in Jerusalem einzog, erbebte die ganze Stadt und sagte: „Wer ist dieser?“ 11 Die Volksmengen aber sagten: „Dieser ist der Prophet Jesus, der von Nazaret in Galiläa.“ 12 Und Jesus ging in den Tempel hinein und warf alle hinaus, die im Tempel verkauften und kauften, und stieß die Tische der Geldwechsler und die Stühle der Taubenverkäufer um 13 und sagt zu ihnen: „Es steht geschrieben: ‚Mein Haus wird ein Haus des Gebets genannt werden‘; ihr aber macht es zu einer ‚Räuberhöhle‘.“ 14 Und es traten Blinde und Lahme im Tempel zu ihm, und er heilte sie. 15 Als aber die Hohepriester und die Schriftgelehrten die wunderbaren Dinge sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien und sagten: „Hosanna dem Sohn Davids!“, wurden sie unwillig 16 und sagten zu ihm: „Hörst du, was diese sagen?“ Jesus aber sagt zu ihnen: „Ja! Habt ihr nie gelesen: ‚Aus dem Mund von Unmündigen und Säuglingen hast du (dir) Lob bereitet‘?“ 17 Und er verließ sie und ging hinaus aus der Stadt nach Betanien und übernachtete dort. In der Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem hat Matthäus – vor allem durch die Einfügung des Erfüllungszitats in V. 4f, seine Formulierung des Akklamationsrufs in V. 9 sowie die Anfügung von V. 10f – ihm wichtige thematische Akzente zur Geltung gebracht. Im Unterschied zu Mk 11,1–11.15–19 ist zudem die Einzugserzählung mit der sog. Tempelreinigung (21,12f) zu einer Einheit zusammengebunden und um Heilungen im Tempel (21,14–17) erweitert. Charakteristisch ist für die so entstandene Texteinheit, dass wiederum die doppelte Reaktion auf Jesus in Israel zutage tritt (V. 9–11.15–17). Mit der Ankunft im östlich von Jerusalem am Ölberg gelegenen Dorf 1–3 Betfage ergreift Jesus die Initiative, um seinen Einzug vorzubereiten, mit dem er – zwar nicht mit Worten, aber mittels einer symbolischen Handlung – erstmals von sich aus seinen messianischen Status öffentlich zum Ausdruck bringt. Schon die Benutzung fremder Tiere ist Ausdruck eines königlichen Anspruchs (vgl. 1Sam 8,16). In der Aussendung der Jünger

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zur Beschaffung der Reittiere manifestiert sich das Vorauswissen Jesu, das schon in den Leidens- und Auferweckungsankündigungen (16,21; 17,22; 20,17–19) hervortrat und die Passionserzählung im Ganzen kennzeichnen wird (26,1 f.12 f.21–25.31–35.46). Die Verdoppelung des angebundenen Fohlens aus Mk 11,2 zu einer angebundenen (vgl. Gen 49,11) Eselin und ihrem Fohlen ist dem Bestreben geschuldet, eine exakte Verwirklichung 4–5 der in V. 4f zitierten prophetischen Weissagung darzustellen. Matthäus hat den Beginn des Zitats von Sach 9,9 („freue dich sehr, Tochter Zion“) durch Worte aus Jes 62,11 („sagt der Tochter Zion“) modifiziert, da ein Aufruf zur Freude nicht zur Typisierung Jerusalems im Rahmen der mt Konfliktgeschichte passt (s. zu V. 10). Mit der aus Jes 62,11 gewonnenen Eröffnung vermag Matthäus hingegen durch das Zitat präzise abzubilden, was er in V. 9–11 schildern wird. Die den König in Sach 9,9 kennzeichnenden Attribute sind auf dessen Charakterisierung als sanftmütig konzentriert. Das Fehlen von „gerecht und ein Retter“ liegt sicher nicht in einer inhaltlichen Reserve gegen diese Attribute begründet, sondern weist, sofern dies nicht bloß der Matthäus vorliegenden Textfassung von Sach 9,9 geschuldet ist, positiv darauf, dass die Sanftmut für Matthäus ein elementar wichtiges Charakteristikum des Messias Jesus darstellt (vgl. 11,29). Matthäus zeichnet damit gezielt eine Alternative zu militärisch kolorierten messianischen Erwartungen (vgl. z. B. PsSal 17,21–25; 1QSb 5,24–29; 4Q161 Fragm. 8–10 23.25f; 4Q285 Fragm. 5 3f), die den Aufstand gegen Rom (66–70) mit befeuert haben und durch dessen Ausgang, durch die Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem, diskreditiert waren. Für Matthäus ist damit aber nicht die königliche Messiastradition an sich in Frage gestellt. Es hat sich lediglich bestätigt, dass sie im Blick auf die militärisch-politischen Hoffnungen völlig falsch ausgerichtet war. Tatsächlich war der königliche Messias längst gekommen, aber nicht als militärischer Befreier, sondern als sanftmütiger König und Heiler (vgl. Theißen, Davidssohn, 156–164). Als solcher zieht Jesus in Jerusalem ein. Die Ausführung der Aufforderung Jesu aus V. 2f wird in V. 6–7a im Un6–8 terschied zu Mk 11,4–7a nur knapp notiert. Im Blick auf die Figurenkonstellation der mt Jesusgeschichte ist von Gewicht, dass Matthäus ausdrücklich die Volksmengen zum Subjekt der Huldigungsgesten (vgl. z. B. 9 2Kön 9,13; Philo, LegGai 297) in V. 8 gemacht hat. Entsprechend schreibt Matthäus auch den Akklamationsruf in V. 9 ausdrücklich den Volksmengen zu (Lk 19,37f hingegen den Jüngern!). Der Ruf nimmt Ps 118,25f (117,25f LXX) auf. „Hosanna“ ist eigentlich ein Bittruf (= hilf doch), fungiert hier aber als lobpreisender Jubelruf, wie die mt Einfügung von „dem Sohn Davids“ (im Dativ) bekräftigt (vgl. Did 10,6). Die Einfügung spiegelt nicht nur die große Bedeutung, die der Davidsohnschaft in Matthäus’ christologischer Konzeption insgesamt zukommt; sie steht zugleich auch im di-

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rekten Zusammenhang mit dem Zitat in V. 5: Durch den Ruf der Volksmengen „Hosanna dem Sohn Davids“ wird Jerusalem (vgl. V. 10) das Kommen des sanftmütigen Königs angesagt. Indem Matthäus durch das Zusammenspiel der beiden Einfügungen in V. 5 und V. 9 betont das davidisch-königliche Kolorit des Geschehens herausstellt, wird zudem der sich anschließende Lobpreis dessen, „der im Namen des Herrn kommt“, ausdrücklich auf Jesus als den davidischen Messias bezogen. Hingegen hat Matthäus die nicht durch Ps 118,26 gedeckte Weiterführung des Lobpreises mit „gepriesen sei das kommende Reich unseres Vaters David“ in Mk 11,10a gestrichen. Neben der Anpassung an das Schriftwort wird Matthäus dabei insofern auch durch inhaltliche Bedenken geleitet gewesen sein, als Mk 11,10a im Sinne einer politisch ausgerichteten Messiaserwartung missverstanden werden kann. Den Volksmengen wird mit dem Ruf in 21,9 zum dritten Mal in der mt Jesusgeschichte in wörtlicher Rede eine Äußerung zur Person bzw. Identität Jesu in den Mund gelegt. Dabei lässt sich eine fortschreitende christologische Erkenntnis ausmachen: von der Einsicht in die Einzigartigkeit der Zuwendung Gottes zu Israel in Jesus in 9,33 über die zweifelnde Frage, ob Jesus vielleicht sogar der messianische Sohn Davids ist (12,23), bis hin zur Akklamation Jesu eben als davidischer Messias. Für Matthäus ist der Messias Jesus zwar noch mehr als der Sohn Davids (vgl. 1,18–25; 22,41–46), und die Jünger haben in 14,33; 16,16 mit dem Gottessohnbekenntnis bereits eine tiefergehende christologische Erkenntnis gezeigt, doch stellt dies nicht in Frage, dass die Volksmengen hier eine richtige – und für den Evangelisten wichtige – Einsicht über die Identität Jesu äußern. Es gibt auch keinerlei Anhalt dafür, dass die Volksmengen hier von einer im mt Sinne falschen Messiaserwartung geleitet sind und den messianischen Davidsohn in politisch-nationalen Kategorien denken. Den in diesem Sinn missverständlichen Passus aus Mk 11,10a hat Matthäus ja gerade gestrichen; zudem steht der Ruf der Volksmengen durch 20,30f klar im Kontext der Präsentation Jesu als heilender Messias, wobei dieser Zusammenhang auch in 21,14f wieder abgebildet und somit verstärkt wird. Die Volksmengen lobpreisen Jesus in V. 9 also genau als den, als welcher er zu ihnen gesandt wurde: als den sanftmütigen davidisch-messianischen Hirten seines Volkes (2,6; 9,36; 15,24), der sich diesem helfend und heilend zuwendet. Die Anfügung der vom Evangelisten frei gestalteten kleinen Szene in 10 V. 10f steht in direktem Zusammenhang mit dem Erfüllungszitat in V. 4f: Jerusalem wurde das Kommen des Königs angesagt, nun wird die Reaktion geschildert. Das Erbeben der ganzen Stadt lässt an 2,3 zurückdenken. Insgesamt zeigen sich sehr enge Bezüge zwischen Mt 2,1–12 und 21,1–17: In beiden Fällen wird Jerusalem mit der Kunde von der Ankunft des messianischen Königs konfrontiert. Hier wie dort wird dadurch die gesamte

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Stadt in Unruhe versetzt. Zudem treten in 21,15f erstmals seit 2,4–6 auf der Ebene der Erzählung die Hohepriester und Schriftgelehrten wieder gemeinsam auf den Plan (in 16,21; 20,18 begegnen die Gruppen in Ankündigungen Jesu, in 16,21 noch um die Ältesten erweitert). Die Situation wiederholt sich also. Hier wie dort wird dabei noch nicht gesagt, dass sich die einfache Bevölkerung Jerusalems aktiv gegen Jesus richtet. Aber sie ist alarmiert, weil mit einer Reaktion des Establishments zu rechnen ist. In 21,10 beschränkt sich die Reaktion der Bevölkerung der Stadt zu11 nächst darauf, dass sie sich erkundigt, wer „dieser“ sei. Dass Jesus nun in der Antwort der Volksmengen als Prophet bezeichnet wird, dient hier nicht dazu, Schatten auf die Davidsohnakklamation in V. 9 zu werfen, indem insinuiert wird, dass das Volk sogleich wieder auf eine unzureichende Erkenntnis zurückfällt. Denn die Volksmengen sollen nicht ausführen, für wen sie Jesus halten – das haben sie mit dem Akklamationsruf getan –, sondern sagen, um wen es sich bei dem von ihnen als Davidsohn Akklamierten handelt. Eigentlich auffällig ist daher, dass die Volksmengen nicht bloß mit „das ist Jesus aus Nazaret in Galiläa“ antworten, sondern vom Propheten Jesus reden. Matthäus setzt damit gezielt einen Querverweis auf die Klage Jesu über Jerusalem als prophetenmordende Stadt in 23,37–39 und spielt damit – wie anderorts im Evangelium (vgl. 5,12; 21,35f; 23,30 f.34–36) – auf die Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten an. Im Blick auf die Figurenkonstellation der mt Jesusgeschichte macht das Gegenüber von jüdischen Volksmengen, die hier offenkundig als auswärtige Festpilger gedacht sind (vgl. 20,29), auf der einen und Jerusalem auf der anderen Seite in V. 9–11 deutlich, dass Matthäus Jerusalem keineswegs als Repräsentantin Israels aufgefasst wissen möchte. Für das Verständnis von 27,11–26 wird dies wichtig werden. Jesu Einzug in Jerusalem findet seinen Zielpunkt im Tempel. Anders als 12–13 in Mk 11,11, wo Jesus sich zunächst nur umsieht und die Austreibung der Händler erst am nächsten Tag erfolgt (11,15–19), schreitet der mt Jesus sofort zur Tat. Zudem werden bei Matthäus alle Händler vertrieben. Die im Vorhof der Heiden zu lokalisierende Aktion richtet sich gegen den wirtschaftlichen Profit, der mit dem Tempelbetrieb aus der Frömmigkeit der Menschen gezogen wurde. Die Erwähnung speziell der Tische der Taubenverkäufer (anders Joh 2,14–16) lässt Ausbeutung der Armen durch überteuerte Preise für Opfertiere (vgl. mKer 1,7) als spezifischen Kritikpunkt erkennen, denn die Tauben sind die den Armen konzedierten Opfertiere (Lev 5,7; 12,8 u. ö.). Das Jesuswort in V. 13 stellt mit Hilfe atl. Zitate die Funktion, die dem Tempel eigentlich zugedacht war, und den tatsächlichen Zustand des Tempels einander gegenüber. Das Jes 56,7 aufnehmende Wort „mein Haus wird ein Haus des Gebets genannt werden“ ist gegenüber Mk 11,17 um die Wendung „für alle Völker“ gekürzt, denn die Zuwendung des Heils zu allen Völkern ereignet sich durch die Einglie-

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derung von Menschen aus allen Völkern in die Kirche (16,18; 28,19f), nicht aber durch deren Kommen zum Zion. Vielmehr sind Jerusalem und der Tempel infolge des gottwidrigen, in der Tötung Jesu gipfelnden Verhaltens der Autoritäten dem Strafgericht preisgegeben (vgl. 23,37–39; 27,25). Schon in Mt 2,1–12 erfuhr die dort anklingende Vorstellung von der Völkerwallfahrt zum Zion (s. zu 2,11) dadurch eine Transformation, dass die Magier zum Jesuskind nach Betlehem weitergeleitet wurden. Der Jer 7,11 aufgreifende Vorwurf, dass der Tempel zur Räuberhöhle degeneriert ist, unterstreicht, dass Jesu Kritik auf die finanziellen Vorteile zielt, den die Jerusalemer Autoritäten aus dem Tempel ziehen; selbst die Armen (s. o.) „beraubt“ man. Mitzuhören ist dabei der Kontext des Zitats in Jeremias Tempelrede: Es folgt in Jer 7,12–14 die Ankündigung der Zerstörung des Tempels. Nach der Vertreibung der Händler ist der Raum frei, dass Jesus im Tem- 14 pel heilt. Die im Mt singuläre Zusammenstellung von Blinden und Lahmen (in 11,5 und 15,30f begegnen sie in einem jeweils umfangreicheren Ensemble) spielt auf 2Sam 5,6–8 an und setzt damit einen Kontrast zwischen David und dem davidischen Messias: Die Blinden und Lahmen, die David vom Haus des Herrn ausgeschlossen hat, werden von Jesus geheilt und integriert. Aus der „Räuberhöhle“ wird durch Jesu Präsenz – für kurze Zeit – ein Ort barmherziger Zuwendung (vgl. 14,14; 20,34). Die 15–16 Heilungen werden durch die fortwährenden Rufe „Hosanna dem Sohn Davids“ begleitet, so dass noch einmal die Präsentation des Davidsohnes als heilender Messias hervortritt. Dass nun Kinder anstelle der Volksmengen den Davidsohn akklamieren, geschieht im Vorblick auf das in V. 16 folgende Zitat. Auffallend ist, dass die Hohepriester und Schriftgelehrten in 21,15f nicht gegen Jesu Aktion gegen die Händler einschreiten (vgl. Mk 11,18), sondern erst auf den Plan treten, als sie die Heilungen und die Rufe der Kinder vernehmen (die Analogie in Lk 19,38–40 könnte auf den Einfluss nebenmarkinischer Tradition verweisen). Analog zu 12,23f ist es wieder die Jesus von anderen zugeschriebene Würde des davidischen Messiaskönigs, die den Kontext der feindseligen Haltung der Autoritäten bildet. Die Wiederholung der Konstellation macht deutlich, dass Matthäus dies als ein Grundmotiv des Konflikts verstanden wissen will (vgl. ferner 2,3–6). Es ist die Gefährdung der eigenen Führungsposition, die die Feindschaft gegen Jesus prägt. Jesus reagiert ein weiteres Mal damit, dass er den Autoritäten Schriftunkenntnis vorhält (vgl. Mt 9,13; 12,3.5.7; 19,4). Begründete er in V. 13 sein Vorgehen gegen die Händler durch Rekurse auf die Propheten, so beleuchtet er nun die Rufe der Kinder durch den Verweis auf Ps 8,3 (LXX). Dass die Davidsohnakklamation mit dem Zitat als ein von Gott selbst bereitetes Lob ausgewiesen wird, bekräftigt dabei auch im Blick auf V. 9, dass mit ihr in keiner Weise eine insuffiziente oder gar verfehlte christologische Aussage vorgebracht wird. Die so abgekanzelten 17

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Autoritäten lässt Jesus wie in 16,4 stehen, um in dem ca. 3 km östlich von Jerusalem gelegenen Dorf Betanien zu übernachten.

V 2 Die Kraft des Glaubens (21,18–22) 18 Frühmorgens aber, als er in die Stadt zurückkehrte, hungerte ihn. 19 Und als er einen einzelnen Feigenbaum am Weg sah, ging er auf ihn zu und fand nichts an ihm außer Blättern allein und sagt zu ihm: „Nie mehr komme Frucht von dir in Ewigkeit!“ Und sogleich verdorrte der Feigenbaum. 20 Und als die Jünger (das) sahen, verwunderten sie sich und sagten: „Wie ist der Feigenbaum sogleich verdorrt?“ 21 Jesus aber antwortete und sagte zu ihnen: „Amen, ich sage euch: Wenn ihr Glauben habt und nicht zweifelt, werdet ihr nicht nur das mit dem Feigenbaum tun, sondern auch, wenn ihr zu diesem Berg sagt: ‚Heb dich empor und wirf dich ins Meer!‘, wird es geschehen. 22 Und alles, worum ihr im Gebet bittet, werdet ihr empfangen, wenn ihr glaubt.“ Bevor Jesus in den Tempel zurückkehrt, bietet V. 18–22 mit der Verfluchung des Feigenbaums (V. 18f) und der sich anschließenden Jüngerbelehrung (V. 20–22) eine Episode auf dem Weg. In Mk 11,12–14.20–25 bilden die beiden Unterabschnitte der Perikope einen Rahmen um die sog. Tempelreinigung (11,15–19). Indem Matthäus die Tempelreinigung direkt mit dem Einzug in Jerusalem verbunden hat und infolgedessen den mk Zusammenhang zwischen der Verfluchung des Feigenbaums und der 18–19 Tempelreinigung aufgelöst hat, ist zugleich Erstere ihrer auf den Tempel bezogenen symbolischen Dimension entkleidet worden. Schon gar nicht kann man hier die Verwerfung Israels symbolisiert finden. Denn „Feigenbaum“ ist keine konventionalisierte Metapher für Israel, und nirgends redet Matthäus sonst der Verwerfung Israels das Wort, auch nicht in 21,43 oder 27,25. Der Verfluchung des Feigenbaums, dessen Verdorren infolge des direkten Anschlusses der Jüngerbelehrung sofort erfolgen muss, kommt bei Matthäus vielmehr allein eine illustrierende Funktion im Blick 20–22 auf die nachfolgende Unterweisung zu. So lässt Matthäus zum einen die Jünger fragen, wie der Feigenbaum sogleich verdorrte (V. 20), und zum anderen nimmt der mt Jesus in seiner Replik ausdrücklich die Verfluchung des Feigenbaums auf, indem er dessen Verdorren als Beispiel für die dem Glauben zukommenden Möglichkeiten ausweist: Der Glaubende wird „nicht nur das mit dem Feigenbaum tun“ (V. 21). Die Feigenbaumepisode fungiert bei Matthäus also allein als Paradigma für die Kraft des Glaubens. Glaube erscheint dabei als Vertrauen in Gottes Macht, Dinge in unerwarteter Weise zu verändern. Mehr noch: Denen, die glauben, wird verheißen, an dieser Macht zu partizipieren.

Auseinandersetzungen zwischen Jesus und seinen Gegnern (21,23–22,46)

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V. 21 hat eine Parallele in 17,20, wo Matthäus das entsprechende Q-Logion, das Wort vom Senfkornglauben, aufgenommen hat (vgl. Lk 17,6). In 21,21 tritt die Qualifizierung des empfangenden Glaubens durch das Motiv des Nichtzweifelns hinzu (vgl. Jak 1,5f), was im Vergleich zu Q 17,6 eine spätere Reflexionsstufe widerspiegeln dürfte. Bezieht sich die Kraft des Glaubens in Mt 17,20 im Kontext auf die Vollmacht zum Heilen, so folgt in 21,22 eine Applikation auf das Bittgebet (vgl. wiederum Jak 1,5f), dessen Erfüllung unter die Bedingung eines nicht durch Zweifel getrübten Glaubens gestellt wird. Zum Thema der Erhörungsgewissheit ist auf 7,7–11 zu verweisen. Mk 11,25 wird von Matthäus ausgelassen, da er eine Variante dazu bereits in 6,14f gebracht hat.

V 3 Die Auseinandersetzungen zwischen Jesus und seinen Gegnern im Jerusalemer Tempel (21,23–22,46) Am zweiten Tag kehrt Jesus wieder in den Tempel zurück, nun um zu lehren (V. 23). Dies ist der Auslöser für die letzte große Kontroverse zwischen Jesus und den ihm feindlich gesonnenen Führungsschichten, den religiösen und politischen Autoritäten des Volkes. Matthäus hat in 21,23–22,46 eine durchstrukturierte, symmetrische Komposition geschaffen. Durch die redaktionelle Anlagerung der Gleichnisse von den ungleichen Söhnen (21,28–32) und vom Hochzeitsmahl (22,1–14) an das Winzergleichnis (21,33–46) einerseits und die thematische Zusammenbindung der drei Streitgespräche in 22,15–40 andererseits stehen sich im Zentrum zwei „Trilogien“ gegenüber (21,28–22,14 + 22,15–40). Diese sind mit der Frage der Autoritäten nach der Vollmacht Jesu (21,23–27) und der Frage Jesu an die Pharisäer, wessen Sohn der Christus sei (22,41–46), durch zwei christologisch ausgerichtete Rahmenstücke eingefasst, so dass sich eine 1–3–3–1-Struktur ergibt. Die Redeinitiative wechselt in 21,23–22,46 mit jedem Block zwischen Jesus und den verschiedenen Gruppen der Führungsschicht: Die Hohepriester und Ältesten eröffnen die Auseinandersetzung (21,23–27); mit der Parabeltrilogie (21,28–22,14) übernimmt Jesus die Redeinitiative; die folgenden drei Streitgespräche (22,15–40) sind die Reaktion der Autoritäten auf Jesu Ausführungen (22,15a); in 22,41–46 schließlich setzt wiederum Jesus die Auseinandersetzung fort. Die Parabeltrilogie bietet dabei indirekt eine Antwort auf die Vollmachtsfrage, und 22,41–46 ist Jesu Gegenattacke gegen die Versuche der Autoritäten, ihn bei einem Ausspruch zu fangen (22,15). Am Ende sind die Autoritäten zum Verstummen gebracht und räumen das Feld (22,46).

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Jesu Abrechnung mit seinen Gegnern und das Endgericht (21–25)

V 3.1 Die Vollmachtsfrage (21,23–27) 23 Und nachdem er in den Tempel hineingegangen war, traten, als er lehrte, die Hohepriester und die Ältesten des Volkes zu ihm und sagten: „In welcher Vollmacht tust du diese Dinge? Und wer hat dir diese Vollmacht gegeben?“ 24 Jesus aber antwortete und sagte zu ihnen: „Auch ich werde euch eine einzige Sache fragen. Wenn ihr mir das sagt, werde auch ich euch sagen, in welcher Vollmacht ich diese Dinge tue. 25 Die Taufe des Johannes, woher war sie? Vom Himmel oder von Menschen?“ Sie aber überlegten bei sich und sagten: „Wenn wir sagen: ‚vom Himmel‘, wird er zu uns sagen: ‚Warum habt ihr ihm denn nicht geglaubt?‘ 26 Wenn wir aber sagen: ‚von Menschen‘, fürchten wir die Volksmenge, denn alle halten Johannes für einen Propheten.“ 27 Und sie antworteten Jesus und sagten: „Wir wissen es nicht.“ Da sprach auch er zu ihnen: „So sage auch ich euch nicht, in welcher Vollmacht ich diese Dinge tue. In V. 23–27 lehnt sich Matthäus enger als zuvor an seine Markusvorlage 23 an, doch setzt er auch hier eigene Akzente. So korrespondiert den Heilungen in V. 14, dass Matthäus Jesus nun im Tempel lehren (vgl. Lk 20,1) und damit die Rolle einnehmen lässt, die die Autoritäten für sich reklamierten. Diese treten nun in Gestalt der Hohepriester und Ältesten des Volkes auf den Plan – und damit erstmals in der für die Passionsgeschichte typischen Zweierkombination (26,3.47; 27,1.3.12.20; 28,11f); die Schriftgelehrten (Mk 11,27) hat Matthäus ausgelassen. Mt 21,45 macht deutlich, dass sich Matthäus die Konstellation so denkt, dass unter den Ältesten auch Anhänger der Pharisäer waren. In der Frage, in welcher Vollmacht er dies bzw. diese Dinge (im Griechischen steht ein Plural) tue, ist durch die ausdrückliche Erwähnung der Lehre Jesu in V. 23 Jesu Vollmacht als Lehrer (vgl. 7,29) einbezogen. Die Frage ist aber nicht auf die Lehre zu beschränken; dagegen spricht schon der Plural „diese Dinge“. Vielmehr sind etwa auch die Ereignisse des Vortages (V. 1–17) einzubeziehen. Es geht also umfassend um die Identität Jesu, die sich in seinem Wirken manifestiert: Nach ihrer Intervention gegen die Rufe der Kinder im Tempel in V. 16 stellen die Autoritäten Jesus erneut zur Rede, was bzw. wer ihn zu seinem Auftreten legitimiert. Der engere wie weitere Kontext in der mt Jesusgeschichte macht dabei evident, dass die Autoritäten Jesus nicht aus aufrichtigem Informationsinteresse fragen. Vielmehr soll Jesus provoziert werden, seinen messianischen Status, der am Vortag durch die „Sohn Davids“-Rufe der Volksmengen und der Kinder kundgetan wurde, offen zu bekennen. Damit aber könnten sie ihn als falschen Messiasprätendenten beim römischen Statthalter anklagen. Indem Jesus die Beantwortung der Frage der Autoritäten unter die Bedin24–25a gung stellt, dass sie zuvor über die Herkunft der Johannestaufe Auskunft

Auseinandersetzungen zwischen Jesus und seinen Gegnern (21,23–22,46)

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geben, wendet er das Blatt und bringt seine Gegner in Verlegenheit. Sie beginnen, sich in taktischen Erwägungen zu ergehen. Die Eröffnung ihrer Überlegungen suggeriert dabei, dass die Autoritäten die richtige Antwort auf Jesu Frage kennen: Würden sie ehrlich antworten, müssten sie sagen, dass diese „vom Himmel“ war. Das können sie aber nicht zugeben, weil sie 25b damit sich selbst in ihrem Ungehorsam entlarven würden (vgl. zu 3,7–10). Mehr noch: Die eigentliche Pointe der Gegenfrage Jesu ist, dass die Antwort über die Herkunft der Johannestaufe zugleich die Frage tangiert, die die Autoritäten Jesus gestellt haben. Denn wenn sie wissen, dass die Taufe des Johannes vom Himmel war, müssten sie zugleich Jesus mit der Offenheit begegnen, dass er der vom Täufer angekündigte Stärkere (3,11) ist. Wenn sie also die richtige Antwort auf Jesu Gegenfrage geben, dann entlarven sie sich zugleich auch hinsichtlich ihrer Heuchelei in ihrem Vorgehen gegen Jesus, müssten sie doch mit der Folgefrage rechnen, warum sie dann nach der Herkunft seiner Vollmacht fragen. Auf der anderen Seite können sie aber 26 auch nicht die falsche Antwort geben, dass die Johannestaufe von Menschen war. Denn in diesem Fall hätten sie die zu fürchten, als deren Hirten sie sich sehen. Die Volksmengen nämlich halten Johannes für einen Propheten (vgl. 11,9; 14,5), und das heißt: Sie meinen, dass die Johannestaufe vom Himmel war. Die Bezeichnung der Autoritäten als „Älteste des Volkes“ entbehrt hier nicht einer gewissen Ironie: Die Autoritäten repräsentieren das Volk nicht, sondern müssen es fürchten. Auf diese Weise durch Jesu Gegenfrage in die 27 Enge getrieben, antworten sie ausweichend: „Wir wissen es nicht.“ Durch ihre damit bewiesene Unaufrichtigkeit aber ist keine Basis dafür gegeben, dass Jesus seinerseits auf ihre Frage einsteigt. Jesus gibt die Antwort allerdings im Folgenden indirekt – mit der Parabeltrilogie. V 3.2 Die Parabeltrilogie (21,28–22,14) Die Parabeltrilogie ist eine mt Komposition. Im Mk hat der erste Evangelist an dieser Stelle nur das Winzergleichnis vorgefunden (21,33–46 par Mk 12,1–12). Matthäus hat diesem das Sondergutgleichnis von den beiden ungleichen Söhnen vorgelagert (21,28–32) und das aus Q stammende Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl angefügt (22,1–14). Die ersten beiden Gleichnisse weisen einen analogen dialogartigen Aufbau auf (vgl. 2Sam 12,1–7; Lk 7,41–47; 4Esra 4,13–21): Jesu Gleichniserzählung (V. 28–31a.33–40) mündet jeweils in eine Frage (V. 31a.40); auf die Antwort des Gegenübers (V. 31b.41), das sich mit dieser selbst das Urteil spricht, folgt als Abschluss die Applikation des Gleichnisses (V. 31c–32.42–44). Der Vergleich von V. 33–46 mit Mk 12,1–12 zeigt dabei, dass Matthäus das Winzergleichnis redaktionell an die dialogische Struktur von V. 28–32 angepasst hat.

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Nach der szenischen Zwischenbemerkung in V. 45f, dass die Hohepriester und die Pharisäer erkannten, dass die Gleichnisse auf sie gemünzt waren, ist es konsequent, dass dem dritten Gleichnis in 22,1–14 die dialogische Struktur von 21,28–32.33–44 fehlt; 22,2–14 ist durchgehend Jesusrede. Dafür zeigen sich aber zwischen 22,1–14 und 21,33–46 – noch stärker als zwischen den ersten beiden Gleichnissen – deutliche Übereinstimmungen in der Motivik und im Vokabular. Wieder ist von einem Sohn die Rede (21,37–39; 22,2); es werden Knechte ausgesandt, die missachtet oder misshandelt und getötet werden (21,34–36; 22,3–6); wieder werden die Mörder daraufhin selbst vernichtet (21,40f; 22,7). Hingegen sind die Berührungen zwischen 21,28–32 und 22,1–14 auffallend schwach. Der redaktionskritische Befund spiegelt sich also auch in den Verbindungen zwischen den drei Gleichnissen: Das Winzergleichnis zeigt sich deutlich als Kristallisationspunkt und Achse der mt Komposition. Thematisch sind die drei Gleichnisse dadurch miteinander verbunden, dass sie den fortwährenden Widerstand zur Sprache bringen, auf den die Boten Gottes stoßen. Das erste Gleichnis wird auf die Reaktion auf den Täufer bezogen, im Winzergleichnis steht die Opposition gegen den Sohn im Zentrum, im Gleichnis vom Hochzeitsmahl schließlich stehen die ausgesandten Knechte für Jesu Jünger. Die Trilogie bildet also die Sequenz „Johannes – Jesus – Jünger Jesu“ ab. Die entscheidende Interpretationsfrage ist, ob die drei Gleichnisse heilsgeschichtlich zu lesen sind und die Ablösung Israels durch die für die Völkerwelt offene Kirche vorbringen oder ob es allein um eine Abrechnung mit den jüdischen Autoritäten geht. Die nachfolgende Auslegung wird die zweite Option begründen. V 3.2.1 Das Gleichnis von den ungleichen Söhnen (21,28–32) 28 Was aber meint ihr? Ein Mensch hatte zwei Kinder. Und er trat zum ersten und sagte: ‚Kind, geh heute hin, arbeite im Weinberg!‘ 29 Der aber antwortete und sagte: ‚Ich will nicht.‘ Später aber bereute er und ging hin. 30 Er trat aber zum anderen und sagte ebenso. Der aber antwortete und sprach: ‚Ich (gehe), Herr!‘, und er ging nicht. 31 Wer von den beiden hat den Willen des Vaters getan?“ Sie sagen: „Der erste.“ Jesus sagt zu ihnen: „Amen, ich sage euch, dass die Zöllner und die Huren euch vorangehen in das Reich Gottes. 32 Denn Johannes kam zu euch auf dem Weg der Gerechtigkeit, und ihr habt ihm nicht geglaubt, die Zöllner aber und die Huren glaubten ihm. Ihr aber habt, als ihr es saht, auch später nicht bereut, so dass ihr ihm geglaubt hättet. 28–31b Das Fehlen einer Einleitung des Erzählers in V. 28 macht den direkten Zusammenhang mit dem Voranstehenden deutlich: V. 28–31a setzt nahtlos

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die direkte Rede Jesu in V. 27b fort. Die überleitende Frage „was meint ihr“ bahnt die dialogische Gestaltung des Nachfolgenden an. Im Gleichnis verhalten sich beide Söhne anders, als sie gegenüber ihrem Vater kundtun. Nur bei dem ersten wird dies erläutert: Es reute ihn. Beim zweiten Sohn hingegen ist von einem Meinungsumschwung nicht die Rede. Von der Anwendung auf die Autoritäten her (V. 31c.32) liegt die Deutung nahe, dass er von vornherein nicht vorhatte, in den Weinberg zu gehen (vgl. zu V. 32). Da Jesu Frage in V. 31a voraussetzt, dass einer der beiden den Willen des Vaters getan hat, ist hier impliziert, dass das anfängliche „Nein“ des ersten Sohnes bei der Beurteilung nicht ins Gewicht fällt. Das „Nein“ wurde bereut; Umkehr ist immer möglich und steht unter der Zusage, dass bei Gott niemand auf das Vergangene festgelegt ist (vgl. Ez 18,21–32; 33,10–20). Das Gleichnis im Ganzen verstärkt einen typischen Zug mt Theologie: Entscheidend ist nicht das Sagen, sondern das Handeln (vgl. 7,21–23). Durch Jesu Anwendung in V. 31c.32 und den weiteren Kontext enthält 31c–32 das Gleichnis allerdings einen seine paränetische Dimension überlagernden Akzent. Die Kritik richtet sich dabei eindeutig allein gegen die angesprochenen Hohepriester und Ältesten des Volkes (21,23), nicht gegen Israel im Ganzen. Denn zum einen stehen die Zöllner und Huren – Letztere kommen nur hier im Mt vor – für die Sünder und Sünderinnen in Israel, die sich durch den Täufer zur Umkehr bewegen ließen; der Kontrast ist also ein innerjüdischer. Zum anderen greift Jesu Vorwurf in V. 32, dass die hier Anvisierten Johannes nicht geglaubt haben, direkt auf V. 25 zurück, wo in den taktischen Überlegungen der Hohepriester und Ältesten auch ihre faktische Distanz zum Volk deutlich wurde (V. 26). In die Aussage, dass die Zöllner und die Huren den Autoritäten (auf 31c dem Weg) „in das Reich Gottes vorangehen“, ist schwerlich einzulesen, dass auch Letztere in dieses hineingehen werden. Der Ton liegt auf der Inversion der Rangordnung: Die Hohepriester und Ältesten sehen sich selbst ganz oben; tatsächlich aber stehen sie sogar hinter den Zöllnern und Huren. Im Blick auf den Zugang zum Heil ist hier impliziert, dass, um in der Bildsprache zu bleiben, das „Tor“ zum Himmelreich (der Wechsel zu Reich Gottes dürfte der vorangehenden Rede vom „Willen des Vaters“ geschuldet sein) geschlossen wird, bevor die Autoritäten eintreten können. Die Zöllner und Huren dienen dabei als Kontrastfolie, um die heillose Situation der Autoritäten in aller Schärfe hervortreten zu lassen: Selbst die ehemaligen Sünder par excellence werden in das Reich Gottes eingehen, weil selbst sie umgekehrt sind. V. 32 hat eine entfernte Parallele in Lk 7,29f, doch ist hier angesichts der 32 deutlichen Unterschiede kaum von einer gemeinsamen Q-Vorlage auszugehen. V. 32 ist vielmehr der Feder des Evangelisten zuzuweisen, der mit ihm das Gleichnis in den übergreifenden Kontext einbindet: Mit der Aussage, dass Johannes „auf dem Weg der Gerechtigkeit“ (vgl. Spr 8,20;

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21,21 LXX ; Ijob 24,13 LXX ; 1Hen 82,4 u. ö.) gekommen ist, gibt Jesus nun selbst eine Antwort auf seine Frage nach der Herkunft der Taufe des Johannes (V. 25). Inhaltlich impliziert die Aussage Johannes’ eigenen gerechten Wandel (vgl. 3,15), doch blickt sie vor allem darauf, dass er die Menschen mit seiner Umkehrbotschaft zur Gerechtigkeit zu führen suchte, wie die nachfolgende Kontrastaussage, dass die Autoritäten im Unterschied zu den Zöllnern und Dirnen Johannes nicht geglaubt haben, zeigt. Im Lichte von V. 25 steht bei diesem Vorwurf nicht im Zentrum, dass ihnen die himmlische Herkunft der Taufe des Johannes verschlossen war, sondern dass sie der Umkehrpredigt des Täufers (vgl. 3,2.7–10) den Gehorsam schuldig geblieben sind. Auffallend ist die doppelte Inkongruenz zwischen der Anwendung in V. 32 und dem Gleichnis. Zum einen nimmt V. 32 das Gleichnis insofern nur partiell auf, als man die Erstreaktion der beiden Söhne höchstens vorausgesetzt finden kann: Das „Nein“ des einen wäre dann auf die vormalige Gottesferne der Zöllner und Huren zu deuten; das mit „Ich (gehe), Herr!“ emphatisch ausgedrückte „Ja“ des anderen stünde für die sich nur in Lippenbekenntnissen äußernde Frömmigkeit der Autoritäten (vgl. 15,8). Zum anderen schießt der Schlusssatz in V. 32 über, wobei hier zugleich mit der Rede von der ausgebliebenen Reue ein Motiv des Gleichnisses aufgenommen wird (V. 29): Selbst dass sogar die Zöllner und Huren dem Täufer geglaubt haben, d. h. durch seine Botschaft zur Umkehr bewegt wurden, hat bei den Autoritäten keine Reue und kein Umdenken ausgelöst. Der Ton liegt durch diesen Schlusssatz deutlich auf dem Fehlverhalten der angesprochenen Autoritäten. V 3.2.2 Das Winzergleichnis (21,33–46) 33 Hört ein anderes Gleichnis: Es war ein Hausherr, der einen Weinberg pflanzte und einen Zaun um ihn setzte und eine Kelter in ihm grub und einen Turm baute und ihn an Winzer verpachtete und verreiste. 34 Als aber die Zeit der Früchte nahte, sandte er seine Knechte zu den Winzern, um seine Früchte in Empfang zu nehmen. 35 Und die Winzer nahmen seine Knechte, den einen verprügelten sie, den anderen töteten sie, den anderen steinigten sie. 36 Wiederum sandte er andere Knechte, mehr als die ersten; und sie taten mit ihnen dasselbe. 37 Zuletzt aber sandte er seinen Sohn zu ihnen und sagte: ‚Vor meinem Sohn werden sie Achtung haben!‘ 38 Als aber die Winzer den Sohn sahen, sagten sie untereinander: ‚Dieser ist der Erbe. Auf, lasst uns ihn töten und sein Erbe behalten!‘ 39 Und sie nahmen ihn, warfen ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn. 40 Wenn nun der Herr des Weinbergs kommt, was wird er jenen Winzern tun?“ 41 Sie sagen zu ihm: „Er wird die Bösen böse ver-

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nichten und den Weinberg an andere Winzer verpachten, die ihm die Früchte zu ihren Zeiten abliefern werden.“ 42 Jesus sagt zu ihnen: „Habt ihr nie in den Schriften gelesen: ‚Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden; von dem Herrn her ist er dieser geworden, und er ist wunderbar in unseren Augen‘? 43 Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch weggenommen und einem Volk gegeben werden, das seine* Früchte bringt. 44 Und wer auf diesen Stein fällt, wird zerschmettert werden; aber auf wen immer er fallen wird, den wird er zermalmen.“ 45 Und als die Hohepriester und die Pharisäer seine Gleichnisse gehört hatten, erkannten sie, dass er von ihnen redet. 46 Und sie suchten ihn zu ergreifen, fürchteten (aber) die Volksmengen, denn sie hielten ihn für einen Propheten. * Das Pronomen bezieht sich auf „Reich Gottes“ zurück. Im griechischen Text ist dieser Bezug aufgrund der unterschiedlichen Genera der Wörter für „Reich“ und „Volk“ eindeutig.

Beim Winzergleichnis hat Matthäus seine Markusvorlage (Mk 12,1–12) erheblich bearbeitet. Die Gleichniserzählung selbst (V. 33–41) wurde gestrafft, die Anwendung in V. 42–44 hingegen erheblich ausgebaut, zudem ist Mk 12,9–11 in V. 40–44 nach dem Vorbild von V. 28–32 dialogisch umgestaltet worden. V. 44 fehlt in einigen Handschriften, ist aber wohl ursprünglich. Der Vers begegnet auch in Lk 20,18, aber nicht in der Markusvorlage. Wenn man nicht zur These einer Markusrezension greifen will, die Matthäus und Lukas vorgelegen hat, wird man den Befund kaum anders erklären können als mit der Annahme des Einflusses geprägter mündlicher Tradition neben Mk 12,1–12. Mit der als Überleitung fungierenden Aufforderung „hört ein anderes 33 Gleichnis“ wird die direkte Rede Jesu wie in V. 28 ohne eine Zwischenbemerkung des Erzählers fortgesetzt. Ein Gleichnis von einem Hausherrn (anders Mk 12,1: „ein Mensch“) und seinem Weinberg hat Matthäus bereits in 20,1–15 erzählt. Hier wie dort steht der Hausherr für Gott, doch ist die thematische Ausrichtung in 21,33–46 eine andere. Dies beginnt damit, dass in V. 33 ausführlich die Anlage des Weinbergs beschrieben wird. Die bibelkundigen Adressaten des Mt werden dabei sicher die klare Anspielung auf Jes 5,2, die Matthäus durch kleinere Veränderungen an Mk 12,1 noch verdeutlicht hat, vernommen und daher den Weinberg als Chiffre für Israel (Jes 5,7) verstanden haben, zumal „Weinberg“ auch sonst als Metapher für Israel begegnet (Jes 3,14; 27,2–6; Jer 12,10; LAB 30,4 u. ö.). Die Winzer, an die der Weinbergbesitzer seinen Weinberg verpachtet, stehen entsprechend für die Autoritäten in Israel, wie V. 45f bestätigt. Gerade durch die Anspielung auf Jes 5 zu Beginn wird die Aufmerksam-

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keit auf die Unterschiede zum atl. Bezugstext gelenkt. So geht es im Winzergleichnis nicht darum, dass der Weinberg schlechte Früchte bringt; der Fokus ist vielmehr auf das Fehlverhalten der Winzer gerichtet. Entsprechend wird am Ende nicht der Weinberg preisgegeben, sondern der Weinberg bekommt neue Winzer. Die Aussendungen von Knechten, die für die Propheten stehen (vgl. 34–36 2Kön 9,7; 17,13.23; Jer 7,25 u. ö.), hat Matthäus gegenüber Mk 12,2–5 auf zwei gekürzt. Dafür werden sogleich beim ersten Mal mehrere Knechte gesandt (V. 34), und während in Mk 12 erst die dritte Sendung eines einzelnen Knechts tödlich endet, kommt es bei Matthäus schon bei der ersten zum Mord. Im Hintergrund steht hier erneut die Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten (vgl. zu 5,12). Mit den letzten beiden Gliedern der Trias „verprügeln – töten – steinigen“ in V. 35 bildet Matthäus einen Querverweis auf 23,37 (vgl. zu 21,11): Jerusalem ist eine Stadt, die die Propheten tötet und die zu ihr Gesandten steinigt („steinigen“ kommt im Mt überhaupt nur in 21,35 und 23,37 vor). Die zweite Sendung unterscheidet sich bei Matthäus nur darin von der ersten, dass die Gruppe größer ist. Die Reaktion der Weingärtner ist dieselbe (V. 36). Eine strafende Gegenreaktion des Weinbergbesitzers bleibt noch immer 37–39 aus. Stattdessen sendet er in seiner Langmut noch seinen Sohn – verbunden mit der Hoffnung, dass die Winzer diesem gegenüber Respekt zeigen werden. In der verhüllenden Sprache des Gleichnisses bringt Jesus hier sein eigenes Wirken ins Spiel. Die Winzer aber begreifen das Kommen des Sohnes als Chance, den Weinberg an sich zu reißen, indem sie den Sohn töten. Das Gleichnis bietet damit ein wichtiges Interpretament der Tötung Jesu, das ein Motiv aufnimmt, welches bereits Herodes’ Vorgehen in Mt 2 bestimmte: Die Hohepriester und die (pharisäischen) Ältesten (21,23.45) versuchen, mit der Tötung Jesu, der von den Festpilgern und den Kindern im Tempel als davidischer Messias gefeiert wurde (21,9.15), ihre Stellung in Israel zu sichern. Zu dieser innermatthäischen Verknüpfung kommt intertextuell hinzu, dass ihre Worte „auf, lasst uns ihn töten“ wörtlich dem Ansinnen der Brüder Josefs in Gen 37,20 LXX entsprechen. Dass die Tötung des Sohnes in V. 39 anders als in Mk 12,8 (aber wie in Lk 20,15) außerhalb des Weinbergs erfolgt, spiegelt die übliche Praxis (vgl. Lev 24,14.23; Num 15,35f; Dtn 17,5; 1Kön 21,10.13; Lk 4,29; Apg 7,58). Natürlich kann der Plan der Winzer nicht aufgehen. Deren Irrationalität 40–41 spiegelt die Absurdität des Vorgehens der Autoritäten gegen Jesus. Die in Mk 12,9 offen gestaltete Frage nach der Reaktion des Weinbergbesitzers („was wird nun der Herr des Weinbergs tun?“) hat Matthäus enger gefasst, indem er dessen Kommen in die Frage vorgezogen und ferner „jenen Winzern“ ergänzt hat: Der gegenüber Jes 5,1–7 veränderten Ausrichtung des Gleichnisses korrespondiert nun, dass nicht zur Diskussion steht, was der Weinbergbesitzer mit seinem Weinberg tun soll (Jes 5,4f), sondern was

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er mit jenen Winzern tun soll. Wie schon in V. 31b lässt Matthäus die Autoritäten nach dem Vorbild von 2Sam 12 ihr eigenes Urteil sprechen. Die durch die Präzisierung der Frage vorgespurte Antwort in V. 41 hat Matthäus zum einen im Ton verschärft: Aus dem mk „er wird die Winzer vernichten“ ist „er wird die Bösen böse vernichten“ geworden. Zum anderen hat Matthäus die Antwort erweitert, indem die neuen Winzer im Vorblick auf V. 43 durch die Anfügung eines – wohl auf Ps 1,3 anspielenden – Relativsatzes charakterisiert werden: Sie werden dem Hausherrn „die Früchte zu ihren Zeiten abliefern“. Die Applikation des Gleichnisses durch Jesus in V. 42–44 ist dreiteilig. 42 In Mk 12 vorgegeben ist davon nur V. 42, der mittels eines – nach 21,9 erneuten – Zitats aus Ps 118, diesmal von 118,22f (vgl. 1Petr 2,7; Barn 6,4), das Schicksal des Sohnes im Gleichnis aufgreift. Die Winzer kehren nun in der Rede von den Bauleuten wieder. Dass der von ihnen verworfene Stein zum Eckstein geworden ist, blickt auf die Auferweckung des von ihnen getöteten Sohnes voraus, die Gott wirken wird: „Vom Herrn her ist er dieser (d. h. der Eckstein) geworden“. Darin ist impliziert, dass der Plan der jüdischen Autoritäten, durch die Tötung Jesu ihre Stellung zu behaupten, zum Scheitern verurteilt ist. Der von Matthäus eingefügte V. 43 entfaltet dies. Der Vers ist häufig als 43 Beleg genommen worden, dass Matthäus der Ersetzung Israels durch die Kirche das Wort rede: Da das Reich Gottes hier einem Volk übergeben wird und damit die Kirche gemeint sei, sei vorausgesetzt, dass „von euch“ faktisch „von Israel“ meine. Wenn Matthäus so verstanden werden wollte, hätte er dies allerdings ohne Weiteres auch schreiben können. Zudem hat die Annahme, dass die mit „von euch“ angesprochenen Autoritäten Israel, im strengen Sinne des Wortes, repräsentieren, die mt Differenzierung zwischen den Autoritäten und den Volksmengen dezidiert gegen sich (vgl. 9,33f; 12,23f; 21,9–16 u. ö.). Dies gilt umso mehr, als ebendiese Unterscheidung in der szenischen Zwischenbemerkung in V. 45f ausdrücklich aufgenommen und in ganz unzweideutiger Klarheit gesagt wird, dass die Autoritäten begriffen, dass das Gleichnis auf sie gemünzt ist, sie es aber wegen der Volksmengen nicht wagten, gegen Jesus vorzugehen. Ferner legte sich zu V. 33 die Annahme nahe, dass Israel in dem Gleichnis durch den Weinberg repräsentiert ist. Schließlich ist auf das Gleichnis von den ungleichen Söhnen in 21,28–32 zurückzuverweisen, das eine innerjüdische Differenzierung thematisiert und dessen Kritik sich ebenfalls allein gegen die konkreten Gesprächspartner Jesu, also gegen die Hohepriester und Ältesten (V. 23), richtet. Dass bei denen, denen das Reich Gottes übergeben wird, die (wahren) Jesusnachfolger im Blick sind, ist nicht zu bestreiten. Mit ihrer Bezeichnung als Volk, das Früchte des Reiches bringt, wird hier aber nicht die Gemeinde als das neue Gottesvolk profiliert. Denn für das in der Überset-

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zung gewählte Wort „Volk“ steht im Griechischen nicht das Wort laos, das in der LXX häufig als terminus technicus Israel als Volk Gottes bezeichnet (Ex 3,7; Dtn 7,6; Jes 1,3; 40,1 u. ö.) und auch von Matthäus so verwendet werden kann (z. B. 1,21; 2,6; 4,16.23), sondern das Wort ethnos, das zunächst nur eine zusammengehörige Gruppe bezeichnet. „Nation/Volk“ hat sich – im nachhomerischen Griechisch – zwar zur vorherrschenden Bedeutung entwickelt, ohne aber andere Verwendungsmöglichkeiten vollständig zu verdrängen. So begegnet z. B. bei Xenophon die Frage, ob es ein ethnos gäbe, das einfältiger sei als die Bänkelsänger (Symp 3,6); und bei Dion Chrysostomos wird die Auflistung von Flötenspielern, Schauspielern, Faustkämpfern usw. am Ende durch „und das so geartete ethnos“ im Sinne von „und dergleichen Leute“ abgeschlossen (Or 66,8). 1Makk 1,34 bezeichnet eine in der Davidstadt stationierte seleukidische Besatzungseinheit als ein „sündhaftes ethnos“. Und Spr 28,17 LXX mahnt: „Erziehe den Sohn und er wird dich lieben …; gehorche nicht einem gesetzwidrigen ethnos (= Haufen)“ (vgl. 26,3). Der Ton liegt in den beiden zuletzt genannten Belegen jeweils auf dem Adjektiv, mit dem ein ethnos (im Sinne eines Verbunds von Menschen) charakterisiert wird.

Entsprechend bezeichnet ethnos in Mt 21,43 die (wahren) Jesusnachfolger als einen Verbund von Menschen, der durch das Bringen der Früchte des Reiches Gottes näher bestimmt wird. Auf dieser Näherbestimmung liegt dabei der Ton (vgl. V. 41). Die Vorstellung von der Kirche als Gottesvolk hingegen ist von V. 43 fernzuhalten. Hier wird nicht Israel durch die Kirche ersetzt, sondern wie in V. 41 der Weinberg (= Israel) neue Winzer erhält, so geht es in V. 43 um die Ablösung der Autoritäten. Das Winzergleichnis liegt damit ganz auf der Linie des Substitutionsvorgangs, der schon im Kontext der Sendung der zwölf Jünger zu „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ in 9,36–10,6 zu konstatieren war: Die Jünger treten an die Stelle der alten schlechten Hirten (vgl. zu 9,36). V. 43 interpretiert diese Ablösung als Übergabe des Reiches Gottes. „Reich Gottes“ statt der im Mt vorherrschenden Wendung „Reich der Himmel“ knüpft an die Rede vom Herrn in V. 42 an und nimmt zugleich die theozentrische Ausrichtung des Gleichnisses auf, in dem Matthäus von „seinen Knechten“ (V. 34f, diff. Mk 12,2f), „seinen Früchten“ (V. 34, diff. Mk 12,2) und „seinem Sohn“ (V. 37, diff. Mk 12,6) geredet hat. Für das Verständnis von „Reich Gottes“ ergeben sich in V. 43 zwei Möglichkeiten, die einander nicht ausschließen. Zum einen kann man „Reich Gottes“ wie in V. 31 im Sinne des eschatologischen Heilsgutes verstehen. V. 43 würde dann die soteriologische Seite des Urteils von V. 41 ausdrücklich machen: Die Führungsschicht wird aufgrund ihres Fehlverhaltens nicht nur als solche abgelöst, sondern hat auch ihr eigenes Heil verspielt. Möglich ist aber auch eine Deutung, die näher bei der Thematik des Gleichnisses bleibt und die präsentische Dimension des Reiches bzw. der Königsherrschaft

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Gottes zur Geltung bringt: In V. 43 kann man den Gedanken aufgenommen finden, dass Gott seine Herrschaft durch irdische Repräsentanten ausführen lässt, wie dies etwa in der chronistischen Vorstellung vom davidischen Königtum zutage tritt. So hat Gott Salomo nach 1Chr 28,5 erwählt, dass „er auf dem Thron der Königsherrschaft des Herrn über Israel sitze“, und nach 2Chr 13,8 ist die Königsherrschaft des Herrn in die Hand der Söhne Davids gelegt (vgl. auch 1Chr 29,23). TestBenj 9,1 knüpft an diese Vorstellung an und kündigt die durch unzüchtiges Verhalten verschuldete Wegnahme der Königsherrschaft des Herrn an. Im mt Kontext ist im Blick auf die präsentische Dimension der Königsherrschaft Gottes daran zu denken, dass diese in der Befolgung seines Gesetzes zur Geltung kommt. Der Zusammenhang zwischen der Herrschaft Gottes und der Tora ist in der rabbinischen Literatur geläufig (s. z. B. MekhEx 20,2; LevR 2 [zu Lev 1,2]; SifraLev zu Lev 18,6; MidrPss zu Ps 20,3), hat aber vorrabbinische Wurzeln (Jub 12,19; 2Makk 1,7 sowie z. B. auch Sib 3,716–720; Philo, Mos 2,3f). V. 43 lässt sich in diesem Sinn durch das Zusammenspiel von 16,19 und 23,13 illustrieren: Während die Autoritäten das Himmelreich durch ihre falsche Lehre verschließen, sind Petrus als Garant der Lehre Jesu die „Schlüssel des Himmelreiches“ übergeben. Auf diesem Hintergrund betrachtet besagt V. 43, dass die vormals den Autoritäten zugedachte Aufgabe, auf der Basis der Tora den Willen Gottes – als des eigentlichen Königs des Volkes (Jes 44,6; Zef 3,15 u. ö.) – in Israel auszurichten, auf die Jesusanhänger übergeht, die aufgrund der vollmächtigen Toraauslegung Jesu selbst vorbildhaft Früchte bringen, die Menschen in rechter Weise zu unterweisen vermögen (28,20a) und ihnen so das von ihnen als nahe verkündigte Himmelreich aufschließen. Die Jüngergemeinschaft tritt hier also nicht an die Stelle Israels, sondern kommt in ihrer Aufgabe in Israel (und nach 28,18–20 darüber hinaus auch in der sonstigen Welt) in den Blick. V. 44 knüpft an die in V. 42 verwendete Steinmetapher an und führt mit 44 einer V. 41a aufnehmenden massiven Gerichtsdrohung, die Jes 8,14f und vor allem die Vernichtung der vier Weltreiche in Dan 2,44f assoziieren lässt, die soteriologische Konsequenz der Verwerfung Jesu vor Augen. Nach der provokanten Gegenüberstellung der Autoritäten mit den Zöllnern und Huren in V. 31c.32 hat die Abrechnung Jesu mit seinen Kontrahenten durch V. 42–44 noch einmal an Schärfe gewonnen. Wenn den Autoritäten (zu den Pharisäern s. o. zu 21,23) nun die Er- 45–46 kenntnis zugeschrieben wird, dass die Gleichnisse auf sie gemünzt sind, wird damit im Grunde nicht mehr als das Selbstverständliche festgehalten. Im Lichte von 26,63 liegt freilich nahe, dass ihnen zugleich – mit Blick auf ihre in 21,23 gestellte Frage – nicht entgangen ist, welchen Anspruch Jesus für sich selbst in dem Gleichnis reklamiert hat. Ihr Ansinnen, Jesus zu ergreifen, wird allein noch durch die Furcht vor den Jesus positiv zugewand-

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ten Volksmengen gebremst, doch bedeutet dies nicht mehr, als dass sie die Wertschätzung Jesu im Volk bei ihrem weiteren Vorgehen strategisch bedenken müssen (vgl. zu 22,15 und 26,3–5). Während Markus die Furcht vor den Volksmengen lediglich konstatiert, fügt Matthäus als Erläuterung an, dass das Volk Jesus – wie Johannes (21,26) – für einen Propheten hält. Matthäus verweist damit auf 21,11 zurück und auf 23,37 voraus. Zieht man hinzu, dass in V. 35 durch die letzten beiden Glieder der Trias „verprügeln – töten – steinigen“ ebenfalls ein Verweis auf 23,37 gesetzt wurde, ergibt sich ein für die Interpretation wichtiges Geflecht von Textbeziehungen: Jerusalem und die Autoritäten erscheinen auf der einen Seite, das nicht aus Jerusalem stammende Volk auf der anderen. V 3.2.3 Das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (22,1–14) 1 Und Jesus antwortete und redete wiederum in Gleichnissen zu ihnen und sagte: 2 „Das Himmelreich gleicht einem König, der für seinen Sohn die Hochzeit ausrichtete. 3 Und er sandte seine Knechte aus, um die Eingeladenen zur Hochzeit zu laden, doch sie wollten nicht kommen. 4 Wiederum sandte er andere Knechte und sagte: ‚Sagt den Eingeladenen: Siehe, mein Mahl habe ich bereitet, meine Ochsen und mein Mastvieh sind geschlachtet, und alles ist bereit. Kommt zur Hochzeit!‘ 5 Sie aber kümmerten sich nicht darum und gingen weg, der eine auf seinen eigenen Acker, der andere an seinen Handel. 6 Die übrigen aber ergriffen seine Knechte, misshandelten und töteten sie. 7 Der König aber wurde zornig und schickte seine Heere und vernichtete jene Mörder und setzte ihre Stadt in Brand. 8 Da sagt er zu seinen Knechten: ‚Die Hochzeit ist zwar bereit, aber die Eingeladenen waren es nicht wert. 9 Geht nun hin an die Ausgangspunkte der Straßen, und so viele immer ihr findet, ladet zur Hochzeit ein!‘ 10 Und als jene Knechte auf die Straßen hinausgegangen waren, brachten sie alle zusammen, die sie fanden, Böse wie Gute. Und der Hochzeitssaal wurde gefüllt von zu Tisch Liegenden. 11 Als aber der König hineingegangen war, um die zu Tisch Liegenden zu betrachten, sah er dort einen Menschen, der nicht mit einem hochzeitlichen Gewand bekleidet war. 12 Und er sagt zu ihm: ‚Freund, wie bist du hier hineingekommen, obwohl du kein hochzeitliches Gewand hast?‘ Er aber verstummte. 13 Da sprach der König zu den Dienern: ‚Bindet ihm Füße und Hände, und werft ihn hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.‘ 14 Denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt.“

