Das Evangelium nach Lukas
 9783666513626, 9783525513620, 9783647513621, 3525513623

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V&R

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Das Neue Testament Deutsch Neues Göttinger Bibelwerk In Verbindung mit Horst R.Balz, Jürgen Becker, Hans C onzelmann, Gerhard Friedrich1“, Friedrich Lang, Eduard Lohse, Ulrich Luz, Helmut Merkel, Jürgen Roloff, Wolfgang Schrage, Siegfried Schulz, Eduard Schweizer, August Strobel und Heinz-Dietrich Wendland herausgegeben von Peter Stuhlmacher und Hans Weder

Teilband 3

Das Evangelium nach Lukas 20. Auflage 3., durchgesehene Auflage dieser neuen Fassung

1993 Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen und Zürich

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Das Evangelium nach Lukas Übersetzt und erklärt von Eduard Schweizer

1993 Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen und Zürich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Die Deutsche Bibliothek - C IP-Einheitsaufnahme Das Neue Testament deutsch: neues Göttinger Bibelwerk / in Verbindung mit Horst R. Balz ... hrsg. von Peter Stuhlmacher und Hans Weder. Göttingen; Zürich: Vandenhoeck und Ruprecht. Teilw. hrsg. von Gerhard Friedrich und Peter Stuhlmacher NE: Stuhlmacher, Peter [Hrsg.]; Friedrich, Gerhard [Hrsg.] Teilbd. 3. Schweizer, Eduard: Das Evangelium nach Lukas 20. Aufl., 3., durchges. Aufl. dieser neuen Fassung. - 1993 Schweizer, Eduard: Das Evangelium nach Lukas / übers, und erkl. von Eduard Schweizer. 20. Aufl., 3., durchges. Aufl. dieser neuen Fassung. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1993 (Das Neue Testament deutsch; Teilbd. 3) ISBN 3-525-51362-3

© 1993, 1982 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printcd in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhcberrcchtsgcsctzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspcichcrung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gcsamthcrstcllung: Hubert & Co., Göttingen

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DAS EVANGELIUM NAC H LUKAS Eduard Schweizer Einführung 1. Wie Matthäus beginnt Lukas mit Kindheitsgeschichten, folgt dann aber abge­ sehen von einigen Einschüben Markus bis 9,50 und wiederum von 18,15 an. Dazwi­ schen steht der sogenannte Reisebericht, in dem Sonderüberlieferungen und mit Matthäus verwandte Abschnitte erscheinen. Er betont, daß Jesus nach Jerusalem unterwegs ist. Wahrscheinlich kannte Lukas also Markus und eine Sammlung von Reden Jesu, die „Redequelle“, die hier stets mit Q bezeichnet wird, obwohl sie kaum einheitlich ist (s. Einführung zu Matthäus, 2 und 3). Bei der Übersetzung werden daher Gleichheit und Verschiedenheit zu Markus oder Matthäus möglichst beachtet, selbst wo es zu ungewohnten Wendungen kommt. Wörtliche Wiedergaben sind gelegentlich in [ ] zugefügt, im Deutschen notwendige Ergänzungen mit ( ). Daher wird bei gemeinsamem Stoff die Auslegung zu Mk und Mt vorausgesetzt und nur auf lukanische Besonderheiten hingewiesen. Die wichtigste Parallele ist jeweils in der Überschrift durch steile Drucktypen hervorgehoben. Bei rein lukanischen Abschnit­ ten, vor allem seinem Sondergut (S), folgen die Einleitung (Einl.), die Aufbau und Geschichte des Textes erörtert (und übersprungen werden kann), die eigentliche Erklärung (mit Randziffern) und Schlußbemerkungen (Schl.). Zur Wahrheitsfrage s. Einführung zu Mk (5), zur Absicht des Lukas zu 1,1-4 Schl., zum Theologischen den Rückblick und die thematischen Ausführungen (A., vgl. Inhaltsverzeichnis). 2. a) Die Frage, wie weit Lukas Quellen benützt hat, ist kaum lösbar. Natürlich hat er sein Sondergut nicht erfunden; lag es ihm aber schriftlich oder mündlich vor? Sprachlich ist das fast nicht zu entscheiden. Anhand von Mk (und Q) sieht man, wie sehr er seine Quellen in eigenem Stil wiedergibt. Sie wären in 3,16-22; 8,22-25; 9,28-36 kaum zu entdecken, wenn wir Mk (und Mt) nicht besäßen. Andererseits übernimmt er Stileigentümlichkeiten seiner Quellen, wo er von sich aus formuliert; vgl. 17,25 mit Mk 8,31, 24,7 mit Mk 14,41 usw. Auch läßt er sich bei parallelen Traditionen vom je anderen Text beeinflussen (s. zu 17,23 und 9,8/19; 9,1—6/10, 1-12). So erscheinen in 8,16 und 11,43 (s. d.) neben Mk und Q zwar unlukanische Wendungen, die Mk- oder Q-Ausdrücke hingegen in 11,33 und 20,46. Außerdem schreibt Lukas manchmal bewußt altertümlichen Stil. Normalerweise spricht er vom Teufel, ausnahmsweise aber vom Satan (Apg 5,3, 26,18), was er sonst nur aus der Tradition (11,18; aus S: 10,18; 13,16; 22,3.31) übernimmt. Auch die biblisch­ heilige Form Hierosolyma statt des lukanischen Jerusalem findet sich gelegentlich im griechischen Text der Apg. Lukanische Wendungen beweisen also nicht, daß keine Quelle zugrunde liegt, und nichtlukanische beweisen nicht, daß eine solche vorliegt. Doch zeigt sich etwa in 3,3-16a oder 10,21-24 so viel Unlukanisches, daß

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Einführung 2 b: Quellen neben Mk?

man Quellen vermuten müßte, auch wenn wir weder Mk noch Q noch die Septua­ ginta (LXX) kannten. b) Lk 1,1 redet von „vielen“ Vorgängern. Obgleich das zum rhetorischen Stil ge­ hört, kann es sich nicht nur um Mk und Q handeln. Selbst wenn Lukas noch eine Grundschrift gekannt hätte, die schon Mk und Q vorgelegen hätte (was recht un­ wahrscheinlich ist), wäre diese kaum eine eigentliche Evangeliumsdarstellung gewe­ sen. Lukas könnte Einzelworte und Geschichten aus mündlicher Tradition gekannt haben, etwa aus der Liturgie, aber auch aus der hellenistisch-jüdischen Synagoge. Der Kern von 24,13-35 könnte z.B. in mündlich schon stark fixierter Form erzählt worden sein. Ähnliches könnte für Gleichnisse und Jesusworte gelten, obwohl die Kontrolle an Markus zeigt, wie wenig Lukas solche verändert. Sie könnten aber schon in der mündlichen Tradition vor Lukas umgestaltet, besonders durch griechi­ sches Denken beeinflußt worden sein. Es gibt nun aber Abschnitte, in denen die verschiedenen Schichten der Überliefe­ rung oder Spannungen zwischen Textvorlage und Deutung erkennbar sind, so in Kap lf.; 3,23-38; 4,14-30; 5,1-11; 7,36-50; 19,1-10, in den drei Sabbatheilun­ gen und der Passions- und Ostererzählung (s. A. nach 23,25), in Gleichnissen wie 10,25-37; 11,5-8; 16,1-15; 18,1-8; 19,11-27, in Reden wie 13,23-29.31-33; 17,20-37; 21. Ferner lassen sich lukanische Rahmen- oder Zwischenbemerkungen deutlich von der Tradition unterscheiden (7,29f.?; 11,37-41; 12,13-21.41; 14,714; s. auch zu 7,11-17; 15,1-3; 18,9-14). Das kann nicht alles durch mündliche Überlieferung erklärt werden. Dann ist aber unvorstellbar, daß Lukas eine Fülle einzelner Blätter mit Geschichten, Gleichnissen und Redestoff gehabt hätte. Das macht es relativ wahrscheinlich, daß die meisten Sondergut-Abschnitte in einer zusammenhängenden schriftlichen Quelle gestanden haben. Dafür spricht auch der stark an die griechische Bibel angeglichene Stil; denn in Apg erscheinen ähnliche Wendungen fast nur im Zusammenhang mit bestimmten Zitaten. Hinter S steht sicher eine Überlieferung, die viele Berührungen mit dem vierten Evangelium zeigt, ohne daß an direkte Abhängigkeit des einen vom andern zu denken wäre. Das gilt für die Passionsgeschichte (s. A. nach 23,25), aber auch für die Abwehr messianischer Verehrung durch den Täufer (Lk 3,15/Joh 1,20), die Namen Maria und Marta (und Lazarus, s. zu 8,2), Wunder als Grund des Jubels beim Einzug (Lk 19,37/Joh 12,17f.). Wichtiger sind die stark auf Israel ausgerich­ tete Christuslehre, das Fehlen jeder Berührung Jesu mit Heiden vor der Passion trotz ihrer Offenheit für Jesus (Lk 7,3; s. zu 8,39/Joh 12,20-32), der Fall Satans (Lk 10,18/Joh 12,31), die Fürbitte Jesu für seine Jünger (Lk 22,31 f./Joh 17,15), der heilige Geist als Gabe Jesu an sie (Lk 11,13; 24,44/Joh 14,16f.; 20,21 f.), die Vor­ stellung vom Tod als Übergang zur Herrlichkeit und die Wichtigkeit der Erhöhung Jesu (Lk 24,26.51; Apg 1,9; 2,33; 5,31). Wie bei Johannes spielt Samaria in S eine Rolle und scheint Jesus längere Zeit dort und in Judäa zu wirken (Lk 9,51 f.; 17,11; 19,47; 21,37f.; 22,39; s. zu 22,1). Galiläa wird auch in Apg nur 9,31 erwähnt (s. zu 4,44; 24,6), Samaria in 1,8; 8,1-14; 15,3. Sollte hinter dem Sondergut und hinter Johannes eine Tradition von judäischen Jüngern stehen, von denen vielleicht auch die Missionsrede von 10,1-12 erzählt (in S nach dem Aufbruch nach Samarien und Jerusalem), während 9,1-6 eine galiläische Gruppe beträfe, die in Mk und Q zur © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Einführung 2c: Q-veränderungen?

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Sprache kommt? Für S ist inhaltlich auch die besondere Offenheit für Frauen und Arme (freilich auch Q in 6,20; 12,34; Lk in 16,14; 18,22; Apg 16,13-18) typisch, ferner die Vorstellung von einem größeren Jünger(innen)kreis, der Kampf gegen Verdienstlichkeit (10,20; 15,25-32; 17,5-10) und die Bestimmung des Heils für das Volk (1,68; 2,32.38; 7,16), während Lukas die Entscheidung des Einzelnen betont. Eine Sonderstellung nehmen die Kindheitsgeschichten mit ihrer Verschränkung des Lebens Jesu mit dem des Täufers und ihrem außergewöhnlich stark an LXX angeglichenen Stil ein. „Herr“ bezeichnet hier 26mal Gott, sonst nur in Lk 5,17. Lk8,39 tilgt es gegenüber Mk 5,19 (anders 1,43; vgl. noch zu 9,51). Sind Lk lf. der Kern oder eine stilistisch besonders ausgeprägte Zufügung der Sonderquelle, die von 3,10-14.23—38 an das meiste Sondergut enthält und sich auch in eine Pas­ sionsgeschichte hinein fortgesetzt hätte (s.A. nach 23,25)? Sicherheit ist nicht zu gewinnen, weil auf alle Fälle damit zu rechnen ist, daß eine solche Quelle auch Lukas selbst beeinflußt hat. Doch spricht vieles dafür, c) Viel schwerer zu beurteilen sind Q-Abschnitte. Sie weisen nämlich eine Reihe von Wörtern und stilistischen Formen auf, die sonst nur in S erscheinen. Da sie bei Mt fehlen, müssen sie auf Lukas selbst oder auf den Verfasser der Quelle S zurückge­ hen. Da sie weder in Apg zu finden sind noch in Abschnitten, die Lukas aus Markus übernommen hat, spricht einiges für das zweite. Besonders überzeugend sind ein paar Eigenheiten, die Lukas im Mk-stoff sogar streicht oder verändert (wie das unbetonte „anfangen“ oder die Stellung des Zahlwortes hinter dem Hauptwort). Absolute Sicherheit ist freilich auch hier nicht zu gewinnen. Gerade die berühmteste Eigenheit, die nur im Sondergut und in Q vorkommt, nämlich die Bezeichnung des irdischen Jesus als „der Herr“, scheint 12,42; 17,5 f.; 19,8 (24,3?) von Lukas zu stammen, als Anrede auch 10,17; 11,1; 12,41; 13,23. Auch streicht Lukas alle neun Verbindungen von „herbeirufen“ bei Markus, braucht das Wort aber in Apg und vermutlich redaktionell in 7,18(?); 18,16. Doch häufen sich solche nichtlukanischen Merkmale in 10,23 f.; 12,49-53; 14,15-24; 17,34-37; 19,12-27 (in S z.B.: 7,12-16, 22,14-18.21-38; 23,28-31. 39-43), wo sich auch Wortlaut und Einordnung deutlich von Mt unterscheiden. Das spricht eher dafür, daß Lukas schon eine stark weiterentwickelte Form von Q be­ nützt hat, die durch den Stil des Verfassers von S geprägt war. Dann hätte Lukas schon ein Evangelium neben Mk gekannt, das Q-material aufgenommen hatte. Es wäre, ähnlich wie Johannes, stärker von samaritanisch-judäischer Überlieferung ge­ prägt gewesen und hätte inhaltlich die schon genannten Eigenheiten aufgezeigt, besonders das Interesse für Arme und Frauen und für den engen Zusammenhang der Gemeinde Jesu mit Israel. Gewiß muß man vorsichtig sein, wie der genannte Sprachgebrauch für „herbeiru­ fen“ und „Herr“ zeigt. Ein bestimmter Stoff kann auch aus mündlicher Tradition aufgenommen worden sein, während er auf anderen Wegen Mt erreicht hat. Bei stark abweichenden Q-Abschnitten könnte auch nur die erste Wurzel der Tradition beiden gemeinsam sein. Gleichnisse könnten in einer von Q unabhängigen Sonder­ sammlung existiert haben. Mt oder Lk könnten in Q etwas weglassen oder durch anderes ersetzt haben. Sicher hat sich Lukas auch im Aufbau von Mk bestimmen lassen, hat also seine Quelle (S + Q), wenn sie wirklich existiert hat, in diesen einge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Einführung 3 ab: Verfasser

fügt. Daß aber Lukas selbst für das meiste Sondergut und die Änderungen in Q ver­ antwortlich wäre und dabei höchstens mündliche Überlieferung gekannt hätte, ist angesichts der oben genannten Spannungen zwischen Textvorlage und lukanischer Redaktion sehr unwahrscheinlich. Da andererseits eine größere Anzahl schriftlicher Kurzabschnitte fast undenkbar ist, bleibt die Annahme einer Sonderquelle S + Q wahrscheinlich. Zu Q, das vor einer eventuellen Aufnahme in S auch Mt vorlag, s. Einführung zu Mt (2); am deutlichsten sichtbar wird diese Schicht in 3 , 7 - 7 , 1 0 , ist aber bis zu 17,37 hin erkennbar. 3 a) Wer ist Lukas? Sein Name steht nirgends im Text, sondern wird erst Ende des 2. Jh. bei Irenäus (Ketzer III 1,1) und in einem Kanonsverzeichnis genannt. Beide setzten ihn mit dem Phm 24; Kol 4,14 genannten heidenchristlichen (vgl. V. 11) Arzt und Paulusbegleiter gleich. Da aber die Apg in manchen Punkten nicht mit dem aus den Paulusbriefen Bekannten übereinstimmt, auch über den langen Aufenthalt in Ephesus, bei dem Lukas dabei war, sehr wenig weiß, ist das unwahrscheinlich. Denk­ bar ist hingegen, daß die mit „wir“ formulierten kurzen Abschnitte in der Apg (und die Schilderung der Reise nach Rom?) auf eine Aufzeichnung der Reisestationen mit knappen Zusatzbemerkungen durch Lukas zurückgehen, so daß das später verfaßte Doppelwerk des Evangeliums und der Apostelgeschichte dann auch auf ihn zurück­ geführt wurde. Gelegentliche medizinische Ausdrücke finden sich auch bei anderen damaligen Schriftstellern, die nicht Ärzte waren (vgl. Erg.reihe Bd.5, S. 142). Wo Lukas geschrieben hat, ist nicht auszumachen. Antiochia wäre möglich, wird aber erst im 4. Jh. erwähnt (Euseb, KG III 4,6). Er kennt und benützt die griechische Bibel und ihren Stil. Vielleicht war er vor seiner Taufe ein Gottesfürchtiger, d. h. ein Heide, der den jüdischen Gottesdienst besuchte und die wichtigsten Gebote hielt, ohne sich doch beschneiden zu lassen (s. zu 24,47). Nach 1,1—4 ist er kein Augenzeuge, stammt auch kaum aus Palästina (s. zu 4,44; 17,11). Da 2 1 , 2 0 - 2 4 nicht nur die Belagerung und Eroberung Jerusalems voraussagt, sondern den Mk-Text im Blick darauf neu deutet, muß das Evangelium nach dem Jahre 70 geschrieben sein (vgl. auch 19,43 f.; 2 3 , 2 8 - 3 1 ; 1 3 , 1 - 5 ) , aber vor der Apg (1,1 f.). Da diese sehr an Paulus interessiert ist, aber noch keine Paulusbriefe kennt, kann sie kaum später als Ende l . J h . geschrieben sein. So werden wir das Evangelium am ehesten um 80 herum ansetzen. Daß Lukas nicht nur Q, sondern auch Mt gekannt hätte, wie vereinzelt vermutet wird, ist höchst unwahrscheinlich. Wie hätte er dessen ganz andere Kind­ heitsgeschichten, den Reichtum der Bergpredigt, die Gemeindeordnung mit ihrem eindrücklichen Gleichnis vom Verzeihen (Mt 18) oder die Gerichtsgleichnisse (Mt 25) unberücksichtigt lassen oder Worte wie Mt 12,28 verändern können? b) Eine eindeutige Front, gegen die er kämpft, ist nicht festzustellen. Sollte er gegen extreme Pauliner, Vormarkioniten (s. zu 4,31) kämpfen? Aber in der zweiten Hälfte von Apg ist nur noch Paulus als derjenige gesehen, der die weitere Geschichte der Gemeinde prägt, ohne daß seine Abhängigkeit von den Zwölfen sichtbar würde. Und wie hätte dann Lukas die Stephanusrede (Apg 7) aufnehmen können? Daß er umgekehrt gegen das Judentum polemisierte, ist noch weniger glaubhaft, betont er doch, wie Jesus immer wieder innerhalb des jüdischen Gottesdienstes predigte. Die Gefahr der Gnosis tritt nirgends in Erscheinung, vor allem nicht beim „Testament“ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Einführung 3 c,4: Apg-Literatur

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des Paulus Apg 2 0 , 1 8 - 3 5 . Auch die Frage der Nähe oder Ferne des letzten Kom­ mens Jesu ist nicht brisant. c) Daß der gleiche Verfasser auch die Apg verfaßt hat, ist eindeutig. Zwar gibt es leichte Änderungen im Stil; die Konstruktion mit „Und es geschah . . . “ ist etwas anders, ein Wort wie „gleichermaßen“ steht in Lk elf-, in der Apg keinmal usf. Aber es ist sicher der gleiche Autor, der offenbar nach einer Pause auch das zweite Buch schrieb. Es war aber wohl von Anfang an geplant. 2 4 , 4 7 - 4 9 weist darauf hin, daß die Jesusgeschichte erst mit ihrer Wirkungsgeschichte zusammen recht verstanden ist. Vielleicht hat Lukas auch bei der Niederschrift von 2 2 , 6 6 - 7 1 das Jesuswort gegen den Tempel weggelassen, weil es im Stephanusprozeß (Apg 6,13 f.) ähnlich erscheint. Natürlich wäre auch spätere Nachwirkung denkbar (vgl. Mk 5,40; 14,2 mit Apg 9,40; 12,4). Daß das Vorwort aber noch nicht für beide Bücher geschrieben ist, s. zu 1,1. Zum Ganzen vgl. NTD 5, Einführung, besonders 2, auch 3, 4.6.2, 5, 7.2 und Literatur. 4. Meine Auslegung konnte ich während meiner Vorlesungstätigkeit am Southern Baptist Theological Seminary in Louisville, Kentucky, nochmals durcharbeiten, im Gespräch mit guten Freunden prüfen und in einer reich ausgestatteten Bibliothek durch zusätzliche Lektüre vor allem angelsächsischer Literatur bereichern (die auch eine Fotokopie einer noch nicht veröffentlichten Theologie des Lukas durch R. Mad­ dox einschließt). So darf ich sie der Society of Biblical Literature in Nordamerika und insbesondere meinen Freunden unter ihren Mitgliedern widmen. Es ist ein klei­ ner Dankesgruß dafür, daß sie mich anläßlich ihres hundertjährigen Jubiläums zum Ehrenmitglied ernannt hat. Der Verfasser ist außerdem dankbar für einen Beitrag des Schweizerischen Nationalfonds, der ihm die Hilfe eines Assistenten, vor allem beim Nachprüfen der Belege, auch nach der Emeritierung ermöglichte. Wissenschaftliche Kommentare: I. H. Marshall, Commentary on Luke 1978; H. Schürmann, Das Lukasevangelium, Kap. 1,1-9,50 (Herder Theol. Komm.) 1969; J . A.Fitzmyer, The Gospel according to Luke, AncB 28/28 a, 1980-85; C h.H.Talbert, Reading Luke, 1982; J.Reuss, Lukaskommentare aus der alten Kirche, TU 130, 1984; F.Bovon, Das Evangelium nach Lukas, EKK III/l (Lk 1,1-9,50), 1989. Allgemeinverständliche Auslegungen: H.W.Bartsch, Wachet aber zu jeder Zeit 1963; J.Ernst, Das Evangelium nach Lukas (Regensb.NT) 1977; R. Gutzwiller, Meditation über Lukas I—II, 1965; K.H. Rengstorf, Das Evangelium nach Lukas (NTD) 1 1937- 17 1978; W.Schmithals, Das Evangelium nach Lukas (Zürcher Bibelkommentare) 1980; G.Schneider. Das Evangelium nach Lukas (Oekum. Taschenb. Komm.) I—II, 1977; G.Petzke, Das Sondergut des Evangeliums nach Lukas (Zürcher Werkkommentare) 1990. Abhandlungen: F.Bovon, Luc le théologien, 25 ans de recherches 1978; ders., Lukas in neuer Sicht 1985; G. Braumann (Hrsg.), Das Lukasevangelium 1974: R.E.Brown, The Birth of the Messiah 1977; H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit 51964; M.Dömer, Das Heil Gottes 1978; J.Drury, Tradition and Design in Luke's Gospel 1976; B.Heininger, Metaphorik ... bei Lukas, 1991; J.Jcremias, Die Sprache des Lukasevangeliums 1980; J.Jervell, Luke and the People of God 1972; L.E.Keck/J.L.Martyn (Hrsg.), Studies in Luke-Acts 1966; R.Maddox,The Purpose of Luke-Acts, 1982; G.Nebe, Prophetische Züge im Bilde Jesu bei Lukas 1989 (Lit. S.214302!); F.Neirynck (Hrsg.), L'évangile de Luc 1973; R.F.OToole, The Unity of Luke's Theology, 1984; E.Rasco, La teologia de Lucas 1976; C h.H.Talbert (Hrsg.), Perspectives on © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Textausgaben

Luke-Acts 1978; La Parole de Grâcc, Etudes lucaniennes à la mémoire d'A. George, RSR 69, 1981; E.Schweizer, Zu den Quellen des Lukasevangeliums u.a.m.: Neutestamentliche Aufsätze, Göttingen (1982); Verschiedene in Bonner Bibl. Beiträge 73, 77, 79, 81 (1990/91). Apokryphen und Pseudepigraphen: E. Kautzsch, Die Apokryphen und Pseudepigraphen des AT, I—II 2 1921; P. Riessler, Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel 1928; E. Hen­ necke - W.Schneemelcher. Neutestamentliche Apokryphen 21924, 3I 1959/II 1964. Texte aus Qumran: J . Maier, Die Texte vom Toten Meer, I—II 1960; Die Tempelrolle vom Toten Meer (UTB) 1978; E. Lohse, Die Texte aus Qumran. Hebräisch und deutsch 2 1971; anderes NTS 20 (1974), 386-394, 404-406; Discoveries in the Judean Desert (Oxford 1955 ff.). Vgl. auch Fitzmyer, Gospel. Rabbinische Texte: (H.L. Strack - ) P. Billerbeck (Bill.), Kommentar zum NT aus Talmud und Midrasch, 5 1969 (ohne Seitenzahl, wenn zur betreffenden Lukasstelle); darin nicht ent­ haltene Traktate in verschiedenen Ausgaben. Hilfe bieten eine moderne, aber zuverlässige Übersetzung wie z.B. die Zürcher Bibel und eine Synopse, in der die drei Evangelientexte nebeneinander gedruckt sind (deutsch z.B.: R.Pesch/Benziger Verlag und Gütersloher Ver­ lagshaus). Das Abkürzungsverzeichnis zeigt, ob die zitierten Texte jüdisch, christlich oder heidnisch sind und wann sie ungefähr verfaßt wurden.

Für die dritte Auflage habe ich einiges von dem, was ich von anderen gelernt habe, auf den Seiten 5, 42, 43, 50, 58, 9 1 , 123, 129, 133, 135, 139, 151, 152, 173, 176, 181, 185, 192, 193, 206, 216 und 225 ergänzt oder korrigiert.

Zürich, im Dezember 1992

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Eduard Schweizer

Vorwort: Was Lukas will 1,1-4 'Da ja viele es schon in Angriff genommen haben, eine Darstellung der Ereig­ nisse zu verfassen, die sich unter uns erfüllt haben - 2wie sie uns die überliefert haben, die von Anfang an Augenzeugen waren und zu Dienern des Wortes ge­ worden sind -, 3 schien es auch mir richtig, nachdem ich allem von Beginn an mit Sorgfalt nachgegangen bin, es dir, verehrter Theophilus, der Reihe nach aufzu­ zeichnen, 4 damit du die Wahrheit der Worte, in denen du unterrichtet worden bist, erkennest. In einem kunstvollen griechischen Satz, der sich vom Stil der folgenden Geschich­ ten stark unterscheidet, schreibt Lukas sein Vorwort. Es entspricht ähnlichen Ein­ führungen damaliger historischer Werke (z.B. Arist. l f.), weist aber zugleich auf typisch theologische Fragen der Zeit des Lukas. Während Markus den Leser fast schockartig mit seiner „Frohbotschaft“ überfällt, überbrückt Lukas den Graben zwischen sich und seinen Lesern in der Art des gebildeten Zeitgenossen. „Viele“ versuchten (griech.: Aorist, d.h. die Zeitform, die abgeschlossene einmalige Vor­ gänge der Vergangenheit beschreibt) das Heilsgeschehen zu beschreiben, das als vergangenes noch immer lebendig bleibt (griech.: Perfekt). Schon sie waren angewie­ sen auf die Kette der Augenzeugen, die im Dienst am Wort das Vergangene in die Gegenwart überlieferten (Aorist). Hier setzt der Hauptsatz ein, in dem Lukas im Dativ erscheint („mir“). Auch er steht zwischen der Vergangenheit, der durchgeführ­ ten Forschung, die Voraussetzung seines Schreibens bleibt (Perfekt), und dem noch in der Zukunft liegenden Ziel seines Schreibens: daß für Theophilus das schon Ge­ hörte (Aorist) zur Gewißheit werde. Kunstvoll ist also die Verkettung von der Ver­ gangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft hinein dargestellt: Heilsgeschehen - Einsetzung der Zeugen - deren Überlieferung - bisherige Versuche - lukanisches Evangelium - Glaubensgewißheit. Daß das Objekt, die im Wort zu erfassenden Ereignisse, vor dem Evangelisten erwähnt wird, ist kaum Zufall. Nur das Heilsge­ schehen selbst und die es umfassende Forschung des Lukas erscheinen im Perfekt als das, was aus der Vergangenheit heraus heute weiterlebt (vgl. zu 4,21). Daß „viele“ (oft konventionell verwendet) die Aufzeichnung „versuchten“, muß 1 nicht Mißlingen einschließen (Apg 9,29; 19,13; anders Jos.Ap. 2, l f.); immerhin ist ein neuer Versuch nicht unnötig. Die Tradition ist also, wohl wegen ihrer Verschie­ denheit, schon zum Problem geworden. Sie soll ja nicht einfach Verkündigung des Glaubens und Aufruf dazu sein, sondern „Darstellung von Ereignissen“ (ähnlich Diodor XI 20,1). Aber in ihnen hat sich etwas „erfüllt“. Das kann neutral das Ende eines Zeitraums bezeichnen wie in Apg 14,26; 19,21; 24,24.27. Meist bezieht es sich aber auf das von Gott Gewollte (Lk 8,31; 21,24; 22,16; Apg 7,23; 9,23), schon im Alten Testament Angekündigte (Lk 4,21; 24,44; Apg 1,16; 3,18; 13,27). So ist

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Lk 1, 1-3: Vorwort

es wohl auch hier gemeint. Beide Bedeutungen widersprechen sich nicht, wenn Gott über dem Ablauf der Zeiten steht. „Unter uns“ will nicht sagen, Gottes Geschichte sei unter den in Apg genannten Menschen abgeschlossen worden. Das ist sie ja noch gar nicht, und so sehr Lukas wohl sein zweites Buch von Anfang an geplant hat, so wenig schreibt er das Vorwort für beide Bücher. Die „vielen“ Vorgänger können sich nur auf das Evangelium beziehen; außerdem zeigt die Weiterbildung des Stils, daß Apg erst nach einer gewissen Pause geschrieben wurde. Lukas denkt also an alle, für die Jesus zur Erfüllung geworden ist, wie auch Justin im 2. Jh. vom Täufer schreibt, er sei „unter uns“ aufgetreten (D. 81,4). 2 Lukas selbst gehört nicht mehr zu den Augenzeugen und kennt kein einem Augen­ zeugen zugeschriebenes Evangelium. Er bleibt darum angewiesen auf Überlieferung der „Ereignisse“ eines bestimmten Zeitraums (Apg 1,22: von der Johannestaufe bis zur Auferstehung), also nicht allein auf das heutige Reden des Geistes oder das neue Gottesverständnis der Apostel. Aber der Apostel ist nicht nur Garant für den histori­ schen Ablauf, sondern „Zeuge der Auferstehung“ (Apg 1,22; vgl. 4,33 neben 31). Nach Lk 1,2 wurden die Augenzeugen zu „Dienern des Wortes“ eingesetzt, wohl an Ostern (Aorist, so Apg 10,41; 13,31); zum „Sehen“ (vom Auferstandenen auch L k 2 4 , 3 1 . 3 4 ; Apg 1,21-23) muß die Berufung dazukommen (Wahl der Zwölf, Pfingsten). Ihre Funktion ist also nicht nur die historisch korrekte Beschreibung des Geschehenen (wie bei den Augenzeugen eines Unfalls), sondern zugleich seine Ver­ kündigung als Gottes Handeln (vgl. Jos, Krieg 6, 134: „Augenzeuge und Zeuge“). Propaganda für ihre eigene Sache ist ausgeschlossen; eigentliches Subjekt ihres Zcug­ nisses ist ja der Geist Gottes (Apg 1,2; 5,32). Er erst läßt erkennen, was sich wirklich ereignet (vgl. 2,11 f. usw.). Bloße Augenzeugen wären auch Hemdes und Pilatus. Beides gehört zusammen: Etwas in der irdischen Geschichte Geschehenes wird als das alles irdische Geschehen sprengende Handeln Gottes verstanden, nicht nur als Symbol oder Beispiel für eine auch abgesehen davon gültige Wahrheit (vgl. dazu A. nach 4,30). Wesentlich ist also auch für Lukas das „Wort“, in dem nicht die Tiefen unserer Herzen oder die Gedanken eines besonders weisen Menschen, sondern das 3 von Gott in der Geschichte Getane zu sprechen beginnt. Anders als Josephus (Krieg, Vorwort 1,1) schreibt Lukas nichts über seine Person. Er ist Glied der Gemeinde, alles andere ist unwichtig. Vier Ausdrücke bestimmen sein Schreiben. „Von Anfang an“ mag auf Lk 1 f. hinweisen, freilich ohne zu betonen, daß ein Evangelium ohne Vorgeschichte ungenügend wäre. Das Wort kann auch bloß „wiederum“ oder „gründlich“ bedeuten, ist aber hier wohl wie oben zu übersetzen. „Nacheinander“ weist auf die Reihenfolge (Apg 3,24; 18,23), vielleicht mit dem Nebenton der Voll­ ständigkeit, doch kaum auf sich ablösende Perioden der Heilsgeschichte. Erst recht kann man nicht übersetzen „das Folgende“ (statt „nacheinander“), weil der Artikel fehlt. Daß Lukas „allem“ nachgegangen sei, wird vielleicht gegenüber neu aufkom­ menden Geheimtraditionen (Apg 20,20.27) betont. Das Wort „nachgehen“ kann persönliche Augenzeugenschaft beschreiben, die man dann nur auf einiges in Apg beziehen könnten; für das Evangelium, ja für „alles“ darin Berichtete, schließt V.2 eine solche gerade aus; so ist nur an das Forschen des Verfassers gedacht. Dieses umfaßt nach dem Vorwort Apg 1,1 die Jesustradition bis zur Himmelfahrt hin. Schließlich tut er alles „sorgfältig“, wie es einem Historiker ansteht. Nach unsicherer © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 1,3 f.: Vorwort: Absicht des Lk

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Tradition (Ps.-C lem.Recg. 10,71) soll Theophilus später Bischof in Antiochien ge­ worden sein. Die Bezeichnung „verehrter“ ist üblich; daraus sind keine Schlüsse zu ziehen, etwa auf einen hohen römischen Beamten (dieselbe Anrede Apg 23,26; 24,3; 26,25) oder auf seinen Eintritt in die christliche Bruderschaft zwischen der Nieder­ schrift von Lk 1,3 und Apg 1,1 (wo das Beiwort fehlt). Den griechischen Namen Theophilus = „Gottgeliebter“ kann auch ein Jude tragen. Er ist im Evangelium 4 „unterrichtet“ oder doch mindestens darüber „informiert“. Man wird also an einen Glaubensgenossen denken, obgleich die höfliche Anrede dort wohl ungewohnt ist, aber auf den üblichen Stil eines Vorwortes zurückgehen mag. Sicher will das Evange­ lium keine Apologie an die Adresse römischer Beamter sein - wer von denen läse so viel Stoff, um da oder dort etwas über die Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit dieser Gruppe zu erfahren? Auch daß den Lesern Verfolgung von seiten Roms droht, bleibt sehr fraglich (s. zu 21,12 und vgl. zu 4,6). So wenig der Glaube noch christli­ cher Glaube wäre ohne Gottes Handeln in der Geschichte Israels, Jesu C hristi und der Gemeinde, so wenig kann ein korrekter geschichtlicher Bericht als solcher schon „Gewißheit“ des Glaubens geben. Doch wird ja eigentliche Glaubensverkündigung vorausgesetzt und an die „Worte“ erinnert, die Theophilus schon kennt. Gottes konkretes und damit geschichtliches Liebeshandeln ist nicht reduzierbar auf eine abstrakte Lehre; darum ist das Evangelium Bericht, zugleich muß aber dieses Han­ deln als Gottes Handeln verkündet und dem Leser zugesprochen werden. Schwerlich verteidigt Lukas diese „Gewißheit“ gegen eine ausgesprochene Irr­ lehre. Jedenfalls werden die Irrlehrer in Apg 20,29f. sehr allgemein beschrieben, ohne daß ein bestimmter Irrtum sichtbar wird; nach V.33f. scheint es sich eher um ethisch anfechtbare Praktiken gehandelt zu haben (vgl. Einführung 3 b). Nirgends wird auch nur angedeutet, daß man Paulus in der Gemeinde mißverstehen könnte; er wird im Gegenteil Vorbild sein für den Kampf gegen die kommende Irrlehre (Apg 20,17-36). Lukas versteht also sein Werk abschließend als Grundlage für die ganze Christen­ heit, geschrieben in der modernen Sprache anspruchsvoller, weltlich gebildeter Zeit­ genossen und darum vielleicht auch als „konkurrenzfähiges“, gebildeten Lesern zugängliches Werk. Wo er biblisch altertümliche Wendungen seiner Tradition auf­ nimmt, tut er es, ähnlich dem Erbauer einer neugotischen Kirche, bewußt, um die heilige, mit den Alltagsworten nicht erfaßbare Dimension anzudeuten. Immerhin setzt er Kenntnis des Alten Testaments und der christlichen Geschichte (vgl. z.B. zu 1,7; 4,38) voraus und will schon bestehendes Wissen um den Glauben festigen, denkt also an Verbreitung in der Gemeinde. Die Formulierung ähnelt aber der des wissenschaftlichen Historikers: „Das einzige Ziel und die einzige Absicht der Ge­ schichtsschreibung ist, nützlich zu sein, und dies kann nur von der Wahrheit kom­ men ... Die einzige Aufgabe des Historikers ist es, die Dinge genau so zu beschrei­ ben, wie sie geschahen ..., damit, wenn ähnliche Verhältnisse kommen, die Men­ schen von der Beschreibung des Vergangenen lernen, wie in den gegenwärtigen Nöten zu handeln ist“ (Lukian, ... Geschichte ... 9,39.42). Inhaltlich meint Lukas etwas ganz anderes. Schon alttestamentliche Geschichtsschreibung sucht nicht Bei­ spiele für sich immer Wiederholendes, sondern Gottes zielgerichtetes, insofern ein© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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I Lk 1,5-2,52: Täufer- und Jesustradition

maliges, in jeder Periode wieder anders, wenn auch in kontinuierlicher Treue erfol­ gendes Handeln. Hier ist die Vergangenheit nicht Lehrbeispiel, sondern Grund, auf dem man in der Gegenwart lebt und von dem her man auf die endzeitliche Vollen­ dung zugeht. Lukas kann und will die im Vorwort angedeutete rein objektive, histo­ rische Darstellung also gar nicht durchhalten. Apg 1,1-5 sprengt denn auch sein Glaubensinteresse die schöne literarische Form des Vorwortes. Der Aufriß seines Werks folgt dem von der Glaubensverkündigung her bestimmten des Markus oder zeigt den theologisch wichtigen Willen Jesu, nach Jerusalem zu reisen (9,51-19,28); die Auferstehung als Abschluß weist in die (in Apg dargestellte) Zukunft des Gottes­ handelns. Schon die Evangelien vor Lukas wollen durch ihr Erzählen verkünden (vgl. Mk, Einführung 6). Lukas sieht jedoch das Problem der Verknüpfung des Geschehe­ nen mit dem heutigen Zuspruch bewußt. Gewiß kann jenes nicht einfach Garantie für diesen sein; aber es kann den Glauben vom Absinken in Aberglauben bewahren, ihn korrigieren und neu prägen, so sehr die Bedeutung des Geschehens umgekehrt erst durch das Zeugnis des Glaubens aufgezeigt wird (s.A. nach 4,30).

I. Kindheitsgeschichten: Johannes und Jesus 1,5-2,52 In Kap. 1-2 sind die Kindheitsgeschichten des Johannes und Jesu eng miteinander verflochten und durch den Neueinsatz 3, lf. deutlich vom späteren Wirken geschie­ den. Es folgen sich: A Ankündigung der Geburt: 1,5-25/26-38 - Übergang zum Folgenden (Besuch Marias, Dankhymnus): 1,39-56 - B 1,57-80/2,1-40: a) Ge­ burt: l,57f./2,1-20; b) Beschneidung und Namengebung: 1,59-66/2,21-24; c) Dankhymnus und Weissagung: 1,67-79/2,25-39; d) Heranwachsen: 1,80/2,40 - Übergang zum Folgenden (Jesus im Tempel): 2,41-52. Auffällig ist die breite Darstellung der Geburt Jesu - als Parallele hätten V.6f. genügt - und die Ausgestal­ tung in 2,21-39. Kommen und Weggehen entsprechen sich 1,9/23. 28/38. 39/56; 2,9/15. 16/20.22/39.41/51. l,5-24a(25).57-66 stammen wahrscheinlich aus Täuferkreisen, die Jesus nicht als Messias anerkannten (vgl. Mk2,18; Lk 7,16; Apg 19,2). Sie erwarteten nur Gottes endgültiges Kommen, nicht den Messias (s. zu 1,17). Das gilt auch für die Hymnen 1,46-55 (als Lied Elisabeths ohne V.48b?) und 68-75 (ohne 76-79), die zwar im Aufbau differieren, aber gleichen Wortschatz aufweisen (s.d.). Daß umge­ kehrt die Johannes- nach der Jesusgeschichte geformt wurde, ist darum sehr un­ wahrscheinlich; auch setzt V.26a V.24 voraus. Wäre der Hymnus des Zacharias gleichzeitig mit der Geschichte entstanden, müßte er nach V.64 erscheinen; außer­ dem ist er in V. 76-79 durch eine stilistisch andere christliche Strophe erweitert worden (s. Einl. zu V.57-66 und 67-80). Läßt man die christlichen Abschnitte V.26-56 weg, kann man leicht von V.25 zu V.57 hinüberlesen; die alttestament­ liche Färbung ist dann noch klarer. Vielleicht war auch einmal erzählt, wie die Mutter von der Verheißung erfahren hat (V.60). Ob ein Judenchrist vor Lukas oder erst Lukas selbst diese Tradition durch entsprechende, Johannes überbietende © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 1,5-2,52: Sinn der Kindheitsgeschichten

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Jesus-Erzählungen ergänzt hat und wieweit eventuell schon im mündlichen Stadium Angleichung beider Berichte stattfand, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich geschah das vor Lukas; denn er schätzt zwar Maria (Apgl,14; auch Lk8,19.21 gegen Mk3,22.33 gemildert, vgl. noch 11,27f.) und 2,19.51 b scheinen von ihm zu stam­ men; aber nie weist er auf die Jungfrauengeburt zurück (s. zu 2,12), auch nicht in Zusammenfassungen des Glaubens (Apg l0,34.43; 13,16-41 usw.). Außerdem löst er die Parallelität zwischen Johannes und Jesus eher; dieser wird wie Elija geschil­ dert, jener nicht mehr: Mk 9,11-13; Mt 11,14 fehlen, ebenso der Bericht über sein Martyrium. Fast sicher lag 2,8-20 als Einzelgeschichte vor (s. Einl. zu 2,1-20), ferner eine Tradition, die etwa 2,3 (oder 6)-7.22-38.42-5 1 a umschloß, obwohl hier keine Sicherheit erreicht werden kann. Sie müßte wohl schon als Ergänzung zu einem Evangelium (Mk? oder S?) verstanden werden. V.21 wäre bei der Verknüp­ fung mit der Johannestradition als Entsprechung zu 1,59 eingefügt worden. Zweier­ gruppen kommen biblisch oft vor (Elija/Elischa, Mose/Josua, Mose/Elija, Petrus/ Paulus), aber nicht so, daß der zweite den ersten überbietet. Lukas könnte durch V.39-45 Johannes und Jesus verbunden, V.46-55 Maria in den Mund gelegt und 2,21 geschrieben haben; doch finden sich gerade in V.39-46a unlukanische Wen­ dungen, so daß er vielleicht nur einzelnes (1,48b.80; 2,1 f. 19.40.51 b?) zugefügt und alles stilistisch bearbeitet hat. Die Täufergeschichten betonen den Zusammenhang mit Israel, besonders der priesterlich-jerusalemitischen Tradition, während die Hymnen stärker jüdisch-mes­ sianisch bestimmt sind. Beides gilt auch für die Jesusgeschichten (2,21-38.41-51 und 2,32f.), wo aber die Hirtengeschichte ihr eigentümliche Züge aufweist. Ist für die alte Tradition das Nichtverstehen der Wunder Gottes typisch, führt der, der beide verbunden hat, den verständnisvollen Glauben Marias ein und nimmt auch Erwartungen auf, die in Qumran gehegt wurden (s. zu 1,34f.). Stilistisch heben sich Kap. 1-2 in ihrer biblisch-feierlichen Form, die auch Lukas beeinflußt hat, stark vom Vorwort ab. Sie weisen auch nur in 1,80; 2,52 und im Zusatz 1,76-79 auf das ab 3,1 Folgende hin. Lukas sieht sie als Einleitung vor Kap. 3-24 wie Apg 1-2 vor 3 28. Schon daß überhaupt von der Kindheit Jesu berichtet wird, ist wichtig. Von den meisten Propheten kennen wir nur das Wort, das sie auszurichten hatten, von kei­ nem gibt es eine Schilderung seiner Kindheit (vgl. aber 2. Mose 2,1-10; Jos, Al­ tert. 2,215f; 5,276; äth. Hen. 106; Jub. 2). In Jesus ist also Gott nicht nur Wort, sondern Fleisch geworden. Daß ein menschliches Leben vom Mutterleib bis zum Tod und zur Auferstehung mit allem, was dazu gehört, durchlebt worden ist, ist Lukas wichtig. Gott ist solidarisch geworden mit den Menschen; besser: Gottes Leben ist so, daß es sich in einem (ganz von Gottes Liebe durchfluteten) Leben, wie es der Mensch Jesus von Nazaret gelebt hat, ausprägen kann. Darum ist es auch so eng mit dem menschlichen Leben des Johannes verflochten. Das ist nicht biographisches Interesse, sondern Verkündigung des Gotteswunders, daß ein durch und durch menschliches Leben das Heil der Welt bedeutet. Der Text will glaubende Zustim­ mung wecken, nicht Neugier befriedigen. Das geschieht in erzählender Form, eben weil Gottes Heil in einem geschichtlichen Menschenleben zu finden ist, nicht in hohen Ideen oder dogmatischen Lehrsätzen. Es will also auch weiterleben im Ganzen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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A Lk 1,5-38: Die zwei Ankündigungen

eines menschlichen Lebens und sucht darum die Zustimmung von Verstand, Wille und Gemüt. Die Geschichten sind nicht Legenden, die die Wahrheit einer Idee illu­ strieren wollen; sie schildern in legendarischer oder sagenhafter Form, was sich wirklich ereignet hat: daß Gott nicht in einer fernen Überordnung jenseits der Welt verblieb, sondern in ihr reale Gegenwart wurde und darum auch im Leben des Lesers werden will. Wie das Leben des Täufers in sich selbst sinnlos bliebe - er wurde hingerichtet, bevor er wirklich etwas daraus hätte machen können - , so alles Leben, wenn es nicht mit all seinen Licht- und Schattenseiten von Jesus her erfüllt würde. Seit in ihm Gottes Liebe Gestalt angenommen hat, liegt ihre Möglichkeit und ihr Segen auch über solchen menschlich gesprochen unerfüllt abgebrochenen Men­ schenleben (vgl. Rückblick). A Ankündigung der Geburten 1,5-38 A B C D C' B' A'

5-7/-: Allgemeine Situation: Zeit, Ort, Person, Notlage; 8-11/26-28: Spezielle Situation: Zeit, Ort, Person, Auftreten des Engels; 12.13a/29.30a: Reaktion des Menschen, Zuspruch des Engels; 13 b—17/30b—33: Verheißung der Geburt und ihrer Bedeutung für Viele; 18—20/34—37: Reaktion des Menschen, Zusage des Zeichens durch den Engel; 2H./38: Verstummen/Bekenntnis des Menschen; 23-25:/ - Erfüllung: Aufhebung der Notlage.

Fast wörtlich wiederholen sich in C „wurde verwirrt“, „sprach der Engel zu ihm (ihr): Fürchte dich nicht (+ Name)“ ; in D: „sie wird dir (du wirst) einen Sohn (gebä­ ren) und du wirst seinen Namen ... nennen“, „er wird groß sein“; in C' „sprach zum Engel“, „und siehe“. Außerdem ist beidemal der Name Gabriel genannt. Die Verhei­ ßung „er wird Sohn des Höchsten genannt werden“ ist zu vergleichen mit V.76 „du (Johannes) wirst Prophet des Höchsten genannt werden“. Bezeichnende Unter­ schiede werden zu 1,26-38 besprochen. Engclerscheinung - Verwirrung-Botschaft - Frage nach dem Wie - Zeichen sind auch für 1. Mose 17,1-21; 18,1-15; Ri 13,322 typisch, teilweise in anderer Reihenfolge. Gottes neuer Anfang: Ankündigung des Johannes 1,5-25 5 Es geschah in den Tagen des Herodes, des Königs von Judäa, da war ein Prie­ ster mit Namen Zacharias aus der Klasse des Abia, und er hatte eine Frau aus den Töchtern Aarons, und ihr Name war Elisabeth. 6Sie waren beide gerecht vor Gott und wandelten untadelig in allen Geboten und Satzungen des Herrn. 7 Und sie hatten kein Kind, weil Elisabeth unfruchtbar war, und beide waren schon betagt. 8Da geschah es, als er nach der Ordnung seiner Klasse Priesterdienst vor Gott tat, 9 da traf ihn nach der Sitte des Priesterdienstes das Los, in den Tempel des Herrn hineinzugehen, um das Räucheropfer darzubringen, . l0 und die ganze Menge des Volkes betete draußen zur Stunde des Räucheropfers. 11 Da erschien ihm ein Engel des Herrn, der rechts vom Räucheraltar stand. 12 Und Zacharias wurde bestürzt, als er es sah und Furcht fiel auf ihn. 13Es sprach aber der Engel

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Lk 1,5-25: Analyse

zu ihm: Fürchte dich nicht, Zacharias, denn dein Gebet ist erhört worden, und deine Frau Elisabeth „wird dir einen Sohn zur Welt bringen, und du wirst seinen Namen Johannes nennen“. l4 Und er wird dir Freude und Jubel bringen, und viele werden sich über seine Geburt freuen. 15 Denn er wird groß sein vor dem Herrn, und Wein und Rauschtrank wird er nicht trinken, und mit heiligem Geist wird er erfüllt werden noch im Leibe seiner Mutter, l6 und viele der Kinder Israels wird er zum Herrn ihrem Gott kehren. 17 Und er wird vor ihm hergehen in Geist und Kraft „Elijas, Herzen von Vätern zu den Kindern zu kehren“ und Ungehor­ same zur Einsicht der Gerechten, zu bereiten dem Herrn ein gerüstetes Volk. 18Und 2acharias sprach zum Engel: woran soll ich das erkennen? Denn ich bin alt, und meine Frau ist betagt. 19 Und der Engel antwortete und sprach zu ihm: Ich bin Gabriel, der vor Gott steht, und wurde gesandt, zu dir zu reden und dir diese Frohbotschaft zu bringen. 20 Und siehe, du wirst stumm sein und nicht reden können, bis zu dem Tag, daß dies geschieht, weil du meinen Worten nicht geglaubt hast, die erfüllt werden auf ihre Zeit hin. 21 Und das Volk wartete auf Zacharias und wunderten sich, daß er so lange im Tempel verweilte. 22 Als er aber herauskam, konnte er nicht zu ihnen reden, und sie erkannten, daß er ein Ge­ sicht gesehen hatte im Tempel, und er winkte ihnen zu und blieb stumm. 23 Und es geschah, als die Tage seines Dienstes erfüllt waren, zog er weg in sein Haus. 24 Nach diesen Tagen wurde Elisabeth seine Frau schwanger und verbarg sich fünf Monate und sagte: 25 So hat mir der Herr getan in den Tagen, in denen er darauf sah, meine Schmach unter den Menschen wegzunehmen. Vers 5: l . C h r 2 4 , 1 0 ; Vers 7.18: 1. Mose l 8 , l l f.; 1.Sam 1,2; Ri 13,4; Vers 17: M a l 4, 5 f.

Vers 13: Dan 1 0 , 1 2 ;

Vers 15: 4. Mose 6 , 3 ;

Die Geschichte erzählt ein Wunder. Sie unterscheidet sich aber von den üblichen Wundergeschichten. Daß ein Engel, nicht Jesus, als Helfer auftritt, ist selbstver­ ständlich. Unüblich ist aber, daß das Hindernis, der Zweifcl des Zacharias, erst nach der Zusage erscheint. Das gehört eher zum Stil der Berufungsgeschichte (2. Mose 3,11-4,13; Jer 1,6; vgl. Jes 6,5), wie auch die Öffnung der Geschichte auf eine viel umfassendere Zukunft als nur auf die Hilfe für ein kinderloses Elternpaar hin. Außerdem ist die Gerechtigkeit der Eltern betont, nicht aber ihr Glaube gegen­ über der Zusage des Wunders, sondern im Gegenteil der Zweifel gerade des Gerech­ ten. Gottes Zeichen ist so Strafe und Glaubenshilfe zugleich und unterstreicht das völlig Unerwartete und Unglaubliche des Einbruchs Gottes. Möglich ist, daß Lukas Einzelheiten wie V. 10.21 zugefügt hat; im wesentlichen wird er aber nur stilistisch eingegriffen haben. V.24f. sind bei der Verbindung mit der Jesus-Geschichte zugefügt worden, die ursprünglich noch nicht im Blickfeld lag (V.17). Auf eine Notiz wie V.24a (und 25?) wird V.57 (zu V.46-55 s.d.) gefolgt sein. Herodes wollte als (adliger) Israelit gelten (Jos, Altert. 14,9) und vielleicht selbst so etwas wie ein Messias sein. In so irdisch-menschliche Geschichte greift Gottes Han­ deln ein. Die Namen sind bedeutungsvoll: Zacharias = „Der Herr gedachte“, Elisa­ beth = „Gottes Schwur (oder: Glück? Vollendung?)'1, Johannes = „der Herr ist gnädig“. Judäa bezeichnet das ganze Land wie 4,44; 23,5; oft in Apg; in 3,1 ist es Name der römischen Provinz; 1,65; 2,4; 5,17; Apg9,3 1 ist der Südteil (neben Gali© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 1,5-14: Gottes Verheißung für die Unfruchtbare

läa) so genannt. Gottes Geschichte beginnt im Tempel, der für Israel Zeichen der Ge­ genwart Gottes ist. Alttestamentlichc Gesetzesfreude wird sichtbar, ohne jeden kriti­ schen Einwand. Beide Eltern sind darin „untadelig“ wie Paulus (Phil 3,6) und Hiob (LXX), freilich „vor Gott“, dem allein das Urteil zusteht. Der Verfasser besitzt kein Schema, nach dem solche Gerechtigkeit einfach gemessen werden könnte wie in Qum­ ran oder bei Pharisäern. Ihre Frömmigkeit ist kultisch ausgerichtet, wieder ohne Kritik oder rigoristische Verschärfung (wie in Qumran und bei Pharisäern). Doch spielen Gottes lebendiger Geist und Weisheit eine große Rolle (1,15.80; 2,25.40.47). Ihre Lage ähnelt der der Eltern Isaaks (1. Mose 17,17; vgl. 18,11 „vorgerückten Alters [wörtlich: an Tagen]“), Simsons (Ri 13,2; ähnlich wie V.5), Samuels (1.Sam 1,1 f.). Was dort durchlitten und in Dank und Freude verwandelt wurde, konzentriert sich noch einmal in ihrem Schicksal und deutet darauf hin, daß sich der Sinn aller dieser menschlichen Erfahrungen erfüllen wird. Noch ist ihre Wunde nicht geheilt, das Heil nicht erfüllt. In ihrem privaten Leben wie in dem Israels ist alles noch offen auf die Zukunft hin. Jede der 24 Priesterklassen dient eine Woche lang (1. Chr 24), wozu ihre Glieder von ihrem Wohnort her nach Jerusalem kommen. Innerhalb dieser Klasse sind die einzelnen Familien für je einen Tag eingeordnet. Nach einer späteren Bestimmung wird das Räucheropfer von einem Priester als Hö­ hepunkt seines Lebens nur einmal dargebracht, solange das Los andere noch nie getroffen hat. Nach dem allgemeinen Gebet „Es komme der Gott der Barmherzigkeit in das Heiligtum und nehme mit Wohlgefallen das Opfer seines Volkes an“ (Bill. II, 79) drückt der Priester die Schale mit dem Räucherwerk im Heiligen hinter dem äußeren Vorhang auf die Glut nieder (Bill.). Das geschieht am Morgen vor dem im Vorhof dargebrachten Brandopfer, am Nachmittag um 3 Uhr, wo besonders viel Volk dabei ist (V. 10, vgl. l.Kön 8,5.10-14), nachher. Von einer Gottesstimme beim Räucheropfer des Hohenpriesters erzählt auch Josephus Altert. 13,282. Das Gebet um Gottes Kommen wird sichtbar erfüllt (vgl. Ps 141,1 f.). Der Tempel, das verstei­ nerte Bundeszelt, wird von seinem Leben erfüllt und gerät in Bewegung, wie sie für das Zelt auf dem Wüstenzug typisch war. Es ist neuer, unvermittelter Einbruch der Gegenwart Gottes; sie nimmt nicht im prophetischen Wort - Zacharias verstummt ja - , sondern im Engel ihre dichteste Gestalt an. Furcht ist die normale Reaktion des Menschen gegenüber dem völlig Unerwarteten, das er sich nicht erklären kann (Ri6,22f.; 13,6.22; Dan 8,17; 10,11-19; Tob 12,16; Mk 16,5 usw.). Es ist die Furcht, die den Menschen befällt, wenn Gott, der tatsächlich bei ihm eine so neben­ sächliche Rolle spielt, plötzlich unübersehbar in sein Leben einbricht. Aber das erste Wort, das den neuen Bund einleitet, befreit den Menschen von seiner Furcht, und zwar gerade den, der sich die Begegnung mit Gott gefallen läßt und sich ihr nicht entzieht (vgl. zu 1,29). Die göttliche Zusage überfällt Zacharias geradezu; so wenig hat er konkret mit der Erfüllung seiner Bitte (um ein Kind oder um Gottes Heil?, vgl. l.Mose 17,19; Dan 9,20-23) gerechnet (V. 18). Was er theoretisch ehrlich geglaubt hat, hat er sich doch nie konkret vorgestellt. Der Name, dessen Verleihung sonst Recht des Vaters wäre und der schon das Wesen des Kommenden bestimmt, wird ihm von Gott vorweggegeben (vgl. l.Mose 16,11; 17,19; Jes 7,14; l.Kön 13,2). So sehr nachher die Umkehrverkündigung betont wird, ist die entscheidende Ansage doch die der Freude, ja eines endzeitiiehen „Jubels“ für „Viele“. Gottes erstes Wort © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 1,14-19: Der kommende Elija

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ist also Befreiung von Furcht, Erfüllung allen Flehens, endzeitliche Freude, „Evange­ lium“ (V. 19). So ist der Leser schon eingeladen, sich zu diesen „Vielen“ zu zählen, denen die Verheißung gilt. Begründet wird dies durch das „Großsein (des Johannes) 15 vor dem Herrn (= Gott, V. 16)“. Das hat auch Jesus selbst ihm ausdrücklich zuge­ standen ( 7 , 2 6 - 2 8 ) . Solche Größe ist nicht einfach die vor Menschenaugen. Sie wird in V. 15 b/16 und nochmals in 17a/b als Gabe und Aufgabe beschrieben. Schon vor seiner Geburt, nicht durch seinen Entscheid (vgl. Jes 4 9 , l ; Jer 1,5; S i r 4 9 , 7 ; 1 QH 9 , 2 9 - 3 1 ) , ist er der von Gott Ausgesonderte wie die Nasiräer, die durch Ver­ zicht auf Haarschnitt, Wein und Fleisch darstellen sollten, daß es im Leben nicht nur um den Genuß der Zivilisation geht (4.Mose 6 , 2 - 5 ; Ri 1 3 , 4 - 7 ; 16,17). Prophet und Nasiräer sind ursprünglich verschiedene Gestalten, gleichen sich aber später einan­ der an (Am 2,11 f.). Und doch ist Johannes anders als ein Nasiräer: das Verbot des Haarschnitts (auch l.Sam 1,11) fehlt und die Verheißung der Geistbegabung auf Lebenszeit ist neu. Darin zeigt sich zeichenhaft schon in einem Einzelnen, was Gott mit seinem Volk vorhat: die anbrechende Heilszeit (Joel 2 , 3 2 - 3 6 , Gegensatz: Ps 74, 2.9). Seine Aufgabe ist der Rückruf Israels zu seinem „Herrn“. Heil besteht also 16 darin, daß dem Menschen die Kraft und die Stille zur Umkehr, zur Veränderung geschenkt wird. V. 17 entfaltet dies. „Geist“ und „Kraft“ stehen oft zusammen, 17 besonders bei Lukas und Paulus, aber auch Jcs 11,2; 1 QH 7,6. Der Geist wirkt wie bei Elija (vgl. zu 1,76; 3,19f.) reale Veränderung am kranken Leib wie am kranken Herzen. Die Erwartung einer Versöhnung von älterer und jüngerer Generation (Mal 4,6) ist hier genaugenommen als Hoffnung auf eine Jugend ausgedrückt, die sich im Gegensatz zu den festgefahrenen Alten zu Neuem rufen läßt (ähnlich schon LXX und Sir 4 8 , 1 0 ; Jub 23,16.26; äth. Hen. 90,6f.). Ihrem Neuaufbruch zu Gott wird sich dann auch die ältere Generation anschließen. Denkt Lukas selbst an Hei­ den und Israel (vgl. 3,8)? Oder soll man die „Ungehorsamen“ mit den Jungen, die „Gerechten“ mit den Eltern gleichsetzen und so die Doppelbewegung festhalten? Aber das steht nicht im Text. Daß es Umkehr zu Gott ist, nicht nur ein Kompromiß im Generationenkonflikt, besagt schon V. 16. Von Taufe ist dabei nichts gesagt. Johannes ist als Vorläufer des „Herrn“, nach V. 16 eindeutig Gottes, gesehen und wird dadurch in der Vorlage zu einer Art messianischer Gestalt (s. zu 1,76). Das gilt nach Mal 3,1.23 auch für Elija (ebenso Test. S i m . 6 , 5 ; erst von christlichen Ab­ schreibern auf den Menschgewordenen bezogen). Lukas hat gewiß an Jesus gedacht (vgl. 1,43; 2,11), sachlich zu Recht, weil Gottes Kommen in ihm wahr geworden ist. So neu ist das vom Engel Ausgesagte, daß wie die Menschen des Alten Testamentes 18 so auch Zacharias dafür nicht bereit ist (vgl. l . M o s e 15,8 „Woran soll ich das er­ kennen?“; Ri 6 , 3 6 - 4 0 ; 1.Sam 1 0 , 2 - 7 ; 2.Kön20,8f.; J e s 7 , l l ) . Gott aber läßt sich 19 vom Kleinglauben der Menschen nicht aufhalten. Dem betonten „Ich bin alt“ tritt ein ebenso betontes „Ich bin Gabriel“ entgegen. Schon der Name („Mann Gottes“, nach äth. Hen. 4 0 , 9 der, der „vor Gottes Angesicht“ allen Kräften vorsteht, vgl. Bill.), erst recht der Hinweis auf den, der ihn gesandt hat (ähnlich Dan 10,11 und besonders Tob 12,14f.), will den kleinen Glauben des Menschen für die „frohe Botschaft“, das „Evangelium“ groß machen. Substantiv wie Vcrbum bezeichnen im Judentum die Botschaft des Propheten oder Engels, auch Gottes oder des Messias selbst, die Gericht (2.Makk 3,29) wie Heil (Ez 3,26; 24,27) ansagt (vgl. auch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 1,19-25: Verstummen vor Gott

20 Offb. 14,6). Darum deckt auch das Zeichen, das Zacharias gewährt wird, zwar seinen Unglauben auf, wird aber gerade so zur Glaubenshilfe. Ein Heil, das nicht aufdeckt und damit verändert, was ihm entgegensteht, wäre nicht wirkliches Heil (vgl. zu Röm 1,18). Daß Gott einem Menschen die Augen für das öffnet, was schief ist, so daß er dadurch neu geprägt, nicht einfach zerschlagen wird, ist Erweis des 21 lebendigen Gottes. Selbst dem Hohenpriester war geboten, nur kurz im Heiligtum zu bleiben, um das Volk nicht zu ängstigen (Bill. II 77). Israel wußte, daß Gottes Gegen­ 22 wart wie ein „verzehrendes Feuer“ (5.Mose 4, 24; Jes 33,14) ist! Gegenüber Gottes erstaunlichem Handeln wird der Mensch ins Verstummen geführt (ebenso Dan 10,15 f.). Sein Schweigen ist der Raum für die Heilstaten Gottes, der jetzt allein 23 das Wort hat. Zacharias kann nur heimziehen in das Gebirgsstädtchen (v.39), wo er 24 wohnt und seinen weltlichen Beruf ausübt. Die Zusage Gottes „erfüllt sich“ (s. zu V.57) und auch Elisabeth zieht sich in die Verborgenheit zurück, die erst vom Engel 25 aufgehoben wird (V.36). Jetzt wo Gott angefangen hat, an ihr zu handeln, hat auf Seiten des Menschen nur der Dank Platz. So wurzelt der Anfang der neuen Geschichte Gottes in der Freude am Gesetz und am Tempel Israels, damit aber nach lukanischem Verständnis in der Offenheit für künftiges Handeln Gottes. Auf dem einmaligen Höhepunkt eines Priesterlebens beginnt Gott - völlig von sich aus und unerwartet - zunächst im Leben zweier Men­ schen mit ihren Nöten Wirklichkeit zu werden. Vom Messias ist noch keine Rede, aber von einem Kommen Gottes, das weit über das Einzelschicksal hinausgreifen und ganz Israel zu seinem Herrn zurückrufen wird. Gerade da wird sichtbar, wie wenig selbst das Leben von Menschen, die nicht nach eigenem Gutdünken und menschlicher Moral, sondern im Offenbleiben für Gott leben, für Gottes neues Han­ deln bereit ist. Das Kommen des wirklichen, so nicht erwarteten Gottes führt zu­ nächst ins Verstummen auch des Gerechten und Frommen, der plötzlich seinen Kleinglauben entdeckt und merkt, daß er bei allem, was er ehrlich geglaubt hat, gar nicht wirlich mit einem verändernden Einbruch Gottes gerechnet hat. Aber Gott, der die durch Zufall und durch böses wie gutes Handeln geprägte irdische Geschichte in seinen Dienst nimmt, überwindet auch Zacharias und Elisabeth. Sie erfahren sich als von Gott beansprucht und begnadet; darum ist das Verstummen und der Rückzug in die Stille die angemessene Folge. So werden sie beide hineingenommen in die Froh­ botschaft vom verwirrenden und tröstenden Handeln Gottes, das sich gegen allen menschlichen Widerstand Bahn bricht. Darum wird vom Beginn der Schwanger­ schaft schon hier erzählt, obwohl das eigentlich erst bei V.57 zu erwarten wäre. Gottes neue Schöpfung: Ankündigung Jesu 1,26-38 26 Im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt Galiläas mit Namen Nazaret gesandt 27 zu einer Jungfrau, die mit einem Mann mit Na­ men Josef aus dem Hause Davids verlobt war, und der Name der Jungfrau war Maria. 28 Und als er zu ihr eintrat, sprach er zu ihr: Gruß dir, Begnadete, der Herr ist mit dir. 29 Sie aber wurde bestürzt über dem Wort und überlegte, was dieser Gruß wohl bedeute. 30 Und der Engel sprach zu ihr:

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Lk 1,26-38: Analyse

Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast Gnade gefunden bei Gott. 31 Und „siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären und wirst seinen Namen“ Jesus nennen. 32 Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden, und der Herr Gott wird ihm den Thron Davids seines Vaters geben, 33 und er wird über das Haus Jakob ewig König sein, und seiner Königsherrschaft (oder: seines Reiches) wird kein Ende sein. 34 Da sprach Maria zum Engel: Wie wird das geschehen, da ich keinen Mann kenne? 35 Und der Engel antwortete und sprach zu ihr: Heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten, deshalb wird das Erzeugte heilig genannt werden, Sohn Gottes. 36 Und siehe, Elisabeth, deine Ver­ wandte, auch sie wurde mit einem Sohn schwanger in ihrem Alter und dies ist für sie, die man unfruchtbar nennt, der sechste Monat. 37„Bei Gott ist nämlich kein Ding unmöglich“. 38 Da sprach Maria: Siehe, des Herrn Magd; mir geschehe nach deinem Wort. Und der Engel ging weg von ihr. Vers 31: R / / U . Jes7,14; 1.Mose 18.14; Jer 32,17.