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Für 22,1–14 liegt trotz der erheblichen Differenzen zu Lk 14,16–24 die Annahme nahe, dass beide Evangelisten das Gleichnis in Q vorfanden. Die Unterschiede resultieren weitgehend daraus, dass Matthäus das Gleichnis im Zuge seiner Einstellung in den Zusammenhang der von ihm geschaffenen Parabeltrilogie (21,28–22,14) grundlegend überarbeitet hat. Nach der durch 21,45f gegebenen Unterbrechung des Dialogs setzt Matthäus anders als in den beiden vorangehenden Gleichnissen in V. 1 durch eine szenische Einleitungsnotiz neu an. Ebenfalls anders als in 21,28–32.33–46 wird das dritte Gleichnis als ein Gleichnis vom Himmelreich präsentiert. Dem korrespondiert, dass der Blick nun auf das eschatologische Festmahl gerichtet ist (vgl. 8,11). Aus dem einfachen Gastmahl (Lk 14,16) ist dabei in V. 2 ein Hochzeitsmahl geworden, das ein König für seinen Sohn veranstaltet. Nachdem in den Anwendungen der beiden vorangehenden Gleichnisse bereits vom Königreich Gottes die Rede war (21,31.43), erscheint Gott nun im Gleichnis selbst als König. Der Sohn ist wie in 21,37–39 wieder Jesus, wobei sich im Zusammenspiel mit 21,33–46 eine stimmige christologische Sequenz ergibt: Thematisierte 21,37–39 die Tötung des Sohnes und nahm 21,42 die Auferweckung in den Blick, so ist nun in 22,2 seine Erhöhung zu Gott vorausgesetzt. Die hier implizierte und in 25,1–13 wiederkehrende Vorstellung des erhöhten Herrn als himmlischer Bräutigam (vgl. im Blick auf den irdischen Jesus 9,15) begegnet auch anderorts im NT (2Kor 11,2; Offb 19,6–9; 21,2.9). Die Rolle der Braut bleibt in Mt 22,1–14 (wie auch in 25,1–13) unbesetzt; ins Blickfeld treten allein die Gäste. Während in der lk Fassung ein einzelner Knecht den Geladenen den Beginn des Mahles ansagt, wird bei Matthäus in wörtlicher Anlehnung an das Winzergleichnis (vgl. 22,3 mit 21,34 und 22,4 mit 21,36) zweimal gleich eine Gruppe von Knechten ausgesandt. Da in V. 2 die nachösterliche Erhöhung Jesu vorausgesetzt ist und zur Hochzeitsfeier für den Königssohn Jesus geladen wird, stehen die Knechte nun anders als in 21,34–36 nicht mehr für die atl. Propheten, sondern für die Jünger Jesu, die in ihrer Mission zur „Hochzeit des Sohnes“ einladen. Lässt Lukas die Geladenen sich mit verschiedenen – an sich durchaus nachvollziehbaren – Gründen entschuldigen, so verschärft Matthäus bereits bei der ersten Sendung die negative Zeichnung der Geladenen, indem er nur knapp auf ihren Unwillen verweist. Da es bei Matthäus um die Einladung eines Königs geht, erscheint dieser Unwille als Ausdruck anmaßender Eigenmächtigkeit. Mit der Verdoppelung der Aussendung der Knechte unterstreicht Matthäus das nachhaltige, gütige Bemühen des Gastgebers, das noch dadurch unterstrichen wird, dass die Knechte bei der zweiten Sendung eigens auf die Gaumenfreuden hinweisen sollen, die die Gäste erwarten. Die überaus freundliche Reaktion des Königs ändert aber nichts an der grundsätzlich unwilligen Haltung der Geladenen, die nun ebenfalls

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ausführlicher als bei der ersten Sendung dargelegt wird. Dass sich der eine seinem Acker, der andere seinem Geschäft zuwendet, erinnert entfernt an die von den Geladenen in Lk 14,18f vorgetragenen Gründe, doch vermittelt Matthäus den Eindruck, dass die Geladenen einfach ihren – aufschiebbaren – Alltagsgeschäften nachgingen, während Lukas (wie ähnlich EvThom 64) besondere Anlässe nennt. Vor allem aber treibt Matthäus die Darstellung der anmaßenden Eigenmächtigkeit der Geladenen dadurch auf die Spitze, dass die Übrigen die Knechte des Königs verhöhnen und 7 töten (V. 6, vgl. als Analogie Josephus, Ant 9,265). Das Motiv, dass ob der Reaktionen der Geladenen der Zorn des Gastgebers entbrennt, hat Matthäus ausweislich Lk 14,21 in der Q-Vorlage vorgefunden, doch hat dieses durch die mt Einfügung von V. 6 einen veränderten Bezugspunkt. Da zudem der Gastgeber eben ein über entsprechende Mittel verfügender König ist, manifestiert sich sein Zorn nicht bloß in der Einladung anderer Gäste (Lk 14,21), sondern in einer vorgängigen Strafexpedition seiner Heere gegen die Mörder und ihre Stadt. Schildert das lk Gleichnis – an dieser Stelle die Grundausrichtung der Q-Vorlage offenbar bewahrend – Desinteresse bzw. eine falsche Prioritätensetzung, so reflektiert die von Matthäus gestaltete Version einen massiven Konflikt. Die Bildlogik wird dabei mit V. 7, den man im mt Kontext kaum anders denn als Anspielung auf die Zerstörung Jerusalems lesen kann, deutlich von der durch das Gleichnis interpre8–10 tierten Geschichte her überformt. Dass sich die Geladenen als unwürdig erwiesen haben (V. 8), kann nichts daran ändern, dass die Feier stattfinden wird. So lenkt V. 8–10 auf die Hochzeitsfeier zurück, um den Erfolg der erneuten Aussendung der Knechte zu schildern, die nun die, die sie auf den Straßen finden, zusammenbringen. So wenig wie in 21,33–46 die Ersetzung Israels durch die Kirche darge3–10 stellt wird, so wenig kann man die Abfolge der Aussendungen der Knechte in V. 3–7.8–10 für die These der Ablösung der Israel- durch die Völkermission in Anspruch nehmen. Selbst wenn Matthäus, was nicht der Fall ist, anderorts eine solche Ablösungsthese vertreten oder voraussetzen würde, gibt es keine Möglichkeit, eine solche in 22,3–10 schlüssig abgebildet zu sehen. Zum einen scheitert die Option, die Zerstörung Jerusalems (V. 7) als Wendepunkt zu sehen, daran, dass die Völkermission nach 28,16–20 mit Ostern beginnt. Dem fügt sich ein, dass Jerusalem in der mt Erzählkonzeption, wie 21,9–11 gezeigt hat, keineswegs als Repräsentantin Israels fungiert. Entsprechend impliziert das Strafgericht des „Königs“ an Jerusalem (V. 7) in keiner Weise eine Abwendung von Israel. Zum anderen bezieht sich, da es um die Einladung zur „Hochzeit“ des erhöhten Gottessohnes geht, auch V. 3f auf das nachösterliche Wirken der Jünger. Damit aber entfällt auch die Option, Tod und Auferweckung Jesu als etwaigen Übergang von der Israel- zur Völkermission zu betrachten. Es kommt hinzu, dass das Gleichnis selbst überhaupt keine Hinweise ent-

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hält, dass die Geladenen auf Israel und die Völker zu deuten seien. Auf der Bildebene liegt es nahe, unter denen, die zuerst zum Hochzeitsmahl des Königssohnes geladen werden, die Notabeln des Reiches zu sehen, während in V. 9f das einfache Volk geladen wird. Dies lässt sich am einfachsten auf das Gegenüber von religiöser Führungsschicht und einfachem Volk hin auflösen, und ebendies wird auch durch den vorangehenden Kontext gefordert. Denn zuvor hat Jesus den fortwährenden Widerstand der Autoritäten gegen die Boten Gottes dargestellt, der nach den atl. Propheten (21,34–36) auch den Täufer (21,32) und Jesus selbst traf (21,37–39). Diese Opposition setzt sich nach 22,2–7 bei der Sendung der Jünger fort. Dem fügt sich ein, dass Jesus mit dem Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl nach V. 1 auf das offenbar von ihm erkannte Ansinnen seiner Kontrahenten in 21,45f (vgl. 9,4; 12,15.25) „antwortet“; hier wird also die Auseinandersetzung mit den Hohepriestern und Pharisäern fortgesetzt. Die innerjüdische Kontrastierung der Autoritäten mit den Zöllnern und Huren in 21,28–32 kehrt in 22,1–10 mutatis mutandis in der Gegenüberstellung von Autoritäten und einfachem Volk wieder. Die separate Thematisierung der Sendung der Jesusboten zu den Autoritäten hat in 23,34 ein Pendant (vgl. ferner 10,16). Die Abfolge der Sendungen in 22,1–10 dient dabei allein als ein erzählerisches Mittel, das die Selbsteinschätzung der Adressaten, in privilegierter Weise dem „König“ nahezustehen, aufnimmt. Sie bildet aber so wenig wie die Abfolge der beiden Szenen in 21,29.30 eine Sequenz unterschiedlicher Aussendungen der Jünger ab. Wenn aber die Abfolge der Ereignisse in 22,2–10 nicht allegorisch auf die gedeutete Welt zu übertragen ist, bereitet auch der in allen chronologischen Deutungen sperrige „Exkurs“ in V. 7 kein Problem, der im Kontext der Parabeltrilogie 21,41 aufnimmt und konkretisiert. Festzuhalten ist damit, dass das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl nicht in Spannung zu 10,6.23 steht, sondern im Gegenteil voraussetzt und damit bestätigt, dass die Sendung zu Israel eine bis zur Wiederkunft Christi bleibende Aufgabe der Gemeinde darstellt. Das Gleichnis schreibt dabei die Differenzierung zwischen den Autoritäten und den Volksmengen, die die Reaktion auf Jesu Wirken in Israel prägte, in die nachösterliche Phase fort und wirft so Licht auf die Situation der mt Gemeinden: Von den jüdischen Autoritäten erfahren die Jesusboten nur Ablehnung oder sogar gewaltsame Reaktionen. Positiver fällt der Zuspruch bei den „einfachen Leuten“ aus. Der Hochzeitssaal wird voll; die Autori- 10 täten vermögen dies nicht zu verhindern. V. 10 ist dabei offen dafür, dass unter denen, die hier zusammengebracht werden, auch Menschen aus den Völkern subsumiert sind, doch steht dies hier nicht im Vordergrund. Die ausdrückliche Kennzeichnung der Gerufenen als „Böse wie Gute“ reflektiert, dass sich die Botschaft der Jünger analog zum Wirken Jesu gerade auch an die Sünder richtet (vgl. 9,13). Da sich diese Charakterisierung

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aber eben auf die Gerufenen bezieht und nicht auf die, die zu Tisch liegen, ist damit nicht notwendig die Vorstellung von der Gemeinde als corpus mixtum verbunden. Denn mit der Einladung ist der Ruf zur Umkehr verbunden (3,2; 4,17): Die gerufenen Bösen sollen sich von ihrer Bosheit abwenden. In ebendiesem Sinn war in 21,31f von den Zöllnern und Huren die Rede, die sich vom Täufer auf den „Weg der Gerechtigkeit“ haben rufen lassen. Matthäus hat dann allerdings in V. 11–13 noch eine Szene angefügt, die deutlich macht, dass es für die, die sich durch die Jesusboten haben rufen lassen, keine Heilsgarantie gibt. Das fehlende hochzeitliche Gewand, das der König bei einem seiner Gäste bemerkt, steht für das mangelnde Tun des Guten. Im Duktus der Parabeltrilogie wird hier das Motiv des Tuns des Willens des Vaters (21,31) und des Bringens der Früchte (21,41.43) weitergeführt. Sofern hier erzähllogisch vorausgesetzt ist, dass die auf den Straßen Aufgesammelten noch Gelegenheit hatten, daheim ein für die Hochzeit angemessenes sauberes Gewand anzuziehen, kann man darin die für den Zugang zum Himmelreich notwendige Hinwendung zum Tun der Gerechtigkeit (vgl. 5,20) symbolisiert finden. Wahrscheinlich wird man hier aber schlicht eine Spannung in der Bildlogik zu konstatieren haben (die von der Straße Aufgelesenen sollen plötzlich für eine Hochzeit adäquate Kleidung tragen), die daraus resultiert, dass Matthäus dem Gleichnis noch eine nach innen gerichtete paränetische Spitze verleihen wollte. So oder so soll der Gast ohne hochzeitliches Gewand schwerlich gesamthaft die Bösen aus V. 10 repräsentieren; hätte Matthäus sagen wollen, dass die Jünger unterschiedslos alle rufen sollen und der König dann die – an ihrer unangemessenen Kleidung erkennbaren – Bösen ausscheiden wird, wäre in V. 11–13 ein V. 10 entsprechender Plural zu erwarten gewesen. Und so oder so ist zwischen V. 10 und V. 11–13 als Zwischengedanke impliziert, dass die, die als Böse eingeladen wurden, gefordert sind, ihre Bosheit abzulegen. Die Anrede des inadäquat gekleideten Gastes als „Freund“ ist keineswegs wohlmeinend aufzufassen (vgl. zu 20,13). Sein Rauswurf versinnbildlicht das Strafgericht, das in V. 13 in der bereits aus 8,12; 13,42.50 bekannten Weise dargestellt wird (vgl. noch 24,51; 25,30). V. 14 bündelt die paränetische Dimension der Szene in V. 11–13: Neben den in V. 3f Gerufenen, die sich durch ihr Verhalten selbst vom Heil ausgeschlossen haben, kann und wird es auch unter denen, die dem Ruf gefolgt sind, solche geben, die am Ende nicht zu den Auserwählten zählen. Die Gerichtsvorstellung dient bei Matthäus nicht nur der Delegitimation der Gegner, sondern ist zugleich auch paränetisch an die Gemeinde gerichtet. Der Einladungsruf ergeht offen und unterschiedslos an alle, aber die Teilhabe am eschatologischen Festmahl steht unter der Bedingung des Tuns der Gerechtigkeit. Daher werden nur wenige in diesen Genuss kommen (vgl. 7,14).

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V 3.3 Die Trilogie von Streitgesprächen (22,15–40) Nach der massiven Anklage, die Jesus mit den drei Gleichnissen in 21,28–22,14 gegen die Autoritäten vorgebracht hat, suchen diese, Jesus durch eine Fangfrage in eine Falle zu locken (22,15). Was in Mk 12,13–17 lediglich als eine einzelne Episode erscheint, ist bei Matthäus zu einer Reihe von Versuchen ausgebaut. Anders als bei der Parabeltrilogie geschieht dies nicht dadurch, dass Matthäus die im Mk vorgefundene Perikope um zwei weitere aus Q und seinem Sondergut ergänzt. Die Streitgespräche-Trilogie basiert vielmehr vollständig auf Markusstoff in der bei Markus vorliegenden Reihenfolge. Matthäus hat aber in 22,34–40 aus dem freundlichen Schulgespräch über das erste Gebot in Mk 12,28–34 ein weiteres Streitgespräch gemacht, in dem ein pharisäischer Gesetzeslehrer Jesus mit einer Frage konfrontiert, um ihn zu versuchen. Durch die Neufassung der Einleitung zu diesem Streitgespräch in 22,34 erscheint ferner auch die Auferstehungsfrage der Sadduzäer in 22,23–33 (par Mk 12,18–27) als ein Versuch, Jesus als Lehrer bloßzustellen. 22,15 fungiert damit als Vorzeichen, das der gesamten nachfolgenden Trilogie die Richtung vorgibt: Die jüdischen Autoritäten wollen Jesus eine Aussage entlocken, die sich gegen ihn verwenden lässt, oder ihn zumindest durch knifflige Fragen in die Ecke treiben, um die Bewunderung, die er beim Volk genießt, zu untergraben und so das Hindernis von 21,46 aus dem Weg zu räumen. Die Pharisäer erscheinen dabei in 22,15–40, wie es der Gesamtkonfiguration der mt Konfliktgeschichte entspricht, als die Hauptkontrahenten. V 3.3.1 Die Steuerfrage (22,15–22) 15 Da gingen die Pharisäer hin und fassten den Beschluss, ihn bei einem Ausspruch zu fangen. 16 Und sie senden ihre Jünger mit den Herodianern zu ihm und sagen: „Lehrer, wir wissen, dass du wahrhaftig bist und den Weg Gottes in Wahrheit lehrst und dich nach niemandem richtest, denn du achtest nicht auf das Ansehen der Menschen. 17 Sag uns also, was du meinst: Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuer zu geben, oder nicht?“ 18 Da aber Jesus ihre Bosheit erkannte, sagte er: „Warum versucht ihr mich, ihr Heuchler? 19 Zeigt mir die Steuermünze!“ Sie aber überreichten ihm einen Denar. 20 Und er sagt zu ihnen: „Wessen Bild und Aufschrift ist das?“ 21 Sie sagen zu ihm: „Des Kaisers.“ Da sagt er zu ihnen: „Gebt also dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ 22 Und als sie das hörten, wunderten sie sich und ließen ihn und gingen weg. Während in Mk 12,13 die Hohepriester, Schriftgelehrten und Ältesten 15 (s. Mk 11,27) als Initiatoren des von einigen Pharisäern und Herodianern

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ausgeführten Versuchs erscheinen, Jesus eine Fangfrage zu stellen, lässt Matthäus die Initiative in V. 15 von den Pharisäern selbst ausgehen, die der Evangelist bereits zuvor in 21,45 als Kontrahenten eingetragen hat. Angesichts des Rückhalts, den Jesus im Volk genießt (21,46), müssen sie sich eine Strategie überlegen, wie sie gegen Jesus vorgehen können. Matthäus’ Formulierung, dass sie einen Beschluss fassen, ruft ihren Tötungsbeschluss in 16–17 12,14 in Erinnerung. Dass sie sich nicht selbst an Jesus wenden, sondern ihre „Jünger“ (gemeint sind wohl die Schüler pharisäischer Schriftgelehrter) vorschicken, lässt sich als Teil ihres Plans verstehen: Die Falle, in die Jesus hineintappen soll, können die, die von ihm zuvor scharf angegangen wurden, schlecht glaubwürdig aufbauen; um die Erfolgsaussichten zu erhöhen, bedarf es „unverbrauchter“ Gesichter. Die Anhänger der Herodesdynastie (V. 16) sind bloß Nebenakteure. In 12,14 hat Matthäus sie gestrichen (vgl. Mk 3,6); in der politisch brisanten Steuerfrage sind sie wohl deshalb stehen geblieben, weil Matthäus in ihnen eine Rom gegenüber loyal eingestellte Gruppierung gesehen hat. Ihre Fangfrage leiten die Pharisäerjünger geschickt mit einer captatio benevolentiae ein. Wurde Jesus in 21,23 noch, als er lehrte, mit der Frage nach seiner Vollmacht attackiert, so wird ihm nun ob der Wahrhaftigkeit seiner Lehre geschmeichelt. Ziel dieses vergifteten Lobes ist es, Jesus eine unbedachte Äußerung zu entlocken: Wenn Jesus wirklich nicht auf die Person sieht, soll er diese Haltung unter Beweis stellen, wenn es um die römische Obrigkeit, um den Kaiser geht, und kein Blatt vor den Mund nehmen. Mit der der Steuerfrage in V. 17b vorangestellten Aufforderung „sag uns also, was du meinst“ greift Matthäus auf die Eröffnung der Parabeltrilogie in 21,28 zurück und unterstreicht auf diese Weise, dass die Frage eine Retourkutsche für Jesu vorangehende Anklage ist: Jesus hat die Autoritäten in 21,31.41 ihr eigenes Urteil sprechen lassen; nun wollen sie ihn im Gegenzug zu Fall bringen. Die Falle ist gut konstruiert: Wenn Jesus die Frage nach der Steuer verneint bzw. sich zu einer kritischen Äußerung zur Steuerzahlung provozieren lässt, haben seine Gegner etwas gegen ihn in der Hand, womit sie ihn bei Pilatus verklagen können; eine positive Antwort aber können die Pharisäer dazu benutzen, ihn beim unter der Steuerlast leidenden Volk zu diskreditieren, das ihn in 21,46 noch vor dem Zugriff der Autoritäten schützte. Jesus freilich durchschaut seine Gegner auch diesmal (vgl. 9,4; 12,15.25). 18 Matthäus hat hier die negative Zeichnung der Kontrahenten dadurch verschärft, dass er Jesus anders als in Mk 12,15 die Bosheit der Gegner erkennen lässt und den mk Vorwurf der Heuchelei dann in der Anrede der Gegner zur Geltung bringt. Mit Bosheit (vgl. 9,4; 12,34.39.45; 16,4) und Heuchelei (vgl. 15,7; 23,13–29, vgl. auch 6,2.5.16) bündelt Matthäus hier die beiden zentralen Charakteristika, die seine Gegnerdarstellung bestimmen: Aus ihrer gottfeindlichen Bosheit heraus agieren sie gegen Jesus; in

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ihrer Heuchelei verstellen sie ihre tatsächlichen Absichten. So dient ihre Frage in diesem Fall zu nichts anderem als dazu, Jesus zu versuchen. Mit 19–21a der sich an die Schelte der Kontrahenten anschließenden Aufforderung, ihm die Steuermünze zu zeigen, lässt Matthäus die boshafte Heuchelei der Gegner noch klarer ans Licht treten, als dies in der Aufforderung des mk Jesus, ihm einen Denar zu bringen, der Fall ist. Denn die mt Formulierung setzt unmissverständlich voraus, dass die Gegner die Steuermünze, auf der das Abbild des Kaisers zu sehen ist (V. 20f), sogar im Tempel bei sich tragen. Offenkundig zahlen sie selbst ganz selbstverständlich die Steuern, so dass evident ist, dass sie nicht an Jesus herangetreten sind, um ernsthaft eine Frage zu klären, sondern allein, um ihn zu versuchen (V. 18, vgl. 16,1; 19,3; 22,35). Die Souveränität, mit der Jesus die Attacke seiner Gegner ins Leere lau- 21b fen lässt, kulminiert in V. 21b in Jesu sentenzhaftem Schlusssatz. Aus seiner ersten Hälfte, dem Kaiser zu geben, was ihm zusteht, lässt sich, nachdem Jesus aufgedeckt hat, dass die Gegner selbst Steuern zahlen, nichts gewinnen, womit Jesu Popularität beim Volk entgegengewirkt werden könnte. Ebenso wenig hat Jesus ihnen einen Grund für eine Anklage bei der römischen Obrigkeit geliefert. Die eigentliche Pointe der Antwort liegt aber in der zweiten Hälfte der Sentenz, die über die Ausgangsfrage hinausgeht und schon dadurch betont ist: „und [gebt] Gott, was Gottes ist“. Die Anfügung impliziert, dass die Steuerfrage, relativ betrachtet, belanglos ist. Priorität gebührt, darüber nachzusinnen, was Gott zu geben ist (vgl. 6,33). Vom Kontext her dürfte hier eine Gegenkritik an den Kontrahenten mitzuhören sein. Dass sie dem Kaiser geben, was ihm zusteht, ist dadurch, dass sie die Steuermünze bei sich tragen, deutlich geworden; Gott aber geben sie nicht, „was Gottes ist“. Der kontextuelle Zusammenhang mit dem Winzergleichnis, in dem die bösen Winzer dem Weinbergbesitzer seine Früchte verweigern (21,34–39), unterstreicht dies. Während der mk Schluss der Perikope allein die Verwunderung der 22 Gegner konstatiert, lässt Matthäus die Kontrahenten darüber hinaus abtreten. Matthäus greift hier eine szenische Notiz auf, die bei Markus am Ende des Winzergleichnisses (Mk 12,12) steht, dort von Matthäus aber wegen der Anfügung des Gleichnisses vom Hochzeitsmahl (Mt 22,1–14) ausgelassen wurde. Die souveräne Reaktion Jesu auf die Steuerfrage erschien dem Evangelisten als ein geeigneter Ort, um die Notiz nachzutragen und so den Misserfolg der Kontrahenten zu unterstreichen.

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V 3.3.2 Die Frage der Sadduzäer nach der Auferstehung der Toten (22,23–33) 23 An jenem Tag traten Sadduzäer zu ihm und sagten, es gebe keine Auferstehung, und sie fragten ihn 24 und sagten: „Lehrer, Mose hat gesagt: ‚Wenn jemand stirbt und keine Kinder hat, so soll sein Bruder mit seiner Frau die Schwagerehe vollziehen und soll seinem Bruder Nachkommenschaft erwecken.‘ 25 Es waren aber bei uns sieben Brüder. Und der erste heiratete und starb; und weil er keine Nachkommenschaft hatte, hinterließ er seine Frau seinem Bruder. 26 Ebenso auch der zweite und der dritte, bis zu den sieben. 27 Zuletzt aber von allen starb die Frau. 28 In der Auferstehung nun – wessen Frau von den sieben wird sie sein? Denn alle hatten sie.“ 29 Jesus aber antwortete und sagte zu ihnen: „Ihr irrt, weil ihr weder die Schriften noch die Kraft Gottes kennt. 30 Denn in der Auferstehung heiraten sie nicht, noch werden sie verheiratet, sondern sie sind wie Engel im Himmel. 31 Habt ihr aber über die Auferstehung der Toten nicht gelesen, was euch von Gott gesagt wurde, der spricht: 32 ‚Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs‘? Er ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden.“ 33 Und als die Volksmengen es hörten, gerieten sie außer sich über seine Lehre. 23 Nach dem Scheitern des Versuchs der Pharisäerjünger, Jesus eine Falle zu stellen (22,15), treten noch am selben Tag, wie Matthäus zu Beginn eigens vermerkt, die Sadduzäer auf den Plan, die bereits in 3,7 und 16,1 zusammen mit den Pharisäern aufgetreten sind. Der Szenerie eignet dabei ein offenkundig ironischer Zug, denn die Sadduzäer treten für die Pharisäer mit einer Frage zu einem Thema an Jesus heran, bei dem die Pharisäer mit Jesus gegen die Sadduzäer im Grundsatz übereinstimmen (vgl. Gielen, Konflikt, 254). Die Überzeugung der Sadduzäer, dass es keine Auferstehung gibt (vgl. Apg 23,8; Josephus, Bell 2,165; Ant 18,16), erscheint bei Matthäus nicht wie in Mk 12,18 als Erläuterung des Erzählers (als solche wäre die Notiz im mt Kommunikationskontext auch unpassend, da gegenüber den sachkundigen Adressaten unnötig), sondern in zusammenfassender indirekter Rede als einleitender Teil der Auseinandersetzung, die damit in zwei Aspekte untergliedert ist: Die Sadduzäer fordern Jesus zum einen mit ihrer grundsätzlichen Bestreitung der Auferstehung heraus, diese im Gegenzug zu erweisen, und zum anderen konfrontieren sie ihn mit einem spitzfindig konstruierten Fall, durch den sie den Auferstehungsglauben von der Schrift her ad absurdum zu führen suchen. Entsprechend ist auch die Replik Jesu in diese beiden Schritte gegliedert. In ihrem Fallbeispiel rekurrieren die Sadduzäer eingangs in einer freien, 24 im Wortlaut deutlich von Gen 38,8 beeinflussten Wiedergabe von Dtn 25,5f auf das Gebot, einem kinderlos Verstorbenen Nachkommen zu

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erwecken, indem ein Bruder mit der Witwe die Schwagerehe eingeht, um auf dieser Basis den abenteuerlichen Fall vorzutragen, dass eine Frau nacheinander mit sieben Brüdern verheiratet ist. Mit ihrer Frage, wessen Frau sie in der Auferstehung sein wird, vermögen sie Jesus freilich nicht in Verlegenheit zu stürzen und vor den Volksmengen (vgl. V. 33) bloßzustellen. Vielmehr deckt Jesus im Gegenzug die Inkompetenz seiner Gegner auf. Der die Replik Jesu eröffnende doppelte Vorwurf der Unkenntnis der Schriften und der Kraft Gottes wird im Folgenden in inverser Reihenfolge ausgeführt. Sie irren sich zum einen über Gottes Kraft, weil Auferstehung mehr und anderes ist als Rückkehr in die alte Leiblichkeit, zu der schöpfungsgemäß das eheliche Miteinander von Mann und Frau gehört (Gen 1–2, vgl. Mt 19,4–6). Zur Auferstehungswirklichkeit gehört vielmehr die Verwandlung (vgl. 1Kor 15,35–58) in die Gestalt der Engel im Himmel (V. 30, vgl. 2Bar 51,5.10). Die Sadduzäer sind also in ihrem Fallbeispiel von falschen Voraussetzungen ausgegangen, indem sie das Auferstehungsleben naiverweise als Fortsetzung des irdischen Lebens darstellten. Sie zeigen zum anderen mit ihrer grundsätzlichen Bestreitung der Auferstehung Unkenntnis der Schrift. Die die Sadduzäer in besonderer Weise kennzeichnende Konzentration auf das Zeugnis der Tora (vgl. Josephus, Ant 18,16), die sich im Vorangehenden darin manifestierte, dass sie den Auferstehungsglauben auf der Basis von Dtn 25,5f als unmöglich zu erweisen suchten, spiegelt sich in Jesu Replik darin wider, dass er als Schriftbeleg für die Auferstehung nicht Dan 12,2f aufgreift, sondern mit der Selbstpräsentation Gottes als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs aus Ex 3,6 seinerseits auf einen Passus aus der Tora rekurriert. Die theologische Voraussetzung, die diesen Vers zu einem Beleg für die Auferstehung macht, führt Jesus im Anschluss an das Zitat an. Wenn Gott ein Gott der Lebenden, nicht der Toten ist, dann setzt seine Selbstvorstellung in Ex 3,6 voraus, dass die Erzväter leben bzw. in der Auferstehung wieder zum Leben erweckt werden (vgl. 4Makk [7,19]; 16,25). Matthäus hat an die Replik Jesu eine Notiz über die Reaktion der Volksmengen angefügt. Der Versuch der Sadduzäer, Jesus vor dem Publikum der Volksmengen in Verlegenheit zu bringen, ist gründlich fehlgeschlagen, denn die Volksmengen geraten außer sich über die Lehre Jesu. Dass dies Verwunderung im positiven Sinn meint, ist angesichts der Parallele in 7,28f evident. Die erneute Notiz über die positive Reaktion des Volkes fußt auf Mk 11,18. Da Matthäus die dortige Verschwörungsszene gestrichen und er in seiner eigenen Darstellung des Wirkens Jesu in Jerusalem bis dahin von Heilungen (21,14), nicht aber von Jesu Lehre berichtet hat, konnte er den mk Verweis auf das Erstaunen des Volkes an seinem mk Ort nicht gebrauchen. Matthäus wollte diesen aber keineswegs unterdrücken und hat ihn daher an einem in seiner Komposition passenden Ort aufgenommen: Die in dem Streitgespräch mit den Sadduzäern aufscheinende Überlegenheit

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Jesu bot ihm die Gelegenheit, die Notiz nachzutragen und damit zugleich erneut den Kontrast zwischen dem Volk und der Führungsschicht zur Geltung zu bringen. V 3.3.3 Die Frage nach dem höchsten Gebot (22,34–40) 34 Als aber die Pharisäer hörten, dass er die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, versammelten sie sich am selben Ort. 35 Und einer von ihnen, ein Gesetzesgelehrter, fragte, um ihn zu versuchen: 36 „Lehrer, welches Gebot ist das größte im Gesetz?“ 37 Er aber sprach zu ihm: „‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand.‘ 38 Dies ist das größte und erste Gebot. 39 Ein zweites aber ist ihm gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘ 40 An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ Mt 22,34–40 weist auffällige Übereinstimmungen mit Lk 10,25–28 gegen Mk 12,28–34 auf. So ist z. B. in Mt 22,35; Lk 10,25 davon die Rede, dass Jesus mit der Frage nach dem höchsten Gebot auf die Probe gestellt bzw. versucht wird, und der Fragesteller ist jeweils als ein Gesetzesgelehrter bezeichnet, was besonders auffällig ist, da das Wort im Mt nur hier vorkommt. Da Lukas das Doppelgebot zudem nicht an seinem mk Ort bringt, liegt die Annahme nahe, dass Matthäus und Lukas neben Mk 12,28–34 noch eine zweite Fassung kannten. Diese kann in Q gestanden haben, doch ist auch Einfluss einer geprägten mündlichen Überlieferung denkbar. Auffallend ist, dass in Lk 10,25–28 der Gesetzesgelehrte das Doppelgebot der Liebe formuliert. Dem korrespondiert in Mk 12,28–34, dass der Schriftgelehrte Jesu Hervorhebung der Gebote der Gottes- und der Nächstenliebe emphatisch zustimmt. Bei Markus und Lukas erscheint das Doppelgebot der Liebe also nicht als ein Proprium der Jesusanhänger, sondern als eine weiter verbreitete Position, was sich durch entsprechende frühjüdische Parallelen unterfüttern lässt (TestIss 5,2; 7,6; TestDan 5,3; Philo, SpecLeg 2,63). Matthäus hat im Kontext der Auseinandersetzung seiner Gemeinden mit den Pharisäern einen deutlich anderen Akzent gesetzt. Denn aufgrund dieser Konfliktkonstellation passt es nicht in sein Konzept, einen nicht zu den Jüngern gehörenden Gesetzeslehrer die Gebote der Gottes- und Nächstenliebe als Hauptsätze der Tora vorbringen zu lassen. Mk 12,32–34b wird daher ausgelassen, wie überhaupt die freundliche Atmosphäre des mk Dialogs in der mt Erzählkonzeption keinen Ort hat. Vielmehr ist die Perikope konsequent in die Konfliktgeschichte eingebunden: Jesus hat es nicht mit einem einzelnen Schriftgelehrten zu tun, der zudem von Jesu vorangehenden Ausführungen positiv angetan

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ist, sondern mit der Gruppe der Pharisäer als seinen Hauptgegnern; zudem wird das Doppelgebot der Liebe – und damit die Hochschätzung des Nächstenliebegebots – exklusiv für die eigene Gruppe reklamiert, während dem Gegenüber im gesamten Evangelium ein rundum defizitäres Verständnis des göttlichen Willens angelastet wird. Matthäus hat die Einleitung in V. 34f gegenüber Mk 12,28 grundlegend 34–35 neu gestaltet: Als die Pharisäer vernehmen, dass auch der Versuch der Sadduzäer fehlgeschlagen ist, sehen sie sich erneut selbst gefordert, ihren in 22,15 gefassten Beschluss zu realisieren. Sie kommen daher wieder zusammen, und ein Gesetzesgelehrter aus ihren Reihen konfrontiert Jesus mit der nächsten versucherischen Frage. Die Frage nach dem größten Ge- 36 bot ist allerdings an sich gut jüdisch und hat damit für sich genommen nichts Versucherisches. Im mt Kontext lässt sich das Vorgehen der Pharisäer aber erhellen, wenn man die Frage in den Zusammenhang der vorangehenden Gesetzeskontroversen über den Sabbat (12,1–14) und das Händewaschen vor dem Essen (15,1–20) einstellt. Denn aus Jesu Überordnung der Barmherzigkeit über den Tempel und damit über die Gottesverehrung im Tempel (12,5–7, vgl. auch 5,23f) sowie aus seiner Kritik an einer auf Kosten der Elternehre gehenden Gelübdepraxis (15,4–6) ließ sich auf Seiten der Gegner der Vorwurf ableiten, hier werde die Zuwendung zum Menschen auf Kosten der Gottesliebe betont und damit der Bedeutung der Anerkenntnis und Verehrung des einen Gottes als des ersten und obersten Grundsatzes des Judentums (vgl. z. B. EpArist 132; PseudPhok 8; Philo, Dec 65; Josephus, Ap 2,190) nicht adäquat Rechnung getragen. Ist also im frühjüdischen Kontext die Frage nach dem größten Gebot nicht anders als mit einem Verweis auf die Liebe zu Gott oder auf die Furcht Gottes zu beantworten, kann man die Frage so verstehen, dass die Pharisäer nun versuchen, Jesus eine ausdrückliche Stellungnahme zur Tora zu entlocken, die zeigt, dass bei ihm der Verehrung Gottes nicht die oberste Priorität zukommt. Die Lokalisierung der Szene im Tempel verleiht dem zusätzlich an Kontur; schließlich hat Jesus zuvor zweimal Hos 6,6 („Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer“) gegen die Pharisäer ins Feld geführt (9,13; 12,7). Wieder schlägt der Versuch der Pharisäer fehl, denn in seiner Replik ge- 37–39 lingt es Jesus, seine Betonung der barmherzigen Zuwendung zum Nächsten mit der Stellung der Gottesliebe als Hauptgebot zusammenzubinden. So reiht Jesus sich mit der Zitation von Dtn 6,5 als dem „größten und ersten Gebot“ (V. 38) zunächst in den jüdischen Konsens ein und unterläuft damit das Ansinnen der Pharisäer, ihm eine Falle zu stellen (V. 15). In einem zweiten Schritt wird V. 37f dann aber so interpretiert, wie es der im Mt vorangehenden Betonung der barmherzigen Zuwendung zum Mitmenschen (9,13; 12,7) entspricht: Ungefragt wird mit dem Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18 noch ein zweites Gebot zitiert, das Matthäus

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durch die Neuformulierung der Einleitung in V. 39 ausdrücklich gleichordnet. In ebendieser Gleichordnung liegt die Pointe der mt Version. Zieht man die mit V. 40 verwandte Aussage über die „Summe“ der Tora in 7,12 hinzu, so ist es in 22,34–40 die Gottesliebe, die im Vergleich zu 7,12 hinzutritt! Aus dem weiteren Kontext ist dabei evident, dass sich die Liebe zu Gott für Matthäus nicht in der Verschärfung der Reinheitsregeln (15,1–20), der rigorosen Observanz von Sabbatbestimmungen (12,1–14) oder der Extensivierung der Verzehntung (23,23) realisiert, sondern im Tun des göttlichen Willens, der zentral in der Barmherzigkeitsforderung besteht, so dass Gottes- und Nächstenliebe, sowenig sie einfach identisch sind, nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Und da die Gleichordnung der Nächstenliebe eben die vorangehende Betonung der Barmherzigkeit aufnimmt, schwingt in Jesu Antwort zugleich der Vorwurf mit, dass die Pharisäer der Nächstenliebe nicht den ihr gebührenden Rang einräumen (vgl. zu 5,43–48; 9,13; 12,7; 23,23). Die vier präpositionalen Wendungen aus Mk 12,30 sind in V. 37, wie es 37–38 Dtn 6,5 entspricht, auf drei gekürzt, doch wird mit dem letzten mt Glied („mit deinem ganzen Verstand“) eine in LXX-Handschriften bezeugte Variante zu „mit deinem ganzen Herzen“ angeführt; hingegen entfällt das dritte Glied aus Dtn 6,5 („mit all deiner Kraft“), das Mk 12,30 und Lk 10,27 in einem von den erhaltenen LXX-Handschriften abweichenden Wortlaut bieten. Erwägen kann man, dass in Matthäus’ Umfeld die in späteren Quellen belegte Deutung von „mit all deiner Kraft“ auf den Besitz (z. B. TOnq zu Dtn 6,5; bBer 61b; Sifre Dtn § 32 zu 6,5) bereits bekannt war und das Glied auf dieser Basis im Vorblick auf das nachfolgende Nächstenliebegebot ausgelassen wurde. Denn Gott mit seinem Besitz zu dienen, bedeutete für Matthäus nicht, Kathedralen zu errichten, sondern die Bedürftigen zu unterstützen (vgl. 6,19–21.24; 19,21), würde also vom 39 Nächstenliebegebot mit abgedeckt. Das Nächstenliebegebot ist im Lichte von 5,43f universal zu verstehen. Dass Matthäus ihm eine die Tora sum40 mierende Funktion zuschreibt, deutete sich in 19,19 bereits an und wird nun im von Matthäus angefügten V. 40 explizit ausgeführt. Die Aussage, dass die Tora in den beiden Geboten der Gottes- und der Nächstenliebe „hängt“, reduziert die Tora nicht auf diese beiden Gebote, aber diese werden als die Haupt- und Obersätze der gesamten Tora präsentiert und damit als die Leitlinien ihrer Auslegung etabliert. Die Propheten kommen hier wie in 5,17; 7,12 als Interpreten des in der Tora zum Ausdruck kommenden Willens Gottes in den Blick. Umgekehrt formuliert: Die Art und Weise, wie die Propheten Israel auf den Willen Gottes verpflichtet haben, verhilft zu einem adäquaten Verständnis der Tora (s. dazu wiederum die Rezeption von Hos 6,6 in Mt 9,13; 12,7).

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V 3.4 Jesu Frage nach der Sohnschaft des Messias (22,41–46) 41 Da aber die Pharisäer versammelt waren, fragte Jesus sie 42 und sagte: „Was meint ihr über den Christus? Wessen Sohn ist er?“ Sie sagen zu ihm: „Davids.“ 43 Er sagt zu ihnen: „In welchem Sinn nennt David ihn dann im Geist ‚Herr‘, wenn er sagt: 44 ‚Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde unter deine Füße lege‘? 45 Wenn nun David ihn ‚Herr‘ nennt, in welchem Sinn ist er sein Sohn?“ 46 Und niemand konnte ihm ein Wort antworten, noch wagte jemand von jenem Tag an, ihn weiter zu befragen. Matthäus folgt weiter dem Markusfaden; er hat aber den Monolog Jesu in Mk 12,35–37 dialogisch zu einem Streitgespräch umgestaltet und durch 41 die neu gestaltete Einleitung an das Vorangehende angebunden: Dass sich die Pharisäer gegen ihn versammelt haben (vgl. V. 34), ergreift Jesus nun als Gelegenheit, um sie seinerseits herauszufordern, ihre Kompetenz als Ausleger der Schrift zu demonstrieren. Nachdem die Gegner Jesu in V. 15–40 in allen drei Anläufen gescheitert sind, stellt Jesus die Pharisäer in V. 41–46 mit einer einzigen „Gegenattacke“ bloß. Wie in 21,28 fragt Jesus seine Kontrahenten einleitend nach ihrer Mei- 42 nung. Eröffneten die Autoritäten die Auseinandersetzung in 21,23 mit der Frage nach der Vollmacht Jesu, die darin ihre richtige Antwort gefunden hätte, dass Jesus der von Gott gesandte und legitimierte Messias ist, so macht Jesus nun zum Abschluss die Messiaserwartung selbst zum Thema. Dabei lässt sich des Näheren eine Korrespondenz zwischen der Doppelfrage der Autoritäten in 21,23 und der – Mk 12,35b ersetzenden – Doppelfrage Jesu in 22,42 beobachten: „In welcher Vollmacht tust du diese Dinge?“ entspricht „was meint ihr über den Christus?“; „wer hat dir diese Vollmacht gegeben?“ findet ein Pendant in „wessen Sohn ist er?“. Diese zweite Frage verlangt nach der mt Christologie eine zweigliedrige Antwort: Der Messias ist der Sohn Davids und der Sohn Gottes (vgl. zu 1,18–25 sowie zu 11,2 und 16,16). Jesu Frage ist dabei offenkundig doppelbödig: Man kann sie als allgemeine Frage über den Messias verstehen; zugleich thematisiert Jesus damit aber eben – im Zusammenspiel mit 21,23 – auch seine eigene Identität. Die Pharisäer geben mit dem Verweis auf die Davidsohnschaft die Antwort, die im Lichte frühjüdischer Messiaserwartung, wie sie etwa in PsSal 17,21–46 zutage tritt, zu erwarten ist. Sie bestimmen damit die Identität des Messias mit genau dem Titel, mit dem der, der ihnen die Frage stellte, in 21,9.15 akklamiert wurde, und bereits in 12,23f waren es die Pharisäer selbst, die der im Volk keimenden Erkenntnis, dass Jesus der Sohn Davids ist, durch den Beelzebulvorwurf zu wehren suchten. Angesichts dieser „Vorgeschichte“ sollte es den Pharisäern dämmern, dass Jesu Frage einen

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doppelten Boden hat, doch können sie daraus im Blick auf eine mögliche Anklage Jesu als Messiasprätendent vor Pilatus keinen Gewinn schlagen, weil Jesus seine eigene Identität nicht explizit macht (vgl. dann 26,63–68; 27,11). Da die Antwort der Pharisäer nicht falsch, sondern „nur“ unvollständig 43–44 ist, wird sie im Folgenden nicht zurückgewiesen, sondern es wird ihre Eingliedrigkeit problematisiert, indem Jesus zwei Folgefragen aufwirft, die die Pharisäer vor ein Problem der Schriftdeutung stellen. Die beiden – jeweils mit „wie/in welchem Sinn“ eingeleiteten – Fragen sind keineswegs gleichbedeutend. Die erste Frage basiert auf einer messianischen Deutung von Ps 110,1 (vgl. Apg 2,34f; 1Kor 15,25; Hebr 1,3.13 u. ö.), die die erste Zeile „der Herr sprach zu meinem Herrn“ in dem Sinn „Gott sprach zum Messias aus dem Haus Davids“ versteht. Da David als Sprecher des Psalms gilt, redet folglich David „im Geist“, d. h. vom Heiligen Geist inspiriert (vgl. Apg 1,16; 2,29–35; Josephus, Ant 6,166), von seinem messianischen Sohn als „Herr“. Verbindet man dies mit der einleitenden Frage, wessen Sohn der Messias ist, dann ergibt sich auf die Frage, in welchem Sinn David ihn „Herr“ nennt, als Antwort: weil der Messias, der Sohn Davids, zugleich Sohn Gottes und als solcher David übergeordnet ist. Bei der zweiten Frage geht es dann umgekehrt darum, wie der, den Da45 vid „Herr“ nennt, sein Sohn sein kann. Der Leser der mt Jesusgeschichte kennt die Antwort aus 1,18–25: Der Gottessohn Jesus wurde vom Davidsohn Josef (1,20) als Sohn „adoptiert“. 22,41–46 rekapituliert und bekräftigt in seiner mt Neufassung also den christologischen Ansatz von Mt 1. Der Ton liegt nun jedoch verstärkt darauf, dass die Identität Jesu mit der Davidsohnschaft noch nicht erschöpfend dargestellt ist. Dies ist in 14,33; 16,16 bereits angeklungen, wird aber im nachfolgenden Kontext noch klarer hervortreten, denn Jesu Passion und Auferstehung werden von Matthäus betont als Passion und Auferstehung des Gottessohnes erzählt. Im Gesamtaufriss des Mt besitzt 22,41–46 daher eine Art Scharnierfunktion: Mit der letzten expliziten Wiederaufnahme der Rede von der Davidsohnschaft Jesu weist Matthäus auf das Wirken Jesu zurück, das er zuvor, d. h. gewissermaßen gerahmt von Mt 1 und 22,41–46, geschildert hat, denn dieses ist zentral dadurch charakterisiert, dass sich der Gottessohn Jesus in seiner Rolle als Davidsohn seinem Volk zuwendet. Indem daneben in 22,41–46 auf die Gottessohnthematik angespielt wird, wird zugleich auf die kommende Passionserzählung vorausverwiesen. Die Pharisäer werden durch Jesu Fragen zum Verstummen gebracht. 46 Die, die sich gegen die Überlegung der Volksmengen wandten, Jesus könne der verheißene Sohn Davids sein (12,23f), offenbaren nun ihre Unfähigkeit, die Aussagen der Schrift über den davidischen Messias zu erläutern. Textpragmatisch betrachtet zeigt sich hier der Versuch des Evangelisten, sein pharisäisches Gegenüber umfassend zu delegitimieren: Nicht nur in Fra-

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gen der Auslegung der Tora (vgl. 5,20–48; 12,1–14; 15,1–20; 19,3–12), sondern auch auf dem Gebiet der Messiaserwartung geht die Opposition der jüdischen Autoritäten gegen Jesus mit ihrer Inkompetenz im Verstehen der Schrift einher. Mit der Formulierung, dass niemand Jesus ein Wort zu antworten wusste, schlägt Matthäus gezielt einen Bogen zu 22,15 zurück: Statt Jesus „bei einem Ausspruch (wörtlich: in einem Wort)“ zu fangen, hat es ihnen die Sprache verschlagen; sie müssen einsehen, dass ihr Unterfangen gescheitert ist. Matthäus unterstreicht dies, indem er in V. 46b die am Ende der Perikope vom Doppelgebot der Liebe ausgelassene Notiz aus Mk 12,34c anschließt, dass niemand mehr Jesus etwas zu fragen wagte. Die mt Einfügung von „von jenem Tag an“ verdeutlicht dabei, dass die Phase der verbalen Auseinandersetzung ihr definitives Ende erreicht hat. Jesus hat seine Überlegenheit in der Lehre und damit seine „Vollmacht“ (21,23) eindrucksvoll demonstriert. Die jüdischen Autoritäten müssen sich, nachdem sich der in 22,15 ausgeheckte Plan als erfolglos erwiesen hat, ein neues Vorgehen überlegen, um Jesus doch noch „ergreifen“ (21,46) und aus dem Weg schaffen zu können. 26,3–5 wird diesen Faden aufnehmen.

V 4 Die Rede wider die Schriftgelehrten und Pharisäer (23,1–39) Nachdem Matthäus in den Auseinandersetzungen in 22,15–46 noch einmal die Bosheit und Inkompetenz der von den Pharisäern angeführten Autoritäten hat hervortreten lassen, schließt er in 23,1–39 eine Belehrung des Volkes und der Jünger über die Pharisäer und Schriftgelehrten an, die einer finalen Delegitimation der Pharisäer als Autoritäten in Israel gleichkommt. Angesichts der problematischen Wirkungsgeschichte dieses Kapitels ist eingangs zu betonen, dass es sich um einen in hohem Maße polemischen Text handelt. Eine ausgewogene, historisch adäquate Darstellung der Überzeugungen und Verhaltensweisen der Pharisäer ist hier auch nicht annähernd zu finden. Die Einsicht, dass Polemik in der Antike nicht zimperlich war, hilft zwar, den Text historisch einzuordnen, nimmt ihm aber nicht seinen problematischen Charakter. Die Rede lässt sich grob in drei unterschiedlich lange Teile untergliedern. Dem aus sieben Weherufen bestehenden Hauptteil in V. 13–36 geht in V. 2–12 eine scharfe Gegenüberstellung des nur auf Ruhm und Anerkennung gerichteten Auftretens der Pharisäer und Schriftgelehrten mit dem durch Dienstbereitschaft und Demut gekennzeichneten Verhalten, das von den Jüngern erwartet wird, voran. In V. 37–39 mündet die Rede in eine Klage über Jerusalem ein. Die Platzierung der Rede ist durch die kurze Warnung vor den Schriftgelehrten in Mk 12,38–40 inspiriert, deren

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Inhalt relativ zu Beginn der mt Rede in V. 6f zum Teil und mit größeren Änderungen verarbeitet ist. Die Rede fußt ansonsten im Wesentlichen auf den Weherufen aus Q 11,39–52, die das Grundgerüst des zweiten Teils der Rede in V. 13–36 bilden. Die mt/lk Differenzen sind bei den Weherufen allerdings sowohl im Blick auf den Wortlaut als auch hinsichtlich der Reihenfolge so erheblich, dass Versuche, die Q-Vorlage zu rekonstruieren, in hohem Maße spekulativ bleiben. Begründet vermuten kann man, dass die Q-Vorlage wie Mt 23,13–36 sieben Weherufe enthielt; die Reduktion auf sechs bei Lukas resultiert aus der Umgestaltung des Weherufs zur bloß äußeren Reinheit (Mt 23,25f) in Lk 11,39–41. Umgekehrt hat Matthäus mit Q 11,43, einer Parallele zu Mk 12,38fin.39a, und Q 11,46 gleich zwei Weherufe der Form des Weherufes entkleidet und bereits im ersten Teil der Rede in V. 4 und V. 6f verarbeitet. Dafür hat er in V. 15 und V. 16–22 zwei neue Weherufe eingefügt, so dass er wieder auf die Siebenzahl kommt. Das Jerusalemwort am Ende hat eine Parallele in Lk 13,34f, geht also auch auf Q zurück, war dort aber, folgt man der lk Textfolge, nicht mit den Weherufen verbunden. V 4.1 Ruhmsucht versus Geschwisterlichkeit (23,1–12) 1 Da redete Jesus zu den Volksmengen und seinen Jüngern 2 und sagte: „Auf den Lehrstuhl des Mose haben sich die Schriftgelehrten und die Pharisäer gesetzt. 3 Alles nun, was sie euch sagen, tut und haltet, aber nach ihren Werken tut nicht! Sie sagen nämlich und tun nicht. 4 Sie binden aber schwere und unerträgliche Lasten zusammen und legen sie auf die Schultern der Menschen; sie selbst aber wollen sie nicht mit ihrem Finger bewegen. 5 Alle ihre Werke aber tun sie, um von den Menschen bewundert zu werden. Denn breit machen sie ihre Gebetsriemen und groß machen sie die Quasten. 6 Sie lieben aber den Ehrenplatz bei den Gastmählern und die Ehrensitze in den Synagogen 7 und die Begrüßungen auf den Marktplätzen und von den Menschen ‚Rabbi‘ genannt zu werden. 8 Ihr aber, ihr sollt euch nicht ‚Rabbi‘ nennen lassen! Denn einer ist euer Lehrer, ihr alle aber seid Brüder. 9 Auch ‚Vater‘ sollt ihr nicht (jemanden) von euch nennen auf der Erde! Denn einer ist euer Vater, der himmlische. 10 Ihr sollt euch auch nicht ‚Meister‘ nennen lassen, weil euer Meister einer ist, der Christus. 11 Der Größte aber von euch soll euer Diener sein. 12 Aber wer sich selbst erhöhen wird, wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigen wird, wird erhöht werden. 1 V. 1 setzt die Szenerie für die gesamte Rede: Die Volksmengen (vgl. Mk 12,37b), die die Deklassierung der Autoritäten mitverfolgt haben (22,33), werden nun von Jesus zusammen mit den Jüngern abschließend

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über die Autoritäten instruiert – und dies heißt: vor ihnen gewarnt. Die 2–3 einleitende Feststellung, dass die Schriftgelehrten und Pharisäer sich auf den Lehrstuhl des Mose gesetzt haben, konstatiert lediglich die soziale Realität, beinhaltet aber keineswegs die zustimmende Wertung, dass sie diese Autoritätsstellung mit Recht bekleiden. Auch V. 3a impliziert eine solche Akzeptanz nur scheinbar. Denn die Option, in V. 2.3a eine echte Konzession zu sehen, hat nicht nur die explizite Warnung vor ihrer Lehre in 16,12, sondern auch 5,20–48 dezidiert gegen sich, wo die zur „besseren Gerechtigkeit“ führende Toraauslegung Jesu auf dem Hintergrund des unzulänglichen Toraverständnisses der Schriftgelehrten und Pharisäer profiliert wird. Zudem hat der mt Jesus den Pharisäern wiederholt Schriftunkenntnis zum Vorwurf gemacht (9,13; 12,3.5–7; 19,4), in 15,1–9 die pharisäische Überlieferung als Menschensatzung abgetan und die Pharisäer und Schriftgelehrten in 15,12–14 als blinde Führer harsch kritisiert. Nicht zuletzt würde ein Verständnis von 23,2.3a im Sinne ernst gemeinter Akzeptanz zu einer empfindlichen Spannung mit V. 8 führen, wo Jesus sich selbst als den einen Lehrer präsentiert. Auf diesem Hintergrund (und nach den Auseinandersetzungen in 22,15–46!) kann man V. 3a kaum anders denn als eine ironische Aussage verstehen, deren Funktion darin besteht, als Widerlager für V. 3b zu fungieren: V. 3a dient dazu, den „heuchlerischen“ Widerspruch zwischen Reden und Handeln der Schriftgelehrten und Pharisäer hervortreten zu lassen (vgl. 21,28–32!). Ihr Sitzen auf dem Stuhl des Mose (V. 2) erscheint in diesem Licht betrachtet als eine Anmaßung. Die in V. 3c pointiert markierte Diskrepanz zwischen Reden und Tun wird durch V. 4 (par Lk 11,46) substantiiert. Die „schweren Lasten“ (vgl. 4 als Kontrast dazu 11,29f) stehen metaphorisch für die hohen Anforderungen, die die Autoritäten an andere in ihrer Lehre stellen. Sie vermitteln auf diese Weise eine tiefe Ernsthaftigkeit und eine beeindruckende Frömmigkeit. Aber all dies sei rein äußerlich, denn dem, was sie anderen auflasten, kommen sie selbst nicht einmal in Ansätzen nach. Der in V. 5–7 folgende 5–7 Vorwurf steht streng logisch betrachtet in einer gewissen Spannung zu V. 4: Die, denen eben noch vorgeworfen wurde, keinen Finger zu rühren, haben in V. 5a nun doch Werke. Aber diese Spannung besteht nur vordergründig. Matthäus will nun das Augenmerk darauf lenken, dass die Schriftgelehrten und Pharisäer, wenn sie dann doch etwas tun, allein aus Ruhmsucht handeln. V. 3f und V. 5–7 weisen also durchaus einen gemeinsamen Nenner auf: Matthäus sucht die Frömmigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer als eine rein heuchlerische darzustellen. Die Fairness gebietet an dieser Stelle den Hinweis, dass Kritik an unlauteren Motiven keine Errungenschaft des Christentums ist; vielmehr begegnet auch bei den Rabbinen der Grundsatz, dass Gottes Wille um seiner selbst willen zu tun ist (s. z. B. mAbot 1,3; bBer 17a).

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V. 5a lastet den Schriftgelehrten und Pharisäern an, was die Jünger nach 6,1 kategorial zu meiden haben: den Missbrauch frommen Gebarens, um Anerkennung bei den Menschen zu erheischen, und damit das Erwecken eines frommen Scheins. Die Gebetsriemen, die am Kopf und am linken Oberarm getragen wurden (Ex 13,16; Dtn 6,8; 11,18), breit und die Quasten (vgl. zu 9,20) groß zu machen, wird als exemplarische Illustration dieser Haltung herangezogen (V. 5b). Die hinter diesem Verhalten stehende Ruhm- und Gefallsucht wird sodann in V. 6f veranschaulicht, indem Matthäus darauf verweist, wie die Pharisäer und Schriftgelehrten die von ihnen beanspruchte Autoritätsposition öffentlich inszenieren und genießen. Dabei wird die faktische Anerkennung, die ihnen zuteilwird, als Motivation ihres gesamten Handelns umgedeutet. Die hier im Einzelnen genannten Vorwürfe fand Matthäus in Mk 12,38f und Q 11,43 vor. Matthäus hat beide Fassungen kombiniert, wobei die von Matthäus gebotene Reihenfolge „die Ehrensitze in den Synagogen und die Begrüßungen auf den Marktplätzen“ Q 11,43 entspricht. Den weiteren Kritikpunkt, dass sie sich gern „Rabbi“ nennen lassen, hat Matthäus angefügt, um den Übergang zur Unterweisung in V. 8–12 zu schaffen. V. 8–12 ist eine vom Evangelisten komponierte Einheit. V. 8–10 gehört 8–12 zu seinem Sondergut, während er in V. 11 auf 20,26 (par Mk 10,43) zurückgreift und in V. 12 ein Wanderlogion aufnimmt (vgl. Lk 14,11; 18,14), 8–11 das bereits in 18,4 im Hintergrund stand. V. 8–11 enthält – mit einer leichten Variation in V. 10f – drei parallel gebaute Mahnungen, in denen jeweils auf einen verneinten Imperativsatz eine Begründung folgt: Die Jünger sollen konsequent auf Ehrentitel verzichten, denn sie haben in Jesus den einen Lehrer und Meister; analog dazu ist der Vatertitel, der ebenfalls als Ehrenbezeichnung für Gelehrte fungieren konnte (z. B. Sifre Dtn § 34 zu 6,7), für Gott zu reservieren. Auffallend ist in V. 10, dass über V. 8 hinaus – aber analog zu V. 9 – der eine Meister durch eine am Satzende angefügte Apposition bestimmt wird und Jesus hier erneut vom Messias spricht (vgl. 22,42). Zwar bezieht er den Titel wiederum nicht ausdrücklich auf sich, doch ist für die Jünger evident (vgl. 16,16) und nach 21,9 wohl auch für die Volksmengen transparent, dass er niemand anderen als sich selbst meint. In der ersten und der dritten Mahnung (V. 8.10f) sind Aussagen über das Verhältnis der Jünger untereinander angefügt, die einander ergänzen und ekklesiologisch programmatischen Charakter haben: Da die Lehrautorität exklusiv Christus gebührt, von dem alle, die in der Gemeinde als Lehrer hervortreten, abhängig sind, und da alle Kinder des einen Vaters sind, soll die Gemeinde durch eine geschwisterliche Sozialstruktur geprägt sein (vgl. 12,49f). Zwar gibt es auch in ihr Schriftgelehrte (13,52; 23,34), aber diese sollen für sich keine Sonderposition suchen, sondern sich geschwisterlich einordnen. Wo Gott und sein Messias als die Autoritäten anerkannt

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sind, fallen alle zwischenmenschlichen Differenzen als irrelevant in sich zusammen. Diese geschwisterliche Sozialstruktur der Gemeinde gewinnt zudem noch dadurch Profil, dass der, der in der Gemeinde der Größte sein will, nach dem Vorbild Jesu (vgl. 20,28) der Diener aller sein soll (V. 11). V. 12 zeichnet dies schließlich in einen eschatologischen Horizont ein: 12 Die, die sich, wie dies den Pharisäern vorgeworfen wird, selbst erhöhen, werden von Gott erniedrigt werden; die aber, die sich auf Erden durch Demut und Selbsterniedrigung auszeichnen, werden bei Gott am Ende zu Ehren kommen (vgl. 18,4). Indem Matthäus mit V. 11 und V. 12 zuvor begegnende Logien noch einmal aufnimmt, wird 23,8–12 mit den vorangehenden Thematisierungen des Gemeinschaftsethos vernetzt. Mit der Wiederholung des Themas zeigt der Evangelist, welch hohe Bedeutung er der Vorstellung einer nicht-hierarchischen, geschwisterlichen Sozialstruktur in der Gemeinde beimisst. Die Anklage der Schriftgelehrten und Pharisäer erhält durch den Einschub von V. 8–12 einen paränetischen Akzent. Analog zum Kontrast von V. 4 zu 11,29f und von V. 5a zu 6,1 dienen die Schriftgelehrten und Pharisäer hier als Negativfolie. Das Verhalten der gemeindlichen Funktionsträger soll sich von deren Statusstreben klar unterscheiden. Im Blick auf die Adressaten ist aus der Thematisierung der Gemeinschaftsstruktur des Jüngerkreises in V. 8–12 nicht zu folgern, dass sich die Rede von V. 8 an nur noch an die Jünger wendet. Vielmehr sind zugleich die Volksmengen als Zuhörer aufgerufen, sich von den bisherigen Autoritäten ab- und Jesus als dem einen Lehrer zuzuwenden (vgl. Mt 11,28–30). V 4.2 Die sieben Weherufe (23,13–36) 13 Wehe aber euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, denn ihr verschließt das Himmelreich vor den Menschen! Denn ihr kommt nicht hinein, und die, die hineingehen wollen, lasst ihr nicht hineingehen. * 15 Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, denn ihr durchzieht das Meer und das Festland, um einen einzigen Proselyten zu machen! Und wenn er es geworden ist, macht ihr ihn zu einem Sohn der Hölle, doppelt so schlimm wie ihr. 16 Wehe euch, ihr blinden Führer, die ihr sagt: ‚Wer beim Tempel schwört, das ist nichts; wer aber beim Gold des Tempels schwört, ist verpflichtet.‘ 17 Ihr Dummköpfe und Blinde! Was ist denn größer, das Gold oder der Tempel, der das Gold heiligt? 18 Und: ‚Wer beim Opferaltar schwört, das ist nichts; wer aber bei der Opfergabe schwört, die auf ihm ist, ist verpflichtet.‘ 19 Ihr Blinden! Was ist denn größer, die Opfergabe oder der Opferaltar, der die Opfergabe heiligt? 20 Wer also beim Opferaltar schwört, schwört bei ihm und bei allem, was auf ihm ist. 21 Und

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wer beim Tempel schwört, schwört bei ihm und bei dem, der ihn bewohnt. 22 Und wer beim Himmel schwört, schwört beim Thron Gottes und bei dem, der darauf sitzt. 23 Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, denn ihr verzehntet die Minze und den Dill und den Kümmel und habt das außer Acht gelassen, was im Gesetz gewichtiger ist: das Recht und die Barmherzigkeit und die Treue! Das aber müsste man tun und jenes nicht außer Acht lassen! 24 Ihr blinden Führer, die ihr die Mücke aussiebt, das Kamel aber verschluckt! 25 Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, denn ihr reinigt das Äußere des Bechers und der Schüssel, innen aber sind sie voll aufgrund von Raub und Maßlosigkeit! 26 Blinder Pharisäer! Reinige zuerst das Innere des Bechers, damit auch sein Äußeres rein werde. 27 Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, denn ihr gleicht geweißten Gräbern, die von außen zwar schön scheinen, innen aber voll von Totengebeinen und jeder Unreinheit sind! 28 So scheint auch ihr von außen zwar gerecht vor den Menschen, innen aber seid ihr voller Heuchelei und Gesetzlosigkeit. 29 Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, denn ihr baut die Gräber der Propheten und schmückt die Grabstätten der Gerechten 30 und sagt: ‚Wenn wir in den Tagen unserer Väter gelebt hätten, wären wir nicht mit ihnen beteiligt gewesen am Blut der Propheten.‘ 31 So gebt ihr gegen euch selbst Zeugnis, dass auch ihr Söhne derer seid, die die Propheten ermordet haben. 32 Macht ihr nur das Maß eurer Väter voll! 33 Schlangen! Otternbrut! Wie wollt ihr vor dem Gericht der Hölle fliehen? 34 Darum, siehe, ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte. (Einige) von ihnen werdet ihr töten und kreuzigen, und (einige) von ihnen werdet ihr in euren Synagogen geißeln und von Stadt zu Stadt verfolgen, 35 auf dass über euch komme alles gerechte Blut, das auf der Erde vergossen wurde, von dem Blut Abels, des Gerechten, bis zu dem Blut Sacharjas, des Sohnes des Berechja, den ihr zwischen dem Tempel und dem Opferaltar ermordet habt. 36 Amen, ich sage euch, das alles wird über dieses Geschlecht kommen. * V. 14 („Wehe aber euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, denn ihr verzehrt die Häuser der Witwen und verrichtet zum Schein lange Gebete! Deswegen werdet ihr ein umso größeres Gericht empfangen.“) gehört nicht zum ursprünglichen Textbestand.