Vers 32: Jes 9,6; l.Sam 7,12-/6,

Vers 33: Mt 4,7; Dan 7,14;

Vers 37:

Der Vergleich mit V.5-25 (s. zu 1,5-38) zeigt wichtige Unterschiede. Es fehlen die Schilderung der Notlage, weil eine solche nicht existiert, und die der Gerechtigkeit der Eltern, weil es hier in noch ganz anderem Maß um Gottes alleinige Gnade geht (A). Dadurch rückt der Engel an die erste Stelle. Er ist Subjekt, Maria erscheint erst im Nachhinein als Ziel seiner Sendung. Ebenso fehlt die Erwähnung des geschehenen Wunders, weil die gläubige Antwort in V.38 eine solche nicht mehr nötig hat (A'). Betont ist die Frau (s. zu 8,3) als Empfängerin der Verheißung. Sie wird den Namen verleihen und wird auch ihren Sohn nicht „ihrem Mann“ gebären (wie V. 13). An die Stelle des Verstummens des Zacharias tritt die gläubige Zustimmung (B'). Auf ihre, dem Zweifel des Zacharias entsprechende Frage wird der Hinweis auf die Schöpfer­ kraft des heiligen Geistes gegeben, der damit aus Abschnitt D (V. 15.17) in den Ab­ schnitt C' (V.35) rückt, weil er eine andere Funktion übernimmt. 1.15.17.41.67.80; 2,25-27 ist in alttestamentlicher Weise vom prophetischen Geist die Rede; der Schöpfergeist von 1,35 hingegen leitet ein neues Handeln Gottes ein (s. zu 3,21 f.). Ein Zcichen wird auch Maria verheißen, aber sie bedarf seiner nicht mehr und wird es erst nach ihrer Zustimmung in V.38 sehen. Damit wird der Gnadencharakter des Gotteshandelns außerordentlich herausgestrichen. Wider alle Erwartung geht es um eine Frau, und weder besondere Gerechtigkeit noch anhaltendes Gebet eines Notlei­ denden stehen am Anfang. Freies Schöpferhandeln Gottes wie zu Beginn der Welt läßt den erstehen, der nicht mehr Vorläufer eines noch größeren Ereignisses ist, sondern dessen Herrschaft kein Ende kennt. Man hat den Gegensatz zwischen der Hoffnung auf einen davidischen König (V.32f.) und der Erwartung des vom Geist geborenen Gottessohnes (V.35) betont und entweder V.34f. oder die Einführung Josefs und die typisch davidische Erwar­ tung als Zuwachs angesehen. Im zweiten Fall wäre die Aussage Marias, sie kenne keinen Mann (V.34, s.d.), verständlich und die Einführung des Davidssohnes © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 1,26-27: Der Engel und das Mädchen

(Apg 13,23), seines „Thrones“ und seiner „Herrschaft“ (Apg 2,30; Lk 22,30; 23,42) wäre auch Lukas zuzutrauen. Andererseits sind „über dich kommen - heili­ ger Geist - Kraft - Höchster - überschatten“ lukanische Ausdrücke und V.34f. eher hellenistisch als die davidische Erwartung (s. zu Mk 12,37). Jedoch von Lukas stammt V.35 nicht, da er nie darauf zurückverweist, auch nicht in 2,1-20. „Über dich kommen“ (vom Geist Jes 32,15; vgl. Hiob l,19; 4,15; 4.Mose 5,14.30; l.Sam 11,7) und „überschatten“ (2. Mose 40,35; 4.Mose 10,36; s. zu V.35) sind alttestamentliche Wendungen; „Geist“ und „Kraft“ sind Uberbietung von 1,17; vom „Höchsten“ sprechen auch V.32.76. Vor allem beweist 4 Q 243 (1,7; 2,1) jetzt Aufnahme ähnlicher (aus der hellenistischen Umwelt stammender?) Vorstellungen im damaligen palästinischen Judentum: „Er wird groß sein ... er wird gerufen wer­ den Sohn Gottes und sie werden ihn Sohn des Höchsten nennen.“ Von „Königsherr­ schaft“ (Lk 1,33) spricht auch 4Q 243 2,2, und in 1,1 steht die Wendung „sie läßt sich auf dich nieder“; leider weiß man nicht, wer, doch ist immerhin Geist im He­ bräischen weiblich. Zeugung eines Menschen durch einen Engel ist jüdisch durchaus denkbar, wie 1.Mose 6,4 und 1 QGenApocr 2,1 zeigen; vielleicht ist sogar die zeu­ gung des Messias durch Gott in 1 QSa 2,11 f. bezeugt. Davidssohn und Gottessohn stehen auch Röm 1,3 f. nebeneinander, wo allerdings der zweite Titel erst dem Auf­ erstandenen zuerkannt wird. Vor allem ist beides 2.Sam 7,12-14 verbunden, gehört also wohl von Anfang an zusammen. Bereits der, der Johannes- und Jesustradition verknüpft und V.26-38 als Überbietung von V.5-25 geschrieben hat, hat also wohl beide Vorstellungen kombiniert; denn schon V. 27-31 sind allein auf Maria ausge­ richtet und wollen damit das Wunder von V. 7.13 überbieten. In V. 32b.33 mag ein mündlich tradiertes davidisch-messianisches Wort, in V.34f. inhaltlich die auch Mt 1,18 bekannte Tradition der Jungfrauengeburt verwendet worden sein. 26

Der Hinweis auf den sechsten Monat der Schwangerschaft (Elisabeths!) verknüpft beide Geschichten. Von Anfang an verschlingen sich so die beiden Lebensläufe. Nach Jub 16,12 wurde Sara im sechsten Monat des Jahres schwanger. Nach einem rabbinischen Text (RH 10b.11a, vgl. Bill. 150, 918; IV 1006) wurde jedoch die Unfruchtbarkeit der Mütter Isaaks, Jakobs und Samuels zu Beginn des heiligen Jah­ res (Ende September) beseitigt. Das ergäbe etwa den kalendarischen Johannestag (24. Juni) und damit auch den 24.-25. Dezember als Jesustag (zum ersten Mal beides im 4. Jh. bezeugt). Aber wer hätte diese Tradition gekannt und die Rechnung ge­ macht? Vermutlich wurde der 25. Dezember gewählt, weil der 25. März schon als Tag der Schöpfung und dann auch der Zeugung Jesu galt (so Julius Africanus 221 n.Chr.) oder weil Rom Ende Dezember Wintersonnenwende feierte, so daß Jesus zu Beginn der zunehmenden, Johannes der abnehmenden Sonne geboren waren (Joh 3,30). Hier kommt der Engel zu Maria, während 1,9 Zacharias dorthin geht, wo Gottes Gegenwart zu erwarten ist. Dementsprechend heißt es 1,23, Zacharias sei 27 „weggegangen“, während nach 1,38 der Engel von ihr „weggeht“. Alles beginnt bescheidener bei einem Mädchen in einem unbedeutenden Städtchen, nicht beim Priester im Tempel der Hauptstadt. Auch hier wird die'Erscheinung nicht beschrie­ ben. Wichtig ist allein die Botschaft. Der Hinweis auf die davidische Abstammung ist mit Josef verbunden (ebenso 3,23). Durch die Verlobung ist Maria rechtmäßig in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 1,27-33: Der kommende Herrscher

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diese Herkunft eingeführt; der Rechtsakt war damals entscheidender als der erste Geschlechtsverkehr, z.B. waren Jungfrauen, die ihren Verlobten vor der Hochzeit verloren, Witwen. Erst Ign. Eph. 18,2; Justin D.43 usw. sehen auch Maria als Davi­ din an. Das Wortspiel (deutsch etwa „Heil dir, der zum Heil Erwählten“) betont 28 Gottes Gnadenwahl. Mit V.42 zusammen bildet dieser Gruß das „Ave Maria“. Nicht ihr Name, ihre menschliche Besonderheit, wird zunächst genannt, sondern was mit ihr geschehen ist und geschieht, und das ist der Zuspruch der Gegenwart des Herrn. Sie ist Tochter, nicht Mutter der Gnade. Die Verheißung an die „Tochter Zion“ (Zeph 3,14-17: „in deiner Mitte [hebräisch auch: in deines Leibes Innerem] ist der Herr“) wirkt kaum nach. Jedenfalls weist Lk 19,28-40 nicht wie Mt 21,5 auf die Heimsuchung der „Tochter Zion“ durch den demütig Einreitenden von Sach 9,9 hin. Der erwählende Akt Gottes wird dadurch betont, daß er völlig unerwartet und 29 verwirrend einbricht. Von Marias Frömmigkeit und Gebeten (anders 1,6.13) wird nichts gesagt; erst recht nicht von ihrer Sündlosigkeit von Geburt an. Auch ihr be­ gegnet Gott zunächst als der Fremde, aber Furcht vor Gott, nämlich davor, irgend­ etwas wichtiger zu nehmen als seine Gnade und so das Leben zu verfehlen, und Trauen auf seine Gnade sind eines (Ps 33,18). Das erinnert an Abraham (l.Mose 18,3.14 — Röm4,3.23; vgl. Lk 1,37.55); doch wird noch nichts von Ma­ rias Geburt gesagt. Alles kommt „vom Herrn her“. Namengebung durch die Mutter 31 erscheint bei Hagar l.Mose 16,11, weil kein Vater da sein wird (vgl. 4,25; 30,21; Ri 13,24), und vermutlich im hebräischen Text von Jes 7,14, wo freilich erst die griechische Übersetzung „Jungfrau“ statt „junge Frau“ sagt (s. zu Mt 1,21 und 23). Was sonst nur von Gott ausgesagt wird, gilt von Jesus: er wird „groß“ sein (vgl. 32 1,15, dort aber „vor Gott“). Schon das noch nicht gezeugte Kind (Zukunftsform V.31) wird von Gott mit Beschlag belegt. Was seit 2.Sam 7,12-16 vom kommenden Davidsnachfahren erwartet wurde, ist in ihm erfüllt: ewige Dauer seiner Herrschaft (s. Bar. 40,3; 4.Esra 7,29, wo sie freilich als irdische und durch die Endvollendung begrenzte vorgestellt ist) und Gottes Vaterschaft (Ps 89,27-29; 2,7; Jes55,3; Ps.Sal. 17,3f.; 18; 4Qflor 1,10ff.; 4Qpatr 1-7). Menschliche Abstammung (s. zu V.27) konkurriert nicht mit Gottessohnschaft. Eindeutig ist das von Johannes Ge­ sagte hier überboten. Selbst wenn man „Sohn des Höchsten“ auf die Funktion des regierenden Königs bezieht wie Ps 2,7 (s. zu Mk 15,39, A.), kann innerhalb der davidischen Erwartung Größeres nicht gesagt werden. Aber schon der ungewohnte Ausdruck „Höchster“ läßt an die in V.35 ausgeführten Vorstellungen denken (vgl. auch Lk 22,70 neben 67). Jedenfalls ist vom einmaligen Einbruch Gottes in die Ge­ schichte der Menschen die Rede, und zwar in Jesu Regentschaft, nicht in seinem 33 Leiden. Lukas denkt wohl an die Herrschaft des Auferstandenen über seine Ge­ meinde, die im Gottesreich ihre Vollendung findet (vgl. Apg 1,6-8), und verbindet so Weihnachten und Ostern, Gottes Kommen und den Ruf an die Gemeinde zu bestimmten Entscheidungen und Taten. Ob er auch an Jesu letztes Kommen denkt, weil es die Heilszeit, das Wirken des Irdischen wie des Erhöhten abschließt, ist unsi­ cher. Es fehlt jeder Hinweis auf Askese (vgl. 5,33; 7,33f.), d.h. auf menschliche Bemühungen, sich Gottes zu vergewissern. Die Gruppe von Qumran hat einen prie­ sterlichen und einen königlichen Messias erwartet und dabei jenen über diesen ge­ stellt. Davon ist hier nichts zu spüren. Schon V. 31-33 wird Jesus eindeutig von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 1,34-38: Das Wunder der Geburt Jesu

34 Johannes abgehoben und nicht auf gleicher Stufe gesehen (vgl. zu 3,19f.). Maria zeigt keine Begeisterung, aber im Sinne des ganzen Abschnitts wohl auch keine Ab­ wehr; sie fragt erstaunlich nüchtern nach dem Wie. Psychologisch ist das seltsam; sie müßte doch an ihre bald beginnende Ehe denken; aber der Satz will nur V.35 einfüh­ ren. „Kennen“ bezeichnet beim Mann den sexuellen Umgang, ähnlich wohl hier. 35 Damit wird das Wunder verdeutlicht, zeugende Kraft ist im Judentum dem Geist nicht zugeschrieben, wohl aber Schöpfung (Ps 33,6; l.Mose 1,2) und Neuschöpfung (Ez37,14). Darauf liegt also der Nachdruck. Was geschah, als der Geist aus dem Chaos der Welt und aus dürren Gebeinen Leben werden ließ, das widerfährt hier Maria. Es ist demnach weder in ihrer Leistung und ihrem Wesen noch im aktiven Zeugungswillen des Mannes begründet. Die Gegenwart Gottes selbst „überschattet“ Maria ähnlich wie Gottes Wolke das Bundeszelt (s.o. Einl.; vgl. noch LXX Ps90[91],4; 139[140],8; Spr 18,11). Auch Lk 9,34 kommt mit der Wolke die er­ schreckende Gegenwart Gottes zu den Jüngern, - nicht grundsätzlich verschieden von dem hier Erzählten, obwohl in 9,35 das neue Leben vom Wort Jesu erwartet wird. Eine religionsgeschichtlich verbreitete Vorstellung (s. zu Mt 1,18.23 A.) ist also aufgenommen und zugleich umgestaltet. Liegt im Zug des ganzen Abschnitts der Ton auf dem unverdienten, unbegründeten, gnädigen Kommen Gottes, so be­ schreibt doch V.35 b die Besonderheit Jesu. Man wird wie oben übersetzen, da „hei­ lig genannt werden“ die Aussonderung eines Menschen für Gott bedeutet (Jes4,3; vgl. 35,8; 62,12; 2. Mose 13,12; 3. Mose 23,2.37 LXX). Gemeint ist also, daß das Kind als von Gott ausgesondertes sein Sohn sein wird. Der Glaube an Gott, der alles Leben schafft, auch dort, wo vom Menschen her nichts mehr zu erwarten ist wie bei Sara, der Frau Manoas und Hanna, hat sich hier verbunden mit dem Glauben an den Geist, der den Anfang einer neuen Schöpfung setzt. Dies hat der Gemeinde geholfen, die volle Menschheit des Gottessohnes festzuhalten: „Jesus C hristus ... von Maria, 36 der wahrhaftig geboren wurde, aß und trank ...“ (Ign.Tr. 9,1). Maria lernt, Gott schon ohne Zeichen zu trauen (V.38) und später dankbar, mit offenen Augen auch 37 Gottes Hilfe zum Glauben anzunehmen (V.39). Der Satz aus der Abrahamsge­ schichte (l.Mose 18,14), daß Gott kein „Wort“ (so wörtlich; aber seine Wirkung einschließend) unmöglich sei, wird von Maria aufgenommen, ohne eigentlich zitiert 38 zu werden. Sie ist offen für das wirkende Schöpferwort Gottes, demgegenüber sie nur „Magd“ sein kann, deren es sich bedient. Hier hört alles Diskutieren auf. Gerade so ist sie groß in ihrem Glauben. Weder Gründe zum Glauben noch solche zum zweifeln sind wesentlich, nur noch Gottes Handeln, das das Verhalten des Men­ schen begründet. Auf dieses Wort Marias läuft der letzte Abschnitt hin. Nichts Vergleichbares fin­ det sich in 1,20. Maria steht so ganz als die Begnadete da, wie es ihr am Anfang vom Engel zugesprochen wurde. Hat Jungfrauengeburt ursprünglich die Einzigartigkeit des Gottessohnes umschrieben, so schon beim ersten Erzähler unserer Geschichte weit mehr die Gnadenhaftigkeit des Gotteswortes, das Leben aus dem Nichts er­ weckt. Anders als in 1,5-25 beginnt alles mit dem Engel, von dem Mädchen in dem kleinen Nazaret wird nichts Außergewöhnliches berichtet. Der Besuch des Engels ist für es so verwirrend wie für irgendeinen Menschen sonst und führt auch bei ihm zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 1,26-38: Geist Gottes und Glaube des Menschen

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der nicht begreifenden Frage, wie das denn zugehen sollte. Das wirklich Große an ihm ist der durch Gottes Wort erweckte Glaube, der vor Gott still werden und ihn machen lassen kann. Jungfrauengeburt war für den damaligen Menschen zwar ein überaus seltenes, aber nicht absolut einzigartiges Ereignis. Recht verstanden ist also der Text erst, wenn nicht diese Frage, sondern die nach dem unbegreiflichen, aber realen Gnadenhandeln Gottes in die Mitte rückt. Erst recht ist nichts von immerwäh­ render Jungfräulichkeit Marias gesagt (s. zu Mk6,3). Das wäre griechisches, nicht israelisches Ideal. Was Markus mit dem Hinweis auf das Alte Testament (l,2f.), Jo­ hannes mit dem Satz vom ewigen Wort Gottes, das Fleisch wurde (1,1-14), Paulus mit dem von der Sendung des Sohnes (Gal4,4) ausdrückte, beschreibt Lk 1,35 in einer Sprache, die Gottes Geheimnis mit der Erinnerung an sein einmaliges Schöpfer­ handeln zu Beginn der Welt zu umschreiben versucht. Gott ist schon vor der Schöp­ fung Leben, Bewegung, nicht einfach in sich abgeschlossene „Person“, die ewig, unbewegt, erhaben über allem Leiden der Welt stünde. Als Geist ist er immer schon unterwegs auf uns zu, eingegangen in die Schöpfung (1. Mose 1,2; Ps 33,6: hebräisch „Geist“) und in das Leben Jesu als Beginn einer neuen Schöpfung. Man kann die Einheit Gottes im Bild einer einzigen „Person“, des „Vaters“, fassen. Aber Person kann man ja nicht sein, ohne daß Leben von uns ausgeht, daß wir andere und ande­ res sehen, hören, ansprechen. Das versuchte die Kirche mit dem Bild von drei „Perso­ nen“ auszudrücken: in Gott war immer schon der Strom der Liebe da, der vom „Vater“ zum „Sohn“ strömte und wieder zurück, und der im „Geist“ ausstrahlte in die Schöpfung hinein, im Leben Jesu Gestalt annahm und einst im Gottesreich zur Vollendung kommen wird (s.A. zu Mt 28,19). In Maria ist der Mensch als Empfän­ ger dieses Lebens und Liebens Gottes dargestellt. Mit ihrem ruhigen Warten auf Gottes Tun ist sie Adventsgestalt, Gegenbild zur nervösen Aktivität der modernen Gesellschaft. Die spätere Kirche hat darum formuliert „empfangen vom heiligen Geist (nicht einfach durch ihn gezeugt wie in heidnischen Mythen), geboren aus Maria (ohne aktive Rolle des Menschen)“. Wesentlich sind also gerade die Korrek­ turen der üblichen Vorstellung der Zeugung eines Kindes durch einen Gott oder seinen Geist, nicht diese Vorstellung selbst, die nach Justin ja auch für griechische Helden gilt und darum für den christlichen Glauben nicht charakteristisch ist (Ap. 1,21; D. 48,2; vgl. zu Mt 1,18.23 A.). B Die Verschränkung des doppelten Handelns Gottes: Begegnung der Mütter, Magnificat 1,39-56 39 Da machte sich Maria in diesen Tagen auf und wanderte eilig ins Bergland in eine Stadt Judas 40 und ging ins Haus des Zacharias und begrüßte Elisabeth. 41 Und es geschah, als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib und Elisabeth wurde mit heiligem Geist erfüllt 42 und erhob ihre Stimme mit lautem Ruf und sprach: Gepriesen bist du unter den Frauen und gepriesen die Frucht deines Leibes. 43 Und woher kommt mir das zu, daß die Mutter meines Herrn zu mir kommt? 44 Denn siehe, als die Stimme deines Grußes in meine Oh­ ren drang, hüpfte jubelnd das Kind in meinem Leib. 45 Und Heil dir, die geglaubt hat, denn Vollendung wird über das kommen, was ihr vom Herrn gesagt worden ist. 46 Und Maria sprach:

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BLk 1,39-56: Analyse

Groß macht „meine Seele den Herrn 47 und es jubelt“ mein Geist „über Gott, meinen Retter“; 48 denn „er hat auf die Niedrigkeit seiner Magd gesehen“; denn siehe, von jetzt an werden alle Geschlechter mir Heil zurufen; 49 denn „Großes hat mir der Machtvolle getan und heilig ist sein Name 50 und sein Erbarmen“ über Geschlechter und Geschlechter „für die, die ihn fürchten“. 51 Macht „hat er geübt durch seinen Arm. Zerstreut hat er Hochfahrende“ in den Gedanken ihrer Herzen, 52 Mächtige von den Thronen „gestürzt und Niedrige erhöht, 53 Hungrige erfüllt mit Gütern“ und „Reiche leer weggeschickt.“ 54 Er hat sich Israel „seines Knechtes angenommen, des Erbarmens zu gedenken, 55 wie er zu unseren Vätern“ geredet, „zu Abraham und seiner Nachkommenschaft für immer“. 56 Da blieb Maria mit ihr etwa drei Monate lang und kehrte wieder in ihr Haus zurück. Vers 4 6 : P s 3 5 , 9 ; Vers 4 7 : Hab 3,18; Vers 4 8 : l . S a m l , l l ; 9 , 1 6 ; Vers 4 9 : Ps l l l , 9 ; Vers 50: Ps 101,11. 17; 8 9 , 2 ; Vers 5 1 : Ps 8 9 , 1 1 ; Vers 5 2 : Sir 1 0 , 1 4 ; E z 2 1 , 1 1 ; Vers 5 3 : Ps 1 0 7 , 9 ; Vers 54: Jes 4 1 , 8 f . ; P s 9 8 , 1; Vers 5 5 : M i 7 , 2 0 ; 2 S a m 2 2 , 5 1 .

Der Abschnitt verbindet beide Erzählungsstränge. Ist am Anfang Maria die zu Elisabeth Kommende und sie Grüßende, wird sie doch gleich zur Empfangenden: der Gruß des noch ungeborenen Kindes und die Segnung durch ihre Verwandte zeigen, wo das Gewicht liegt; freilich nicht eigentlich bei Maria, sondern beim unerhörten Handeln Gottes an ihr. Das wird im Hymnus noch unterstrichen, der in die Ge­ schichte eingefügt ist wie 2. Mose 15,1-18; 4.Mose23f.; 5.Mose32f.; Ri5; 2.Sam 22f.; Jona 2; Jdt. 16; Dan 3,23 LXX usw. Er verläuft in drei Schritten von der persönlichen Gotteserfahrung, bei der die 1. Person Sing, erscheint, (V. 46-49 a) zur allgemeinen, in der 3.Person Gottes beschriebenen Erfahrung (V. 49b-53) und schließlich zur Gotteserfahrung in der Geschichte, wo die 1. Person Plur. auftaucht (V.54f.). Läßt man V.48b weg, folgen sich in V.46b-53 stets zwei parallele Sätze; in V. 52 f. stehen sie im Gegensatz zueinander und die Reihenfolge wechselt von a-b zu b-a. Lob und Begründung folgen sich in den ersten zwei Strophen, Begründung und Rückweis auf das Alte Testament in der zweiten und dritten. „Seine Magd“ (48a) wird durch „sein Knecht“ (54) aufgenommen, dazwischen „er hat getan“ (49a) durch denselben griechischen Ausdruck in V. 51. In V. 48 b fehlen die mit V. 6 8 75 (s.d.) übereinstimmenden Wörter; dafür enthält er einen typisch lukanischen Ausdruck („von jetzt an“) und ist der einzige Satz, der in der Zukunftsform steht und nicht von Gottes Handeln spricht. Der Blick auf „alle Geschlechter“ geht weit über die Parallele l.Mose 30,13 hinaus und paßt nicht zur Sicht des Johannes als des letzten Propheten vor dem nahen Gottesgericht (V.50 ist formelhaft). Ohne 48 b könnte das Lied ursprünglich ein Elisabeth-Lied sein (s. zu 1,5-2,52 Einl.). Dafür sprechen V.48a und die Parallele mit dem Hanna-Lied (l.Sam 2,1-10, auch V.41 (Elisabeth vom heiligen Geist ergriffen) und 56 („mit ihr“ = Elisabeth, während © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 1,39—49: Begegnung der Mütter

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Maria ausdrücklich genannt wird). War V.41 Ende mit 46-55 als Elisabeth-Hymnus überliefert (wie V.67 mit dem Loblied des Zacharias)? Hat vielleicht erst Lukas das Lied Maria in den Mund gelegt und Elisabeth ihr mit V.48b noch deutlicher unter­ geordnet? Maria, als Verlobte wohl zwölf- bis vierzehnjährig, unternimmt die Drei-bis-vierTage-Wanderung (vgl. zu 2,16) und bleibt drei Monate weg (V.56). Sie nimmt das von Gott angebotene Zeichen (V.36) an, obwohl sie zu Gottes Weg schon vorher ja gesagt hat. Berichtet wird nur von den Frauen im „Haus des Zacharias“. Für den Erzähler bildet sich aus ihnen so etwas wie eine erste Gemeinde, die sich im Lob Gottes einig weiß. Nicht nur ist Elisabeths „Herz froh und hüpft wie ein Kind, das im Leibe seiner Mutter hüpft“ (Od.Sal. 28,2), sondern es vollzieht sich so etwas wie eine erste Begegnung zwischen Johannes und Jesus. 1. Mose 25,22 f. ist dafür keine Parallele, eher das Loblied der ungeborenen Kinder beim Durchzug durch das Rote Meer (rabbinisch, Bill.). Der Lobpreis wirkt mit seinem „lauten Ruf“ etwas unheimlieh. Jedenfalls ist das alles nicht rational, vernünftig, ordentlich, sondern eher einem Aufbrechen unterbewußter Triebe und Gefühle vergleichbar. Aber darin erweist sich, daß es letztlich nicht ihre eigene Stimme ist, die hervorbricht, sondern daß Gott selbst auch das Lob seiner Taten spricht und schöpferisch „Segnung“ Marias voll­ zieht (vgl. 2,28). So ist die allererste C hristus-Erkenntnis schon Gabe des Geistes Gottes (1.Kor 12,3). „Herr“ (Jesus!) ist persönlich als „mein Herr“ verstanden. Das führt zum Jubel, der oft auf die Endzeit verweist, auf die auch das Kommen des Geistes über Elisabeth deutet. Mal 4,2 vergleicht ihn mit dem Hüpfen der Kälber, die zur Weide ausgelassen werden, Joh 3,29f. mit dem des Freundes des Bräutigams. Maria wird als Glaubende gepriesen wie Judit als Hoffende (Jdt. 13,18 f.); aber anders als dort steht hier die sichtbare Erfüllung ihres Glaubens noch aus. So führt die Bewegung des Textes zurück zum großen Handeln Gottes, von dem weiterhin zu erzählen ist. Im Lied antwortet Maria nicht Elisabeth; durch deren Segnung wird sie vor Gott gestellt und spricht in anbetendem Lob von ihm (in dritter Person). „Geist“ neben „Seele“ (vgl. zu 8,55) mag besonders an jene Seite des Menschen erinnern, die für Gottes Geist offen ist. Wieder ist vom „endzeitlichen“ Jubel die Rede (vgl. Ps 31,8; 35,9; Hab 3,18). Er gilt noch nicht dem Messias wie 2,11, sondern Gott als dem „Retter“ oder „Heiland“. Ihm gegenüber kann Maria in Erinnerung an das Engelwort (vgl. 2,17) sich nur als vom Herrn erwählte „Magd“ verstehen (V.38). Die „Niedrigkeit“ könnte sich einmal auf die Kinderlosigkeit Elisabeths bezogen haben, beschreibt jetzt aber den Stand des Menschen überhaupt. Das ist nicht falsche Demütelei; es ist das große, im besten Sinne kindliche Staunen über die Güte Gottes. Sie sieht auch den Menschen (s. zu 9,38), der keine „Sehenswürdigkeit“ ist. Vor ihr verblaßt eigene Leistung wie eigenes Versagen (vgl. 18,9-14 und die paulinische Rechtfertigung des Sünders). Darum kann V.48 b direkt daneben stehen, fast wie die Erhöhung Christi neben seiner Erniedrigung im Lied Phil 2,6-11 (vgl. A. nach 2,52, c). Gottes großes Handeln soll keineswegs für nichts geachtet werden. Es sind seine „Macht“ (vgl. Zeph 3,17; Ps 45,4—6) und sein „Name“, die „Großes“ (5.Mose 10,21; l.Sam 12,24; Ps 126,2f.) getan haben. Gott ist kein abstraktes Schicksal; er hat einen Namen, den man anrufen kann. Dann wird seine Macht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 1,50-56: Magnificat-C Lk 1,57-2,40

50 immer wieder zur Barmherzigkeit (Ps 111,9; 103,1.13.17) und ruft beim Menschen die „Furcht“ hervor, er könnte sich viel zu wenig über seine Barmherzigkeit freuen 51 (s. zu V.29). Wieder ist das Lied in eine unbegrenzte Zukunft hinein offen. Damit geht es zum weltweiten Handeln Gottes über, das auch soziale Auswirkungen hat (Jes 5 7 , 1 5 ; 6 1 , 1 - 3 ; äth.Hen. 9 2 - 1 0 4 ) . An sich ist die Erwartung einer Umkehr aller Verhältnisse verbreitet (Test. Juda 2 5 , 4 ; Test.Sal. 10,12 [C ]; griechisch Xenophon, Hell. VI 4 , 2 3 ; Euripides, Troerinnen 612f.). Aber hier ist es in die Zukunft weisen­ des Lob Gottes, nicht Anklage oder Mahnung an den Leser im Blick auf das launen­ 52 hafte Schicksal. Die Erhöhung der Niedrigen, die sich bei Elisabeth und Maria schon abzeichnet, wird in Jesus zu ihrem Ziel kommen, und durch ihn bei denen, die arm vor Gott stehen. Leere Schalen werden gefüllt. Hoheit und Niedrigkeit sehen in Gottes Augen anders aus als in menschlichen. Doch ist auch von realen sozialen 53 Auswirkungen die Rede, von „Machthabcrn“ und „Reichseienden“ (so wörtlich), übrigens nicht von „Heiden“! Das wurde nicht gestrichen, als der Psalm in das Ein­ zclschicksal einer Frau hineingestellt wurde. Das Loblied ist weniger Gerichtsdro­ hung, die zur Umkehr ruft (wie Lk 6,20f.24f.; 1 2 , 1 3 - 2 1 ; 1 6 , 1 9 - 2 6 ) , als Lobpreis des ausgleichenden, alle gleichmäßig bedenkenden Handelns Gottes (ebenso l.Sam 2 , 5 - 7 ) . V.51 stammt zwar aus einem davidisch-messianischen Psalm (89,11), 54 doch wird auch hier nicht vom Messias gesprochen; der „Gottesknecht“ ist Israel (wie Jes 4 1 , 8 f . ) . In Israel hinein wird auch die Gemeinde Jesu gefügt, wo immer sich 55 Gottes barmherziges, erwählendes Handeln fortsetzen wird. Abraham erscheint 56 22mal in Lk-Apg. So wichtig sind die „Väter“ (s. zu V. 72). Das lange Bleiben und die Rede von „ihrem“ Haus setzen voraus, daß Maria noch nicht verheiratet ist. An 2.Sam 6,11 (die Bundeslade, in der der Herr gegenwärtig ist, bleibt „drei Monate“ unterwegs) ist trotz der Nachbarschaft zu 2.Sam 7 (V.32L!) gewiß nicht gedacht. Der ganze Abschnitt konzentriert sich auf zwei Frauen, von denen die eine keinen Mann hat, während der der andern verstummte. Sie begrüßen als erste Menschen in der Kraft des Geistes den kommenden Herrn. Darum ist alles vom Jubel erfüllt. Aber so überwältigend das von beiden erfahrene persönliche Wunder ist, bleiben sie dabei nicht stehen, sondern sehen geradezu revolutionär darin Gott, der über ihr kleines persönliches Leben hinausgreifen und alle Gedemütigten und Verlorenen zurecht­ bringen will. Darum ist Maria Hoffnung und Glaubenszentrum von Millionen armer Frauen geworden, wird doch an ihr deutlich, daß nicht nur die Verheißung Gottes eigenes Tun ist, sondern auch die lobpreisende Antwort des Menschen darauf, die bis in die konkreten sozialen Verhältnisse hineinreicht. Wie der C hor im antiken Drama hebt der Hymnus, der im entprechenden Jesusabschnitt keine Parallele hat (s. zu 1,5-2,52 Einl.), das hervor. Dabei ist Gott kein launischer Herr, der bald dies, bald das unternimmt. Sein Handeln ist von der Ersterwählung Israels an bis zur endgülti­ gen Hilfe das eine, in das hinein auch das kleine Schicksal des Einzelnen gestellt ist. C Geburt - Namengebung - Gotteslob 1,57-2,40 Schon ein Überblick zeigt die Parallelen: l,57f./2,6f.: Geburt; 1,59-63/2,21: Beschneidung und Namengebung auf Grund der Engelbotschaft; 1,67/2,25d-27a: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 1,57—63: Name als Zeugnis für Gottes große Güte

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Wirken des heiligen Geistes: l,64/2,27b.28: als Gotteslob; 1,68-79/2,29-32: im Hymnus; l,65f./2,33: Reaktion des Menschen; 1,80/2,40 Wachsen des Kindes. 2,1-5.8-20.22-25c.34-39 sind nicht berücksichtigt (s.d.). Erfüllung der Verheißung: Geburt und Namengebung 1,57-66 57 Für

Elisabeth erfüllte sich die 2eit zu gebären und sie brachte einen Sohn zur Welt. 58 Und ihre Nachbarn und Verwandten hörten, daß der Herr sein Erbar­ men mit ihr groß gemacht hatte, und freuten sich mit ihr. 59 Und es geschah am achten Tage, da kamen sie, das Kindlein zu beschneiden und nannten es nach dem Namen seines Vaters 2acharias. 60Und seine Mutter antwortete und sprach: Nein, sondern Johannes soll er genannt werden. 61 Und sie sprachen zu ihr: Nie­ mand ist in deiner Verwandtschaft, der mit diesem Namen genannt ist. 62Da winkten sie seinem Vater, wie er wohl wünsche, daß es genannt werde. 63 Und er forderte eine Schreibtafel und schrieb: Johannes ist sein Name. Und alle verwun­ derten sich. 64 Da wurde sogleich sein Mund auf getan und seine 2unge, und er redete zum Preis Gottes. 65 Und Furcht kam über alle, die in ihrer Nachbarschaft wohnten, und im ganzen Bergland Judäas wurden all diese Ereignisse bespro­ chen, 66 und alle, die es hörten, nahmen es in ihre Herzen auf und sagten: Was wird denn das für ein Kind werden? Und die Hand des Herrn war mit ihm. Die Begabung mit heiligem Geist und der darauf folgende Hymnus müßten eigent­ lich direkt nach dem Wunder (V.63f.) eingeordnet sein. Offenbar lag dieser schon mitsamt seiner Einleitung (67) vor; sonst würde Zacharias auch nicht als „sein Va­ ter“ neu eingeführt. So wurde er erst an den Schluß gestellt. Die Namengebung (5964a) ist ausgestaltet und trägt das Gewicht der Erzählung, weil sich darin der Glaube beider Eltern gegen einen gewissen Widerstand durchsetzt und damit zum Gottcszei­ chen der wiedergefundenen Sprache führt. Stilgerecht schließt der Abschnitt mit dem Lob des Vaters und dem fragenden Staunen aller (64b-66). Die Zeit der Geburt (1,24, ohne Verweis auf 26-56!) „erfüllt sich“ (wie bei der vorher kinderlosen Rebekka, 1. Mose 25,24). Vielleicht klingt in dem feierlichen Ausdruck (auch 1,23; 2,6.21.22) der Gedanke an die Erfüllung der Verheißung Gottes mit. Gott läßt seine (immer vorhandene) Güte in einer besonderen Hilfeleistung „groß“ werden (auch l.Mose 19,19). Namengebung bei der Beschneidung (wie später bei der christlichen Taufe; im Griechentum am 7. oder 10. Tag) ist hier zum ersten Mal bezeugt. Wahl des Vaternamens ist selten (nur Tob 1,1.9; Qumran, Jos.); der Vorschlag leitet nur zur Antwort der Mutter über. Sie ist Zeichen des Dankes eines menschlichen Herzens, das Gottes Zusage ernster nimmt als familiäre Rück­ sichten. Weder Eltern noch Verwandtschaft haben das letzte Recht auf dieses Kind, sondern Gott, der es schon für seinen Dienst bestimmt hat (V. 13). Ob und wie za­ charias diesen Namen seiner Frau mitgeteilt hat, ist nicht gesagt; doch soll ihre Über­ einstimmung mit ihm kaum als Wunder verstanden werden. Die Angehörigen ahnen etwas vom göttlichen Geschehen, sind aber noch nicht eingeweiht. Das Winken (ist Zacharias auch taub?) und das (mit Wachs überstrichene Holz-)Täfelchen machen die Gebrechen nochmals anschaulich, bevor sie durch Gottes Wunder gelöst werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

57 58 59 60

61 62.63

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Lk 1,64-66: Lob Gottes

64 Daß auch er sich der Weisung des Engels anschließt, schildert, so selbstverständlich das eigentlich ist, ihn als jetzt Glaubenden. Darum ist der erste Laut, den er wieder von sich geben kann, auch das Gotteslob (s. zu 17,15), nicht etwa eine Erklärung des 65 Geheimnisses und eine einleuchtende Begründung für die Namenswahl. Furcht fällt auf alle Umwohnenden (s. zu V. 12.29). Zu „Judäa“ (nicht „Juda“ wie im Verbin­ 66 dungsstück V.39) vgl. zu 1,5. Das letzte Sätzlein gehört kaum zur Rede der Leute, sondern ist wohl Schlußbemerkung des Erzählers. „Gottes Hand“, also seine führende Hilfe, zeigt sich in diesem Abschnitt darin, daß er konkret seine Zusage in der Geburt eines Menschen erfüllt, daß Menschen darin etwas vom „Großwerden“ seines Erbarmens sehen und die zunächst Betroffe­ nen darin lernen dürfen, Gottes Gabe anzunehmen und sie durch ihren Gehorsam auch anderen zu bezeugen. Elisabeth setzt den Anfang, indem sie sich ans Wort des Engels hält. Zacharias hat das ihn selbst beschämende Wunder erlebt und bricht darüber ins Lob Gottes aus. Gottes Zeichen nimmt dem Menschen das Glauben nicht ab; die Frage nach seiner Bedeutung wächst auch bei den Zeugen, die von einer anfänglich rein menschlichen Mitfreude in Furcht und Staunen geführt werden. Vorläufig werden nur „Worte“ gemacht, ernsthafte, theologisch überlegende, dank­ bar berichtende und auch geschwätzige, aufbauschende, am Entscheidenden vorbei­ redende Worte; aber überall gibt es Menschen, die sie so oder so in ihre Herzen aufnehmen (wie es l.Sam 21,13 von David heißt). So führt alles in ein Fragen hinein, das letztlich auf Gott selbst zielt. In all dem ist schon in den ersten Tagen des Johan­ nes Gottes lebendige Hand am Werk. Benedictus 1,67-80 67 Und

Zacharias, sein Vater, wurde erfüllt mit heiligem Geist und weissagte: sei der Herr, der Gott Israels“, daß er sein Volk besucht und ihm Erlösung bereitet [getan] hat 69 und er hat uns „ein Horn des Heils“ aufgerichtet im Hause Davids seines Knechtes, 70 wie er geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten von jeher, 71 Heil [weg] von unseren Feinden und aus der Hand all derer, die uns hassen, 72 Erbarmen zu erzeigen [tun] „mit unseren Vätern und seines heiligen Bundes zu gedenken“ 73 „den Schwur, den er Abraham unserem Vater schwor,“ 74 und uns „zu verleihen,“ ohne Angst, „befreit aus der Hand von Feinden“, 75 ihm zu dienen in Frömmigkeit und Gerechtigkeit vor ihm all unsere Tage. 76 Und du aber, Kindlein, wirst Prophet des Höchsten genannt werden; denn du wirst vor dem Herrn herwandern, seine Wege zu bereiten 77 und Erkenntnis des Heils seinem Volke zu verleihen in Vergebung ihrer Sünden 68 „Gepriesen

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Lk 1 , 6 7 - 8 0 : Analyse

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78 wegen

des herzlichen Erbarmens unseres Gottes, in dem uns „der Aufgang“ aus der Höhe besucht hat, 79 denen zu erscheinen, „die in Finsternis und Todesschatten sitzen , unsere Füße auf den Weg des Friedens zu richten. 80 Das Kindlein aber wuchs und wurde stark im Geist und war in der Wüste bis zum Tage seiner Einsetzung in Israel. Vers 69: LSam 2,10; Ps 89,25; Vers 72: 2.Mose 2,24; Vers 73: 1.Mose 26,3; Vers 74: Jer 11,5; Mi 7,20; Vers 76: Mal 3 , 1 ; Jes 14,3; Vers 78: Jes 60,1 f.; Sach 3,8; Vers 79: Ps 107,10; Jes 9,1; 42, 7.

Im Hymnus kehren gleiche Wörter in chiastischer (umkehrender) Reihenfolge wieder: a) besuchen (68 b) - b) Volk (68 b) - c) Heil (69) - d) Propheten (70) e) Feinde (71) - f) Hand (71) - g) unsere Väter (72); dann umgekehrt g') unser Vater (73) - f) Hand (74) - e') Feinde (74) - d') Prophet (76) - c') Heil (77a) b ) Volk (77a) - a') besuchen (78 b). In der Mitte steht hier der Hinweis auf Bund und Schwur Gottes (72b.73 a). Ebenso folgen sich a) Erbarmen (72) - b) verleihen (74) - c) vor ihm (75); darauf chiastisch c') vor dem Herrn (76b) - b') verleihen (77) - a') Erbarmen (78). Hier bildet die Aussage vom Propheten in V.76 a die Mitte. V.76—79 reden in Zukunftsform und sind ein Geburtslied, das die künftige Bedeu­ tung des Neugeborenen voraussagt, nicht Loblied der schon geschehenen Gottesta­ ten. In V. 68-75 häufen sich die Wörter, die auch im Lied Marias erscheinen; ab V.76 gilt das höchstens für Wiederholungen aus V.68-75. Dazu ist der erste Teil jüdischen Gebeten sehr ähnlich und wie V.46-55 voller alttestamentlicher Wendun­ gen (beidemal aus davidischer Tradition). In V. 76-79 dagegen sind es wie im (christ­ lichen) Hymnus 2,29-32 nur Wendungen, die auch sonst in christlicher (meist auch lukanischer) Tradition erscheinen: 1,76 = Mk 1,2 = Lk7,27; 3,4 / 1,79 = Mt4,16 (zur Verbindung mit Lukas s. zu Mt 4,13) / 2,20 = 3,6 / 2,31 = Apg 13,47. Endlich entspricht V.75 einer üblichen Schlußwendung Jes38,20; Psl6, 11; 18,51; 23,6; 28,9; 29,10; 30,13; vgl. 35,28; 71,24 aber auch 27,4; 90,14; 128, 5). Ein (jüdischer) Psalm ist also durch V. 76-79 aktualisierend ergänzt und an die Er­ zählung (vgl. besonders 1,14-17) angepaßt worden. Dabei sind die Stichworte des Psalms „Erbarmen - verleihen - vor ihm“ und „besuchen - Volk - Heil“ in V. 76-78 in umgekehrter Reihenfolge wieder aufgenommen worden. Daß V. 68-75 in einen ursprünglichen Zusammenhang V. 67.76-79 eingefügt worden wären, ist unwahr­ scheinlich, auch nur denkbar, wenn sie schon als traditioneller Psalm existiert hätten. Den ursprünglichen Hymnus kann man einteilen in V.68f. 71 / 72f. / 74 f. In den ersten beiden Abschnitten wird am Schluß in einem lose angehängten Sätzlein ein Stichwort wiederholt („Heil“ 69a.71 a / „unsere Väter, unser Vater“ 72a.73), wäh­ rend V.74 die Wendung aus V.71 in umgekehrter Reihenfolge aufnimmt („Heil von unseren Feinden [weg] und aus der Hand ...“/„aus der Hand von Feinden befreit“). V.70 ist der einzige richtige Nebensatz (fast wörtlich = Apg3,21, vgl. 3,25). Er dürfte von Lukas eingefügt worden sein. Stammt die Ergänzung V.76-79 von einem Johannes-Jünger oder von einem Judenchristen? Im ersten Fall wäre der „Herr“ Gott selbst wie in l,16f. Da aber V.69 schon vom davidischen Messias redet, kann das kaum auf den nichtdavidischen Johannes übertragen worden sein. Auch tauchen die Zitate V.76 und 79 in christlicher Tradition auf (s.d.). Der Besuch des „Aufgangs“ ist offensichtlich mehr als das Auftreten auch des größten Prophe© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 1,67-75: Bcncdictus

ten. V.76—79 verstehen also das Verhältnis von Täufer und Jesus so wie derjenige, der beide Gestalten verbunden und aufeinander zugeordnet hat, d.h. judenchristlich. Sie setzen die „Wir“ des Lobliedes Israels selbstverständlich mit der Gemeinde Jesu gleich. Merkwürdig ist die Formulierung „Vergebung ihrer (nicht: unserer) Sünden“. Ist sie ein lukanischer Zusatz (Lk 24,47; Apg 2,38; 5,31; 10,43; 13,38; 26,18) oder feste judenchristliche Wendung (Mk 1,4 = Lk 3,3; Mt 26,28; ähnlich Koll,14; nicht in LXX)? 67

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Auf das übliche Feiern (und Streiten, V.58.61) folgt der Hymnus. „Mit heiligem Geist erfüllt“ (auch V. 15.41; vgl. 2,27; nicht in 1,46 wegen 1,35?) ist Elischa (Sir 48,12, sonst nur Spr 15,4 LXX). Gottes Gegenwart ist dabei so real gedacht wie bei der Wolke, die Bundeszelt oder Tempel erfüllt. „Weissagung“ ist das Folgende im Blick auf Jesus (V.78f.). Das Lied setzt mit dem traditionellen Lobpreis des Gottes Israels ein (Ps41,14; 72,18; 89,53; 106,48; 1QM 14,4 am Schluß). Be­ gründet wird er mit dem Gnadenbesuch Gottes. Der hebräische Ausdruck bezeich­ net im Alten Testament Gottes Kommen im Zorn (z.B. 2.Mose 20,5) wie in der Gnade (Dam. 1,7-8), in LXX häufiger, im Neuen Testament, wo er nur Lk 1,78; 7,16; 19,44; Apg 15,14 vorkommt, ausschließlich Gottes gnädiges „Besuchen“, seine „Heim-Suchung“. Wörtlich heißt es, daß Gott seine Augen auf jemanden richtet, so daß sich seine allen geltende Gegenwart ihm besonders zuwendet und ihn für einen besonderen Weg bestimmt. Eben das ist „Befreiung“. Sie erfolgt, indem Gott etwas „aufrichtet“ oder „auf(er)stehen läßt“ (wie es vom Propheten oder König gesagt wird: 5.Mose 18,15.18; l.Sam2,35; 2.Sam 23,l; Apg 3,22.26; vgl. 13,22), nämlich das „Horn“, in dem man sich die Kraft des Tieres konzentriert denkt. l.Sam 2,10 spricht vom „Horn seines Gesalbten“, was von jüdischen Gelehrten auf den Messias gedeutet wurde (Bill.). Im jüdischen Achtzehn-Bitten-Gebet lautet die fünfzehnte Bitte, freilich in einer späten Fassung (Bill. IV 213): „Den Sproß Davids laß eilends aufsprossen, und sein Horn erhebe sich durch deine Hilfen“. Daß Gott „im Hause Davids“ wieder Macht aufrichtet, kann nur messianisch gedeutet werden (vgl. zu 1,31). Auch Apg 4,25-27 ist Jesus als „Herr und Christus Gottes“ zugleich wie David Gottes „Knecht“ (so nur in jüdischen und christlichen Gebeten). Während V.69.72f. die Fortsetzung der in David und Abraham begonnenen Heilsgeschichte beschreiben, liegt im Rückverweis von V.70 die lukanische Anschauung von Jesus als der Erfüllung aller Propheten vor. Bei der „Befreiung von den Feinden“, ur­ sprünglich politisch gemeint, denkt Lukas wohl an alle Anfechtungen („Sünden“, V.77). „Erbarmen mit den Vätern“ setzt vielleicht voraus, daß diese im Himmel am Schicksal ihres Volkes teilnehmen (16,23.27; Joh 8,56; Bill. 1892). Oft erinnert man sich an sie (V. 55; vgl. Mi 7,20; l.Makk. 4,10). Daß Gott seines „Schwurs“ „ge­ denkt“, paßt merkwürdig zu den Namen der Eltern (s. zu 1,5). Jahrhundertelanges Schweigen, in dem Israel sich nur an das überlieferte Wort halten konnte, bedeutet also nicht, daß Gott Israel vergessen hätte. Das letzte Ziel des Heilshandelns Gottes setzt zwar die Freiheit von Feinden voraus, ist aber der ungestörte Gottesdienst. Davon spricht sonst nur Jes 24,14, aber als Gottes Weisung an sein Volk. Hier liegt eine Frömmigkeit vor, für die Gottesdienst, der doch wohl von allen, nicht nur stell­ vertretend von den Priestern geleistet wird, höchstmögliche Freude bedeutet. Freiheit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 1,76-80: Warten auf den „Aufgang“

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des Gottesdienstes ist das unüberbietbar Letzte. Das wird unterstrichen durch die Bitte um ewige Dauer (oder meint „unsere“ nur die gegenwärtige Generation?). „Du aber“ leitet vom allgemeinen Gotteslob zur konkreten Situation über. Auf 76 Grund von 5. Mose 18,18 f. hat Israel einen messianischen Endzeitpropheten erwar­ tet (4Qtest 5; 1 QS 9,11; vgl. zu Lk 1,17). V.76 versteht aber wie Mk l,2f.; Lk 3,46; 7,27 Johannes aufgrund der Elija-Erwartung (Mal 3,1, mitbeeinflußt durch 2.Mose 23,20; Jes 40,3) als Vorläufer Jesu. Nach Mk 1,4 (s.d.) = Lk3,3 bringt 77 seine Umkehrtaufe Sündenvergebung (s. zu 24,47); auch hier ist kaum gemeint, daß er die Vergebung nur ankündige, sondern daß Israel in seiner Predigt schon dem kom­ menden Jesus begegne, in dem Gottes „Erbarmen“, die Zuwendung aller seiner Ge- 78 fühle, Wirklichkeit wird. „Aufgang“ kann das Erscheinen der Sonne beschreiben, auch das Aufgehen eines „Sprosses“ (so Jer 23,5 LXX; Sach3,8; 6,12; 1 Qflor 1,11; patr3), wie das Judentum den davidischen Messias genannt hat. An diese Stellen denkt der Verfasser wohl, aber die Fortsetzung zeigt, daß er dabei das Bild vom Aufgehen eines Gestirns, des „großen Lichtes“ (Jes 9,1), der „Sonne der Gerechtigkeit“ (Mal 4,2) oder des „Sterns aus Jakob“ (4. Mose 24,17) vor Augen hat. Allerdings geht dieses Licht nicht über dem Horizont auf, also nicht aus der Tiefe heraus wie der aus dem Meer auftauchende Menschensohn in 4.Esra 13, sondern in der „Höhe“, wie das plötzliche Aufstrahlen eines Meteors. Es ist auch nicht allgemeine Erhellung, son­ dern Licht, das „uns“ besucht, auf „uns“ hinschaut (s. zu V.68), so allen Todes­ 79 schatten aufhebt und die Menschen auf den richtigen Weg weist. Auch hier ist also der Christus als der gesehen, in dem Gott wieder in das Leben des Menschen eintritt und ihm in der Dunkelheit, in der er seinen Weg verfehlt hat, das Licht schenkt, in dem er Frieden findet (ebenso Mt 4,16 mit demselben Wortstamm „aufgehen“). Nur 80 hier hören wir, daß Johannes bis zu seinem Auftreten (s. zu 3,2f.) in der Wüste lebte. Gcwiß nicht in Qumran, denn sein Vater war Tempelpriester (wogegen die Mönche von Qumran polemisierten), sein Gewand das des Propheten, nicht des Mönches, seine Taufe einmalig, nicht täglich, sein Ruf der an das Gesamtvolk, nicht an eine Mönchsgemeinde, sein Ideal nicht rigorose Gesetzesinterpretation wie dort. Außer­ dem betont V.80 gerade die Unabhängigkeit von menschlichen Meinungen. Beim „Geist“ ist an Gottes Geist zu denken, der freilich ihm verliehen ist und so auch zu seinem Geist wird (s. zu V.46f.). Der Vers verbindet mit 3,1-20 und schafft so eine „Lebensgeschichte“ des Täufers. Umgekehrt als in V.46-55 setzt der Hymnus beim Lob des Handelns Gottes an ganz Israel ein und führt erst V.76 in das persönliche Leben des Einzelnen, der frei­ lich als Prophet des Höchsten erst recht allem Volk das Heil vermitteln wird. Wer dieses Volk sein wird, ist nicht gesagt; von Heiden ist jedenfalls keine Rede. Der Besuch des Gottes Israels bedeutet (positiv) Heil für das ganze Volk durch den Da­ vidsnachkommen, (negativ) Befreiung von den Feinden. Solche Befreiung von den Feinden (negativ) ermöglicht (positiv) den ungestörten Gottesdienst. In der Mitte wird das als Erfüllung des Abrahamsbundes verstanden; Gott hat sein Handeln an Israel zu seinem Ziel geführt. Die Erwähnung Davids (von Lukas durch V.70 hervor­ gehoben) zeigt, daß an einen messianftchen König gedacht ist. Die Sprache ist die einer nationalen Hoffnung, die freilich religiös motiviert auf die Freiheit des Gottes© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 1,76-80: Besuch Gottes: Vergebung und Friede

dienstes ausgerichtet ist. Das nimmt ein Judenchrist auf und bezieht es auf die Ver­ kündigung des Johannes, der dem „Herrn“ Jesus und damit dem endgültigen Gna­ denbesuch Gottes den Weg bahnt (V. 76-79). Dabei steht Gottes großes Tun derart im Vordergrund, daß er von Umkehr und Taufe nichts sagt, sondern nur von der Befreiung von den Feinden, die er als Vergebung der Sünden interpretiert. Entschei­ dend ist das Aufstrahlen der Gegenwart Gottes in Jesus als solche, seine „Epiphanie“ (so griechisch) in Finsternis und Todesschatten. Sie schenkt die Möglichkeit des Gottesdienstes oder, wie er ausdeutet, den Frieden. Wo die Gemeinde sich im Lob­ lied direkt an Gott wendet, da darf und muß sie allein sein Handeln und seine unbe­ grenzte Güte preisen. Daß damit nicht alle Probleme gelöst sind, zeigt schon die Betonung der Sündenvergebung. Daß aber mit dem Kommen Jesu Wege des Friedens möglich geworden sind, die vorher nicht sichtbar waren, gilt auch im Blick auf das menschliche zusammenleben und seine Probleme. Das (von Paulus betonte) Gefalle, daß erst der, dem von Gott her Vergebung und Friede geschenkt worden ist, zu Got­ tes- und Friedensdienst fähig wird, zeigt sich hier darin, daß solche Loblieder der Täuferpredigt vorangestellt werden.

Der Besuch Gottes bei seinem Volk 2,1-20 1Da

geschah es in jenen Tagen, daß ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, daß der ganze Erdkreis geschätzt würde. 2 Diese Schätzung erfolgte als erste, als Quirinius Statthalter von Syrien war. 3 Und alle wanderten, um sich schätzen zu lassen, jeder in seine Stadt. 4 So zog auch Josef von Galiläa aus der Stadt Nazaret hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem genannt wird, weil er aus dem Haus und Stamm Davids war, 5um sich schätzen zu lassen mit Maria, seiner Verlobten, die schwanger war. 6 Da geschah es, als sie dort waren, daß sich die Tage, da sie gebären sollte, erfüllten, 7 und sie gebar ihren ersten Sohn und wik­ kelte ihn und legte ihn in eine Krippe, weil im Wohnraum kein Platz für sie war. 8 Und Hirten waren in dieser Gegend draußen und hielten nachts Wache über ihre Herde. 9 Und ein Engel des Herrn trat zu ihnen, und Herrlichkeit des Herrn umleuchtete sie, und sie gerieten in große Furcht. l0 Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht; denn siehe, ich verkündige euch Frohbotschaft, eine große Freude, die für das ganze Volk sein wird; 11denn euch wurde heute der Retter geboren, der C hristus, der Herr, ist, in der Stadt Davids. 12Das ist euch das Zeichen: Ihr werdet den Säugling gewickelt und in einer Krippe liegend fin­ den. 13 Und sogleich war eine Menge des himmlischen Heeres mit dem Engel, die lobten Gott und sagten: 14 Herrlichkeit in der Höhe Gott und auf Erden Friede unter den Menschen des (göttlichen) Wohlgefallens. 15 Und es geschah, als die Engel von ihnen weggingen in den Himmel, redeten die Hirten zueinander: Laßt uns doch nach Betlehem gehen und diese Sache sehen, die da geschehen ist, die der Herr uns berichtet hat. l6 Und sie gingen schleunigst und fanden Maria und Josef und den Säugling in der Krippe liegen. 17 Als sie das sahen, berichteten sie von dem Wort, das zu ihnen über dieses Kind geredet worden war. 18 Und alle, die es hörten, staunten über das, was von den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk2,l-20: Analyse

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Hirten zu ihnen geredet wurde. 19 Maria aber bewahrte all diese Worte und be­ wegte sie in ihrem Herzen. 20 Und die Hirten kehrten zurück, priesen und lobten Gott über alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie es zu ihnen geredet wor­ den war. Als Gegenstück zu l,57f. und Einleitung zu 2,21 hätte eine kurze Notiz von der Geburt wie 2,6 f. genügt. Die Hirtenepisode (V. 8-20) ist in sich geschlossen, V. 8 ist deutlicher Neuansatz, und V.20 schließt stilgerecht mit dem Gotteslob. Der Aufbau ist durchsichtig: Dem Lagern der Hirten und dem Kommen des Engels (V.8.9a) entspricht in umgekehrter Reihenfolge Weggang der Engel und Aufbruch der Hirten (V. 15), dem Erschrecken der Zeugen und der Heilsverkündigung des Engels mit der Krippe als Zeichen (V.9 b-12) die Heilsverkündigung der Hirten an der Krippe und das Erstaunen der Zeugen (V. 16-18), dem Gotteslob der Engel (V. 13f.) das der Hirten (V.20). V. 19, wie V.51 b in ausgeprägtem Stil des Lukas, ist wohl erst von ihm eingefügt worden. Die Entstehung der Weihnachtsgeschichte ist sehr schwer zu durchschauen. Drei Punkte sind wesentlich: 1. Die Hirtenerzählung ist so deutlich in sich geschlossen, daß sie mindestens mündlich in schon verfestigter Form bestanden haben muß, be­ vor sie in Lk 1 f. aufgenommen wurde. Ihre C hristusverkündigung ist auch sehr anders als die von 1,32-35 („Retter“, „C hristus der Herr“, s. zu V. 11). Doch kann sie durchaus in Palästina entstanden sein, wo Hirten seit den Erzvätern, David und den Propheten ihre Rolle spielen und wo das „(Gottes-)Volk“ und die „Menschen des (göttlichen) Wohlgefallens“ (V. 10.14) leben. 2. V.4-7 greifen nicht auf die Ankündigung der Jungfrauengeburt zurück; ja, Josef und Maria werden neu einge­ führt. Hingegen paßten sie gut als Einleitung von 2,22-38; von Betlehem aus kann Jerusalem leicht erreicht werden. Gehörte trotz Apg5,37 die Begründung mit der Einschätzung dazu, die die Tradition vom Wohnort Nazaret mit der vom Geburtsort Betlehem verknüpft? 3. Bei der Verbindung mit Kap.I wurde Maria als „Verlobte“ Josefs bezeichnet (V.5, wo einige alte Übersetzungen freilich „seine Frau“ lesen), wurden vermutlich auch die Stichworte „Stadt Davids“ und „Krippe“ (v.4.7) in V. 11 und 16 eingefügt und V. 12 neu gebildet. Auf Lukas selbst könnten die An­ gaben in V. 1-2 (oder 5), die Bemerkung über Maria in V. 19 und eine durch­ gehende stilistische Bearbeitung zurückgehen. Hat sich die Weihnachtsgeschichte so abgespielt? Mit den Angaben bei Matthäus läßt sie sich nicht vereinen (s. zu Mt 1,18.23), außer daß bei beiden Betlehem und Herodes (Lk 1,5) genannt werden; aber auch in Lk 1 f. kommen verschiedene, nicht leicht harmonisierbare Traditionen zur Sprache. Die Einschätzung ist fraglich (s. zu V.2), und Maria hätte höchstens mitreisen müssen, wenn sie selbst Grundbesitzerin in Betlehem gewesen wäre. Auch ist gemeinsame Reise Unverheirateter kaum denk­ bar. Doch schildert die Weihnachtsgeschichte bildhaft-anschaulich, was sich wirk­ lich ereignet hat: daß Gott in der Geburt dieses Kindes der Welt begegnete und daß darüber Jubel im Himmel herrschte und Menschen für den Frieden Gottes aufge­ schlossen wurden. Das kann freilich nur der Glaube erkennen, und er muß das alles menschliche Begreifen Übersteigende in den Bildern seines Berichtes andeuten. Wie weit also die Einzelheiten der Erzählungen spätere Ausgestaltung sind, in der der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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L k 2, 1-7: Geburt in der Stadt Davids

Glaube die Dimension dieses Geschehens zu umschreiben versucht, wissen wir nicht. Entscheidend ist aber beides: daß sich diese Geburt, wo immer und in welchem Jahr immer, wirklich ereignet hat und daß das wahr ist, was nur der Glaube einsehen und in einer Fülle von Geschichten ausdrücken kann: daß in dieser Geburt Gott in einma­ liger Weise zur Welt gekommen ist. Vgl. das zur Wahrheitsfrage in der Einführung zu Mk (5.) Gesagte. 1 2

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Die lose Anknüpfung ist lukanischer Stil. Das „Ausgehen" des kaiserlichen Ediktes für die ganze damals bewohnte Welt (griechisch: die Oekumcne), nicht eine Engel­ botschaft, setzt alles in Bewegung. Nach Josephus ist Quirinius zwischen 9 und 4 v. Chr. (wo Herodes stirbt) sicher nicht Statthalter Syriens gewesen und fand die Steuerveranlagung (Zensus) nach Eingliederung Palästinas in die Provinz Syrien (6 n.Chr.) statt (Altert. 17, 27.89; 18,2). Vorher ist eine solche schwer denkbar, da Herodes rechtlich selbständiger König ist, obwohl nicht unmöglich, wie ein Beispiel aus Kleinasicn zeigt. Bezeugt sind ferner ein Zcnsus römischer Bürger (aber nicht „aller Welt") 8/7 v. Chr. und ein palästinischcr 74/75 n. Chr. (etwas vor der Zeit, da Lukas schreibt). Bei einem Zensus in Ägypten 104 n.C hr. mußten auswärts Wei­ lende „in ihre Heimat ziehen" (doch 2,39!). Möglich, doch nicht wahrscheinlich, ist eine Erstellung der Steuerregister schon unter Herodes und Durchführung der Besteu­ erung 6 n. Chr., als Quirinius wirklich Statthalter von Syrien war, oder, falls Jose­ phus zwei ähnliche Ereignisse verwechselt hätte, was sehr unwahrscheinlich ist, eine Besteuerung, die Quirinius, der seit 12 v. Chr. im Orient wirkt, nicht als Statthalter, sondern in Sonderkommission durchgeführt hätte, oder eine Verwechslung des Quirinius mit Quintilius (Varus), der ab 4 v. Chr. Statthalter in Syrien war. Vermut­ lich hat Lukas sich geirrt, wie wir uns bei Dingen irren, die fast ein Jahrhundert zurückliegen. Die Erage ist aber völlig unwichtig, da er nicht die Geschichte der Steuern in Palästina aufhellen, sondern zeigen will, wie Gott in irdisch-geschichtli­ chem Geschehen redet (ob in einem römischen Zensus oder etwas anderem), nicht in einem philosophischen System zur Welterklärung oder einem Mythos, der nur bild­ haft eine auch ohne ihn allgemein gültige Wahrheit darstellt. Noch mehr: Gottes Handeln bricht nicht wie ein Meteoreinfall in unsere Geschichte ein. Es beginnt in einer völlig weltlichen Handlung, einer Steuerordnung, deren Sinn erst von dem her gesehen werden kann, was später daraus geworden ist. Weder Engel noch sichtbarer Glanz treten auf, nur römische Beamte und mehr oder weniger verärgerte Steuerzah­ ler; aber Gott ist deswegen nicht weniger Subjekt eines weltwendenden Geschehens. Die hochgespannte Erwartung, die man auf Augustus setzte, ist zur Zeit des Lukas längst verflogen; aber der heidnische Kaiser bleibt auch für ihn der, dem der Davids­ nachkomme, anders als die Revolutionäre seiner Zeit, Gehorsam leistete. 2.Sam 5,7 usw. ist der Zion „Stadt Davids", hier nach Mi 5,1 Bctlehem. Josefs davidischc Abstammung (s. zu 1,32) wird hervorgehoben. Damit ist nicht kontinuierliche Heils­ geschichte bezeugt - fast tausend Jahre lang ist nur die Hoffnung auf einen heilbrin­ genden Davidsnachkommen aufrecht erhalten worden - , wohl aber Gottes Treue, die nicht willkürlich ist, sondern zu der Geschichte steht, die er in Israel angefangen hat. Die Tage „erfüllen sich" (s. zu 1,57). Gedanken, Gefühle, Gespräche werden nicht erwähnt, nur in größter Schlichtheit die Tatsache der Geburt. Daß Maria „ih© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 2,8-11: Große Freude dem ganzen Volk

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rcn ersten Sohn“ gebiert, läßt weitere Geburten erwarten (s. zu Mk 6,3); doch könnte auch nur daran erinnert werden, daß der Erstgeborene Gott gehört (s. zu 2,23 f.). Daß die Hebamme die unverletzte Jungfräulichkeit feststellt, gehört zur späteren Legende (Protev.Jac. 19,3). Daß die Mutter das Kind in Windeln hüllt, bezeugt nicht schmerzlose Geburt, in der 1. Mose 3,16 aufgehoben wäre, sondern die völlige Menschlichkeit dieser Geburt. Später las man in Jcs 1,3, daß Ochse und Esel „die Krippe ihres Herrn kennen“ und bezog das auf Jesus. Auch die Krippe ist nicht ungewöhnlich. Es ist eine für das Futter benützte Schüssel oder muldenförmige Einbuchtung in einer Art Bank, die das Kind vor den Hufen der in Palästina häufig im gleichen Raum übernachtenden Tiere schützt. Vom Suchen nach Unterkunft und Abgewiesenwerden der Eltern wird nichts erzählt. Das griechische Wort bezeichnet 22,11 das Haus oder Zimmer eines Gastfreundes (auch l.Sam 1,18 LXX?), während für „Herberge“ 10,34 ein anderes verwendet wird. Haben sie sich also aus einem be­ freundeten oder der Familie Josefs gehörenden Haus zur Geburt in einen Anbau für die Tiere (oder eine sich unter dem Haus befindliche Höhle?) zurückgezogen, weil im Wohnraum zu wenig Platz war? Die später gezeigte Höhle könnte freilich aus Jes 33, 16 LXX („er wohnt in hoher Felsenhöhle“) herausgedeutet worden sein (Justin D. 70; 78,5 f.). All das wissen wir nicht, weil für Lukas nur wichtig ist, daß es eine mensch­ lich normale Geburt im unromantischen und unpathetischen Armleutealltag, wenn auch nicht in extremer Armut war. Hirten spielen in hellenistischen Geburtserzählungen eine Rolle; doch war ja David Hirte in der Nähe Betlehems (l.Sam 17, 15; 16,4. 11; vgl. Ps 78,70-72). Spätere Rabbinen haben die Geburt des Messias, des Hirten Israels, beim „Herdenturm“ (Mi 4, 8) in der Nähe Betlehems (Mi 5, lf.; vgl. „Weiden“ V.4) erwartet (Targ.Jon.I Gn. 35,21). Das mag hier im Hintergrund stehen, nicht die Verachtung der Hirten durch spätere Rabbinen (Bill.). Die Herden werden im März/April aus-, im Novem­ ber eingetrieben. Kampieren in der Nähe der Wohnstätten ist aber auch am 24. De­ zember (s. zu 1,26) denkbar. Erst im Zusammenhang mit den Hirten erscheint die Zeitangabe „nachts“ (vgl. zu 9,28). Mit der Hirtengeschichte wird das Werden der ersten „Gemeinde“ der auf Gottes Wort „Hörenden und ihn Lobenden“ beschrie­ ben. Das unvermittelte „Auftreten“ des Engels läßt Gottes Gegenwart unvermutet Wirklichkeit werden. Anders als 1,11.26 bleibt er namenlos. Wiederum ist Furcht die natürliche Reaktion und die Befreiung von ihr die erste Tat des Gotteswortes (s. zu 1, 12.29). Im „Glanz“ Gottes wird sein Einbruch in die Welt des Menschen auch äußerlich sichtbar. Der „großen“ Furcht setzt Gottes Wort die „große Freude“ ent­ gegen. Sie wird, ähnlich wie in 1,19 (s.d.), „als Frohbotschaft“ verkündet. Die Form erinnert an hellenistische Proklamationen, aber das Wort für „Volk“ bezeichnet außer Apg 15,14; 18,10 immer Israel (über achtzigmal), so wohl für Lukas auch hier; die Ausdehnung auf die Völker kommt erst später (vgl. zu 2,31). „Retter“ („Heiland“, auch Lk 1,47; Jud 25; l.Tim 1,1 usw.) ist alttestamentlich Gott, aber auch der von ihm zur Hilfe gesandte Richter (Ri 3,9.15). Das ist entscheidend für Phil 3,20, wo C hristus als der beim Wiederkommen seine Gemeinde „Rettende“ so heißt, und später für Apg5,31; 13,23; Eph 5,23; Joh 4,42; l.Joh 4,14 usw. Der Titel ist im Griechentum verständlich. Dort heißen die zu Halbgöttern gewordenen Seelen (Plutarch, Isis und Osiris 376 d) so, aber auch Kaiser (s. A. nach 2,38) und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 2,11-17: Herrlichkeit Gottes - Friede auf Erden