Mit den in prophetisch-apokalyptischer Tradition stehenden Weherufen in V. 13–36 (vgl. Jes 5,8–24; 10,1–11; Hab 2,6–10; 1Hen 94,6–9 u. ö.) wendet sich Matthäus wieder der direkten Delegitimation der nun stereotyp als „Heuchler“ bezeichneten Schriftgelehrten und Pharisäer zu (V. 13.15.23.25.27.29, vgl. zu 6,1.2). Anders als in Lk 11,37–52, wo die We-

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herufe an die Pharisäer und Gesetzeslehrer selbst gerichtet sind, sind in Mt 23 auch hier nach wie vor die Volksmengen und die Jünger Jesu (V. 1) angesprochen. Matthäus benutzt also das Stilmittel der Apostrophe und gliedert die Weherufe damit der Belehrung der Jünger und des Volkes über die Pharisäer ein. Die tatsächlichen Hörer und die formal Angeredeten treten auseinander. Ob bzw. inwiefern einzelne der Schriftgelehrten und Pharisäer sich in Hörweite befinden, trägt zum Verständnis der Szenerie in Mt 23 nichts bei. Es wird nicht mehr mit ihnen geredet, sondern nur noch über sie, denn Ersteres hat sich als sinnlos erwiesen. Matthäus unterscheidet auch nicht wie Lk 11,39–52 zwischen Weherufen, die den Pharisäern gelten (V. 39–44), und solchen, die die Gesetzeslehrer betreffen (V. 45–52), sondern richtet alle sieben Weherufe gemeinsam gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Sucht man die sieben Weherufe zu untergliedern, so zeigt sich eine symmetrische Komposition von zwei + drei + zwei Weherufen. Diese Struktur geht sicher auf die Hand des Evangelisten zurück. Weherufe sind im Regelfall mit einer Gerichtsansage verbunden, wie im Mt selbst durch 11,21–24 illustriert wird. Dies gilt auch für die Reihe in Mt 23, doch ist die Gerichtsansage hier nicht mit jedem einzelnen Weheruf verknüpft, sondern sie erfolgt – nach der Andeutung in V. 13 – mit V. 32–36 gebündelt am Ende. Die Reihe wird eröffnet durch zwei knapp gehaltene Weherufe, die die 13 fatalen Folgen des Wirkens der Schriftgelehrten und Pharisäer im Blick auf das Heil der Menschen beleuchten. Der erste Weheruf steht bei Lukas am Ende (Lk 11,52); die Kopfposition in Mt 23,13 verdankt sich dem mt kompositionellen Interesse. Präsentierte Jesus sich selbst in 23,8–12 indirekt als der eine Lehrer, so blickt V. 13 auf die Folgen der unzureichenden oder gar falschen Interpretation des Willens Gottes bei den Schriftgelehrten und Pharisäern: Sie versperren damit den Menschen den Zugang zum Heil, das zugleich auch ihnen selbst versagt bleiben wird (vgl. 5,20). Im Gesamtkontext des Mt ist V. 13 im Verbund mit 16,19 zu lesen: Das Versagen der Schriftgelehrten und Pharisäer ist für die Menschen insofern irrelevant geworden, als Petrus die Schlüssel des Himmelreiches übergeben worden sind. Gleich der erste Weheruf impliziert damit eine umfassende Infragestellung des Führungsanspruchs der Schriftgelehrten und Pharisäer. Der zweite, nur bei Matthäus begegnende Weheruf in V. 15 spricht 15 sodann die fatalen soteriologischen Folgen ihres Wirkens im Blick auf dem Judentum zugewandte Menschen aus den Völkern an. Die Rede vom Durchziehen von „Meer und Festland“ (vgl. Jona 1,9; Hag 2,6; 1Hen 97,7 u. ö.) steht hier bildlich für das Aufbringen größter Anstrengung und ist damit kein Beleg für die Existenz einer aktiven organisierten Wandermission im antiken Judentum. Den realen Hintergrund von V. 15 wird man darin zu sehen haben, dass mit dem Judentum sympathisierende Menschen, sog. Gottesfürchtige, von pharisäisch gesinnten Juden zum

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vollen Übertritt gedrängt wurden. Zur Illustration solchen Bemühens ist auf Josephus’ Bericht über die Konversion des Königs Izates von Adiabene zu verweisen (Ant 20,34–48). Gut möglich ist es, dass V. 15 einen Sachverhalt aufgreift, mit dem Matthäus sich vor Ort selbst konfrontiert sah: Menschen aus den Völkern, die sich der christusgläubigen Gemeinschaft zugewandt haben bzw. sich haben taufen lassen, werden von den Pharisäern abgeworben und bedrängt, Proselyten zu werden, also förmlich zum Judentum überzutreten, was für Männer die Beschneidung einschließt. V. 15 schärft dagegen ein, dass der Anschluss an die Pharisäer nicht zum Heil, sondern in die Hölle führt. Es folgt in V. 16–26 eine Dreiergruppe von Weherufen, die das Toraver16–26 ständnis der Schriftgelehrten und Pharisäer kritisieren. Mit dieser thematischen Ausrichtung geht als charakteristisches Merkmal des Passus einher, dass die Schriftgelehrten und Pharisäer als „blinde Führer“ (V. 16.24, vgl. 15,14) oder einfach als „blind“ tituliert werden (V. 17.19.26). Dieses Motiv kommt in den lk Weherufen nicht vor; es dürfte auf Matthäus zurückgehen, der damit den Erkenntnismangel der Schriftgelehrten und Pharisäer und ihre Unfähigkeit, die Tora adäquat zu interpretieren, hervorhebt. In allen drei Weherufen in V. 16–26 lassen sich die Anklagen zudem aus 16–22 dem vorangehenden Kontext illustrieren. So nimmt der dritte Weheruf (V. 16–22), der wie V. 15 zum mt Sondergut gehört, die Thematik der vierten Antithese in 5,33–37 auf. Wurde dort mit der These das unzureichende Toraverständnis der Schriftgelehrten und Pharisäer illustriert (vgl. 5,20), so wird nun ergänzend durch zwei analog gebaute Beispiele die Absurdität halachischer Differenzierungen zwischen verbindlichen und nicht verbindlichen Schwüren dargelegt. In beiden Beispielen wird zunächst die Position der Kritisierten angeführt (V. 16.18), um sie dann nach demselben Muster als unsinnig zu erweisen (V. 17.19): Der Schwur, der nicht bindend sein soll, bezieht sich auf etwas Größeres als der Schwur, der als bindend betrachtet wird. So ist der Tempel größer als das Gold des Tempels, womit wohl der Tempelschatz gemeint ist (V. 16); und ebenso ist der Altar bedeutender als die Opfergabe, die auf diesem liegt, denn Letztere wird erst durch den Altar zu etwas Heiligem, so wie sich die Unantastbarkeit des Tempelschatzes natürlich vom Tempel ableitet. V. 20f zieht aus diesem Sachverhalt die logische Konsequenz: Der Schwur auf das Größere impliziert jeweils den als bindend betrachteten Schwur auf das zu ihm Gehörige. Die beiden Beispiele aus V. 16–19 werden in V. 20f in umgekehrter Folge aufgenommen, weil der Schluss von V. 21 als Überleitung zu V. 22 dient. Der Gedankengang in V. 21 erhält dabei gegenüber V. 16f eine unerwartete Wendung, denn nach V. 16f müsste es in Analogie zu V. 18 f.20 heißen, dass der, der auf den Tempel schwört, auch auf das (Gold) schwört, das im Tempel aufbewahrt ist. Wenn stattdessen auf der Basis der Vorstellung vom Tempel als Wohnort Gottes (Hab 2,20; 11QT 29,8f; Josephus,

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Bell 5,459 u. ö.) darauf verwiesen wird, dass die Verwendung von „beim Tempel“ als Schwurersatzformel einem Schwur bei Gott gleichkommt, so ist damit der inhaltlich gegenüber V. 16–19 überschießende und auf 5,34 zurückgreifende Schlussvers V. 22 vorbereitet. Matthäus macht hier deutlich, dass die pharisäische Binnendifferenzierung im Blick auf die Verbindlichkeit von Schwurformeln schon deshalb in sich zusammenfällt, weil Schwüre am Ende immer Gott selbst betreffen. Durch den Rückverweis auf 5,34 spielt Matthäus zudem ein, dass Schwüre deshalb ganz zu unterlassen sind: Steht in 23,16–22 die polemische Aufdeckung der Absurdität der pharisäischen Regeln im Vordergrund, so schwingt zugleich von 5,33–37 her mit, dass die Pharisäer sich mit Problemen befassen (und andere mit diesen belasten), die im Lichte des von Jesus gelehrten Willens Gottes als von vornherein gegenstandslos erscheinen. Der vierte Weheruf in V. 23f (par Lk 11,42) greift die Schriftgelehrten 23–24 und Pharisäer ob ihrer falschen Gewichtung unter den Geboten an. Das Gebot, den Zehnten vom Getreide und von den Baumfrüchten (Lev 27,30) sowie von Öl und Wein (Dtn 12,17; 14,23) für Gott, d. h. faktisch: für die Leviten und Priester (Num 18,21–32, vgl. Neh 10,38–40; 12,44; Philo, Virt 95) zu geben, wird von ihnen auch auf Gartenkräuter bezogen, wie es der in mMaas 1,1 formulierten rabbinischen Grundregel entspricht: „Alles, was zur Nahrung dient, aufbewahrt wird und aus der Erde wächst, ist zehntpflichtig“ (vgl. zum Dill mMaas 4,5, zum Kümmel mDam 2,1). Der zusätzlich alle drei Jahre zu entrichtende Armenzehnt (Dtn 14,28f; 26,12f) als soziale Errungenschaft bleibt im vierten Weheruf außer Betracht, wie die Gegenüberstellung des Zehnten zu „Recht, Barmherzigkeit und Treue“ zeigt (vgl. dazu atl. v. a. die ähnliche Trias in Mi 6,8). Mit der Kennzeichnung dieser Trias als dem „Gewichtigeren im Gesetz“ bringt Matthäus erneut prononciert die für seine Gesetzeshermeneutik zentrale Überordnung sozialen Verhaltens über rituelle Observanz zur Geltung (vgl. 5,23f; 9,13; 12,7). Die Zehntabgabe gehört zu den kleinen Geboten (vgl. 5,18f), die zwar, wie der Schlusssatz in V. 23 unterstreicht, nicht aufgehoben sind, aber nicht ins Zentrum rücken dürfen, wie es den Schriftgelehrten und Pharisäern hier zugeschrieben wird (vgl. Lk 18,12). Das – in der Lk-Parallele (Lk 11,42) fehlende – Wort in V. 24, das an die Praxis des Siebens von Wein anknüpft (vgl. Am 6,6 LXX ; mShab 20,1f), bringt deren falsch ausgerichtete Aufmerksamkeit plakativ zum Ausdruck. Mücken sind unreine Tiere (vgl. Lev 11,20–23.41–44); das Sieben von Wein dient dazu, Mücken herauszufiltern. Aber auch Kamele sind unreine Tiere (Lev 11,4; Dtn 14,7). V. 24 bildet also in hyperbolischer Weise ab, dass die Pharisäer sich dem „Kleinen“ im Gesetz aufmerksam zuwenden, sich am „Großen“ aber – im ethischen Sinn – „verunreinigen“. Der fünfte Weheruf in V. 25f (par Lk 11,39f) knüpft an das in V. 24 25–26 implizierte Reinheitsmotiv an und lässt zugleich an die Kontroverse in

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Mt 15,1–20 zurückdenken. Dem Händewaschen vor dem Essen steht nun die Beschäftigung mit der Reinheit von Gefäßen zur Seite. Für Jesus kommt hier ein am Äußerlichen orientiertes Reinheitsverständnis zum Ausdruck, während er selbst das Augenmerk auf die aus dem Herzen kommende Unreinheit richtet (15,18–20). 23,25f zieht diese Linie weiter aus, indem der äußeren Reinheit der Gefäße und Becher entgegengesetzt wird, dass das, was an Speise und Getränken in diesen ist, Ergebnis und Ausdruck des räuberischen und maßlosen Verhaltens der Schriftgelehrten und Pharisäer ist. Den in Mk 12,40 begegnenden Vorwurf, dass die Schriftgelehrten die Häuser der Witwen verzehren, hat Matthäus wohl auch deshalb weggelassen, weil er in V. 25 ein Pendant dazu gesehen hat: Sie achten bei ihren Mahlzeiten zwar penibel auf die rituelle Reinheit ihres Essgeschirrs, gehen zugleich aber in unsittlicher Weise einem üppigen Wohlleben nach, das auf Beraubung anderer basiert (vgl. zu 21,13) und ihre Dekadenz und Maßlosigkeit dokumentiert. Dabei wird formal daran angeknüpft, dass im Blick auf die rituelle Reinheit zwischen der Innenund der Außenseite von Gefäßen unterschieden werden konnte (vgl. mKel 25,1–9). So heißt es in mKel 25,4: „Ein Gefäß, dessen Außenseite unrein wird, verunreinigt nicht die Innenseite.“ In Mt 23,25 wird aber das, was sich innen befindet, nicht rituell, sondern ethisch qualifiziert; zudem geht es hier nicht darum, dass die Nahrung im Innern rein und damit essbar bleibt, wenn das Äußere des Gefäßes rituell unrein ist, sondern es ist gerade umgekehrt das Äußere rein. In die polemische Kritik mischen sich hier spöttische Zwischentöne: Die Pharisäer sind in ihrer auf rituelle Fragen fokussierten Gesetzesauslegung mit (im Endeffekt) unnützen Differenzierungen beschäftigt (vgl. V. 16–19), während sie das eigentlich Wichtige, die sozialen Forderungen der Tora, missachten. Die in V. 26 angefügte Mahnung, zuerst das Innere des Gefäßes zu reinigen, macht entsprechend die Notwendigkeit ethischer Umkehr deutlich. Die Sinnrichtung verschiebt sich dabei gegenüber V. 25 zu einer rein metaphorischen Verwendung von „Becher“ für den Menschen selbst, so dass Matthäus, ähnlich wie mit V. 24, eine Überleitung zum nächsten Weheruf schafft. Mit den letzten beiden Weherufen verlässt Matthäus das Feld von An27–36 klagen, die sich an spezifischen Fragen der Gesetzesauslegung festmachen, und geht zu ganz allgemein gehaltenen, grundsätzlichen Angriffen 27–28 über, die schließlich in die Ansage des Gerichts einmünden. Der sechste Weheruf in V. 27f (par Lk 11,44) nimmt die Opposition von außen und innen aus V. 26 auf und lässt nun die äußere Fassade, die sich die Schriftgelehrten und Pharisäer geben (vgl. V. 5), und das, was sie im Innern wirklich bestimmt, in einen scharfen Kontrast treten: Innen sind sie voller Heuchelei und Gesetzlosigkeit (vgl. 7,23; 13,41). Dieser Kontrast wird in V. 27 durch den Vergleich mit außen schön erscheinenden geweißten Gräbern, die innen voll Unreinheit sind, illustriert. Spätere rabbinische Texte

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(mM Sh 5,1; mSheq 1,1; mMQ 1,2) bezeugen den Usus, ansonsten schwer erkennbare Gräber durch Weißen mit Kalk kenntlich zu machen, um vor Verunreinigung zu schützen, doch kann Matthäus diese Praxis schwerlich im Blick haben. Denn dazu passt weder die Bezeichnung der Gräber als schön, noch wird der Kontrast von außen und innen verständlich, wenn die weiße Farbe gerade als Warnung vor der Verunreinigung dient. Als Motivhintergrund für V. 27 kann man aber darauf verweisen, dass Herodes am Davidgrab in Jerusalem ein Grabmal aus weißem Stein errichtete (Josephus, Ant 16,182) und ferner weiß glänzender Kalkstein die Patriarchengräber in Hebron schmückte (Bell 4,531f). Matthäus dürfte dies vor Augen gehabt haben (vgl. Lau, Grabmäler). Die schöne Fassade der Gräber ändert jedoch nichts daran, dass sich auch in ihrem Innern nichts als unreines Totengebein befindet (zur Unreinheit von Toten vgl. Num 6,6f; 19,11–22 u. ö.). Ebenso ändert der äußere Schein, den die Schriftgelehrten und Pharisäer verbreiten, nichts an ihrer von innen kommenden ethischen „Unreinheit“. Die Klimax bildet dann im siebten Weheruf in V. 29–31 (par Lk 11,47f) 29–31 der Vorwurf der Verfolgung der Propheten und (wirklich) Gerechten. Die letzten beiden Weherufe sind über das Stichwort „Gräber“ (V. 27.29) miteinander verbunden; vor allem aber ist in V. 29–31 wie in V. 27f der Kontrast von äußerem Anschein, den sich die Schriftgelehrten und Pharisäer durch die Pflege der Gräber der Propheten und Gerechten geben (V. 29), und ihrem tatsächlichen Verhalten leitend. Die Worte, die ihnen in V. 30 in den Mund gelegt sind, sind dabei mit Hintersinn formuliert: Sie distanzieren sich von den Prophetenmördern mit der Behauptung, dass sie, hätten sie damals gelebt, nicht am Blut der Propheten beteiligt gewesen wären (schon hier begegnet das später in der Gerichtsansage in V. 35f wiederkehrende Blutmotiv); sie reden jedoch von den Mördern als von ihren Vätern. Damit aber bezeichnen sie sich selbst, wie V. 31 festhält, als Söhne der Prophetenmörder. Matthäus spielt hier damit, dass die Wendung neben Abstammung im genealogischen Sinn auch Zugehörigkeit bzw. Zusammengehörigkeit aufgrund gleichen oder verwandten Verhaltens meinen kann. Den „Beleg“ für die tatsächliche Zugehörigkeit wird zum einen das Sendungswort in V. 34 erbringen, wobei vorausgesetzt ist, dass die von Jesus ausgesandten Boten in der Reihe der Propheten stehen (vgl. 5,12 sowie 22,2–6 im Kontext von 21,34–36); zum anderen erscheint für den Leser V. 30 schon wegen der vorangegangenen Opposition gegen Jesus, „den Propheten aus Nazaret in Galiläa“ (21,11), als Heuchelei (s. nur 12,14; 21,46[ ! ]; 22,15): Sie demonstrieren Verehrung der verstorbenen Propheten und opponieren gleichzeitig gegen die gegenwärtigen Propheten. Während Matthäus die Verbindung des Weherufes in V. 29–31 mit dem 32–33 Gerichtswort gegen dieses Geschlecht (V. 34–36) bereits in Q vorgefunden hat (vgl. Lk 11,47–51), geht die Einfügung von V. 32f auf seine Hand zu-

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rück. Matthäus nimmt hier die Vorstellung auf, dass Gott den Sünden ein bestimmtes Maß gesetzt hat (Gen 15,16; 2Makk 6,14f; Jub 29,11; 1Thess 2,16 u. ö.). Wenn dieses gefüllt ist, bricht das Gericht herein. Nachdem Matthäus die Schriftgelehrten und Pharisäer in V. 29–31 in die Kette der Prophetenmörder eingereiht hat, kann er sie nun sarkastisch auffordern, das durch ihre Väter schon gut gefüllte Sündenmaß voll zu machen. Der von Matthäus unter Rückgriff auf 3,7 redaktionell gebildete V. 33 blickt entsprechend auf das unausweichlich auf sie zukommende Gericht 34 aus. Dem Sendungswort in V. 34 hat Matthäus eine gegenüber der Q-Vorlage signifikant veränderte Ausrichtung gegeben. Denn in Q dürfte es sich wie in Lk 11,49 um das Zitat eines in der Vergangenheit von der Weisheit gesprochenen Wortes gehandelt haben, die die Sendung von Propheten und Weisen ankündigt. Bei Matthäus hingegen geht es um die gegenwärtige Sendung von Boten durch Jesus. Die Bezeichnungen „Propheten“ (= Q), „Weise“ (= Q?) und „Schriftgelehrte“ (von Mt ergänzt) beziehen sich hier also allesamt auf die Jünger Jesu (vgl. 10,41 sowie 13,52). Ihrer Sendung wird in V. 34 durch die Gerichtsperspektive des Kontextes eine eigenwillige (und theologisch in hohem Maße problematische) Interpretation unterlegt: Die Jünger werden nicht nur trotz der vorausgesehenen Verfolgung gesandt (vgl. 10,16–25), weil es gilt, andere ins Heil zu führen, sondern geradezu wegen der Verfolgung, damit auf diese Weise das Sündenmaß der „Väter“ der Schriftgelehrten und Pharisäer voll wird (V. 32) und so das Gericht über sie hereinbrechen kann (V. 33.35). Matthäus’ Sicht, dass die Verfolger der Jesusboten mit den Prophetenmördern ein die Zeiten übergreifendes Schuldkollektiv bilden, kam bereits in der Parabeltrilogie zum Vorschein (21,34–39 + 22,3–6). Das Faktum, dass die Jünger in ihrer Mission nicht allein zu den Schriftgelehrten und Pharisäern gesandt sind, erzwingt in keiner Weise die These, dass mit V. 34–36 eine faktische Ausweitung der hier Anvisierten auf ganz Israel gegeben ist. Matthäus verwendet nach wie vor die 2. Pers. Pl., die sich im Voranstehenden auf die Schriftgelehrten und Pharisäer bezog. Auf eine „Sendung“ der Jesusboten speziell zu den Autoritäten blickte bereits 10,16 (vgl. auch 22,2–7 sowie 21,34–39), und dies ist in keiner Weise damit unvereinbar, dass die Jünger nach 9,36; 10,6 zu den Volksmengen in Israel gesandt sind. 23,34 redet wie 10,16 aspekthaft, nicht umfassend. Im Blick ist hier, dass es im Rahmen der Sendung der Jünger zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ unvermeidlich zu spezifischen Kontakten und zur Konfrontation mit denen kommt, die sich – Matthäus zufolge zu Unrecht – als Hirten des Volkes sehen. Dabei steht zu vermuten, dass im mt Umfeld tatsächlich besonders die Propheten und Schriftgelehrten der Gemeinde in die Auseinandersetzungen mit den Pharisäern involviert waren. Die sich in V. 34b anschließende Verfolgungsaussage hat Matthäus erheblich ausgebaut: „Töten“ ist – in Anspielung auf Jesu Tod – um „kreu-

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zigen“ ergänzt; aus 10,17 wird die „Geißelung in den Synagogen“ wiederholt, und die Rede von Verfolgung ist im Rückgriff auf 10,23 um „von Stadt zu Stadt“ erweitert. Die Bezüge auf 10,17.23 unterstreichen, dass die Sendung in 23,34a im Sinne der spezifischen Konfrontation mit den Autoritäten und damit auf der Linie von 10,16 – und nicht von 10,6 – zu lesen ist. V. 35 entfaltet dann die in V. 33 aufgeworfene Gerichtsperspektive. Die 35 Formulierung, dass alles gerechte Blut über die Autoritäten kommt (vgl. z. B. Jer 26,15), verknüpft die Gerichtsansage mit der Passionsgeschichte, insbesondere mit dem Ruf des vor Pilatus versammelten Jerusalemer Volkes in 27,25. Ferner findet die – wohl durch Klgl 4,13 beeinflusste – Wendung „gerechtes Blut“ (vgl. noch Joel 4,19; Jona 1,14) ihr Pendant in der Rede vom „unschuldigen Blut“ in 27,4.24 sowie in der Bezeichnung Jesu als eines Gerechten in 27,19. In der Erläuterung der Wendung „alles gerechte Blut“ durch „von Abel (Gen 4) bis Sacharja“ ist bei Letzterem sehr wahrscheinlich nicht an den laut Josephus, Bell 4,334–344 von Zeloten im Tempel ermordeten Sacharja, den Sohn des Bareis, zu denken – in diesem Fall würde ein Bogen vom Anfang der Menschheitsgeschichte bis hin in die unmittelbare Gegenwart des Matthäus geschlagen –, sondern an den in 2Chr 24,20–22 erwähnten Priester Sacharja, wenngleich dieser nach 2Chr 24,20 ein Sohn des Priesters Jojada ist. Es dürfte hier eine Namensverwechslung mit dem Propheten Sacharja in Sach 1,1.7 vorliegen, der – wie ein Zeitgenosse Jesajas (Jes 8,2) – „Sacharja, Sohn des Berechja“ hieß, der aber selbst nicht in Frage kommt, da er nach atl. und frühjüdischer Überlieferung nicht ermordet wurde (s. vielmehr VitProph 15,6). Der besondere Frevel des Mordes im Tempel findet in VitProph 24,1f einen Nachhall: „Seitdem ereigneten sich Vorzeichen von erschreckendem Eindruck im Tempel.“ Der hier aufscheinende Gerichtshorizont ist für die mt Anspielung auf 2Chr 24,20–22 bestimmend. Die Wahl der 2. Pers. Pl. in dem Relativsatz „welchen ihr ermordet habt“ treibt dabei das Konstrukt eines die Zeiten übergreifenden Schuldkollektivs auf die Spitze, indem die anvisierten Schriftgelehrten und Pharisäer nun sogar mit den Mördern jenes Sacharja „verschmolzen“ werden. V. 36 nimmt V. 35a bekräftigend auf. Statt vom gerechten Blut ist nun 36 von „all diesem“ die Rede; statt „über euch“ heißt es nun „über dieses Geschlecht“. Letzteres impliziert keineswegs eine Ausweitung der Anklage auf Israel. Vielmehr erweist umgekehrt die Parallelität von „über euch“ und „über dieses Geschlecht“ im Textduktus, dass mit Letzterem die Autoritäten gemeint sind (vgl. 11,16; 12,39.41.42.45; 16,4). Der Wechsel in V. 35.36 entspricht dabei genau dem Übergang von „wir wollen ein Zeichen sehen“ zu „ein böses … Geschlecht fordert ein Zeichen“ in 12,38 f. Die Zurückweisung einer generalisierenden Deutung von V. 36 auf Israel findet darin eine Bestätigung, dass „von Abel bis Sacharja“ in V. 35 keinen Abriss der Geschichte Israels bietet, denn diese beginnt erst mit Abraham

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(vgl. 1,1f). „Dieses Geschlecht“ ist also nicht eine Umschreibung Israels bzw. der jetzt lebenden Generation Israels, sondern es geht um das „Geschlecht der Mörder“, als dessen gegenwärtige Vertreter die Schriftgelehrten und Pharisäer benannt werden. Die Schärfe der Polemik gegen die Pharisäer in Mt 23 wie auch sonst im Mt spiegelt die Schwere des Konflikts, in dem sich die mt Gemeinden mit den Pharisäern befanden. Der zweifache Verweis auf Geißelungen in den Synagogen (10,17; 23,34) gibt zu erkennen, dass sich die Opposition der Pharisäer gegen die Christusgläubigen sicher nicht nur in Form von Schmähungen (5,11) äußerte. In Mt 23 entladen sich diese Erfahrungen in einer polemischen Verunglimpfung des Gegenübers, deren Schärfe auch damit zu tun haben dürfte, dass die Pharisäer manchem, den Matthäus mit seinem „Evangelium vom Reich“ (4,23; 24,14 u. ö.) erreichen wollte, als eine attraktive Alternative erschienen. Um ihren Einfluss einzudämmen, zeichnet Matthäus ein durch und durch düsteres Bild von ihnen. Es griffe freilich zu kurz, den Konflikt auf einen Kampf um Einfluss zu reduzieren. Denn Matthäus geht zweifelsohne davon aus, dass die, die sich den Pharisäern anvertrauen, keine Chance haben, in das Himmelreich hineinzugehen. Seine Sorge gilt dem Heil der Menschen. Die Szenerie der Rede, in der neben den Jüngern auch die Volksmengen als Adressaten erscheinen, bildet dies ab. Gleichwohl wird man im Blick auf die heutige Rezeption von Mt 23 nicht genug betonen können, dass dieser Text als Dokument eines Konfliktes zu lesen ist, in dem die Konfliktparteien nicht zu einem fairen Umgang miteinander in der Lage waren. Matthäus darf man über das bereits Gesagte hinaus immerhin zugutehalten, dass sein Gebet für jene, die die Gemeinde verfolgen (5,44), auch die Pharisäer eingeschlossen haben wird. V 4.3 Die Klage über Jerusalem (23,37–39) 37 Jerusalem, Jerusalem, die tötet die Propheten und steinigt die zu ihr Gesandten, wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, wie eine Vogelmutter ihre Jungen unter die Flügel sammelt, und ihr habt nicht gewollt. 38 Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen. 39 Denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sagen werdet: ‚Gepriesen sei, der im Namen des Herrn kommt.‘“ Ist Matthäus’ Anliegen, die Schriftgelehrten und Pharisäer als Autoritäten in Israel umfassend zu diskreditieren, mit dem letzten Weheruf und der Ansage des Gerichts in V. 29–36 an seinen Gipfelpunkt gelangt, so hat er in V. 37–39 (par Lk 13,34f) noch eine Wehklage über Jerusalem angefügt.

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Matthäus’ Komposition spiegelt dabei die Jerusalem in seiner Erzählkonzeption zugedachte Rolle: Jerusalem wird, wie sich dies in 2,3 bereits andeutete und schon in der ersten Leidensankündigung (16,21) manifestierte, in die Front der Gegner eingereiht, und die Zerstörung der Stadt wird analog zu 22,2–7 mit der Reaktion der Autoritäten auf die Sendung der Jünger verbunden. 23,37–39 impliziert aber so wenig wie V. 34–36 eine Ausweitung der Gerichtsperspektive auf ganz Israel, da Jerusalem in der mt Konzeption, wie 21,9–11 zeigt, keineswegs Israel repräsentiert. Die 37 Kennzeichnung Jerusalems in V. 37 als Stadt, die die Propheten steinigt und die zu ihr Gesandten tötet, lässt an das Handeln der für die Autoritäten stehenden Winzer in 21,35 zurückdenken, was den durch die Komposition in Mt 23 abgebildeten Konnex zwischen Jerusalem und den Autoritäten unterstreicht. Auch der Prophet Jesus (21,11) wird in Jerusalem getötet werden. V. 37b verweist auf das geduldige Bemühen um die Stadt (zur Metaphorik vgl. z. B. Dtn 32,11; Rut 2,12; Ps 17,8; Jes 31,5); die Konstatierung ihres Unwillens erinnert an 22,3. Die Folge ist das Gericht Got- 38 tes (V. 38). Der Kontext, besonders 24,1f, legt nahe, „euer Haus“ speziell auf den Tempel zu beziehen (vgl. z. B. 1Kön 9,1.3.7.8; Jes 60,7; Jer 7,11). Aus dem Haus Gottes (vgl. 21,13) ist „euer Haus“ geworden, das öde zurückgelassen werden wird (vgl. Hag 1,9; Tob 14,4; TestLevi 15,1), d. h.: Gott verlässt den Tempel und gibt ihn damit preis. Durch die – wohl redaktionelle – Einfügung von „öde“ hat Matthäus eine Querverbindung zur Rede vom durch den Propheten Daniel angekündigten „Gräuel der Verödung … an heiligem Ort“ in 24,15 geschaffen. V. 39 verbindet das 39 Verlassensein des Tempels schließlich mit Jesu Weggang. In den Heilungen (21,14) und in der Lehre Jesu (21,23), des Immanuel, manifestierte sich Gottes Präsenz im Tempel. Aber V. 39 ist das letzte Wort, das Jesus im Tempel sprechen wird; danach wird Jesus nicht mehr im Tempel wirken, sondern Jerusalem wird den Immanuel töten, und damit wird Gott nicht mehr im Tempel präsent sein. Der nachfolgende Ausblick auf die Parusie impliziert, dass sich daran in dieser Weltzeit auch nichts mehr ändern wird. Mit der Wendung „von jetzt an“ verdeutlicht Matthäus die Zäsur (vgl. zu 26,29.64). Die Gegenwart Gottes unter den Menschen ereignet sich fortan im Mit-Sein des erhöhten Jesus mit den Seinen (18,20; 28,20). Nach V. 39 wird Jerusalem am Ende in die Worte der Volksmengen aus Ps 118,26 einstimmen, mit denen diese der Stadt das Kommen des messianischen Königs angesagt haben (vgl. 21,5.9). Fraglich ist, ob sich darin die Möglichkeit einer heilvollen endgerichtlichen Perspektive für Jerusalem andeutet. Für diese Option wird geltend gemacht, dass das Zitat von Ps 118,26 für sich genommen und nach seiner Verwendung in 21,9 eine positive Aussage nahelegt. Dem steht die vom vorangehenden Kontext her naheliegende Option gegenüber, hier impliziert zu sehen, dass die

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Einsicht Jerusalems zu spät kommt. V. 39 wäre dann in Analogie zu dem Gerichtsszenarium in 1Hen 62 zu lesen, wo die Mächtigen den als Richter auftretenden Menschensohn verherrlichen und anbeten, damit aber ihr Strafgericht nicht mehr abwenden können. Ebenso bedeutete die in V. 39 anvisierte Begrüßung des Parusiechristus nur noch die Anerkenntnis dessen, was dann nicht mehr zu leugnen ist, ohne dass sich damit die Tür zum Heil öffnet (ähnlich folgt z. B. in Phil 2,10f aus der universalen Anerkennung des Erhöhten nicht die Universalität des Heils). Betrachtet man V. 39 auf der Ebene der erzählten Welt, so werden die seit V. 1 angeredeten Volksmengen damit im Blick auf ihre Begrüßung Jesu (21,9) bestätigt. Auf die Kommunikationsebene des Evangelisten übertragen appelliert der Text angesichts des den Adressaten bekannten Ergehens Jerusalems, auf der richtigen Seite zu bleiben oder sich fortan auf die richtige Seite zu stellen. Die unterschiedlichen Gerichtshorizonte des Endgerichts (V. 33) und des sich im irdischen Geschichtsablauf manifestierenden Gerichtshandelns Gottes (V. 38) werden in 23,32–39 rhetorisch gezielt miteinander verknüpft: Die Ankündigung des Gerichts der Hölle, das die Gegner treffen wird, wird durch den Verweis auf die Zerstörung Jerusalems unterbaut, die für die Adressaten schon zurückliegt. An ihr können sie also ablesen, dass die Gegner Jesu tatsächlich dem Gericht der Hölle entgegengehen.

V 5 Überleitung: Jesus verlässt den Tempel (24,1f) 1 Und Jesus ging hinaus vom Tempel und ging weiter, und seine Jünger traten hinzu, um ihm die Bauten des Tempels zu zeigen. 2 Er aber antwortete und sagte zu ihnen: „Seht ihr das alles nicht? Amen, ich sage euch: Hier wird kein Stein auf dem anderen gelassen werden, der nicht zerstört werden wird.“ Matthäus hat Mk 12,41–44 zugunsten des direkten Anschlusses von 24,1f (par Mk 13,1f) an das in 23,37–39 eingestellte Jerusalemwort weggelassen. Da Jesus der Immanuel ist (1,23), symbolisiert sein Weggang, dass Gott selbst sich aus dem Tempel zurückgezogen hat (vgl. zu 23,38f). Das Verhalten der Jünger in V. 1b erscheint nach der Ankündigung in 23,38 als Ausdruck mangelnden Verständnisses: Sie weisen Jesus, offenbar voll Bewunderung, auf die Bauten des Tempels hin, als hätten sie 23,38 nicht vernommen. Die von Matthäus gestaltete Eröffnung der Reaktion Jesu „seht ihr das alles nicht?“ nimmt auf ihre fehlende Einsicht Bezug. „Sehen“ meint hier, aufgrund des gegenwärtigen Geschehens das Kommende zu erkennen. Als zur Räuberhöhle verkommene (21,13), von Gott verlassene (23,38) Domäne der Autoritäten hat der Tempel keine Zukunft mehr.

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Die – in Analogie zu prophetischen Texten wie Jer 7,14; 26,6.18; Mi 3,2 stehende – Ankündigung der völligen Zerstörung der Bauten erscheint im mt Kontext als erläuternde Bekräftigung des Wortes von 23,38 aufgrund des Verhaltens der Jünger in 24,1.

V 6 Die Rede von den Endereignissen und vom Gericht (24,3–25,46) Die kompositorische Stellung der Rede, die durch 26,1 als die letzte der für das Mt charakteristischen fünf großen Reden gekennzeichnet wird, hat Matthäus aus Mk 13 übernommen. Sie gliedert sich nach der sie auslösenden Jüngerfrage in V. 3 in drei Hauptteile. Die Darlegung der Ereignisse bis zur Parusie Jesu in 24,4–31 findet in der Darstellung des Endgerichts in 25,31–46 seine Fortsetzung. Dazwischen steht ein großer paränetischer, von Gleichnissen bestimmter Mittelteil, in dem die Mahnung zur Wachsamkeit als Leitmotiv hervortritt. Während der erste Hauptteil im Wesentlichen auf der Markusvorlage (Mk 13,3–27) fußt, gilt dies für den zweiten Hauptteil nur für die Eröffnung in 24,32–36 (par Mk 13,28–32), während Matthäus im Fortgang in 24,37–25,30 auf verschiedene Texte aus der Logienquelle und dem Sondergut zurückgreift, die an die Stelle des nur partiell verwerteten mk Schlusses (Mk 13,33–37) treten. In diesen Erweiterungen der mk Vorlage manifestiert sich ein spezifisches Interesse von Matthäus, tritt hier doch die ethische Ermahnung als zentrales Anliegen hervor. Die ebenfalls zum Sondergut gehörende Darstellung des Endgerichts in 25,31–46 nimmt diesen thematischen Faden auf. V 6.1 Die Endereignisse und das Ende (24,3–31) 3 Als er aber auf dem Ölberg saß, traten seine Jünger für sich zu ihm und sprachen: „Sag uns: Wann wird das sein, und was ist das Zeichen deiner Ankunft und des Endes der Welt?“ 4 Und Jesus antwortete und sagte zu ihnen: „Seht euch vor, dass euch niemand in die Irre führt! 5 Denn viele werden unter meinem Namen kommen und sagen: ‚Ich bin der Christus!‘ Und sie werden viele in die Irre führen. 6 Ihr werdet aber von Kriegen und Kriegsgerüchten hören. Seht zu, lasst euch nicht in Schrecken versetzen! Denn es muss geschehen, aber es ist noch nicht das Ende. 7 Denn Volk gegen Volk wird sich erheben und Königreich gegen Königreich, und es werden Hungersnöte und Erdbeben da und dort sein. 8 Alles das aber ist der Anfang der Wehen. 9 Dann werden sie euch in die Bedrängnis ausliefern, und sie werden euch töten; und ihr werdet von allen Völkern gehasst werden um meines

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Namens willen. 10 Und dann werden viele Anstoß nehmen und werden einander ausliefern und einander hassen. 11 Und viele falsche Propheten werden aufstehen und werden viele in die Irre führen. 12 Und weil die Gesetzlosigkeit überhandnimmt, wird die Liebe in vielen erkalten. 13 Wer aber bis zum Ende durchhält, der wird gerettet werden. 14 Und dieses Evangelium vom Reich wird auf der ganzen Erde zum Zeugnis für alle Völker verkündigt werden, und dann wird das Ende kommen. 15 Wenn ihr nun den Gräuel der Verödung, von dem durch den Propheten Daniel gesagt wurde, an heiligem Ort stehen seht – wer es liest, merke auf! –, 16 dann sollen die in Judäa in die Berge fliehen. 17 Wer auf dem Dach ist, soll nicht hinabsteigen, um die (Sachen) aus seinem Haus zu holen; 18 und wer auf dem Feld ist, soll nicht zurückkehren, um seinen Mantel zu holen! 19 Wehe aber den Schwangeren und den Stillenden in jenen Tagen! 20 Betet aber, dass eure Flucht nicht bei Sturmwetter geschehe noch am Sabbat! 21 Dann wird nämlich eine große Bedrängnis sein, wie sie vom Anfang der Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nie mehr sein wird. 22 Und wenn jene Tage nicht verkürzt würden, würde kein Fleisch gerettet werden; aber um der Auserwählten willen werden jene Tage verkürzt werden. 23 Wenn dann jemand zu euch sagt: ‚Siehe, hier ist der Christus!‘, oder: ‚hier!‘, so glaubt es nicht! 24 Denn es werden falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen und werden große Zeichen und Wunder tun, um, wenn (es) möglich (wäre), auch die Auserwählten in die Irre zu führen. 25 Siehe, ich habe es euch vorhergesagt. 26 Wenn sie nun zu euch sagen: ‚Siehe, er ist in der Wüste!‘, so geht nicht hinaus! ‚Siehe, in den Kammern!‘, so glaubt es nicht! 27 Denn wie der Blitz von Osten ausgeht und bis zum Westen scheint, so wird die Ankunft des Menschensohnes sein. 28 Wo das Aas ist, dort werden sich die Geier versammeln. 29 Sogleich aber nach der Bedrängnis jener Tage wird sich die Sonne verfinstern, und wird der Mond seinen Schein nicht (mehr) geben, und werden die Sterne vom Himmel fallen, und werden die Himmelsmächte erschüttert. 30 Und dann wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen; und dann werden alle Stämme der Erde wehklagen, und sie werden den Menschensohn auf den Wolken des Himmels kommen sehen mit Kraft und viel Herrlichkeit. 31 Und er wird seine Engel aussenden mit lautem Posaunenschall, und sie werden seine Auserwählten von den vier Winden sammeln, von dem einen Ende der Himmel bis zu ihrem anderen Ende. 3 Die Rede über die Endereignisse wird durch eine Doppelfrage der Jünger ausgelöst (vgl. 18,1). Die erste Frage bezieht sich auf V. 2 zurück, es geht also um den Zeitpunkt der Tempelzerstörung. Durch ihre Verknüpfung

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mit der – von Mk 13,4 abweichend formulierten – Frage nach dem Zeichen für die Parusie und für das Weltende (vgl. Dan 12,6; 4Esra 4,33.51f u. ö.) steht als eine Option die direkte Verbindung der Zerstörung Jerusalems mit den Endereignissen im Raum. Die nachfolgende Rede wird diese Option verneinen. Dabei ist zu beachten, dass die Tempelzerstörung für die Gemeinde bereits einige Jahre zurückliegt, so dass es für Matthäus zwingend ist, sie von den Endereignissen abzusetzen. Die Frage nach der Wiederkunft Jesu greift im Gesamtkontext betrachtet auf die Ankündigungen des Kommens des Menschensohnes in 10,23; 16,27 (vgl. auch 13,41; 19,28) sowie im unmittelbaren Kontext auf 23,39 zurück; vom Weltende war bereits in 13,39 f.49 die Rede (vgl. noch 28,20). Bei Matthäus wenden sich nicht nur wie in Mk 13,3 die beiden erstberufenen Brüderpaare (Mt 4,18–22 par Mk 1,16–20) an Jesus. Entsprechend gilt auch die nachfolgende Unterweisung allgemein den Jüngern. Für das Gesamtverständnis der Antwort Jesu in V. 4–31 ist die Erkenntnis weichenstellend, dass hier nicht eine fortlaufende Sequenz geschildert wird, sondern nach der Einleitung in V. 4f zwei Durchgänge zu unterscheiden sind (vgl. Balabanski, Eschatology, 153–162): Der erste in V. 6–14 schildert die Endzeitereignisse in einer den ganzen Erdkreis (V. 14) umfassenden Perspektive, während in V. 15–28 speziell die Geschehnisse in Judäa in den Blick genommen werden. V. 29–31 blickt dann abschließend auf das Kommen des Menschensohnes. Die eröffnende Warnung vor der Verführung wird in beiden Durchgängen aufgenommen (V. 11.23–26) und so als ein Leitmotiv erkennbar. „In meinem Namen“ grenzt die Verführer nicht auf Nachfolger Jesu ein, sondern der „Name“ ist hier, wie das Nachfolgende zu erkennen gibt, der Christustitel: Die Verführer treten mit einem messianischen Anspruch auf. Einzubeziehen ist demnach die bunte Palette der Gestalten, die im Kontext der Spannungen und des Konflikts mit Rom mit ihren Heilsversprechungen oder Führungsansprüchen hervorgetreten sind (s. z. B. Josephus, Bell 2,258–263.433f; 6,285–287; Ant 17,271–285; 20,97–99). V. 6.7f verweist in zwei parallel gestalteten Gliedern zunächst auf die kommende Drangsal, die gut apokalyptisch (vgl. z. B. Dan 2,28f; Offb 1,1; 4,1; 22,6) unter das göttliche „Muss“ gestellt wird (V. 6, vgl. 16,21; 17,10; 26,54), und ordnet diese dann geschichtlich ein: Die Geschehnisse sind noch nicht das Ende (V. 6), sondern der Anfang der Wehen (V. 8). Mit dem Verweis auf Kriege, Hungersnöte und Erdbeben greift der Text dabei auf das Standardrepertoire apokalyptischer Szenarien zurück (4Esra 9,3; 13,31; 2Bar 70,8 u. ö.). Aus dem im Mk nachfolgenden Passus hat Matthäus Mk 13,9.11–13 bereits in 10,17–22a verarbeitet. Er knüpft nun in V. 9a an Mk 13,9a an, greift in V. 9b.13 Mk 13,13 noch einmal auf und verarbeitet den in Mt 10 ausgelassenen Vers Mk 13,10 in V. 14. Anstelle der nach Mt 10 vorgezogenen Aussagen aus Mk 13,9–13 ist V. 10–12 hinzugetreten. Nach der allgemei-

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nen Charakterisierung der endzeitlichen Wehen wendet Matthäus sich mit V. 9–14 speziell dem Ergehen der Jünger zu. Die Bedrängnis, die nach 10,16–23 die Israelmission kennzeichnet, wird nun auch für die universale Mission dargelegt: Werden die Jünger nach 10,22 „von allen“ gehasst, so wird die Vorlage aus Mk 13,13 nun zu „von allen Völkern“ ergänzt. Mussten die Jünger nach 10,17 damit rechnen, an Synedrien, d. h. an lokale jüdische Gerichte ausgeliefert zu werden, so heißt es nun in 24,9 allgemein, dass die Menschen sie in die Bedrängnis ausliefern. Wieder schließt die Verfolgung sogar die Gefahr ein, sein Leben zu verlieren (vgl. 10,21.28.38f sowie 22,6; 23,34). Solche Bedrängnis birgt die Gefahr des Abfalls (vgl. 13,21, ferner 18,6–9). Auf dieser Basis bezieht der Einschub in V. 10–12 innergemeindliche Verwerfungen ein (vgl. Did 16,3f), während der Blick in 10,21 (par Mk 13,12) noch auf innerfamiliäre Zerwürfnisse gerichtet war (vgl. auch 10,34–36). Denn nun heißt es, dass die Vielen, die Anstoß nehmen, einander ausliefern und hassen werden. Zumal angesichts dessen, dass die Einfügung des Passus auf Matthäus selbst zurückgeht, steht zu vermuten, dass dahinter reale Erfahrungen stehen, dass also abtrünnige Gemeindeglieder andere denunzierten. Von den Pseudopropheten (V. 11) war zuvor in 7,15 im Sinne einer von innen kommenden Gefahr die Rede (vgl. 7,22). V. 11 greift also die Warnung vor Verführung aus V. 4f auf der Linie des mit V. 10 vorgenommenen Blicks nach innen auf. Auch die Gesetzlosigkeit, die sich im Erkalten der – im Zentrum des Gesetzes stehenden – Liebe manifestiert (vgl. 22,34–40), wurde bereits in Mt 7 im Zusammenhang des Auftretens von Falschpropheten zum Thema (7,23); sie ist für Matthäus nicht nur ein Problem der Schriftgelehrten und Pharisäer (23,28), sondern begegnet auch in den eigenen Reihen. Matthäus entwirft hier also nicht das Bild einer in ihrem Innern gefestigten, strahlenden Gemeinde, die den äußeren Stürmen souverän standhält; vielmehr verbindet er mit der endzeitlichen Bedrängnis neben Gefährdungen von außen auch innere Zerwürfnisse. Umso mehr kommt es für den einzelnen darauf an, bis zum Ende standzuhalten, denn damit ist die Verheißung der Rettung verbunden (V. 13). Dieser Zuspruch aus Mk 13,13b ist Matthäus wichtig, wie seine wortgleiche, nach 10,22b erneute Aufnahme zeigt. Im Kontext von V. 12 schließt das Standhalten in V. 13 auch ein, in der Praxis der Liebe zu verharren. Die Ausgestaltung von Mk 13,10 in V. 14 blickt schließlich auf die universale Mission aus und nimmt damit im Erzählduktus 28,18–20 vorweg. Die inhaltliche Konkretisierung der mk Rede vom „Evangelium“ zu „diesem Evangelium vom Reich“ signalisiert zum einen die Kontinuität der Verkündigung der Jünger zur Verkündigung Jesu (vgl. 4,23; 9,35): Es geht um die Ansage der Nähe des Himmelreiches (4,17), die Unterweisung in den Geboten, die Jesus ihnen aufgetragen hat (vgl. 28,20a), usw. Zum anderen ist darin nach Ostern aber auch die Erzählung von Jesu Wirken eingeschlossen, so dass sich die deutliche Tendenz ergibt,

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dass die von Matthäus erzählte Jesusgeschichte selbst zur Grundlage der Verkündigung vom Reich wird (vgl. zu 26,13). Als geographischer Horizont wird ausdrücklich die ganze „Ökumene“, also die gesamte bewohnte Erde namhaft gemacht. Analog zur Israelmission dispensiert die Erfahrung massiver Ablehnung bis hin zum Hass (V. 9) nicht von der missionarischen Aufgabe. Schon in der Bergpredigt trat dieser Aspekt hervor: Gerade denen, die Verfolgung erleiden (5,11f), ist die Aufgabe zugewiesen, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein (5,13–16). Der von Matthäus in V. 14 angefügte Schlusssatz greift auf V. 6 zurück: Die Kriege, von denen sie hören, sind noch nicht das Ende; dieses kommt nach Matthäus erst dann, wenn allen Völkern das Evangelium vom Reich bezeugt wurde. Jesus fährt nun aber nicht fort, das Ende zu schildern, sondern setzt zu 15 einer erneuten Entfaltung der Ereignisse vor dem Ende an, diesmal mit Blick speziell auf Judäa. Dazu wendet der Evangelist sich zunächst einem Geschehen zu, das von seinem Standpunkt aus betrachtet bereits in der Vergangenheit liegt: „An heiligem Ort“ meint den – zur Zeit der Abfassung des Mt bereits zerstörten – Jerusalemer Tempel. Die Rede vom „Gräuel der Verödung“ greift Dan 9,27; 11,31; 12,11 auf, wo damit der von den Seleukiden im Jahre 168 oder 167 v. Chr. im Jerusalemer Tempel errichtete Altar für den Zeus Olympios gemeint ist (vgl. 1Makk 1,54; 6,7). Matthäus bezieht den „Gräuel der Verödung“ – wie Markus – auf Vorgänge im Tempel während des jüdisch-römischen Krieges 66 bis 70 n. Chr., in die Josephus’ Bellum Einblick gewährt, ohne dass sich unter den mannigfaltigen Optionen für Geschehnisse, die eine Entweihung des Tempels implizieren (s. Bell 2,422ff; 4,138–157.162–192.238–269; 5,5–38 u. ö.), ein bestimmtes Ereignis identifizieren ließe. Matthäus hat den Bezug auf das Danielbuch ausdrücklich gemacht; der aus Mk 13,14 übernommene Erzählerkommentar „wer es liest, merke auf!“ wird damit zu einer Aufforderung, beim Studium des Danielbuchs des Bezugs der Weissagung auf die jüngste Vergangenheit gewahr zu werden. Im literarischen Kontext des Mt greift die Rede vom „Gräuel der Verödung“ auf die Ankündigung in 23,38 zurück. Der Gräuel wird somit als Ausdruck der Preisgabe des Tempels erkennbar, die mit Jesu Weggang in 24,1 anhebt und sich schließlich als letzte Stufe in dessen Zerstörung manifestiert. Im Blick auf V. 3 kann man V. 15 mit der Frage nach dem Zeitpunkt der Tempelzerstörung verbinden, wenngleich nicht diese selbst hier thematisiert oder gar terminiert wird. Aber mit dem „Gräuel der Verödung“ führt Matthäus in das Vorfeld der Zerstörung des Tempels. Im Gesamtduktus der Rede wird dabei deutlich, dass die Tempelzerstörung keineswegs das Ende der Weltzeit bedeutet oder dieses unmittelbar einleitet. Wenn der Gräuel im Tempel zu sehen ist, ist es für „die in Judäa“ ange- 16–20 raten, in die umliegenden Berge zu fliehen (vgl. Gen 19,17; 1Makk 2,28). Die Rede von „eurer Flucht“ in V. 20 macht deutlich, dass hier spezifisch

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die christusgläubigen Gruppen im Blick sind. V. 17–19 unterstreicht die gebotene Eile und die schwierigen Umstände, die in besonderem Maße die Schwangeren und Stillenden vor Probleme stellen. Angesichts dieser Situation sollen die Jünger bitten, dass nicht noch weitere erschwerende Umstände wie beschwerliche Witterungsverhältnisse im Winter hinzukommen. Die mt Hinzufügung des Sabbats verweist auf das Problem der mit der Flucht verbundenen Überschreitung des erlaubten Sabbatwegs (vgl. Ex 16,29; Jub 50,12; CD 10,21). Zwar ist vom mt Sabbatverständnis her (vgl. 12,1–14) klar, dass Lebensgefahr das Sabbatgebot suspendiert (vgl. 1Makk 2,41) und entsprechend die Flucht Vorrang vor dem Einhalten des Sabbatgebots hat. Aber auch wenn es sich in diesem Fall um eine legitime Verletzung des Sabbatgebots handelt, ist diese an sich nicht wünschenswert, so dass die Bitte verständlich wird: In ihr drückt sich die grundlegende Achtung des Sabbatgebots aus. Möglich, wenn nicht wahrscheinlich, ist es, dass einige der Flüchtlinge Zuflucht im mt Gemeindegebiet fanden und damit dessen judenchristliche Prägung noch verstärkt wurde. V. 16–19 wäre dann also auch ein Reflex der eigenen Geschichte. In jedem Fall mag die literarische Konstellation, dass Matthäus Jesus hier etwas ankündigen lässt, was für den Evangelisten und seine Adressaten schon zurückliegt, sich also der Voraussage gemäß ereignet hat, dazu angetan sein, das Vertrauen in die Ankündigung der zur Zeit des Evangelis21–22 ten noch ausstehenden Ereignisse zu stärken. V. 21f greift den Verweis auf die Bedrängnis in V. 9 auf. Neu sind nun der – wohl an Dan 12,1 TH anknüpfende – Verweis auf die zuvor noch nie gekannte Größe der Drangsal (vgl. ferner z. B. 1QM 1,11f; TestMos 8,1) und der Gedanke der Verkürzung der Tage (vgl. 4Q385 Fragm. 3; LAB 19,13; 2Bar 20,1f; 83,1) um der Auserwählten willen, der seinerseits auf die Schwere der Bedrängnis verweist. Nicht präzise festzulegen ist der Bezugspunkt von V. 21f, doch dürfte gerade diese Unschärfe bzw. Offenheit beabsichtigt sein. Auf der einen Seite legt der Anschluss an V. 15–20 nahe, dass auch in V. 21f noch die mit dem jüdisch-römischen Krieg verbundene Drangsal gemeint ist; „jene Tage“ (V. 22) greift V. 19 auf, und ferner lässt die Ankündigung, dass eine solche Drangsal auch nicht mehr sein wird (V. 21), an eine Zwischenzeit zwischen dieser Bedrängnis und dem Ende denken. Auf der anderen Seite kehrt die Rede von der Bedrängnis (V. 21) und von „jenen Tagen“ (V. 22) in V. 29 wieder, und die Angabe, dass sich das Kommen des Menschensohnes sogleich nach der Bedrängnis jener Tage ereignen wird, spricht dafür, dass V. 21f vom Standpunkt des Evangelisten aus betrachtet nicht bloß wie V. 15–20 zurückblickt, sondern (auch) Gegenwart und Zukunft einbezieht. Letzteres gilt in jedem Fall für die Warnung vor den Verführern 23–26 (V. 23–26), die behaupten, der Messias zu sein (vgl. V. 4f), und vor den Falschpropheten (V. 11), deren Auftreten damit erneut als wesentliches

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Kennzeichen der endzeitlichen Drangsal herausgestellt wird. Gegenüber V. 4 f.11 tritt nun zum einen der Verweis auf die von ihnen vollbrachten Zeichen und Wunder hinzu (V. 24, vgl. 7,22), mit denen sie ihren Anspruch zu beglaubigen suchen (vgl. Dtn 13,2f); verbunden ist damit die V. 22 weiterführende Aussage, dass auch die Auserwählten Zielscheibe ihrer Verführungen sind. Da die Auserwählten nach 22,14; 24,31 die sind, die am Ende am endzeitlichen Heil teilhaben werden, ist der Einschub „wenn möglich“ im Sinne einer irrealen Möglichkeit zu verstehen: Die Auserwählten können nicht verführt werden. Allerdings weiß nur Gott im Voraus, wer zu den Auserwählten zählen wird. Für die Adressaten bedeutet die Aussage daher gerade nicht, dass sie sich entspannt zurücklehnen können, sondern es wird gerade die Größe des von den falschen Christussen und Propheten ausgehenden Gefährdungspotentials unterstrichen. Halten sie stand, ist dies zumindest ein Indiz, dass sie zu den Auserwählten gehören. Zum anderen ergeht nun über V. 4 f.11 hinaus die Mahnung, alle Hinweise über das Auftreten solcher Gestalten souverän zu ignorieren (V. 23.26). Folgt V. 23 Mk 13,21, so gestaltet V. 26 Q 17,23 aus. Matthäus kombiniert beide Quellen dabei so, dass die Mahnung eine Rahmung um V. 24f bildet. Warum solchen Hinweisen kein Glauben zu schenken ist, 27–28 führt V. 27f aus, wo Matthäus dem Q-Passus, den er in V. 26 rezipiert hat, weiter folgt (par Lk 17,24.37): Wenn der Menschensohn kommt, ist dies, wie der Vergleich mit einem Blitz anzeigt, ein überall wahrnehmbares Ereignis. Man muss also nicht irgendwelchen Hinweisen nachgehen und sich an einen bestimmten Ort begeben. Das Logion vom Aas und den Geiern soll das Moment der allgemeinen Wahrnehmbarkeit unterstreichen. Für die Frage nach den Zeichen in V. 3 deutet sich damit eine Antwort an, die V. 29–31 entfalten wird. Matthäus nimmt hier den nach V. 25 ver- 29–31 lassenen Faden von Mk 13 wieder auf (vgl. Mk 13,24–27). Das Kommen des Menschensohnes wird mit kosmischen Phänomenen einhergehen und also überall ohne den Hauch von Zweideutigkeit wahrnehmbar sein. Die Rede von der Verfinsterung von Sonne und Mond greift auf die Charakterisierung des „Tags des Herrn“ in Jes 13,10 zurück; das Motiv der vom Himmel fallenden Sterne nimmt Jes 34,4 auf (vgl. ferner Joel 2,10; 3,4; 4,15; Ez 32,7f; TestMos 10,5; Offb 6,12f u. ö.). Auch V. 30 bedient sich biblischer Sprache: Die mt Einfügung, dass alle Stämme der Erde – angesichts des auf sie zukommenden Gerichts (vgl. 1Hen 62,3–5) – wehklagen werden, lässt an Sach 12,10–14 denken; das Kommen des Menschensohnes auf den Wolken basiert auf Dan 7,13f (vgl. Mt 26,64). Da die Kombination von Sach 12 und Dan 7 auch in Offb 1,7 begegnet, dürfte Matthäus hier neben Mk 13 eine frühchristliche Tradition einfließen lassen. Die von Matthäus in V. 30 vorangestellte Rede vom Erscheinen des „Zeichens des Menschensohnes“ kontrastiert die „Zeichen und Wunder“ der falschen Christusse und Propheten in V. 24 und lenkt zugleich explizit auf den

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zweiten Teil der Ausgangsfrage in V. 3 zurück. Fraglich ist, ob dabei an eine Art Feldzeichen zu denken ist (vgl. Jes 13,2; 49,22; 62,10, zusammen mit der „Posaune“ [vgl. V. 31] z. B. Jes 18,3; Jer 6,1; 1QM 2,15–4,17), das am Himmel erscheint, oder, was wahrscheinlicher sein dürfte, der „mit Kraft und viel Herrlichkeit“ kommende Menschensohn selbst das Zeichen ist, so dass „des Menschensohnes“ im Griechischen als ein epexegetischer Genitiv zu bestimmen wäre. Das Motiv der Aussendung der Engel hat Matthäus bereits in 13,41 vorgebracht, nur sammeln die Engel dort nicht wie hier die Auserwählten (vgl. 1Thess 4,16f), um sie ins endzeitliche Heil zu führen, sondern die Sünder, um sie in den Feuerofen zu werfen. Mit dem „lauten Posaunenschall“ hat Matthäus in 24,31 ein weiteres traditionelles Motiv in die Schilderung der Endereignisse eingefügt (vgl. Jes 27,13; Joel 2,1; Sach 9,14; ApkAbr 31,1; 4Esra 6,23; Offb 8,2ff u. ö.). Für alle unüberhörbar und unübersehbar also wird das Kommen des Menschensohnes sein, auf anderweitige vermeintliche Zeichen sollen die Jünger nichts geben. Das von Matthäus zu Beginn von V. 29 hinzugesetzte „sogleich“ gibt zu erkennen, dass Matthäus das Ende als nahe erwartet hat, was ebenso durch die Zusammenfassung der Botschaft des Täufers, Jesu und der Jünger mit den Worten „das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“ (3,2; 4,17; 10,7) angezeigt wird. Auf Terminspekulationen hat sich Matthäus allerdings nicht eingelassen, wie das Folgende deutlich macht (V. 36). Zudem bedeutet das in V. 3–31 implizierte Nein zu Zeichen, die das Ende unmittelbar vor seinem Kommen anzeigen, dass es keine Vorwarnungen geben wird. Auch dies wird im nachfolgenden Kontext (V. 37–41) entfaltet. V 6.2 Der unbekannte Zeitpunkt und die Mahnung zur Wachsamkeit (24,32–25,30) V 6.2.1 Der unbekannte Zeitpunkt des nahen Endes (24,32–41) 32 Von dem Feigenbaum aber lernt das Gleichnis: Wenn sein Zweig schon weich ist und die Blätter hervortreibt, so erkennt ihr, dass der Sommer nahe ist. 33 Ebenso auch ihr: Wenn ihr das alles seht, so erkennt, dass er nahe vor der Tür ist! 34 Amen, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis das alles geschieht. 35 Der Himmel und die Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. 36 Über jenen Tag und die Stunde aber weiß niemand, nicht einmal die Engel der Himmel, nicht einmal der Sohn, außer der Vater allein. 37 Wie nämlich die Tage Noahs (waren), so wird auch die Ankunft des Menschensohnes sein. 38 Wie sie nämlich in jenen Tagen vor der Sintflut

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waren: essend und trinkend, heiratend und verheiratend, bis zu dem Tag, als Noah in die Arche hineinging, 39 und sie (es) nicht erkannten, bis die Sintflut kam und alle wegraffte, so wird auch die Ankunft des Menschensohnes sein. 40 Dann werden zwei auf dem Feld sein, einer wird genommen und einer zurückgelassen; 41 zwei (werden) an der Mühle mahlen, eine wird genommen und eine zurückgelassen. Matthäus folgt in V. 32–36 zunächst sehr eng Mk 13,28–32, greift dann aber in V. 37–41 Material aus der eschatologischen Rede der Logienquelle auf (vgl. Lk 17,26–35), auf die er bereits in V. 26–28 rekurriert hat. Nach der Belehrung über den Lauf der Ereignisse bis zur Parusie in V. 4–31 leitet V. 32–41 zur Ermahnung der Jünger über, wachsam zu sein. Leitend ist dabei ein Doppelaspekt: Zum einen ist das Ende nahe (V. 32–35); zum anderen ist der genaue Zeitpunkt unbekannt (V. 36), und das Ende bricht plötzlich herein (V. 37–41). V. 32f illustriert die Nähe des Endes durch einen Vergleich mit einem 32–33 Feigenbaum: Wie sich an dessen hervortreibenden Blättern die Nähe des Sommers ablesen lässt, so verweist „das alles“, d. h. das zuvor bis V. 28 Geschilderte (V. 29–31 ist auszuklammern, da der Menschensohn in V. 33 ja noch kommt), auf die Nähe der Parusie (zum Türmotiv vgl. Jak 5,9; Offb 3,20). „Wenn ihr das alles seht“ lässt insbesondere an „wenn ihr den Gräuel der Verödung seht“ in V. 15 zurückdenken. Schwierig ist das Ver- 34 ständnis von V. 34. Das in der Übersetzung mit „Geschlecht“ wiedergegebene griechische Wort (genea) kann auch, wie dies in 1,17 der Fall ist, „Generation“ bedeuten. Diese temporale Bedeutung legt sich prima vista auch für V. 34 nahe. Wenn hier „bis das alles geschieht“ die Parusie einschließt, entsteht allerdings das Problem, dass „diese Generation“, wenn die Abfassung des Mt in die 80er Jahre des 1. Jh. n. Chr. zu datieren ist, eine Zeitspanne von mindestens fünfzig Jahren überbrücken müsste (die Parusie steht ja noch aus!). Auch wenn es dem Grundsatz nach genügt, dass noch einzelne Zeitgenossen Jesu am Leben sind, ist es kaum sehr wahrscheinlich, dass Matthäus es noch als eine adäquate Aussage ansehen konnte, dass sich die Parusie noch zu Lebzeiten der Generation Jesu ereignet (es geht hier nicht um das „dogmatische“ Problem, ob Jesus sich geirrt hat, sondern um die Plausibilität von V. 34 als Aussage des Evangelisten!). Dieses Problem würde zumindest ein wenig abgemildert, wenn man als Alternative erwägt, dass sich „das alles“ in V. 34 – angesichts des Rückbezugs von „wenn ihr das alles seht“ in V. 33 speziell auf V. 15 – zumindest primär auf die in V. 15–20 (bzw. V. 15–22) geschilderten Geschehnisse rund um die Zerstörung Jerusalems bezieht, zumal das Auftreten von falschen Christussen und Falschpropheten kein spezifisches Charakteristikum der Zeit nach 70 n. Chr. ist und insofern auch V. 23–26 einbezogen werden kann. V. 34 besagte dann „nur“: Der Gräuel der Verödung und die

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sich anschließende Zerstörung des Tempels wird sich ereignen, wenn Vertreter dieser Generation noch leben. Nach V. 33 ist danach das Ende nahe. Auch das Vorkommen von „das alles“ im vorangehenden Kontext (V. 8) ließe sich hier einbinden, denn „das alles“, nämlich eben das Auftreten falscher Christusse und die kriegerischen Auseinandersetzungen, bildet dort nur „den Anfang der Wehen“. Als weitere Alternative ist im Lichte der vorangehenden Belege der Rede von „diesem Geschlecht“ (11,16; 12,39–45; 16,4 u. ö.) zu erwägen, dass der Ton auch in 24,34 auf der negativen Qualifizierung „dieses Geschlechts“ liegt und es um die geht, die die Jünger bedrängen oder als Falschpropheten zu verführen suchen. Ein solches Verständnis passt gut zur mt Zeitangabe in V. 29: Die Bedrängnis und die Verführung reichen unmittelbar bis zur Parusie. Andererseits legt der unmittelbar vorangehende Verweis auf die Nähe des Endes eine entspre35 chende Aussage in V. 34 nahe. Die Deutung von V. 34 bleibt schwierig. V. 35 ist durch Stichwortanschluss mit V. 34 verbunden. Die Betonung, dass die Worte Jesu Bestand haben, bezieht sich hier konkret auf die Verlässlichkeit der vorangehenden Ankündigungen. Ob dabei die Aussage über die Tora in 5,18 überboten werden soll, ist zumindest fraglich, da in 5,18 keineswegs zwingend impliziert ist, dass mit dem Vergehen von Himmel und Erde auch Iota und Häkchen vom Gesetz vergehen. Mit der Ankündigung der Nähe der Parusie ist kein exakter Zeitpunkt 36 genannt. V. 36 hält nun gegen mögliche Terminspekulationen fest, dass dieser das Geheimnis allein des Vaters ist (vgl. z. B. 2Bar 21,8; 54,1), in das – trotz 11,27 – nicht einmal der Sohn eingeweiht ist („allein“ ist eine mt Hinzufügung!). Entsprechend ist es erst recht nicht an den Jüngern, den Termin zu kennen. Für sie bedeutet dies, dass sie jederzeit auf den erwarteten Moment eingestellt sein müssen. V. 36 bildet damit das Fundament für die nachfolgende Unterweisung, in der das Motiv der Unkenntnis des Tages bzw. der Stunde leitmotivisch wiederkehrt (24,42.44.50; 25,13). Mit V. 37 verlässt Matthäus die Markusvorlage, um mit dem Vergleich des 37–39 Kommens des Menschensohnes mit der Sintflut ihm passend erscheinenden Stoff aus Q (s. o.) anzuschließen. V. 37 und V. 38f sind von Matthäus parallel gestaltet; V. 37 führt den Vergleich lediglich ein, V. 38f expliziert ihn: Wie in den Tagen Noahs die Zeitgenossen mit ihren Alltagsangelegenheiten beschäftigt waren und von der Sintflut überrascht wurden, so unerwartet wird die Parusie des Menschensohnes kommen. Streng genommen gilt dies aber „nur“ für die nicht zur Jüngergruppe gehörenden Zeitgenossen, während dies für die Jünger im Lichte der vorangehenden Unterweisung auszudifferenzieren ist. Denn ihre Situation ist durch den Doppelaspekt des Wissens um die Nähe der Parusie und des Nichtwissens um ihren genauen Zeitpunkt bestimmt. Die von Matthäus in V. 39 eingefügte Aussage, dass die Zeitgenossen Noahs es nicht erkannten, unter-

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streicht dies. Denn damit wird nicht nur die Analogie zum Nichtwissen in V. 36 betont, sondern zugleich auch kontrastiv auf V. 32f zurückgelenkt: Anders als ihre Zeitgenossen (und die Zeitgenossen Noahs) „wissen“ die Jünger (wie Noah) um das kommende Ereignis bzw. sind sie sogar über dessen Nähe instruiert worden, es sollte sie also nicht völlig überraschend treffen; anders als Noah (Gen 7,4) kennen sie aber nicht den genauen Zeitpunkt des Geschehens. Wichtig ist für Matthäus, dass die Nachfolger Jesu das Wissen, das sie gegenüber den Zeitgenossen auszeichnet, auch nutzen. In V. 40f illustriert Matthäus die mit der Parusie verbundene Schei- 40–41 dung der Menschen in solche, die des Heils teilhaftig werden, und solche, die verloren gehen, durch zwei Beispiele, die sich darin, dass die Menschen ihren alltäglichen Arbeiten nachgehen, nahtlos der Darstellung des Verhaltens der Sintflutgeneration in V. 38 einfügen. Matthäus verbindet dabei wieder ein Männer und ein Frauen betreffendes Exempel (vgl. zu 13,33). Die Formulierung, dass eine(r) genommen wird, ist im Kontext im Sinne von V. 31 zu verstehen. Die Scheidung geht hier mitten durch die menschlichen Gemeinschaften hindurch. Die Jünger sollten zusehen, dass sie zu denen gehören, die angenommen werden. 24,42–25,30 entfaltet ebendies in Gestalt der Mahnung zur Wachsamkeit. V 6.2.2 Die Parusie- und Wachsamkeitsgleichnisse (24,42–25,30) Programmatisch eingeleitet durch die Mahnung zur Wachsamkeit in V. 42 wird in 24,42–25,30 in einer Sequenz von vier Gleichnissen die Notwendigkeit beleuchtet, durch eine dem Willen Gottes entsprechende Lebenspraxis stets für die Parusie bereit zu sein. Dabei lassen sich die vier Gleichnisse in zwei Zweiergruppen, in die beiden kürzeren Gleichnisse in 24,42–44.45–51 und die ausführlichen Gleichnisse in 25,1–13.14–30, untergliedern. Das erste und das dritte Gleichnis enden jeweils mit einer paränetischen Schlussmahnung, die 24,42 variiert (24,44) bzw. geradezu wiederholt (25,13); sie sind zudem durch die nächtliche Szenerie miteinander verbunden. 24,45–51 und 25,14–30 thematisieren jeweils das positive und das negative Verhalten von Knechten während der Abwesenheit ihres Herrn; beide Gleichnisse münden in das Gerichtsmotiv des Heulens und Zähneknirschens.

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V 6.2.2.1 Das Gleichnis vom Dieb (24,42–44) 42 Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. 43 Das aber erkennt: Wenn der Hausherr wüsste, in welcher Nachtwache der Dieb kommt, würde er wachen und es nicht zulassen, dass in sein Haus eingebrochen wird. 44 Darum seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr nicht damit rechnet. Während Matthäus in der einleitenden Mahnung zur Wachsamkeit (V. 42) Mk 13,35 aufnimmt, stammt das Gleichnis vom Dieb (V. 43f) aus Q 12,39 f. Wachsamkeitsparänese begegnet auch außerhalb der synoptischen Tradition als Element der gemeindlichen Unterweisung (Apg 20,31; 1Kor 16,13; Kol 4,2), und zwar auch im Verbund mit dem Wort vom Dieb (1Thess 5,2.6; Offb 3,2f; 16,15, zu diesem ferner noch 2Petr 3,10). Dieser Befund spricht dafür, dass die Verbindung von Wachsamkeitsmahnung und Wort vom Dieb (vgl. auch EvThom 21) vormatthäisch ist und der Evangelist von daher zur Zusammenfügung von Mk 13,35 und Q 12,39f inspiriert wurde. Dabei bestehen verschiedene Optionen, zwischen denen sich nicht mit hinreichender Plausibilität eine Präferenz etablieren lässt: Es ist zum einen möglich, dass das Wachsamkeitsmotiv in V. 43 nicht erst von Matthäus eingefügt wurde, sondern trotz des Fehlens in Lk 12,39 in Q stand; zum anderen kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch Lk 12,36–38 auf Q zurückgeht (Matthäus hätte den Passus dann zugunsten von 25,1–13 übergangen) und sich von daher (s. Lk 12,37) die Verbindung ergab, oder dass Matthäus die Verbindung anderweitig aus der frühchristlichen Überlieferung vertraut war. Die Mahnung zur Wachsamkeit in V. 42 steht als paränetisches Leit42 motiv der gesamten Gleichniskomposition in 24,42–25,30 voran. Die Ersetzung des mk „wann“ durch „an welchem Tag“ verdeutlicht den Rückbezug auf V. 36. Wachsamkeit meint hier im übertragenen Sinn, sein Leben in ethischer Hinsicht stets so zu führen, dass man jederzeit mit Zuversicht vor dem Weltenrichter (25,31–46) erscheinen kann. Das negative Gegenstück wäre für Matthäus eine ethische Nachlässigkeit, die sich aus 43 dem Abflachen der Ausrichtung auf das (nahe) Weltgericht speist. Das Gleichnis vom Dieb illustriert die Bedeutung der Wachsamkeit, um Schaden zu verhindern. In Korrespondenz zur Differenz zwischen Wachen im physischen und übertragenen Sinn ist dies anders als für den Hausherrn 44 für die Jünger auch möglich. Entsprechend wird V. 42 in der Anwendung des Gleichnisses (V. 44) zur Mahnung variiert, stets bereit zu sein. Die angefügte Begründung spitzt den Gedanken der Unbekanntheit der Stunde (V. 36) in paränetischer Absicht zu. Man sollte nicht meinen, dass es Zeiten gibt, zu denen das Kommen des Menschensohnes weniger wahrscheinlich ist als zu anderen Zeiten.

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V 6.2.2.2 Das Gleichnis vom treuen und vom bösen Knecht (24,45–51) 45 Wer ist nun der treue und verständige Knecht, den sein Herr über seine Dienerschaft gesetzt hat, um ihnen die Speise zu geben zur rechten Zeit? 46 Glückselig ist jener Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, bei solchem Tun finden wird! 47 Amen, ich sage euch: Er wird ihn über seine ganze Habe setzen. 48 Wenn aber jener böse Knecht in seinem Herzen sagt: ‚Mein Herr lässt sich Zeit‘ 49 und anfängt, seine Mitknechte zu schlagen, und mit den Betrunkenen isst und trinkt, 50 wird der Herr jenes Knechts an einem Tag kommen, an dem er es nicht erwartet, und zu einer Stunde, die er nicht kennt, 51 und wird ihn entzweischneiden und ihm seinen Platz unter den Heuchlern anweisen; dort wird Heulen und Zähneknirschen sein. Matthäus fährt in V. 45–51 mit dem in V. 43f aufgenommenen Passus aus der Logienquelle fort (vgl. Lk 12,42–46) und illustriert in den beiden – formal ungleichen – Hälften des Gleichnisses am Beispiel eines Knechtes, den sein Herr für die Zeit seiner Abwesenheit über die Dienerschaft einsetzt, angemessenes und falsches Verhalten im Angesicht der bevorstehenden Parusie. In der Charakterisierung des treuen Knechts durch die 45–47 gewissenhafte Erfüllung der Versorgungspflichten gegenüber den Mitknechten spiegelt sich die für die Jünger zentrale ethische Aufgabe der liebenden Fürsorge für die Mitmenschen. Auffallend ist in V. 45 die Anlehnung an atl. Formulierungen: Die Einsetzung des Knechts erinnert an das Beispiel Josefs in Gen 39,4; Ps 105,21; der Finalsatz am Ende von V. 45 spielt auf Ps 104,27; 145,15 an und lässt somit Gottes Fürsorge als Vorbild menschlichen Verhaltens anklingen. Der Erzählzug, dass er als Anerkennung über die ganze Habe eingesetzt wird (V. 47), ist bildlicher Ausdruck für den Empfang des eschatologischen Heils. Als Kontrast dazu wird mit dem – von Matthäus anders als in Lk 12,45 48–49 (= Q) ausdrücklich als böse bezeichneten – Knecht das Problem aufgeworfen, dass die Erwartung der nahen Parusie bzw. überhaupt der Horizont des Gerichts aus dem Bewusstsein schwindet und dies zu einem liederlichen Verhalten führt (vgl. 2Petr 3,3f). Man wird kaum fehlgehen in der Annahme, dass es solche Tendenzen im mt Gemeindeumfeld gegeben hat; darüber, wie stark sie waren, kann man aber nur spekulieren. Im Gleichnis missbraucht der Knecht in dem Glauben, dass sein Herr längere Zeit abwesend sein wird, seine Stellung gegenüber den Mitsklaven: Statt Speise erhalten die Mitknechte Schläge, und die vorhandenen Güter werden nicht zur Versorgung aller geteilt, sondern für sich selbst in schwelgerischen Gelagen mit Betrunkenen verprasst. Sein Ende ist desaströs, denn 50–51 er wird vom Kommen seines Herrn böse überrascht werden. Die Doppelung „an einem Tag, an dem er es nicht erwartet, und zu einer Stunde, die

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er nicht kennt“ weist wieder auf V. 36 zurück (vgl. V. 42.44). Die Darlegung seiner grausamen Strafe (vgl. 1Sam 15,33; DanSus 55.59 LXX/TH ; VitProph 1,1; 3Bar 16,3; Hebr 11,37; Herodot, Hist 2,139 u. ö.) gleitet über in eine endgerichtliche Perspektive. Indem Matthäus ihm einen Platz unter den Heuchlern zuweist (dagegen Lk 12,46: Ungläubige), also einen in 23,13–29 stereotyp für die gegnerischen Pharisäer verwendeten Begriff (vgl. 15,7; 22,18) aufnimmt, macht er deutlich, dass Gemeindeglieder, die ethisch versagen, im Endgericht sogar mit den erbitterten Gegnern Jesu auf ein und dieselbe Stufe rücken. Die Bezeichnung passt aber insofern auch der Sache nach, als hier Bekenntnis (der Text richtet sich ja an Jünger) und Verhalten auseinandertreten (zum „Heulen und Zähneknirschen“ vgl. zu 8,12). V 6.2.2.3 Das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (25,1–13) 1 Dann wird das Himmelreich zehn Jungfrauen gleichen, die ihre Fackeln nahmen und hinausgingen, um dem Bräutigam zu begegnen: 2 Fünf aber von ihnen waren töricht und fünf klug. 3 Denn als die Törichten ihre Fackeln nahmen, nahmen sie kein Öl mit sich; 4 die Klugen aber nahmen Öl in den Gefäßen mit ihren Fackeln. 5 Als aber der Bräutigam sich Zeit ließ, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. 6 Mitten in der Nacht aber entstand ein Geschrei: ‚Siehe, der Bräutigam! Geht hinaus, zur Begegnung mit ihm!‘ 7 Da standen alle jene Jungfrauen auf und brachten ihre Fackeln in Ordnung. 8 Die Törichten aber sagten zu den Klugen: ‚Gebt uns von eurem Öl, denn unsere Fackeln erlöschen.‘ 9 Die Klugen aber antworteten und sagten: ‚Nein, es würde niemals für uns und euch reichen! Geht lieber hin zu den Händlern und kauft für euch selbst!‘ 10 Als sie aber weggingen, um zu kaufen, kam der Bräutigam, und die, die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit; und die Tür wurde verschlossen. 11 Später aber kommen auch die übrigen Jungfrauen und sagen: ‚Herr, Herr, öffne uns!‘ 12 Er aber antwortete und sagte: ‚Amen, ich sage euch, ich kenne euch nicht.‘ 13 Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht den Tag und nicht die Stunde. Das zum mt Sondergut gehörende Gleichnis von den zehn Jungfrauen lässt sich von der Einleitung in V. 1 und der Schlussmahnung in V. 13 abgesehen in drei Abschnitte untergliedern. V. 2–5 führt in die Begebenheit ein. Im zweiten Teil (V. 6–9) kommt das Problem der Törichten zum Vorschein. V. 10–12 führt die Konsequenz aus: Die Klugen gehen mit dem Bräutigam zur Hochzeit hinein, die Törichten werden nicht mehr eingelassen. Dass der Bräutigam der Parusiechristus ist, versteht sich im Lichte

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von 9,15; 22,1 und im Kontext der eschatologischen Rede von selbst; die Rolle der Braut bleibt wie in 22,1–14 unbesetzt. Mit der Aufteilung der Jungfrauen, die für die Gemeinschaft der Nachfolger Jesu stehen, in fünf kluge und fünf törichte in V. 2 wird gleich zu Beginn der Boden für den doppelten Ausgang der Erzählung bereitet, der für die Zuteilung von Heil und Unheil im Endgericht transparent ist und in den Himmelreichgleichnissen in 13,24–30.36–43 und 13,47–50 ebenso Analogien hat wie im unmittelbaren Kontext in 24,40 f.45–51; 25,14–30. Der Bezug auf Parusie und Endgericht wird noch dadurch untermauert, dass die klugen und törichten Jungfrauen im Gesamtkontext des Evangeliums dem klugen und törichten Hausbauer korrespondieren (7,24–27), wobei wiederum Männer und Frauen als Erzählfiguren einander ergänzen (vgl. 6,26.28; 24,40.41 und 8,5–13 + 15,21–28). Der Zusammenhang mit 7,24–27 wird zudem dadurch unterstrichen, dass die in der Gleichniseinleitung verwendete Verbform „wird gleichen“ (25,1) im Mt ansonsten nur noch in 7,24.26 vorkommt. Die Korrespondenz zu 7,24–27 deutet zugleich an, worum es bei dem vorausschauenden Verhalten der klugen Jungfrauen inhaltlich geht: Im Angesicht der Parusie kommt es darauf an, durch das Tun der Worte Jesu für die Parusie stets bereit zu sein. Dem Rückbezug auf 7,24–27 stehen Rückverweise in V. 11f auf 7,21–23 zur Seite: Die verdoppelte Anrufung „Herr, Herr“ (V. 11) durch die törichten Jungfrauen lässt an die einzigen weiteren Belege für diese Verdoppelung im Mt in 7,21.22 zurückdenken; die Replik des Bräutigams „ich kenne euch nicht“ erinnert an 7,23. Dieser Befund lässt sich schließlich auch redaktionskritisch untermauern: Das Motiv der verschlossenen Tür im Verbund mit der Bitte zu öffnen (V. 10f) begegnet auch in Q 13,25, und eben Q 13,25–27 ist auch in Mt 7,22f rezipiert. V. 1 ist als Ganzer nicht Teil der nachfolgenden Erzählung, sondern fun- 1 giert als eine Art Titel: Es geht um zehn Jungfrauen, die im Rahmen des feierlichen Hochzeitsrituals dem Bräutigam entgegengehen. Im Blick auf die Beleuchtung dürfte hier nicht an Öllampen gedacht sein, sondern an Gefäßfackeln, bei denen in Öl getränkte Lappen als Brennkörper dienten. Dafür spricht nicht nur die übliche Bedeutung des hier verwendeten griechischen Wortes (lampas), sondern auch der Umstand, dass Öllampen im Unterschied zu Fackeln keine geeignete Außenbeleuchtung darstellen. 2–5 Die Torheit der einen Hälfte der Frauen tritt damit pointiert zutage: Öl ist zwingend notwendig, wenn die Lappen die für den Fackelzug benötigte Zeit brennen sollen; die Törichten aber vergessen, neben den Fackeln auch ein Gefäß mit Öl mitzunehmen. Das Problem entsteht demnach nicht erst infolge der Verzögerung des Kommens des Bräutigams, weil in dieser Zeit vermeintlich die Öllampen weiter brennen und die Törichten kein Öl zum Nachfüllen haben. Vielmehr ist es umgekehrt so, dass gerade die Verzögerung des Bräutigams, die für die noch nicht eingetretene Wie-

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derkunft Jesu transparent ist, ihnen die Gelegenheit eröffnet, ihren Fehler noch rechtzeitig zu korrigieren, doch verschlafen sie diese Möglichkeit. Sie zeigen damit ein Maß an Torheit, das sich passend zur Torheit des Mannes in 7,26 fügt, der sein Haus auf Sand errichtet. Für die fünf klugen Frauen ist der (physische) Schlaf hingegen unbedenklich; sie sind angemessen auf das Kommen des Bräutigams vorbereitet. Wo die Frauen vom Schlaf überwältigt werden, wird nicht gesagt, also auch nicht, dass dies auf offener Straße geschieht. Ob es das Haus des Bräutigams oder das Elternhaus der Braut ist, wo der Bräutigam die Braut abholt, muss offenbleiben, denn aufgrund der Quellenlage ist eine Rekonstruktion des hier vorausgesetzten Hochzeitsrituals nicht mit hinreichender Plausibilität möglich. Die fünf törichten Jungfrauen bemerken ihren Fehler erst, als mitten in 6–9 der Nacht der Lärm auf der Straße das Kommen des Bräutigams ankündigt und sie ihre Fackeln, die erst jetzt angezündet werden, zurechtmachen. Dass die klugen Jungfrauen die Bitte der törichten zurückweisen, das mitgenommene Öl aufzuteilen, ist insofern verständlich, als der Fackelzug dem Bräutigam ansonsten alles andere als Ehre bereiten würde, da alle Fackeln vorzeitig verlöschen würden. Den Törichten bleibt daher nichts anderes übrig, als – mitten in der Nacht – zum Händler zu eilen, doch reicht die Zeit nun nicht mehr aus. Ihr Versuch, ihr törichtes Ver10–12 säumnis zu korrigieren, kommt zu spät: Der Bräutigam trifft in ihrer Abwesenheit ein, und während die Klugen, die bereit waren (vgl. 24,44), den Bräutigam in den Hochzeitssaal begleiten, stehen die Törichten vor verschlossener Tür und bitten – wie in 7,21–23 diejenigen, die in ihrer Lebenspraxis nicht dem göttlichen Willen entsprechen – vergeblich um Einlass. Ob sie das fehlende Öl haben besorgen können, spielt keine Rolle. Entscheidend ist allein, dass sie nicht bereit waren, als der Bräutigam eintraf. Analog zum Gleichnis vom Dieb in 24,44 mündet auch das Gleichnis 13 von den zehn Jungfrauen in V. 13 in eine Ermahnung ein. Der erneute Verweis auf die Unkenntnis von Tag und Stunde greift wieder auf 24,36 zurück (vgl. 24,42.44.50). Der Aufruf zur Wachsamkeit wiederholt die Eingangsmahnung zur Gleichnissequenz in 24,42, die in 24,44 variiert wurde. „Wachsamkeit“ (im übertragenen Sinn) fungiert hier nicht als Gegenbegriff zum Schlaf (im physischen Sinn) in V. 5 – es schlafen ja alle –, sondern zum nachlässigen, unaufmerksamen Verhalten der fünf törichten Frauen, die mit dem Öl das Notwendige vergaßen. Im Lichte des oben dargelegten Rückbezugs auf 7,21–27 kann man konkreter und positiv gewendet sagen: „Wachsamkeit“ besteht im Tun des Willens Gottes. Im Gleichnis kann man dies durch die Mitnahme des Öls symbolisiert finden. Die Törichten hingegen sind entsprechend diejenigen, die zwar Jesu Worte hören und ihn als Herrn bekennen, aber sich nicht entsprechend verhalten (vgl. 7,26f).

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Das Gefälle des Textes führt von dem fröhlichen Bild des Empfangs des 1–13 Bräutigams, an dem alle zehn Jungfrauen teilhaben sollen, zu der düsteren Aussage „ich kenne euch nicht“. Der Bogen führt damit von dem Heil, das Gott bereitet hat, zu menschlicher Torheit, die den Ausschluss vom Heil nach sich zieht. Der Ton liegt auf der Mahnung, es dazu nicht kommen zu lassen. V 6.2.2.4 Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (25,14–30) 14 Denn (es ist) wie ein Mensch, der, als er verreiste, seine Knechte rief und ihnen seine Habe übergab: 15 Und einem gab er fünf Talente, einem anderen zwei, einem anderen eins, einem jeden nach seiner eigenen Fähigkeit, und er verreiste. Sogleich 16 ging der, der die fünf Talente empfangen hatte, hin und handelte mit ihnen und gewann andere fünf hinzu. 17 Ebenso gewann auch der mit den zweien andere zwei hinzu. 18 Der aber das eine empfangen hatte, ging weg, grub die Erde auf und verbarg das Geld seines Herrn. 19 Nach langer Zeit aber kommt der Herr jener Knechte und hält Abrechnung mit ihnen. 20 Und es trat der, der die fünf Talente empfangen hatte, hinzu und brachte andere fünf Talente und sagte: ‚Herr, fünf Talente hast du mir übergeben; siehe, andere fünf Talente habe ich hinzugewonnen.‘ 21 Sein Herr sprach zu ihm: ‚Recht so, du guter und treuer Knecht! Über weniges warst du treu, über vieles werde ich dich setzen; geh hinein in die Freude deines Herrn!‘ 22 Es trat aber auch der mit den zwei Talenten hinzu und sagte: ‚Herr, zwei Talente hast du mir übergeben; siehe, andere zwei Talente habe ich hinzugewonnen.‘ 23 Sein Herr sprach zu ihm: ‚Recht so, du guter und treuer Knecht! Über weniges warst du treu, über vieles werde ich dich setzen; geh hinein in die Freude deines Herrn!‘ 24 Es trat aber auch der, der das eine Talent empfangen hatte, hinzu und sagte: ‚Herr, ich kannte dich, dass du ein harter Mensch bist: Du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast. 25 Und weil ich mich fürchtete, ging ich weg und verbarg dein Talent in der Erde. Siehe, da hast du das Deine.‘ 26 Sein Herr aber antwortete und sagte zu ihm: ‚Du böser und träger Knecht! Wusstest du, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe? 27 So hättest du nun mein Geld den Geldwechslern hinlegen müssen, und ich hätte, als ich kam, das Meine mit Zinsen zurückerhalten. 28 Nehmt ihm nun das Talent weg, und gebt es dem, der die zehn Talente hat! 29 Denn jedem, der hat, wird gegeben werden und überreich wird er gemacht werden; von dem aber, der nicht hat, wird auch, was er hat, weggenommen werden. 30 Und den nichtsnutzigen Knecht werft hinaus in die äußerste Finsternis; dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.‘

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Jesu Abrechnung mit seinen Gegnern und das Endgericht (21–25)

Trotz der insgesamt geringen Wortlautübereinstimmung zwischen Mt 25,14–30 und Lk 19,11–27 sprechen die Konvergenzen in der narrativen Grundstruktur und die Korrespondenz zwischen V. 24–29 und Lk 19,20–26 für die Annahme einer gemeinsamen Grundlage, was freilich nicht zwingend bedeutet, dass der Text der Logienquelle entstammt; es kann sich auch um geprägte mündliche Tradition handeln. Die Eröffnung in V. 14 erinnert an Mk 13,34: Matthäus hat das mk Kurzgleichnis zugunsten des Gleichnisses von den anvertrauten Talenten weggelassen. Der Text lässt sich grob in drei Abschnitte untergliedern: Nach der kurz gefassten Exposition in V. 14f, in der bündig die Ausgangslage benannt wird, folgt eine ebenso knappe Darlegung des Verhaltens der Knechte (V. 16–18). Der Ton liegt deutlich auf dem dritten Teil, auf der ausführlich erzählten, durch wörtliche Rede ausgeschmückten Abrechnung mit den Knechten (V. 19–30), die für das Endgericht transparent ist. Innerhalb von V. 19–30 wiederum liegt das Gewicht auf dem dritten Fall, denn im Vergleich zu den ersten beiden Knechten (V. 20 f.22f) nimmt die Abrechnung mit dem dritten deutlich mehr Raum ein (V. 24–30), so dass die Warnung vor einem negativen Ausgang des Gerichts als zentrales Anliegen des Textes erkennbar wird. Wenn das Gleichnis auf Jesus zurückgeht, war mit dem Herrn ursprüng14–15 lich Gott gemeint. Im mt Kontext ist aber evident, dass der Herr für Jesus steht und die Reise die Zeit seiner irdischen Abwesenheit symbolisiert. Mit den Knechten werden Optionen des Verhaltens der Jünger thematisiert. Die Übergabe der Habe lässt an die Beauftragung der Jünger zurückdenken, das Werk Jesu weiterzuführen (vgl. zu 9,36; 10,7). Bei Matthäus wird den drei Knechten unterschiedlich viel Vermögen anvertraut (anders Lk 19,13); die Zuteilung orientiert sich dabei an den jeweiligen Fähigkeiten. Auch dieses Moment lässt sich auf die Beauftragung der Jünger übertragen. Je nachdem, über welche Fähigkeiten ein Jünger verfügt, gestaltet sich seine Aufgabe im Dienst Jesu individuell aus. Als Analogie kann man auf Paulus’ Rede von der Vielfalt der Charismen in 1Kor 12 verweisen. Wie bei Paulus ist dabei auch im mt Kontext evident, dass die unterschiedlichen Fähigkeiten keine unterschiedlichen Wertigkeiten und somit keine Hierarchien begründen (vgl. 20,20–28; 23,8–12). Auffallend ist – insbesondere im Vergleich mit Lk 19,13 –, dass die anvertraute Geldmenge in allen Fällen sehr hoch ist; ein Talent entspricht sechstausend Denaren (ein Denar war ein üblicher Tageslohn, vgl. zu 20,2). Vielleicht wollte Matthäus damit andeuten, zu welch wertvollem Dienst die Jünger Jesu beauftragt sind. Ist das Gleichnis von Anfang an von der in ihm dargestellten „Sache“ 16–18 her zu lesen, so ist evident, dass als angemessene Reaktion der Knechte nur die Option besteht, mit den anvertrauten Talenten geschäftlich tätig zu werden (in Lk 19,13 erhalten die Knechte explizit einen solchen Auf-

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trag) – wie die Jünger ihrem Auftrag gemäß zu wirken haben. Zwei der Knechte handeln entsprechend. Dass sie zu dem anvertrauten Geld jeweils dieselbe Summe hinzugewinnen, ist ein beachtliches Resultat. Der dritte hingegen vergräbt das Geld. In der Erzählung wird damit eine Spannung aufgebaut, wie der Herr auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen reagieren wird. Dass der Herr erst nach längerer Zeit zurückkehrt, spiegelt die zur Zeit des Evangelisten bereits fortgeschrittene Phase der irdischen Abwesenheit Jesu, ist aber auch im Blick auf die Logik der Gleichniserzählung notwendig, da der Zugewinn der ersten beiden Knechte zweifelsohne eine gewisse Zeit braucht. Mit der Rückkehr des Herrn und der Abrechnung in V. 19–30 treten wieder Parusie und Endgericht ins Blickfeld. Matthäus arbeitet nun gezielt mit Wiederholungen, um das Gewicht dieses Teils zu markieren. Der Knecht mit den fünf Talenten verantwortet sich als erster. Die Worte, die Matthäus ihm in den Mund gelegt hat, wiederholen nur, was in V. 16 geschildert wurde. Die einleitende Anrede des Knechts in der Replik des Herrn erinnert an 24,45, nur ist jetzt statt von einem treuen und klugen Knecht von einem guten und treuen Knecht die Rede. Die Wiederaufnahme des Attributs „treu“ lässt anklingen, dass in der Übergabe der Talente eine Aufgabe impliziert war; der gute Knecht hat diese treu erfüllt. Das Lob, dass er über weniges treu war, klingt dabei angesichts der Höhe der ihm anvertrauten Geldsumme merkwürdig, doch wird gerade damit der unvergleichliche Wert der Belohnung sichtbar. Mit dem Schlusssatz in V. 21 gleitet das Gleichnis in einen direkten Verweis auf das eschatologische Heil über. Die Rede von der „Freude des Herrn“ passt gut zum Bild der Hochzeit im voranstehenden Gleichnis (25,1–13, vgl. 22,1–14) wie auch im weiteren Kontext zur Vorstellung des eschatologischen Festmahls mit den Erzvätern in 8,11. Mit Ausnahme der verkürzten Einleitung in V. 22 und der Höhe der Geldsumme wird V. 20f in V. 22f wörtlich wiederholt. Der zweite Knecht wird also genauso gewürdigt wie der erste; vor allem unterscheidet sich sein Lohn nicht von dem, der dem ersten Knecht zuteilwurde. Zuletzt tritt der dritte Knecht hinzu. In V. 18 wurde sein von den anderen beiden Knechten abweichendes Verhalten nur konstatiert, aber nicht erläutert. Letzteres erfolgt erst jetzt im Dialog zwischen ihm und seinem Herrn. Ob er des Erfolgs der anderen erst jetzt gewahr wird, bleibt offen. Jedenfalls sieht er sich unter Rechtfertigungsdruck, denn er händigt nicht bloß das eine Talent aus und benennt, was er damit gemacht hat, sondern er sucht sein Verhalten vorab zu erklären, und zwar in recht überraschender Weise, indem er seine Einschätzung seines Herrn als eines harten Menschen kundtut. Dieses Urteil leitet der Knecht daraus ab, dass sein Herr erntet, wo er nicht gesät hat. Die Applikation dieses „Wissens“ auf das, was der Knecht auf dieser Basis mindestens hätte tun müssen, in der

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Replik des Herrn in V. 26f macht deutlich, dass es hier nicht bloß um das Verhalten des Herrn gegenüber Dritten geht, sondern auch um die „Aussaat“ des Knechts und die Erwartung an ihn, mit dem anvertrauten Geld Erträge zu erwirtschaften. Dass der Herr diese Erträge „erntet“, ist allerdings sein gutes Recht. Man kann daher weitergehend fragen, ob hier ein Protest des Knechts gegen seinen Status mitzuhören ist. Denn das Wort vom Ernten, wo man nicht gesät hat, ist im Blick auf das Verhältnis von Herrn und Knecht schwerlich angemessen, weil hier Aussaat und Ausstreuen als ein vom Herrn unabhängiges Tun imaginiert wird; tatsächlich aber „erntet“ der Herr, was seine Knechte in seinem Auftrag mit seinen Mitteln gesät haben. Der entscheidende Fehler des Knechts ist nach V. 25 allerdings darin zu sehen, dass die ihm mit der Übergabe des Talents anvertraute Aufgabe angesichts des Bildes, das er sich von seinem Herrn gemacht hat, Furcht und damit Lähmung hervorruft: Da er sich unter Erfolgsdruck gesetzt sieht und, so ist zu ergänzen, für den Fall des Misserfolgs bittere Konsequenzen fürchtet, hat er aus Angst vor dem Scheitern das kleinere Übel gewählt und sich entschlossen, mit dem Geld besser gar nichts zu machen, sondern es nur sicher zu verwahren. In der Replik des Herrn in V. 26f fällt das negative Bild, das der Knecht von ihm gezeichnet hat, auf diesen selbst zurück: Wurden die ersten beiden Knechte jeweils mit „guter und treuer Knecht“ (V. 21.23) angesprochen, so weicht dies jetzt der Anrede „böser und träger Knecht“ (vgl. 24,48). Den auch in Lk 19,17.22 begegnenden moralischen Wertungsbegriffen „gut – böse“ (vgl. Mt 7,17f; 12,34f) steht hier das nur bei Matthäus begegnende Oppositionspaar „treu – träge“ zur Seite, in dem sich die Begriffe wechselseitig interpretieren: Die Trägheit bildet hier also den Gegensatz zur treuen Erfüllung der Aufgabe. Der Herr greift sodann in V. 26 das „Wissen“ des Knechts auf, um nachfolgend die Konsequenz aufzuweisen, die der Knecht aus seinem „Wissen“ hätte ziehen müssen: Das Mindeste wäre gewesen, dass er das Geld zu den Wechslern bringt, damit es wenigstens Zinsen abwirft (V. 27). Ist die Trägheit des dritten Knechts in seiner Furcht vor seinem Herrn begründet, so ist entsprechend – auf die Sachhälfte übertragen – der hier angesprochene kritische Punkt letztlich das Bild, das sich der in dem Knecht dargestellte Mensch von Jesus macht. Im Gleichnis ist in V. 26 keineswegs impliziert, dass der Herr seine Charakterisierung durch den Knecht in V. 24 für zutreffend erachtet; er zitiert diese lediglich als „Wissen“ des Knechts – und dies in Form einer Frage. Zu erinnern ist zum einen daran, dass das in V. 26 aufgenommene Bildwort nicht wirklich zum Verhältnis von Herrn und Knecht passt und schon deshalb als unangemessener Vorwurf bewertet werden kann. Zum anderen ist aus dem Gesamtkontext des Mt evident, dass jedenfalls das Urteil, das der Knecht aus der Beanspruchung der Ernteerträge durch den Herrn ableitet, im Blick auf

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Jesus für falsch zu erachten ist. Jesus ist kein harter Mensch. Ihn kennzeichnen vielmehr Sanftmut (11,29; 21,5), Demut (11,29) und Barmherzigkeit (9,36; 14,14 u. ö.), die sich in seiner Zuwendung zu Sündern manifestiert (9,2–13). Als ihr Herr fordert Jesus von seinen Jüngern zwar Einsatz in der ihnen zugewiesenen Aufgabe und er verlangt ein Leben nach dem, was er ihnen geboten hat (28,20). Aber als Herr der Jünger ist Jesus für Matthäus zugleich auch der Gottessohn, der den sinkenden Petrus rettet (14,28–33) und den Sturm stillt (8,23–27), der sein Leben „für die Vielen“ gelassen (20,28; 26,28) und seinen Jüngern sein Mit-Sein bei der Erfüllung ihrer Aufgabe zugesagt hat (28,20). Angst ist demnach unbegründet. Vielmehr sollte all dies Vertrauen stiften, um den Auftrag mit Zuversicht zu ergreifen. Trägheit jedenfalls, so schärft das Gleichnis ein, ist keine akzeptable Verhaltensoption; sie wird im Endgericht nicht ohne Konsequenz bleiben. Letzteres wird in V. 28–30 ausgeführt. Ohne dass dies wie in Lk 19,24 28–30 durch eine neue Redeeinleitung markiert wird, wendet sich der Herr nun von dem dritten Knecht ab und befiehlt nicht näher bezeichneten anderen, das Gericht zu vollziehen. Die durch das Logion in V. 29 illustrierte Übergabe des einen Talents an den ersten Knecht ist nach dessen Belohnung in V. 21 eigentlich unpassend. Der Ton liegt auf dem Überfluss, den der, der hat, empfängt. Der Vergleich mit Lk 19,26 unterstreicht dies, denn „und überreich wird er gemacht werden“ ist von Matthäus wie in 13,12 hinzugesetzt worden. Matthäus wollte offenbar herausstellen, dass der, der sich in der ihm anvertrauten Aufgabe abmüht, über alle Maßen belohnt wird (vgl. auch 19,29). Analog zur Belohnung der treuen Knechte in V. 21.23 gleitet auch die Darlegung der Bestrafung in eine direkte Darstellung des Endgerichts über (zu den Gerichtsmotiven vgl. 8,12). Im Vergleich zu 24,48–51 bedeutet 25,24–30 eine Verschärfung: Dort wurde der Knecht wegen seines frevelhaften Verhaltens bestraft; nun wird deutlich, dass schon das Unterlassen des positiv Geforderten genügt, um in die äußerste Finsternis hinausgestoßen zu werden. Zu fragen ist schließlich, ob es Bedeutung hat, dass ausgerechnet der dritte Knecht, dem – relativ betrachtet – der geringste Betrag anvertraut wurde, dessen Fähigkeit sein Herr also von vornherein am geringsten eingeschätzt hat, aus Angst versagt, oder ob dies als ein nicht beachtenswerter Zug der Erzählung zu werten ist. Wenn Ersteres der Fall ist, kann man darin Ermahnung wie Ermutigung sehen, dass auch die, die meinen, wenig beitragen zu können, nichtsdestotrotz (auf)gefordert sind, das Ihre beizusteuern (vgl. 1Kor 12,15f).

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V 6.3 Das Weltgericht (25,31–46) 31 Wenn aber der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. 32 Und alle Völker werden vor ihm versammelt werden, und er wird sie voneinander trennen, wie der Hirte die Schafe von den Zicklein trennt. 33 Und er wird die Schafe zu seiner Rechten stellen, die Zicklein aber zur Linken. 34 Dann wird der König zu denen zu seiner Rechten sagen: ‚Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, erbt das Reich, das euch von der Grundlegung der Welt an bereitet ist! 35 Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen; 36 nackt, und ihr habt mich bekleidet; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.‘ 37 Dann werden die Gerechten ihm antworten und sagen: ‚Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dich gespeist oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? 38 Wann aber haben wir dich als Fremden gesehen und dich aufgenommen oder nackt und haben (dich) bekleidet? 39 Wann aber haben wir dich krank gesehen oder im Gefängnis und sind zu dir gekommen?‘ 40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: ‚Amen, ich sage euch, was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan.‘ 41 Dann wird er auch zu denen zur Linken sagen: ‚Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist! 42 Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben; 43 ich war fremd, und ihr habt mich nicht aufgenommen; nackt, und ihr habt mich nicht bekleidet; krank und im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht.‘ 44 Dann werden auch sie antworten und sagen: ‚Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht gedient?‘ 45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: ‚Amen, ich sage euch, was ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, habt ihr auch mir nicht getan.‘ 46 Und diese werden weggehen zur ewigen Strafe, die Gerechten aber in das ewige Leben.“ Mit der dem mt Sondergut zuzurechnenden Darstellung des Endgerichts in 25,31–46 wird der durch die ausführliche Unterweisung in 24,32–25,30 unterbrochene Faden der Darlegung der Endereignisse aufgenommen und zum Zielpunkt geführt: Sprach 24,30 vom Kommen des Menschensohnes in Herrlichkeit (vgl. 16,27), so nimmt er nun auf dem Thron seiner Herrlichkeit Platz (vgl. 19,28, ferner 1Hen 55,3; 66,2.5 u. ö.), um das Gericht zu vollziehen. Der eröffnende Abschnitt in V. 31–33 stellt in rudimentärer Weise das Gerichtshandeln des Menschensohnes dar: Er teilt die vor ihm

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versammelten Menschen in zwei Gruppen. In V. 34–40.41–45 folgen parallel gebaute Dialoge, zunächst mit den ins Heil Eingehenden, dann mit den Verurteilten: Der Urteilsspruch (V. 34.41) wird jeweils damit begründet, was die Angeredeten dem Menschensohn getan oder nicht getan haben (V. 35 f.42f); es folgen in beiden Fällen eine erstaunte Rückfrage (V. 37–39.44) und die Auflösung des „Rätsels“ durch die Inbeziehungsetzung des Richters mit den Geringsten (V. 40.45). Letzteres ist die Pointe des Textes. Die knappe Schlussnotiz in V. 46 erzählt den Vollzug des Urteils. Die beiden Gesprächsgänge bilden deutlich das Zentrum und den Hauptpunkt des Textes. Schließt V. 31–46 an 24,29–31 an, so ist hier zugleich im Blick auf die 31–33 zugrunde liegende Gerichtskonzeption eine Spannung zu konstatieren. In 24,29–31 wurden die Auserwählten gesammelt, hier ist also schon eine Scheidung vollzogen worden; in 25,31–46 aber werden alle Völker vor dem Menschensohn versammelt, und dieser ist es, der die Scheidung der Menschen in die Gruppen der Gerechten und der Verworfenen vollzieht. Das direkte Nebeneinander unterschiedlicher Gerichtsvorstellungen ist allerdings keine mt Besonderheit, sondern frühjüdisch verbreitet (s. z. B. 1Hen 92–104). Im Mt selbst ist noch hinzuzuziehen, dass die Engel in 13,41 nicht wie in 24,31 die Auserwählten sammeln, sondern umgekehrt alle, die Anstoß geben und Gesetzloses tun, zusammenlesen. Immerhin dürfte 25,31–46 zu entnehmen sein, dass die hier zugrunde liegende Vorstellung eines universalen Beurteilungsgerichts mit doppeltem Ausgang (vgl. Sib 4,181–191; TestAbr A 12–14) – im Unterschied zu der „einseitigen“ Vorstellung eines reinen Strafgerichts, das ebenfalls mit einem Rechtsverfahren verbunden sein kann (z. B. 1Hen 62) – Matthäus’ Leitkonzeption gewesen zu sein scheint. Denn sie spiegelt sich auch in der von ihm in 16,27 angefügten Gerichtsaussage, dass der Menschensohn einem jeden nach seinem Handeln vergelten wird. Die Trennung der Versammelten in zwei Gruppen wird durch einen Vergleich mit der Tätigkeit eines Hirten illustriert. Hintergrund ist, dass junge Ziegenböcke aus der aus Schafen und Ziegen bestehenden Kleinviehherde ausgesondert wurden, um anschließend geschlachtet zu werden. Dem entspricht, dass die Zicklein zur Linken gestellt werden und für die Verfluchten stehen, die am Ende „in das ewige Feuer“ bzw. „zur ewigen Strafe“ weggehen müssen (V. 41.46). Von entscheidender Bedeutung für die Gesamtinterpretation ist, wer 32.40.45 mit der Wendung „alle Völker“ (V. 32) gemeint ist und für wen „die geringsten Brüder“ (V. 40) bzw. „die Geringsten“ (V. 45) stehen. Bei der Wendung „alle Völker“ stellt sich nicht nur die Frage, ob Israel eingeschlossen ist oder nur die Heiden gemeint sind (dann müsste man das Israel betreffende Gericht in 19,28 abgehandelt sehen), sondern auch, ob im ersten Fall neben Israel auch die Christen inkludiert sind; „alle Völker“

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würde dann universal „alle Menschen“ bedeuten. Eine andere Deutung von „alle Völker“ würde sich ergeben, wenn unter den geringsten Brüdern nicht allgemein notleidende Menschen zu verstehen wären, sondern, wie in der neueren Matthäusforschung häufig angenommen wird, allein (notleidende) Christen oder – noch spezieller – Wandermissionare. In diesem Fall würde in 25,31–46 als Gerichtskriterium für die Völker (= die nichtchristusgläubige Menschheit) vorgebracht, wie sie sich den Christen bzw. insbesondere den christlichen Missionaren gegenüber verhalten haben. Für diese Deutung kann man geltend machen, dass Jesus die Jünger in 12,48–50; 28,10 als seine Brüder bezeichnet und der Bruderbegriff ferner in 18,15.21.35; 23,8 innerekklesial auf die Nachfolger Jesu bezogen wird (vgl. auch 5,47). Dem steht zur Seite, dass die Identifizierung Jesu mit den „geringsten (Brüdern)“ in V. 40.45 im mt Kontext eine enge Verwandte in 10,40–42 hat, wo es um die Jünger geht. Auf der anderen Seite hat 10,40–42 ein Pendant in 18,5, wo die Rede von der Aufnahme eines Kindes nicht auf „christliche“ Kinder eingrenzbar ist. Zudem begegnet in 5,22–24; 7,3–5 ein weiter gefasster Bruderbegriff, bei dem in ethisch motivierender Absicht potentiell jeder Mitmensch als ein geschwisterlich Nahestehender imaginiert wird. Ferner haben die engsten Parallelen zur Argumentationsfigur in V. 40.45 in Spr 14,31; 19,17; 2Hen 44,1f (Näheres dazu unten) allgemein die Bedürftigen im Blick. Und schließlich ist kontextuell zu bedenken, dass man nach der Wachsamkeitsparänese in 24,32–25,30 eine (zumindest auch) die Jünger betreffende Gerichtsparänese erwarten kann, während ein Trosttext für (bedrängte) Jünger die paränetische Stoßrichtung der vorangehenden Perikopen unterlaufen würde. Es ist daher einer – die Christen einschließenden – Interpretation von „alle Völker“ im Sinne der ganzen Menschheit und einer Deutung der „geringsten Brüder“ im Sinne aller notleidenden Menschen der Vorzug zu geben. Die Wendung „alle Völker“ dient hier dazu, analog zum universalen, nämlich den ganzen bewohnten Erdkreis umfassenden Horizont der Verkündigung in 24,14 die Universalität des Gerichts anzuzeigen. So entspricht es auch dem Querbezug auf 16,27, wonach der Menschensohn, wenn er in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln kommt (vgl. 25,31), jedem nach seinem Handeln vergelten wird. Umgekehrt formuliert: 25,31–46 entfaltet, was in 16,27 angekündigt wurde. Zur Präzisierung ist noch anzufügen, dass die Notleidenden in der Rede von „allen Völkern“ nicht grundsätzlich auszuschließen sind, denn die Bedürftigen bilden keine statisch definierte Gruppe, und es ist nicht ausgeschlossen, dass Menschen, die in einer Hinsicht bzw. in einer bestimmten Lebenssituation bedürftig sind, in anderer Hinsicht oder einer anderen Lebenssituation zu denen gehören, die Hilfe leisten können. 25,31–46 entwirft also als Gerichtsszenarium, dass alle Menschen danach beurteilt werden, wie sie sich in Situationen, in denen sie dazu in der Lage waren, Hilfe zu

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leisten, denen gegenüber verhalten haben, die sich in einer Notsituation befanden. Da die eschatologische Rede Jüngerbelehrung ist (24,3) und ohnehin Christen die (primären) Adressaten des Mt sind, geht es dabei insbesondere darum, ihnen einzuschärfen, dass im Gericht die Lebenspraxis entscheidend ist (vgl. 7,13–27). Das Moment, dass schon das Unterlassen guter Taten zur Verurteilung führt (vgl. Lk 16,19–31; Jak 2,13), liegt dabei ganz auf der Linie des in V. 14–30 vorangehenden Gleichnisses. Neu ist gegenüber der vorangehenden Wachsamkeitsparänese die inhaltliche Konkretion des Gerichtsmaßstabs. Dass hier die Zuwendung zu den Bedürftigen zu dem Kriterium erklärt wird, korrespondiert der vorangehenden Hervorhebung von Nächstenliebe und Barmherzigkeit als Zentrum des Gotteswillens (5,43–48; 12,7; 19,19; 22,34–40; 23,23). Traditionsgeschichtlich bewegt sich Matthäus mit dieser Hervorhebung der Barmherzigkeitstaten ganz auf der Linie atl.-frühjüdischer Ethik (vgl. z. B. Ijob 22,5–10; Jes 58,5–10; TestSeb 6,1–7,4; 2Hen 9,1; MidrPss zu Ps 118,17). Die Auflistung der Hungernden, Dürstenden, Fremden, ohne (adäquate) Kleidung Dastehenden, Kranken und Gefangenen ist exemplarisch, nicht erschöpfend zu verstehen. Überall, wo Menschen bedürftig und in Not sind, sind Nächstenliebe und Barmherzigkeit gefordert; entsprechend ist die Liste der Barmherzigkeitstaten je nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu reformulieren. Vergleicht man die Gesprächsgänge in V. 34–40.41–45, fallen im Detail instruktive Unterschiede auf. Nur bei der Gruppe der Gerechten wird in beiden Einleitungen zur Rede des Menschensohnes dessen Bezeichnung als König aufgenommen (V. 34.40). Die Gerechten heißen in V. 34 die Gesegneten des Vaters (V. 34), während das Genitivattribut bei den Verfluchten (V. 41) fehlt. Während das Heilsgut des Gottesreiches (vgl. 5,3.10.20 u. ö.) den Gerechten bereitet ist, und zwar von Anbeginn der Welt an (V. 34), fehlt in V. 41 nicht nur ein Pendant zu „von Anbeginn der Welt an“, sondern das ewige Feuer ist eigentlich nicht für Menschen bereitet, sondern für den Teufel (vgl. Offb 20,10) und dessen Engel. Der Akzent liegt damit theologisch auf Gottes Heilswillen. Zugleich ist damit insinuiert, dass die Menschen, die entgegen dem Heilswillen Gottes in das ewige Feuer eingehen, sich vom Teufel in ihrer Lebenspraxis haben bestimmen lassen. Die Begründungen in V. 35 f.42f unterscheiden sich – von der durchgehenden Verneinung in V. 42f abgesehen – nur darin, dass in V. 43 das fünfte und sechste Glied der Reihe zusammengezogen sind, wie dies ähnlich bereits zuvor in der Rückfrage der Gerechten in V. 37–39 der Fall war. Größer ist der Unterschied zwischen den beiden Rückfragen. Denn während V. 37–39 mit dem dreifachen Vorkommen der Frage „Wann haben wir dich gesehen …?“ dreimal zwei Glieder bildet (mit einem bei der Darlegung der Hilfe verkürzten dritten Glied, s. o.), werden in V. 44 alle sechs

34–45

34.41

35–36. 42–43 37–39.44

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Fälle in einer Frage zusammengezogen und die Hilfeleistungen in dem Verb „dienen (diakonein)“ gebündelt und auf einen Nenner gebracht: Es geht um „diakonisches“ Handeln am Nächsten. Die vierfache und damit auffallend betonte Auflistung der Notsituationen, die in einem deutlichen Kontrast zur Knappheit der szenischen Angaben im Anfangs- und Schlussrahmen (V. 31–33.46) steht, reflektiert das paränetische Anliegen, die Taten der Barmherzigkeit einzuschärfen, was im Übrigen ebenfalls deutlich gegen die Eingrenzung der „geringsten Brüder“ auf Jesusnachfolger oder gar allein auf die Wandermissionare unter ihnen spricht. Das Anliegen, die Werke der Barmherzigkeit einzuschärfen, erfährt 40.45 dadurch in Mt 25 eine Zuspitzung, dass das Handeln an Bedürftigen als ein dem Weltenrichter selbst zuteilgewordenes Tun gewertet wird (V. 40). Diese Pointe des Textes variiert einen Gedanken, der auch anderorts im biblischen Traditionsraum begegnet: „Wer den Geringen bedrückt, schmäht dessen Schöpfer, ihn ehrt, wer Erbarmen hat mit dem Bedürftigen“ (Spr 14,31, vgl. 19,17). In 2Hen 44,1f ist der Gedanke, dass die Verachtung eines Menschen Verachtung Gottes bedeutet, mit der anthropologischen Vorstellung vom Menschen als Ebenbild Gottes aus Gen 1,26f verbunden: Weil der Mensch Ebenbild Gottes ist, gilt das, was einem Menschen angetan wird, als Gott angetan. In Mt 25 ist diese anthropologischschöpfungstheologisch orientierte Argumentation zu einer christologisch ausgerichteten Analogie transformiert: Das, was dem Bedürftigen getan wird oder versagt bleibt, gilt als gleichzeitig dem Menschensohnrichter Jesus getan oder nicht getan. Es ist hier schwerlich von einer (mystischen) Identifikation Jesu mit den Bedürftigen die Rede, wohl aber von einer engen Solidargemeinschaft (vgl. Brandenburger, Taten, 315). Die Bezeichnung des Menschensohnrichters als König (V. 34.40) gewinnt in diesem Kontext Profil: Der König und die Niedrigsten werden hier so in Beziehung zueinander gesetzt, dass die Bedürftigen durch die Solidarität des Königs mit ihnen geadelt und durch diese Wirklichkeitsdeutung in einen neuen Status gehoben werden. Ihre Bezeichnung als „Brüder“ Jesu fügt sich hier ein. Im biblischen Kontext ist hier mitzuhören, dass die Wahrung des Rechts der Armen zu den hervorragenden Aufgaben des Königs gehört (vgl. Ps 72). Vor allem aber ist im Gesamtkontext des Mt daran zu erinnern, dass der königliche Messias Jesus in seinem irdischen Wirken die barmherzige Zuwendung zu den Menschen ins Zentrum gestellt hat (9,13.27.36 u. ö.), unter anderem auch im Zusammenhang der Speisung von Hungrigen (15,32, vgl. 12,1–8). Als Richter urteilt er nach dem Kriterium, das er selbst vorgelebt hat. Aus dem erzählerischen Motiv, dass die Gerechten sich unwissend zei38–39.44 gen, dass sie Jesus selbst gedient haben, ist zuweilen die „Reinheit“ ihrer Motivation abgeleitet worden. Sie tun das Gute um seiner selbst willen; ihre Hilfe für die Bedürftigen ist nicht durch Nebenzwecke „kontaminiert“,

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d. h. sie schielen nicht auf himmlischen Lohn und haben tatsächlich die Bedürftigen selbst im Blick. Die erzählte Welt ist aber nicht mit der Kommunikationsebene des Evangelisten zu verwechseln. Das Unwissenheitsmotiv ist ein literarisches Mittel, um die Pointe in V. 40.45 zu untermauern. Den Adressaten des Mt wird durch den Text hingegen gerade eingeschärft, dass die von ihnen geforderten Werke der Barmherzigkeit „Dienst“ an Christus sind. Der Verweis auf die Solidarität Christi, des Königs, mit den Notleidenden macht dabei deutlich, dass es bei der „Diakonie“ nicht um ein Adiaphoron des Christseins geht, das auch fehlen könnte, sondern sich hier entscheidet, ob ein Mensch Christus tatsächlich „dient“ oder nicht – der Rekurs auf Mt 25,31–46 als Grundtext der Diakonie besteht daher zu Recht. In 25,34.40 redet Jesus indirekt von sich selbst als König, so wie er in 23,10 (und 24,5) von sich als dem Christus gesprochen hat. In der nun folgenden Passionsgeschichte wird sein Königtum erneut zum Thema (27,11.29.37.42) und zum Gegenstand des Spotts werden. Liest man die Texte im Zusammenhang, so unterstreicht die Verwendung des Königstitels in 25,34.40, dass die, die Jesus verspotten und hinrichten (lassen), den verspotten, der ihr Richter sein wird.