Lebensretter wie Ärzte, Philosophen, Staatsmänner. Gegenüber diesem weiteren Gebrauch wird hier durch „C hristus, der Herr“, also durch einen Hinweis auf den davidischen Messias (vgl. l,32f.69) erläutert. Die Wendung ist einzigartig; nur Apg 2,36 („Herr und Christus“ vom Erhöhten) ist vergleichbar. Hieß es ursprünglich „der Christus des Herrn“ wie 2,26 (s. zu 9,20); Klgl4,20, wo Abschreiber in „C hri­ stus, der Herr“ geändert haben; PsSal 17,32? V.9 ist der „Herr“ ja Gott! „Heute“ bezeichnet irdisches, an Zeit und Geschichte gebundenes Geschehen, nicht verständ­ lich ohne die göttliche Verkündigung, aber auch nicht reduzierbar auf die Mitteilung eines allgemein gültigen Lehrsatzes. Der ägyptische Satz „Heute hat die Kore (eine Mädchengottheit) den Aeon geboren“ (Epiphanius, Ketzer LI 22,10) ist vielleicht nur Deutung des Kirchenvaters, hat jedenfalls mit Lk 2,11 nichts zu tun, weil damit nur die jährlich wiederkehrende Geburt des Frühlings auf das Anbrechen einer neuen Zeitperiode bezogen wurde. Lk 2,11 dagegen betont die einmalige, alles wendende Gottestat, ebenso unableitbar und ohne Gottes Wort undeutbar wie die Kreuzigung Jesu (vgl. zu 4,21). „Das ist für euch das Zeichen“ steht auch 1Q27 1,5 (vgl. 2.Mose3,12); es ist schlicht, denn an Jes7,14 (Jungfrauengeburt) ist kaum zu denken. Vielleicht ist gerade die Diskrepanz zwischen dem, was gesehen, und dem, was erst auf Grund des Gotteswortes verstanden werden kann, betont. Einen Augenblick lang wird aber gewissermaßen der Vorhang weggezogen, so daß Gottes Welt sichtbar wird, aus der alles kommt, auch was für Menschen erst zukünftig ist. Wir nennen das die Tran­ szendenz Gottes. Wesentlich ist, daß sie Gestalt annimmt im Lobpreis der Engel, der Gott gilt, aber gerade so den Menschen ihr Heil zuspricht. Der Satz ist zweiteilig (mit Umkehrung der Reihenfolge von Subjekt und Ortsbestimmung) wie in 19,38, nur daß dort beide Glieder auf Gott allein bezogen sind. Die Engel (s. zu 1,11) stellen Gottes Bewegung zur Erde hin dar und sprechen daher Gott die Herrlichkeit, den Menschen den Gottesfrieden zu. Beides wird nicht vermischt: die Erde wird nicht zum Himmel, wohl aber mit ihm zusammengeschlossen, so daß sie vom Himmel Gottes geprägt wird und nicht himmcllos bleibt. Die „Menschen des Wohlgefallens (10,21)“ sind die von Gott Erwählten (l QH4,32f.; 8,6; 11,9: „... seines/des Wohl­ gefallens“), was die absolute Gnadenhaftigkeit unterstreicht, nicht das Heil für „das ganze Volk“ (V.10) aufhebt. Gemeint ist nicht nur, daß Menschen untereinan­ der Frieden haben (Jes 2,4; 9,7; 11,6-9), sondern daß Gottes „Hütte bei den Men­ schen“ (Offb 21,3) und damit endgültiger Friede sein wird. Im Ton erinnert die Formel an die glühenden Erwartungen, die man mit der Herrschaft des Augustus verknüpft hat (s. A. nach 2,38); aber wie anders erfüllen sie sich im Sinne des Lukas! Lk 19,38 wiederholt nämlich die Stichworte „Friede“ und „Herrlichkeit“ (über Mk 11,10 hinaus) zu Beginn der Passion; sie stellt den Gottesfrieden her. Der Weg­ gang der Engel setzt die Hirten in Bewegung. Sie wollen das „Wort“ (s. zu 1,37) sehen, das ihnen verkündigt wurde. Gottes Wort ist so zuverlässig, daß es sichtbare Gestalt annimmt. Ihre „eilige“ Reaktion auf Gottes Ruf (vgl. 1,39; 19,5 f.; Apg 20,16; 22,18) zeigt das, was Paulus „Glauben“ nennt. Sie gehört mit zur Weih­ nachts geschichte. Maria wird vor Josef genannt (vgl. zu V. 19). Gottes Wort führt also zum glaubenden Aufbruch, zum Sehen (auch V. 15.20 betont, obwohl nichts Außergewöhnliches zu sehen ist) und dann zur Verkündigung. Wort ohne Gotteser­ fahrung bleibt leer; aber umgekehrt deutet erst das Wort, „das ihnen gesagt worden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 2,17-20: Weihnacht: Lob der Zeugen

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war“ (ebenso V.20), das sie daher auch verkünden, das Gesehene als Gottes Han­ deln. Die Umstehenden staunen, neutralisieren also das Gehörte nicht einfach durch 18 seine Einordnung in schon Bekanntes. „Je fester einer ein Ding glaubt, desto mehr verwundert er sich darob und desto fröhlicher wird er darüber“ (Luther). „Der wan­ delt recht im Wort Gottes, der nicht aufhört zu staunen“ (C alvin). Maria aber „be- 19 wegt“ es. Es verschwindet bei ihr nicht, nachdem die Hirten wieder verschwunden sind. Sie fragt nach dem, was dahinter steht, und bleibt offen für Neues, was ihr dadurch zukommen könnte; kaum so, daß sie es mit früheren Ereignissen „zusam­ menfügt“ (was das Wort heißen könnte). So möchte sie Gottes Plan auf die Spur kommen. Abschluß und Ziel der ganzen Geschichte ist das Lob Gottes, das jetzt 20 auch auf Erden ertönt; freilich nicht durch engelhafte, sondern durch sehr mensch­ liche Zungen. Die Träger dieses Lobes bilden keine neue messianische Gruppe, son­ dern gehen wieder an ihre Arbeit; aber ihr Lobpreis klingt mit dem der Engel zusammen. Der Text sollte alle Sentimentalität der Weihnachtsgeschichte überwinden. Weder ist darin der Winter erwähnt noch wird das Herberge suchende Elternpaar abgewie­ sen. Ihre Armut ist nicht erschütternd; sie gehören eher zum unteren Mittelstand. Die Krippe ist eine Teigschüssel oder eine Mulde der Wand entlang; Ochse und Esel stehen nicht neben ihr. Himmlischer Glanz wird den Hirten sichtbar, nicht aber den Eltern. Zu ihnen kommt das Wort Gottes durch sehr ärmliche Zeugen. Das un­ scheinbare göttliche Zeichen, das eigentlich für Menschenaugen gar keines ist, die Krippe, wird in jedem der drei Abschnitte (V. 7. 12.16) genannt. Das Kleine, fast Alltägliche wird so zum Zeichen für Gottes großes Handeln und zeigt schon, daß die Königsherrschaft des Gottessohnes anders aussehen wird, als man sie erwartete, und unser Umdenken fordert. Wohl aber schenkt Gott einigen, menschlich gesehen selt­ sam ausgewählte Zeugen eine besondere Erfahrung, die sie auf das ihnen aufgetra­ gene Wort hören läßt. Es bleibt auch nicht beim Hören, sie richten es aus. Man kann, sogar als wesentlich Beteiligter, Zeitgenosse sein und gar nichts vernehmen wie Augustus. Man kann das Wort hören und sich aufmachen. Man kann darüber stau­ nen und fragen, was das bedeutet. Solches Erstaunen kann wieder absterben oder es kann den Menschen so bewegen, daß das Wort nicht wieder versinkt, sondern wei­ terleben und einmal zur endgültigen Wirkung kommen kann. Dem, der sich so zum Glauben rufen läßt, zeigt sich die Bewegung des Textes: sie setzt in der Hauptstadt des Imperiums ein beim kaiserlichen Handeln, das „den ganzen Erdkreis“ prägen will, setzt zwei der einfachsten Bürger dieses Weltreichs in Bewegung, führt in ein winziges Provinzstädtchen, das freilich schon nach l.Mose 35,19; Rut 1,1.19.22; 4, 11; l.Sam 16,1; Mi 5,1; Mt 2,5f. von Gott ausgezeichnet ist, und dort zu einer völlig unscheinbaren Geburt. Das setzt aber die Gegenbewegung aus sich heraus, das Kommen himmlischer Heerscharen, die den von Gott gesalbten „Herrn“ „allem Volk“ ankündigen und ihrerseits ein paar Hirten in Bewegung setzen. Das führt zur Bildung einer ersten, Gott lobenden und seine Großtaten verkündenden Gemeinde, von der aus wiederum die Bewegung zurück nach Rom (Apg 28, 14-31) und in die ganze Welt hinaus gehen wird. Die Geburt selbst ist unbetont; erst die himmlische und irdische Proklamation läßt die Bedeutung des Geschehens erkennen, wie das auch für Kreuz und Auferstehung gilt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 2,21—40: Analyse

Die Begrüßung des Verheißenen im Tempel: Nunc dimittis 2,21-40 Und als sich die acht Tage, ihn zu beschneiden, erfüllten, da wurde sein Name Jesus genannt, der vom Engel genannt wurde, bevor er im Mutterleib empfangen wurde. 2 2 Und als „sich die Tage ihrer Reinigung erfüllten“, nach dem Gesetz Moses, zogen sie nach Jerusalem hinauf, ihn dem Herrn darzustellen, 23 wie im Gesetz des Herrn geschrieben ist, daß „alles Männliche, das den Mutter­ schoß öffnet'4, dem Herrn heilig genannt werden soll, 24 und um ein Opfer zu bringen nach dem, was im Gesetz des Herrn gesagt ist: „Ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben“. 25 Und siehe, ein Mensch war in Jerusalem, mit Namen Simeon, und dieser Mensch war gerecht und fromm; er wartete auf die Tröstung Israels, und heiliger Geist war auf ihm. 26 Und es war ihm vom heiligen Geist verheißen, er werde den Tod nicht sehen, bevor er den Christus des Herrn, gesehen hätte. 27 Und er kam im Geist in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus hineinbrachten, um zu handeln, wie es Brauch des Gesetzes war, 28 da nahm er es in die Arme und pries Gott und sprach: 29 Jetzt entlassest du deinen Knecht, Herr, nach deinem Wort in Frieden; 30 denn meine Augen haben dein Heil gesehen, 31das du bereitet hast vor allen Völkern, 32 Licht zur Offenbarung für die Völker und Herrlichkeit deines Volkes Israel. 33 Und sein Vater und seine Mutter wunderten sich über das über ihn Gesagte. 34 Und Simeon segnete sie und sprach zu Maria seiner Mutter: Siehe, dieser ist zum Fall und Aufstehen Vieler in Israel bestimmt und zu einem Zeichen des Widerspruchs, 35 und durch deine Seele selbst wird ein Schwert dringen, damit aus vielen Herzen die Gedanken enthüllt würden. 36Und es war ein Prophetin Hanna, Tochter Phanuels aus dem Stamme Assir, die war schon hochbetagt, nachdem sie sieben Jahre nach ihrer Jungfrauschaft mit einem Mann gelebt hatte, 37 und sie war Witwe an die vierundachtzig Jahre. Sie verließ den Tempel nicht und diente dem Herrn Nacht und Tag mit Fasten und Gebeten. 38 Und zur selben Stunde trat sie herzu, lobte ihrerseits Gott und redete über ihn zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten. 39 Und als sie alles nach dem Gesetz des Herrn vollendet hatten, kehrten sie nach Galiläa in ihre Stadt Nazaret zurück. 40 Das Kindlein aber wuchs und wurde stark, erfüllt mit Weisheit, und die Gnade Gottes war über ihm. 21

Vers 22-24: 3. Mose 12,4-S; 2. Mose 1 i , 2 ; ?4. /9/'.,-

Vers 30-32: Jes 52, 10; 42, 6; 49,6.

Wie 1,59-66 liegt 2,21 der Nachdruck auf der Namengebung mit dem Rückweis auf den Befehl des Engels. Die Beschneidung dient nur zur Zeitbcstimmung. Der Vers wird von dem eingefügt worden sein, der zuerst V. 22-38 mit Kap. 1 verband. Überschießend gegenüber der Johanneserzählung sind V. 22-24. Wie 1,5-7 (anders als 1,26-38; 2,1-20) betonen sie und V.27b die Gesetzesgerechtigkeit der Eltern. Hat Lukas damit zum Schauplatz Jerusalem übergeleitet und an die Johannestradi­ tion angeglichen (vgl. zu 4,16)? Jedenfalls nimmt er Rückkehr nach Nazaret erst nachher an (V.39), also nach vierzig Tagen (3. Mose 12,24; aber weiß Lukas das?) Meint er sogar, daß sich beide Eltern reinigen lassen („ihrer“)? Die Wendung „als sich die Tage erfüllten“ und die Rede von Gott als „Herrn“ übernimmt er aus V.21/ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 2,21-29: Der Prophet: Offen für Gottes Zukunft

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15.26. „Gesetz des Herrn“ steht nur hier und im (lukanischen?) Abschlußvers 39. Auch Apg 22, 12 lobt Lukas den „nach dem Gesetz frommen“ Hananias und Lk 2,25 den „frommen und gerechten“ Simeon. War V.22 b mit der im Griechischen unluka­ nischen Form für „Jerusalem“ (s. Einführung 2a) die alte Einleitung der urspünglich selbständigen Erzählung, die wie V. 4 f. Josef und Maria als Eltern kennt (V. 27.33) und die Sätze mit „und“ (selbst V. 21.28, wo „da“ übersetzt ist!) aneinanderreiht? V. 34 f. könnte ein von Lukas hier eingefügtes Einzelwort sein. Möglicherweise steckt in der Geschichte eine Erinnerung an den Essener Simeon, der dem Archelaos nach Jos., Altert. 17,3.146; Krieg 2,113 zur Zeit der Steuererhebung 6 n.C hr. aus einem Traum die Zukunft deutete (zum Tempel vgl. zu V.27). Der Gehorsam gegenüber der Engelbotschaft steht V.21 noch vor dem gegenüber 21 dem Gesetz (22-24). Der Name ist nicht ungewöhnlich und wird auch nicht ausge­ deutet wie Mt 1, 21. Alles vollzieht sich wie bei irgendeinem jüdischen Kind; nur daß, wie der Leser weiß, Gottes besondere Verheißung darüber steht. Tempel- und Geset- 22 zesfrömmigkeit sind wichtig, die Bestimmungen werden ausführlich zitiert; vom Priestersohn Johannes wird nichts Ähnliches erzählt. An Mal 3,1 („der Herr kommt zu seinem Tempel“, der Vers auch 1, 17.76 zitiert) ist kaum gedacht. Das Erzählte verknüpft die Reinigung der Wöchnerin mit der für die Erstgeburt vorgeschriebenen 23/24 Gabe, die normalerweise durch Bezahlung an einen Priester des Wohnorts geleistet wird (vgl. A. nach V.52, Anf.). Von einem Loskauf Jesu wird freilich nicht erzählt, sondern eher von einer Aufnahme in den Dienst Gottes (in dem er andere loskaufen wird: Mk 10,45, von Lukas freilich nicht übernommen). Vielleicht spielt die Erinne­ rung an l.Sam 1, 11.22-28 mit. Dort weiht aber die Mutter das Kind Gott, während hier Gott es durch seinen Propheten zu seinem Dienst bestimmt. Ein vorgeschriebe­ ner Ritus bekommt also seinen neuen Sinn als eine Art „Darstellung“ des Neugebo­ renen. In Simeon erscheint Israel in seiner von Gott gesegneten Gestalt. Er ist „ge- 25 recht“ (s. zu 1,6) und „fromm“ (ebenso Apg 2,5; 8,2; 22,12). Dauernder Geistbe­ sitz ist alttestamentlich nur selten ausgesagt (1. Mose 41,38; Dan 4,5; auch 4. Mose 11,17; Jes 59,21?). Dennoch wird das immer neue Wirken des Geistes nicht entbehrlich. Er treibt Simeon in den Tempel. Simeon ist völlig auf das Kommende, die „Tröstung“ Israels ausgerichtet. Von ihr sprechen auch Jes 40, 1 f.; 49,13; s.Bar. 44,7; Bill.; jer.Ber. 8d (Inhalt des letzten Gesprächs Elijas und Elischas [aber Ende 4. Jh.!]). Er gehört nicht zu denen, die rückwärts leben (3,8); er lebt nach vorne hin. Heiliger Geist bringt also nicht religiöse Sättigung, sondern Hungern und Dür­ sten nach der Vollendung (Röm 8,23-27). Das bleibt nicht ein bloßer frommer 26 Gedanke. Die Nähe der Erfüllung bestimmt sein Leben und das derer, die ihn hören (zu „C hristus des Herrn“ vgl. zu 9,20). Johannes wird nach der Ankündigung im 27 Tempel in die Verborgenheit (1,24) und die Wüste geführt (1,80), Jesus nach der Ankündigung in der galiläischen Kleinstadt zur Königsstadt Betlehem und in den Tempel von Jerusalem. Die Darstellung selbst wird nicht geschildert. Nicht daß 28 Menschen Jesus vor Gott bringen, ist entscheidend, sondern daß Gott durch seinen Propheten nach ihm greift. V. 29-32 werden seit dem 5. Jh. im Abendgottesdienst als 29 Dankgebet verwendet. Simeon redet „seinen Herrn“ mit einem Ausdruck an, den der Sklave verwendet (auch Apg 4,24; Offb 6,10). Er ist bereit, „in Frieden zu scheiden“ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 2,29-38: Zeichen des Widerspruchs

(Apg 15,33). Ps4,9 mag nachklingen (LXX: „In Frieden werde ich schlafen ... auf Hoffnung hin läßest du mich, Herr, wohnen“). Das ist freilich nicht nur persönliche Todessehnsucht wie 1. Mose 46,30; Tob 11,9 oder gar Ausdruck der Verzweiflung wie l.Kön 19,4; Jos., Krieg 1,78 f.; Altert. 13,311 f. Simeon hat in seinem Leben viel gesehen, Heil und Unheil. Jetzt darf er Heil sehen, das nicht nur ihm persönlich gilt. Anders als in V.32a ist das Wort gewählt, das sonst im Singular das Gottesvolk bezeichnet (s. zu 2,10). „Alle Völker“ muß aber die Heiden (und Israel?) meinen wie Jes 55,5; 60,5; 61,9 (Apg 4,25.27 freilich auf Israel bezogen). Sie sind, wie V.32 beweist, nicht nur Zuschauer (wie Jes 52,10; Ps 98,1-3) und werden sogar vor Israel genannt. Israels „Glanz“ besteht gerade darin, daß aus ihm das Licht für alle Welt kommt,(Jes 49,6; 42,6; 60,1-3; vgl. Lk 3,6). Seine Sonderrolle als des ersten er­ wählten Volkes ist ebenso festgehalten wie die uneingeschränkte Ausweitung des Heils auf alle. Auch hier wird von den Eltern nur das Staunen ausgesagt, Maria aber besonders herausgehoben (s. zu 2,19 Einl.). Anders als der Lobpreis Gottes (V.2833) gilt die Botschaft (34 f.) nur ihr. Ist gemeint, daß einige fallen, andere aufgerich­ tet werden? So sind Jes 8,14f. und 28,16 schon Röm 9,33; l.Petr 2,6-8 (vgl. l QH 2,8f.; 3,9f.; 4,34-36; 1 QM 14,10f.) zusammengestellt: der Grundstein für die Glaubenden wird anderen zum Stein des Anstoßes (vgl. aber zu 20,18). Gewiß ist auch an „Widerspruch“ und Scheidung gedacht. Aber nur Darniederliegende kön­ nen aufgerichtet werden, und an allen alttestamentlichen Stellen, die beides aussa­ gen, sind es immer dieselben, die fallen und aufstehen oder auch nicht mehr aufste­ hen (negativ Am 5,2; 8,14; Jes 24, 20, positiv Spr 24,16: „Siebenmal fällt der Fromme und steht wieder auf“; besonders Mi 7,7-9: „Wenn ich falle, ich stehe wieder auf; wenn ich in Finsternis sitze, Jahwe ist mein Licht“; vgl. Pred 4, 10). „Vie­ len“, d.h. allen, die das wirklich hören können, wird Fall und Aufrichtung zuteil werden, Gericht und Gnade (ähnlich Röm l,17f.). Gottes Gnade enthüllt immer auch als Gericht den Menschen als den, der er ist (l.Kor 14,25). Darum ist das Kom­ men der „Tröstung“ auch dem Schwerte gleich, das durch ganze Länder fährt (Ez 14,17 LXX und Sib. 3, 316; vgl. Ijob 20,25). Es wird Schmerz bereiten, vielleicht auch (wie Hebr 4,12) die Gedanken scheiden, so daß Maria „zwei-seelig“ (Jak 1,8 = „zweifelnd“) wird (8,19-21; ll,27f.). Segnung ist nicht Vermittlung von An­ nehmlichkeiten. Sie stellt in die Gegenwart Gottes, also in Gericht und Gnade. Ne­ ben den Lobpreis des Mannes (V.28) tritt der „entsprechende Lobpreis“ (so V.38 wörtlich) der Frau (s. zu 8,3). Hanna bleibt im Witwenstand wie Judit. Nimmt man Heirat mit vierzehn Jahren an wie üblich und bezieht die 84 (= sieben mal zwölf) Jahre auf die Witwenschaft, kommt man sogar auf dasselbe Alter (Jdt. 16,23 f.). Ihr Dienst der Fürbitte ist auch Vorbild für den christlichen Witwenstand (1. Tim 5,5), für den aber Verzicht auf zweite Heirat nicht Gesetz ist (l.Kor 7,7-9). Wieder wird ihr Offensein auf die Zukunft hin sichtbar, aus dem heraus ihre Verkündigung auf­ bricht. Ein Kreis von „Zionswächtern“ (Ps 130,5-8; Jes 52,8-10) schart sich um sie. Israel und die Völker (vgl. A. nach 21,24). Nach 2,31 f. treten die Völker nicht an die Stelle Israels, sondern mit ihrem Herzuströmen (1.3,29) erreicht dieses die ihm von Gott zugedachte Herrlichkeit (2,32). Dem entspricht die Verwurzelung der Johannes- und Jesusgeschichten in der Gesetzes- und Tempelfrömmigkeit Israels. Es © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Israel und die Völker

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ist freilich nicht die Frömmigkeit der Besitzenden. Ein kinderloses Ehepaar, ein Pro­ phet und eine Prophetin warten auf ihre und Israels „Tröstung“ und die „Erlösung Jerusalems“. Zacharias verstummt (1,20), und Jesu Eltern verstehen nicht (2,33. 50). Der, der beide Traditionen verknüpft hat, sieht in derr beiden Frauen ein Offen­ bleiben auf das kommende Handeln Gottes hin (1,41—45; vgl. 76-79), erst recht Lukas (2,19.51). Von einer Scheidung in Israel wissen auch 2,34f., Q mit dem Buß­ ruf an Israel, das sich sicher fühlt und von den Völkern beschämt werden wird (3,79; 13,28f.), und die Tradition hinter Lk 4,24-27 (vgl. auch zu 7,1-10). Nach Apg 13,46; 18,6; 20,26; 28,28 wendet sich Paulus nach dem Mißerfolg bei den Juden den Heiden zu, aber nach Massenbekehrungen gerade der Jerusalemer Juden (vgl. A. nach 21,24). Doch ist Heidenmission schon Lk 24,47 genannt (vgl. Apg 1,6/ 8; 2,39; 3,25) und Apg 10,20 vom Herrn geboten. Vom „Heil“ für die Völker reden Lk 2,30-32; 3,6; Apg 28,28. Weder führt also erst die Verstockung Israels zur Hei­ denmission noch umgekehrt (vgl. noch zu 8,39). Lukas nennt darum die Gemeinde Jesu nie das neue oder geistliche Israel (für Paulus vgl. zu l.Kor 10,18; Gal 6,16), und kaum je „Volk“ (Gottes, s. zu 2,10). So gründet Jesus (anders als nach Mt 16,18) auch keine „Kirche“; das Wort kommt Apg 5,11 zum erstenmal für die an Jesus glaubenden Juden vor. Auch Paulus ist Lehrer Israels, der pharisäisch gebil­ det, gesetzeskundig und bibelgläubig nur die Hoffnung Israels verkündet, die sich in der Auferstehung Jesu zu erfüllen begonnen hat (Apg 22,3; 23,6; 26,5-7; 28,20; vgl. Petrus in 4,2). Die Gemeinden wurzeln in den Synagogen (Apg 15,21) und bil­ den sich aus Juden und heidnischen „Gottcsfürchtigen“, die Mose richtig verstehen (13,14-43 usw.; vgl. zu Lk 4,44). Die Tradition von Lk 2,35 und 13,28f. wirkt also auch bei Lukas nach (vgl. zu 4,23). Von Jerusalem aus ziehen die Boten zu den Völ­ kern (Lk 24,47; Apg 1,8; 3, 25f.; Röm 15,19f.). Andererseits ist die Weihnachtsgeschichtc von damaligen hellenistischen Erwar­ tungen gefärbt, die ihrerseits auf uralte vorderorientalische Hoffnungen zurückge­ hen (in H. Wildbergers Kommentar zu Jes 8,23-9,6 und 11,1-10). Doch sind nach vierhundert Jahren griechischer, ägyptischer, syrischer, römischer Herrschaft über Palästina beide Kulturen schwer zu scheiden. Seit Dan 9,24 erwartet man nach sieb­ zig „Wochen“, also siebzig mal sieben „Tagen“ die Frlösung (vgl. auch zu Lk 3,2338; Mt 1,1-17). Nach 3 ½ Perioden ist die Halbzeit erreicht (Dan 7,25; Offb 12,14 = 1260 Tage [11,3.6]; vgl. zu Lk 4,25). Daneben rechnete man auch mit zehn Wo­ chen (äth.Hen. 93; 91,12-17). Die Erwartung des Endes in nächster Nähe bezeugen zahlreiche Messiasgestalten (s. zu Apg 5,36 f.) und die Bibelauslegung in Qumran, die die Weissagung auf die damalige Zeit bezieht. Auch in der griechischen Welt brach eine fast unvorstellbare Hoffnung auf, die sich freilich besonders auf Augustus richtete und daher zur Zeit des Wirkens Jesu schon wieder am Abflauen war. Augu­ stus regierte 31 v.C hr. bis 14 n.C hr. als Alleinherrscher, schloß 29 v.C hr. den Kriegstempel und weihte 14 v.C hr. den Friedensaltar. Von Vergil wird er mit Er­ wartungen begrüßt, wie sie Jes 11,1-10 und in vorderorientalischen Texten erschei­ nen (NTD, Ergbd. 1, S. 161 f.), auf Inschriften als „Heiland“ (in der ebd. S. 148 zitierten freilich nur vermutet!) des „ganzen Menschengeschlechts“, der „aller Gebete erfüllt und übertrifft“ und mit seinen „Frohbotschaften“ die Welt verändert (so in Halikarnass und Priene). Die Überzeugung, daß man sich dem Ziel der gan© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 2,39-40: Rückkehr nach Nazaret

zen Geschichte Gottes mit Israel bzw. hellenistisch ausgedrückt einem turnusgemäß wieder anbrechenden goldenen Zeitalter näherte, war also damals weit verbreitet. Darum sieht Lukas in Jesu Geschick als ganzem die Erfüllung des Alten Testamen­ tes, nicht nur in einzelnen Schriftbeweisen (s. A. zu Mt 1,18-25). 39 Wie in 2,4 ist Nazaret (aufgrund lukanischer Redaktion?) Wohnort der Eltern 40 (anders Mt 2, 23). Jesu Entwicklung wird parallel zu 1,80 erzählt, aber ohne Erwäh­ nung eines Wachsens im Geist. Vom Geist geschaffen, ist er von Anfang an ganz von ihm bestimmt (s. zu 4,1). Der Tempel als Institution ist so fragwürdig wie die Kirche. Aber einem Israel, das nicht rückwärts lebt und sich nicht auf Vergangenes verläßt, sondern auf Gottes neues und überraschendes Handeln hin offen ist, wird sich dieses als Erfüllung des bisherigen erweisen und darum gerade im Tempel einsetzen (1,8 f.; 2,22.27.37). Die beiden Prophetengestalten wie die Eltern Jesu sind Zeichen für ein gutes „unerfüll­ tes“ Leben, das seine Sehnsucht nicht resignierend aufgibt oder durch eine „reli­ giöse“ Patentlösung überwindet, sondern sich ganz an Gottes Gnadenerfahrungen hält und gerade so nach dem Wirklichwerden seiner Gegenwart hungert und sie für die Zukunft erwartet. Dabei erfolgt dies völlig anders als erwartet. Sie ahnen darum etwas vom Schwert des Gerichtes, ohne das Gottes gutes Kommen unmöglich ist. Nur wer sich aus aller Verdrehung und Beschönigung lösen läßt, weiß, was Gnade und Eriede bedeutet. Das ist „Tröstung“ Israels. Darin wird alles, was Israel mit dem Wort seines Gottes durch Jahrhunderte hindurch erfahren hat, als Dienst an den Völkern sichtbar, der auch Israel seinen Sinn und seine Identität als „Licht der Völ­ ker“ (Jes 49,6) schenkt. Simeon zeigt, daß der Friede darin bestehen kann, daß einer ins Glied zurücktritt und Gott machen lassen darf. Paulus hat Gal 3,23; 4,4f. über Jesu Sein „unter dem Gesetz“ nachgedacht. Seine Antwort ist völlig anders als die lukanische. Er sieht das Gesetz als das, womit der Mensch sich sichern und vor Gott behaupten will (so Lk 18,11 f.!); die lukanische Vorgeschichte sieht darin die Freude des Gottesdienstes und die auf Gottes gnädiges Handeln hin offene Hoffnung. Nach Paulus wie Lukas werden also Menschen von sich selbst frei für das große Handeln Gottes - anders kann es ja den „Heiden“ nicht wohl werden bei den „Frommen“. Aber je nach dem Adressaten, der Gefahr, die ihm droht, und der Botschaft, deren er bedarf, muß das nach verschiedenen Seiten hin ausgelegt werden. Paulus denkt an den „Frommen“, der sich selbst sichern will, die lukanische Vorgeschichte an den von Gott schon Überwundenen, der sein „Aufstehen“ schon durch den „Fall“ hin­ durch erfahren hat (vgl. A. nach 21,24,b).

D Jesus, zu Hause bei Gott und den Menschen 2,41-52 Und seine Eltern wanderten jährlich nach Jerusalem zum Passafest. 42 Und als er zwölfjährig wurde und sie nach dem Brauch des Festes hinaufzogen 43und die Tage vollendet hatten, da blieb der Knabe Jesus, als sie zurückkehrten, in Jerusalem, und seine Eltern wußten es nicht, 44 da sie meinten, er sei bei den Rei­ segenossen. So zogen sie einen Tagemarsch hin und suchten ihn bei den Ver41

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D Lk 2,41-52: Analyse

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wandten und Bekannten 45 und kehrten, als sie ihn nicht gefunden, nach Jerusa­ lem zurück, ihn zu suchen. 46 Und es geschah nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel mitten unter den Lehrern sitzen und ihnen zuhören und sie fragen. 47 Alle aber, die ihn hörten, erstaunten über sein Verständnis und seine Antwor­ ten. 48 Und als sie ihn sahen, gerieten sie außer sich (vor Schreck), und seine Mut­ ter sprach zu ihm: Kind, was hast du uns so angetan? Siehe, dein Vater und ich suchen dich voller Schmerzen. 49 Und er sprach zu ihnen: Wieso suchtet ihr mich? Wußtet ihr nicht, daß ich in (der Welt) meines Vater sein muß? 50 Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen redete. 5I Und er ging mit ihnen und kam hinab nach Nazaret und ordnete sich ihnen unter. Und seine Mutter be­ wahrte alle Worte in ihrem Herzen. 52 Und Jesus machte Fortschritte in Weisheit und Alter und „Gunst bei Gott und Menschen“. Vers 52: 1. Sam 2.26.