396 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20)

VI Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger zur universalen Mission (26,1–28,20) Wie es den Ankündigungen in 16,21; 17,22f; 20,18f entspricht, bilden Passion und Auferweckung eine zusammenhängende Erzähleinheit. Die Verknüpfung von Karfreitag und Ostern ist dabei in der mt Komposition durch die Erweiterung der Erzählung vom leeren Grab um 27,62–66; 28,11–15 noch verstärkt. Im Blick auf die Strukturierung der Komposition muss man sich darauf beschränken, einzelne Perikopen, wie dies im Folgenden durchgeführt ist, zu Untereinheiten zusammenzufassen, ohne dass sich ein durchlaufendes gleichförmiges Kompositionsschema ergibt (vorgeschlagen wurde z. B. eine Gliederung in die drei Hauptteile 26,1–56; 26,57–27,54; 27,55–28,20 mit je drei Unterabschnitten). In christologischer Hinsicht ist vorab das Bestreben des Evangelisten hervorzuheben, Jesus auch in der Passion als den eigentlichen Handlungssouverän darzustellen (s. v. a. zu 26,2.52–54, aber auch zu 27,39–44). Die Vorverweise Jesu auf Kommendes (26,2.11f.21–25.32 f.34.45f), die sein wundersames Wissen um das Kommende dokumentieren (vgl. 11,27), gewinnen im Mt in diesem Kontext an Profil. Charakteristisch ist für Matthäus ferner, dass Jesu Gottessohnschaft als christologisch bestimmendes Motiv hervortritt (s. zu 26,53.63f; 27,40.43.54; 28,16–20). Der Fokus liegt dabei darauf, die Hoheit des an göttlicher Macht partizipierenden Gottessohnes (vgl. zu 14,33; 16,16) mit seinem irdischen Ergehen, dem schmachvollen Tod am Kreuz, zu vermitteln. Leitende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Gehorsamsmotiv zu: Jesus ist der leidende Gerechte (vgl. 27,19), der in seinem Gehorsam gegen Gottes Willen (vgl. 26,39.42) „für die Vielen“ den Tod „zur Vergebung der Sünden“ (26,28) auf sich nimmt. Charakteristisch für Mt 26–28 ist ferner, dass Matthäus die Skrupellosigkeit der jüdischen Autoritäten – z. B. durch die Einfügung von 27,3–10 sowie 27,62–66; 28,11–15, aber auch etwa durch die Bearbeitung der Darstellung des Prozesses in 26,59–66 – betont hat. Die Schuld am Tod Jesu wird der jüdischen Seite zugeschoben, genauer: den Autoritäten und der von ihnen verführten Bevölkerung Jerusalems (s. zu 27,25). Matthäus hat die Konfliktthematik zudem – in Korrespondenz dazu, dass er sie mit dem Prolog „nach vorn“ ausgebaut hat (Mt 2) – durch 27,62–66; 28,11–15 auch nachösterlich verlängert und explizit bis in die eigene Gegenwart ausgedehnt (28,15).

Einleitung (26,1–16)

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Als einzige schriftliche Quelle lässt sich Mk 14,1–16,8 erkennen, doch verweisen an verschiedenen Stellen Übereinstimmungen von Mt mit Lk oder mit Joh auf den Einfluss mündlicher Überlieferung (s. zu 26,47–56.67f.69–75; 27,57–61). Mündliche Tradition dürfte zudem die Basis für die größeren mt Erweiterungen des mk Erzählfadens in 27,3–10; 27,62–66; 28,11–15 sowie für die Ostererzählungen in 28,9f.16–20 bilden, doch ist mit Ausgestaltung der Überlieferung durch den Evangelisten (und seinen Kreis) zu rechnen. Letzteres gilt nicht weniger für die kleineren Erweiterungen wie z. B. 26,1f.25; 27,19.24f.51b–53; 28,2–4, von denen einige möglicherweise gänzlich der Feder des Evangelisten entstammen.

VI 1 Einleitung (26,1–16) 26,1–16 bildet eine Art Einleitung zur Passionsgeschichte. In V. 1–5 stehen sich Jesu Ankündigung (V. 1f) und der Plan der Autoritäten (V. 3–5) wie die beiden Seiten eines Diptychons gegenüber. Zudem wird mit der Salbung Jesu (V. 6–13) und der Anbahnung des Verrats durch Judas (V. 14–16) das Kommende vorbereitet. V. 2 gibt zwar einen chronologischen Hinweis, doch fehlt in den Episoden in V. 6–13 und V. 14–16 eine chronologische Fixierung, wie sie ab V. 17 für die Passionsgeschichte charakteristisch ist. VI 1.1 Jesu Ankündigung seines Todes und der Todesbeschluss der Gegner (26,1–5) 1 Und es geschah, als Jesus alle diese Worte beendet hatte, sagte er zu seinen Jüngern: 2 „Ihr wisst, dass nach zwei Tagen das Passa sein wird, und der Menschensohn wird ausgeliefert, um gekreuzigt zu werden.“ 3 Da versammelten sich die Hohepriester und die Ältesten des Volkes in dem Palast des Hohepriesters, der Kajafas hieß, 4 und sie beschlossen gemeinsam, Jesus mit List zu ergreifen und zu töten. 5 Sie sagten aber: „Nicht am Fest, damit nicht ein Tumult im Volk entstehe.“ Mit der üblichen Überleitungswendung „und es geschah, als Jesus … be- 1–2 endet hatte“ gestaltet Matthäus den Übergang von der eschatologischen Rede zur Passionserzählung, nur wird in V. 1, der Situation entsprechend, mit dem Objekt „alle diese Worte“ angezeigt, dass nun Jesu Lehre überhaupt zum Abschluss gekommen ist. Mitzuhören ist hier eine Anspielung auf Dtn 31,1 LXX (vgl. auch Dtn 31,24; 32,45), mit der Matthäus das biblische Kolorit, in das er seine Jesuserzählung gefärbt hat, zu verstärken

398 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) sucht. Eine Besonderheit der Eröffnung der mt Passionsgeschichte ist sodann, dass Matthäus Jesus in V. 2, noch bevor die jüdischen Autoritäten zusammentreten und einen entsprechenden Beschluss fassen, erneut seinen Tod ankündigen lässt. Wie in 20,19 ist nun präzise vom „kreuzigen“ – statt unspezifisch vom „töten“ (16,21; 17,23) – die Rede; ferner tritt nun mit dem unmittelbar bevorstehenden Passafest eine Zeitbestimmung hinzu. Schließlich fehlt – anders als in 16,21; 17,22f; 20,17–19 – der abschließende Hinweis auf die Auferweckung, so dass pointiert der Kontrast zur unmittelbar vorangehenden Rede vom Kommen des Menschensohnes „in seiner Herrlichkeit“ (25,31) zutage tritt. Zugleich bildet diese aber auch – im Verbund mit den vorangehenden Auferweckungsaussagen – das Vorzeichen vor 26,2: Der Menschensohn, der nun ausgeliefert werden wird, um gekreuzigt zu werden, ist eben der, der am Ende der Welt die Menschheit richten wird. Im Kontext von 26,1–5 steht die Konzentration der Ankündigung in V. 2 auf Auslieferung und Kreuzigung in Korrespondenz zum nachfolgenden Plan der Autoritäten (V. 4: ergreifen und töten). Die Einfügung von V. 2 spiegelt damit exemplarisch eine Gesamttendenz der mt Passionsgeschichte: Matthäus stellt die Hoheit Jesu heraus; er weiß im Voraus, was passieren wird; er hätte, rein theoretisch, sogar die Macht, sich dem Leiden zu entziehen (26,52–54), doch nimmt er dieses im Gehorsam gegen den (Heils-)Willen Gottes (26,39.42) auf sich. Die Kehrseite davon ist, dass auch jetzt die Autoritäten nur scheinbar das Heft des Handelns in die Hand nehmen. Matthäus hat die in Mk 14,1f vorgefundene Beratschlagung der Hohe3–5 priester und Schriftgelehrten zu einer formellen Zusammenkunft, und zwar der Hohepriester und Ältesten des Volkes, also des Hohen Rates (vgl. Joh 11,47–53), variiert. Der im Mk fehlende Name des amtierenden Hohepriesters, Kajafas (vgl. Joh 11,49; 18,13 f.24.28), ist hier wie in 26,57 von Matthäus hinzugesetzt. In der Passionsgeschichte treten die Hohepriester und die Ältesten, die Matthäus erstmals zu Beginn des Zyklus der Auseinandersetzungen zwischen Jesus und den Autoritäten in 21,23–22,46 gemeinsam hat auftreten lassen (21,23), durchgehend als die Gegner Jesu in Erscheinung. In 21,45f wurden die Autoritäten durch die hohe Meinung über Jesus im Volk davon abgehalten, ihn zu ergreifen. Nachdem ihr daraufhin gestarteter Versuch, „ihn bei einem Ausspruch zu fangen“ (22,15), kläglich fehlgeschlagen ist (22,15–46), bleibt ihnen nur, es „mit List“ (im Sinne von Betrug, Ränke) zu versuchen. „Mit List“ dürfte dabei auf beide nachfolgenden Verben zu beziehen und V. 4b in diesem Sinn als Obersatz für das Weitere zu lesen sein: Das Ergreifen Jesu „mit List“ gewinnt durch das Angebot des Judas Gestalt (V. 14–16); das Vorhaben der Tötung Jesu „mit List“ weist auf das Verhalten des Hohen Rates im Prozess gegen Jesus und bei der Verurteilung durch Pilatus voraus (26,59–66; 27,11–26). Als Ort des Beschlusses nennt Matthäus ausdrücklich den Pa-

Einleitung (26,1–16)

399

last des Hohepriesters (V. 3), wodurch der Zusammenhang zwischen dem Beschluss in V. 4 und dem Vorgehen beim Prozess (vgl. 26,57f) auch räumlich unterstrichen wird. Die Sympathie für Jesus im Volk (21,46) hindert die Autoritäten nun also nicht mehr, bestimmt aber das beabsichtigte Vorgehen: Der Zeitpunkt des Festes ist angesichts des Zuspruchs, den Jesus zuvor bei den – zum Fest nach Jerusalem gekommenen – Volksmengen gefunden hat, zu meiden, damit diese keinen Aufruhr veranstalten. Noch einmal tritt der Gegensatz zwischen dem (einfachen) Volk und der Führungsschicht hervor. Die Bezeichnung der Ältesten als „Älteste des Volkes“ in V. 3 (vgl. 21,23; 26,47; 27,1) entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie. Das Bestreben, das Fest als Zeitpunkt für das Vorgehen gegen Jesus zu meiden, wird allerdings genauso scheitern wie ihr Anliegen, einen Tumult zu verhindern. Vielmehr wird Jesus, wie er dies in V. 2 angekündigt hat, am Fest gekreuzigt werden, und die Autoritäten müssen – wiederum ironischerweise – selbst einen Tumult im Volk anstacheln (27,20.24), um ihr Ziel vor Pilatus zu erreichen. Das Geschehen liegt nicht in ihrer Hand. VI 1.2 Die Salbung Jesu in Betanien (26,6–13) 6 Als aber Jesus in Betanien war, im Hause Simons, des Aussätzigen, 7 trat eine Frau zu ihm, die ein Alabastergefäß mit sehr kostbarem Salböl hatte. Und sie goss es aus auf sein Haupt, als er zu Tische lag. 8 Als aber die Jünger (das) sahen, wurden sie unwillig und sagten: „Wozu diese Vergeudung? 9 Denn dies hätte teuer verkauft und (der Erlös) den Armen gegeben werden können.“ 10 Als aber Jesus (es) erkannte, sagte er zu ihnen: „Was bereitet ihr der Frau Mühe? Sie hat nämlich ein gutes Werk an mir getan. 11 Denn die Armen habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit. 12 Denn als sie dieses Salböl auf meinen Leib goss, tat sie es zu meinem Begräbnis. 13 Amen, ich sage euch: Wo immer dieses Evangelium verkündigt werden wird in der ganzen Welt, wird auch von dem geredet werden, was diese getan hat, zu ihrem Gedächtnis.“ Matthäus’ Version von der Salbung Jesu folgt in ihren Grundzügen Mk 14,3–9, doch hat Matthäus, von rein sprachlichen Änderungen und seiner üblichen Tendenz zur Straffung abgesehen, an einigen Stellen auch inhaltlich relevante Änderungen vorgenommen. Nach der auf dem Ölberg 6–7 lokalisierten Rede in 24,3–25,46 und der Ankündigung seines Todes in 26,1f ist Jesus nach Betanien zurückgekehrt (vgl. 21,17). Auch die lk Variante (Lk 7,36–50) spielt während eines Mahls im Hause eines Simon – dies scheint zum Urgestein der Überlieferung zu gehören –, nur ist jener

400 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) Simon bei Lukas ein Pharisäer (7,39f), bei Markus und Matthäus hingegen ein (ehemaliger) Aussätziger (V. 6 par Mk 14,3). Die Salbung selbst wird von Matthäus in V. 7 nur knapp und ohne jedes ausmalende Detail geschildert. Im Zentrum steht ihre Bedeutung, die im Dialog Jesu mit seinen Jüngern in V. 8–13 entfaltet wird. Allerdings genügen die wenigen Worte in V. 7, um den außergewöhnlichen Charakter des Geschehens zutage treten zu lassen: Jesus wird nicht bloß mit ein wenig Öl gesalbt, sondern die Frau gießt ein ganzes Gefäß von sehr kostbarem Öl auf sein Haupt. Warum sie dies tut, etwa ob hier im Anschluss an seinen Einzug in Jerusalem in 21,1–9 Jesus als (messianischer) König gesalbt werden soll (vgl. 1Sam 10,1; 24,7.11; 1Kön 1,39; 2Kön 9,12 u. ö.), sagt sie nicht; die Frau kommt nirgends im Text selbst zu Wort. Gedeutet wird das Geschehen allein durch Jesus in seiner Reaktion auf den Protest seiner Jünger. Das Unbehagen der Jünger – nicht bloß „einiger“ wie in Mk 14,4 – ist 8–9 durchaus nachvollziehbar, denn ihr Einwand basiert auf ihrer Einsicht in den Willen Gottes, wie Jesus selbst ihn gelehrt hat: Im Zentrum steht die Zuwendung zum bedürftigen Nächsten. Die Tat der Frau ist daher in ihren Augen eine ethisch fragwürdige Verschwendung. Den in Mk 14,5 angegebenen Wert des Öls in Höhe von mehr als 300 Denaren (ein Denar entspricht dem Tageslohn eines Arbeiters [ ! ], vgl. zu 20,2) hat Matthäus zugunsten einer unpräziseren Angabe („teuer“ bzw. „für viel“) gestrichen, vielleicht um den Anstoß ein wenig zu mildern. Jesus nimmt die – anonym bleibende – Frau gegenüber den aufgebrach10–12 ten Jüngern in Schutz. Der Wertung der Salbung als Vergeudung stellt er ihre Deutung als ein an ihm getanes „gutes Werk“ entgegen. Die in V. 11f folgende Begründung stellt die Grundhaltung der Jünger im Blick auf die diakonische Verwendung von Besitz in keiner Weise in Frage. Den in dieser Hinsicht missverständlichen Kommentar des mk Jesus, dass die Jünger den Armen Gutes tun können, wenn bzw. sooft sie wollen (Mk 14,7), hat Matthäus nicht übernommen (vgl. Joh 12,8). Denn für Matthäus ist es in keiner Weise ins Belieben der Jünger gestellt, die Armen zu unterstützen; dies ist vielmehr eine gewichtige Forderung Gottes (vgl. 6,19–24; 19,21; 25,35f). Dass sie hier dennoch hinter die Zuwendung, die die Frau Jesus zukommen lässt, zurücktritt, ist in der singulären Situation begründet, die Jesus mit der Gegenüberstellung „allezeit – nicht allezeit“ ins Zentrum seiner Begründung rückt. Die Aussage, dass sie allezeit Arme bei sich haben und damit immer die Gelegenheit (und auch Pflicht!) besteht, den Armen Gutes zu tun, nimmt Dtn 15,11 auf. Die Kontrastaussage, dass sie hingegen Jesus nicht allezeit bei sich haben, ist im Lichte der direkt vorangehenden Ankündigung (V. 2) eine – rhetorisch wirksame – Untertreibung. Denn nach V. 2 ist evident, dass schon sehr bald gar keine Gelegenheit mehr bestehen wird, an Jesus ein solches gutes Werk zu tun. Worum es genau geht, hält V. 12 fest: Jesus interpretiert die Salbung als eine vorweg-

Einleitung (26,1–16)

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genommene Totensalbung, die man analog zu den Werken der Barmherzigkeit in 25,31–46 ebenfalls als Liebesdienst verstehen kann – Tob 1,16f listet die Grablegung neben der Speisung Hungernder und dem Bekleiden von Nackten als Barmherzigkeitstat auf. In Korrespondenz zu seiner Interpretation des Geschehens als Totensalbung spricht Jesus davon, dass das Öl auf seinen Leib gegossen wurde, obwohl es nach V. 7 allein auf sein Haupt gegossen wurde. Da Jesus damit bereits für sein Begräbnis bereitet ist, hat Matthäus konsequenterweise das Vorhaben der Frauen aus Mk 16,1, ihn zu salben, in 28,1 gestrichen. Jesu Deutung ist bei Matthäus im Kontext von V. 2 als Teil seiner Einsicht in das Kommende zu betrachten: Zwischen Kreuzigung und Grablegung wird es keine Möglichkeit geben, Jesus einzubalsamieren. Die Frau nimmt also die Salbung zum Begräbnis vor, zu der es später nicht kommen wird. Sie tut mit diesem Dienst an Jesus genau das gute Werk, das in dieser besonderen Situation geboten ist, so dass als Ausdruck der Hingabe an Jesus sogar die Verwendung des teuren Öls gerechtfertigt ist. Das abschließende Amen-Wort lenkt auf die Ankündigung der weltwei- 13 ten Verkündigung des Evangeliums zurück, von der in 24,14 die Rede war, und weist der Erinnerung an das gute Werk der Frau ihren Platz in diesem zu. Wie in 24,14 spricht Matthäus des Näheren von „diesem Evangelium“ (anders Mk 14,9). Dieser Wortgebrauch wirft die Frage auf, inwiefern sich in ihm bereits die Identifizierung des „Evangeliums“ mit der (mt) Jesusgeschichte ankündigt, von der im Umfeld des mt Gemeindekreises wenig später die Didache Zeugnis gibt (vgl. Did 8,2; 11,3; 15,3.4). Jedenfalls bildet die Integration der Salbung Jesu in die (mt) Jesusgeschichte ab, dass überall dort, wo „dieses Evangelium“ verkündigt wird, auch von der Frau die Rede sein wird. VI 1.3 Der Verrat des Judas (26,14–16) 14 Da ging einer von den Zwölfen, der Judas Iskariot hieß, zu den Hohepriestern 15 und sagte: „Was wollt ihr mir geben, und ich werde ihn euch ausliefern?“ Sie aber zahlten ihm dreißig Silberstücke aus. 16 Und von da an suchte er eine günstige Gelegenheit, ihn auszuliefern. Mit der von Matthäus in V. 15 stark bearbeiteten Erzählung vom Verrat des Judas (vgl. Mk 14,10f) wird der Faden von V. 1–5 weitergeführt. Durch 14 die Initiative des Judas, der schon in 10,4 als der vorgestellt wurde, der Jesus ausliefern wird, eröffnet sich den Hohepriestern überraschend eine Möglichkeit zur Realisierung ihres Vorhabens, Jesus „mit List“ (V. 4), abseits der Aufmerksamkeit des Volkes (vgl. V. 5), zu ergreifen. Indem Matthäus die Einführung von Judas mit „einer von den Zwölfen, der Judas

402 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) Iskariot hieß“ parallel zu „der Hohepriester, der Kajafas hieß“ in V. 3 gestaltet, unterstreicht er die sich anbahnende neue Allianz. Zugleich hebt die Voranstellung von „einer von den Zwölfen“ hervor, dass der Verrat aus 15 dem engsten Kreis der Jünger heraus begangen wird. Durch die Judas in den Mund gelegte Frage „was wollt ihr mir geben?“ deutet Matthäus Geldgier als Motiv für den Verrat an (vgl. Joh 12,6). Sein Angebot, Jesus auszuliefern, weist auf Jesu Ankündigung in V. 2 zurück; diese beginnt sich nun zu erfüllen. Mit der mt Einfügung der Frage des Judas ist verbunden, dass die Hohepriester mit einem konkreten Angebot von dreißig Silberstücken reagieren, wobei das Geld nicht nur versprochen (vgl. Mk 14,11), sondern sogleich ausgezahlt wird. Mit dem genannten Geldbetrag spielt Matthäus zum einen auf Sach 11,12 (LXX) an und bereitet damit bereits hier das Erfüllungszitat in 27,9f vor. Zum anderen ist auch ein Bezug auf Ex 21,32 mitzuhören, wo dreißig Silberstücke als Schadensersatzleistung für den Besitzer eines – durch ein Rind ums Leben gekommenen – Sklaven genannt werden. Matthäus verweist damit in subtiler Weise auf die Geringschätzung Jesu bei den Hohepriestern, die in schroffem Kontrast zu der Wertschätzung steht, die Jesus durch die Salbung mit kostbarem Öl 16 in V. 7 zuteilwurde. V. 16 impliziert, dass Judas mit dem für die Auslieferung Jesu gezahlten „Sklavenpreis“ (vgl. TestGad 2,3) einverstanden ist. Nun geht es nur noch darum, eine günstige Gelegenheit zu finden. Bereits in der nachfolgenden Nacht wird es soweit sein (26,47–56).

VI 2 Das letzte Passamahl Jesu (26,17–29) 17 Am ersten (Tag des Festes) der ungesäuerten Brote aber traten die Jünger zu Jesus und sagten: „Wo willst du, dass wir dir das Passa(mahl) zu essen bereiten?“ 18 Er aber sagte: „Geht in die Stadt zu ‚dem und dem‘ und sagt zu ihm: ‚Der Lehrer sagt: Meine Zeit ist nahe; bei dir will ich mit meinen Jüngern das Passa feiern.‘“ 19 Und die Jünger taten, wie Jesus ihnen aufgetragen hatte, und bereiteten das Passa(mahl). 20 Als es aber Abend geworden war, lag er mit den Zwölfen zu Tisch. 21 Und als sie aßen, sagte er: „Amen, ich sage euch: Einer von euch wird mich ausliefern.“ 22 Und sie wurden sehr betrübt, und sie begannen, einer nach dem anderen, zu ihm zu sagen: „Doch nicht etwa ich bin es, Herr?“ 23 Er aber antwortete und sagte: „Der mit mir die Hand in die Schüssel eintaucht, dieser wird mich ausliefern. 24 Der Menschensohn geht zwar dahin, wie über ihn geschrieben steht. Wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird! Es wäre besser für ihn, wenn er nicht geboren worden wäre, jener Mensch.“ 25 Judas aber, der ihn auslieferte, antwortete und sagte: „Doch nicht etwa ich bin es, Rabbi?“ Er sagt zu ihm: „Du hast es gesagt!“

Das letzte Passamahl Jesu (26,17–29)

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26 Als sie aber aßen, nahm Jesus Brot und sprach den Lobpreis, brach und gab es den Jüngern und sagte: „Nehmt, esst, dies ist mein Leib!“ 27 Und er nahm einen Kelch und dankte und gab ihnen (den) und sagte: „Trinkt alle daraus! 28 Denn dies ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden. 29 Ich sage euch aber: Ich werde von jetzt an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis zu jenem Tag, da ich es von neuem mit euch trinken werde im Reich meines Vaters.“ Die Mk 14,12–25 verarbeitende Darstellung des letzten Passamahls Jesu gliedert sich in die von Matthäus knapp gehaltene Vorbereitung des Mahls (V. 17–19), die Identifizierung des Verräters (V. 20–25) und schließlich das Mahl selbst mit den Deuteworten über Brot und Kelch (V. 26–29). In der einleitenden Szene hat Matthäus Mk 14,12–16 durch den Wegfall narrativer Details – wie der Aussendung von zwei Jüngern (V. 13), des Tragens eines Wasserkruges als Erkennungsmerkmals (V. 13) oder der Beschreibung des Ortes für die Feier (V. 15) – elementarisiert und so die ihm wichtigen Erzählzüge hervortreten lassen. Die Rede vom ersten Tag der ungesäuerten Brote spiegelt die Gleichsetzung des Passafestes und des – eigentlich erst einen Tag später beginnenden (vgl. Lev 23,5f) – Festes der ungesäuerten Brote (vgl. Josephus, Bell 5,99; Ant 18,29; 20,106 u. ö.). Die Jünger ergreifen mit ihrer Frage, wo sie das Passamahl bereiten sollen, die Initiative. Betont ist dabei vom Mahl für Jesus die Rede. Die Anweisung Jesu in V. 18 nimmt dies auf („ich will … Passa feiern“). Der Mensch, den die Jünger in der Stadt, also in Jerusalem, ansprechen sollen, wird weder wie in Mk 14,13 durch ein wundersam vorausgesehenes Erkennungszeichen identifiziert noch namentlich benannt, sondern sein Name wird mit der Wendung „dem und dem“ absichtsvoll im Dunkeln gelassen, denn nicht auf ihn, sondern allein auf Jesus kommt es an. Neu gestaltet sind auch die Worte, die die Jünger äußern sollen: An die Stelle der Frage nach dem Raum (Mk 14,14) treten die christologisch gefüllte Aussage „meine Zeit ist nahe“ (vgl. Mt 26,2.45), die auf den vorherbestimmten Zeitpunkt für Jesu Tod verweist, und die geradezu gebieterische Ansage, bei jenem Menschen das Passa feiern zu wollen. V. 19 stellt kurz und bündig die Befolgung der Anweisung Jesu durch die Jünger heraus. Während Mk 14,16 ausführt, dass die Jünger alles so vorfanden, wie Jesus es vorausgesagt hat, betont Matthäus wie in 21,6 ihren Gehorsam (vgl. 1,24 zu Josef). Die Vorbereitungen selbst sind keiner Rede wert. Die kurze szenische Notiz in V. 20 fährt sogleich mit dem Passamahl am Abend fort, das den Rahmen für die beiden in V. 21–25 und V. 26–29 folgenden „Szenen“ abgibt, die jeweils mit „als sie aßen“ eingeleitet werden: die Identifizierung des Verräters und Jesu Deutung seines Todes. Die Identifizierung des Verräters, zu der es neben der mt-mk Fassung noch eine lk (Lk 22,21–23) und

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eine joh Variante (Joh 13,21–30) mit je eigenen Akzenten gibt, erfolgt mittels eines – durch die Anfügung von V. 25 von Matthäus ausgebauten – Dialogs, den Jesus nicht nur eröffnet (V. 21), sondern auch beschließt (V. 25). Wurde in 26,2 im Vergleich mit der offenen Formulierung in 17,22; 20,18 der Zeitraum bestimmt, aber weiterhin das Subjekt der Auslieferung offengelassen, so spricht Jesus nun erstmals davon, dass dies durch einen aus dem Kreis seiner zwölf Jünger geschehen wird. Die auf Ps 41,10 anspielende mk Anfügung „einer, der mit mir isst“ ist der mt Straffungstendenz zum Opfer gefallen, denn vom gemeinsamen Essen war bereits einleitend in V. 21 die Rede. Ferner stört die Wendung die sukzessive Präzisierung, wer der „Auslieferer“ ist, in den drei Äußerungen Jesu in V. 21.23.25. Die Trauer, mit der die Jünger reagieren, hat Matthäus gegenüber Mk 14,19 intensiviert: „sie wurden sehr betrübt“. Die zugleich abwehrende, wie auch ein Stück weit Verunsicherung zum Ausdruck bringende Frage, die einer nach dem anderen (außer Judas?) stellt, ob sie es etwa seien, hat Matthäus gegenüber Mk 14,19 um die für die Jünger typische Anrede Jesu als „Herr“ ergänzt, was im Zusammenspiel mit der Wiederholung der Frage durch Judas in V. 25 Bedeutung gewinnt. In Jesu Replik in V. 23 wird aus der Konkretisierung „einer von euch“ eine szenisch eindeutige Identifizierung, denn Matthäus verwendet hier – anders als Mk 14,20 – ein Partizip Aorist, das einen punktuellen Aspekt einspielt. Da dieses vorzeitig sein kann, aber nicht muss, gibt es zwei Untervarianten: Gesagt ist entweder „der mit mir gerade jetzt die Hand in die Schüssel (mit Fruchtmus, vgl. mPes 10,3) taucht“ oder „der mit mir gerade eben … getaucht hat“. Im letzteren Fall wäre es zumindest nicht zwingend, dass damit neben dem Betroffenen auch allen anderen Jüngern bekannt war, um wen es geht; im Blick auf Judas selbst hingegen liegt auch in diesem Fall nahe, dass Matthäus die Szenerie so verstand, dass er sich entlarvt gesehen hat. V. 24 bringt die Schwere des Vergehens zum Ausdruck. Mit der Aussage, dass der Tod des Menschensohnes in der Schrift vorhergesagt ist (vgl. zu 26,54), ist für Matthäus verbunden, dass sich in dem Geschehen Gottes Heilswille manifestiert, doch ändert dies dem Evangelisten zufolge nichts an der Verantwortung und Schuld der beteiligten Menschen. Nach der Identifizierung in V. 23 und vor dem Hintergrund von V. 14–16 wirkt die V. 22 aufnehmende Rückfrage des Judas, die Matthäus in V. 25 angefügt hat, als ein plumpes, von Heuchelei getriebenes Ausweichmanöver: Da er sich von Jesus entlarvt sieht, spielt er den Überraschten. Seine faktische Distanz zu Jesus kommt dabei darin zum Ausdruck, dass er Jesus nicht wie ein Jünger mit „Herr“ (vgl. V. 22), sondern mit „Rabbi“ anredet (vgl. V. 49), also so, wie es den Jesus feindlich gesinnten Schriftgelehrten und Pharisäern gefällt, von den Menschen angeredet zu werden (23,7). Jesu knappe Antwort bestätigt mit nüchterner Distanz,

Das letzte Passamahl Jesu (26,17–29)

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dass kein anderer als eben Judas der Verräter sein wird. Wenn Judas nicht schon in V. 23 vor allen offenbar geworden ist, so ist spätestens mit V. 25 evident, dass bei Matthäus – im Unterschied zu Lk 22,21–23 und Joh 13,21–30 – alle anwesenden Jünger wissen, wer es ist, der Jesus ausliefern wird. Eine weitere Reaktion von Judas wird nicht geschildert. Erst in V. 47 wird er wieder auftreten. Irgendwann dazwischen muss er sich von Jesus entfernt haben. Aber Matthäus sagt nicht, ob dies sogleich, auf dem Weg zum Ölberg (V. 30) oder erst während des Gebets Jesu in Getsemani (V. 36–44) geschah. Damit bleibt auch offen, ob er in V. 26–29 noch zugegen ist. Man mag sich seine weitere Gegenwart nach seiner Entlarvung in V. (23.)25 schwer vorstellen können. Aber explizit erwähnt wird sein Weggang eben nicht. Mit der Wiederholung des Verweises auf das gemeinsame Mahl in V. 26a 26–29 (vgl. V. 21a) setzt Matthäus V. 26–29 als eigene „Szene“ vom Voranstehenden ab. Thematisierte die Identifizierung des Verräters mit dem Weheruf in V. 24b die Seite der menschlichen Verantwortung und Schuld am Tod Jesu, so steht dem – auf der Linie des Verweises auf die Schrift in V. 24a – mit den Deuteworten über Brot und Wein in V. 26–29 eine soteriologische Deutung des Geschehens gegenüber. Erklärende Worte zu einzelnen Elementen des Mahls – wie dem Passalamm (vgl. Ex 12,26f), dem ungesäuerten Brot (vgl. Ex 13,6–8) und dem Bitterkraut (Ex 12,8) – sind fester Bestandteil der Passafeier (vgl. mPes 10,3–4). Die Deuteworte über Brot und Wein fügen sich hier formal ein, knüpfen aber nicht an bestimmte Elemente der Passamahlfeier an, sondern bringen Neues ein: Der Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten als soteriologischem Grunddatum der Geschichte des Gottesvolkes tritt mit dem Tod Jesu „zur Vergebung der Sünden“ (V. 28) ein neues soteriologisches Grunddatum zur Seite. Die historische Frage, ob das letzte Mahl Jesu tatsächlich ein Passamahl war, kann hier auf sich beruhen, denn Matthäus jedenfalls hat es eindeutig als ein solches aufgefasst und damit die durch Jesu Tod gewirkte Rettung von den Sünden (1,21) auf dem Hintergrund der Befreiung aus der Sklaverei profiliert. In der Abendmahlsüberlieferung sind grob gezeichnet die mk Fassung (Mk 14,22–25) und die von Lukas und Paulus bezeugte Version (Lk 22,19f; 1Kor 11,23–25) zu unterscheiden. Matthäus folgt mit einigen Änderungen seiner Markusvorlage. Wie ein jüdischer Hausvater spricht Jesus den Lob- 26 preis über das Brot (vgl. 14,19), bevor er es bricht und an seine Jünger verteilt. Gegenüber Mk 14,22 ist im Brotwort der einleitende Imperativ „nehmt“ durch „esst“ ergänzt. In „dies ist mein Leib“ bezieht sich „dies“ nicht auf das Brot (das Demonstrativpronomen steht im Neutrum, das griechische Wort für „Brot“ [artos] aber ist maskulin), sondern auf den geschilderten Vorgang: Das Zerbrechen des Brotes symbolisiert Jesu Tod. Eine explizite soteriologische Deutung des Geschehens erfolgt – anders

406 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) 27–28 als in 1Kor 11,24; Lk 22,19 („mein Leib, der für euch gegeben wird“) – erst mit dem Kelchwort. Dem Lobpreis korrespondiert nun das Dankgebet, ohne dass ein signifikanter Bedeutungsunterschied auszumachen wäre (vgl. 15,36 mit 14,19). Markus’ Notiz „und sie tranken alle daraus“ hat Matthäus zu einem Imperativsatz umgestaltet und in das Kelchwort gezogen, so dass sich eine Analogie zu den einleitenden Imperativen in V. 26 ergibt. Zwar fehlt bei Matthäus wie in Mk 14,22–25 der Wiederholungsbefehl „dies tut zu meinem Gedächtnis“ (1Kor 11,24.25; Lk 22,19), doch wird man mit der Annahme kaum fehlgehen, dass sich in der mt Umgestaltung des Kelchwortes der liturgische Gebrauch der mt Gemeinden spiegelt: Die Gemeindeglieder vernehmen hier nicht bloß einen „historischen“ Bericht über das letzte Mahl Jesu, sondern lesen bzw. hören von dem Geschehen, das ihre eigene Mahlpraxis begründet. „Trinket alle daraus“ impliziert dabei, dass – als Ausdruck der Gemeinschaft und Verbundenheit der Mahlteilnehmer miteinander – aus einem Kelch getrunken wird. Matthäus hat ferner an die Wendung „das für viele vergossen wird“ die Worte „zur Vergebung der Sünden“ angefügt. Ebendiese Worte sind bei der Präsentation des Täufers in 3,2 gegenüber Mk 1,4 ausgelassen; Sündenvergebung wird von Matthäus nicht schon an die Johannestaufe, sondern an den Tod Jesu gebunden (vgl. zu 3,4–6). Mit den Worten „dies ist mein Blut …, das … vergossen wird“ wird der „Kelch“ analog zum Brot als symbolischer Ausdruck des (gewaltsamen) Todes Jesu interpretiert, doch schließt sich daran nun eine dichte soteriologische Deutung an. Die Rede vom „Blut des Bundes“ greift Ex 24,8 auf (vgl. noch Sach 9,11) und damit den Bundesschluss am Sinai. Die Verbindung des Motivs der Sündenvergebung mit der Rede von den „Vielen“ lässt daneben ferner an Jes 53,11f als Bezugstext denken, d. h. es wird auf den Gottesknecht angespielt, der „die Sünden vieler getragen hat“ (53,12). Schließlich lässt die Verknüpfung von Sündenvergebung und Bund darüber hinaus auch Jer 31,31–34 assoziieren. Es besteht dabei keine Notwendigkeit, in diesen Optionen sich gegenseitig ausschließende Alternativen zu sehen: Matthäus operiert mit einem Netz von Anspielungen auf die Schrift, die der Deutung des Todes Jesu ihre theologische Tiefendimension vermitteln. Im Lichte der Verbindung von 26,28 zu 1,21 betrachtet, vollendet Jesus mit seinem Heilstod seine – zunächst einmal – auf Israel bezogene Aufgabe, „sein Volk von ihren Sünden zu retten“. Zugleich wird aber mit der Wendung „für die Vielen“ (vgl. 20,28) signalisiert, dass die Heiden in das Heil, das Jesus als Vollendung seiner Sendung zu Israel gewirkt hat, fortan einbezogen werden, denn die Wendung „für die Vielen“ ist universalistisch im Sinne von „für alle“ zu verstehen. Im Kelchwort wird damit der Heilstod Jesu als das neue soteriologische Grunddatum vorgebracht, das im Verbund mit der Auferweckung und Erhöhung Jesu zum Weltenherrn

Das letzte Passamahl Jesu (26,17–29)

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der Ausweitung der Sendung der Jünger zu allen Völkern in 28,18–20 zugrunde liegt. Die Vergebung der Sünden spielte, ganz im Sinne von 1,21, auch in der vorangehenden Erzählung eine wesentliche Rolle (s. zu 9,2–8 und 9,9–13); Sündenvergebung geschieht hier in der konkreten Begegnung mit Jesus. Mit der Deutung des Todes Jesu im Kelchwort steht die Sündenvergebung hingegen für die das Herrenmahl feiernde, Menschen aus allen Völkern offenstehende nachösterliche Gemeinde in einem Kontext, der von der vorösterlichen Gestalt der irdischen Präsenz Jesu losgelöst ist. Christologisch korrespondiert dem, dass das irdische, Israel geltende Wirken Jesu (4,23; 15,24 u. ö.) von Matthäus unter das Leitmotiv der davidischen Messianität Jesu gestellt ist, während mit Passion, Auferweckung und Erhöhung seine Identität als Gottessohn über den Jüngerkreis hinaus (14,33; 16,16; 17,5) zum Gegenstand der öffentlichen Proklamation wird: Die universale Ausweitung der Heilszuwendung wird von Matthäus mit Tod, Auferweckung und Erhöhung des Gottessohnes verknüpft. Für das Gesamtverständnis des Mt ist von Gewicht, dass 26,28 keine ekklesiologisch enggeführte Relektüre von 1,21 impliziert, als ginge der Gottesvolkbegriff nun von Israel auf die Kirche über. Zu unterscheiden ist hier vielmehr zwischen der „objektiven“ Realisierung des Heils für „die Vielen“ und dessen „subjektiver“ Aneignung durch die Jünger: Durch Jesu Tod „zur Vergebung der Sünden“ ist allen das Heil bereitet und zugänglich. Die dem Gottesvolk geltende Heilsverheißung ist damit „objektiv“ erfüllt – unabhängig davon, ob bzw. von wie vielen dieses Heil in Israel (bzw. in der Völkerwelt) angenommen wird. Die Aussage von 1,21 ist in diesem Sinne der „objektiven“ Fundierung und der damit gegebenen Möglichkeit des Zugangs zum Heil zu verstehen. Dem fügt sich ein, dass die Heilsbedeutung der Lebenshingabe Jesu in den Deuteworten zu Brot und Wein bei Matthäus im Gefolge von Mk 14,22.24 nicht wie bei Paulus und Lukas durch die Wendung „für euch“ auf die Mahlgemeinde appliziert wird (Lk 22,19.20; 1Kor 11,24), sondern Jesu Tod eben als für „die Vielen“ geschehen ausgewiesen wird. Erst in V. 29 erfolgt eine personale Applikation auf den Jüngerkreis. Entsprechend geht es in V. 28 nicht um einen „neuen“, mit der Kirche geschlossenen Bund, der den „alten“ Bund Gottes mit Israel ersetzt. Vielmehr verweist der Zusammenhang von V. 28 mit 1,21 gerade auf die Einbindung des Heilstodes Jesu in die Bundesgeschichte Gottes mit Israel, so dass es adäquater ist, von einer Erneuerung des einen Bundes zu sprechen, wie dies atl. Bundestheologie entspricht und in der mt Jesusgeschichte selbst durch das Mt insgesamt prägende Kontinuitätsmotiv naheliegt. Nur ist hinzuzufügen, dass für Matthäus mit dieser Erneuerung des Bundes dessen Ausweitung bzw. Universalisierung einhergeht, da dem Tod des Gottessohnes eine universale Heilsbedeutung zukommt.

408 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) 29

Mit V. 29 weitet sich der Horizont über den Tod Jesu hinaus auf die Wiedervereinigung mit seinen Jüngern beim eschatologischen Festmahl im Himmelreich. Matthäus hat an Mk 14,25 verschiedene kleinere, aber inhaltlich bedeutsame Änderungen vorgenommen, die die angesprochene Bedeutung der Gottessohnschaft Jesu in der Deutung seines Todes und seiner nachösterlichen Rolle weiter beleuchten. Mit der nach 23,39 erneuten Aufnahme der Wendung „von jetzt an“ betont Matthäus die temporale Zäsur und stiftet damit zugleich eine Querverbindung zur dritten mt Einfügung dieser Wendung in 26,63f, wo zur Frage des Hohepriesters, ob Jesus „der Christus, der Sohn Gottes“ sei, Jesu Ankündigung seiner Erhöhung „zur Rechten der Kraft“ tritt. Ferner lässt Matthäus am Ende von V. 29 durch die Einfügung von „mit euch“ das Immanuelmotiv aus 1,23 anklingen; damit kehrt nicht nur der Zusammenhang von Sündenvergebung und Immanuelmotiv aus 1,21–23 in 26,28f wieder, sondern es ist zugleich auch zu bedenken, dass das Immanuelmotiv in 1,23 mit Jesu Gottessohnschaft verbunden ist. Zudem lässt Matthäus Jesus statt vom Reich Gottes (Mk 14,25) vom „Reich meines Vaters“ reden. Die Wendung ist im Mt singulär; auch sie verweist auf die Gottessohnschaft Jesu. All dies unterstreicht, dass Matthäus den Tod Jesu zur Vergebung der Sünden in 26,28f mit dem christologischen Motiv der Gottessohnschaft Jesu in Verbindung bringt. Für die Jünger enthält V. 29 zum einen die Vergewisserung, dass ihre Trennung von Jesus nur eine vorläufige sein wird, und zum anderen die Verheißung, dass sie am eschatologischen Heil teilhaben werden (vgl. 19,28f). Grundlegend aber ist, dass bekräftigt wird, dass Jesu Tod „für die Vielen“ nicht sein Ende ist und Gottes Herrschaft sich durchsetzen wird. Das Mahl der Gemeinde steht mit V. 26–28 einerseits, V. 29 andererseits in einem doppelten Verweisungszusammenhang. Es erinnert an den Heilstod Jesu, dessen sündenvergebende Wirkung in der Mahlfeier der Gemeinde vergegenwärtigt und den Mahlteilnehmern zuteilwird. Und es blickt aus auf das eschatologische Festmahl und damit auf die Fülle des endzeitlichen Heils. Dann wird das Mit-Sein, das der Auferstandene seinen Jüngern in 28,20 zusagt, zu einer erneuerten unmittelbaren Gemeinschaft mit ihm transformiert sein.

Die Ansage der Zerstreuung der Jünger und der Verleugnung des Petrus

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VI 3 Die Ansage der Zerstreuung der Jünger und der Verleugnung des Petrus (26,30–35) 30 Und nachdem sie den Lobgesang gesungen hatten, gingen sie hinaus zum Ölberg. 31 Da spricht Jesus zu ihnen: „Ihr werdet alle in dieser Nacht Anstoß an mir nehmen; denn es steht geschrieben: ‚Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Herde werden zerstreut werden.‘ 32 Nachdem ich aber auferweckt sein werde, werde ich euch vorangehen nach Galiläa.“ 33 Petrus aber antwortete und sagte zu ihm: „Wenn alle an dir Anstoß nehmen, ich werde niemals Anstoß nehmen.“ 34 Jesus sprach zu ihm: „Amen, ich sage dir: In dieser Nacht, bevor der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ 35 Petrus sagt zu ihm: „Auch wenn ich mit dir sterben müsste, werde ich dich nicht verleugnen.“ Ebenso sagten (es) auch alle Jünger. Zwischen der Schilderung des letzten Mahls Jesu in 26,17–29 und den in Getsemani lokalisierten Geschehnissen in 26,36–46.47–56 bildet das Gespräch auf dem Weg zum Ölberg in 26,30–35 (par Mk 14,26–31) eine Art Zwischenstück. Der Text ist klar strukturiert: Nach der Überleitungsnotiz in V. 30 stehen den beiden Ankündigungen Jesu über das Verhalten der Jünger „in dieser Nacht“ (V. 31 f.34) die Beteuerungen des Petrus gegenüber (V. 33.35), in die – wohl bezogen auf V. 31 („alle“!) – mit der Schlussnotiz in V. 35 die übrigen Jünger einbezogen werden. Während in V. 21–25.26–29 explizite Verweise auf das Passamahl fehl- 30 ten, klingt dieses in V. 30 insofern wieder an, als sich das – schon in Philo, SpecLeg 2,148 als Element des Passa erwähnte – Singen des Lobgesangs auf die zum Passamahl gehörenden Hallelpsalmen (Ps 113–118), genauer: auf deren zweiten Teil (nach mPes 10,6f ab Ps 114 oder 115) bezieht. Auf 31 dem Weg zum Ölberg blickt Jesus auf das Verhalten der Jünger bei den nun unmittelbar folgenden Geschehnissen aus. Die erste Ankündigung richtet sich an alle Jünger: Alle werden – angesichts der kommenden Bedrängnis (vgl. 13,21) – Anstoß an ihm nehmen, was hier nicht weniger als ihren (zeitweiligen) Abfall von Jesus bedeutet. Matthäus hat „an mir“ gegenüber Mk 14,27 ergänzt (vgl. die analoge Einfügung von „an dir“ in V. 33) und damit den Rückbezug auf 11,6 verdeutlicht (vgl. auch 13,57). Die Jünger gehören also – jedenfalls temporär – nicht mehr zu denen, die glückselig zu preisen sind. In 26,56b wird sich die Ankündigung von V. 31 erfüllen: Alle Jünger verlassen Jesus und fliehen; keiner bleibt an seiner Seite. Jesus untermauert seine Ankündigung in V. 31 mit einem Schriftzitat aus Sach 13,7, das die im Mt insgesamt bedeutsame Hirt/ Herde-Metaphorik fortschreibt. In der ersten Zeile ist der Imperativ des atl. Textes in die 1. Pers. Sg. geändert, die hier für Gott steht. Der Hirte ist wiederum Jesus

410 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20)

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(vgl. 2,6; 9,36; 15,24). Mit dem Schriftwort wird also Gott als im Todesschicksal Jesu Handelnder explizit benannt (vgl. 26,39.42). Anders als Mk 14,27 spricht Matthäus – vielleicht beeinflusst von der ihm bekannten LXX-Version (vgl. den Text von Sach 13,7 im Codex Alexandrinus) – von den „Schafen der Herde“. Die Schafmetapher ist hier – nach 18,12–14 erneut – auf die Jünger bezogen: Als der bereits gesammelte Teil der „verlorenen Schafe des Hauses Israel“ (10,6; 15,24) bilden sie die Herde Jesu im engeren Sinn. Ihre Zerstreuung wird aber nach V. 32 nur von kurzer Dauer sein. Die Ankündigung in V. 32 wird in der Botschaft der Engel am leeren Grab in 28,7 aufgenommen und durch die Erzählung von der Erscheinung des Auferstandenen in 28,16–20 eingelöst: Der um Judas reduzierte Kreis ist nun wieder beisammen, wie Matthäus durch die explizite Rede von den elf Jüngern in 28,16 deutlich macht. Erstmals also spricht Jesus – in Korrespondenz dazu, dass nun das Verhalten der Jünger während der Passion zum Thema wurde – nicht nur von seiner Auferweckung, sondern deutet auch an, dass er den Jüngern als Auferstandener begegnen wird (zu Galiläa s. bei 28,16). Denen, die Anstoß nahmen, wird mit Ostern ein Neuanfang gewährt (vgl. zu 9,13). Nur so kann die unmittelbar zuvor in 26,29 ausgesprochene Verheißung Wirklichkeit werden. Letzteres gilt in Sonderheit für Petrus. Mit Entschiedenheit weist er Jesu Worte, was seine Person betrifft, zurück. Analog zur ersten Ankündigung von Leiden und Auferweckung in 16,21 bezieht sich seine Reaktion allein auf die erste Hälfte der Ankündigung, also auf V. 31, während er V. 32 keine Beachtung schenkt. Jesus reagiert mit einer zweiten Ankündigung, die nun speziell Petrus gilt. Petrus’ vehementem „niemals“ stellt Jesus – die von Matthäus in V. 31 eingefügte Zeitansage „in dieser Nacht“ bekräftigend – „in dieser Nacht, bevor der Hahn kräht“ entgegen; und Petrus, der sich mutiger als alle anderen dünkte („wenn alle an dir Anstoß nehmen …“), wird nicht bloß wie die Übrigen fliehen, sondern Jesus sogar verleugnen, und zwar nicht nur einmal, sondern gleich dreimal. In 10,33 hat Jesus die Konsequenzen der Verleugnung angesprochen – hier begegnet im Griechischen zwar nicht wie in 26,34 das Kompositum (ap-arneomai), sondern das zugehörige Simplex (arneomai), doch zeigt die Verwendung des Simplex in 26,70.72, dass Matthäus hier nicht streng unterscheidet. Das Kompositum begegnete zuvor in 16,24, wo es um die Selbstverleugnung im Zusammenhang der Kreuzesnachfolge geht. Dort opponierte Petrus im vorangehenden Kontext gegen Jesu Ankündigung seines Leidens (16,22). Nun aber gibt Petrus seine Bereitschaft kund, sogar bis zur letzten Konsequenz das Kreuz tatsächlich auf sich zu nehmen. Matthäus und seine Gemeinden wissen darum, dass Petrus später tatsächlich Märtyrer geworden ist (vgl. Joh 13,36; 21,18f; 1Klem 5,4). Im Zuge des Vorgehens des Hohen Rates gegen Jesus jedoch vermochte er seine hohen Worte nicht zu halten: Hier scheitert er in der Kreuzesnachfolge und

Jesus in Getsemani (26,36–56)

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verleugnet Jesus. Jesus reagiert auf Petrus’ Bestreitung seiner Ankündigung nicht mehr. Die kommenden Ereignisse werden ihn bestätigen, und dann wird Petrus sich an Jesu Worte erinnern (V. 75).