Der Abschnitt verbindet das über Jesus Geweissagte mit dem, was ab Kap. 3 von seinem Wirken erzählt wird. Man kann ihn verschieden gliedern. Man kann die Entsprechungen sehen zwischen Reise nach und Rückkehr von Jerusalem (41 f./ 51 a), Jesu zurückbleiben ohne Wissen der Eltern und seiner ihnen unverständlichen Antwort (43/49f.), Suchen und Finden durch die Eltern und ihrer vorwurfsvollen Frage (44-46 a/48). Die Reihenfolge wäre dann abc-eba, und die Mitte bildete Jesu Verweilen bei den Lehrern Israels (46 b.47). Aber V.47 fällt aus dem Rahmen; in ihm sind plötzlich die Zuschauer Subjekt statt der Eltern (V. 46.48) und ist gegen V.46 b von Jesu Antworten die Rede (s.d.). Läßt man den Vers weg, ist der Aufbau klarer zu sehen. Auf die Einleitung, die Personen, Ort und Zeit einführt (V. 42), folgt das Problem, das durch die Aktion Jesu (sein zurückbleiben) ausgelöst wird und die Reaktion der Eltern (ihr Suchen und Finden) zur Folge hat (43-46 a), dann eine vorläufige Lösung in Jesu Aktion (seine fromme Lernbegierde), die wieder die Reak­ tion (die Vorwürfe der Eltern) hervorruft (46 b.48), schließlich wiederum durch Jesu Aktion (sein Wort) die endgültige Lösung mit der Reaktion der Eltern (ihrem Unver­ ständnis) in V. 49.50. Die Rückkehr bildet den Abschluß, in dem Jesus wiederum Subjekt ist wie in der Einleitung (51 a). Dann liegt der Schwerpunkt auf dem Wort Jesu, das seine Hoheit, und seinem Verhalten, das seine Unterordnung betont. Weil Gottessohnschaft und Weisheit zusammengehören (Weish. 2,13.18) und Jesus mehr als ein lernbegieriger Schüler ist, hat Lukas (?) V.47 eingefügt. V.51 a ist das übliche Ende einer Geschichte (Rückkehr auch 1,23.38.56; 2,20.39); V.51b korrigiert deutlich V.50; außerdem können „alle Worte“ sich nicht auf „das Wort“ (V.50) beziehen. Der Vers will also mit V.52 zusammen als (lukanischer) Abschluß der ganzen Kindheitsgeschichten verstanden werden und entspricht fast wörtlich 2,19. Das, wie auch die unlukanische Rede von jüdischen „Lehrern“ statt „Schriftgelehr­ ten, Gesetzeslehrern (oder -kundigen)“ zeigt, daß die Geschichte Lukas schon vorlag. An sich sollten die Männer - später auch Frauen und Kinder - zu den drei großen 41 Festen, Passa-, Wochen- und Laubhüttenfest, nach Jerusalem ziehen (2. Mose 34,23). Faktisch ist das oft, je nach Entfernung, nur einmal im Jahr oder sogar im Leben möglich. Das Passa (s. A. zu Mk 14,12-16), ursprünglich nomadisches Frühlings­ fest, bei dem das Blut Dämonen abwehrt, wurde durch die Erfahrung in Ägypten neu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 2,41-52: Jesus in der Welt seines Vaters

geprägt. Seither wird es betont als Fest des Unfertigen gefeiert, mit noch nicht gesal­ zenem und durchsäuertem Brot, in Samarien sogar stehend mit dem Wanderstab in den Händen. Es hat als Hauptfest Israel durch Jahrhunderte hindurch für Gottes noch kommendes Handeln offen gehalten. Lk 22,15-18 (s.d.). 28-30 versteht es erneut als Zeichen für das Unterwegssein der Gemeinde. Das zwölfte Jahr als früher Beginn weisen Handelns ist bei C yrus (Xenophon, C yr. 13,1), Epikur (Diogenes L. 10,14), Samuel (Jos., Altert. 5,348, vgl. Mose in 2,231 und Philo, Leben M.I 18-25), Salomo (I.[3.] Kön 2,12 LXX), Daniel und David (Ign. interpol. Mg.3,2.4) u.a. genannt. Mit dreizehn Jahren wird der jüdische Knabe zum „Sohn des Gebotes“, d.h. selbst verantwortlich für das Halten der Gebote. Es mag also daran gedacht sein, daß die Eltern Jesus in das Fest einführen wollen. Freilich sollten Kinder mitgenommen werden, sobald sie gehen oder sogar nur getragen werden können; doch gilt das wohl nur für Einwohner von Jerusalem. Von dort bis zur Grenze Galiläas sind es fast hundert Kilometer. Da ganze Dorfgenossenschaften zusammenziehen, ist Verwirrung leicht denkbar. Etwas vom Leiden Marias (V.35) zeichnet sich schon ab. Drei Tage sind eine runde Zahl; außerdem ist nicht gesagt, von wann an gerechnet wird. Der „Tempel“ ist nicht das Gebäude selbst, das nur den Priestern offensteht, sondern der äußere, Frauen noch zugängliche Vorhof. Er erscheint nicht als Ort des Kul­ tes, sondern der Lehre wie 19,47; 21,37f.; Apg 2-5. Anders als in obigen Beispie­ len ist Jesus Schüler, der auf dem Boden hockend die Gelehrten fragt, was bei einem zwölfjährigen schwerlich zu erwarten ist, aber doch dem gewohnten Schulbe­ trieb entspricht. V.47 versteht es anders und setzt die Weisheit seiner Antworten vielleicht in Gegensatz zu der wissenschaftlich erarbeiteten der Schriftgelehrten. Aber die Eltern freuen sich nicht über solche Weisheit; die Pointe ist eine ganz an­ dere. Die ungewohnte Wendung „dein Vater und ich“ bereitet Jesu Wort von seinem ganz anderen Vater vor. Nach Targ.Jon. zu 2. Mose 15,2 riefen schon die Säuglinge nach der Rettung im Roten Meer „unseren Gott (oder Vater?)“ an. Das erste Wort Jesu bei Lukas ist Hinweis auf den, der über ihm steht und mit dem er zugleich ver­ bunden ist wie mit keinem andern. Jesus „muß in den (so wörtlich) meines Vaters“ sein. Den Tempel wird er gleich verlassen. Sind Gottes Worte gemeint, die ihn von dorther begleiten? Daraus können iridische Rechte und Ordnungen Jesus nicht ausschließen. Dieses „Muß“ (vgl. 4,43; 9,22; 22,37) trennt Jesus von seinen Eltern. Daß sie das nicht wissen, ist für ihn verwunderlich. Im Gegensatz dazu wird Maria wie 2,19 geschildert (s.d.). So Gott entfremdet ist der Mensch, daß er mit allem anderen eher rechnet als mit der wirklichen und wirksamen Gegenwart Gottes in seinem Leben. Nur da oder dort leuchtet sie gewöhnlich auf, etwa im Leben des Gebetes. Die Fremdheit des von Jesus Gesagten wird dadurch verschärft, daß er seinen Anspruch nicht durch Wunder bekräftigt, sondern durch seine Einordnung in das Alltagsleben der Familie, wo er dreißig Jahre lang in den heute fast unvorstellbar engen und primitiven Verhältnissen eines orientalischen Kleinstädtchens lebt, in dem es außer dem Sabbat-Gottesdienst, dem Unterricht in der Synagoge und einem jährlichen Pilgerzug keine Abwechslung gibt. Das ist Wachsen an „Weisheit und Gnade (oder: Gunst)“ (s. zu 2,40). Offenbar ist das auch ohne Betriebsamkeit und höhere Schule möglich, wo Gott für sein Wirken Zeit gegeben wird. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 2,41-52: Gottes Sohn -Sohn menschlicher Eltern

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Die einzige neutestamentliche Geschichte aus der Jugend Jesu ist keine Jugendge­ schichte. Sie schildert nicht seine Entwicklung, die Wurzeln seines Wirkens in Ju­ genderlebnissen, den Beginn späterer Begabung (höchstens V.47). Im Gegenteil, Jesus weiß von Anfang an, wer sein Vater ist. Der wahre Jesus ist also gerade nicht „unser“ Jesus, der, den wir erklären und begreifen können. Sein Auftreten als Geset­ zesschüler in Jerusalem könnte ihn höchstens als Frühreifen charakterisieren. Was es aber wirklich bedeutet, sagt nur sein Wort aus. Das erweist er seltsamerweise in einer, ihn von anderen Menschen nicht trennenden Einordnung, hier in sein Eltern­ haus, aber auch in die Geschichte Israels und seines Tempels. Daß sie über alles menschlich Denkbare hinausgehen wird, wird die Passion zeigen. Gang nach Jeru­ salem und Lehren im Haus des Vaters wiederholen sich in 9,51; 21,37-38 (vgl. „Passa“ 22,15, „suchen“, „drei Tage“ 24,5.7). Die Christusverkündigung der Vorgeschichte a) Der Aufbau von Lk 1 f. zeigt eine bestimmte Bewegung. Sie setzt bei der Fröm­ migkeit Israels und der Ansage der Geburt des Johannes als des unerwarteten Han­ delns Gottes ein und läuft auf die sie überbietende Ankündigung Jesu hin. Wiederum in Uberbietung der Johannesgeschichte folgen Jesu Geburt und die Verkündigung der Engel, der Hirten und der Propheten, die sie als endzeitliches Handeln Gottes verstehen lassen. Ein Ubergangsabschnitt läßt das Geheimnis der Gottessohnschaft Jesu schon anklingen und leitet so zu seinem Wirken über. Man kann für 1,5-2,39 siebzig Wochen zählen (6 + 9 Monate + 40 Tage), was Dan 9,24 (s. A. nach 2,38) entspräche; da aber nie darauf hingewiesen wird, die vierzig Tage bis zur Reinigung (nicht aber bis zur Auslösung der Erstgeburt: 2. Mose 22, 29; 34,20; 4. Mose 18,15f.) auch nur aus 3. Mose 12 zu errechnen sind, wird das Zufall sein. b) Schon der Griff nach der Täufertradition ist unerhört: der Vorläufer Gottes (1,16 f.) wird zum Vorläufer Jesu. Gottes endgültiges Kommen wird also im Kom­ men Jesu gesehen. Hier werden nicht nur Texte auf Jesus hin ausgelegt, sondern ein irdisches Leben, das zeitlich mit dem Jesu verschränkt ist und noch in aller Erinne­ rung lebt. Auch die Propheten sind nicht Texte, sondern in Jerusalem lebende Zeit­ genossen. Es ist Gottes Handeln in einer irdischen Lebensgeschichte, das bei Jesus zur Vollendung kommt und die Endzeit anzeigt (vgl. Einl. zu 1,5-2,52, Ende und A. nach 4,30). Erstaunlich ist dabei, daß - gegen Mk, Joh, alle Briefe und Glaubenszu­ sammenfassungen (auch in Apg) - Kindheitsgeschichten erzählt werden. Das ent­ scheidende Heil besteht also im Geboren- (und Verkündet-)werden Jesu selbst. Na­ türlich wird sein späteres Wirken vorausgesetzt. Aber betont wird nur, daß sich darin das Schicksal Israels und der Völker entscheidet. Das ist verwandt mit Jes 9,6; 11,1 und hellenistischen Erwartungen (s. A. nach 2,38). Doch liegt das Heil nicht erst im späteren Wirken. So sehr ist der Mensch Gott entfremdet, daß schon die Tatsache, daß Gott wieder gegenwärtige Wirklichkeit wird, Heil bedeutet. So ver­ kündet es der Engel. Darum steht hier nicht der Erwachsene mit seinem Glaubens­ verhalten und seiner Lebensanschauung im Zentrum, sondern das Kleinkind, das vor allem passives Objekt des Geschehens ist. Darum ist auch das einzige Wort Jesu, das überliefert wird, das vom Vater, in dessen Welt hinein er gehört. Heil kommt also © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Christusbild der Kindheitsgeschichten

durch das Gericht, Aufstehen durch den Fall hindurch, wie auch das Unverständnis selbst der Eltern Jesu zeigt. Von einem sühnenden Handeln Gottes ist nichts ange­ deutet, außer man verstünde Sühne in so weitem Sinn, daß alles gerechte Handeln des Frommen als Sühne verstanden würde (Sir. 32,1-7). Aber auch das träfe ja höch­ stens auf Jesu Eltern, die Eltern des Täufers und die prophetischen Gestalten in Jeru­ salem zu, nicht auf das Jesuskind. So besteht Versöhnung darin, daß Gott sich aus grundloser Liebe seinem Volk wieder zuwendet und es in Gericht und Gnade wieder zu seinem Volk macht. c) Das wird Lukas aufnehmen (s. A. nach 22,30). Anders als Joh 1,1-14; Gal 4,4f. (s. zu 1,26-38 Schl.) betonen Lk 1 f. nicht Jesu Kommen aus einer himmli­ schen Welt, sondern die Wiederherstellung des Bundes Gottes mit Israel, der zu seinem alles Bisherige überbietenden Ziel geführt wird. Von menschlicher Gerechtig­ keit und Frömmigkeit ist bei der Ankündigung Jesu nicht mehr die Rede, nur von seiner Gnade, zu der der Mensch erst hinterher glaubend ja sagen kann (1,38; vgl. 2,19). Sind die Eltern des Täufers noch ganz alttestamentlich geprägt, so liegt schon neutestamentliches Licht auf der Begnadigung Marias (s. zu 1,48) und auf dem von Jesus Gesagten. Einzigartig ist Jesus also nicht in dem Sinn, daß er wie ein Meteor in eine ihm völlig fremde Welt fällt. Gottes Leben, der heilige Geist, prägt schon die Lebensgeschichte Tausender von Menschen in Israel, was sich konzentriert noch einmal in Johannes erweist. Einzigartig ist Jesus darin, daß dieses Handeln Gottes in ihm sein Ziel findet, daß man ohne ihn nichts davon verstehen kann, weil er allem erst seinen Sinn gibt (vgl. zu 24,27). Im Verständnis des Lukas gilt das nicht bloß für Israel, sondern sogar für die politischen Entscheidungen des römischen Kaisers (2,1— 5). Das erkennt freilich nur der Glaube. Ihn schafft sich Gott in Zacharias, Elisabeth und Maria, den Hirten und den Jerusalemer Propheten. Das Evangelium und die Apostelgeschichte werden weiter davon erzählen. Doch haben Glaubende in Israel immer gewußt, daß seine ganze Geschichte nur von der Zukunft Gottes her, Auszug und Wüstenwanderung nur vom Einzug ins gelobte Land her, Leiden und Verfol­ gung nur vom kommenden Gottesreich her verständlich sind. Vielleicht weiß darum auch das heutige nichtchristliche Judentum auf Grund seiner Erfahrungen noch besser darum als eine selbstgenügsame C hristenheit, der manchmal weder ihre Her­ kunft aus dieser Geschichte Gottes wichtig ist noch das, was Gott mit ihr in Zukunft noch vorhat.

II. Sammlung der Gemeinde 3,1-9,50 A Auftreten und Verkündigung des Täufers und Jesu: die Vorbereitung 3,1-4,30 Mit 3, 1/23 a setzt das Wirken der Herangewachsenen ein. Wieder ist die Ge­ schichte des Täufers mit der Jesu verschränkt. 1,80 setzt sich über 2,1-52 hinweg in 3,3 fort, 2,40 über 3,1-20 hinweg in 3,21 f. (vgl. zu 3,19f.). Berufung, Verkündi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

II Lk 3,1-9,50 - A Lk 3,1—4,30: Überblick

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gung und Verhaftung des Täufers stehen parallel zu 3,21 f.; 4,16-27.28-30. Daher rechnet man 4,14-30 besser zum vorbereitenden Abschnitt. Dann wird die Parallele zwischen der Einführung des Täufers durch Jes 40,3-5 und der Jesu durch Jes 61,1 f. klar, ebenso die Hervorhebung des Geistes in 3,22; 4,1.14.18. Man könnte die Zäsur erst beim Übergang nach Judäa (4,44) setzen (vgl. 23,5; Apg 10,37), beson­ ders da 4,31—43 Gegenbild zu 16-30 ist und 4,43 V. 18 wieder aufnimmt. Galiläa wäre dann durch Nazaret (16-30) und Kafarnaum (31-43) repräsentiert. Doch ist 4,38 f. deutlich Vorbereitung für 5,1-11, und 4,31 b beginnt das allgemeine Wirken Jesu. Auch wird 4,31-43 der Aufbau von Mk 1,21-39 aufgenommen, während 3,1 - 4,30 Q folgt; ergänzt durch S (3,10-14.23-38; 4,16-30) und beeinflußt durch Mk (3,3.16 [19f.] 21 f.; 4,16-30). Einleitung (3,1 f.), Zitatergänzung (3,5f.), Rah­ men (3,15.18-20) wird Lukas selbst gebildet haben, während 4, 14-31 a wahr­ scheinlich Sondertradition vorliegt. Die Begabung mit dem Geist 3,22 wird 4,1.14. 18 wieder aufgenommen. Wenn Lukas Kap. 1 f. erst nachträglich vorangestellt hätte, wäre 3,1 f. ein gewichtiger Anfang gewesen, der auch Apg 1,1 und 10,37 entspräche, und wäre der Stammbaum Jesu seiner ersten Nennung sofort gefolgt. Doch wollen 3,1 f. eher die für Jesu Wirken wichtigen Verhältnisse in Palästina schildern, und der Stammbaum ist dann an die Gottesstimme „Du bist mein Sohn“ angeschlossen, so daß beide Abschnitte Menschlichkeit und Göttlichkeit Jesu betonen. Der Wegbereiter 3,1-6, vgl. Mk 1,2-6; Mt 3 , l - 6 1 Im fünfzehnten Jahr aber der Regierung des Kaisers Tiberius, als Pontius Pilatus Statthalter über Judäa und Herodes Vierfürst über Galiläa war, sein Bru­ der Philippus aber über Ituräa und Trachonitis und Lysanias über Abilene, 2 un­ ter dem Hohenpriester Hannas und Kaijafas, da erging das Wort des Herrn an Johannes, den Sohn des 2acharias, in der Wüste. 3 Und er kam in die ganze Um­ gebung des Jordans, als Künder einer Bußtaufe zur Sündenvergebung, 4 wie ge­ schrieben steht im Buch der Worte Jesaias des Propheten: „Die Stimme eines Rufenden in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn; macht seine Pfade gerade. 5 Jede Schlucht wird aufgefüllt und jeder Berg und Hügel eingeebnet werden, und es wird das Krumme gerade und die rauhen zu ebenen Wegen werden, 6 und sehen wird alles Fleisch das Heil Gottes.“

Vers 4-6: Jes 40,3-6.

Der Abschnitt setzt mit der geschichtlichen Situation ein. Je nachdem man die 1 Regentschaft des Tiberius mit Augustus zusammen mitzählt oder nicht und römische oder orientalische Jahreseinteilung annimmt, kommt man auf Ende 26 bis Anfang 29 n. Chr. Judäa und Samaria sind seit 6 n. Chr. römisch, die übrigen drei der ur­ sprünglich vier „Fürsten“ regieren einigermaßen selbständig unter Roms Führung. Hannas ist 14/15 n.C hr. abgesetzt worden, spielte aber weiterhin eine wichtige 2 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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4.5 3

2

3 4 5

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Lk 3 , 1 - 6 : Gottes Einbruch

Rolle und mag seinen Titel beibehalten haben (ähnlich Jos., Leben 38). Lukas weiß, daß es nur einen Hohenpriester gibt, und schreibt darum den Singular „unter dem Hohenpriester“; nach Apg 4,6 scheint er Hannas als den eigentlichen Träger dieses Amtes anzusehen, nicht Kaiafas, der es legal innehat. Auf Augustus, einst als Bringer des Paradieses begrüßt, ist der griesgrämige, mißtrauische Tiberius gefolgt, und römische Truppen haben das heilige Land besetzt. Die Heiligkeit des Hohenpriester­ tums ist geschwunden, die Römer setzten ab und ein, wie es ihnen politisch paßte. Eben da ereignete sich, was nach der langen Einleitung in äußerster Knappheit for­ muliert ist: „Wort Gottes geschah“, und zwar konkret „an (oder: über) Johannes“ (so wörtlich). Es ist also nicht einfach tradierbare Lehre. Auf eine wiederum knappe Beschreibung der Verkündigung des Johannes folgt ein langes Jesaja-Zitat. Einfüh­ rung und Verlängerung sind neu. Wie Mt 3,3 bringt Lukas es erst nach dem Hinweis auf die Verkündigung und die Mk 1,2 zitierte Stelle erst 7,27 (Mt 11,10). Auch erwähnt er „die ganze Umgebung des Jordans“ (Mt 3,5), vielleicht auf Grund von Q (vgl. zu Mt 3,11 f. und 4,1-11 Einl.). Theologisch unterstreicht er Gottes Einbruch in die Weltgeschichte und die Erfüllung seiner Verheißungen. „Kam“ bezeichnet vielleicht die Herkunft von Gott wie 7,33. Gottes Wort ergeht an den schon im Mutterleibe Berufenen (1,15) wie einst an Jeremia (1,1-5; vgl. Hosea 1,1 mit Zeit­ angabe und Vatername). Wie das geschah, wird nicht näher beschrieben. Auch die asketische Lebensweise des Johannes, 1,15; 7,25 vorausgesetzt, ist nicht mehr er­ wähnt. Ja, nach Lukas verläßt Johannes die Wüste, in der er früher war, und wan­ dert in die Jordangegend (ähnlich Joh 1,28; 3,22f.; anders Mt3,5; 11,7); die „Stimme in der Wüste“ (V.4) ist also Gottes Ruf an (und dann durch) ihn. Das „Einebnen“ [„Erniedrigen“] versteht Lukas vielleicht geistlich (18,14 steht das Wort in der gleichen Form, vgl. 1,51-53 und Apg 2,40): In der Heilszeit kann sich keiner mehr vor Gott groß machen, bleibt aber auch keiner in der Tiefe liegen (vgl. zu 6,20-26). Der letzte Satz spricht das Heil (so nur LXX) „allem Fleisch“, also auch den Völkern zu (2,31 f.; Apg 28,28). Die Frohbotschaft des Täufers 3,7-20, vgl. Mk 1,7-8; 6,17-18; Mt 3,7-12; 14,3-4 7 Er

sagte aber der Menge, die herauskam, sich von ihm taufen zu lassen: Ihr Otternbrut, wer hat euch gewiesen, dem künftigen Zorn zu entfliehen? 8 Bringt nun Früchte, die der Umkehr würdig sind. Und beginnt nur nicht bei euch zu sagen: Wir haben Abraham zum Vater; denn ich sage euch: Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken. 9 Aber schon ist auch die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt; nun wird jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, abgehauen und ins Feuer geworfen. l0 Und es fragte ihn die Menge: Was sollen wir tun? 11Er aber antwortete und sagte ihnen: Wer zwei Untergewänder hat, der teile mit dem, der keines hat, und wer Speise hat, tue gleichermaßen. 12Es kamen aber auch 2öllner, sich taufen zu lassen, und sprachen zu ihm: Lehrer, was sollen wir tun? 13 Er aber sprach zu ihnen: Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist. l4 Es fragten ihn aber auch Soldaten und sagten: Und wir, was sollen wir tun? Und er sprach zu ihnen: Mißhandelt niemanden und erpreßt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 3,7-20: Analyse

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niemanden und laßt euch an eurem Solde genügen. 15 Da das Volk und alle in ihren Herzen sich über Johannes Gedanken machten, ob er nicht etwa der Mes­ sias sei, l6 antwortete Johannes und sagte zu allen: Ich taufe euch mit Wasser; es kommt aber der, der stärker ist als ich, dem auch nur die Schuhriemen zu lösen ich nicht genug bin. Er wird euch in heiligem Geist und Feuer taufen. 17Er hat seine Wurfschaufel zur Hand, seine Tenne zu säubern und den Weizen in seine Scheuer zu sammeln; die Spreu aber wird er verbrennen mit unauslöschlichem Feuer. l8 So verkündete er auch mit vielen anderen Mahnungen dem Volk die Frohbotschaft. l9 Herodes, der Vierfürst, von ihm zurechtgewiesen wegen Hero­ dias, der Frau seines Bruders, und alles Bösen, das Herodes getan hatte, 20 fügte auch das noch allem hinzu, daß er Johannes ins Gefängnis sperrte. Aus der in Q überlieferten Warnung vor Sicherheit (V.7-9), der Sondertradition von Weisungen an verschiedene Menschengruppen (V. 10—14) und der auch bei Mk und Q stehenden Ankündigung des Kommenden (V. 15-18) formt Lukas, gerahmt durch die Schilderung der Berufung (V. 1-6) und der Gefangennahme des Täufers (V. 19f.), eine umfassende Darstellung seiner prophetischen Predigt. Gegenüber Mk und Q baut er V. 15-20 aus durch Bemerkungen über falsche Messiaserwartungen des Volkes (V. 15) und über die Evangeliumsverkündigung des Täufers (V. 18), wor­ auf als Abschluß die Notiz von seiner Verhaftung folgt. Dadurch wird die Ankündi­ gung Jesu noch stärker von der Gerichtsdrohung in V.7-9 getrennt. Das Wort V. 16 hebt (ähnlich wie Mt 3,11 f.) Johannes und Jesus so voneinander ab, daß der Aus­ sage vom Wassertäufer Johannes am Anfang die vom Geisttäufer am Ende entgegen­ steht (V. 16 a/d), dazwischen aber umgekehrt Jesus als der kommende Stärkere vor seinem unwürdigen Diener Johannes genannt wird (16b/c). Für Lukas ist die Verkündigung des Johannes seine entscheidende Tat. Darin verkörpert er die alttestamentliche Prophetie, die weiß, daß es Gnade nicht ohne Gericht, Heil nicht ohne Umkehr, Vergebung nicht ohne Inanspruchnahme des menschlichen Willens gibt. Dabei hindern den Täufer weder Minderwertigkeitsge­ fühle gegenüber der offiziellen Theologenschar und dem Regenten noch geistliche Überlegenheit, die für Zöllner und Soldaten und ihre Nöte verschlossen wäre. V.7-9 7 stimmen fast wörtlich mit Mt 3,7-10 überein, sind aber an das ganze Volk (vgl. 1,17.77; Apg 13,24) gerichtet statt an Pharisäer und Sadduzäer (Mt 3,7). Sie wollen nicht harte Herzen für die Taufe weich machen, sondern sind an die schon zur Taufe Drängenden gerichtet: ihnen gilt die Warnung, sich nicht in der Illusion einer Siche­ rung durch Zugehörigkeit zu den „Gläubigen“ und Teilnahme am Sakrament zu wiegen (V.7-9), der Aufruf zu praktischen Konsequenzen (10-14) und der Hinweis auf den, der den heiligen Geist schenken wird (15-18). Lukas sieht also einerseits keinen „heiligen Rest“, der die Warnung nicht nötig hätte. Andererseits schließt er die Pharisäer nicht aus (vgl. zu 13,31). Er verkündet C hristus für „alles Fleisch“ (V.4-6). „Ich habe Abraham zum Vater“ genügt weder in der pharisäisch strengen 8 noch in der volkstümlich oberflächlichen Form. „Steine“ gehen sicher nicht zur Syn­ agoge oder Kirche, aber selbst sie könnte Gott aufwecken. Daß Israel Weizen, die Völker die Spreu seien (Bill. I 122), könnte sich als tödlicher Irrtum erweisen (vgl. das Bild Mal 4,1). Das illustriert Lukas in den Weisungen, die nur er überliefert © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 3,10-14: Umkehr im sozialen und polirischen Raum

10-14 (V. 10-14). Die „Früchte“ (V.8 im Plural, anders als Mattäus) finden sich bei den Zöllnern und Soldaten, die die Frommen abgeschrieben hatten. Dreimal wird Johannes gefragt (formal ähnlich Apk.M. 9; Adams 35; Apk.Esr. 11 7,4). Die erste Antwort stellt den Grund-satz auf, die zweite und dritte gehen diffe­ 12 renziert auf die besondere Situation ein. Nur von den Zöllnern ist, in der Mitte des Abschnittes,ausdrücklich gesagt, daß sie zurTaufe kamen und Johannes als „Lehrer“ anerkannten, weil sie die Umstrittensten waren (Mk 2,14-17; Mt 11,19; 21,31 f.; Lk 7,29; 15,1 f.). Menschen, denen ihr Tun nicht mehr selbstverständlich ist, aufstei­ 11 gende Fragen und klare Antworten gehören zum „Evangelium“ (V. 18). Die erste Weisung erinnert an die Radikalität der Bergpredigt, obwohl nicht an Weggabe von restlos allem gedacht ist (vgl. 6,29). Nicht einmal endgültiges Wegschenken ist ge­ nannt, sondern ein „Teilgeben“ an dem, was für beide ausreicht. Besitz ist nicht als Institution angegriffen, solange er nicht festgehalten wird, sondern dem andern, der ihn nötig hat, wie dem Besitzenden selbst zur Verfügung steht. Anders als in 1 QS 1,12 (und in entsprechenden modernen Wirtschaftssystemen) ist wichtig, daß dies freiwillig geschieht. Dies praktisch zu leben trotz nicht nur erquicklichen Erfah­ 12 rungen, ist freilich radikal genug. Es gibt aber die besondere Frage des Handelns 13 innerhalb eines Berufes und seiner Gesetzlichkeiten. Der Zoll wurde damals dem Meistbietenden verpachtet, der durch seine Angestellten, die „Zöllner“ (in Galiläa eher selbständige Kleinpächter), diese Summe und einiges für seinen Lebensunter­ halt herauspressen mußte. Dem Vater Vespasians wurde sogar in Kleinasien etwa zur Zeit des Wirkens Jesu ein Standbild errichtet: „Dem, der den Zoll gut (für die Besteuerten oder den Staat?) durchgeführt hat“. Daß er selbst dabei nicht zu kurz kam, zeigt seine darauf folgende Gründung einer Bank in der Schweiz (Sueton, Le­ ben VIII l,2f.)! Die Wende wird vom Umdenken des Einzelnen erwartet, nicht von einer Änderung des Zollwesens. Eine solche wäre damals undurchführbare Utopie geblieben. Für heutige europäische Zoll- oder Steuerbeamte ist Betrug schon wegen der Kontrolle keine große Versuchung. Im Lichte von V. 11 ist also darüber nachzu­ denken, ob „das Angeordnete“ noch gerecht oder eine Änderung des Systems not­ wendig sei. Sie wäre freilich nicht ohne Gesetz und Zwang durchführbar; doch blie­ ben auch dabei Initiative und Durchhalten einzelner Menschen entscheidend, die durch ihr Umdenken das Umdenken anderer anstreben. Darum genügt Reform des staatlichen Gesetzes oder kirchlichen Kultes (z.B. 1 QS 3,5f.) nicht. Evangelium zielt auf die Änderung der Herzen, die zu konkreten Änderungen in der Amtsführung wie zum Einsatz z.B. für neue Zoll- oder Steuersysteme führt, ohne daß diese mit dem vom Evangelium angebotenen Heil verwechselt werden dürfen (vgl. A. nach Mt 5 14 7). Denkt Lukas an nichtjüdische Soldaten, an jüdische Söldner des Herodes oder vor allem an Probleme in seiner Gemeinde? Die Antwort des Täufers stellt sie nicht vor die letzte, für sie praktisch nicht beurteilbare Frage, ob das ihnen Befohlene gerecht sei, fordert aber eine sehr spürbare Einschränkung. Auch hier muß heute von V. 11 her gefragt werden, ob ein Eroberungs- oder Verteidigungskrieg das Recht des ande­ ren mit Füßen tritt, also Wehrdienstverweigerung fordert, aber auch von V. 14 her, ob grundsätzliche Weigerung nicht dem Unrecht in seiner scheußlichsten totalitären oder terroristischen Gestalt alle Türen öffnet. Zu V. 15 s. unten (Schl.). 16 Das Täuferwort entspricht fast genau Mt 3,11 f., nur daß Lukas die Taufe „mit© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 3,15-20: Johannes - Zcuge für den „Stärkeren“

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tels“ Wasser von der „in“ heiligem Geist unterscheidet (vgl. zu V.22). Anders als Mt 3,12 scheint Reinigung und Sammlung schon jetzt zu erfolgen, nur das Verbren­ nen der Spreu erst in der Zukunft. Wie in 3,7 bildet darum das „Volk“ die Hörerschaft, und Johannes predigt „allen“. Die Scheidung steht noch aus. Der „Stärkere“ (gleicher Wortstamm 2.Thess 1,9; Offb5,12), der erst noch kommt, war für den Täufer der Bringer des Endgerichtes. Für Lukas ist er der in heiligem Geist Taufende (vor allem an Pfingsten Apg 1,5, doch auch 1 9 , 1 - 7 ) . Er führt freilich auch ins Ge­ richt; denn den Zusatz „und im Feuer“ läßt Lukas Apg 1,5; 11, 16 weg, bezieht ihn also nicht auf die Flammen des heiligen Geistes (Apg 2,3). Wo aber der Geist einen Menschen dazu fähig macht, Gottes Gericht über sich anzunehmen, da wandelt es sich in Segen. Die Verhaftung (Mk 6,17f.) nimmt Lukas vorweg, vielleicht um die Rolle Jesu von der des Johannes zu unterscheiden. Herodes steht voran und seine Untat, als Zusatz zu allen andern, am Ende; er ist auch 13,31 f.; 2 3 , 6 - 1 2 ; Apg 4,27 hervorgehoben. Daß Jesu Wirken erst nach Abschluß des Wirkens des Johannes einsetzte (auch Mk 1,14 = Mt 4,12), betont Lukas nicht. Daß Jesus „nach ihm“ (Mk 1,7 = Mt 3,11) gekommen sei, läßt V. 16 gerade weg; vielleicht weil die Wen­ dung oft den Nachfolger bezeichnet. 7,18 sagt nichts von der Gefangenschaft des Täufers, und 7,29f. läßt sogar an seine weitergehende Tauftätigkeit denken. Lukas schließt gern etwas ab, um dann, hier sogar mit neuer Zeitangabe, zu vorher Gesche­ henem überzugehen (8,37/38; 1,80/2,1; 21,12; 23,54/55f.; 24,51 b/Apg 1,9; Apg 11,18/19; vgl. Lk 9,51 und zu 3,1-4,30 Einl.). So bringt er auch die Notiz von der Verhaftung des Johannes hier, weil er seine Hinrichtung (die 9,7.9 voraussetzt) gar nicht erzählen wird (s. zu 2 0 , 9 - 1 9 Schl.). Außerdem betont dies den Vorläufercha­ rakter nicht nur seiner Verkündigung, sondern auch seines Lebens und Sterbens. Das war Lukas vielleicht auch willkommen, weil dadurch in der Schwebe bleibt, wer eigentlich die V. 21 nur in einem Nebensatz erwähnte Taufe Jesu vollzogen hat.

17 15 16

19.20

20

Umkehrtaufe und Bußrede fand Lukas schon in Mk 1,4 und Q. Er betont mit 7 - 9 V.5 f. den Heilscharakter schon dieser Verkündigung. Aber auch in V. 10-14 geht es 10-14 nicht um ein Übersoll auf dem besonderen Gebiet des Religiösen, das viele gar nicht leisten können (vgl. 18,12; Apg 15,10), aber auch nicht um ein moralisches Gesetz. Die Antwort auf die gleiche Frage „Was sollen wir tun?“ in Apg 2,37 f.; 16,30f.; 2 2 , 1 0 - 1 6 (hier durch Jesus) erfolgt zwar auch konkret, aber sehr anders als hier. Das zeigt, daß auch die klarste Weisung nicht davon entbindet, immer wieder neu zu fragen und um Antwort zu ringen. Die bloße Ausführung z. B. des Lk 3,13 f. Gebote­ nen wäre ja in einer staatlich gut kontrollierten Zollverwaltung und einem diszipli­ nierten Heer garantiert. Das soll keineswegs verachtet werden und ist vermutlich viel stärker Frucht des Evangeliums, als wir uns dessen bewußt sind. Aber es ist nicht identisch damit. Nur vom Evangelium getroffene Herzen bleiben ständig offen für das, was Gott auf der Linie des zunächst einmal konkret Geforderten über dieses hinaus erwartet. Darum ist unserem Text wichtiger als die praktische Weisung, daß Zöllner und Soldaten gerade dadurch, daß ihnen das Tun des Willens Gottes zuge­ mutet wird, wieder in die Gottesgemeinschaft zurückgeführt werden. Was der gebil­ dete Jude damals als Umgang mit schlechter Gesellschaft verspottete (Origenes, C el­ sus 1,62), ist tatsächlich Gottes Zuwendung zum Verachteten. Damit nimmt Johan© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 3,10-20: Evangelium im Berufsleben

nes mit seinem seelsorgerlichen Gespräch vorweg, was sich bei Jesus erfüllen wird (7,29f.; 15,1 f.): daß der Beruf den Menschen nicht verderben muß, so sehr dieser seinen Beruf verderben kann. Ähnliches geschieht in den Haustafeln (Kol 3,18—4,1 usw.), wo im Unterschied zu ihren griechischen Vorbildern nicht nur der männliche, erwachsene und freie Mensch auf sein Verhalten zu Frauen, Kindern und Sklaven hin angesprochen wird, sondern diese selbst in die Verantwortung gestellt und damit ernst genommen werden. So kommt Evangelium und damit Gottes Heil oft in der Form neuer Aufgaben, die einem Leben Verantwortung und damit Sinn geben. 15—20 Einerseits setzt Lukas den Täufer stärker von Jesus ab, weil sich unterdessen Gruppen gebildet haben, die ihn (messianisch?) verehren (V. 15; Apg 11,16; 13,25; 19,4; Joh 1,20). Er wird trotz seiner Funktion als Vorläufer (1,17; 7,27) nicht ein­ mal mit Elija verglichen. Mk 1,6; 9,11-13; Mt 11,14 fehlen, während Jesus Elija ähnelt (Lk 4,25-27; 7,12-16; 9,61; vgl. 8,55; 9,54; 10,4b; Apg 1,11b), vielleicht weil der wiederkommende Elija auch mit dem Messias gleichgesetzt wurde (s. zu 1,17.76). Obwohl Lukas Jesu Wirken gern prophetisch schildert, beschreiben beson­ ders Anfang und Ende des Evangeliums ihn als Messias. Lukas stellt beide darum nicht mehr als Boten der Weisheit nebeneinander, wie es Q (7,33-35) tut, vielleicht auch eine alte hinter Offb 11,3-14 stehende judenchristliche Tradition, die in ihnen die wiederkehrenden Propheten Elija und Mose (vgl. Apg 3,22; 7,38) sah. Anderer­ seits schließt gerade Lukas beide eng zusammen (vgl. 11,1). Beider Geburt ist „Evangelium“ (1,19; 2,10) und beide sind ihrerseits Künder des „Evangeliums“ (s. zu Mk 1,1 und A. nach Lk 4,30, Anfang) an „das ganze Volk“ Israel (1,80; 3,15; Apg 13,24; Lk 2,10; 6,17; 7,1; 24,19). Beide „evangelisieren“ (s. zu 1,19) das Volk (Akkusativ 3,18; 20,1; auch Apg 8,25; 14,21 usw.), Johannes als Prediger der Umkehr (3,3.8; Apg 13,24; 19,4), Jesus als der des Gottesreiches (Lk 4,43; vgl.Mk 1,14 f.). Die Vor-Verkündigung des Johannes gehört zum christlichen Be­ kenntnis (Apg 10,38; 13,24). Seine Taufe ist Beginn der christlichen Taufe; es folgt ja kein Taufbefehl wie Mt 28,19. Wie Johannes die Möglichkeit der Umkehr schenkt, die Vergebung bringt (3,3; 7,29 f.), so Jesus: 15,1 f.; Apg 5,31; 11,18 (Leben); 20,21 (Glauben). Jesus gilt auch als Prophet wie Johannes (4,24; 7,16.39; 13,33; 24,19; als der Prophet [s. zu 1,76] Apg 3,22f.; 7,35-37). 7,28 kann also nicht bedeuten, daß Johannes vom Gottesreich ausgeschlossen wäre (dagegen schon 13,28). Die Johannesjünger, die wohl eine Konkurrenz zur christlichen Gemeinde bildeten, beschreibt Apg 19,1-7 (vgl. 18,25) auch als (unvollkommene) Christen. So gehört Johannes schon als Anfang in die Heilszeit hinein (s. zu 16,16).

Der Gottessohn wird proklamiert: Jesu Taufe und Herkunft 3,21—38, vgl. Mk 1,911; Mt3,13-17; 1,1-17 Und es geschah bei der Taufe des ganzen Volkes, daß sich, als Jesus getauft worden war und betete, der Himmel öffnete 22 und def heilige Geist auf ihn her­ unterstieg in leiblicher Form wie eine Taube und eine Stimme aus dem Himmel erging: „Du bist mein lieber Sohn“, an dir fand ich Wohlgefallen. 23 Und er, Je21

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Lk 3,21-38: Analyse

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sus, war etwa dreißig Jahre alt, als er begann, Sohn, wie man annahm, des Josef, des Eli, 24 des Mattat, des Levi, des Melchi, des Jannai, des Josef, 25des Mattitja, des Arnos, des Nahum, des Hesli, des Naggai, 26 des Mahat, des Mattitja, des Sche­ maja, des Josech, des Joda, 27des Johanan, des Resa, des Serubbabel, des Scheal­ tiel, des Neri, 28 des Melchi, des Addi, des Kosam, des Elmadam, des Er, 29des Jesus, des Elieser, des Jorim, des Mattat, des Levi, 30des Simeon, des Juda, des Josef, des Jonam, des Elijakim, 31des Melea, des Menna, des Mattata, des Natan, des David, 32 des Isai, des Obed, des Boas, des Schelach, des Nachschon, 33des Amminadab, des Adim, des Arni, des Hezron, des Perez, des Juda, 34des Jakob, des Isaak, des Abraham, des Terach, des Nahor, 35 des Serug, des Regu, des Peleg, des Eber, des Schelag, 36des Kenan, des Arphaxad, des Sem, des Noa, des Lamech, i7 des Metuschelach, des Henoch, des Jered, des Mahalalel, des Kenan, 38 des Enosch, des Set, des Adam, Gottes. Vers 2 2 : Ps 2, 7; Jes 4 2 , 1 .

Nach längerer Einleitung, die im Satzbau Jesu Taufe von der des Volkes scheidet (vgl. zu V.20), kommen die drei entscheidenden Verben, welche Himmelsöffnung, Abstieg des Geistes und Ertönen der Gottesstimme „objektiv“ schildern (nicht mehr als Schauung Jesu, s. zu Mk 1,9-11) und in eine Proklamation auslaufen: „Du bist mein Sohn . . . “ . Wie Mt 3,16 spricht Lk 3,21 vom „Sich-Öffnen“ (nicht: „Aufspal­ ten“, Mk 1,10) des Himmels; das ist der Ausdruck der endzeitlichen Erwartungen (Ez 1,1; Jes 64,1; Test. Levi 18,6; s. zu Mk 1,9-11, Einl.). Ob dies und die Wendung vom Kommen des „heiligen“ (nicht in Mk) Geistes „auf“ ihn (= Mt 3,16) auf Q zurückgeht wie V. 16f., ist unsicher, obwohl Q (4,3) den Titel Gottessohn voraus­ setzt. Einige Handschriften (s. NTD 5, Einführung 7.2) lesen V. 22: „... ich habe dich heute gezeugt“ (wie Apg 13,33, wo aber „heute“ = Ostern ist!). Stammt dies aus Q und wurde wegen des Widerspruchs zu 1,35 an Mk 1,11 angeglichen? Aber keine andere Gruppe zeigt etwas von dieser Lesart. So haben eher (judenchristliche?) Ab­ schreiber umgekehrt an den Wortlaut des Königspsalms 2,7 angeglichen, um Jesu Königtum zu betonen; Ev.Eb.4 (judenchristlich) hat beide Lesarten nebeneinander. Der Stammbaum ist völlig anders als Mt 1,1-17 (s.d.). Nur zwischen David und Adam folgt er einigermaßen klar der Bibel, und zwar der griechischen, die allein Kenan kennt (V.36). zwischen Jesus und David sind fast alle unbekannt, einige tragen Namen von Erzvätern. Schon der Vater Josefs heißt anders als nach Mt 1,16. Die Folge Jesus - (zwei Namen) - Mattat-Levi (in einer afrikanischen Handschrift fehlend) - (zwei Namen) - Josef in V.23 f. wiederholt sich in 29 f.; außerdem folgt in 25 und 26 ein Mattitja, in 31 ein Mattata. Waren 23-26 und 29-31 einmal zwei Versionen der gleichen Generationen, die hier hintereinander eingeordnet wurden? Das erklärte, warum Lukas zweimal sieben Generationen mehr zählt als Matthäus. Der Geist erscheint „in leiblicher Form“. Darauf bezieht sich der Vergleich mit der 22 Taube („wie“!), schwerlich nur auf das „Schweben“. Lukas ist die leibhafte Wirk­ lichkeit des Geschehens wichtig; gewiß nicht die Einzelheiten, die sagenhaft ausge­ schmückt sein können, wohl aber der Beginn des Wirkens Jesu aus der Einheit mit Gott heraus. In noch ganz anderer Weise als in V.2 kommt hier das Wort Gottes zu Jesus und proklamiert ihn vor „allem Volk“ (V.21) als Gottessohn. Die Realität des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 3,21-38: Gottes Geist über dem Nachkommen Adams

Ereignisses des Geistes wird durch die vom Vater zum Sohn hin schwebende Taube bildhaft dargestellt wie später durch die Feuerflammen (Apg 2,3), die besondere Sprache des Geistes (2,4; 1 0 , 4 4 - 4 6 ; 19,6; wohl auch 8,17-19) oder das Erdbeben (4,31); doch unterscheidet der Gottesspruch die Stellung des „Sohnes“ zu Gott deutlich von der der Gemeinde. Dabei sind für Lukas nicht Dämonenaustreibungen und ähnliches wichtig, sondern das vom Geist geschenkte Zeugnis (s. zu 12,10-12 und 4 , 2 3 ; ferner Apg 1,8; 4 , 8 . 3 1 ; 6,10 usw.). Jesus selbst wird deutlich von Prophe­ ten oder Wundertätern abgehoben, die sich vom Geist einfach treiben lassen; er läßt bewußt den Geist wirken (s. zu 4,1 und 12,10; 2 1 , 1 5 ; vgl. 4,14; ferner zu 1,35; 2,40) und spendet ihn nach seiner Erhöhung der Gemeinde (24,49). Darum ist der Geist die Gabe Gottes (s. zu Lk 11,13), anders als im Judentum (und in 1,15.41.67; 2,25.27) der ganzen Gemeinde geschenkt (s. zu 3,16; 20,42; vgl. Apg2,38f.; 15,8f.; 19,2), verleiht aber nicht schon Glaubenserkenntnis (wie l . K o r 2 , 1 0 - 1 6 ) , sondern dem schon Glaubenden und schon Gehorsamen die Kraft, als solcher zu leben (Apg 2,38; 5,32 usw.). Daher geht oft das Gebet dem Geistempfang voraus (Apg 4 , 3 1 ; 9,9.11 f.; 13,1-3), auch hier bei Jesus (nicht in Mk 1,9; Mt 3,15; vgl. zu Lk 6,12). 3,21 f. sind eigentlich kein Bericht von der Taufe Jesu, sondern von Gottes Spruch und Handeln beim darauf folgenden Gebet; das Griechische beschreibt die schon vollendete Taufe und das noch andauernde Beten. Das erste, was vom Wirken des erwachsenen Jesus zu berichten ist, zeigt, wie er sich zum Empfang der Gnade und der Kraft Gottes öffnet (vgl. Apg l 0 , 3 7 f.). 23-28 Der Stammbaum beginnt: „Und er, Jesus, war . . . Sohn ...“ und schließt „ . . . Adams, (des Sohnes) Gottes“. Das zeigt, was für Lukas entscheidend ist. In diesem nach Alter und Herkunft als Mensch Beschriebenen, der Gottes Geschichte an Israel erfüllt, kommt die Gottessohnschaft Adams in ganz neuer Weise durch Gottes Geist zu ihrem Ziel und holt die gesamte Menschheit zu Gott zurück. Die dreißig Jahre finden sich auch 4.Mose 4 , 3 ; l.Mose 4 1 , 4 6 ; 2.Sam 5,4 (Ez 1,1); es braucht also nicht genaue biographische Zeitangabe zu sein. Von Jesus bis Schealtiel, dem ersten Mann im Exil, zurück zählt man dreimal sieben Generationen, ebenso von Neri, dem letzten in der Freiheit, bis David. Jesus beginnt so die siebte Folge von je sieben Ge­ nerationen seit David. Dazu kommen zweimal sieben Namen von David bis Abra­ ham und dreimal sieben von ihm bis zu Gott, dem Schöpfer Adams. Es sind also siebenundsiebzig Namen, so daß Jesus die zwölfte Generationenfolge beginnt, nach 4.Esra 14,11 die letzte der Weltgeschichte (vgl. A. nach 2,38, Ende). Lukas ist aber diese heilsgeschichtliche Gesetzmäßigkeit nicht mehr bewußt. Ihm ist nur die Linie wichtig, die von Gott, dem Vater Adams und damit aller Menschen (Apg 17,28 f.) zu Jesus hinläuft, dessen Solidarität mit der ganzen Menschheit damit angedeutet ist. Für Paulus ist C hristus der „letzte Adam“ ( R ö m 5 , 1 4 ; 1.Kor 15,22.45-49; vgl. Hebr 2,6f. l 7 f.); von dem vom Geist geschaffenen neuen Menschen sprechen Kol 3,10 (= C hristus?, vgl. Gal 3,27) und Eph 4,24 (vgl. Röm 6,4 und Apg 17,26. 31). Die Notiz von der Taufbewegung, die „das ganze Volk“ erfaßt, zeigt, daß nicht nur Einzelne auf das C hristusgeschehen hin zubereitet werden, sondern ganz Israel. Schon Markus redet vom Anbruch der neuen Zeit Gottes, in der sich der Himmel © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 4,1-13: Analyse

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öffnet und der Geist herniederfährt, um den Sohn Gottes zu proklamieren und in seinen Dienst zu rufen. Das bekommt noch größeres Gewicht durch das, was Lukas mit der Gabe des Geistes verbindet, und durch das, was der Stammbaum mit der Vorstellung vom neuen Adam (so auch Mk l,12f., s.d., aber nicht mehr Lk 4,1-13 Q) aussagt. Die Versuchung Jesu 4,1-13, vgl Mk 1,12 f.; Mt 4,1-11 1 Jesus aber, voll heiligen Geistes, kehrte vom Jordan zurück und ließ sich im Geist in der Wüste herumführen, 2 vierzig Tage lang, wobei er vom Teufel ver­ sucht wurde. Und er aß nichts in jenen Tagen, und als sie vollendet waren, hun­ gerte ihn. 3 Da sprach der Teufel zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, sprich zu diesem Stein, daß er Brot werde. 4 Und Jesus antwortete ihm: Es steht geschrie­ ben: „Nicht vom Brot allein lebt der Mensch“. 5 Und er führte ihn hinauf und zeigte ihm alle Reiche des Erdkreises in einem Augenblick. 6 Und der Teufel sprach zu ihm: Dir werde ich diese ganze Macht und ihre Herrlichkeit geben; denn mir ist sie gegeben und ich gebe sie, wem ich will. 7 Wenn du nun mich anbe­ test, wird sie ganz dir gehören. 8 Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Es steht geschrieben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen“. 9 Er führte ihn aber nach Jerusalem und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, wo wirf dich von hier hinab; 10 denn es steht geschrieben: „Er wird seinen Engeln Befehl geben deinetwegen, dich zu bewahren“, 11und „auf den Händen werden sie dich tragen, daß du dei­ nen Fuß nicht an einen Stein stößest“. 12Jesus antwortete und sprach zu ihm: Es ist gesagt: „Du sollst den Herrn deinen Gott nicht versuchen“. 13 Und als er alle Versuchung zu Ende gebracht hatte, stand der Teufel von ihm ab bis zu gelege­ ner Zeit. Vers 4.8.12:

5. Mose 8 , 3 ; 6 , 1 3 f. 16;

Vers 10 f.: Ps 9 1 , 11 f.

V. 1.2a sind von Lukas auf Grund von Mk 1,12 f. formuliert, alles andere ent­ spricht Matthäus (s.d., Einl.); nur sind zweite und dritte Versuchung umgestellt. In Qumran wurde ein messianischer Prophet, König und Priester erwartet und war der letztgenannte der höchste (1 QS 9,11; 4 Qtest 5-8; 1 QSa 2,11-22). Sollte Lukas die Versuchung nach diesem Schema verstanden haben? Aber V.2—4 laden doch nicht zu prophetischem Handeln ein; der Hinweis auf das Wort (Mt 4,4) fehlt sogar bei Lukas. Ebenso wenig spricht V.9 von einer priesterlichen Funktion, obwohl der Tempel erwähnt ist. So bliebe einzig V.6, der deutlich königliche Messianität im Blick hat; vgl. Bill. III 675: „Ich (Gott) will dir (dem messianischen König) die Güter der Völker als dein Eigentum geben und als deinen Besitz die Herrscher der Enden de r Erde“. Auch die jüdische Legende von Bileam, der als eindzeitlicher Gegner Gottes zum Himmel flog, aber vom Hohenpriester übertrumpft wurde (Targ. Jon. zu 4. Mose 31,8), hilft nicht weiter; denn daß Lukas im letzten Wunder eine Überwin­ dung des Antichrists sah, ist durch nichts angedeutet. Am ehesten hat er den Sprung vom Tempel ans Ende gerückt, weil Jesus dort daheim ist (2,49) und weil V. 12 zugleich als definitive Abweisung des Satans verstanden werden kann oder weil Jerusalem Ziel und Ende der Wirksamkeit Jesu ist. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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10.12

Lk 4,1-13: Anfechtung des Gott Gehorsamen

Das Verlassen des Jordans will kaum die Trennung vom Täufer unterstreichen, sondern nur den Übergang von der Taufe zur Versuchung. Auch die andern Evange­ lien (selbst Joh 3,23) erwähnen später den Jordan nie mehr, nur das Land „jenseits des Jordans“. Anders als Mk 1,12 (Mt 4,1) ist in V. 1 (wie 4,14; 10,21) Jesus Sub­ jekt und ist vom „heiligen“ Geist gesprochen (auch 3,22, s.d.). Jesus bestimmt sei­ nen Weg selbst, er lebt „im“ Geist, der auf ihn herabgestiegen ist (3,22), ihn ganz erfüllt (4,1), für sein Werk salbt und auf ihm ruht (4,18). Außerdem führt er Jesus „in der Wüste“ wie Gott sein Volk (5. Mose 8,2). Mk 1,12 (vgl. aber 13); Mt 4,1 schreiben: „in die Wüste“. So sehr die „Salbung“ mit Geist zur Heilung „aller vom Teufel Geknechteten“ führen kann (Apg 10,38), liegen Geistbesitz und Versuchung auch sehr nahe beieinander. Nach der Schrift sind gerade die von Gott Berufenen die Angefochtenen, weil sie zwischen ihrem Gott, von dem sie nicht loskommen, und der Welt, an deren Not sie mitleiden, hin- und hergerissen werden. Wie 2.Mose 34,28; 5. Mose 9,9 spricht Lukas vom „Nicht-essen“ (Mt 4,2: „Fasten“). Anders als Mt 4,3 denkt er sich wohl, daß der Teufel Jesus die ganzen vierzig Tage hindurch versuchte. Er vermeidet aber die Wendung, er sei an Jesus „herangetreten“ und (V.7) die Auf­ forderung, vor ihm „niederzufallen“ (Mt 4,3.9). Lukas weiß um die nicht mehr irdisch-menschliche Dimension dieser Begegnung. Die Verwandlung nur eines Brotes ist nicht Wiederholung des Manna-Wunders (Mt 4,3) oder gar eines Wunders des Antichrists (Apk.Esr. 4,27), sondern dient der Stillung des Hungers Jesu. Der Teufel variiert seine Angriffe. Im ersten und dritten Versuchungsgang stellt er Jesu Gottes­ sohnschaft in einem „Wenn-Satz“ zur Diskussion, um den Beweis dafür zu fordern und Erfolg in Aussicht zu stellen, V.10f. sogar in der Form eines Bibelwortes. Im zweiten Gang steht die Verheißung voran und wird (anders als Mt 4,9) die Macht des Teufels ausdrücklich festgestellt. Dann erst kommt die Bedingung, nochmals gefolgt von der Verheißung des Erfolges. Jesu Antwort besteht dagegen immer nur im schlichten Verweis auf das Bibelwort. Er benötigt keine Diplomatie. Der Teufel zeigt Jesus nicht (räumlich) von einem hohen Berg (Mt 4,8), sondern (zeitlich) „in einem Augenblick“ alle Reiche, wohl auch vergangene und künftige. Lukas betont also das Übermenschlich-Wunderhafte und läßt den Teufel erklären, ihm sei die Welt übergeben (Jer 27,6), was oberflächlich gesehen ja einleuchtet (vgl. Offb 13,2). Auch ist nicht nur von den Reichen (Mt 4,9), also der politischen Herrschaft, son­ dern von deren „Macht und Glanz“ die Rede, was vielleicht die Gefährlichkeit poli­ tischer wie kirchlicher Macht und Würde andeutet. Freilich so schlecht macht auch der lukanische Teufel die Erde nicht, daß er sich geradezu als deren Schöpfer auf­ spielte, wie spätere Gnostiker behaupteten. Die letzte Versuchung findet im Tempel statt. Aber kurz nachdem Jesus sich eindeutig Jerusalem zuwendet (9,51), wird der Satan stürzen (10,18, s.d.). Was wie sein Triumph aussieht, daß Jesus sich nicht durch ein sichtbares Wunder vor dem Kreuz rettet, wird seine endgültige Niederlage sein. So wird Jesus zum Tempel ziehen, wird dort seine Gemeinde weilen und wird der Aufbruch in die Völkerwelt beginnen (19,47; 21,37f.; 24,53; Apg 2,46; 5,42; 22,17-21; 26,20f.). Wie an diesen Stellen (und Lk 2,46; 18,10) steht der Tempel hier am Schluß eines Abschnittes als Hinweis auf Neues, das Gott vorhat. Daß der Satan, dessen Mißbrauch der Bibel für Jesus den rechten Gebrauch nicht aufhebt, Jesus „bis zu gelegener Zeit“ (typisch lukanisch) verläßt, heißt nicht, daß Jesu Leben © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 4,1-13: Jesus als Vorgänger seiner Nachfolger

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bis zur Passion unangefochtene Reichsgotteszeit wäre. Vers 22,3, wo der Satan (s. zu 8,12) in Judas fährt, ist traditionell (s.d.), hebt also kaum die lukanische Sicht be­ sonders hervor, und nach 22,28 haben die Jünger die „Versuchungen“ (Plural wie Apg 20,29) Jesu (z.B. im Kampf mit den Dämonen 9,41; 10,17; 11,14-22; 13,1117) geteilt. Freilich, Versuchung im Singular gibt es nur noch für die, die abfallen (8,13), nicht für Jünger (vgl. 22,40.46; 11,4). Auch hier steht die Versuchungsgeschichte am Anfang des Wirkens Jesu. Aber Lukas denkt weniger an messianische Schauwunder als an solche, in denen Jesus sich als wahren Menschen erweist (vgl. Taufe und Stammbaum vorher und den Hinweis auf Jerusalem und die Passion am Ende). Gewiß könnte nur er einen Stein in Brot wandeln; aber er gründet sein Verhalten auf Gebote, die allen gelten, und das Wun­ der der Engel, die ihm dienen (Mk 1,13; Mt 4,11) läßt Lukas weg. Dabei sind es nicht „böse“ Taten, die der Teufel vorschlägt, sondern gute, die aber nicht Gottes, sondern Jesu eigenen Ruhm mehren sollten. Beides ist gesagt: Jesus besteht die Ver­ suchung allen Menschen zugut - das wird am Kreuz zum Ziel kommen - , aber so auch als Vorbild für das Handeln seiner Nachfolger in den (ungleich geringeren) Versuchungen des Alltags - das wird in der Geschichte der Apostel und der Gemeinde zum Ziel kommen. So werden schon die Antworten des Evangeliums auf die zentralen Fragen angedeutet: Wer ist Jesus uns gegenüber? Wer sind wir ihm gegenüber? Wie dürfen wir von ihm und wie sollen wir hinter ihm her leben (vgl. A. nach 22,30)? Jesu programmatische Antrittspredigt 4,14-30, vgl. Mk 1,14.28.39; Mt 4,12; 9,26; Mk 6,1-6; Mt 13, 54-58 14 Und Jesus kehrte in der Kraft des Geistes nach Galiläa zurück, und Kunde ging von ihm aus im ganzen Umkreis, 15 und er lehrte in ihren Synagogen, von allen gepriesen. 16 Und er kam nach Nazara, wo er aufgezogen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbattag in die Synagoge und stand auf, um zu lesen. 17 Und es wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gegeben. Und als er es öffnete, fand er die Stelle, wo geschrieben war: 18 „Der Geist des Herrn ist auf mir, deswegen weil er mich gesalbt hat. Den Armen die Frohbotschaft zu verkündigen, hat er mich gesandt, Gefangenen Freilassung und Blinden Augenlicht [Wieder-Sehen] anzukündigen, Beschwerte in Freiheit zu entlassen, 19 anzukünden ein dem Herrn gefälliges Jahr. 20 Und er rollte das Buch zusammen, gab es dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. 21 Er begann aber zu ihnen zu reden: Heute ist diese Schrift vor [in] euren Ohren erfüllt worden. 22 Und alle legten 2eugnis ab über ihn und staunten über die Worte voll Anmut (oder: Gnade), die aus seinem Munde kamen und sagten: Ist dieser nicht Josefs Sohn? 23 Und er sprach zu ihnen: Jedenfalls werdet ihr mir dieses Wort sagen: Arzt, heile dich selbst! Was wir gehört haben, was in Kafarnaum geschehen ist, tue das

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Lk 4, 14-30: Analyse

auch hier in deiner Vaterstadt. 24 Er aber sprach: Amen, ich sage euch, kein Pro­ phet ist wohlgefällig in seiner Vaterstadt. 25 In Wahrheit sage ich euch: Viele Witwen waren in den Tagen Elijas in Israel, als der Himmel drei Jahre und sechs Monate lang verschlossen war, wie eine große Hungersnot über das ganze Land kam, 26 und zu keiner von ihnen wurde Elija geschickt als nach Sarepta in Sido­ nien zu einer verwitweten Frau. 27 Und viele Aussätzige waren in Israel unter dem Propheten Elischa und keiner von ihnen wurde geheilt als Naeman der Sy­ rer. 28 Und alle in der Synagoge wurden von Wut erfüllt, als sie das hörten, 29 standen auf und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn an einen Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt gebaut war, um ihn hinunterzustürzen. 30Er aber ging mitten durch sie und zog weg. Der Aufbau von V. 16-22 ist deutlich: „Und er erhob sich, und es wurde ihm gegeben ... und er öffnete ...“ (V. 16 f.) einerseits, „und er schloß ... und gab es zurück und setzte sich“ (V.20 a, in umgekehrter Reihenfolge) andererseits rahmen den alttestamentlichen Text (18 f.) ein, die Reaktion „aller“ (20b.22) umschließt das Wort Jesu (21). Dabei ist Jesu Tun als einmalige Handlung in aoristischen Sätzen beschrieben, die Reaktion des Volkes als andauernde in imperfektischen. In V. 16f. 20a ist Jesus, das Buch oder die Schrift Subjekt - daß es einen Synagogenvorsteher gab, erfährt man erst V.20 nebenbei - , in V.20b.22 ist Jesus der, auf den das Volk ausgerichtet ist. Hier ist also alles auf ihn und das Schriftwort konzentriert. Weni­ ger klar sind V.23-30: Auf den Einspruch des Volkes (23) folgen Jesu Antwort (24) und zwei alttestamentliche Beispiele (25-27); die Wut aller (28) führt zum Anschlag (29) und zu Jesu Rettung (30). Auch hier dominiert Jesus als Subjekt, er formuliert den Einwurf des Volkes und provoziert; doch sind V.25 und 27a die nicht geheilten Israeliten, V.27b der Heide, V.28 f. die Hörer Subjekt. Beidemal ist der Gegensatz zu Jesus betont. Von diesen im Aorist erzählten dramatischen Ereignissen wird dann in V.30b Jesu Wegziehen als dauernde Handlung abgehoben. V.24 (= Mk6,4; aber auch Joh4,44!) muß Lukas schon in fester Form gekannt haben; denn er meidet sonst „amen“. V.25-27 passen nicht recht, weil sie nicht mehr von der Vaterstadt, sondern vom Vaterland handeln. Die Verse entstammen vielleicht einer christlich­ schriftgelehrten Begründung der Heidenmission. V.28-30 sind ganz in lukanischem Stil geschrieben. Dem Einzug Jesu V. 16 entspricht sein Weggang (V.30). V.31 a setzt neu ein und begründet die Übersiedlung nach Kafarnaum (Mk 1,21) als Folge der Ablehnung in Nazarct (vgl. 2,39.51). Mt 4,13 (s.d.) läßt eine vorlukanische Erzählung von einer Abwendung Jesu von „Nazara“ zu den „Heiden“ in Kafarnaum vermuten (V. 16.24.31 a). Vielleicht begann die Vorlage schon V. 14f., da Lukas kaum „ihre Synagogen“ schriebe (s. zu V.44). Die vorlukanische Geschichte hätte dann in V.(14 f.) 16-22 das „Lehren“ Jesu (Mk 6,2) entfaltet und den Satz „Ist dieser nicht Josefs Sohn?“ als zustimmendes oder unentschiedenes Staunen verstanden, worauf Jesus in V. 25-27 die kritische Frage nach wirklichem Glauben stellte. Oder waren „bezeugen“ und „sich wundern“ einmal wie Mt 23,31; Joh 7,15 im feindli­ chen Sinn verstanden? V.23 ist ganz unerwartet und sprachlich lukanisch. Juden wie Griechen kennen dieses „Sprichwort“ (Bill., Euripides fr. 1071; C icero, ad Farn. IV 5,5). Daß der Heilszuspruch an die Armen sich in Wundern erfüllt, ist typisch für Lukas (s. zu 4,31-44 Einl.; 7,21). Lukas leitet damit schon zu den von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 4, 14-20: Jesus im Gottesdienst der Synagoge

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ihm aus der Tradition aufgenommenen und mit „wahrlich“ (seiner Übersetzung von „amen“) eingeleiteten V . 2 5 - 2 7 über. Das widerspricht freilich den M k 6 , 5 erzählten Heilungen in Nazaret. Für Lukas bricht der eigentliche Konflikt erst auf Grund der positiven Bewertung der Heiden aus, die schon Mt4,15 vorliegt. Sie gehört vermutlich zur Vorlage (vgl. zu 8,39). Ev. Tom. 31 lautet: „Nicht ist ein Prophet wohlgefällig (wie Lk4, 19.24) in seinem Vaterland, nicht heilt ein Arzt die, die ihn kennen.“ Das ist eine unlogische, sekundäre Angleichung, die schon von

Lukas abhängig ist. Lukas hat Mk 6 , 1 - 6 weggelassen, also bewußt diese andere Version dem Wirken Jesu vorangestellt. Wie der Täufer 3 , 4 - 9 mit ausführlichem Jesaja-Zitat eingeführt wurde, so jetzt Jesus. Der Predigt vom kommenden Gericht dort entspricht die von der Gnadenerfahrung hier (vgl. auch zu 3,1—4, 30). Dabei nimmt Lukas eine auf Jesu endzeitlich prophetisches Wirken (1 QS 9,11) ausgerichtete Tradition auf (V. 18.24. 2 5 - 2 7 . 2 9 ; vgl. zu 3 , 1 5 - 2 0 Schl.), aber so, daß die endzeitliche, alles wendende Er­ füllung durch die Predigt Jesu, seinen Hinweis auf die Heiden, den Anschlag auf ihn und seine wunderbare Rettung herausgehoben wird. Er wird angegriffen, weil er schon sein Wegziehen andeutet (anders Mk 6 , 1 - 6 ) . Wie die Geschichte durch Jesu „Aufstehen“ (dasselbe Wort wie „Auferstehen“) beginnt, so schließt sie durch das des Volkes gegen ihn. Damit ist sie Hinweis auf Jesu Schicksal, aber auch auf das der Apostel, wo positive Reaktion, Ablehnung, Gang zu den Heiden, Vertreibung ähn­ lich aufeinander folgen (Apg 13,45-50, vgl. 40f., ferner zu Lk 11,49 und A. nach 2 2 , 3 0 , b 2 ) . Mißerfolg beweist hier wie dort keineswegs Gottes Ohnmacht. Heilsge­ schichte schließt menschliche Rebellion und Gottes gnädige Führung in sich. Positive Auslegung von Jes 6 1 , l f. (im Hebräischen wohl ohne Blindenheilung) wie Verhei­ ßung für Heiden (vgl. zu 8,26) sind Lukas dabei beide wichtig. Der Geist, der Jesus in der Wüste geführt hat, führt ihn jetzt zu den Menschen. 14.15 Beides hat seine Zeit und beides kann Gottes Führung sein. Anders als der Täufer wartet Jesus nicht, bis Menschen zu ihm kommen. „In der Kraft des Geistes“ (s. zu 4,1) kehrt er nach Galiläa zurück (2,51!). Er und sein „Lehren“ sind in aller Munde, nicht die Ankündigung der Nähe des Gottesreiches (Mk 1, 15). Wie V. 16 zeigt, ist an den Gottesdienst, nicht an Schriftstudium in einem Sonderraum der Synagoge ge­ dacht. Da Opfer nur im Tempel in Jerusalem dargebracht werden durften, hat sich 16 die Synagoge mit ihrem reinen Wortgottesdienst vielleicht schon nach dem babyloni­ schen Exil, jedenfalls seit dem 3./2. Jh.v.Chr. durchgesetzt. Er hat das Überleben des Judentums nach der Tempelzerstörung ermöglicht. Er ist gerahmt durch Gebete und Segenssprüche, seine Mitte ist die zur Zeit Jesu wohl schon festgelegte Lesung aus dem Gesetz (in der Regel durch mehrere Vorleser), während die Prophetenlesung wohl noch frei wählbar ist. Der hebräische Text wird in die aramäische Volks­ sprache übersetzt und meist durch einen oder mehrere erklärt. Jeder Mann - Frauen sind nicht zugelassen - kann sich durch Aufstehen (auch l.Kor 14,30) dazu melden; doch wird das in der Regel vorher abgesprochen und jemand um diesen Dienst gebe­ ten (Apg 13,15). Zur Erklärung setzt man sich wieder (V.20). Jesu Eigeninitiative 20.16 zeigt die Besonderheit dieses Vorfalls. Alle sechs Sabbat-Geschichten (s. zu 1 3 , 1 0 17) führen bei Lukas zur Auseinandersetzung; gerade darum betont er mit einem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 4,16-22: Gottes Zeit - „heute“

Ausdruck der LXX (auch Apg 17,2) Jesu Gewohnheit, am Gottesdienst teilzuneh­ men, und weist damit alle Verachtung der regelmäßigen Routine der Verkündigung ab. Das entspricht der Frömmigkeit beider Elternpaare in 1,5-7 und 2, 22-24.27 b. Gott setzt mit seinem neuen Reden dort ein, wo man sein Wort erwarten darf, so unvollkommen und fraglich der Synagogen- wie der Kirchenbetrieb ist. Er bleibt sich und seinem Bund treu, und es ist das alte Wort Israels, das das neue anzeigt. Aber der Bruch wird sichtbar. Die Frage ist, ob Israel dieses alte Wort verstanden hat. Wahl der Buchrolle und vermutlich auch des Textes ist nicht Jesu Sache. „C hristus“ wird von Lukas nicht nur wie ein Name verwendet. Es heißt „der Gesalbte“; das wird hier erklärt (vgl. zu 4,1 und Apg4,27; 10,38). 4,43 und Apg 10,38 sprechen für die obige Übersetzung, obwohl man auch abgrenzen könnte: „... gesalbt hat, um ... Er hat mich gesandt, um . . . “ . Die Befreiung von Jes 61,1 f. (auch 1QH 18,14 und Barn. 14,9 zitiert) wird schon HQMelch mit dem Ausruf des Freijahres von 3. Mose 25,10; 5. Mose 15,2 verknüpft und von „Melchisedek“ erwartet, der zwar kaum ein Himmelswesen ist (11 Q Melch l0 f. reden von Gottes Gericht), wohl aber eine über dem König stehende (Zeile 5 f.), endzeitliche (4), geistgesalbte (18), von Engeln unterstützte (14), hohepriesterliche Gestalt. Jes 61,1 f. sind also schon end­ zeitlich-messianisch verstanden worden. Daß damals (26/27 n.C hr.?) noch ein Freijahr (V. 19; 3. Mose 25,10) gefeiert wurde, ist sehr unwahrscheinlich. Die Heilsverkündigung (der „Tag der Vergeltung“ in Jes 61,2 ist bewußt weggelassen) an die Armen paßt zu 6,20 und zur Sicht Jesu als Propheten (s. zu 3,15-20 Schl.). Der Einschub aus Jes 58,6 „Beschwerte in Freiheit (dasselbe Wort auch = Verge­ bung) zu entlassen“, den Jesus nicht im Text Jes 61,1 f. hätte finden können, ist Lukas wichtig. Jesus hat Vergebung und Freiheit gebracht (s. zu 24,47), nicht nur angekündigt. Das erste Wort, das wir vom erwachsenen Jesus hören, ist „heute“. Nach Mk 1,15 ist die „Zeit“ erfüllt, d.h. die Endzeit angebrochen, nach Lk 4,21 die Schrift, und zwar an einem bestimmten Tag, auf den man zurückschauen kann. Ist das besondere Gottesgeschehen also auf die Jahre des Lebens Jesu be­ schränkt, d.h. nicht „end-zeitlich“, sondern eher „mittelzeitlich“? Doch erfüllt sich dies „in euren Ohren“, also so, daß Menschen das Wort Jesu als Heil erfahren kön­ nen. Das ist nicht selbstverständlich; der Redner scheint ja gar nicht zu seiner Rede zu passen und ist nicht einmal bereit, seine Besonderheit auszuweisen. Das „Heute“ ist also zugleich das der unaufschiebbaren Entscheidung für Gott, vgl. A. nach V.30,a. Daß sich die Schrift im Wirken und Schicksal Jesu erfüllt, ist christliches Gemeingut. Die Passion wird selbstverständlich in Wendungen der Psalmen erzählt (s. zu Mk 15,22-24 Einl.), und christliche Schriftgelehrte finden immer neue, auf Jesus weisende Stellen (A. zu Mt 7,13-23[3]). Daß Gottes Reich in Jesu Wirken Gegenwart wird, sagt schon Mt 12,28(Q), verhüllter auch Mt 11,2-6 und Jesu Gleichnisverkündigung. Vorausgesetzt bleibt dabei aber immer, daß sich die Men­ schen von den Taten und Worten Jesu ins Fragen treiben lassen, was es denn um ihn sei (s. zu Mk 4,35-41 Schl.), bis sie sich die Antwort von ihm selbst schenken lassen können, ohne dadurch mit Gottes Geheimnis einfach verstandesmäßig fertig zu werden (s. A. zu Mk 4,1-9). Lukas verbindet dies (wie Johannes) hier direkter mit Jesu Person und Rede. Aber auch für ihn bleibt solches Verstehen „in den Ohren“ der Menschen Wunder Gottes. Schon daß die Leute Jesu „Worte der Anmut“ (mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 4,22-30: Nein der Nazarener - Ja der Heiden