VI 4 Jesus in Getsemani (26,36–56) VI 4.1 Das Gebet Jesu in Getsemani (26,36–46) 36 Da kommt Jesus mit ihnen zu einem Ort, der Getsemani genannt wird, und er sagt zu den Jüngern: „Setzt euch hier, bis ich hingegangen bin und dort gebetet habe!“ 37 Und er nahm Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus mit und fing an, betrübt zu werden und sich zu ängstigen. 38 Da sagt er zu ihnen: „Meine Seele ist tiefbetrübt, bis zum Tod. Bleibt hier und wacht mit mir!“ 39 Und er ging ein wenig weiter und fiel auf sein Angesicht, betete und sagte: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber! Doch nicht wie ich will, sondern wie du (willst).“ 40 Und er kommt zu den Jüngern und findet sie schlafend und sagt zu Petrus: „So vermochtet ihr also nicht eine Stunde mit mir zu wachen? 41 Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung hineinkommt! Der Geist zwar ist willig, das Fleisch aber schwach.“ 42 Wiederum, zum zweiten Mal, ging er hin und betete und sagte: „Mein Vater, wenn dieser (Kelch) nicht vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!“ 43 Und als er kam, fand er sie wieder schlafend, denn ihre Augen waren beschwert. 44 Und er ließ sie, ging wiederum hin, betete zum dritten Mal, wobei er wiederum dasselbe Wort sagte. 45 Dann kommt er zu den Jüngern und spricht zu ihnen: „Schlaft ihr weiter und ruht euch aus? Siehe, nahe herbeigekommen ist die Stunde, und der Menschensohn wird in die Hände der Sünder ausgeliefert. 46 Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, nahe herbeigekommen ist der, der mich ausliefert.“ In der Passionsgeschichte begegnete bis jetzt ein souveräner Jesus, der alle kommenden Geschehnisse im Voraus weiß. Mit dem Gebet Jesu in Getsemani in 26,36–46 (par Mk 14,32–42) erhält Jesu Weg ans Kreuz die menschlichen Züge des Ringens um das Todesschicksal. Matthäus hat den Ton allerdings nicht darauf gelegt, dass Jesus mit dem ihm gewiesenen Weg hadert; im Zentrum steht vielmehr, dass er sich im Gebet dem Willen Gottes fügt. Die Erzählung ist bei Matthäus stringent strukturiert. Auf die erzählerische Exposition in V. 36f folgen drei analog gestaltete Gebetsepisoden, die durch Worte an bzw. Begegnungen mit den Jüngern eingefasst sind (V. 38–40, V. 41–44a  , V. 44a  –45a): Jesus lässt die Jünger mit dem Auftrag, mit ihm zu wachen, zurück (V. 38); in V. 41 wird dieser Auftrag

412 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) in variierter Form erneuert; als Konsequenz daraus, dass Jesus die Jünger nach seinem zweiten Gebet resigniert weiterschlafen lässt, fällt dieses Element im dritten Teil aus. Als zweites und drittes Element folgen das Gebet Jesu (V. 39.42.44) und seine Rückkehr zu den Jüngern (V. 40a.43.45a). Den Schlusspunkt markiert jeweils die Reaktion Jesu auf das Versagen der Jünger (V. 40b.44a  .45b). Mit der Ansage der nahe gekommenen Stunde seiner Auslieferung leitet die Jesusrede in V. 45c–46 zur nachfolgenden Szene, der Gefangennahme Jesu, über. Als Jesus mit den Seinen Getsemani (= Ölkelter) am Ölberg erreicht hat, 36–37 lässt er die übrigen Jünger zurück, um sich mit Petrus sowie Johannes und Jakobus, den beiden Söhnen des Zebedäus (4,21), zum Gebet zurückzuziehen. Die Unterscheidung zwischen der aus Petrus und den beiden Zebedaiden bestehenden Dreiergruppe und den übrigen Jüngern hat in der Erzählung selbst keine erkennbare Funktion, ihr Sinn kann sich also nur aus dem weiteren Kontext ergeben. Im Mt begegnet diese Dreiergruppe ansonsten nur bei der Verwandlung Jesu in 17,1–13 (vgl. zu 17,12). Der dortigen Schau der himmlischen Herrlichkeit des Gottessohnes steht hier gegenüber, dass sie Jesus in seinem Ringen, sein Todesschicksal anzunehmen, begleiten. Matthäus konzentriert die Figurenkonstellation damit auf zwei christologische Kerntexte, die mit besonderer Prägnanz auf der einen Seite die Hoheit, auf der anderen die Menschlichkeit des Messias beleuchten, und unterstreicht so die Zusammengehörigkeit beider Pole. Zugleich werden mit Petrus und den beiden Zebedaiden die drei Jünger ausgewählt, die zuvor beteuert haben, in ihrer Nachfolge sogar bereit zu sein, selbst den Tod auf sich zu nehmen (20,22; 26,35). Im Kontext der Passion Jesu aber gelingt es ihnen nicht, der Gemeinschaft mit Jesus gerecht zu werden. Die Betrübnis, die Jesus am Ende nach V. 37 überkommt, bringt er in 38 V. 38 mit aus den Klagepsalmen vertrauten Worten zum Ausdruck (Ps 42,6.12; 43,5), die durch die Hinzufügung von „bis zum Tod“ (vgl. Jona 4,9 LXX ; Sir 37,2 LXX) verstärkt werden. In der sich anschließenden Bitte an die drei Jünger, dass sie wachen sollen, hat Matthäus „mit mir“ ergänzt (ebenso in V. 40) und so den Aspekt der Gemeinschaft betont (vgl. V. 29), nur ist die Beziehungsrichtung nun umgekehrt: Jesus, der mit seinen Jüngern war (17,17) und ihnen als Auferstandener wiederum verheißen wird, mit ihnen zu sein (28,20), bittet nun in der Stunde seiner schwe39 ren Betrübnis seine Jünger, mit ihm zu wachen. Jesus entfernt sich nur ein wenig von ihnen, um für sich beten zu können (vgl. 14,23 sowie 6,6); die Szenerie verbindet also die Einsamkeit des Gebets mit der – zumindest räumlichen – Nähe der Jünger. Die Änderung der mk Gebetsanrede „Abba, Vater“ zum persönlichen „mein Vater“ fügt sich zu den nachfolgenden Reminiszenzen an das Vaterunser (6,9–13). Seine Bitte stellt Jesus von vornherein unter den Vorbehalt „wenn es möglich ist“, den der Schlusssatz „doch nicht wie ich will, sondern wie du (willst)“ näher aus-

Jesus in Getsemani (26,36–56)

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führt und bekräftigt. Matthäus folgt mit „wenn es möglich ist“ Mk 14,35, wo Jesu Gebet – in einer von Matthäus beseitigten merkwürdigen Doppelung – in indirekter Rede vorweggenommen wird, während der mk Jesus im Gebet selber seine Bitte um Verschonung durch einen Rekurs auf die Omnipotenz Gottes unterbaut (Mk 14,36: „alles ist dir möglich“, vgl. 10,27). Der Kelch steht wie in Mt 20,22f metaphorisch für das Todesschicksal (vgl. 26,27f); ein Bezug auf den Kelch des Zorn(gericht)s (Jes 51,17; Jer 25,15; Offb 16,19 u. ö.), so dass man die Deutung impliziert sehen könnte, dass Gottes Zorn stellvertretend an Jesus zum Austrag kommt, ist hier schwerlich einzulesen. Damit, dass Jesus die Jünger bei seiner Rückkehr schlafend antrifft, be- 40 ginnt – nach Judas’ unseliger Allianz mit Jesu Gegnern – das Versagen auch der anderen Jünger in der Passion. Ihr Schlaf symbolisiert, dass sie die Treue zu Jesus in seiner schweren Stunde nicht durchzuhalten vermochten. Dass sich Jesus – trotz des Plurals in der wörtlichen Rede (anders Mk 14,37) – speziell an Petrus wendet, knüpft an den vorangehenden Dialog mit ihm an (V. 31–35). Seine selbstsicheren Beteuerungen erhalten einen ersten Dämpfer: Er versicherte, bereit zu sein, mit Jesus sogar zu sterben (V. 35), und vermag tatsächlich nicht einmal eine einzige Stunde mit ihm zu wachen (V. 40) – wieder ist „mit mir“ von Matthäus ergänzt worden (vgl. Mk 14,37). Die nachfolgende Bekräftigung der Aufforderung von V. 38, dass die 41 Jünger wachen sollen, transzendiert mit ihrer Erweiterung um das Gebet (vgl. Kol 4,2) und den angefügten Finalsatz die Situation hin zu einer immer gültigen Mahnung an die Jünger (vgl. die Aufnahme des Passus in Polyk 7,2). So ist in V. 41 bei „wachen“ (es fehlt nun „mit mir“!) die übertragene Bedeutung „wachsam sein“ mitzuhören, die die Unterweisung in 24,42–25,30 bestimmte (24,42; 25,13). Zudem lässt der Finalsatz die sechste Bitte des Vaterunsers anklingen. Wachsamkeit und Gebet erscheinen als probates Mittel, um gegen die stets lauernden Versuchungen gewappnet zu sein. Der Schlusssatz in V. 41 untermauert die Mahnung mit einer sentenzhaft formulierten anthropologischen Einsicht: Dem willigen Geist steht die Schwäche des Fleisches gegenüber; der Entschluss ist vorhanden, aber zum Vollbringen fehlt die Kraft. Daher sind Stärkung im Gebet und Wachsamkeit vonnöten. Nach der erneuten Ermahnung der 42 Jünger zieht Jesus sich wieder zurück. Während Markus lediglich anmerkt, dass Jesus wieder mit denselben Worten gebetet habe, führt Matthäus das Gebet Jesu erneut aus. Instruktiv sind die Abweichungen vom ersten Gebet: Die Bitte „wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!“ weicht nun der Einsicht „wenn dieser (Kelch) nicht vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke“. Zudem wird die Unterordnung unter Gottes Willen (vgl. dazu bei 6,10) nun mit einer wörtlichen Aufnahme der dritten Bitte des Vaterunsers formuliert: „dein Wille geschehe“. Der Got-

414 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) 43 tessohn ordnet sich gehorsam dem (Heils-)Willen seines Vaters unter. Bei seiner Rückkehr zu den Jüngern findet Jesus diese wieder schlafend. Ihre in der Rede von ihren schweren Augen zum Ausdruck gebrachte Müdigkeit verweist auf die Schwäche ihres Fleisches. Eine erneute Ansprache 44 der Jünger unterbleibt, denn sie hat sich als zwecklos erwiesen. Jesus lässt sie – resigniert – zurück. Die dritte, bei Markus nicht geschilderte Gebetsszene wird unter Aufnahme von Mk 14,39 verkürzt dargestellt: Es wird nur noch konstatiert, dass Jesus noch einmal dasselbe betete, was sich bei Matthäus auf das zweite Gebet bezieht. Die Unterordnung unter Gottes Willen wird be45a kräftigt. Die Feststellung, dass die Jünger auch bei seiner dritten Rückkehr schlafen, ist in der dritten Sequenz vom Erzählerkommentar zur wörtlichen Rede Jesu verlagert. Unabhängig davon, ob der griechische Satz als Imperativsatz oder, was angesichts des in V. 46 folgenden Imperativs „steht auf“ wahrscheinlicher ist, als Aussage- bzw. als Fragesatz zu lesen ist (die ältesten Handschriften enthalten keine Satzzeichen), sind Jesu Worte als ein – mit Kopfschütteln verbundener – ironischer Kommentar zu lesen. Die Jünger haben Jesus im Stich gelassen. Ihre Flucht in V. 56 schreibt fort, was sich bereits hier manifestiert. Der Schluss in V. 45b–46, der durch das doppelte „siehe, nahe herbei45b–46 gekommen ist …“ gerahmt ist, profiliert das Versagen der Jünger – sie schlafen, obwohl die Stunde der Auslieferung unmittelbar bevorsteht – und leitet zugleich zur nachfolgenden Szene über. Nachdem Jesus sich im Gebet in Gottes Willen gefügt hat, geht er den ihm bestimmten Weg. Wieder kündigt er das Kommende an (vgl. 26,2.24). Die Rede von der nahe gekommenen Stunde schließt an Jesu Wort in 26,18 an, dass seine Zeit nahe ist. Die Worte, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder ausgeliefert wird, variiert 17,22 („Hände der Menschen“). Für die drei Jünger, die ihn begleiteten, ist es Zeit aufzustehen und mit Jesus dem Kommenden entgegenzugehen. Denn Judas ist schon auf dem Weg. VI 4.2 Die Gefangennahme Jesu (26,47–56) 47 Und als er noch redete, siehe, da kam Judas, einer der Zwölf, und mit ihm eine große Volksmenge mit Schwertern und Knüppeln von den Hohepriestern und Ältesten des Volkes. 48 Der aber, der ihn auslieferte, gab ihnen ein Zeichen und sagte: „Wen ich küssen werde, der ist es. Ihn ergreift!“ 49 Und sogleich trat er zu Jesus und sagte: „Sei gegrüßt, Rabbi!“, und er küsste ihn. 50 Jesus aber sagte zu ihm: „Freund, dazu bist du hergekommen!“ Da traten sie hinzu und legten die Hände an Jesus und ergriffen ihn. 51 Und siehe, einer von denen, die mit Jesus waren, streckte die Hand aus, zog sein Schwert heraus und schlug den Knecht

Jesus in Getsemani (26,36–56)

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des Hohepriesters und hieb ihm das Ohr ab. 52 Da sagt Jesus zu ihm: „Stecke dein Schwert weg an seinen Ort! Denn alle, die das Schwert nehmen, werden durch das Schwert umkommen. 53 Oder meinst du, dass ich nicht meinen Vater bitten kann, und er wird mir jetzt mehr als zwölf Legionen Engel zur Verfügung stellen? 54 Wie sollten denn (aber) die Schriften erfüllt werden, dass es so geschehen muss?“ 55 In jener Stunde sagte Jesus zu den Volksmengen: „Wie gegen einen Räuber seid ihr ausgezogen, mit Schwertern und Knüppeln, um mich festzunehmen! Täglich saß ich im Tempel und lehrte, und ihr habt mich nicht ergriffen.“ 56 Dies alles aber ist geschehen, damit die Schriften der Propheten erfüllt würden. Da verließen ihn alle Jünger und flohen. In der Verhaftungsszene hat Matthäus der Darstellung nicht nur durch Detailänderungen an der Markusvorlage (Mk 14,43–52) seine eigene Intention aufgeprägt, sondern durch die Einfügungen von Reaktionen Jesu sowohl auf Judas (V. 50a) als auch auf den Schwertstreich (V. 52–54) die Gesamtstruktur des Textes verändert. Auf die Exposition in V. 47f folgen in V. 49–50a die Tat des Judas und Jesu Antwort an ihn sowie in V. 50b.55 die Ergreifung Jesu und Jesu Replik darauf. In die zweite Szene ist der Schwertstreich mit Jesu ausführlicher Reaktion auf diesen eingefügt (V. 51–54). Jesus reagiert bei Matthäus also auf alle Handlungsträger – aber nicht mit Waffengewalt, sondern allein mit seinem Wort. Reaktionen Jesu auf Judas und den Schwertstreich finden sich auch bei Lukas (Lk 22,48.51), jedoch jeweils in anderer Gestalt als bei Matthäus. Man wird hier mit dem Einfluss mündlicher Überlieferung zu rechnen haben; auch die Übereinstimmung zwischen V. 52 und Joh 18,11 könnte auf diese Weise ihre Erklärung finden. Der Erzählerkommentar zur Erfüllung der Schrift (V. 56a) und die Notiz von der Flucht der Jünger (V. 56b) bilden den bei Matthäus – wie bei Lukas – um die Episode vom nackt fliehenden jungen Mann (Mk 14,51f) verkürzten Schluss. Analog zu 12,46 ist mit der Wendung „als er noch redete“ (vgl. noch 47–48 17,5) ein fließender Übergang zum Nachfolgenden geschaffen. Noch einmal wird Judas als „einer der Zwölf“ eingeführt (vgl. 26,14), um in Anknüpfung an V. 21 („einer von euch“) das Ungeheuerliche seines Verrats zu unterstreichen. Die Volksmengen bzw. Scharen, die bis jetzt in der Erzählung begegneten, waren Jesus positiv zugetan (s. z. B. 4,25; 12,23; 21,8f). Matthäus erzählt nun nicht, dass diese die Seiten gewechselt hätten (vgl. unten zu V. 55), sondern führt mit dem mit Schwertern und Knüppeln ausgestatteten Verhaftungskommando eine ganz andere, von den Hohepriestern und Ältesten beauftragte Schar ein. Matthäus hat hier bei der Herkunftsangabe die Schriftgelehrten aus Mk 14,43 gestrichen und die Ältesten zu den Ältesten des Volkes ergänzt, so dass exakt auf das Figurenensemble in 26,3–5 zurückverwiesen wird. Dem korrespondiert,

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49–50a

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dass „ergreifen“ (V. 4) in V. 47–56 als Leitwort fungiert (V. 48.50.55, vgl. ferner V. 57). Der erste Teil des Plans von V. 4, Jesus mit List zu ergreifen, wird nun umgesetzt. Ob es sich bei der Schar des Näheren um eine Delegation der Tempelwache oder lediglich um einen vom Hohen Rat angeheuerten Volkshaufen handelte, lässt sich nicht sicher entscheiden. Im Licht von 21,1–17.46; 26,5 einerseits, 21,10; 23,37–39 andererseits betrachtet, ist aber jedenfalls davon auszugehen, dass es sich hier um Jerusalemer handelt. Die Beteiligung des „Knechts des Hohepriesters“ (V. 51) unterstreicht dies. Die Verabredung eines Erkennungszeichens deutet zudem darauf hin, dass das Verhaftungskommando Jesus nicht von Angesicht kennt. Judas schreitet sogleich zur Tat. Dass er Jesus – nach V. 25 erneut – mit „Rabbi“ anspricht (par Mk 14,45), zeigt wieder an, dass er nicht mehr zu den Jüngern gehört. Umgekehrt spiegelt auch die Anrede des Judas durch Jesus die eingetretene Distanz, denn „Freund/Genosse“ ist im Licht der beiden vorangehenden Belege in 20,13; 22,12 keineswegs wohlwollend oder gar als Ausdruck von Nähe zu verstehen. Jesu Feststellung „dazu bist du hergekommen“ behaftet Judas bei seiner Tat: Jesus durchschaut Judas; sein Kuss dient dem Verrat. Erst nach dieser Feststellung Jesu lässt Matthäus das Verhaftungskommando herantreten. Jesus wird von seinen Gegnern ergriffen und erscheint doch als Souverän der Handlung. Der Erzählzug, dass sie „die Hände“ an ihn legten, weist auf die Ankündigung Jesu in V. 45 („in die Hände der Sünder“) bzw. in 17,22 („in die Hände der Menschen“) zurück. Jesu Souveränität und Hoheit wird sodann durch die von Matthäus ausgestaltete Schwertstreichszene in V. 51–54 unterstrichen. Der Jünger bleibt anonym (anders nur Joh 18,10: Petrus). Der mt Jesus weist den Versuch eines gewaltsamen Widerstands gegen das Verhaftungskommando – ganz auf der Linie von 5,39 – ausdrücklich zurück. Die Weisung, das Schwert an seinen Ort zu stecken (vgl. neben Joh 18,11 auch JosAs 29,4), wird durch eine grundsätzliche Einsicht unterbaut: Gewalt ruft Gegengewalt hervor. Durch das generalisierende Subjekt „alle“ liest sich das Wort im Kontext zugleich als eine hintergründige Drohung gegen die, die gegen Jesus „mit Schwertern und Stangen“ ausgezogen sind: Sie werden durch das Schwert umkommen. Der Zusammenhang, den Matthäus zwischen der Tötung Jesu (sowie der Verfolgung seiner Jünger) und der Zerstörung Jerusalems gesehen hat (vgl. zu 27,25 sowie zu 22,7; 23,37–39), fügt sich hier ein. Mit der Weiterführung der Jesusrede in V. 53 deutet Matthäus die Gefangennahme als bewussten Verzicht Jesu, von seiner Vollmacht Gebrauch zu machen, denn er hätte gleich mehr als zwölf Legionen Engel zu Hilfe rufen und sich so der Inhaftierung entziehen können. Wie Jesu Rede von seinem Vater in V. 53 zeigt, geht es hier christologisch um die Jesus als

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Sohn Gottes zukommende Vollmacht (vgl. 14,22–33): Jesus enthält sich eines Erweises seiner Macht, da er sonst dem Willen Gottes, dessen er sich zuvor im Gebet vergewissert hat (26,39.42), nicht entsprechen würde. Damit wiederholt sich hier, was in der Versuchung in 4,1–11 präludiert wurde, wobei das Engelmotiv insbesondere an die zweite Versuchungsszene in 4,5–7 zurückdenken lässt: Jesus verzichtet auf Demonstrationen seiner Macht, die ihm nicht von Gott geboten sind. Ansichtig wird hier ein Grundmoment der mt Gottessohnkonzeption: Als Sohn Gottes partizipiert Jesus an göttlicher Vollmacht; zur Gottessohnschaft gehört aber ebenso die strenge Bindung an den Willen Gottes – auch im Blick auf die Inanspruchnahme seiner göttlichen Vollmacht. Die Art und Weise, wie sich diese Konzeption in 26,53 manifestiert, ist dabei von dem Bestreben geleitet, die geglaubte Partizipation Jesu als Sohn Gottes an göttlicher Macht mit seinem irdischen Ergehen zu vermitteln. In der mt Ausgestaltung der Kreuzigungsszene in 27,39–43 wird dies erneut deutlich werden. Matthäus schließt seinen Einschub mit einem V. 56a vorwegnehmenden 54 bzw. – redaktionskritisch betrachtet – Mk 14,49 duplizierenden Verweis Jesu auf die Erfüllung der Schriften, der mit einer Aufnahme des göttlichen „Muss“ aus der ersten Leidensankündigung in 16,21 verbunden wird. Wie zuvor in 26,24 wird der Bezug auf die Schriften nicht konkretisiert (vgl. 1Kor 15,3). Diese Offenheit dürfte gewollt sein, denn sie erlaubt es den Lesern, umfassend an die Schriftanspielungen und Zitate in der Passion und ihrem weiteren Kontext zu denken. So ist nicht nur auf die expliziten Zitate in 26,31 und 27,9f zu verweisen (beide aus Sacharja), sondern z. B. auch auf die Tradition des gewaltsamen Geschicks der Propheten (vgl. zu 5,12), die durch 21,11; 23,37 eingespielt wurde, bzw. auf das Motiv des Leidens der Gerechten (z. B. Ps 37,32; Weish 2,10–20), ferner auf das sog. Gottesknechtlied Jes 52,13–53,12, dessen Einfluss in 20,28; 26,28 zu vermuten war (s. auch 26,63a sowie die Bezüge auf den Gottesknecht von Jes 50,6 in 26,67f), auf den in der Passionserzählung mehrfach herangezogenen Psalm 22 (s. zu 27,35.39.46) oder auch Ps 69,22 (s. zu 27,34.48), oder auf die Heranziehung von Jeremia zur Deutung und Ausgestaltung des Konfliktes Jesu mit den Autoritäten (vgl. zu 16,14, ferner zu 23,35 und 27,9f). Beachtet man die Bedeutung des Todes Jesu als soteriologisches Grunddatum für die Ausweitung des Heils auf die Völker (s. zu 26,28), ist ferner die Verheißung des Heils eben für die Völker einzubeziehen, auf das Matthäus durch das Erfüllungszitat aus Jes 42,1–4 in Mt 12,18–21 ausgeblickt hat und das er in der an Abraham ergangenen Segensverheißung für die Völker (Gen 12,3; 18,18; 22,18; 26,4) grundgelegt finden konnte (s. zu 1,1).

Erst nachdem Jesus die gewaltsame Intervention eines Begleiters zurück- 55 gewiesen hat, wendet er sich dem Verhaftungskommando selbst zu. Nach dem längeren Einschub V. 51–54 hat Matthäus mit der Wendung „in jener Stunde“ eine neue Überleitung zur Haupthandlung geschaffen, die mit

418 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) dem Motiv der „Stunde“ an Jesu Ankündigung in V. 45b zurückdenken lässt. Die Feststellung, dass sie „wie gegen einen Räuber“ ausgezogen sind, weist darauf voraus, dass Jesus zwischen zwei Räubern gekreuzigt werden wird (27,38.44), er in dieses Ensemble aber nicht hineingehört; der Gerechte (vgl. 27,19) wird auf die Stufe von Verbrechern gestellt. Jesu Wort an das Verhaftungskommando erinnert zudem noch einmal an die Furcht der Hohepriester und Pharisäer, Jesus zu ergreifen, während er in der Öffentlichkeit des Tempels lehrte, da mit dem Protest der Volksmengen zu rechnen war (21,45f). Zu beachten ist in diesem Zusammenhang ein Detail der mt Fassung des Jesuswortes: Während der mk Jesus in 14,49 ausführt: „täglich war ich bei euch im Tempel“, lässt Matthäus Jesus sagen: „täglich saß ich im Tempel“. Matthäus weist Jesus damit nicht nur die übliche Haltung des Lehrers zu (vgl. z. B. 5,1), sondern meidet es zugleich, das Verhaftungskommando mit den Volksmengen in einen Zusammenhang zu bringen, die seine Lehre im Tempel (21,23) verfolgten und darüber – im positiven Sinn – außer sich gerieten (22,33). Nachdem Jesus selbst auf die Erfüllung der Schriften verwiesen hat, ver56 stärkt Matthäus dieses Moment durch seinen Erzählerkommentar. Die Einleitung in V. 56 ist im Stile der Erfüllungszitate ausgestaltet. Die ersten Worte von V. 56 entsprechen wörtlich der Hinführung zum ersten Erfüllungszitat in 1,22; die Geschehnisse zu Beginn und am Ende des irdischen Wegs Jesu werden jeweils umfassend („dies alles“) auf die Schrift rückbezogen. „Die Schriften“ (Mk 14,49) ist um „der Propheten“ ergänzt, was ebenfalls den Erfüllungszitaten entspricht. Die Flucht der Jünger wird ohne ausmalende Details nur konstatiert. Wie Jesus dies mit dem Zitat aus Sach 13,7 angekündigt hat, „werden die Schafe der Herde zerstreut“ (26,31).

VI 5 Der Prozess vor dem Hohen Rat und die Verleugnung des Petrus (26,57–27,2) 57 Die aber Jesus ergriffen hatten, führten ihn weg zu Kajafas, dem Hohepriester, wo sich die Schriftgelehrten und die Ältesten versammelten. 58 Petrus aber folgte ihm von weitem bis zum Palast des Hohepriesters und ging hinein und setzte sich zu den Dienern, um den Ausgang zu sehen. 59 Die Hohepriester aber und das ganze Synedrium suchten falsches Zeugnis gegen Jesus, um ihn zu töten; 60 und sie fanden keins, obwohl viele falsche Zeugen hinzutraten. Zuletzt aber traten zwei hinzu 61 und sagten: „Dieser sprach: ‚Ich vermag den Tempel Gottes zu zerstören und in drei Tagen (wieder) aufzubauen.‘“ 62 Und der Hohepriester stand auf und sagte zu ihm: „Antwortest du nicht auf das, was diese gegen dich

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bezeugen?“ 63 Jesus aber schwieg. Und der Hohepriester sagte zu ihm: „Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagst, ob du der Christus bist, der Sohn Gottes!“ 64 Jesus sagt zu ihm: „Du hast es gesagt. Doch ich sage euch: Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Kraft sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen.“ 65 Da zerriss der Hohepriester seine Kleider und sagte: „Er hat eine Gotteslästerung begangen. Was brauchen wir noch Zeugen? Siehe, nun habt ihr die Gotteslästerung gehört. 66 Was meint ihr?“ Sie aber antworteten und sagten: „Er ist des Todes schuldig.“ 67 Da spuckten sie in sein Angesicht und schlugen ihn mit Fäusten; andere aber ohrfeigten ihn 68 und sagten: „Weissage uns, Christus, wer ist es, der dich geschlagen hat?“ 69 Petrus aber saß draußen im Hof; und eine Magd trat zu ihm und sagte: „Auch du warst mit Jesus, dem Galiläer.“ 70 Er aber leugnete vor allen und sagte: „Ich weiß nicht, wovon du redest.“ 71 Als er aber in das Torgebäude hinausgegangen war, sah ihn eine andere und sagt zu denen, die dort waren: „Dieser war mit Jesus, dem Nazoräer.“ 72 Und wieder leugnete er unter Eid: „Ich kenne den Menschen nicht!“ 73 Kurz nachher aber traten die Dabeistehenden hinzu und sagten zu Petrus: „Wahrhaftig, auch du bist einer von ihnen, denn auch deine Sprache macht dich offenbar.“ 74 Da fing er an, zu fluchen und zu schwören: „Ich kenne den Menschen nicht!“ Und sogleich krähte der Hahn. 75 Und Petrus erinnerte sich an das Wort Jesu, der gesagt hatte: „Bevor der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Und er ging hinaus und weinte bitterlich. 27,1 Als es aber Morgen geworden war, fassten alle Hohepriester und Ältesten des Volkes den Beschluss gegen Jesus, ihn zu töten. 2 Und nachdem sie ihn gebunden hatten, führten sie ihn weg und lieferten ihn dem Statthalter Pilatus aus. Matthäus folgt bei der Darstellung des Prozesses vor dem Hohen Rat (26,59–68) und der Verleugnung des Petrus (V. 69–75) kompositionell dem mk Arrangement in Mk 14,53–72, in dem zu Beginn mit der Wegführung Jesu zum Hohepriester (Mt 26,57) sowie mit der Notiz über Petrus (V. 58) beide nachfolgenden Szenen eingeleitet werden. In das Textensemble einzubeziehen ist ferner 27,1f, denn der Passus schildert keine zweite Zusammenkunft, sondern die Darstellung des Prozesses von V. 59–68 findet hier ihre Fortsetzung; nun erst kommt es zu einem formalen Beschluss. Matthäus führt nicht explizit aus, wie sich der Prozess und die Verleugnung des Petrus zeitlich zueinander verhalten. Die Abfolge der Darstellung muss jedenfalls nicht eine chronologische Folge bedeuten. Der direkte Anschluss von V. 69a an V. 58 zum einen und die Fortführung von 26,59–68 in 27,1f weisen vielmehr darauf hin, dass Matthäus erst das

420 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) Geschehen im Innern, dann das sich parallel dazu ereignende Geschehen außen im Hof wiedergibt. In dem Moment, als Jesus drinnen geschlagen wird, wird der Scheinwerfer auf Petrus gerichtet, der Jesus verleugnen wird. Als Jesus von dem Verhaftungskommando zum – wie in 26,3 mit Na26,57 men genannten – Hohepriester Kajafas geführt wird, versammeln sich die hier noch einmal eigens erwähnten Schriftgelehrten (vgl. Mk 14,53) und die Ältesten in dessen Palast (V. 58), der bereits Schauplatz der Zusammenkunft in 26,3–5 war. Von den übrigen Hohepriestern ist erst in V. 59 wieder die Rede; vermutlich soll der Leser sich vorstellen, dass sie schon bei Kajafas zugegen waren. Nachdem Jesus ergriffen wurde, ist nun der zweite Teil des in 26,4 beschlossenen Planes umzusetzen: Jesus soll zum 58 Tode verurteilt werden. Bevor dies in V. 59–66 ausgeführt wird, richtet sich das Augenmerk noch auf Petrus, um V. 69–75 vorzubereiten. Nachdem Petrus sich bei der Verhaftung Jesu wie die übrigen Jünger der möglichen Festnahme durch Flucht entzogen hat, folgt er Jesus aus sicherer Distanz und setzt sich im Palast des Hohepriesters zu den Dienern. Angefügt hat Matthäus die Angabe der Intention des Petrus: Er möchte sehen, wie es ausgeht. Matthäus will Petrus hier schwerlich bloße Neugierde unterstellen. Eher ist an echte Sorge um Jesus zu denken. Verleugnen wird Petrus ihn trotzdem. Kennzeichnend für die mt Darstellung des Prozesses – wie für seine 59–61 Charakterisierung der Gegner im Ganzen – ist, dass der Hohe Rat im Unterschied zur mk Darstellung von Anfang an ein Falschzeugnis gegen Jesus sucht. Im mt Kontext ist dies vor dem Hintergrund der erfolglosen Versuche in 22,15–40 zu lesen, Jesus durch eine Fangfrage eine Falle zu stellen. Seitdem ist den Autoritäten klar, dass sie Jesus nur mit unlauteren Mitteln, „mit (betrügerischer) List“ (26,4), aus dem Weg räumen können. Zum Bild, das Matthäus von Jesus als dem Israel verheißenen Messias zeichnet, gehört neben der Erfüllung der prophetischen Weissagungen (vgl. zu 26,54) auch, dass gegen ihn auf der Grundlage der Tora keine Anklage zu erheben ist. Darüber hinaus ist traditionsgeschichtlich zu bedenken, dass in der Darstellung des leidenden Gerechten im Psalter mehrfach das Motiv des Auftretens von Falschzeugen begegnet (Ps 27,12; 35,11f; 109,2f). Der Prozess ist also von Beginn an ein Scheinprozess, dessen Urteil längst beschlossen ist (26,4.59). Gleichwohl scheitert der Hohe Rat zunächst, aber nicht wie nach Mk 14,56, weil Falschzeugen aufgetreten sind, deren Zeugnisse nicht übereinstimmen, sondern obwohl die Zeugen falsch aussagen. Zuletzt treten zwei Zeugen auf, die Jesus vorwerfen, behauptet zu haben, dass er den Tempel Gottes zerstören und in drei Tagen aufbauen kann (V. 60b–61). Anders als in Mk 14,58 ist nicht von der Absicht, sondern vom Vermögen Jesu die Rede (vgl. 26,53), den Tempel abzubrechen und wieder zu errichten. Ferner geht es bei Matthäus nicht um die Erset-

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zung des bestehenden von Händen gemachten Tempels durch einen anderen nicht von Händen gemachten (Mk 14,58), sondern eben allein um die Fähigkeit zur Wiedererrichtung binnen drei Tagen. Das Logion ist also ganz auf Jesu Vollmacht fokussiert. Matthäus sagt hier nicht noch einmal ausdrücklich, dass es sich auch hier, wie Mk 14,57 ausweist, um Falschzeugen handelt, doch muss er dies nach der einleitenden Aussage in V. 59 auch nicht mehr, denn im Textduktus ist damit ein Vorzeichen vor das Ganze gesetzt. Man kann zwar anführen, dass das Zeugnis in V. 61 insofern richtig ist, als Jesus nach Matthäus tatsächlich in der Lage wäre, das Gesagte zu vollbringen – so wie er das tobende Meer beruhigt hat (8,26, vgl. 14,32), Steine in Brot verwandeln könnte (4,3f) und zwölf Legionen Engel zur Hilfe herbeirufen könnte (26,53). Zudem hat Jesus tatsächlich die Zerstörung des Tempels angekündigt (23,38; 24,2). Trotzdem handelt es sich auch hier um eine Falschaussage, weil Jesus mit keinem Wort gesagt hat, er werde den Tempel zerstören, und schon gar nicht hat er mit dem Vermögen, dies tun zu können, „geprahlt“. Das Moment, das die Aussage in V. 61 im Unterschied zu den vorangehenden Falschzeugnissen für das Vorgehen gegen Jesus als verwertbar erscheinen lässt, mag zum einen sein, dass hier die Anklage von zwei (übereinstimmenden) Zeugen vorgebracht wird, so dass den Verfahrensvorschriften formal entsprochen wird (vgl. Dtn 17,6; 19,15, auch Num 35,30; 11QT 61,6f). Zum anderen konnten die Autoritäten in dieser Aussage eine „Machtphantasie“ erblicken, die sich mit dem Tempel gegen nichts Geringeres als gegen das Allerheiligste und damit gegen Gott selbst richtet (vgl. Jer 26,7–11!). Nun also liegt ein wahrlich substantieller Vorwurf auf dem Tisch. Da Jesus auf das Falschzeugnis nur mit Schweigen reagiert (vgl. 62–63 Jes 53,7), treibt der Hohepriester den Prozess weiter voran, indem er den ungeheuren Vollmachtsanspruch, der in dem Logion impliziert ist, zum Thema macht und diesen sogleich messianologisch koloriert: Jesus solle sich nun klar positionieren, ob er der Messias, der Sohn Gottes, sei. Auf der Ebene der Erzählung nimmt diese Frage zum einen im Blick auf den Messiastitel die Davidsohnakklamation und Jesu Reaktion auf den Protest der Autoritäten in 21,9.15 auf, zum anderen hinsichtlich des Gottessohntitels 21,37–44, wo Jesus erstmals öffentlich von sich selbst, wenngleich indirekt, als Sohn Gottes geredet hat. Für den Leser des Mt lässt die Rede vom „lebendigen Gott“ in der Schwuraufforderung zudem an das Messiasbekenntnis des Petrus in 16,16 zurückdenken, wo ebenfalls der Messiastitel durch den Gottessohntitel ausgelegt wird. Jesus reagiert nun, aber er lässt sich natürlich nicht auf einen Schwur 64 ein, denn damit würde er gegen seine eigenen Worte in 5,33–37 verstoßen. Die Antwort, die Matthäus Jesus – in vorausschauender Angleichung an das Verhör vor Pilatus in 27,11 – mit den Worten „du hast es gesagt“ geben lässt (vgl. Lk 22,70), ist ausweislich der mt Parallele in 26,25

422 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) wie das mk „ich bin es“ (Mk 14,62) als Bejahung zu verstehen. Mit der indirekten Form der Replik wird der Ball jedoch zum Hohepriester zurückgespielt und insinuiert, dass dieser nicht nur selbst um Jesu Anspruch weiß, sondern näherhin auch, dass dieser keine Anmaßung, sondern berechtigt ist. Die Exposition der Konfliktthematik in 2,3–6 hat jedenfalls genau dies als Vorzeichen vor das Weitere gesetzt: Auch dort wissen Herodes und die beteiligten jüdischen Autoritäten aufgrund des Zeugnisses der Magier von der Geburt des Messias (2,2.4–6). Matthäus stellt die Ablehnung Jesu als Versuch dar, trotz besserer Erkenntnis die eigene Stellung zu behaupten. Mit dem Fortgang seiner Replik belässt Jesus es nicht bei der indirekten Bestätigung seiner messianischen Würde, sondern verweist darüber hinaus auf seine zukünftige Rolle als Weltenherr und Richter, durch die das Unterfangen des Synedriums zum Scheitern verurteilt ist. Jesus kombiniert hier Dan 7,13 mit einem Rückverweis auf das Zitat von Ps 110,1 in Mt 22,44. Während man das Kommen auf den Wolken des Himmels nicht anders als auf die Parusie beziehen kann (vgl. 24,30f), blickt die Rede vom Sitzen des Menschensohnes zur Rechten der Kraft auf die postmortale Erhöhung Jesu. Matthäus hat diese Weiterführung durch die Einfügung von „doch ich sage euch“ vom Vorangehenden abgesetzt und ferner in der Ankündigung selbst die Wendung „von jetzt an“ vorangestellt, die ihm bereits in 23,39 und 26,29 dazu diente, die mit dem Tod Jesu verbundene Zäsur zu markieren. Die damit in 26,64 entstehende Aussage ist im Blick auf die Parusie schwierig, im Blick auf die Erhöhung Jesu zum Weltenherrn aber insofern verständlich, als die Jesu Tod begleitenden Geschehnisse (27,51–53) als eschatologische Zeichen auf die Erhöhung Jesu verweisen. Umgekehrt unterstreicht die Einfügung von „von jetzt an“ in 26,64 im Blick auf 27,51–53, dass Matthäus Tod und Auferstehung Jesu als einen Geschehenszusammenhang begreift. Die Autoritäten werden ferner nicht nur Zeugen der Ereignisse beim Tod Jesu, sondern auch des auf die Auferstehung und Erhöhung verweisenden leeren Grabes (28,11–15). Das Kommen des Menschensohnes auf den Wolken des Himmels nennt in 26,64 den Schlusspunkt der mit der Erhöhung Jesu eingeleiteten heilsgeschichtlichen Phase und kann aufgrund dieses Zusammenhangs in das Geschehen, dessen Zeugen die Autoritäten „von jetzt an“ werden, einbezogen werden. Für die Autoritäten impliziert Jesu Antwort eine manifeste Drohung: Zur Rechten Gottes wird er nach dem Psalmzitat sitzen, bis Gott seine Feinde unter seine Füße legt (Ps 110,1, vgl. Mt 22,44), und wenn der zur Rechten Gottes sitzende Menschensohn als Weltenrichter (25,31) „auf den Wolken des Himmels“ kommt, wird er die verurteilen, die jetzt ihn verurteilen. Die Zeichen des Herrschaftsantritts Jesu, die die Autoritäten „von jetzt an“ sehen werden, sind zugleich Zeichen für ihre eigene – bei Gott bereits geschehene – Entmachtung.

Der Prozess vor dem Hohen Rat und die Verleugnung des Petrus

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Den Autoritäten bietet der von Jesus in 26,64 – wenngleich nur indi- 65–66 rekt – erhobene Anspruch die Gelegenheit, ihn der Blasphemie zu bezichtigen (V. 65). Der Vorwurf wird bei Matthäus noch dadurch betont, dass die Feststellung der Gotteslästerung nicht nur wie in Mk 14,64 in der Frage an die Ratsmitglieder begegnet, sondern zusätzlich die Worte des Hohepriesters einleitet. Weitere Zeugen werden nicht mehr gebraucht, weil Jesus vor ihrer aller Ohren eine nach ihrem Urteil todeswürdige (vgl. Lev 24,16) Lästerung ausgesprochen hat. Das Zerreißen des Gewandes (vgl. Num 14,6; 2Kön 19,1; Jer 36,24) im Falle einer Gotteslästerung entspricht der Vorschrift in mSanh 7,5, doch ist der Tatbestand der Gotteslästerung dort auf das Aussprechen des Gottesnamens enggeführt, während hier eine weiter gefasste Definition zugrunde liegt. Der Lästerung wurde Jesus während seines Wirkens bereits in der allerersten Konfliktszene in 9,3 bezichtigt, dort wegen seines Anspruchs, die Vergebung der Sünden zusprechen zu können. Hier wie dort wird Jesus die Anmaßung zum Vorwurf gemacht, in die Machtdomäne Gottes einzugreifen. Matthäus hat in V. 66 die mk Aussage, dass „alle ihn verurteilten, des Todes schuldig zu sein“, nicht übernommen. Bei Matthäus votieren die Ratsmitglieder in V. 66 einhellig für das Verhängen der Todesstrafe, der formale Beschluss aber wird erst in 27,1 gefasst. Bevor es dazu kommt, bricht sich die Feindschaft gegen Jesus in seiner Verspottung Bahn. Matthäus’ Version der Verspottungsszene fügt sich nahtlos seiner dezi- 67–68 diert negativen Zeichnung der jüdischen Autoritäten ein. Denn im Unterschied zu Mk 14,65 („einige“) bietet er kein neues Subjekt, so dass der Eindruck erweckt wird, dass genau die, die Jesus zuvor als des Todes schuldig erachtet haben, also alle Mitglieder des Hohen Rates, sich nun an der Schmähung Jesu beteiligen. Matthäus hat das Verhüllen des Angesichts Jesu (Mk 14,65, s. auch Lk 22,64) gestrichen und dafür ergänzt, dass Jesus in sein Angesicht gespien wurde. Zusammen mit der Erwähnung von Schlägen und Ohrfeigen ergibt sich hier ein Ensemble von deutlichen Bezügen auf Jes 50,6: Die Verspottung Jesu wird in den Farben des Leidens des Gottesknechts dargestellt (zum Speien ins Angesicht vgl. auch Num 12,14; Dtn 25,9 sowie Ijob 30,10). Die abschließende Aufforderung an Jesus, er solle weissagen, knüpft mit der von Matthäus eingefügten Christusanrede an den in V. 63f erhobenen Anspruch an und macht sich über Jesu „Weissagung“ in V. 64b lustig: Als der, der sogar zur Rechten Gottes sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen wird, muss er doch die mit Namen kennen, die ihn schlagen. Die Frage „wer ist es, der dich geschlagen hat“ begegnet auch in Lk 22,64 (dort aber im Verbund mit der Verhüllung des Gesichts in anderer Ausrichtung) und gehört zu den auffälligsten Übereinstimmungen von Mt und Lk gegen Mk. Der Befund dürfte wiederum auf den Einfluss mündlicher Überlieferung verweisen (vgl. zu 13,11).

424 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) Die in V. 69–75 folgende Darstellung der Verleugnung Jesu durch Petrus ist abgesehen von der knappen Einleitung in V. 69a und dem gewichtigen Schlusspassus in V. 74b.75 durch die drei Dialogszenen strukturiert. Matthäus folgt hier zwar der Grundstruktur der mk Vorlage, doch hat er im Detail nicht wenige Änderungen vorgenommen. Dabei zeigen sich auffällige Übereinstimmungen von Mt und Lk gegen Mk: In Mt 26,71; Lk 22,58 wird Petrus in der zweiten Szene anders als in Mk 14,69 jeweils von einer anderen Person erkannt; nur bei Markus kräht der Hahn zweimal (Mk 14,68.72, vgl. 14,30); und vor allem ist in Mt 26,75; Lk 22,62 am Ende wortgleich davon die Rede, dass Petrus hinausging und bitterlich weinte. Auch hier weist der Befund wieder darauf hin, dass den Evangelisten neben dem Mk auch geprägte mündliche Tradition zugänglich war. V. 69a schließt an die in V. 58 dargestellte Szenerie an: Petrus sitzt drau69a ßen, also im Hof des Palastes. Durch diese Angabe wird im Nachhinein klar, dass sein „Hineingehen“ in V. 58 nicht bedeutete, dass er in den 69b–70 Raum hineingelangte, in dem gegen Jesus verhandelt wurde. Die Einleitung zur ersten Dialogszene ist gegenüber Mk 14,66 stark elementarisiert: Weder ist die Magd als eine der Mägde des Hohepriesters näherbestimmt (vielleicht setzt Matthäus dies aufgrund des Ortes als selbstverständlich voraus), noch wird geschildert, dass die Frau Petrus unter denen entdeckt, die sich im Hof wärmen (dieses Erzählmoment hat Matthäus schon in V. 58 par Mk 14,54 gestrichen). Sie tritt einfach herzu und spricht Petrus an. Petrus aber spielt vor, nicht zu wissen, wovon die Rede ist. Im Gegenüber zur Aussage der Magd, die den Blick auf das Zusammensein mit Jesus lenkt („auch du warst mit Jesus“), fällt der Ton dabei darauf, dass Petrus die Gemeinschaft mit Jesus verneint. In der Einleitung zur Verleugnung des Petrus hat Matthäus durch die Einfügung der Wendung „vor allen“ die Öffentlichkeit der Reaktion von Petrus herausgestellt und damit zugleich einen Rückverweis auf 10,33 („wer mich aber vor den Menschen verleugnet …“) geschaffen. Der dortige Nachsatz „den werde auch ich verleugnen vor meinem Vater in den Himmeln“ verweist auf die Schwere von Petrus’ Vergehen und die endgerichtliche Konsequenz: Dem, der ihn verleugnet, kündigt Jesus auch seinerseits die Gemeinschaft auf. Petrus tritt den Rückzug an, doch wird er im Torgebäude von einer an71–72 deren Magd identifiziert. Dass Petrus nicht unerkannt zu bleiben vermag, sondern gleich von mehreren Personen als zu Jesus gehörig identifiziert wird, spiegelt dabei das Aufsehen, das Jesus mit seinem Auftreten in Jerusalem erregt hat. Die zweite Magd spricht nun nicht Petrus direkt an, sondern macht die Umstehenden auf Petrus aufmerksam, aber so, dass Petrus dies vernimmt. Ihre Worte entsprechen denen der ersten Magd (anders Mk 14,69), nur wird, abgesehen von dem durch die Szenerie bedingten Wechsel zur 3. Pers. („dieser ist …“), Jesus nun nicht als Galiläer, sondern als „Nazoräer“ näherbestimmt, womit – auf der Ebene der Erzählung – 69–75

Der Prozess vor dem Hohen Rat und die Verleugnung des Petrus

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die Aussage des Erfüllungszitats in 2,23 eingelöst wird. Während Mk 14,70 hier nur die erneute Verleugnung konstatiert, hat Matthäus – wie mit anderem Wortlaut auch Lukas (Lk 22,58) – direkte Rede eingeführt und damit in allen drei Szenen konsequent eine dialogische Struktur durchgehalten. Zudem lässt Matthäus Petrus bereits hier seine Worte durch einen Eid bekräftigen. Während Jesus sich auf die Schwuraufforderung des Hohepriesters nicht einließ (V. 63f), verstößt Petrus nicht nur gegen Jesu Schwurverbot (5,33–37), sondern er schwört sogar falsch. Die Worte, die Matthäus Petrus hier in den Mund legt, nehmen in gekürzter Form die dritte mk Verleugnung (Mk 14,71) auf. Petrus bestreitet nun sogar, „den Menschen“, wie er fast despektierlich anstelle des Namens „Jesus“ sagt, überhaupt zu kennen. Hat die zweite Magd andere Anwesende aufmerksam gemacht, so tre- 73–74a ten nun die Dabeistehenden zu Petrus und bestätigen seine Identifizierung durch die Magd. Diese wird jetzt allerdings nicht mehr über das Mit-Sein mit Jesus, sondern – wie in Mk 14,71, wo schon in der zweiten Szene entsprechend formuliert wurde (14,69) – über die Zugehörigkeit zur Gruppe bestimmt; das Tempus wechselt nun in das Präsens: „Auch du bist (einer) von ihnen“. Dieser Variation fügt sich das zusätzlich angeführte Indiz, dass auch Petrus’ Dialekt ihn offenbar mache, d. h. als Galiläer ausweise (vgl. bErub 53b), stimmig ein: Nicht nur Jesus selbst ist ein Galiläer (V. 69), sondern auch seine Begleiter werden von den Jerusalemern als eine galiläische Gruppe identifiziert. Petrus wiederholt seine zuvor im Torgebäude geäußerten Worte, aber seine Leugnung nimmt weiter an Vehemenz zu: Nach dem Eid in V. 72 fängt er nun an, „zu fluchen und zu schwören“. Für die nicht selten vertretene Option, dass „Jesus“ als Objekt zu „fluchen“ zu ergänzen sei, kann man darauf verweisen, dass Christen in Prozessen aufgefordert wurden, Jesus zu lästern bzw. zu verfluchen (Plinius d.J., Ep 10,96,5–6; MartPolyk 9,3; Justin, Apol 1,31,6), doch ist diese Praxis erst deutlich nach Mt bezeugt. Im Zusammenspiel mit „schwören“ ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass es um die Beteuerung der (vermeintlichen) Wahrheit seiner Aussage geht: Er selbst möchte verflucht sein, wenn seine Worte nicht der Wahrheit entsprechen. Der 74b–75 sogleich nach Petrus’ dritter Verleugnung ertönende Hahnenschrei ruft Petrus die Ankündigung Jesu in Erinnerung, die er wenige Stunden zuvor entschieden von sich gewiesen hat (V. 34f). Schlagartig wird ihm sein Versagen bewusst. In V. 58 ging er hinein, um zu sehen, wie es mit Jesus ausgeht; nun geht er, der beteuert hat, sogar, wenn es sein muss, mit Jesus zu sterben, hinaus, nachdem er bestritten hat, Jesus überhaupt zu kennen. Sein bitterliches Weinen (vgl. Jes 22,4; 33,7) verweist auf seine Reue. In der weiteren Passionserzählung tritt Petrus nicht mehr in Erscheinung. In Galiläa ist er laut 28,16–20 – ganz selbstverständlich, ohne dass Matthäus dies kommentiert – unter den verbliebenen elf Jüngern des

426 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) Zwölferkreises, die der Auferstandene zur universalen Mission beauftragt. Jener Petrus also, der Jesus verleugnet hat, wird nun zum Fels seiner Kirche (vgl. zu 16,18). Es verdient große Beachtung, dass das unrühmliche Verhalten von Petrus trotz seiner zentralen Rolle in der nachösterlichen Jesusbewegung in der Überlieferung in keiner Weise unterdrückt wurde. Die Jünger brillieren nicht als ideale Helden, sondern werden auch in ihrem allzu menschlichen Versagen geschildert. Gerade dies aber rückt die zentrale Bedeutung von Barmherzigkeit und Vergebung als Grundprinzip der Gemeinde ins Licht. An der Gestalt des Petrus findet dies eine exemplarische Illustration (vgl. zu 18,21–35). Nach der Einschaltung der Verleugnung des Petrus in 26,69–75 kehrt 27,1 die Erzählung zur Darstellung des Prozesses gegen Jesus vor dem Hohen Rat zurück. Dem Hahnenschrei in 26,75 entspricht, dass inzwischen die frühe Morgenstunde erreicht ist. Nachdem Jesus in 26,65f von allen Ratsmitgliedern als schuldig erachtet wurde und dem Scheinprozess noch dadurch die Spitze aufgesetzt wurde, dass sie ihrer Aggression gegen Jesus freien Lauf gelassen haben (26,67f), folgt nun der formale Beschluss gegen Jesus, auf den 27,3 dann mit den Worten „dass er verurteilt worden war“ Bezug nimmt (vgl. die Streichung der Verurteilung aus Mk 14,64 in Mt 26,66). Wie in 26,3.47 nennt Matthäus wieder die Hohepriester und Ältesten des Volkes als Akteure; „alle“ betont ihre Geschlossenheit im Vorgehen gegen Jesus. Anders als in Mk 15,1 wird der Inhalt des Beschlusses von Matthäus expliziert, wobei er dazu genau die Worte aufgreift, mit denen er in 26,59 das Ziel des Prozesses benannt hat: Sie fassten den Be2 schluss, ihn zu töten. Da die Kapitalgerichtsbarkeit beim römischen Statthalter lag, steht es ihnen aber nicht zu, das Urteil zu vollstrecken (vgl. Joh 18,31). Sie können nicht mehr tun, als Jesus Pilatus zu überstellen. In der Beschlussfassung wird daher impliziert sein, was sie als Anklagegrund vor Pilatus vorbringen werden. Der Vorwurf der Gotteslästerung hätte Pilatus schwerlich beeindruckt; sie werden auf den messianischen Anspruch Jesu abheben (vgl. V. 11). Dass er nun – anders als in 26,57 – gefesselt (vgl. Jes 3,10 LXX) weggeführt wird, soll wohl gegenüber dem Statthalter die von ihm ausgehende Gefahr deutlich machen. Der Schlusssatz verstärkt den Rückverweis auf die dritte Leidensankündigung in 20,18f: Die Hohepriester und Ältesten haben Jesus zum Tode verurteilt, nun liefern sie ihn den Heiden aus.

Das Ende des Judas und der Kauf des Blutackers (27,3–10)

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VI 6 Das Ende des Judas und der Kauf des Blutackers (27,3–10) 3 Als Judas, der ihn auslieferte, sah, dass er verurteilt worden war, da bereute er, und er brachte die dreißig Silberstücke den Hohepriestern und den Ältesten zurück 4 und sagte: „Ich habe gesündigt, indem ich unschuldiges Blut ausgeliefert habe.“ Sie aber sagten: „Was geht uns das an? Sieh du zu!“ 5 Und er warf die Silberstücke in den Tempel und zog sich zurück; und er ging weg und erhängte sich. 6 Die Hohepriester aber nahmen die Silberstücke und sagten: „Es ist nicht erlaubt, sie in den Tempelschatz zu werfen, weil es der Preis für Blut ist.“ 7 Sie fassten aber einen Beschluss und kauften davon den Acker des Töpfers als Begräbnisstätte für die Fremden. 8 Deshalb wird jener Acker bis heute „Blutacker“ genannt. 9 Da wurde erfüllt, was durch den Propheten Jeremia gesagt wurde, der spricht: „Und sie nahmen die dreißig Silberstücke, den Preis für den Abgeschätzten, den sie (d. h. einige) von den Söhnen Israels abgeschätzt haben, 10 und sie gaben sie für den Acker des Töpfers, wie mir der Herr aufgetragen hatte.“ Während im mk Erzählduktus das Wehewort Jesu gegen den, der ihn ausliefert (Mk 14,21 par Mt 26,24), im Raum stehen bleibt, ohne eine narrative Entfaltung zu erfahren, hat Matthäus diese Lücke durch eine Erzählung vom Ende des Judas gefüllt. Das Hauptaugenmerk ist dabei allerdings gar nicht auf Judas selbst, sondern auf die Autoritäten gerichtet. Wirft schon ihr Verhalten gegenüber Judas in V. 4 ein äußerst negatives Licht auf sie, so ist der Judasszene in V. 3–5 mit dem „Bericht“ über ihren Umgang mit dem retournierten „Blutgeld“ in V. 6–8 noch eine zweite Szene angefügt, die ihre negative Charakterisierung fortschreibt. Die dreißig Silberstücke dienen als verbindendes Glied zwischen den beiden Szenen. Dem Fokus auf dem Fehlverhalten der Autoritäten entspricht schließlich, dass dieses in V. 9f noch durch ein Erfüllungszitat, das letzte im Mt, profiliert wird. Ausweislich der Paralleltradition in Apg 1,16–20 ist V. 3–10 keine freie Bildung des Evangelisten, doch sind die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Texten gering, so dass sich nicht mehr als ein dürres Gerüst als Traditionsgrundlage ergibt: Neben der Verbindung des Judaslohns mit dem Erwerb eines Ackers, der Blutacker genannt wird, ist allein der Verweis auf die Schrift zu nennen, der allerdings verschieden ausgeführt wird. Auf der anderen Seite sind beträchtliche Differenzen zu notieren: Dem als „Gottesgericht“ verstandenen, durch das Zitat von Ps 69,26 gedeuteten Unfalltod des Judas auf dem erworbenen Acker (Apg 1,18) steht in Mt 27,5 Judas’ Selbstmord gegenüber. Apg 1,16–20 weiß nichts von einer Reue des Judas – das Motiv wäre mit dem Gedanken eines göttlichen Strafgerichts auch schwer kompatibel –, und entsprechend kommen die Hohepriester

428 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) nicht vor. Blickt man auf die Genese von Mt 27,3–10, so erscheint der Text als Ergebnis eines kreativen Interpretationsprozesses, in dem die Tradition über Judas im Lichte der Lektüre der Schrift, vor allem des Jeremia- und des Sacharjabuches, weiterentwickelt wurde. Dabei liegt die Annahme nahe, dass Matthäus selbst und sein schriftgelehrtes Umfeld für diesen Prozess verantwortlich zeichneten. Evident ist in jedem Fall, dass sich die Perikope nahtlos in die mt Konzeption der Gegner einfügt und durch Querverbindungen gut mit dem Kontext verzahnt ist. Als Judas, der in V. 3 ein weiteres Mal als der, der Jesus auslieferte, ein3–5 geführt wird, sich mit dem Ergebnis seiner Allianz mit den Autoritäten konfrontiert sieht, sucht er sich in einem Akt von Reue der dreißig Silberstücke zu entledigen. Die Einordnung der Episode in den Erzählfaden bereitet insofern Schwierigkeiten, als V. 2 in Verbindung mit V. 12 nahelegt, dass die Autoritäten bereits bei Pilatus vorstellig wurden; zudem wird die Handlung in V. 5f in den Tempel verlagert. Man wird die Geschehnisse in V. 3–8 daher kaum zwischen V. 2 und V. 11 unterbringen können. Matthäus scheint diesen Spannungen aber keine Beachtung geschenkt zu haben. Ihm kommt es vielmehr darauf an, mit der Einspielung von V. 3–10 die Skrupellosigkeit der Autoritäten in ihrem Vorgehen gegen Jesus weiter zu profilieren. Und er möchte entsprechend die Verurteilung Jesu, die Judas’ Reue auslöst, auf das Vorgehen der jüdischen Autoritäten in V. 1f – und nicht etwa auf das der römischen Instanz (V. 26) – bezogen wissen. Daher bot sich eine Platzierung nach 27,1f als Ort für die Einfügung an. Die eine atl. verbreitete Wendung aufnehmende Rede vom „unschuldigen Blut“ (vgl. 1Sam 19,5; 1Kön 2,5; Jer 7,6; 19,4 u. ö.) lässt im mt Kontext zum einen an 23,35 zurückdenken, zum anderen hallt sie in Pilatus’ Worten in 27,24 nach; ferner bereitet sie innerhalb der Erzählung V. 6 („Blutgeld“) und V. 8 („Blutacker“) vor. Die Autoritäten reagieren auf Judas’ Schuldbekenntnis mit ostentativem Desinteresse, in dem sich ihr Desinteresse an einem gerechten Verfahren und ihr unbedingter Wille zur Tötung Jesu spiegeln. Jesu Unschuld ist für sie nicht neu. Ihre Judas abweisenden Worte „sieh du zu“, mit denen Matthäus einen weiteren Querverweis auf V. 24 gesetzt hat, geben zu erkennen, dass ihnen Judas’ Gewissenslage gleichgültig ist. Ihre – im Gegenüber zur Reue des Judas umso deutlicher hervortretende – Unbußfertigkeit wird vom weiteren Kontext her noch dadurch profiliert, dass das im griechischen Text für „bereuen“ stehende Wort (metamelesthai) im Mt außer in V. 3 nur noch in 21,29.32 begegnet und dort das Fehlverhalten eben der Hohepriester und Ältesten (21,23) thematisiert wird. Matthäus hat die Texte durch den Gebrauch desselben Verbs gezielt miteinander verbunden: Weder durch die Umkehr selbst von Zöllnern und Prostituierten noch durch die Reue des Judas haben sich die Autoritäten von ihrem frevlerischen Verhalten abbringen lassen. Hingegen dient die Wortwahl nicht dazu, Judas’ Abkehr von seinem Fehlverhalten

Das Ende des Judas und der Kauf des Blutackers (27,3–10)

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als unzureichend abzuqualifizieren. Aber seine Schuld lastet schwer auf ihm. So sieht er für sich, da die Vertreter des Hohen Rates ihn abgewiesen haben und er die Tat nicht mehr ungeschehen oder rückgängig machen kann, nur den Ausweg, die fällige Strafe (vgl. Dtn 27,25) an sich selbst zu vollstrecken. Dass Judas’ Ende in V. 5 als Selbsttötung durch Erhängen dargestellt wird, ist durch Ahitofels Selbstmord in 2Sam 17,23 inspiriert: Auf dieselbe Art und Weise, wie Davids abtrünniger Berater aus dem Leben schied, machte auch Judas, der Jünger des messianischen Sohnes Davids, seinem Leben ein Ende. Da Judas sich zuvor aber noch des Geldes entledigt und es in den Tempel geworfen hat (vgl. Sach 11,13), kommen die Hohepriester (die Ältes- 6–8 ten fehlen nun wie in 26,14–16) doch wieder ins Spiel: Weigerten sie sich, sich mit Judas und seinem Eingeständnis zu befassen, so kommen sie nun nicht umhin, sich zu dem Geld zu verhalten. Hinter der Scheu, das Geld dem Tempelschatz zuzufügen, steht eine freie Applikation von Dtn 23,19. Die Befolgung des Gesetzes erscheint nach dem Voranstehenden allerdings als rein äußerlich, ja als Farce bzw. sind die Bedenken der Hohepriester offenbar nicht ethisch, sondern rein rituell bestimmt (vgl. 1Chr 22,8). Indem Matthäus die Autoritäten vom „Preis für Blut“ bzw. vom „Blutgeld“ (vgl. TestSeb 3,3) reden lässt, wird die Begründung für den Namen des von den dreißig Silberstücken erworbenen Ackers angebahnt. Wieder fassen die Autoritäten einen Beschluss (V. 7, vgl. V. 1). Die Bezeichnung des erworbenen Grundstücks als Töpferacker geschieht im Vorblick auf das Erfüllungszitat in V. 9 f. Aus einer Ätiologie für den Namen des Grundstücks (Apg 1,18f) ist so eine Ätiologie für dessen Umbenennung geworden; und anders als in Apg 1,18f bezieht sich „Blutacker“ nicht auf das Blut des Judas, der auf dem von ihm erworbenen Feld grausam ums Leben gekommen sein soll, sondern auf das Blut Jesu: Blutacker heißt das Gelände, weil an dem Kaufpreis das Blut Jesu klebt. Das die Erzählung abschließende Erfüllungszitat in V. 9f nimmt das Mo- 9–10 tiv des Kaufgeldes und den Erwerb des Ackers auf. Bei dem Zitat handelt es sich um ein Mischzitat, das eine recht freie Wiedergabe des primären Bezugstextes Sach 11,13, aus dessen Kontext Matthäus bereits die in 26,15 erwähnten dreißig Silberstücke (vgl. 27,3) entnommen hat (Sach 11,12), mit Anspielungen auf die Rede vom Töpfer sowie vom Acker in Jer 18,1–12; 19,1–13 sowie Jer 32 verbindet. Während in Sach 11,13 in der 1. Pers. Sg. Handlungen des zurückgewiesenen Hirten benannt werden, hat Matthäus das Zitat durch die 3. Pers. Pl. auf das Verhalten der Autoritäten bezogen (Anknüpfungspunkt ist die Doppeldeutigkeit der griechischen Verbform elabon zu Beginn des mt Zitats, die „ich nahm“ oder „sie nahmen“ bedeuten kann). In der überladenen Näherbestimmung der dreißig Silberstücke am Ende von V. 9, die das Gewicht der Silberstücke in der vorangehenden Erzählung abbildet, wird durch die Einfügung der Wendung „von den

430 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) Söhnen Israels“ in das Zitat nicht kollektivisch Israel für das Vorgehen gegen Jesus belastet, sondern die Wendung ist im Griechischen partitiv auf das Subjekt bezogen, so dass sinngemäß zu übersetzen ist: „den Preis …, den einige von den Söhnen Israels abgeschätzt haben“. Auch hier werden die Autoritäten nicht mit dem gesamten Volk zu einer einheitlichen Größe zusammengeschlossen; Matthäus setzt vielmehr seine differenziertere Figurenkonstellation fort. Die Kennzeichnung der Hohepriester als Söhne Israels fungiert dabei als Kontrastmotiv zu ihrem Verhalten, denn dieses steht in einem eklatanten Widerspruch zu ihrer Zugehörigkeit zum auserwählten Volk: Der Messias Israels wird – unfassbarerweise – von (den führenden) Söhnen Israels, also aus den eigenen Reihen, bekämpft. Die Zuschreibung des Zitats an Jeremia statt Sacharja ist kein Versehen, sondern sie erschließt sich zum einen auf dem Hintergrund der Beziehungen, die Matthäus zwischen der Passionsgeschichte und Mt 2 geknüpft hat, wo in 2,17f ebenfalls ein Erfüllungszitat aus Jeremia, das hier auch tatsächlich aus Jer stammt, begegnet. Beiden Zitaten ist gemeinsam, dass es nicht um Heilsverheißungen, sondern um die Opposition gegen Jesus geht und das Schriftwort entsprechend bloß konstatierend mit „da wurde erfüllt …“ (statt mit „damit erfüllt würde …“) eingeleitet wird, da das Geschehen zwar in der Schrift geweissagt ist, aber nicht als von Gott selbst beabsichtigt ausgesagt werden kann. Zum anderen ist die Nennung Jeremias in V. 9 als appellatives Signal an die Adressaten zu verstehen, dass sie das in V. 3–8 Geschilderte im Lichte von Jer reflektieren sollen. Von besonderer Bedeutung dürfte für Matthäus dabei Jer 19 gewesen sein: Erstens sind in Jer 19 die Ältesten des Volkes und die Ältesten der Priester adressiert (V. 1, vgl. die Figurenkonstellation in Mt 27,3); zweitens wird in Jer 19 die Zerstörung Jerusalems angekündigt, die drittens mit dem Vergießen unschuldigen Blutes (19,4) begründet wird (vgl. Mt 27,4.25). Viertens ist in Jer 19,11 im Kontext der durch das Zerbrechen des Gefäßes des Töpfers symbolisierten Zerstörung der Stadt zugleich explizit vom Gericht an ihren Bewohnern (vgl. V. 12 und bereits V. 3) die Rede, die in V. 11 als „dieses Volk (laos)“ bezeichnet werden (vgl. wiederum Mt 27,25). Jeremia ist der Prophet der Zerstörung des ersten Tempels. Entsprechend geht Matthäus’ Bestreben, das Fehlverhalten der Gegner Jesu durch Anspielungen auf Jer zu beleuchten, damit einher, dass er die Zerstörung des zweiten Tempels als Strafe für die Feinde Jesu und seiner Nachfolger betrachtet (zur Rezeption von Jer im antiken Judentum nach 70 n. Chr. als Kontext s. zu 16,14).

Der Prozess vor Pilatus und die Verspottung Jesu (27,11–31)

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VI 7 Der Prozess vor Pilatus und die Verspottung Jesu (27,11–31) VI 7.1 Der Prozess vor Pilatus (27,11–26) 11 Jesus aber wurde vor den Statthalter gestellt. Und der Statthalter fragte ihn und sagte: „Bist du der König der Juden?“ Jesus aber sprach: „Du sagst es.“ 12 Und als er von den Hohepriestern und Ältesten angeklagt wurde, antwortete er nichts. 13 Da sagt Pilatus zu ihm: „Hörst du nicht, wie viel sie gegen dich bezeugen?“ 14 Und er antwortete ihm auf kein einziges Wort, so dass der Statthalter sich sehr wunderte. 15 Zum Fest aber pflegte der Statthalter der Volksmenge einen Gefangenen freizulassen, welchen sie wollten. 16 Sie hatten aber damals einen berüchtigten Gefangenen, der Jesus Barabbas hieß. 17 Als sie nun versammelt waren, sagte Pilatus zu ihnen: „Welchen wollt ihr, dass ich euch freilassen soll, Jesus, den Barabbas, oder Jesus, der Christus genannt wird?“ 18 Denn er wusste, dass sie ihn aus Neid ausgeliefert hatten. 19 Als er aber auf dem Richterstuhl saß, sandte seine Frau zu ihm und ließ (ihm) sagen: „Habe du nichts zu schaffen mit jenem Gerechten! Ich habe nämlich heute um seinetwillen im Traum viel gelitten.“ 20 Die Hohepriester und die Ältesten aber überredeten die Volksmengen, dass sie Barabbas erbäten, Jesus aber vernichteten. 21 Der Statthalter aber antwortete und sagte zu ihnen: „Welchen von den beiden wollt ihr, dass ich euch freilassen soll?“ Sie aber sagten: „Barabbas!“ 22 Pilatus sagt zu ihnen: „Was soll ich dann mit Jesus tun, der Christus genannt wird?“ Sie sagen alle: „Er soll gekreuzigt werden!“ 23 Er aber sprach: „Was hat er denn Böses getan?“ Sie aber schrien noch mehr und sagten: „Er soll gekreuzigt werden!“ 24 Als aber Pilatus sah, dass er nichts erreicht, sondern noch mehr Tumult entsteht, nahm er Wasser, wusch sich die Hände ab vor der Volksmenge und sagte: „Ich bin unschuldig am Blut von diesem. Seht ihr zu!“ 25 Und das ganze Volk antwortete und sagte: „Sein Blut über uns und über unsere Kinder!“ 26 Da ließ er ihnen Barabbas los; Jesus aber ließ er auspeitschen und lieferte ihn aus, damit er gekreuzigt werde. Matthäus hat der Darstellung des Prozesses vor Pilatus nicht nur durch die Einfügung von V. 19.24f, sondern auch durch weitere inhaltlich bedeutsame Eingriffe in seine Vorlage (Mk 15,2–15) ein eigenes Gepräge verliehen. Charakteristisch ist vor allem die Tendenz, dass Matthäus das vor Pilatus versammelte Volk als Träger der Verantwortung für das Urteil weiter belastet hat. Das Figurenensemble im kurzen ersten Abschnitt (V. 11–14) ist von den Jesus anklagenden Autoritäten, dem zur Stellungnahme herausgeforder-

432 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) ten Angeklagten Jesus und Pilatus als Richter bestimmt, dessen Fragen sich jeweils an Jesus richten (V. 11.13). In V. 15–25 folgt dem der – durch V. 19f unterbrochene – Dialog zwischen Pilatus und dem Volk anlässlich der Passaamnestie, der durch die Intervention der jüdischen Autoritäten in V. 20 eine von Pilatus nicht intendierte Richtung nimmt. V. 26 konstatiert knapp den Ausgang des Verfahrens. Nach dem Einschub von V. 3–10 dient die von Matthäus neu gestaltete 11 Einleitung in V. 11a dazu, den Zusammenhang mit V. 2 herzustellen. Pilatus’ Frage an Jesus in V. 11b gibt zu erkennen, dass den Autoritäten bei der Auslieferung Jesu (V. 2) natürlich nicht das religiöse Motiv der Gotteslästerung (26,65f) als Anklagepunkt diente, sondern der Messiasanspruch Jesu (26,63f). Gegenüber Pilatus wird dieser allerdings dergestalt vorgebracht, dass sie – um der Erfolgschancen ihres Vorgehens willen – mit der Verwendung des Königstitels einen politischen Anspruch Jesu suggerieren, der der etablierten politischen Ordnung zuwiderläuft. Die Rede von Jesus als „König der Juden“ weist auf die Exposition der Konfliktthematik in 2,1–12 zurück, wo die Frage der Magier nach dem geborenen „König der Juden“ (2,2) den amtierenden König Herodes auf den Plan rief, den „Konkurrenten“ zu beseitigen. Nun also wird Jesus dem römischen Statthalter als Königsprätendent präsentiert. Jesus antwortet wie in 26,64 im Grundsatz bejahend, aber indirekt, wobei hier in den distanzierenden Worten „Du sagst es“ eine Zurückweisung der politischen Dimension der Anklage mitzuhören ist. „König der Juden“ ist ohnehin eine Wendung, in der sich eine Perspektive von außen manifestiert; Juden lässt Matthäus hingegen vom „König Israels“ sprechen 12–14 (27,42). Eine unmittelbare Reaktion von Pilatus wird nicht geschildert. Stattdessen lenkt der Evangelist das Augenmerk auf den Kontrast zwischen den – gegenüber Mk 15,3 um die Ältesten ergänzten – Hohepriestern, die Jesus anklagen und Pilatus zu einem Vorgehen gegen Jesus bewegen wollen, auf der einen Seite und dem schweigenden Jesus auf der anderen (vgl. 26,62f). Die Erzählung lässt dabei eine Leerstelle: Die Anklagen werden weder im Wortlaut dargeboten noch zumindest inhaltlich benannt. Erwägen kann man, dass die Falschaussage von 26,61 eine Rolle gespielt hat, denn diese kehrt in der Verspottung der Passanten in 27,40 wieder, sie muss also – im Verbund mit dem Gottessohnanspruch Jesu – in die Öffentlichkeit getragen worden sein. Die Anklage vor Pilatus ist dafür ein möglicher Ort, doch kann alternativ (oder additiv) auch die Überredung des Volkes in V. 20 erwogen werden. Die Frage muss daher offenbleiben. Jesus bleibt auch auf Pilatus’ Intervention hin (V. 13) stumm. Damit ergibt sich in V. 11–14 ein auffälliger Kontrast: Jesus reagiert auf die Frage des Statthalters, wenn auch nur indirekt; aber er ist nicht willens, auf die – nach Ansicht des Evangelisten zweifelsohne verleumderischen – Anklagen der jüdischen Autoritäten einzugehen. Dazu sagt er, wie Mat-

Der Prozess vor Pilatus und die Verspottung Jesu (27,11–31)

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thäus betont, kein einziges Wort, was Pilatus nur mit Verwunderung quittieren kann. Die Initiative zur Passaamnestie lässt Matthäus nicht wie Mk 15,8 vom 15–18 Volk ausgehen, sondern er stellt Pilatus als Akteur in den Vordergrund. Matthäus hat dazu das Bestreben der Volksmengen aus Mk 15,8 in die Einleitung des Procedere in V. 15 transferiert. In Matthäus’ Worten, dass er der Volksmenge einen Gefangenen freizugeben pflegte, schwingt dabei mit, dass Pilatus in der Amnestie einen Weg sieht, die Autoritäten zu umgehen. Pilatus wähnt offenbar die Volksmenge auf seiner Seite. Seine in V. 18 als Begründung für sein Vorgehen nachgereichte Einschätzung, dass die Hohepriester und Ältesten (vgl. V. 1f) Jesus „aus Neid“ ausgeliefert haben, unterstreicht dies: Sie neiden ihm seine überaus positive Resonanz im Volk. Daher scheint ihm der Brauch der Passaamnestie das geeignete Mittel, um das Bestreben der Autoritäten ins Leere laufen zu lassen. Die Logik der Erzählung ist hier allerdings gebrochen, denn streng genommen ist Jesus noch gar kein durch Rom Verurteilter und Gefangener, für dessen Freilassung nur noch der Sonderweg einer Passaamnestie beschritten werden kann. Das Volk wird von Pilatus betont vor eine Alternative gestellt (V. 17), wobei Pilatus freilich die Entscheidung des Volkes zugunsten von Jesus zu präjudizieren sucht: Zum einen wird mit Barabbas ein „berüchtigter“ Gefangener gegen Jesus aufgeboten. Zum anderen wird, da Barabbas bei Matthäus Jesus Barabbas heißt, zur Unterscheidung bei Jesus ein Zusatz angefügt, dessen Wortlaut aufmerken lässt, denn Pilatus bezeichnet Jesus – in einer dem Volk entgegenkommenden Weise – aus jüdischer Perspektive als den, „der Christus genannt wird“ (V. 17, vgl. 1,16), statt wie zuvor in heidnischer Diktion vom „König der Juden“ (vgl. 27,11.29.37, s. auch 2,2) zu reden. Bevor sich das Volk äußert, kommt es durch die Frau des Pilatus 19 zu einer Unterbrechung, die eine weitere Besonderheit der mt Darstellung bildet: Pilatus wird in seinem Vorgehen durch seine Frau bestärkt, die ihm eine Botschaft zukommen lässt. Das Motiv der Traumoffenbarung lässt wieder an Mt 2 zurückdenken (2,12.13.19.22, ferner 1,20f). Mit der Bezeichnung Jesu als eines „Gerechten“ wird erneut seine Unschuld unterstrichen (vgl. V. 4). Die Sorge der Frau gilt allerdings allein ihrem Mann, nicht auch „dem Gerechten“: Ihr Mann soll sich nicht die Finger verbrennen, während die Konsequenz, dass Jesus freizulassen ist, nicht expliziert wird. Die durch die Botschaft verursachte Unterbrechung gibt den Hohe- 20 priestern und den – von Matthäus wie in V. 12 gegenüber Mk 15,11 ergänzten – Ältesten (vgl. noch V. 41 par Mk 15,31) die Gelegenheit, auf die neue Situation zu reagieren, die durch Pilatus’ Rückgriff auf die Passaamnestie entstanden ist. Anders als Mk 15,11 spricht Matthäus hier nicht davon, dass die Autoritäten das Volk aufwiegeln; vielmehr verführen sie

434 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) es. Diese Änderung dient, wie V. 24 deutlich macht, in keiner Weise dazu, den tumultuarischen Charakter der folgenden Szenerie zu dämpfen. Vielmehr bringt Matthäus hier ein zusätzliches Moment ein, das im Dienst der Transparenz der Szene für die Gegenwart und damit ihrer paränetischen Aktualisierung steht: Die Verführung des vor Pilatus versammelten Volkes wird zum Modell für jede Art von Verführung des Volkes durch die Jesus feindlich gesonnenen Autoritäten und damit zur Warnung, sich diesen in irgendeiner Form anzuvertrauen. Als Inhalt der Intervention gibt Matthäus nicht nur die Freilassung von Barabbas an (vgl. Mk 15,11), sondern er fügt auch explizit an, dass sie Jesus vernichten sollen, und setzt damit einen Rückverweis auf 12,14 (vgl. auch 2,13). Wiederum bleibt eine Leerstelle: Matthäus sagt nicht, womit die Autoritäten das Volk überzeugt haben (vgl. oben zu V. 12–14). Das Ergebnis ist jedenfalls, dass es nicht Pilatus, sondern den Autoritäten gelingt, sich des Volkes zur Erreichung 21–23 des eigenen Ziels zu bedienen: Als Pilatus seine Frage von V. 17 – um die Nennung der Personen verkürzt – wiederholt, erbittet das Volk die Freilassung des Barabbas (V. 21). Pilatus’ Nachfrage, was er denn mit Jesus machen solle, den er wieder – nun geradezu werbend – als den, „der Christus genannt wird“, bezeichnet (V. 22), liest sich im Textduktus als weiterer Versuch, Jesus vor der Verhängung der Todesstrafe zu schützen. Dass er auf den Ruf „er soll gekreuzigt werden!“ mit einer weiteren Nachfrage reagiert, unterstreicht dies. Pilatus unternimmt also nach der Entscheidung des Volkes für Barabbas (V. 21) noch zwei Anläufe (V. 22f), um das Ansinnen der Jerusalemer Offiziellen zu durchkreuzen, doch vermag er mit seiner – erneut die Unschuld Jesu implizierenden – Frage, was dieser denn Böses getan hat, gar nicht mehr durchzudringen. Ihr wird nur noch der lauter werdende und sich zum Tumult steigernde (V. 24) Ruf „er soll gekreuzigt werden!“ entgegengehalten. Eine Begründung, die Pilatus mit seiner Frage gefordert hat, bleibt das Volk schuldig. Während Markus nun nur noch vermerkt, dass sich Pilatus dem Willen 24–25 des Volkes fügte (Mk 15,15a), hat Matthäus diese mk Notiz durch einen weiteren Gesprächsgang ersetzt, der den Kulminationspunkt des Prozes24 ses bildet. Als Pilatus einsehen muss, dass er die Volksmenge nicht mehr umzustimmen vermag und damit sein Plan fehlgeschlagen ist, das Bestreben der Hohepriester und Ältesten durch den Brauch der Passaamnestie zu unterlaufen, sucht er seine Zuflucht darin, jegliche Verantwortung für die Verurteilung Jesu von sich zu weisen. Mit dem Waschen der Hände trägt Matthäus biblisches Kolorit ein. Neben dem in Dtn 21,1–9 beschriebenen Ritus, wie zu verfahren ist, wenn auf freiem Feld zwischen Ortschaften ein Ermordeter gefunden wird (s. bes. V. 7f), ist auf Ps 26,6; 73,13 zu verweisen (vgl. auch Jes 1,15f; EpArist 305f): Pilatus wäscht seine Hände in Unschuld. Begleitend zu diesem Ritus spricht er sich selbst von jeglicher Schuld frei und weist die Verantwortung dem Volk zu: „seht ihr

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zu“. Im weiteren Kontext lässt diese Wendung allerdings an die Abweisung des Judas durch die Hohepriester und Ältesten zurückdenken (V. 4), und damit wird das Ambivalente am Verhalten des Statthalters sichtbar. Denn mit dem Rückverweis auf V. 4 gibt Matthäus zu erkennen, dass Pilatus’ Versuch, seine Verantwortung von sich zu weisen, nicht Bestand hat: Sowenig, wie sich die Autoritäten mit der Abweisung von Judas aus ihrer Verantwortung stehlen können, sowenig sind die Hände des Pilatus, nachdem er sie „in Unschuld gewaschen hat“, wirklich rein. Matthäus’ Darstellung läuft also keineswegs auf eine geradlinige Entlastung des Statthalters hinaus; vielmehr zeichnet Matthäus ein ambivalentes Bild: Auf der einen Seite betont er, dass Pilatus Jesus für unschuldig erachtet. Die Figur des Pilatus dient damit dem Anliegen zu zeigen, dass es von römischer Seite keinen Grund gibt, gegen Jesu Jünger einzuschreiten; sie sind keine Anhänger eines Aufrührers. Auf der anderen Seite ist Pilatus aber anzulasten, dass er seiner Erkenntnis keine Geltung verschafft und also die Kreuzigung eines Unschuldigen nicht verhindert hat. Sucht Pilatus die Verantwortung von sich zu schieben, so erklärt die 25 von den Hohepriestern und Ältesten verführte Volksmenge bereitwillig, diese Verantwortung zu übernehmen. „Sein Blut über uns“ greift eine atl. verbreitete Wendung auf (2Sam 1,16; 1Kön 2,33.37; Jer 51,35; Ez 18,13 u. ö., ntl. Apg 18,6), wendet diese damit, dass hier fremdes Blut auf das eigene Haupt herabgerufen wird, aber neu an. Paraphrasieren kann man: „Wir sind bereit, für die Rechtmäßigkeit des Urteilsspruches mit unserem Leben zu haften.“ Da sie damit unschuldiges Blut auf sich nehmen, ist eine Bestrafung unausweichlich (vgl. 23,35). Matthäus hat das vor Pilatus versammelte Volk bis jetzt – in Anknüpfung an Markus (s. Mk 15,8.11.15) – als Volksmenge (ochlos) bezeichnet (V. 15.20) und diese Bezeichnung auch in V. 24 aufgenommen. In V. 25 wechselt er aber zu dem mehrdeutigen Wort laos, das ebenfalls „Volksmenge“ bedeuten kann (so im Mt in 26,5; 27,64), aber im atl.-frühjüdischen Sprachgebrauch auch im theologisch aufgeladenen Sinn Israel als „Gottesvolk“ bezeichnet (im Mt 1,21; 2,6; 4,16.23). Gegenüber der sich an dieser Ambivalenz entzündenden Debatte, ob „das ganze Volk“ in 27,25 bloß Wechselbegriff zur vorangehenden Rede von einer Volksmenge ist (vgl. für die Möglichkeit eines solchen Wechsels Lk 9,12f!) oder aber gezielt das ganze Gottesvolk in die Schuld an Jesu Tod einbezogen werden soll, ist grundlegend anzumerken, dass mit der genannten Bedeutungsalternative nur die beiden Enden des Spektrums von Optionen anvisiert werden. So dient laos etwa in Lk/Apg sowohl zur Bezeichnung des Gottesvolkes (Lk 1,68.77; 7,16; Apg 3,23 u. ö.) wie auch von Volksmengen (Lk 6,17; 18,43; Apg 3,12; 4,1 u. ö.), doch wird das Wort – auch in Apg – nie für nichtjüdische Volksmengen verwendet; laos weist sozusagen Volksmengen als zum Gottesvolk gehörig aus. Ganz ähnlich wird das Wort in LXX und frühjüdischen Texten so-

436 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) wohl für das Volk Israel wie für jüdische Volksmengen bzw. für Teile des Volkes (z. B. für die Bevölkerung eines Gebiets oder einer Stadt) gebraucht; zudem kann das Wort auch das einfache Volk im Unterschied zu den Führungsschichten meinen (für ausführliche Belege s. Konradt, Israel, 170–172). Das verbreitete Oszillieren zwischen den Polen „Gottesvolk“ und „Volkshaufen“ ist nun auch für Mt 27,25 in Anschlag zu bringen: Durch den Kontext ist die Wendung „das ganze Volk“ eindeutig im Sinne der vor Pilatus versammelten Volksmenge zu verstehen. Der Wechsel zu „das ganze Volk“ in V. 25 macht daraus nicht – die Situation transzendierend – symbolisch „ganz Israel“, er ist aber auch nicht bloß stilistische Variation, sondern verweist darauf, dass es um ein Geschehen in Israel geht, das sich in die Kette des Widerstandes gegen Gottes Boten in der Geschichte Israels einreiht (vgl. 21,33–46). Nach der vorangehenden Leserlenkung durch 2,3; 16,21; 21,10f und 23,37 ist bei dem Volk in V. 25 des Näheren an Bewohner Jerusalems zu denken. So nimmt die Rede vom ganzen Volk nicht nur im engeren Kontext „alle“ aus V. 22 auf und dient so der Herausstellung des tumultuarischen Charakters der Szene, sondern Matthäus knüpft damit zugleich auch an 2,3 („ganz Jerusalem“) und 21,10 („die ganze Stadt“) an. Der in 2,3–6 signalhaft eröffnete Spannungsbogen gelangt mit 27,25 ans Ziel. Nicht nur ist es wie in Mt 2 Jesus als „König der Juden“ (2,2; 27,11, vgl. 27,29.37), der aus dem Weg geräumt werden soll, sondern Exposition und Zielpunkt der Konfliktgeschichte entsprechen sich auch darin, dass mit der Stadt Jerusalem und ihrer Führungsspitze dieselbe Konfiguration der Gegnerschaft Jesu begegnet. In 2,3 und 21,10f ist Jerusalem zwar noch keine aktive Rolle im Vorgehen gegen Jesus zugeschrieben, doch weist das beide Texte verbindende Motiv, dass die Stadt ob der Nachricht vom Kommen des Messias in Unruhe gerät, darauf hin, dass sie den Konflikt mit den bestehenden Autoritäten ahnt. 23,37 nimmt Jerusalem dann – nach der subtilen Anspielung in 21,11 – als die prophetenmordende Stadt in den Blick und weist damit auf ihre aktive Rolle im Vorgehen gegen Jesus voraus. Zu dieser kommt es am Ende, weil das vor Pilatus versammelte Volk sich von den Autoritäten verführen lässt. Aus dem Bezug von 27,15–26 auf Jerusalemer Volksmengen folgt: Diejenigen, die nun „er soll gekreuzigt werden“ fordern, sind bei Matthäus keineswegs dieselben, die in 21,9 „Hosanna“ riefen. Die Identifizierung des Volkes mit einer Jerusalemer Volksmenge wird ferner durch den in 27,25b aufgespannten Gerichtshorizont untermauert, denn Matthäus hat die fällige Strafe in der Zerstörung Jerusalems gesehen, wie die auffällige Hinzufügung der Kinder in V. 25b (zur Querverbindung zu 2,18 s. dort) zu erkennen gibt: Die Einbeziehung der nächsten Generation dient dazu, den ca. 40-jährigen Zeitraum zwischen der Kreuzigung Jesu und der Zerstörung Jerusalems zu überbrücken. Diejenigen, die Jesu Blut auf sich geladen haben, mussten dafür in der Sicht des Evangelisten

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tatsächlich mit ihrem bzw. ihrer Kinder Leben haften. Das Postulat einer Schuld Israels vertritt Matthäus hingegen nicht. Im Lichte von 21,9–11 ist es evident, dass Jerusalem in der mt Erzählkonzeption nicht Israel repräsentiert. Entsprechend kann man die Zerstörung der Stadt auch nicht als das bloß äußerliche Zeichen eines weitergehenden Gerichts an Israel deuten. Die Zerstörung Jerusalems versteht Matthäus vielmehr als Gericht an den Gegnern Jesu sowie an denen, die sich von diesen verführen ließen (27,20). Die eigentlich treibenden Kräfte sind dabei die Autoritäten. Sie reißen die von ihnen Verführten mit ins Verderben (vgl. die Komposition in 23,13–36 + 37–39). Matthäus instrumentalisiert damit die als Gericht Gottes verstandene Zerstörung der Stadt im Jahr 70 n. Chr. als Nachweis dafür, wer auf Gottes Seite steht und wer nicht. Die Zerstörung Jerusalems wird damit zu einer dezidierten Warnung davor, den Gegnern Jesu Gehör zu schenken. Dass 27,25 nicht das Gottesvolk im Ganzen im Blick hat, wird schließlich auch durch die beiden weiteren Vorkommen von laos in der Passionsgeschichte (26,5; 27,64) bestätigt. In 26,5 wie in 27,64 handelt es sich dabei um wörtliche Rede der Autoritäten. Dass Matthäus sie nicht vom ochlos, sondern vom laos reden lässt, passt gut zu ihrem Selbstverständnis als Führer Israels, wie Matthäus dies in der Wendung „Älteste des Volkes“ (21,23; 26,3.47; 27,1) zum Ausdruck bringt. In 26,5; 27,64 meint das Wort aber offenkundig ebenfalls nicht das Gottesvolk im Ganzen, sondern eine Volksmenge bzw. das einfache Volk im Gegenüber zu den Autoritäten. Für das Verständnis von 27,25 ist dabei insbesondere der Befund in 26,5 von Gewicht, denn 26,5 und 27,24f sind durch das Motiv des Tumults miteinander verbunden: Der Tumult im Volk, d. h. unter den Volksmengen, den die Autoritäten in 26,5 fürchten, wird unter dem Jerusalemer Volk ironischerweise von ihnen selbst initiiert, um angesichts der durch den Festbrauch möglichen, von Pilatus intendierten Wende des Verfahrens Jesus doch noch aus dem Weg zu räumen. Der Rückverweis auf 26,5 in 27,24f verdeutlicht damit zugleich, wie wenig die Autoritäten Herr des Geschehens sind. Auf der Grundlage der Schuldübernahme des Volkes in V. 25 gibt Pila- 26 tus dessen Willen nach und lässt Barabbas frei. Für Jesus ist damit in der Kette der „Auslieferungen“ der letzte Akt gekommen: Wurde er von Judas den jüdischen Autoritäten (26,15 f.46.48 u. ö.) und von diesen Pilatus ausgeliefert (27,2.18), so wird er nun ausgeliefert, damit er gekreuzigt werde.

438 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) VI 7.2 Die Verspottung Jesu durch die Soldaten des Pilatus (27,27–31) 27 Da nahmen die Soldaten des Statthalters Jesus mit ins Prätorium und versammelten um ihn die ganze Kohorte. 28 Und sie zogen ihn aus und legten ihm einen scharlachroten Mantel um. 29 Und sie flochten einen Kranz aus Dornen und legten (ihn) auf seinen Kopf und ein Rohr in seine Rechte. Und sie fielen vor ihm auf die Knie und verspotteten ihn und sagten: „Sei gegrüßt, König der Juden!“ 30 Und sie spuckten ihn an, nahmen das Rohr und schlugen auf seinen Kopf. 31 Und als sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Mantel aus und zogen ihm seine eigenen Kleider an und führten ihn ab, um ihn zu kreuzigen. Analog zur Sequenz in 26,59–66.67f folgt auch auf den Prozess vor Pilatus (27,11–26) eine Verspottungsszene. Wie in 26,67f mit der Aufforderung „weissage uns, Christus, …“ auf die vorangehende Verhandlung Bezug genommen wurde, so greift hier die Verspottung Jesu als „König der Juden“ (V. 29) V. 11 auf. Im Vergleich zu 26,67f nimmt die Verspottung deutlich mehr Raum ein. Zugleich erhält die Szenerie dadurch eine größere Dimension, dass nun, wie es übertreibend heißt, eine gesamte Kohorte (ca. sechshundert bis tausend Soldaten, vgl. Josephus, Bell 3,67) beteiligt ist. Die Vorlage Mk 15,16–20 ist von Matthäus durch verschiedene Änderungen so neu gestaltet worden, dass eine konzentrisch strukturierte Erzählung entstanden ist, deren Mitte eben der Spottruf „sei gegrüßt, König der Juden!“ in V. 29b bildet. Der Notiz am Anfang, dass Jesus von den Soldaten in das Prätorium, d. h. wohl in den Innenhof, hineingeführt wird (V. 27), korrespondiert am Ende, dass er abgeführt wird (V. 31b). V. 28 findet sein Pendant in V. 31a, V. 29a in V. 30. Nach der knapp gehaltenen szenischen Einleitung in V. 27 beginnt die 27 28–31a Verspottung in V. 28–29a damit, dass Jesus mit Königsinsignien ausgestattet wird. Aus dem teuren purpurfarbenen (Königs-)Mantel aus Mk 15,17 hat Matthäus einen preiswerteren, scharlachroten Kurzmantel, eine Chlamys, gemacht, die auch von Soldaten getragen wurde. Dem entspricht, dass auch bei den beiden anderen Insignien der parodierende Spott kennzeichnend ist: Die geflochtene Dornenkrone tritt an die Stelle des von Klientelherrschern getragenen goldenen Kranzes (vgl. 1Makk 10,20); das Rohr, das Matthäus in Korrespondenz zu V. 30 (vgl. Mk 15,19) anders als Markus schon bei der Ausstaffierung des „Königs“ in V. 29 erwähnt, ersetzt das Zepter. Die mt Anfügung, dass die Krone auf seinen Kopf gesetzt wurde (vgl. Joh 19,2), steht dabei nicht nur in Analogie zum Zepter in seiner rechten Hand; sie gewinnt zugleich auch im Zusammenspiel mit V. 30 Bedeutung (s. u.). Der Kniefall imitiert die Proskynese. In umgekehrter Reihenfolge zu 26,67f geht die verbale Verspottung damit einher, dass Jesus angespuckt und geschlagen wird. Deutlicher noch als in 26,67 tritt

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dabei die Bosheit der Handelnden in Gestalt niederträchtiger Gewalt hervor. Der zuvor zur Nachäffung der Königsinsignien verwendete Rohrstab dient nun dazu, Jesus auf den – mit dem Dornenkranz „gekrönten“ – Kopf zu schlagen; mit dem Herrschaftssymbol des Königs wird seine Machtlosigkeit demonstriert. Am Ende wird Jesus – zum dritten Mal nach 26,57; 31b 27,2 – abgeführt. Das Vorkommen des Verbs zu Beginn der Szene in Mk 15,16 hat Matthäus nicht übernommen; er hat es dafür hier redaktionell eingeführt. Die Wiederholung der Vorgänge „ausliefern“ (26,46.48 + 27,2.18 + 27,26) und „abführen“ dient Matthäus dazu, die Stufen des Vorgehens gegen Jesus zu markieren. Nun ist der letzte Schritt erreicht: Jesus wird abgeführt, um gekreuzigt zu werden.

VI 8 Der gekreuzigte Gottessohn (27,32–56) 32 Als sie aber hinausgingen, fanden sie einen Mann aus Kyrene mit Namen Simon. Diesen zwangen sie, dass er sein Kreuz trage. 33 Und als sie an einen Ort gekommen waren, der Golgota genannt wird, der sogenannten „Schädelstätte“, 34 gaben sie ihm mit Galle gemischten Wein zu trinken. Und als er gekostet hatte, wollte er nicht trinken. 35 Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider, indem sie das Los warfen. 36 Und sie saßen und bewachten ihn dort. 37 Und sie brachten über seinem Kopf eine Aufschrift an, die seine Schuld angab: „Dieser ist Jesus, der König der Juden.“ 38 Da werden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. 39 Die Vorübergehenden aber lästerten ihn, schüttelten ihre Köpfe 40 und sagten: „Der du den Tempel zerstörst und in drei Tagen (wieder) aufbaust, rette dich selbst, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz!“ 41 Ebenso aber spotteten auch die Hohepriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sagten: 42 „Andere hat er gerettet, sich selbst vermag er nicht zu retten. König Israels ist er! So steige er jetzt vom Kreuz herab, und wir werden an ihn glauben. 43 Er vertraute auf Gott, der soll (ihn) jetzt erretten, wenn er Gefallen hat an ihm; denn er sagte: ‚Ich bin Gottes Sohn.‘“ 44 Auf dieselbe Weise schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt worden waren. 45 Von der sechsten Stunde an kam aber eine Finsternis über die ganze Erde bis zur neunten Stunde. 46 Um die neunte Stunde aber schrie Jesus mit lauter Stimme auf und sagte: „Eli, eli, lema sabachthani?“, das heißt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ 47 Als aber einige von denen, die dort standen, (das) hörten, sagten sie: „Den Elia ruft dieser.“ 48 Und sogleich lief einer von ihnen und nahm einen Schwamm, füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und versuchte, ihm zu trinken zu geben. 49 Die übrigen aber sagten: „Lass uns

440 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) sehen, ob Elia kommt, ihn zu retten.“ 50 Jesus aber schrie wieder mit lauter Stimme und gab den Geist auf. 51 Und siehe, der Vorhang des Tempels spaltete sich von oben bis unten in zwei (Stücke); und die Erde erbebte, und die Felsen spalteten sich, 52 und die Grabstätten wurden geöffnet, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt. 53 Und sie kamen aus den Grabstätten heraus – nach seiner Auferweckung – und kamen in die Heilige Stadt hinein und erschienen vielen. 54 Als aber der Hauptmann und die, die mit ihm Jesus bewachten, das Erdbeben und die Geschehnisse sahen, fürchteten sie sich sehr und sagten: „Wahrhaftig, Gottes Sohn war dieser!“ 55 Es waren aber dort viele Frauen, die von weitem zuschauten, welche Jesus von Galiläa nachgefolgt waren und ihm gedient hatten. 56 Unter ihnen war(en) Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus und Josefs, und die Mutter der Söhne des Zebedäus. Wie in den vorangehenden Abschnitten hat Matthäus auch in V. 32–56 seine Markusvorlage (Mk 15,21–41) nicht nur stilistisch bearbeitet, sondern auch inhaltlich eigene Akzente gesetzt. Zu beachten ist insbesondere das Hervortreten der Gottessohnschaft Jesu als christologisches Leitmotiv in der Verspottung des Gekreuzigten in V. 39–44 sowie der signifikante Ausbau der Geschehnisse nach Jesu Tod in V. 51b–53. V. 32–56 lässt sich in fünf Unterabschnitte gliedern: V. 32–38 schildert mit einer Aneinanderreihung einzelner knapper Notizen den Weg zur Kreuzigungsstätte und die Kreuzigung selbst bzw. deren Begleitumstände. V. 39–44 führt in drei Szenen den Spott aus, der über den gekreuzigten Gottessohn ausgegossen wird. In V. 45–50 und V. 51–54 folgen der Tod Jesu und die Darlegung der diesen begleitenden Ereignisse samt der Reaktion der Soldaten. Die Notiz über die Nachfolgerinnen Jesu als Zeuginnen des Geschehens (V. 55f) fungiert nicht nur als Abschluss der Szenerie in Golgota, sondern lenkt zugleich zu den nachfolgenden Erzählungen von der Grablegung und der Auferstehung über. Der Weg vom Prätorium zur üblicherweise außerhalb der Stadt gelege32 nen Kreuzigungsstätte wird in nur ganz knappen Zügen erzählt; manches bleibt implizit. So mag der Leser daraus, dass Jesus sein Kreuz (d. h. wohl den Querbalken, der Pfahl war bereits an der Hinrichtungsstätte im Boden festgemacht) entgegen dem üblichen Procedere (vgl. z. B. Plutarch, Mor 554B; Artemidor, On 2,56) nicht selbst bis zum Ende trägt, schließen, dass er durch die vorangehenden Misshandlungen dazu bereits zu schwach war. Ein gewisser Simon wird von den Soldaten zu einem Frondienst gezwungen (vgl. 5,41). Matthäus sagt von ihm nur, dass er aus Kyrene stammte, also ein Diasporajude war, der entweder zum Fest nach Jerusalem gepilgert oder, was wahrscheinlicher ist, nach Jerusalem über-

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gesiedelt war (vgl. die Synagoge der Kyrenäer in Apg 6,9). Denn die Kenntnis seines Namens wie auch der – von Matthäus gestrichenen – Namen seiner Söhne (Mk 15,21) dürfte voraussetzen, dass er sich der christusgläubigen Bewegung (in Jerusalem) angeschlossen hat. In Golgota angekommen erhält Jesus nach Matthäus nicht wie in Mk 15,23 mit Myrrhe gewürzten Wein, der der Betäubung dient und die Schmerzen lindern soll, sondern mit bitterem Gallensaft kontaminierten Wein; zudem weist Jesus diesen nicht sogleich zurück, sondern er kostet zunächst, bevor er ihn ablehnt. Bei Matthäus findet hier die Verspottung Jesu ihre Fortsetzung. Mit Ps 69,22 hat dabei der Psalmvers eingewirkt, auf den in V. 48 noch einmal angespielt werden wird. Die Kreuzigung selbst, die in der römischen Antike als die schändlichste Todesart galt (Josephus, Bell 7,202f; Justin, Dial 131,2), wird in V. 35 mit äußerster Zurückhaltung nur konstatiert; im Griechischen handelt es sich hier bloß um eine temporal aufzulösende Partizipialwendung, die auf das Geschehen bereits zurückblickt: „Als sie ihn aber gekreuzigt hatten …“. Ob Jesus an das Kreuz gebunden oder aber angenagelt wurde (so z. B. Joh 20,25 und auch Lk 24,39), geht aus der mt Darstellung nicht hervor. Der Ton fällt darauf, dass mit der Verteilung der Kleider Jesu Ps 22,19 seine Erfüllung findet. Wichtig ist für Matthäus also, dass der Weg Jesu der Schrift entspricht (vgl. zu 26,54). Dass Jesus vor der Kreuzigung entkleidet wurde, gehört wieder zu dem, was in der Darstellung lediglich impliziert ist, aber nicht eigens ausgeführt wird. Die erneute, mit der Zeitangabe „es war die dritte Stunde“ verbundene Erwähnung der Kreuzigung in Mk 15,25 hat Matthäus (wie Lukas) übergangen; an ihre Stelle hat er, um V. 54 vorzubereiten, die Notiz treten lassen, dass Jesus von den Soldaten bewacht wurde. Das Anbringen der Angabe seiner „Schuld“ über seinem Kopf durch die Soldaten knüpft an die Verspottung in V. 29 an. Noch ahnen die Soldaten nicht, dass sie mit ihrem Spott etwas Wahres aussagen. Matthäus hat die Aufschrift in zweifacher Weise erweitert: Die Eröffnung mit „dieser ist“ findet in V. 54 ihr Pendant. Ferner ist der Name „Jesus“ ergänzt. Im Lichte von 26,28 kann man erwägen, darin einen subtilen Rückverweis auf die Deutung des Namens in 1,21 zu sehen: Nun, am Kreuz, vollendet Jesus seine Aufgabe, sein Volk von den Sünden zu retten. Anders als Lukas (Lk 23,32) erwähnt Matthäus die beiden Mitgekreuzigten im Gefolge von Mk 15,27 erst jetzt. Ihre Namen bleiben ebenso unbekannt wie das ihnen zur Last gelegte Vergehen. „Räuber“ kann (nicht muss) Bezeichnung für Aufständische sein; zum „König der Juden“ würde das aus römischer Sicht gut passen. Tatsächlich aber passt Jesus in dieses Ensemble in keiner Weise hinein, wie der Rückverweis auf 26,55 unterstreicht: Das Verhaftungskommando war bewaffnet, als hätten sie es bei Jesus mit einem Räuber zu tun, aber natürlich ist er keiner. Die Positionierung Jesu in der Mitte fügt sich seiner Verspottung ein: Dem König

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442 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) wird einer zu seiner Rechten, einer zu seiner Linken platziert (vgl. 20,21). Möglich ist, dass Matthäus einen Zusammenhang der Szenerie mit Jes 53,12 gesehen hat: Der Gottesknecht wurde unter die Gesetzlosen gerechnet. Waren die Soldaten des Pilatus im Voranstehenden die Haupthand39–44 lungsträger, so treten bei der Verspottung in V. 39–44 wieder diejenigen als Akteure in Erscheinung, die das Geschehen in V. 11–26 bestimmten: Als Erstes ergießen die (Jerusalemer) Passanten ihren Spott über den Gekreuzigten (V. 39f), dann folgen die jüdischen Autoritäten (V. 41–43). Am Ende stimmen ferner die Mitgekreuzigten in den Spott ein (V. 44). Wie in Mk 15,29–32 wird dieser in den drei Szenen mit drei unterschiedlichen Verben bezeichnet, die einander zu einem Gesamtbild ergänzen: Die Passanten lästern (V. 39), die Autoritäten spotten (V. 41), die beiden Räuber schmähen Jesus (V. 44). Die ersten beiden Szenen sind durch das Miteinander von Wiederholung gemeinsamer Elemente (Selbstrettung durch Herabsteigen vom Kreuz, Gottessohnschaft) und Variation, mit der zugleich eine Steigerung von der ersten zur zweiten Szene verbunden ist, gekennzeichnet. In der Einleitung zur Lästerung der Passanten erinnert das Kopfschüt39–40 teln an Ps 22,8 (vgl. aber auch Ps 109,25; Klgl 2,15 u. ö.); in V. 43 wird Matthäus den Bezug auf Ps 22 noch verstärken. Die Passanten greifen auf das Falschzeugnis aus dem Prozess vor dem Hohen Rat zurück, dass Jesus den Tempel zerstören und in drei Tagen wieder aufbauen könne (26,61). Nun soll er seine Vollmacht unter Beweis stellen, indem er wundersam vom Kreuz herabsteigt, was für Jesus allerdings schon aus Treue zu seinem eigenen Wort in 16,25 als Option ausscheiden muss. Der Rückbezug auf den Prozess vor dem Hohen Rat wird zudem nicht nur durch die einleitende Charakterisierung der Spottworte als Lästerung unterstrichen (26,65f), sondern auch durch die Aufnahme des Anspruchs Jesu, der Sohn Gottes zu sein (26,63). Woher die Passanten davon wissen, sagt Matthäus nicht (vgl. zu 27,12–14.20). Die Formulierung der mt Einfügung „wenn du Gottes Sohn bist“ stiftet zugleich eine Querverbindung zur Versuchung Jesu in 4,1–11, wo dieselben Worte im Munde des Teufels begegnen (4,3.6). Wie dort geht Matthäus auch hier davon aus, dass Jesus tatsächlich die Vollmacht hat, um das, wozu er aufgefordert wird, zu vollbringen. Hier wie dort geht Jesus darauf aber nicht ein, weil er als Gottes Sohn einzig dem Willen seines Vaters (26,39.42) zu folgen hat. Bei der Verspottung durch die jüdischen Autoritäten sind die Hohe41–43 priester und Schriftgelehrten von Matthäus um die Ältesten ergänzt worden, so dass hier genau dieselben Gruppen auftreten, die auch den Prozess gegen Jesus betrieben haben (26,57.59) und zuvor in der ersten Leidensankündigung genannt wurden (16,21). Anders als in V. 40 wird Jesus nicht mehr angeredet, sondern es wird über ihn gespottet. An die Stelle der ein-

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leitenden Charakterisierung Jesu durch das Abbrechen und Aufbauen des Tempels tritt nun der Verweis, dass er andere gerettet habe (vgl. 8,25; 9,21f; 14,30). Die Aufforderung der Passanten zur Selbstrettung (V. 40) wird nun zur Behauptung transformiert, dass er dies hingegen nicht vermag (vgl. zum „Können“ Jesu 8,2; 9,28; 26,53.61). Andere rettet Jesus Matthäus zufolge aber gerade dadurch, dass er nun sein Leben hingibt, denn gerade durch seinen Tod vollendet er seine ihm in 1,21 zugewiesene Aufgabe (vgl. 20,28; 26,28). Mit den Worten „König Israels ist er!“ greifen die Autoritäten, nachdem in V. 40 der Prozess vor dem Hohen Rat nachklang, den Anklagepunkt im Prozess vor Pilatus auf (V. 11) und führen zugleich den Spott der Soldaten (V. 29.37) weiter. Im Lichte der Konfliktexposition in 2,3–6 liegt die Annahme nahe, dass sie Matthäus zufolge wissen, dass Jesus dies wirklich ist: Ihre Feindschaft gegen ihn ist für Matthäus Ausdruck davon, dass sie sich ihm nicht unterordnen wollen; entsprechend traten die Autoritäten auch der Verehrung Jesu als Sohn Davids im Volk entgegen (12,24; 21,15f). Nun glauben sie, sich seiner erfolgreich entledigt zu haben, doch begreifen sie nicht, dass Jesus eben gerade durch seinen Tod seine Aufgabe als „König Israels“, als messianischer Hirte (2,6) der „verlorenen Schafe des Hauses Israel“ (10,6; 15,24), vollendet. Die in die Worte der Passanten einstimmende Aufforderung, vom Kreuz herabzusteigen (V. 42), ist um die – im Unterschied zu Mk 15,32 personal formulierte (vgl. Mt 18,6) – Ankündigung, dass sie dann an ihn glauben würden, ergänzt. Für Matthäus ist dies letzter Ausdruck ihrer Verlogenheit. Im weiteren Kontext wird dies durch die Zeichenforderungen (12,38–42; 16,1–4) illustriert: In ihnen ist impliziert, dass die „Werke des Messias“ (11,2) angeblich nicht genügen, um Jesus als diesen auszuweisen. Im mt Erzählkonzept erhalten die Autoritäten aber mit dem leeren Grab darüber hinaus „das Zeichen des Jona“ (s. [zu] 12,40; 27,62–66; 28,11–15). Trotzdem „glauben“ sie auch nach diesem Zeichen nicht. Charakteristisch für Matthäus ist schließlich, dass er die Autoritäten in V. 43 noch weiterreden lässt und ihnen dabei die Worte der gottlosen Spötter aus Ps 22,9 in den Mund legt: Jesus habe auf Gott vertraut; entsprechend solle Gott ihn jetzt retten, wenn er will. Für die mit dem Psalm vertrauten Adressaten wird damit die Charakterisierung der Autoritäten als Frevler auf subtil ironische Weise unterstrichen: Wie ein brüllender und reißender Löwe haben sie ihren Rachen gegen den Gerechten aufgesperrt (Ps 22,14). Inhaltlich lässt Matthäus den Spott mit V. 43 von der Aufforderung zur Selbstrettung zur Rede von der Rettung durch Gott voranschreiten, die mit der erneut auf 26,64 Bezug nehmenden Inanspruchnahme der Gottessohnschaft durch Jesus begründet wird. Dabei dürfte eine Anspielung auf Weish 2 (s. v. a. V. 13.16.18) mitzuhören sein (alternativ kann man erwägen, dass hier Einfluss einer Tradition vorliegt, wie sie auch in Weish 2 Eingang gefunden hat). Zu beachten ist insbeson-

444 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) dere, dass auch in Weish 2f (s. auch Weish 4,7–5,16) das Motiv der Bestätigung des Gottessohnes durch sein postmortales Ergehen vorliegt. Analog zu Mk 15,32 wird am Ende die Schmähung durch die beiden 44 Mitgekreuzigten nur vermerkt, ohne im Wortlaut wiedergegeben zu werden, doch gibt Matthäus anders als Markus zu verstehen, dass sie Jesus auf dieselbe Weise verspotteten. Nach der mt Gestaltung der beiden vorangehenden Szenen bedeutet dies insbesondere, dass auch ihr Spott dem Anspruch Jesu gilt, Gottes Sohn zu sein. In jedem Fall wird mit der Einfügung von „wenn du Gottes Sohn bist“ in V. 40 und der Anfügung von V. 43 die Gottessohnschaft als christologisches Zentrum des Textes deutlich. Matthäus bearbeitet hier ein zentrales christologisches Problem, nämlich wie sich die geglaubte Partizipation Jesu als Sohn Gottes an göttlicher Macht mit seinem irdischen Ergehen vermitteln lässt. Es liegt nahe, dass sich an dieser Stelle Polemik gegen den Christusglauben in der Umwelt entzündete. Matthäus reagiert auf diese Problematik, indem er den Gehorsam des Gottessohnes zu einem Leitmotiv seiner Christologie macht. Dass Jesus leidet und von seinen Widersachern getötet wird, also ihrer Gewalt ausgeliefert ist und ihnen dem Augenschein nach unterliegt, spricht nicht gegen seine Gottessohnschaft. Dem Leiden des Gottessohnes liegt vielmehr zugrunde, dass er bewusst auf seine Möglichkeit verzichtet hat, sich dem Leiden zu entziehen, um dem Willen Gottes zu entsprechen, ja er bewährt gerade in diesem Verzicht seine Gottessohnschaft, weil er als Sohn ansonsten gegen den Willen des Vaters verstoßen hätte. Gott aber wird seinen Sohn tatsächlich retten, jedoch durch den Tod hindurch, indem er ihn auferweckt und zu seiner Rechten (26,64) erhöht. Aufgrund der Streichung von Mk 15,25 bietet V. 45 die erste genaue 45 Zeitangabe in der mt Darstellung der Kreuzigung: Von der sechsten bis zur neunten Stunde, also von 12 bis 15 Uhr, erstreckt sich eine Finsternis über das gesamte Land. Ansonsten scheint nichts zu passieren; die Szenerie steht für drei Stunden still. In Am 8,9 verweisen der Untergang der Sonne am Mittag und die daraus resultierende Finsternis auf Gottes Gericht (vgl. Jes 13,10; Am 5,18; Joel 2,2 sowie Mt 24,29), doch lässt sich die Finsternis ebenso auch als Ausdruck himmlischer Trauer verstehen (vgl. Jer 4,27f; latLAE 46,1). In jedem Fall verweist der übernatürliche Vorgang auf die Bedeutung des Gekreuzigten und die himmlische Anteilnahme an seinem Ergehen, und die Finsternis erscheint dabei als angemessener Kommentar zu dem Geschehen. Während der Verspottung hat Jesus – wieder – geschwiegen. Nun, um 46 die neunte Stunde (ob noch während oder nach der Finsternis bleibt angesichts dieser bloß ungefähren Angabe offen), spricht er seine letzten Worte, aber nicht zu den umstehenden Menschen, sondern zu Gott. Verwies schon das die Kreuzigung begleitende Geschehen mit der Verteilung seiner Kleider (V. 35) und dem Kopfschütteln der Spötter (V. 39) auf Ps 22

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und wurden die Autoritäten durch ihre Worte in V. 43 mit den Frevlern von Ps 22 identifiziert, so korrespondiert dem nun, dass Jesus die Worte des leidenden Gerechten zu Beginn von Ps 22 aufnimmt. Die (transkribierte) Wiedergabe des aramäischen Wortlauts reflektiert die Bedeutung der Worte; sie ist zugleich notwendig, um V. 47 verständlich zu machen, wobei Matthäus den Übergang verbessert hat, indem er in V. 46 „Eli“ statt des mk „Eloi“ (Mk 15,34) schreibt. Umstritten ist, ob Ps 22,2 isoliert zu nehmen ist und damit zum Ausdruck kommen soll, dass Jesus nicht nur von Menschen, sondern auch von Gott verlassen gestorben ist, oder ob der gesamte Psalm, der mit einem Lobpreis Gottes als Ausdruck des Vertrauens endet (Ps 22,23–32), mitzuhören ist. Für die zweite Option spricht, dass die genannten weiteren Anspielungen auf Ps 22 in Mt 27 zu erkennen geben, dass Matthäus der gesamte Psalm vor Augen stand. Zum anderen weisen die Geschehnisse in 27,51–53 darauf hin, dass Gott sehr wohl gegenwärtig ist. Auf der anderen Seite kann dies aber nicht dazu führen, das eigene Gewicht der zitierten Worte völlig zu unterlaufen. Der Schrecken des Todes am Kreuz unter dem Spott der Leute wird nicht überspielt. Alle äußeren Umstände weisen auf Gottes Verborgenheit, so wie der Beter in Ps 22 die Bedrängnis durch seine Feinde als Zeit der Verborgenheit Gottes erfährt. Zugleich aber wendet sich der Beter eben an Gott, von dem er sich in diesem Moment verlassen sieht, und seine Klage birgt das Vertrauen auf die Wende, die Gott herbeiführen wird. Die Verlassenheit ist temporär und mitnichten das (fortan) bestimmende Moment der Beziehung zwischen Gott und dem Beter. Ebendies ist auch für das Verständnis von Mt 27,46 in Anschlag zu bringen. Da er dem Tod ins Auge sieht, erfährt Jesus sich als von Gott in diesem Moment verlassen. Aber in dieser tiefsten Not wendet er sich eben an Gott – im Vertrauen darauf, dass auch der zweite Teil seiner Ankündigungen wahr wird: Der Menschensohn wird am dritten Tag auferweckt werden (16,21; 17,23; 20,19). Klage, Notschrei und Vertrauen sind zusammenzuhalten. Hinsichtlich der mt Rezeption von Ps 22 kann man dabei im Blick auf den Schlusspassus des Psalms des Näheren erwägen, dass angesichts dessen, dass Matthäus in Tod, Auferweckung und Erhöhung Jesu die nachösterliche Zuwendung zu allen Völkern begründet gesehen hat, insbesondere die Verse 28f mit ihrem universalen Horizont mitzuhören sind: „Alle Enden der Erde werden … sich zum Herrn hinwenden, und niederfallen werden vor dir alle Stämme der Völker. Denn dem Herrn gehört die Königsherrschaft, und er herrscht über die Völker.“ Von einigen der Umstehenden wird Jesu Gebetsruf mit einer weiteren 47–49 Verspottung erwidert, denn ihre Worte „den Elia ruft dieser“ dürften als ein gezieltes Missverständnis aufzufassen sein, das Jesu Gebetsruf verballhornt: Da er sich nicht selbst retten könne und auch Gott sich seiner nicht annehme, rufe er nun – als letzten Rettungsanker – nach Elia als Helfer in

446 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) der Not. „Dieser“ unterstreicht dabei den despektierlichen Ton des Spotts. Im Fortgang hat Matthäus die mk Darstellung neu geordnet, indem er einen hinzulaufen lässt (V. 48), die wörtliche Rede in V. 49 aber nicht demselben, sondern den Übrigen zuweist. Damit, dass Jesus Essig zu trinken gegeben wird, erfüllt sich auch die zweite Hälfte von Ps 69,22 (vgl. zu V. 34). So wenig wie in V. 34 geht es hier um einen Jesus wohlwollenden Akt, der sein Leben verlängern soll, um Elia Zeit zu geben. Vielmehr wird Jesus auch damit weiter verspottet. Entsprechend sind die Worte der Übrigen in V. 49 nicht Ausdruck einer ernst gemeinten Erwartung, sondern ebenfalls Fortsetzung der Verspottung, wie die erneute Rede vom „retten“ (statt des mk „herabnehmen“, Mk 15,36) unterstreicht: Er hat sich nicht selbst zu retten vermocht (V. 40.42), ebenso wenig hat Gott ihn gerettet 50 (V. 43), und auch Elia wird ihm nicht zur Hilfe eilen und ihn retten. Jesus ruft ein zweites Mal – und stirbt. Die Wendung, dass er den Geist aufgab, hat nicht in Korrespondenz zu 1,18.20 den Heiligen Geist im Blick, sondern umschreibt lediglich den Tod (vgl. Ps 104,29; Koh 12,7; Weish 16,14; Sir 38,23). Jesu Rufen ist im Licht von V. 46 als erneute Anrufung Gottes zu verstehen. Jesus stirbt als Beter, der sich an seinen Gott wendet. Jesu Gebet bleibt nicht ungehört. Die in V. 51–53 geschilderten Ereig51–53 nisse sind Gottes Antwort auf das Geschehen: Sowenig wie Jesus sich in Mt 4 auf die Versuchungen durch den Teufel eingelassen hat, sowenig hat Jesus am Kreuz seine ihm als Gottessohn zukommende Vollmacht benutzt, um sich selbst zu retten. Nun aber wird er durch die seinen Tod begleitenden Zeichen von Gott selbst als sein Sohn ausgewiesen, womit sich eine sequentielle Analogie nicht nur zu 4,1–10.11, sondern vor allem auch zur Taufperikope in 3,13–17 ergibt, wo auf Jesu Erweis seines Gehorsams (3,15) ebenfalls die Proklamation seiner Gottessohnschaft durch Gott selbst folgte. Das aus Mk 15,38 aufgenommene Zerreißen des Vorhangs verweist darauf, dass der – ohnehin zur „Räuberhöhle“ (21,13) verkommene – Tempel durch den Tod Jesu „zur Vergebung der Sünden“ (26,28) obsolet geworden ist. Zugleich ist das Geschehen als Gerichtszeichen zu verstehen, das auf die Zerstörung des Tempels (vgl. 23,38; 24,2) vorausverweist. Es ergibt sich damit ein hintergründiger Zusammenhang: Die jüdischen Autoritäten, deren Domäne der Tempel ist, nehmen das Falschzeugnis über Jesu vermeintliches Wort über den Tempel (26,61) zur Grundlage, um die Kreuzigung Jesu zu betreiben, und eben damit besiegeln sie selbst nicht nur ihr Ende, sondern auch das des Tempels. Bei der Frage, ob der Vorhang vor dem Allerheiligsten (Ex 26,31–35) oder der Vorhang zwischen dem Vorhof der Israeliten und dem eigentlichen Tempelgebäude (Ex 26,36f; 38,18) gemeint ist, kann man für die zweite Option geltend machen, dass nur dieser Vorhang allgemein sichtbar war. Für die Deutung ist diese Frage aber insofern sekundär, als in beiden Fällen die eben genannten Sinndimensionen zu berücksichtigen sind.

Der gekreuzigte Gottessohn (27,32–56)

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Bei der nachfolgenden Erweiterung von Mk 15,38 zu der in V. 51–53 vorliegenden Einheit haben Ez 37,7.12f LXX (Erdbeben, Öffnen der Gräber) sowie Sach 14,4f (Spaltung [des Ölbergs], Erdbeben, Kommen der Heiligen) als Motivspender eingewirkt. Ob Matthäus die Einheit aus einzelnen traditionellen Motiven selbst komponiert oder ein vorgegebenes Traditionsstück bearbeitet hat, lässt sich nicht mit der nötigen Sicherheit entscheiden. Erdbeben sind ein verbreitetes eschatologisches Motiv (Joel 2,10; 1Hen 1,6f; 102,2f; TestMos 10,4; 2Bar 70,8), begegnen aber auch anderweitig als Begleiterscheinung von Theophanien (Ri 5,4; 2Sam 22,8; Ps 68,9 u. ö.). Hier ist das Erdbeben damit verbunden, dass die Felsen gespalten werden, damit die Gräber geöffnet werden (vgl. 28,2). Im mt Kontext ist bei den auferweckten Heiligen im Zusammenspiel mit der Rede von den „Grabstätten“ an die Gerechten und Propheten in 23,29(–36) zu denken (vgl. Herzer, Auferstehung, 131–141), deren Grabstätten die Schriftgelehrten und Pharisäer – Matthäus zufolge in heuchlerischer Weise – schmücken und deren Blut über die Schriftgelehrten und Pharisäer kommen wird (23,35f). Ihre Auferweckung als Begleiterscheinung des Todes Jesu verweist zum einen darauf, dass auch hier unschuldiges Blut vergossen wurde (vgl. 27,4.24), und dient damit zum anderen ebenfalls als Gerichtszeichen gegen die, die für den Tod Jesu Verantwortung tragen. Noch einmal werden also Jesus und die Propheten miteinander verbunden (vgl. 21,34–36.37–39). Während ihre Auferweckung auf die Verbundenheit Gottes mit ihnen verweist, wird Jerusalem und den Autoritäten bedeutet, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden: Damit, dass die auferweckten Gerechten in die prophetenmordende Stadt gehen, wird sie bei ihrer Schuld behaftet; dass sie vielen erscheinen, wird zum Zeugnis gegen sie. Neben dieser gerichtstheologischen Dimension ist zu beachten, dass mit V. 51–53 zugleich bereits über den Tod Jesu hinausgeblickt wird. Nicht nur wird – im Gegenzug zur Verspottung Jesu, dass Gott ihn retten solle (V. 43) – mit dem Öffnen der Gräber und der Auferweckung der Heiligen angedeutet, dass Gott tatsächlich die Gerechten, also auch Jesus rettet. Es wird vor allem auch mit dem in erzählerischer Hinsicht merkwürdigen Einschub, dass die Heiligen erst nach der Auferweckung Jesu aus den Gräbern kommen, nach Jerusalem hineingehen und dort vielen erscheinen, Jesu eigene Auferweckung explizit in den dargestellten Geschehenszusammenhang eingebunden. Das Öffnen der Gräber der Heiligen erscheint damit gewissermaßen als Präludium für das wiederum mit einem Erdbeben verbundene „Öffnen“ des Grabes Jesu (28,2). Die mangelnde Plausibilität der Szenerie, nach der die Auferweckten bis zur Auferweckung Jesu in den Gräbern verharren, hat Matthäus offenbar so wenig gestört wie das Problem, dass er die Soldaten unter dem Kreuz in V. 54 auf Geschehnisse reagieren lässt, die zum Teil erst später stattgefunden haben. Ihm kommt

448 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) es darauf an, über die Einstellung der Auferweckung Jesu in die Schilderung der den Tod Jesu begleitenden Ereignisse eben Jesu Tod und seine Auferweckung so eng wie möglich zu einem Geschehenszusammenhang zusammenzubinden, wie dies bereits angesichts der Einfügung der Wendung „von jetzt an“ in 26,64 festzuhalten war. Die merkwürdige Szenenfolge in 27,51–54 ist insofern als ein narrativer Versuch zu würdigen, dem Tod Jesu österliches Kolorit zu verleihen. Das in V. 54 folgende Bekenntnis hat Matthäus in dreifacher Hinsicht 54 neu kontextualisiert. So ist das Bekenntnis nun zum einen durch die Neugestaltung von V. 39–44 kontrastiv auf die vorangehende Verspottung Jesu als Sohn Gottes bezogen. Zum anderen erscheint das Bekenntnis nicht wie in Mk 15,39 als Antwort auf den Tod Jesu, sondern als Reaktion auf die Jesu Tod begleitenden Geschehnisse in V. 51–53, die für Matthäus Gottes Antwort auf den Tod Jesu darstellen: Diese erschließen den Soldaten die Gottessohnschaft Jesu. Die – von Matthäus eingefügte – Furcht der Soldaten ist dabei die angemessene Reaktion auf die Begegnung mit dem Göttlichen (vgl. 17,6!). Drittens bezieht sich „dieser“ in V. 54 in der mt Komposition auf das im titulus crucis ergänzte „dieser“ (V. 37) zurück. Diesem Bezug auf V. 37 ist zugeordnet, dass das Bekenntnis in V. 54 anders als in Mk 15,39 nicht nur vom Hauptmann gesprochen wird, sondern auch von den übrigen Soldaten, die mit ihm Jesus bewachten, womit auf die von Matthäus in V. 36 eingefügte Notiz zurückverwiesen wird. Im mt Erzählduktus sind demnach die Soldaten in V. 54 mit jenen zu identifizieren, die ihn zuvor verspottet (V. 27–31.37) und gekreuzigt haben (V. 35f). Die Soldaten korrigieren in V. 54 also ihre eigene Verspottung (V. 37) unter Aufnahme des Gottessohntitels von V. 39–44: Der, den sie als König der Juden verhöhnt haben, dieser war wahrlich Gottes Sohn. Das, was sie als Spott gemeint haben, erschließt sich ihnen nun als Wahrheit. Das Bekenntnis in V. 54 erscheint damit im Kontext betrachtet als Ausdruck von Reue und Umkehr. Dadurch fällt zugleich ein umso dunklerer Schatten auf die jüdischen Autoritäten. Sie haben sich durch Judas nicht umstimmen lassen (27,3–5), und auch nun lassen sie sich nicht von ihrem Weg abbringen. In der mt Erzählkonzeption sind die Soldaten unter dem Kreuz – wiederum anders als in Mk 15,39 – nicht die ersten Menschen, die Jesus als Sohn Gottes bekennen. V. 54 geht vielmehr 14,33; 16,16 voraus, wobei V. 54 auch syntaktisch parallel zu 14,33 gestaltet ist. Die Vergangenheitsform in V. 54 trägt dabei dem Umstand Rechnung, dass auf den irdischen Jesus zurückgeblickt wird, sie dient also nicht dazu, das Bekenntnis als nicht vollwertig auszuweisen. Neu ist in V. 54, dass nun Leiden und Tod des Gottessohnes in das Bekenntnis integriert sind. Ebendiese Integration stand Petrus in 16,16 noch bevor, denn hier war das Bekenntnis noch einseitig an der gottgleichen Vollmacht Jesu orientiert (14,22–33). Nun aber

Die Grablegung Jesu (27,57–61)

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ist der mit dem „Diptychon“ in 16,13–20.21–23 exponierte Zusammenhang von Vollmacht und Herrscherstellung Jesu auf der einen Seite und seinem gehorsamen Gang ans Kreuz zum Heil der „Vielen“ (26,28) auf der anderen durch die Passionserzählung entfaltet worden und damit als Zentrum des mt Verständnisses der Gottessohnschaft Jesu sichtbar geworden. Vom reuevollen Bekenntnis der Soldaten schwenkt der Blick abschlie- 55–56 ßend auf die Frauen, die Jesus von Galiläa an gefolgt sind und nun das Geschehen beobachten. Sofern V. 54 einen Verweis auf das nachösterliche Hinzukommen der Völker impliziert, muss man analog dazu mit Blick auf V. 55f auch sagen, dass die galiläischen Frauen die jüdischen Gemeindeglieder repräsentieren. Auch Josef von Arimathäa (V. 57–60) ist ein Jude. Überhaupt wäre es grundfalsch, die Feindschaft gegen Jesus in Jerusalem und bei den Autoritäten zu einem Nein ganz Israels zu stilisieren (vgl. zu 27,24) und dem dann auf der Basis von V. 54 die Zukunft der Gemeinde in der Völkerwelt gegenüberstellen zu wollen. Unter den Frauen werden in V. 56 drei namentlich genannt. Die beiden Marien begegnen auch in Mk 15,40; Salome wird durch die Mutter der Zebedaiden, die bereits in 20,20 im Gefolge Jesu begegnete, ersetzt bzw. mit ihr identifiziert. Ihre Erwähnung in V. 56 untermauert die Verbindung zwischen 20,20–23 und 27,38 (vgl. zu 20,22f). Die Nachfolge der Frauen wird dadurch näherbestimmt, dass sie Jesus auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem gedient haben (vgl. 8,15 und auch 4,11; 25,44), was Versorgung mit Essen und Trinken einschließt. Während die Jünger geflohen sind, halten die Frauen Jesus die Treue. Dass sie „von weitem“ zuschauen, schmälert dies in keiner Weise; sie halten den angesichts der Situation gebotenen Abstand. 27,61 und 28,1–10 werden den hier eingeflochtenen Erzählfaden weiterführen.

VI 9 Die Grablegung Jesu (27,57–61) 57 Als es aber Abend geworden war, kam ein reicher Mann von Arimathäa, mit Namen Josef, der selbst auch ein Jünger Jesu geworden war. 58 Dieser ging hin zu Pilatus und bat um den Leichnam Jesu. Da befahl Pilatus, dass er übergeben werde. 59 Und Josef nahm den Leichnam und wickelte ihn in ein reines Leinentuch 60 und legte ihn in seine neue Grabstätte, die er im Fels ausgehauen hatte; und er wälzte einen großen Stein vor die Tür der Grabstätte und ging weg. 61 Es waren dort aber Maria von Magdala und die andere Maria und saßen dem Grab gegenüber.

450 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) Mit der Erzählung von der Grablegung Jesu kommt die Darstellung der Passion an ihr Ende, und es wird zugleich die Auferstehungserzählung eingeleitet bzw. vorbereitet. Die Dichte von Übereinstimmungen in Mt 27,57–61 par Lk 23,50–56 gegen Mk 15,42–47 sowie die Berührungen zwischen Mt und Joh (vgl. im Folgenden) dürften als Indizien aufzufassen sein, dass Matthäus’ Version neben Mk 15 von mündlicher Tradition beeinflusst ist. Nach Simon von Kyrene (V. 32) wird mit Josef von Arimathäa eine 57 zweite Person im Kontext der Passion Jesu namentlich neu eingeführt. Bei Matthäus ist er nicht mehr wie in Mk 15,43 ein Ratsherr, sondern ein reicher Mann, da Ratsherr naheliegend im Sinne eines Mitglieds des von Matthäus gänzlich schwarz gezeichneten Hohen Rates (vgl. 26,59.67f u. ö.) zu verstehen ist (vgl. Lk 23,51). Zudem hat Matthäus ihn – in Anknüpfung an Markus’ Charakterisierung, dass er auf das Reich Gottes wartete – zu einem Jünger gemacht (vgl. Joh 19,38); trotz Mt 19,16–26 58 können also auch Reiche zur Gemeinde gehören. Da sich die Grablegung eines Gekreuzigten nicht von selbst versteht, muss Josef von Pilatus eine Erlaubnis einholen. Dabei entspricht es dem von Pilatus in 27,11–26 gezeichneten Bild, dass Matthäus dies nicht wie Mk 15,43 als ein Wagnis darstellt. Verbreitet war, dass die Leichname von Gekreuzigten – zur Abschreckung – am Kreuz hängen gelassen wurden und dort verwesten bzw. von wilden Tieren und Vögeln angefallen wurden (vgl. exemplarisch Horaz, Ep 1,16,48; Petronius, Sat 111,5f). Festtage begründeten Ausnahmen (vgl. z. B. Philo, Flacc 83), so dass die – in der Formeltradition bereits in 1Kor 15,4 erwähnte – Grablegung Jesu (vgl. noch Apg 13,29) schon wegen des Passakontextes historisch nicht in Zweifel zu ziehen ist. Entsprechend ist ein Begräbnis auch für die Mitgekreuzigten anzunehmen (vgl. Joh 19,31f). Josephus führt sogar allgemein aus, dass „die Juden für die Beerdigung der Toten so sehr besorgt sind, dass sie sogar die Leichen der zum Kreuzestod Verurteilten vor Sonnenuntergang herunternehmen und beerdigen“ (Bell 4,317). Da Josef von Arimathäa sonst im NT nirgends begegnet, ist seine Rolle bei der Grablegung Jesu ebenfalls als zutreffende historische Reminiszenz zu werten. Er handelte als frommer Jude aus Pietätsgründen (vgl. Tob 1,17f; 2,3–8; 4,3f). Zu einem (vorösterlichen) Jesusanhänger wurde er erst im Zuge der Traditionsentwicklung.

Die Notiz über die Verwunderung von Pilatus über den bereits eingetretenen Tod und seine entsprechende Erkundigung beim Hauptmann (Mk 15,44–45a) hat Matthäus (wie auch Lukas) als irrelevantes Detail 59–60 übergangen. Die Grablegung wird mit nur wenigen Worten geschildert. Weder wird erwähnt, dass der Leichnam Jesu gewaschen wurde, noch ist von seiner Einbalsamierung die Rede, wobei Letzteres im Rahmen der mt Erzählung im Lichte von 26,6–13 zu sehen ist. Jesus wird lediglich in ein „reines“ (wie Matthäus anstelle des Neukaufs in Mk 15,46 schreibt) Lei-

Das bewachte leere Grab (27,62–28,15)

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nentuch gewickelt und dann bestattet. Josef ehrt Jesus, indem er für Jesu Begräbnis sein eigenes Grab verwendet (anders Mk 15,46, wo es lediglich heißt, dass er Jesus in [irgend]ein aus einem Felsen gehauenes Grab legte). Mit der expliziten Angabe, dass es sich um ein neues Grab handelt (vgl. Joh 19,41, aber auch Lk 23,53), stellt Matthäus zudem sicher, dass Jesus das Grab nicht mit anderen teilte. Die Charakterisierung von Josef in V. 57 dient zumindest auch dazu, diesen Erzählzug plausibel zu machen: Ein Jünger stellt Jesus sein eigenes Grab zur Verfügung. Nach dem Verschließen des Grabs geht Josef, wie Matthäus eigens vermerkt, weg. Zurück bleiben die Frauen, mit deren Erwähnung analog zur 61 Darstellung des Geschehens in Golgota (V. 55f) auch die Erzählung von der Grablegung abgeschlossen wird. Von den in V. 56 eigens angeführten drei Frauen fehlt nun die Mutter der Zebedaiden; in V. 56 war sie wegen des Rückbezugs auf 20,20–23 wichtig. Die mk Bemerkung, dass die beiden Marien beobachten, wo Jesus hingelegt wurde (Mk 15,47), hat Matthäus gestrichen, weil die Kenntnis der Lage des Grabes nicht mehr plausibilisiert werden muss. Josef selbst ist ja ein Jünger. Als Vorausverweis auf 28,1 vermerkt Matthäus allein, dass sie dem Grab gegenüber saßen.

VI 10 Das bewachte leere Grab (27,62–28,15) Die auf Mk 16,1–8 fußende Erzählung vom leeren Grab in 28,1–8 hat Matthäus durch die seinem Sondergut angehörende bzw. (auf der Grundlage mündlicher Tradition) wesentlich von ihm selbst gestaltete Episode von der Bewachung des Grabes 27,62–66; 28,11–15 (vgl. dazu EvPetr 8,28–11,49) gerahmt, die sich zudem in 28,1–8 selbst in der Einfügung von V. (2–)4 manifestiert. Ausgangspunkt für die historisch als Legende zu wertende Grabwächterepisode ist das im Umfeld des Evangelisten virulente Gerücht vom Leichendiebstahl (28,15, vgl. Justin, Dial 108,2); dieses soll durch die Erweiterung der Erzählung vom leeren Grab gekontert werden. Dabei geht Matthäus zugleich zum Gegenangriff über, indem er die Streuung des Gerüchts auf die Hohepriester zurückführt, die dabei wider besseres Wissen und also betrügerisch gehandelt haben. Apologie paart sich hier mit der für das Mt gegenüber den jüdischen Autoritäten charakteristischen Polemik.

452 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) VI 10.1 Die Bewachung des Grabes (27,62–66) 62 Am nächsten Tag aber, der auf den Rüsttag folgt, versammelten sich die Hohepriester und die Pharisäer bei Pilatus 63 und sagten: „Herr, wir haben uns erinnert, dass jener Verführer, als er noch lebte, sagte: ‚Nach drei Tagen werde ich auferweckt.‘ 64 Befiehl nun, dass das Grab bis zum dritten Tag gesichert werde, damit nicht etwa seine Jünger kommen, ihn stehlen und dem Volk sagen: ‚Er ist von den Toten auferweckt worden‘, so dass die letzte Verführung schlimmer sein wird als die erste.“ 65 Pilatus sprach zu ihnen: „Ihr sollt eine Wache haben. Geht hin, sichert es, so gut ihr könnt!“ 66 Sie aber gingen hin und sicherten das Grab, nachdem sie den Stein versiegelt hatten, mit der Wache. 62–64 Die Initiative der jüdischen Autoritäten, am Sabbat ( ! ) nach Jesu Kreuzigung bei Pilatus vorstellig zu werden und ihn, um einem Diebstahl der Leiche vorzubeugen, um die Bewachung des Grabes Jesu zu bitten, ist in der vorangehenden Erzählung durch die dem Mt eigene Interpretation des Zeichens des Jona in 12,40 vorbereitet worden. Dass der Evangelist die Hohepriester in V. 62 nicht wie zuvor zusammen mit den Ältesten auftreten lässt (vgl. 26,3; 27,1 u. ö.), sondern mit den Pharisäern paart (vgl. 21,23.45), dient dazu, den Rückbezug auf 12,40 zu unterstreichen, wo eben die Pharisäer zusammen mit den Schriftgelehrten als Jesu Kontrahenten agierten: Sie erinnern sich nun an Jesu Ankündigung des Zeichens des Jona. Die auffällige Zeitangabe „nach drei Tagen“ in V. 63 – im Unterschied zu „am dritten Tag“ (16,21; 17,23; 20,19) – entspricht dabei den drei Tagen und Nächten in 12,40. Die despektierliche Bezeichnung Jesu als „jener Verführer“, welche Vorwürfe spiegeln dürfte, mit denen die mt Gemeinde sich konfrontiert sah (vgl. 28,15), wird am Ende auf die Autoritäten selbst zurückfallen. Matthäus operiert hier mit nicht mehr subtiler, sondern offenkundiger Ironie: Die Betrüger warnen vor Betrug. Der ironische Zug wird durch den Rückverweis auf 12,45 am Ende von V. 64 unterstrichen. Dort führte Jesus aus, dass es einem Menschen, dessen unreiner Geist ausgetrieben wurde, am Ende schlimmer geht als zuvor, wenn die Autoritäten wieder Einfluss auf ihn gewinnen; hier nun fürchten die Autoritäten den weiteren Einfluss der Jünger Jesu auf das Volk – und kopieren dazu Jesu Stellungnahme über sie. Die Rede vom „ersten (Betrug)“ muss man nicht speziell auf die Ankündigung von 12,40 engführen; im Blick dürfte hier vielmehr Jesu vorangehendes Wirken und der sich in ihm artikulierende messianische Anspruch im Ganzen sein. V. 64 bestätigt zugleich, dass V. 25 in keiner Weise als finales Wort über die Entscheidung des Volkes gegen Jesus zu lesen ist. Während sich die Feindschaft der Autoritäten auch nach der Kreuzigung fortsetzt, steht die Aufgeschlossenheit des Volkes gegenüber Jesus, wie sie während seines

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Wirkens zutage trat, auch für die Zukunft als Möglichkeit im Raum. Mit der expliziten Zitation der als Betrug befürchteten Botschaft der Jünger an das Volk, dass Jesus „von den Toten auferweckt worden ist“, wird das Osterkerygma vorweggenommen (vgl. 28,7). Darin, dass die Autoritäten einer positiven Resonanz der Botschaft der Jünger beim Volk zu wehren suchen, spiegelt sich wiederum die aktuelle Konfliktkonstellation der mt Gemeinden. Wie Pilatus sich in V. 24–26 in den Willen des vor ihm versammelten 65–66 Volkes gefügt und wie er in V. 58 Josef von Arimathäa dessen Bitte gewährt hat, so folgt er auch in V. 65 dem Anliegen der Hohepriester und Pharisäer und überlässt ihnen eine Wache zur Sicherung des Grabes. Im Lichte von V. 54 liegt dabei die Annahme nahe, dass es sich hier um andere Soldaten als zuvor in V. 27–54 handelt. Mit der Anfügung von „so gut ihr könnt“ in V. 65 lässt Matthäus wieder einen ironischen Zug einfließen. Gegen Gottes Intervention werden die Autoritäten weder mit der Wache noch mit der Versiegelung des Steins (mit Wachs oder weichem Ton?), mit der eine etwaige Öffnung des Grabs durch die Jünger nachgewiesen werden soll, etwas ausrichten können. Vielmehr werden gerade die Sicherungsmaßnahmen der Autoritäten (in Matthäus’ Perspektive) zum Zeugnis für die Auferstehung Jesu. Spielt die Versiegelung auf Dan 6,18 an, wird durch diese intertextuelle Referenz noch unterstrichen, wie sinnlos das Unterfangen der Autoritäten angesichts der Macht Gottes ist. VI 10.2 Das leere Grab und die Begegnung der beiden Marien mit Jesus (28,1–10) 1 Nach dem Sabbat aber, in der Dämmerung des ersten Wochentages, kam Maria von Magdala mit der anderen Maria, um das Grab zu besehen. 2 Und siehe, ein großes Erdbeben geschah. Ein Engel des Herrn stieg nämlich aus dem Himmel herab, trat hinzu, wälzte den Stein weg und setzte sich auf ihn. 3 Sein Ansehen aber war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie Schnee. 4 Aus Furcht vor ihm erbebten aber die, die Wache hielten, und sie wurden wie Tote. 5 Der Engel aber hob an und sagte zu den Frauen: „Fürchtet ihr euch nicht! Denn ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. 6 Er ist nicht hier, denn er ist auferweckt worden, wie er gesagt hatte. Kommt her, seht den Ort, wo er gelegen hat, 7 und geht schnell und sagt seinen Jüngern: ‚Er ist von den Toten auferweckt worden!‘ Und siehe, er geht euch voran nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt.“ 8 Und sie gingen schnell von der Grabstätte weg, mit Furcht und großer Freude, und liefen, um es seinen Jüngern mitzuteilen. 9 Und siehe, Jesus begegnete ihnen und sagte: „Seid gegrüßt!“ Sie aber traten hinzu,

454 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) ergriffen seine Füße und huldigten ihm. 10 Da sagt Jesus zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Geht hin, verkündet meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen sollen! Und dort werden sie mich sehen.“ Matthäus’ Version der Erzählung vom leeren Grab weist gegenüber Mk 16,1–8 zahlreiche Besonderheiten auf. Hinzuweisen ist insbesondere auf den Einschub in V. 2–4, der mit der Rahmung durch 27,62–66; 28,11–15 in Zusammenhang steht. Die Erzählung ist ferner durch die Begegnung der beiden Marien mit dem Auferstandenen in V. 9f erweitert, die in Joh 20,14–18 ein Pendant hat (s. u.). Der Figurenbestand ist in Übereinstimmung mit 27,61 auf die beiden 1 Marien reduziert; Salome (Mk 16,1, vgl. Mk 15,40 par Mt 27,56) fehlt. Dass die Frauen nicht kommen, um Jesus zu salben (Mk 16,1), sondern allein, „um das Grab zu besehen“ (V. 1), ist für Matthäus Konsequenz aus 26,6–13, trägt zugleich aber auch der Bewachung des versiegelten Grabes Rechnung. Entsprechend fehlt das Gespräch der Frauen darüber, wer 2–4 ihnen den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen könne (Mk 16,3). Die Frauen finden zudem das Grab nicht bereits geöffnet vor, sondern Matthäus schildert eine göttliche Intervention bei der Ankunft der Frauen am Grab (V. 2f): Verbunden mit einem starken Erdbeben (vgl. 27,51!) kommt „ein Engel des Herrn“ (vgl. 1,20.24; 2,13.19) – Mk 16,5 spricht von einem „Jüngling“ – herab. Da erst der Engel den Stein wegwälzt, das Grab aber offenbar bereits leer ist – wie sonst im NT wird auch hier die Auferstehung selbst nicht geschildert (zum EvPetr s. nach 28,15) –, ist hier impliziert, dass Jesus das Grab trotz des Steins verlassen hat (vgl. Joh 20,19.26). Es wird also ein Wunder geschildert; zugleich mag man angedeutet sehen, dass die leibliche Wirklichkeit des Auferstandenen eine Leiblichkeit sui generis ist, die kategorial nicht näher zu fassen ist. Die lichtvolle Gestalt des Engels (zum Blitz vgl. Dan 10,6) und sein weißes Gewand (vgl. Dan 7,9) erinnern als Ausdruck seiner himmlischen Herkunft an die Verwandlung Jesu in 17,2. Im Gefolge von 27,62–66 sind nicht nur die Frauen, sondern auch die Wachsoldaten Zeugen des Geschehens, doch ist dessen Wirkung auf diese und auf jene grundverschieden: Während die Frauen ansprechbar bleiben und ihnen der Engel die Auferweckungsbotschaft ausrichtet, „erbeben“ die Soldaten vor Furcht (vgl. 21,10), wie Matthäus in Anspielung auf das Beben in V. 2 formuliert, um den Zusammenhang mit dem theophanen Geschehen zu verdeutlichen. Da die Wächter sodann „wie Tote werden“, bleibt ihnen das weitere Geschehen entzogen. Das, was sie gesehen haben, genügt aber, um sie Zeugen dafür sein zu lassen, dass das leere Grab auf einer göttlichen Intervention und nicht etwa auf dem Diebstahl der Leiche Jesu durch seine Jünger beruht (vgl. V. 11). Anders als Mk 16,5 sagt Matthäus nicht, dass die Frauen in das Grab 5–7 hineingehen. Ebenso sitzt der Engel nicht im Grab, sondern vor diesem

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auf dem Verschlussstein (V. 2). Der Zuspruch „fürchtet ihr euch nicht“ ist ein stilgerechtes Element von Epiphanieszenen (vgl. 14,27; 17,6f); das betonte „ihr“ unterstreicht den Kontrast zu den Wächtern, die vor Furcht erbebten. In V. 6 ist die Aussage „er ist nicht hier“ vorangestellt (vgl. Lk 24,6). Die Auferweckungsbotschaft folgt als Begründung; sie ist zudem um einen Rückverweis auf Jesu Ankündigungen (16,21; 17,9.23; 20,19; 26,32) erweitert. Da die Szene außerhalb des Grabes spielt, werden die Frauen mit „kommt“ eigens aufgefordert, herzuzutreten und zu schauen, wo Jesus gelegen hat. Das Wegwälzen des Steins durch den Engel findet nun also seine Bedeutung darin, dass die Frauen dadurch tatsächlich das leere (Innere des) Grab(es) besehen können. Nach wie vor wird aber nicht erzählt, dass sie dafür in das Grab hineingehen; vielleicht muss man sich die Szene im mt Sinn so vorstellen, dass die beiden Marien lediglich durch die Tür in das Grab hineingeschaut haben (in V. 8 gehen sie weg, nicht wie in Mk 16,8 hinaus). Den in V. 7 folgenden Auftrag, den Jüngern (die gesonderte Nennung von Petrus [Mk 16,7] hat Matthäus als unnötig ausgelassen; Petrus ist in 28,16 impliziert) zu berichten, hat Matthäus um die explizite Zitation der Auferstehungsbotschaft erweitert. „Er ist von den Toten auferweckt worden“ entspricht wörtlich 27,64. Was die Autoritäten als lügnerische Verkündigung der Jünger befürchtet haben, wird nun also den Frauen vom Engel des Herrn als den Jüngern auszurichtende wahrhaftige Botschaft aufgetragen. V. 7b greift Jesu Ankündigung in 26,32 auf, doch tritt an die Stelle des expliziten Rückverweises auf diese in Mk 16,7 („wie er euch gesagt hat“) eine Bekräftigung des Engels („siehe, ich habe es euch gesagt“), die auf seine gesamte Rede zu beziehen sein dürfte. Die Folge dieser Ersetzung ist, dass in Mt 28 allein die Auferweckungsbotschaft (V. 6) mit einem ausdrücklichen Rückverweis auf Jesu Ankündigung verbunden ist; auf ihr liegt der Ton. Grundlegend neu gestaltet hat Matthäus den Abschluss der Erzählung. 8–10 Die Frauen fliehen nicht voll Zittern und Entsetzen und schweigen vor Furcht, sondern sie erfüllen den Auftrag des Engels: Sie laufen, um den Jüngern Bericht abzustatten (vgl. Lk 24,9[–11]), und der – angesichts der Begegnung mit dem Göttlichen weiterhin bestehenden – Furcht tritt ihre durch die Engelsbotschaft hervorgerufene große Freude (zuvor im Blick auf Figuren der erzählten Handlung nur in 2,10) zur Seite (vgl. Joh 16,20–22; 20,20). Matthäus hat die Szene zudem um die Begegnung der beiden Frauen mit dem Auferstandenen erweitert. Die Erzählung von der Begegnung Jesu (nur) mit Maria von Magdala (unmittelbar vor dem Grab) in Joh 20,14–18 lässt, sofern sie nicht von Mt 28,9f abhängig ist, darauf schließen, dass die mt Erweiterung auf Tradition beruht. In beiden Evangelien handelt es sich um die Ersterscheinung Jesu, während diese anderorts Petrus

456 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) zukommt (1Kor 15,5; Lk 24,34); Matthäus hingegen erzählt gar keine Einzelerscheinung vor Petrus. Historisch betrachtet spricht nichts dagegen, dass hinter der in V. 9f und Joh 20,14–18 einwirkenden Tradition eine authentische Reminiszenz an eine Christophanie vor Maria von Magdala (oder mehreren Frauen?) steht. Die Frage, ob es sich dabei um die Protophanie gehandelt hat, ist mit dem Problem der Historizität der Erzählung vom leeren Grab verhängt, die eher skeptisch zu beurteilen sein dürfte. Umgekehrt sind damit aber eben nur der mit Mt 28,9f gesetzte Zeitpunkt und der Ort, nicht aber das Dass der Auferstehungserfahrung der Frauen (bzw. von Maria von Magdala) in Frage gestellt. Dass Matthäus und Johannes eine Ersterscheinung Jesu vor Frauen schildern, macht notabene deutlich, dass man gerade nicht von einer generellen Verdrängung der Rolle und der Glaubenserfahrungen von Frauen in den späteren Dekaden der Entstehung der ersten Gemeinden sprechen kann.

In der kurzen mt Erzählung wird Jesus von den Frauen offenbar sogleich erkannt. Das Berühren der Füße in V. 9 gibt einen Hinweis auf die Leiblichkeit der Auferstehung, doch ist dies zum einen damit zu vermitteln, dass in V. 2 impliziert ist, dass der Auferstandene das Grab trotz des Steins verlassen konnte. Zum anderen ist die Berührung der Füße im Verbund mit dem für Matthäus typischen Motiv der Proskynese (vgl. v. a. 2,2.11; 14,33, von Bittstellern 8,2; 9,18; 15,25 sowie auch 20,20) zu sehen; sie wird sich in 28,17 bei der Erscheinung vor den Jüngern wiederholen. Auffallend ist, dass in der Botschaft des Auferstandenen an die Frauen in V. 10 kein eigener Inhalt zum Voranstehenden hinzutritt, sondern allein die Botschaft des Engels in V. 7b bekräftigt wird: Die Begegnung der Jünger mit dem Auferstandenen wird sich in Galiläa ereignen, nicht in Jerusalem; das theologische Programm des Gegensatzes zwischen Galiläa und Jerusalem wird nachösterlich fortgeschrieben. Darin, dass Jesus die Jünger trotz ihrer Flucht (26,56) und der Verleugnung durch Petrus (26,69–75) – wie (ähnlich) zuvor in 12,49f – als „seine Brüder“ bezeichnet (vgl. Joh 20,17), ist bereits impliziert, dass Jesus ihnen ihr Fehlverhalten nicht anrechnet, sondern es gnadenhaft übergeht. Die Ausführung des an die beiden Frauen ergangenen Auftrags wird nicht mehr geschildert; sie ist in 28,16 vorausgesetzt. VI 10.3 Die Lüge vom Leichendiebstahl (28,11–15) 11 Als sie aber gingen, siehe, da kamen einige von der Wache in die Stadt und meldeten den Hohepriestern alles, was geschehen war. 12 Und nachdem sie sich mit den Ältesten versammelt und einen Beschluss gefasst hatten, gaben sie den Soldaten genügend Silberstücke 13 und sagten: „Sagt: ‚Seine Jünger kamen nachts und stahlen ihn, während wir schliefen.‘ 14 Und wenn dieses dem Statthalter zu Ohren kommen sollte, so

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werden wir ihn überzeugen und bewirken, dass ihr ohne Sorge (sein könnt).“ 15 Sie aber nahmen die Silberstücke und taten, wie sie belehrt worden waren. Und diese Rede verbreitete sich bei Juden bis auf den heutigen Tag. V. 11 nimmt den auf der Basis von 27,62–66 in die Erzählung vom leeren 11 Grab in 28,4 eingeflochtenen Erzählfaden wieder auf. Inzwischen sind die Soldaten wieder zu sich gekommen, und einige von ihnen, womit wohl eine von allen beauftragte Gesandtschaft gemeint ist, erstatten Bericht über das Geschehen, soweit sie es wahrgenommen haben, also über V. 2f sowie, wie zu ergänzen ist, darüber, dass sie anschließend das Grab leer vorgefunden haben. Dass die Soldaten sich nicht (wie in EvPetr 11,43–49) an Pilatus wenden, sondern die Hohepriester aufsuchen, nimmt auf, dass Pilatus jenen die Wache übergeben hat (27,65), ist zugleich aber auch im Blick auf die mt Erzählabsicht zwingend: Der Evangelist hat es in seinem Umfeld mit jüdischer Opposition zu tun und möchte entsprechend das betrügerische Verhalten der jüdischen Autoritäten herausstellen. Da die Wächter nicht versagt haben, sondern von einer höheren Macht überwunden wurden (V. 2–4), haben die Hohepriester mit dem Bericht der Soldaten ein deutliches Zeichen für die Wahrhaftigkeit der Ankündigung Jesu über seine Auferstehung erhalten. Ihnen ist das Zeichen des Jona (12,40) also tatsächlich gegeben worden – und mit dem Herabsteigen des Engels aus dem Himmel auch das in 16,1 geforderte „Zeichen aus dem Himmel“. 12–14 Sie reagieren darauf aber nicht etwa mit einer Anerkennung des Geschehens, sondern verharren – trotz besseren Wissens (vgl. 2,1–6) – in ihrer feindlichen Haltung und suchen daher nach einer Lösung für das durch die Bewachung des Grabes entstandene Problem: Mit den Soldaten gibt es „objektive“, nicht aus dem Kreis der Anhänger Jesu stammende Zeugen für ein übernatürliches Geschehen am Grab Jesu, die letztlich gegenüber Pilatus rechenschaftspflichtig sind. Ihre Sicherungsmaßnahme ist für die Hohepriester zum Bumerang geworden. Ein letztes Mal spricht Matthäus davon, dass sie sich, nun wieder mit den Ältesten, versammeln (vgl. 26,3.[57]; 27,62) und einen Beschluss fassen (vgl. 12,14; 22,15; 27,1.7 sowie auch 26,4): Sie bestechen die Soldaten mit Geld, damit sie erzählen, dass sich genau das zugetragen hat, was die Autoritäten in 27,64 Pilatus gegenüber als zu befürchtenden Betrug der Jünger Jesu vorgebracht haben. „Silberstücke“ (argyria) war zuvor Leitwort im Rahmen der Kooperation zwischen Judas und den Autoritäten (26,15; 27,3.5.6.9); erneut dient ihnen Geld als das Mittel, mit dem sie ihre Ziele zu erreichen suchen. Dabei ist die Lüge hier insofern schlecht gestrickt, als die Soldaten ja gerade dazu abgeordnet wurden, den „Betrug der Jünger“ zu verhindern, und entsprechend das Eingeständnis, geschlafen zu haben, notwendiger Bestandteil der Lüge ist; sie können dann aber gar nicht gesehen haben, dass die Jün-

458 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) ger gekommen sind. Gerade diese mangelnde logische Plausibilität dürfte aber Absicht sein: Matthäus bringt damit die Verlegenheit, in die die Autoritäten aufgrund ihrer eigenen Sicherungsmaßnahme angesichts der Evidenz des Geschehens geraten sind, in geradezu sarkastischer Weise zum Ausdruck. Da die Soldaten sich bei diesem Plan selbst des Versagens bezichtigen müssen, kommt Pilatus noch einmal ins Spiel. Die jüdischen Autoritäten müssen jenen vorab versichern, dass ihnen von seiner Seite keine Gefahr droht, für ihr Versagen zur Verantwortung gezogen zu werden. Pilatus wird auch hier als eine schwache Person gezeichnet, die nicht lenkt, sondern gelenkt wird; die Autoritäten wähnen sich sicher, dass sie ihn mit ihren Manipulationen unter Kontrolle haben, und suchen die Soldaten entsprechend zu beruhigen. Mit „wir werden ihn überzeugen“ verwendet Matthäus gezielt dasselbe Verb, das er in 27,20 in pejorativem Sinn für die Überredung des Volkes durch die Autoritäten benutzt hat. Durch die Wiederholung macht Matthäus deutlich, dass die betrügerische Manipulation von Menschen ein typisches Mittel der Autoritäten ist, mit dem sie ihre Ziele zu erreichen suchen. V. 15a schildert knapp die Umsetzung der Abmachung. Die auffällige 15 Wendung „wie sie belehrt worden waren“ setzt die Verbreitung des Gerüchts in Kontrast zum Auftrag der Jünger in V. 20a: Während die Jünger in ihrer Lehre den Menschen die Unterweisung Jesu vermitteln und ihnen so den Willen Gottes erschließen, besteht die „Lehre“ der Autoritäten (vgl. 16,12) darin, Lügen in die Welt zu setzen. Die Rede von der Verbreitung des Gerüchts „bis auf den heutigen Tag“ in V. 15b macht deutlich, dass Matthäus und seine Gemeinden selbst in ihrem jüdischen Umfeld mit dem Gerücht konfrontiert werden. „Bei Juden“ klingt distanzierend. V. 15 sagt aber weder pauschal, dass aus Israel die Juden geworden sind, noch ist überhaupt von den Juden die Rede. Der Artikel fehlt! Gesagt ist allein, dass sich aufgrund der Bestechung der römischen Soldaten durch die Hohepriester und Ältesten das Gerede vom Leichendiebstahl in jüdischen Kreisen verbreitet hat. Der Ausbau der Erzählung vom leeren Grab durch 27,62–66; 28,4.11–15 ist Reaktion auf dieses Gerücht. Sie soll nicht nur nach innen Vergewisserung stiften, sondern zugleich auch – im Rahmen der fortbestehenden Aufgabe der Zuwendung zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (10,6) – denen, die Opfer des Gerüchts geworden sind, die wahren Hintergründe vermitteln und dabei deutlich machen: Die Betrüger sind die anderen. Im Blick auf den Auferstehungsglauben birgt die mt Erzählung in 27,62–28,15 eine theologisch problematische Tendenz. Denn aus der apologetischen Frontstellung heraus kommt es zu einer Tendenz der Verobjektivierung des Geschehens, für welches das durch nicht-christusgläubige Zeugen abgesicherte „Faktum“ des durch göttliche Intervention leeren Grabes zum zentralen Beleg wird. Immerhin geht Mat-

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thäus nicht so weit wie EvPetr 10,38–42, wo die Soldaten sogar zu Zeugen werden, wie der Auferstandene aus dem Grab herauskommt. Matthäus’ Tendenz mag aufgrund seiner Frontstellung (28,15) ein Stück weit nachvollziehbar sein; gleichwohl ist auch zu seiner Fortschreibung der Erzählung vom leeren Grab zu konstatieren, dass Apologie nicht die beste Ratgeberin der Theologie ist. Der Osterglaube lässt sich historisch nicht absichern, aber er braucht diese Absicherung auch nicht, impliziert Glaube doch gerade, sich über das, was im strengen Sinne beweisbar ist, hinauszuwagen (zum kritischen Glauben gehört des Näheren, sich dabei nicht in Phantastereien zu verlieren). Zur Erzählung vom leeren Grab ist in Sonderheit festzuhalten: Die Wirklichkeit der Auferstehung hängt nicht am leeren Grab – und zwar auch nicht im Blick auf ihre Leiblichkeit, wenn von dieser im reflektierten Sinn von 1Kor 15,35–53 geredet wird. Denn Auferstehung bedeutet nicht bloß Wiederbelebung eines Toten im Sinne seiner Rückkehr in das alte Leben, sondern Verwandlung zu einer unvergänglichen „pneumatischen“ Leiblichkeit (15,42–44.50–53). Wenn das Grab voll war, ist damit der Osterglaube also in keiner Weise widerlegt. Im Übrigen weist auch die Identifizierung Jesu mit dem auferweckten Täufer in Mt 14,2 par Mk 6,14 durch Herodes Antipas darauf hin, dass im jüdischen Kontext Auferstehungsglaube nicht auf ein leeres Grab angewiesen war (vgl. das Begräbnis des Täufers in Mt 14,12 par Mk 6,29).

VI 11 Die Beauftragung der Jünger zur universalen Mission (28,16–20) 16 Die elf Jünger aber gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin ihnen Jesus (zu gehen) befohlen hatte. 17 Und als sie ihn sahen, huldigten sie, einige aber zweifelten. 18 Und Jesus trat hinzu, redete mit ihnen und sagte: „Mir ist alle Vollmacht gegeben, im Himmel und auf Erden. 19 Geht also hin und macht (Menschen aus) alle(n) Völker(n) zu Jüngern, indem ihr sie tauft auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, 20 und sie lehrt, alles zu halten, was ich euch geboten habe! Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis an das Ende der Welt.“ Der Schlussabschnitt, den der Evangelist auf der Grundlage einzelner traditioneller Elemente (wie der Verbindung von Sendung und Beistandswort, vgl. zu V. 18b) weitgehend selbst gestaltet hat, ist der Kulminationspunkt des ganzen Evangeliums, auf den die einzelnen Fäden der vorangehenden Erzählung zulaufen. Wie zuvor in der kleinen Szene in V. 9f redet auch hier allein Jesus. Mehr noch: Das Mt endet nicht – wie die übrigen drei kanonischen Evangelien – mit einem Kommentar des Erzählers, sondern mit einem Wort des Auferstandenen, worin sich die Bedeutung spiegelt, die Matthäus insgesamt dem Wort Jesu zuweist. Neben der Begegnung mit den beiden Frauen schildert Matthäus nur diese eine Erscheinung Jesu vor den verbliebenen elf Jüngern des Zwölferkreises; eine Protophanie vor

460 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) Petrus (Lk 24,34; 1Kor 15,5) fehlt. Unter den Ostererzählungen bieten Lk 24,(36/)44–49; Joh 20,19–23 die engsten Parallelen, da auch dort das Gewicht auf der Beauftragung der Jünger liegt. Die Jünger folgen der Aufforderung des Auferstandenen (V. 10) und 16 gehen nach Galiläa. Dass sie dort den Auftrag zur universalen Mission erhalten, lässt an die Rede vom „Galiläa der Völker“ in dem Zitat aus Jes 8,23–9,1 in Mt 4,15 zurückdenken. Geschildert wurde ab 4,17 allerdings die Zuwendung Jesu zu Israel, mit der dem in Finsternis sitzenden Volk Gottes das Licht aufging (4,16). Aber mit der Rede vom „Galiläa der Völker“ wurde ein über Israel hinausreichender Erwartungshorizont über die nachfolgende Erzählung gespannt. Dieser wird nun in 28,16–20 eingelöst. Galiläa steht dabei in Kontrast zu Jerusalem. Schon in Mt 2 resultierte die Umsiedlung nach Nazaret daraus, dass der „König der Juden“ wegen der ihm entgegengebrachten Feindschaft nicht in Judäa bleiben konnte, so dass Galiläa zum Ausgangspunkt und Zentrum des Wirkens Jesu in Israel wurde. Nach der Kreuzigung des „Königs der Juden“ in Jerusalem wiederholt sich dieses Moment: Nun wird Galiläa auch zum Ausgangspunkt der über Israel hinausgehenden Zuwendung zu allen Völkern. Die nähere – nicht durch 26,32; 28,7.10 vorbereitete und gerade deshalb auffallende – Lokalisierung der Begegnung auf einem Berg, der bei Matthäus als Ort der Offenbarung konnotiert ist, verweist auf die verschiedenen vorangehenden Bergszenen zurück. Auf einem Berg hat Jesus gelehrt (5,1, vgl. 8,1), geheilt (15,29–31) und gebetet (14,23). Der Bezug auf den Berg als Ort der Lehre in 5,1 ist insofern von besonderem Gewicht, als Jesus seine Jünger in 28,20a darauf verpflichtet, die Völker alles zu lehren, was er ihnen geboten hat. Vor allem aber weist V. 16 auf die auf einem „hohen Berg“ verortete Verklärungsszene in 17,1–9, in der die Auferstehungsherrlichkeit Jesu antizipiert wurde, sowie auf die dritte, von Matthäus auf einem „hohen Berg“ lokalisierte Versuchungsszene in 4,8–10 zurück, in der der Teufel Jesus die Weltherrschaft angeboten hat. Nun wird Jesus kundtun, dass ihm nicht nur auf Erden, sondern auch im Himmel Vollmacht gegeben wurde – von Gott (28,18b). Die Erscheinung Jesu wird im griechischen Text nur in einer kurzen 17 Partizipialphrase – ohne jedes ausschmückende Detail – konstatiert („als sie ihn sahen“). Wie zuvor die Frauen (28,9) erweisen auch die verbliebenen elf Jünger dem Auferstandenen die Proskynese (vgl. 14,33), doch mengt sich in diese bei einigen Zweifel. Die Rede vom Zweifel ist in dem einzigen weiteren Vorkommen im Mt (14,31) mit dem für die mt Darstellung der Jünger charakteristischen Motiv des Kleinglaubens verbunden (vgl. zu 8,26), das damit hier mit anklingt. In 14,28–31 hat der kleingläubige Petrus beim Blick auf den starken Wind an seiner Bevollmächtigung durch Jesus gezweifelt. Angesichts des Rückverweises wird man für 28,17 einen analogen Sinnhorizont vorauszusetzen haben: Der Zweifel bezieht

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sich hier nicht darauf, ob es Jesus ist, der ihnen begegnet, sondern darauf, was Jesu Auferweckung im Blick auf seine Stellung und für ihre – durch ihr Versagen in der Passion belastete – Jüngerschaft bedeutet. Darin, dass Jesus zu den Jüngern hinzutritt, kann man in diesem Zu- 18–20 sammenhang symbolisiert finden, dass er die in der Passion entstandene Trennung überwindet. Zugleich unterstreicht das Motiv die Verbindung zu 17,1–9, denn vom Hinzutreten Jesu war zuvor im Mt nur in 17,7 die Rede (sonst treten immer andere zu Jesus hinzu). Bei der Verklärung wurde den Jüngern von der Himmelsstimme bedeutet, auf Jesus, den Gottessohn, zu hören (17,5). Nun spricht der erhöhte Gottessohn selbst zu ihnen. Das Wort des Auferstandenen ist dreiteilig: Das Sendungswort in V. 19–20a wird gerahmt von einem Vollmachtswort (V. 18b) und einer Beistandszusage (V. 20b). Die Formulierung in V. 18b lässt an 11,27 zurückdenken. Die dortige 18b Betonung der singulären Gemeinschaft Jesu mit seinem Vater und die damit verbundene Herleitung seiner Autorität müssen in 28,18b nicht (mehr) wiederholt werden. Vielmehr ist nun das offene „alles“ aus 11,27 spezifiziert. Von Jesu Vollmacht war zuvor bereits mehrfach die Rede (7,29; [8,9]; 9,6; 21,23–27). Neu ist in 28,18b die Betonung, dass Jesus – als dem zur Rechten Gottes (vgl. 22,44; 26,64) erhöhten Weltenherrn (vgl. Phil 2,9–11; Eph 1,20–23 u. ö.) – alle Vollmacht im Himmel und auf Erden gegeben ist. Als Zeitpunkt der Übergabe wäre Jesu Auferweckung eine auf den ersten Blick naheliegende Option. Die vorangehenden Vorkommen von „Vollmacht“ zeigen allerdings, dass die Aussage in 28,18b eher mit dem Irdischen verbindet als von ihm trennt. 11,27 ist geradezu eine Vorwegnahme von 28,18b, und 14,22–33 lässt bereits für den irdischen Herrn Partizipation an göttlicher Macht deutlich werden (vgl. auch 26,52–54). In 28,18b wird man das Neue daher gar nicht in der Vollmacht an sich bzw. in dem Vollmaß der Vollmacht zu sehen haben, sondern darin, dass Jesus nun zur Rechten Gottes erhöht ist (26,64) und seine Vollmacht als eine universale kundtut. Besessen hat er sie schon vorher, aber mit seiner Inthronisation zum Weltenherrn ist er in die Position eingesetzt, sie auszuüben, während sein irdisches Wirken durch seine Sendung allein zu Israel gekennzeichnet war. Im Gesamtkontext lässt V. 18b ferner an die Vorstellung vom Reich des Menschensohnes (13,41; 16,28; 20,21) zurückdenken. Intertextuell ist erneut auf Dan 7,(13–)14 als wichtigsten Bezugstext zu verweisen: Dem Menschensohn wurde Vollmacht gegeben; alle Völker dienen ihm. Anders als bei der Aufnahme von Dan 7,13(f) in Mt 24,30; 26,64 bezieht sich 28,18b aber nicht auf die Parusie, sondern auf die gegenwärtige Herrschaft des Erhöhten. Auch im Vergleich mit Dan 7,14 fällt in Mt 28,18b dabei die Betonung der Universalität der Vollmacht auf: Jesus ist alle Vollmacht im Himmel und auf Erden gegeben. Diese universale Vollmacht Jesu bildet die Voraussetzung für die universale Sendung in

462 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) V. 19–20a. V. 18b hat damit für V. 19–20a eine analoge Funktion wie 4,23–9,35 für die auf Israel konzentrierte Sendung in 9,36–11,1; in beiden Fällen wird die jeweilige christologische Basis der Sendung ausgeführt. Die fundamentale Bedeutung von 28,18b für V. 19–20a lässt sich auch durch einen Vergleich mit den Worten des Auferstandenen in Lk 24,47–49 und Joh 20,21–23 deutlich machen. Auch dort werden die Jünger ausgesandt, und dem Beistandswort in V. 20b korrespondiert in Lk 24,49 und Joh 20,22 die Verheißung bzw. Gabe des Geistes. Das vorangehende Vollmachtswort aber ist ein Proprium der mt Erscheinungsgeschichte; für seine Bildung und kompositorische Voranstellung dürfte Matthäus selbst verantwortlich sein. Im Sendungswort in V. 19a lässt „geht hin“ 10,6 anklingen. Nun aber 19a gilt die Sendung nicht mehr nur „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“, sondern allen Völkern. In der Gesamtanlage des Mt bedeutet dies keinen überraschenden Umbruch; vielmehr kommt hier die Abraham gegebene Verheißung des Völkersegens (Gen 12,3 u. ö.) zur Erfüllung, auf die durch das Motiv der Abrahamsohnschaft Jesu schon in 1,1 angespielt wurde (vgl. 3,9; 8,11). Dem stehen weitere Signale zur Seite: die nichtjüdischen Frauen im Stammbaum (1,3–6), die dem „König der Juden“ huldigenden Magier in 2,1–12, die Rede vom „Galiläa der Völker“ (4,15) und von der Hoffnung der Völker (12,21) in den Erfüllungszitaten aus Jes 8,23–9,1 und 42,1–4, die Bezeichnung der Jünger als „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ (5,13.14), die Vorwegnahme von 28,19 in 24,14 (s. auch 13,38) sowie schließlich die drei Erzählungen in 8,5–13.28–34; 15,21–28, in denen die nachösterliche Universalität des mit dem Wirken Jesu verbundenen Heils antizipiert wird. Die Basis für 28,19 ist die universale Heilsbedeutung von Tod und Auferweckung Jesu sowie seine Erhöhung zur Rechten Gottes: Der Gottessohn hat im Gehorsam gegenüber dem Willen des Vaters (26,39.42) sein Leben „für die Vielen“ (20,28; 26,28) hingegeben und wurde von Gott zum Weltenherrn eingesetzt. Damit ist der Kairos (vgl. 8,29) gekommen, dass nicht nur Israel durch den davidischen Messias das Heil empfängt, sondern durch den Missionsauftrag des erhöhten Gottessohnes auch die Völker in die Heilszuwendung einbezogen werden. Gegenüber der viel diskutierten Frage, ob Israel in V. 19 ein- oder ausgeschlossen ist bzw. ob hier alle Völker inkl. Israel oder die Heiden gemeint sind, ist grundlegend zu bedenken, dass die bis zur Parusie fortbestehende Aufgabe der Zuwendung zu Israel mit dem spezifischen theologischen Horizont der Restitution des Gottesvolkes bereits in 10,6–8.23 mit bleibender Gültigkeit vorgebracht wurde und in keiner Weise zur Disposition steht; es bedarf dazu keiner neuen Instruktion mehr. Die Deutung der Wendung „alle Völker“ in 28,19 (vgl. zuvor 24,9.14; 25,32) mit der Alternative zu verbinden, ob Israel nur noch eines der Völker oder

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sogar ganz von der nachösterlichen Heilszuwendung ausgeschlossen ist, geht daher an der mt Erzählkonzeption vorbei. Die Frage, ob Israel noch eingeschlossen ist, steht für Matthäus überhaupt nicht zur Debatte, sein Anliegen ist umgekehrt, dass nunmehr alle (übrigen) Völker eingeschlossen sind. Im Blick auf die theologische Konzeption ist anzufügen, dass 28,19 nicht als Antwort auf die vermeintliche Ablehnung Jesu in Israel zu lesen ist, zumal von einer solchen pauschal überhaupt nicht die Rede sein kann (vgl. die Differenzierung zwischen den Volksmengen und Autoritäten z. B. in 9,33f; 12,23f und zur besonderen Rolle Jerusalems z. B. 21,10f; 23,37, s. ferner zu 27,25). Vielmehr ist der Übergang von der auf Israel beschränkten Sendung in 10,5f und der universalen Mission in 28,19 integraler Bestandteil der narrativen Konzeption, mit der Matthäus die messianische Identität Jesu als Sohn Davids und Sohn Gottes entfaltet: Ist die Israelkonzentration der irdischen Wirksamkeit Jesu mit der Hervorhebung seiner davidischen Messianität verbunden, so steht die Ausweitung des Heils auf die Völkerwelt im Zusammenhang von Heilstod, Auferstehung und Erhöhung des Gottessohnes. Und wie die Universalität des mit dem Kommen Jesu verbundenen Heils von 1,1 an signalisiert wird und als Vorzeichen vor die Schilderung seiner Wirksamkeit in Israel gesetzt ist, aber erst am Ende mit der Aussendung der Jünger durch den Auferstandenen zur Geltung kommt, so ist Jesus von Anfang an Gottes Sohn (s. zu 1,18–25). Sein Offenbarwerden als Sohn Gottes bleibt im Kontext der Schilderung seines Wirkens in Israel aber zunächst auf den Jüngerkreis beschränkt (14,33; 16,16), der darüber zu schweigen hat (16,20; 17,9), um dann erst im Zusammenhang seines Todes und seiner Erhöhung zum christologischen Leitmotiv zu werden und über den Jüngerkreis hinauszutreten (vgl. in der Einleitung unter 2.1). Die unterschiedlichen Horizonte der Aussendungen in 10,5f und 28,19 sind also mit der narrativen Christologie der mt Jesusgeschichte in Verbindung zu setzen: Im Zentrum der mt Erzählkonzeption steht, dass der Evangelist den Zusammenhang von Zuwendung zu Israel und Völkermission mit der Entfaltung der messianischen Identität Jesu als Sohn Davids und Sohn Gottes verschränkt hat. Die Aufforderung in V. 19a wird durch zwei Modalsätze entfaltet: Zum 19b Jünger wird man durch Taufe und Unterweisung. Die Taufformel „auf den Namen …“ verweist auf den Referenzrahmen des Ritus, zu dem der Täufling in Beziehung gesetzt wird. Erstmals begegnet hier in der frühchristlichen Literatur die Erweiterung des christologischen Bezugs (Apg 2,38; 8,16 u. ö.) zur triadischen Taufformel (vgl. Did 7,1.3), die die liturgische Praxis der mt Gemeinde spiegeln dürfte. Die explizite Nennung Gottes mag angezeigt erschienen sein, weil bei nichtjüdischen Täuflingen nicht nur der Bezug auf Christus, sondern auch der Glaube an den einen Gott Israels ein Unterscheidungsmerkmal zu ihrem früheren Leben bedeutete.

464 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) Sie ist aber auch im Falle von christusgläubigen Juden insofern nicht bedeutungslos, als es um den Bezug auf Gott geht, wie er sich durch die Sendung Jesu zu erkennen gegeben hat. In „auf den Namen … des Sohnes“ mag vom Gesamtkontext des Mt her 12,21 (die Völker hoffen „auf seinen Namen“) mitzuhören sein. Impliziert ist hier jedenfalls, dass die Gottessohnschaft Jesu nun Gegenstand öffentlicher Verkündigung wird und damit die Schweigegebote in 16,20; 17,9 – gemäß der in 17,9 selbst definierten zeitlichen Befristung – keine Gültigkeit mehr haben. Der Heilige Geist ist christologisch ebenfalls mit der Gottessohnschaft Jesu verknüpft (1,18.20; 3,16f; 12,18). Im Licht von 3,11 ist ferner davon auszugehen, dass Matthäus mit der Taufe die Verleihung des Geistes verband. Die Sündenvergebung (vgl. z. B. Apg 2,38) wird nicht eigens erwähnt, dürfte angesichts ihrer prominenten Rolle im Mt (z. B. 6,14f; 9,2–13; 18,21–35) für Matthäus aber in dem durch die triadische Formel benannten Bezug des Ritus impliziert sein. Die Beschneidung wird kaum deshalb nicht erwähnt, weil sie – auf der Basis der grundsätzlichen Geltung eines jeden Iotas der Tora (5,18) – selbstverständlich praktiziert wird, sondern weil das Beschneidungsgebot (Gen 17) für Christusgläubige aus den (übrigen) Völkern Matthäus zufolge nicht gilt. Die mt Heidenchristen sind also nicht im traditionellen Sinn Proselyten, sie treten nicht formal zum Judentum über. Dafür spricht zum einen, dass Matthäus die Völkermission von dem – um Judas reduzierten – Zwölferkreis ausgehen lässt, dessen primus inter pares, Petrus, die Vereinbarung zwischen Jerusalem und Antiochien zur beschneidungsfreien Völkermission im Jahre 48 n. Chr. mitgetragen hat (Apg 15; Gal 2,1–10). Zum anderen ist zu bedenken, dass sich für Matthäus mit der universalen soteriologischen Bedeutung des Todes Jesu eine neue heilsgeschichtliche Situation ergeben hat und die im Mt bezeugten eigenen Riten der Gemeinde, Taufe und Abendmahl, die Christusgläubigen zu diesem Heilsgeschehen in Beziehung setzen. Ferner wäre das Gewicht, das Matthäus der in 28,18–20 zutage tretenden Programmatik einer aktiven missionarischen Zuwendung zu allen Völkern auf der Basis der universalen Vollmacht des erhöhten Herrn zugemessen hat, schwer verständlich, wenn die mt Gemeinde bloß die sonstige jüdische Praxis des Übertritts zum Judentum fortgesetzt haben soll. Für die Christusgläubigen aus den Völkern ist die Taufe also der einzige Initiationsritus. Ekklesiologisch ist dies damit zu verbinden, dass der Bau der Kirche in Matthäus’ Konzeption „erst“ mit der nachösterlichen Sendung beginnt (vgl. zu 16,18), also ein „Werk“ des Auferstandenen ist, während der durch Jesu vorösterliches Wirken instruierte, nun mit der Mission beauftragte Elferkreis gewissermaßen die Keimzelle der Kirche bildet. Die Kirche ist damit als eine von Anfang an universale Größe konzipiert, nicht „bloß“ als eine messianische Sondergruppe in Israel. Die Sammlung Israels bleibt Aufgabe der Jünger

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Jesu, aber sie vollzieht sich in einer Gemeinschaft, zu der auch Nichtjuden als Nichtjuden Zutritt haben. Für die mt Theologie ist charakteristisch, dass die gnadenhafte Eröff- 20a nung des Heils nicht ohne lebenspraktische Folgen bleiben darf, sondern sich im Tun des Willens Gottes zu manifestieren hat. Zur Taufe tritt entsprechend die ethische Unterweisung hinzu. Bezeichnenderweise wurde schon in 16,18f die Verheißung des Baus der Kirche mit der Lehrvollmacht von Petrus verbunden; dieser Konnex wird hier erneut abgebildet. Für die nachösterliche Verkündigung bleibt die Lehre des irdischen Jesus von grundlegender Bedeutung. Die Abfolge von Taufe und Unterweisung (in Did 7,1 geht hingegen die Lehre voran) mag dabei darauf hindeuten, dass V. 20a eine über den Konversionsvorgang hinausreichende, fortwährende Aufgabe benennt. Bei dem, was Jesus geboten hat, ist zentral, wenngleich nicht ausschließlich, an die große Darstellung der Lehre Jesu in Mt 5–7 zu denken. V. 20a impliziert damit nicht, dass Jesu Gebote an die Stelle der Tora getreten sind; vielmehr bildet die Erschließung des in Tora und Propheten formulierten Willens Gottes einen wichtigen Bestandteil der Unterweisung Jesu (vgl. zu 5,17–48): Die universale Mission schließt nach Matthäus ein, dass Christusgläubige aus den Völkern auf die von Jesus vollmächtig ausgelegte Tora verpflichtet werden. Im Zusammenspiel mit V. 18b gibt V. 20a an, wie der zur Rechten Gottes erhöhte Auferstandene sein Weltregiment ausübt: Nicht durch Knechtung der Untergebenen wie die Herrscher dieser Welt (20,25), sondern durch Einweisung in einen Lebenswandel, in dem gemäß seiner Gebote Liebe und Barmherzigkeit im Zentrum stehen. Sind Tod, Auferweckung und Einsetzung Jesu zum Weltenherrn für 20b Matthäus das Heilsgeschehen, das die universale Sendung der Jünger begründet und damit das Werden der Kirche in Gang setzt (vgl. 16,18f), so geschieht all dies unter der Zusage des Mit-Seins Jesu in V. 20b (vgl. 18,20), die im Verbund mit 1,23 als Rahmung der gesamten Erzählung fungiert (vgl. zu 1,23). Alles, was dazwischen vorgetragen wird, auch das, was als ethischer Anspruch formuliert wird, steht für Matthäus in dieser Klammer. Schon deshalb greift es viel zu kurz, Matthäus’ Insistieren auf die Handlungsdimension des Christseins in V. 20a als Werkgerechtigkeit abzuqualifizieren. Jesu Zusage lässt intertextuell an den breiten Strom der Verheißungen des Mit-Seins Gottes denken (Gen 26,24; 28,15; Ex 3,12; Jos 1,5; Jes 41,10; 43,5; Hag 1,13 u. ö.). Da Jesus der Immanuel ist (s. zu 1,23), schwingt in V. 20 mit, dass mit der Gegenwart Jesu bei den Seinen Gott selbst mit ihnen ist. Jesus verheißt seinen Beistand „bis an das Ende der Welt“ (vgl. 13,39.40.49; 24,3), wenn er auf den Wolken des Himmels kommen wird (24,30; 26,64). Der im Mt zwischen 1,1 und 28,20 ausgespannte Bogen reicht damit vom Beginn der mit Abraham einsetzenden Erwählungs-

466 Passion und Auferstehung Jesu und die Beauftragung der Jünger (26,1–28,20) geschichte bzw. – angesichts der Anspielung auf Gen 2,4; 5,1 in der Wendung „Buch des Ursprungs“ – sogar von der Schöpfung bis zum Weltende. Als bis zur Parusie gültige Zusage spricht V. 20b zugleich direkt in die Gegenwart der Gemeinde hinein. Eine abschließende Notiz über die damalige Reaktion der Jünger oder über das Entschwinden Jesu würde diesen Bezug nur stören. So aber setzt der ermutigende Zuspruch an die Gemeinde den betonten Schlusspunkt. Damit kann das Evangelium enden.

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Abkürzungsverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis Die Abkürzungen biblischer Bücher und die Schreibung biblischer Eigennamen folgen den „Loccumer Richtlinien“ (Ökumenisches Verzeichnis der biblischen Eigennamen nach den Loccumer Richtlinien, Stuttgart 21981). Abkürzungen im Literaturverzeichnis und sonstige Abkürzungen richten sich nach S.M. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (IATG 3), Berlin/ Boston 32014. Im Übrigen werden Quellentexte wie folgt abgekürzt: AT/atl. joh lk LXX mk MT mt NT/ntl. Q TH

Altes Testament / alttestamentlich johanneisch lukanisch Septuaginta markinisch Masoretischer Text, Hebräische Bibel matthäisch Neues Testament / neutestamentlich Logienquelle (Stellenangaben folgen Lk. Q 6,43–45 meint also den in Lk 6,43–45 zu lesenden Passus, aber in der Q-Fassung, nicht in der lk Version.) Die griechische Übersetzung des AT nach Theodotion

Frühjüdische Schriften (ohne Rabbinica) ApkAbr ApokrEz 2Bar 3Bar 4Bar CD DanSus EpArist 3Esra 4Esra 1Hen 2Hen JosAs Josephus, Ant Josephus, Ap Josephus, Bell

Apokalypse Abraham Apokryphon Ezechiel syrische Baruchapokalypse griechische Baruchapokalypse 4 Baruch (= Paraleipomena Jeremiae) Damaskusschrift aus Qumran Susanna und Daniel (Zusatz in LXX zum Danielbuch) Aristeasbrief Apokryphes Buch Esra (LXX) Jüdische Apokalypse Esras (= 4Esra 3–14) Äthiopisches Henochbuch Slavisches Henochbuch Josef und Asenet Josephus, Antiquitates Judaicae / Jüdische Altertümer Josephus, Contra Apionem / Gegen Apion Josephus, De Bello Judaico / Über den Jüdischen Krieg

472 Josephus, Vita Jub LAB latLAE 3Makk 4Makk Philo, Agr Philo, Dec Philo, Flacc Philo, Fug Philo, Hyp Philo, LegGai Philo, Mos Philo, Mut Philo, Opif Philo, Post Philo, Praem

Abkürzungsverzeichnis

Philo, QuaestEx Philo, SpecLeg Philo, Virt PsSal PseudPhiloJona PseudPhok Sib TestAbr TestXII TestAss TestBenj TestDan TestGad TestIss TestJos TestLevi TestNaph TestRub TestSeb TestSim TestHiob TestMos VitProph

Josephus, Vita Josephi / Selbstbiographie Jubiläenbuch Liber Antiquitatum Biblicarum Lateinisches Leben Adams und Evas (Vita Adae et Evae) 3. Makkabäerbuch (LXX) 4. Makkabäerbuch (LXX) Philo, De agricultura / Über die Landwirtschaft Philo, De decalogo / Über den Dekalog Philo, In Flaccum / Gegen Flaccus Philo, De fuga et inventione / Über die Flucht und das Finden Philo, Hypothetika bzw. Apologia pro Judaeis Philo, Legatio ad Gaium / Gesandtschaft an Gajus Philo, De vita Mosis / Über das Leben des Mose Philo, De mutatione nominum / Über die Namensänderung Philo, De opificio mundi / Über die Weltschöpfung Philo, De posteriate Caini / Über die Nachkommen Kains Philo, De praemiis et poenis / Über die Belohnungen und Strafen Philo, Quod omnis probus liber sit / Über die Freiheit des Tüchtigen Philo, Quaestiones in Exodum / Fragen zu Exodus Philo, De specialibus legibus / Über die Einzelgesetze Philo, De virtutibus / Über die Tugenden Psalmen Salomos Über Jona, hellenistische Synagogenpredigt Pseudo-Phokylides Sibyllinische Orakel Testament Abraham (Rezensionen A und B) Testamente der Zwölf Patriarchen Testament Assers Testament Benjamins Testament Dans Testament Gads Testament Issachars Testament Josefs Testament Levis Testament Naphtalis Testament Rubens Testament Sebulons Testament Simeons Testament Hiobs Testament Moses (= Assumptio Mosis) Vitae Prophetarum

1QGenAp 1QH 1QM

Genesis-Apokryphon aus Höhle 1 von Qumran Hodayot (Loblieder) aus Höhle 1 von Qumran Milchama (Kriegsrolle) aus Höhle 1 von Qumran

Philo, Prob

Abkürzungsverzeichnis

1QS 1QSb 4Q159 4Q161 4Q174 4Q184 4Q246 4Q285 4Q372 4Q385 4Q460 4Q504 4Q521 11QT

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Serekh ha-jachad (Gemeinderegel) aus Höhle 1 von Qumran Segenssprüche (Appendix B zu 1QS) aus Höhle 1 von Qumran = 4QOrd(inances): Tora- und Rechtssammlung aus Höhle 4 von Qumran = 4QpIsa a : Jesaja-Pescher aus Höhle 4 von Qumran = 4QFlor: Florilegium aus Höhle 4 von Qumran Weisheitliche Schrift („wiles of the wicked women“) aus Höhle 4 von Qumran Aramäische Apokalypse aus Höhle 4 von Qumran = 4QSM (Serekh ha-milchama): Kriegsregel aus Höhle 4 von Qumran = 4QapocrJoseph b : Josef-Apokryphon aus Höhle 4 von Qumran = 4QpsEzek a : 4QPseudo-Ezechiel a aus Höhle 4 von Qumran Erzählender Text und Gebet aus Höhle 4 von Qumran = 4QDibHam a (Dibrei ham-me