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Artikel!) rühmen und ihn damit dem Bekannten einordnen, hindert sie daran. Das gleiche Wort, aber mit der Zufügung „Gottes“, bezeichnet Apg 14,3; 20,24.32 „Gnade“, genauer das dem Menschen gnädig geschenkte „Wohlgefallen“ vor Gott (vgl. 2,40.52). Jesu Worte „gefallen“ also Gott und Menschen „wohl“; aber aus verschiedenen Gründen: die Nazarener sehen darin nur rhetorische Fähigkeit. 5. Mose 8,3 spricht ähnlich vom Wort, „das aus dem Munde des Herrn kommt“ (vgl. Mt 4,4; nicht zitiert in Lk 4,4). Lukas läßt die deutliche Ablehnung von Mk 6,3 weg und schildert so etwas wie eine unverbindliche oder geradezu mißverstehende Zustimmung (wie Apg 13,42; 14,11-13; 17,11.19-21). Daß sie lieber von dem in Jes 61,2 stehenden, von Jesus nicht mehr vorgelesenen „Tag der Rache“ (an den Heiden) gehört hätten, ist durch nichts angedeutet. Dennoch ist dieses Verhalten des Volkes schon Ablehnung, bevor sie ausgesprochen wird (vgl. die Zukunftsform „ihr werdet sagen“). Nach Kafarnaum zieht Jesus freilich erst V.31 a; doch denkt Lukas schwerlich an eine später auf 4,31—41 folgende Reaktion, von der er ja auch nicht erzählt; die Absicht, Jesus nach Nazaret heimzuholen (Mk 3,21), läßt er sogar weg (s. zu 8,19-21). V.23 a will nur die tradierten Worte V.24 und 25-27 einführen (s. zu 3,1-4,30). Erst Jesu Wort enthüllt das Ungenügen eines bloßen Staunens über ihn. Ein Beweis, der das Glauben unnötig macht, wird abgelehnt (s. zu Mk 8,11-13), weiß doch schon 5. Mose 13,1-3, daß nicht das Wunderzeichen, sondern der Inhalt der Botschaft darüber entscheidet, ob einer Prophet des Herrn ist oder nicht. Die dreieinhalb Jahre (auch Jak 5,17 f. gegen l.Kön 18,1; vgl. Bill. III 760 f.) rechnen vielleicht den normalerweise regenlosen Sommer noch dazu (doch s. A. nach 2,38 gegen Ende). „Israel“ wird gewarnt, wie schon vom Täufer (3,8). Ähnlich sprach Luther vom Gotteswort, das wie ein Platzregen über die Erde dahinfährt und bald hier, bald dort wirkt. Wie später im pisidischen Antiochien oder in Rom (Apg 13,14-52; 28,23-31) ist die Kontinuität des Handelns Gottes in Israel und unter den Heiden betont. Glaube oder Unglaube der Hörer entscheidet darüber, wo es Frucht bringt. Beifall wandelt sich in Zorn; nicht weil Jesus messianische Begeiste­ rung hätte dämpfen wollen - davon sagt der Text nichts - oder beanspruchte, ein Prophet zu sein - dann hätte der Protest nach V. 21 kommen müssen. Es ist der Pro­ test der „Frommen“, die meinen, einen Anspruch auf Gott zu haben, und seine be­ dingungslose Gnade nicht verstehen können (s. zu 15,1 f.). Sie reagieren wie die Mitbürger Jeremias (Jer 11,21; 38,4). Prophetenmartyrien sind damals gern erzählt worden. Auf einen Felsen ist Nazaret nicht gebaut; in ein oder zwei Kilometer Ent­ fernung gibt es Abhänge von acht bzw. sechzig Meter Höhe. Nach einer auf Rabbi Meir zurückgeführten Gesetzessammlung (Mitte 2. Jh.n.Chr.) wurden Gottesläste­ rer gesteinigt, indem sie drei bis vier Meter hinuntergestürzt und, wenn noch nötig, mit Steinwürfen getötet wurden (Bill. II 521,685 f.). Daran denkt aber jedenfalls Lukas kaum; von Steinigung spricht er Apg 7,58 (vgl. Joh 8,7.59; 10,31.39), be­ schreibt sie aber anders. Hinrichtung durch Sturz von einem Fels ist auch 2.Chron 25,12 erzählt. Wesentlich ist Lukas aber nur der tödliche Widerstand der Menschen gegen Jesus. Sein geheimnisvoll hoheitliches Weggehen ist nicht psycholo­ gisch zu erklären, sondern für Lukas schon Zeichen auf Ostern hin. Menschen haben keine Macht über ihn; wenn er durch ihre Hand stirbt, dann nur, weil Gott es so will. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Kerygma oder Heilsgeschichtc: Bultmann oder Rahner?

Sie können sein Werk nicht hindern, sondern müssen es sogar fördern: er zieht nach Kafarnaum. Die ersten Sätze aus dem Munde des erwachsenen Jesus sind nicht seine eigenen, sondern Prophetensätze. Was er zu verkünden hat, ist nichts Neues. Neu ist nur das „Heute“, an dem Gott Wirklichkeit werden will, und zwar als Hilfe für alle unter die Räder Gekommenen (vgl. zu 14,21), die Heiden ( 4 , 2 5 - 2 7 ) , Dirnen ( 7 , 3 6 - 5 0 ) , Zöll­ ner (15,1 f.) und Verbrecher ( 2 3 , 4 0 - 4 3 ) . Damit beginnt Jesu Auslegung; das gilt seit jenem Tag in Nazaret für jeden, der diese Botschaft liest oder hört. Freundliche Zustimmung zu solcher Gnadenpredigt darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Gnade für die Armen immer auch Gericht für die Reichen ist. Dabei geißelt gerade diese programmatische Geschichte den religiösen Reichtum, der seines Gottes so sicher ist, daß er nicht mehr damit rechnet, daß dieser „heute“ kommen könnte, um auch ihn zu richten und zu verändern. Weil der Mensch aber ohne dies Gottes Gna­ denbotschaft nicht hören kann, folgt der zweite Teil der Predigt Jesu. Er bewirkt die Feindschaft, die sein galiläisches Wirken wie seine Reise (9,53) und seinen Aufent­ halt in Jerusalem (19,39) einleitet. Sie wird ihm den Tod bringen, den er in diesem Sinne „für uns“ sterben wird. Heilsgeschichte a) Kap. 1 f. binden die Geschichte des Johannes und die Jesu so zusammen, daß diese jene überbietend erfüllt und ihr damit erst ihren Sinn gibt (s. A. nach 2,52,c). Was ist aber dieser Sinn? Kann man mit Rudolf Bultmann antworten: die Verkündi­ gung (das „Kerygma“), oder muß man mit Teilhard de C hardin und Karl Rahncr sagen: die Einsicht in eine sich auf Gottes gutes Ziel hin entwickelnde Heilsge­ schichte? Beides ist nicht die Antwort des Lukas. Das Wort „Evangelium“ fehlt bei ihm (außer Apg 15,7; 20,24). In einer für immer gültigen „kerygmatischen“ Formel hätte der Mensch sich ja Jesu C hristi bemächtigt, wäre er mit ihm fertig geworden. Gott hingegen ist in Jesus in einer so überraschenden Weise erschienen, daß es für alle Welt anstößig und töricht erschien (l.Kor 1,23). Die spätere gnostische Bewe­ gung hat die Sätze des Paulus über Kreuz und Auferstehung Jesu und die Rechtferti­ gung des Sünders, welchem „Leben aus dem Tod“ zuteil wird (Röm 4,17), zu einer für alle Zeiten gültigen Lehre gemacht. Es war dann nicht mehr wichtig, ob man das mit Jesus oder mit anderen Mythen von sterbenden und wieder auferweckten Göt­ tern illustrierte. Wichtig war nur, daß der Mensch durch die Botschaft in ein „Ab­ sterben“ von allem Irdischen geführt wurde und so das eigentliche göttliche Leben in seinem Innersten entdeckte. Hier war man mit Jesus C hristus so fertig geworden, daß man ihn gar nicht mehr benötigte. Dann wurde auch Gottes Handeln im Alten Testament unwesentlich (s. zu 4,31). Man besaß ja die neue Erkenntnis, daß der Mensch nur zu seinem göttlichen Selbst finden mußte. Aber Lukas besitzt auch kein eigentliches heilsgeschichtliches Schema. So wesentlich es ihm ist, daß Gott gerade in der Geschichte handelt, sie für seinen Weg zu den Menschen benützt und in Treue zu diesem Weg steht (s. unter c) und d)), so wenig gibt es ein vom Menschen erkennba­ res und ihm so verfügbares Gesetz für dieses Handeln. Wie Markus erzählt Lukas © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Heilsgeschichtc als Vor- und Nach-Erfahrung

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Geschichten, vermeidet aber noch stärker, alles in einen Brennpunkt (z.B. in Kreuz und Auferstehung) zu konzentrieren. Nach Mt 1,1-17 läuft die Geschichte von Abraham her genau planmäßig auf Jesus hin. Davon weiß Lukas nichts (s. zu 3,2338). Er will die reiche Fülle des Handelns Gottes entfalten, das in Jesus so überra­ schend, keinem menschlichen Schema entsprechend ausgefallen ist. Gottes Liebe ist ja nicht abstrakt; sie wird konkret in vielen unvorhergesehenen und sehr verschiede­ nen Handlungen. Darum kann Lukas ihrer nicht habhaft werden; er muß erzählen, um sie immer wieder von einer andern Seite her aufleuchten zu lassen. Rettet uns dann das Wissen um die wunderbaren Ereignisse der Jesuszeit, die historisch gesichert, überliefert und für wahr gehalten werden müssen? Dazu könnte 1,4 verleiten, aber auch das „Heute“ in 4,21, wenn man es streng auf den damaligen Tag bezieht und so in Gegensatz zu dem „Jetzt“ der Verkündigung des Evangeliums in 2. Kor 6,2 stellt. Aber erst die Einsetzung zum Dienst am Wort ermöglicht über­ haupt solche Tradition (1,2), und 4,21 erfüllt sich „in euren Ohren“, also dort, wo das Auftreten Jesu zum Wort Gottes an den wahrhaft Höreiiden wird. Es ist das Heute des Gottesdienstes! In 19,9 ist es darum auf die Entscheidung des Zachäus bezogen (ähnlich 23,43), also im Sinn von Hebr 3,7.15; 4,7 (s. zu Lk 4,21) verstan­ den. Wie Zachäus „heute Heil widerfahren ist“, weil er geglaubt hat, wurde nach Apg 13,26 „uns das Wort dieses Heils gesandt“, und nach Apg 4,12 kommt im Wort das Heil selbst, das in seinem „Namen“ = „in ihm“ (Jesus C hristus, vgl. zu Lk 10,17) gegenwärtig wird. So gilt auch das historisch die Mosezeit bezeichnende „Heute“ von 5.Mose 26,16-19 (vgl. Ps 95,7f.) faktisch für den Tag, an dem die Gemeinde diese Worte hört; darum geht der Geschichtsbericht in 5. Mose 26,5/6—9 und 6,21-25 direkt zum Wir der Gemeinde über. In dieser Weise sind auch die Je­ susgeschichten „unter uns“ geschehen (Lk l , l ) . Ähnlich zeigt Lk 17,11-19, daß nicht das historische Faktum der Heilung Heil schafft, sondern erst sein rechtes Verständnis. b) Nun sprechen Kap. 1 f. von Menschen, die in ihrer Gesetzes- und Tempelfröm­ migkeit schon vor Jesus für Gottes neues Handeln offen waren. Aber sie werden betont als Wartende bezeichnet, die noch nicht besitzen, was erst ihrem Verhalten und damit der ganzen Geschichte Israels Sinn gibt. Was Paulus an Abraham zeigt (Rom 4,18-22; Gal 3,18), das weist Lukas an Zacharias und Elisabeth, Josef und Maria auf. Die gleiche Gesetzesfrömmigkeit wird zum Hindernis, wo Menschen meinen, in ihr Gottes habhaft zu werden (7,39; 15,1 f.; 18,10-14). Nur den Men­ schen, die sich von Gott überraschen lassen, begegnet Gott wirklich. Das gilt auch für die Menschen nach Ostern (vgl. A. nach 21,38,e). Gerade weil Lukas weiß, daß man Evangelium nicht reduzieren kann auf einen (doch wenigstens den C hristen einleuchtenden) religiösen Gedanken, muß er von ihnen und ihren Erfahrungen erzählen. Ein halbes Jahrhundert später konnte man nicht mehr tun, als ob alles, was seit Ostern geschah, nichts wäre und der Hörer des Jahres 80 genau gleich vor Jesus stünde wie der Anno 30. Lukas muß darum darüber nachdenken, was die Geschichte der Gemeinde bedeutet. Für die Zeit Israels und Jesu tun das schon Lk 11,49-51 Q und Mk l 2 , l - 9 , für die Zeit nach Ostern Mt 10,17-25; 23,34-36 und Mk 13, aber auch 1.Kor 15,3-11, erst recht Rom 11,11-26. In ge­ wissem Sinne sieht Lukas das Wirken Jesu vor und nach Ostern noch stärker als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Heilsgeschichte als erzählter Glaube

Einheit. Beides ist „Wort Gottes“ (s. zu 5,1); die Rettung Jesu in Nazaret und sein Gang nach Kafarnaum (im Zusammenhang mit V. 24-27) sind Zeichen für Auferste­ hung und Zug zu den Heiden. Apg 1,1 meint wohl, daß Jesus nach Ostern fortfuhr „zu handeln und zu lehren“. Der „Ausgang“ in Jerusalem (9,31) weist über Ostern hinaus, und das Ziel der Reise Jesu schließt die Aufnahme in den Himmel und sein Wirken von dort her ein (s. zu 9,51). Leiden, Auferstehung und Verkündigung an alle Völker sind ein einheitliches Geschehen (24,46 f.; vgl. Apg 5,30-32; 10,41 f.; 13,31; 17,3). Eben der gekreuzigte Jesus ist zum Herrn und C hristus gemacht und wirkt nach Ostern erst recht weiter (Apg 2,32-36), ist sogar sein eigener Verkünder (Apg 26,23). c) Das bedeutet für Lukas nicht nur, daß die ein für allemal formulierte Botschaft noch in die Welt hinauskommen und daß der Herr dabei helfen muß. Er hat verstan­ den, daß das Glauben an diese Botschaft noch einmal Gottes Tat ist, und zwar nicht nur so, daß Gott zu allen Zeiten in gleicher Weise den Widerstand des weisen und selbstgerechten Menschen überwinden müßte, sondern so, daß es auch eine Ge­ schichte des Glaubens mit Niederlagen und Siegen gibt, die wiederum die folgende Geschichte schon zum voraus prägen. Es geht ja nicht nur um die intellektuelle An­ eignung einiger (kerygmatischer oder heilsgeschichtlicher) Sätze, in denen sich Gott einfangen ließe, sondern um ein Leben, in dem er sich bezeugt. Wie in Jesu irdischem Leben immer wieder Überraschendes, Nicht-vorherzusehendes geschah, so über­ rascht Gott auch seine Gemeinde immer wieder (z.B. Apg 10,19f.44-46; 16,6-10). Der verkündete Jesus kommt in unzähligen nicht voraussehbaren und nicht ableit­ baren, anscheinend rein zufälligen Geschehnissen zum Leben. Auch der nach Ostern lebende Glaube bleibt also grundsätzlich der auf Gottes Handeln und damit auf das Lebendigwerden Jesu wartende Glaube. Das gilt nicht nur für den Einzelnen. Der lebendige Herr begleitet sein Wort auf dem Gang durch die Geschichte, läßt es in neue Sprachen und neue Situationen hinein neu erwachen und wirkt bis in weltlich­ politische Entscheidungen hinein (wie Lk 2,1-3 so Apg 23-26; z.B. 23,11-24; 24, 26). Dabei ist weder die Einführung einer neuen Steuer noch die Bestechlichkeit des römischen Beamten Gottes Wille; aber Gott kann beides dazu benützen, Glauben zu schaffen. d) Lukas hat gesehen, wie sehr die Geschichte mit ihrer Kultur und Tradition die Menschen prägt, oft stärker als formulierte und bewußt übernommene Lehren. Deswegen ist die Gemeinde in Korinth eine andere als die in Jerusalem, und die Botschaft nimmt dort eine andere Gestalt an als im Jerusalem der ersten Jahre; z.B. wiederholt sich Apg 2,44 f. dort nicht. Darum läßt sich auch vom Wirken des Herrn nach Ostern grundsätzlich nur erzählen; immer und überall gültige Gesetze lassen sich nicht aufstellen. Der „Name“ Jesu ist die Macht des Gotteshandelns, das in Leben, Sterben und Auferstehen Jesu von Nazaret als Heil der Welt geschehen ist, aber so, daß es sich hier und heute, wiederum alle überraschend, in kein Schema zum voraus einzufangen, durchsetzt. Gewiß ist Lukas (wie Paulus in Röm 9-11) wichtig, daß es eine Kontinuität des Handelns Gottes gibt. Sie besteht aber einzig in seiner Treue, auf die der Mensch zu Recht immer wieder hofft und wartet. So zeigt sich im Weg Israels, daß Gott selbst dort, wo der Mensch ihn verlassen hat, noch für ihn da ist und auf ihn wartet, ohne daß man im voraus weiß, wie dieses Handeln Gottes an © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

B Lk 4,31-5, 11: Überblick

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ihm und wie die positive oder negative Antwort des Menschen darauf aussehen wird (auch Röm 11,25 f. ist „Geheimnis“). Die Gemeinde kann also diese Entwicklung weder als ständigen Fortschritt in den Griff bekommen noch umgekehrt als ständi­ gen Abfall, dem dann nur die Rückkehr zur ersten Zeit begegnen könnte. Einerseits wird das Ideal von Apg 2,44-47; 4,32-35 (auch 9,31) später nicht mehr erreicht (20,29 f.!); andererseits sollen sich die Presbyter an Paulus zurückerinnern und tun, was er schon getan hat (Apg 20,31-35), und soll die Gemeinde die ihr geschenkte neue Erkenntnis (Apg 10,1-11,18; 15; 28,28) nicht wieder vergessen. An eine Fort­ entwicklung , die die Identität der Gemeinde über Generationen hindurch bewahrt (2.Tim 2,2), ist dabei aber nicht gedacht. Noch weniger kann die Gemeinde davon träumen, als Christi „Leib“ (l.Kor 12,27) einfach mit ihm eins zu sein. Dafür sorgt er selbst durch seine Mahnungen und Warnungen. In gewisser Weise betont Lukas stärker als Paulus, daß wir immer auf das eine Handeln Gottes in Jesus von Nazaret angewiesen bleiben. Paulus kann vom C hristus im Alten Testament reden (l.Kor 10,4), weil für ihn alles reine Gnadenhandeln Gottes grundsätzlich C hristus­ handeln ist. Lukas kann das nicht, weil ihm so sehr daran liegt, daß Gott uns in Jesus ein für allemal begegnet ist, also in der bunten Vielgestalt von Ereignissen, Worten, Taten und Widerfahrnissen eines konkreten Menschenlebens im Palästina der ersten Jahrzehnte unserer Zeitrechnung.

B „In ganz Judäa, beginnend in Galiläa“ (Apg 10,37) 4,31—5,11 Im großen Abschnitt bis 9,50, der mit 6,49 einen ersten Abschluß erreicht, grenzt sich zunächst das Angebot der Frohbotschaft vom Reich Gottes (4,43) in Lehre und Tat Jesu ab. Es erhält seine Zuspitzung in der Einsetzung der ersten Jünger (5,1-11). Schon 4,44 dehnt sich die Wirksamkeit Jesu auf Judäa aus (s.d.). Klare geogra­ phische Vorstellungen fehlen aber; im nächsten Vers steht Jesus am See Genezaret und 5,12 wieder „in einer der Städte“ (von 4,43 f.?). Ortsnamen werden aus der Tradition aufgenommen (4, 31; 5,1; 7,1; 8,26); der „See“ erscheint nur, wo er un­ entbehrlich ist (5,1; 8,22), wird sonst aber gestrichen (5,27; 6,17; 8,4.40; 9,10). Das zeigt, daß die Ortsangaben nur die Ausweitung des Wirkens Jesu illustrieren wollen. 5,12-6,11 wird dann die Scheidung der Gemeinde von Israel und 6,12-49 ihre erste Unterweisung folgen. Die Frohbotschaft vom Gottesreich 4, 31-44, vgl. Mk 1,21-38; Mt 8,14-17 31 Und er kam hinab nach Kafarnaum, einer Stadt Galiläas, und lehrte sie an den Sabbaten. 32 Und sie erstaunten über seine Lehre; denn sein Wort geschah in Vollmacht. 33 Und es war in der Synagoge ein Mensch, der einen Geist eines un­ reinen Dämons hatte. Und er schrie mit lauter Stimme: 34 Laß ab, was haben wir mit dir zu tun, Jesus, Nazarener? Du bist gekommen, uns zu verderben. Ich kenne dich, wer du bist, der Heilige Gottes. 35 Und Jesus bedrohte ihn und sagte: Verstumme und fahre aus von ihm. Und der Dämon riß ihn in die Mitte und fuhr aus von ihm, ohne ihm Schaden anzutun. 36 Und der Schrecken kam über

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Lk 4,31--44: Analyse

alle, und sie redeten miteinander und sagten: Was ist dies Wort; denn in Voll­ macht und Kraft gebietet er den unreinen Geistern und sie fahren aus? 37 Und die Kunde über ihn ging aus an jeden Ort der Umgebung. 38 Er stand aber auf und ging von der Synagoge weg in das Haus des Simon. Die Schwiegermutter Simons aber war von schwerem Fieber befallen, und sie baten ihn ihretwegen. 39 Und er trat oben an sie hin und bedrohte das Fieber, und es verließ sie. Sogleich aber stand sie auf und diente ihnen. 40 Nach Sonnenuntergang brachten alle, welche an vielerlei Krankheiten Leidende hatten, sie zu ihm. Er aber legte einem jeden einzelnen von ihnen die Hände auf und heilte sie. 41Es fuhren aber auch Dämo­ nen aus vielen, die schrien und sagten: Du bist der Sohn Gottes. Und er bedrohte sie und ließ sie nicht reden, weil sie erkannten, daß er der C hristus war. 42 Nach Tagesanbruch aber ging er hinaus und wanderte an eine einsame Stätte, und die Menge suchte ihn und kam bis zu ihm hin und hielt ihn zurück, daß er nicht von ihnen wegzöge. 43 Er aber sprach zu ihnen: Auch den andern Städten muß ich die Frohbotschaft von Gottes Reich verkünden; denn dazu bin ich gesandt. 44 Und er verkündigte in den Synagogen Judäas. Lukas folgt dem Aufriß des Markus. Dem Kommen Jesu nach Kafarnaum (31 a) entspricht sein Weggang (42a), der allgemeinen Schilderung seines Lehrens (31b) und der Reaktion darauf (32) seine Heilungen (40 f.) und die Reaktion darauf (42b). Dazwischen stehen zwei Beispiele: eine Dämonenaustreibung (33-37) und eine Krankenheilung (38 f.), wobei die erste Reaktion (36.38b: „stand auf“) im Aorist, der dauernde Erfolg (37.38b: „diente“) im Imperfekt beschrieben ist. 31 a und 42a sind wie die Erzählung (33-39) aoristisch, 31 b.32 und 40f.42b imperfek­ tisch formuliert. V.31 f. 43 f. betonen die Lehre Jesu, die seine Wundertaten einrahmt (vgl. zu 6,19 und 7,1-9, 50, Anf.J; in V.36 ist daher auch nur von ihnen die Rede, nicht wie Mk 1,27 von „neuer Lehre“. Überhaupt sind Wunder Lukas wichtig (kraß Apg 5,15; 19,12), aber immer interpretiert durch Jesu Verkündigung und daher Glauben schaffend (vgl. 4,23.38f. vor 5,1-11; 5,16.17; 7,21 f.; 17,18f.). V.44 ist wie 31 a Ubergangsvers zur erweiterten Tätigkeit Jesu (imperfektisch). 31

Mitte 2. Jh.n.Chr. gab Markion in Rom ein Neues Testament heraus, das aus Lukas und den (von ihm gereinigten) Paulusbriefen bestand. Es sollte zeigen, daß der Schöpfer der (für ihn bösen) materiellen Welt und Gott des Alten Testamentes im Unterschied zu dem des Neuen ein Dämon war. Er hat sein Evangelium mit Lk 3,1 a; 4,31a beginnen lassen und dies als Herniedersteigen vom Himmel verstanden. In 32 V.3 1 b denkt Lukas wohl (gegen Mk 1,21) an mehrere Sabbate (vgl. zu 13,10). Wie 4,36; 5,1 spricht Lukas nicht nur vom „Lehren“ Jesu (Mk 1,22.27; 4,1), sondern vom „Wort (Gottes)“, wie es dann auch in der Apostelgeschichte weiterläuft. Auf dieses erstaunliche „Wort“ richtet sich alles Fragen, noch nicht eigentlich auf Jesu 36 Person. Auch die Leute von V.36 fragen danach, obwohl der gleiche griechische Satz in 2.Sam 1,4 zeigt, daß man auch allgemeiner verstehen kann („Was ist das?“). Da aber Mk 1,27 von der „neuen Lehre“ Jesu spricht, betont wohl auch Lukas den Wortcharakter des Geschehens. Über solchem Fragen steht Gottes Verheißung (vgl. zu Mk 4,35—41 Schl.). Neu ist dieses Wort weder im Inhalt noch in der rhetorischen Form, wohl aber in der „Vollmacht“, wobei der Gegensatz zu den, in der Zeit des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 4,3 44: Vollmacht Jesu in Wort und Tat

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Lukas nicht mehr so wichtigen Schriftgelehrten (so Mk 1,22) fehlt (s. zu Lk 3,7). Jesu Wort wirkt, stellt ein Geschehen dar. Darum steht neben dem Wort die Tat. „Der Heilige Gottes“ (wie Mk 1,24) ist „der Sohn Gottes“, „der Messias“ (V.41); beides stand schon 1,35 (vgl. 1,32) nebeneinander. Der Dämon reißt den Kranken „in die Mitte“ (der Versammlung); so wird die Demonstration der Heilung umso augenfälliger. Wie Mt 8,14 werden die Namen Andreas, Jakobus und Johannes (Mk 1,29) weggelassen und das Haus nur als das Simons bezeichnet, der als bekannt vorausgesetzt wird. Die Vollmacht Jesu wird hervorgehoben; schon daß er das Fie­ ber durch sein Wort „bedroht“, genügt; er braucht die Kranke nicht noch aufzurich­ ten (Mk 1,31). Über Markus hinaus betont Lukas, wie Jesus „jedem einzelnen von ihnen die Hände auflegte“. Handauflegung zur Heilung findet sich jüdisch nur lQGenAp 20,21; 22,29 (vgl. zu Lk 13,13). Seine Vollmacht erweist sich als Zei­ chen seiner Gottessohnschaft (bei Markus erst 3,11) und Messianität (vgl. zu 22,67). Die bei Lukas noch nicht berufenen Jünger (anders Mk 1,36) fehlen natürlich. Alles Gewicht liegt auf dem Zustrom der Leute und vor allem auf der „Verkün­ digung der Frohbotschaft vom Reiche Gottes“ (s. zu 1,19; 3,15-20 Schl.; 16,16); daher verschiebt Lukas wohl die Notiz vom Beten Jesu auf 5,16. Ähnlich formuliert auch Mt 4,23 (par. Lk 4,44), wo V. 25 ebenfalls die Volksmenge erscheint. Nur Lukas verbindet „Reich Gottes“ (s. A. nach 21,38,b) direkt mit einem Verbum des Verkündcns (8,1; 9,2.11.60; 16,16). Damit beginnt und schließt die Apostelge­ schichte; darauf verweist Paulus vor seinem Tod (Apg 1,3; 20,25; 28, 31; vgl. 8,12; 28,23). Doch steht solche Evangeliumsverkündigung nicht im Gegensatz zu den Heilungen; daß das Volk nur an ihnen interessiert wäre, ist nicht gesagt. Sie zielt auf das ganze Leben des Menschen. Darum kann auch ethische Mahnung Frohbotschaft sein (3,18). Das unterscheidet sie auch deutlich von einer bloßen Theorie, die auch den Dämonen zugänglich wäre, sogar noch besser als den Menschen, wie V.41 zeigt. Jesus tritt zwar in Vollmacht, herrlich auf, aber nicht herrisch. Daher gehören bei ihm Wort und Tat zusammen (9,6). Statt „Orte“ (Mk 1,38) sagt Lukas „Städte“ (s. zu 8,1), statt „Galiläa“ (Mk 1,39) „Judäa“ (vgl. zu 24,6). Dies umschließt wie im Alten Testament vor David das ganze Land. Galiläa ist für Lukas betont nur der Anfang (Apg 10,37; 13,31); als Gegend der Wirksamkeit Jesu wird es von jetzt an nicht mehr erwähnt, obwohl einige der genannten Orte dort liegen. Wie V.33 (Mk 1,23) und 12,11 (Mt 10,17) spricht Lukas nicht von „ihren Synagogen“ (Mk 1,39), als gehörten sie nur den Juden (s. A. nach 2,38); doch vgl. Apg 13,5 usw. Die Machttaten (besser als „Wunder“, vgl. V.36) Jesu (V.33-35. 38f. 40f.) beschreiben seine Vollmacht, die sich, wie Anfang und Ende des Abschnittes zeigen (3 1 f. 43 f.), grundlegend in seiner Verkündigung des Gottesreiches erweist. Göttliche Berufung zum Jüngerdienst 5, l - l 1 1 Es geschah aber, als die Menge ihn umdrängte und das Wort Gottes hörte, da stand er am See Genezaret 2 und sah zwei Boote am Seeufer liegen; die Fischer aber waren aus ihnen ausgestiegen und wuschen die Netze. 3 Da stieg er in eines der Schiffe, das Simon gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren.

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Lk 5,1—11: Analyse

Er setzte sich aber und lehrte die Menge vom Schiff aus. 4 Als er aber aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre weg auf die Höhe, werft eure Netze zum Fischfang aus. 5 Und Simon antwortete und sprach: Meister, die ganze Nacht hindurch haben wir uns gemüht und nichts gefangen; auf dein Wort aber werde ich die Netze auswerfen. 6 Und als sie das getan hatten, fingen sie eine große Menge Fische, ihre Netze aber waren am Zerreißen. 7 Und sie winkten den Genossen im andern Schiff, sie sollten kommen und mit zufassen. Und sie kamen und füllten beide Schiffe, so daß sie am Sinken waren. 8 Als Simon Petrus das aber sah, fiel er zu Jesu Füßen nieder und sagte: Gehe weg von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr. 9Erschrecktes Staunen hatte nämlich ihn und alle mit ihm erfaßt über den Fischfang, den sie getan hatten, 10ebenso Jakobus und Jo­ hannes, die Söhne des Zebedäus, die Simons Geschäftspartner waren. Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht, von nun an wirst du Menschen fangen. 11 Und sie fuhren die Schiffe ans Land zurück, verließen alles und folgten ihm nach. 5,1-11 folgen auf die starke Hervorhebung der Aufgabe der Verkündigung in 4,42-44. Vorher wie nachher (4,38—41; 5,12-16) ist je eine Heilung erzählt und wird allgemein auf Jesu Wundertaten verwiesen. Wortverkündigung und Wundertat verbinden sich auch 5,1-11. Das Wortspiel vom „Menschenfischer“ (10b) findet sich auch Mk 1,17, doch wird die Berufung dort sehr anders und auch vor der Hei­ lung der Schwiegermutter des Petrus berichtet (Mk 1,29-31; Lk 4,38 f.). Die luka­ nische Reihenfolge (vgl. die Änderung in 4,42) will den Gehorsam des Petrus ver­ ständlicher machen; er war schon Zeuge einer Heilung. Die Predigt von 5,1-3 ent­ spricht der von Mk l,14f.; aber anders als dort wird Petrus auch zum Hörer der Predigt Jesu. Der Bericht vom Lehren Jesu vom Boot aus, der Mk 4,1 seine Gleich­ nisrede einführt (Lk 8,4 weggelassen!), wird nämlich von Lukas schon hier einge­ fügt. V.4-11 sind an sich eine Wundergeschichte, die aber nur der Berufungsge­ schichte eingeordnet ist. Das Wunder zielt ja auf das Wort vom „Menschenfischer“ oder „Menschenfangen“ (V. 10). Für die Berufungsgeschichte typisch ist auch die Initiative Jesu (V.4), das beglaubigende Zeichen (V.6), das dann erst die Schwierig­ keit aufdeckt, nämlich die Sünde des Berufenen (V.8), und deren Überwindung durch Aufhebung der Furcht, Auftrag und Verheißung (V. 10 b), was wiederum den Gehorsam des Berufenen möglich macht (V. 11). Innerhalb des lukanischen Werkes tritt so die Berufung des Petrus in Parallele zu der des Paulus (Apg 9,1-19), dessen Wirken in der Apostelgeschichte ebenfalls parallel zu dem des Petrus geschildert wird, und im Gegensatz zur Verwerfung Jesu in Nazaret. Wunder wie Berufung sind ganz auf Petrus ausgerichtet (vgl. zu 8,45). Dialog in direkter Rede gibt es nur zwischen Jesus und ihm. Daß in V.4-6 der Singular in den Plural übergeht, ist begreiflich, weil Petrus zum Fischen Helfer nötig hat. Unvermit­ telt taucht aber in V.7 das zweite Boot (V.2) auf, vor allem werden neben „allen“ Beteiligten (V.9) in V. 10 noch Jakobus und Johannes nachträglich eingeführt. Auch sagt V. 11 abschließend, „sie“ seien Jesus nachgefolgt, obwohl V. 10 nur Petrus dazu berufen wurde. Diese Spannungen erklären sich am leichtesten, wenn man annimmt: (1) Das Wort vom „Menschenfischer“ wurde einerseits verbunden mit der Berufung von ersten Jüngern (vgl. Mk 1,16-20), andererseits entfaltet in der Geschichte vom © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 5,1-11: Parallele zu Joh 21,1-14?

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reichen Fischfang Simons, bei dem seine Mitarbeiter Zeugen waren; sie enthielt wohl schon Simons Schuldbekenntnis und Jesu Verheißung. Ohne dieses Wort kann die Geschichte nicht existiert haben; reine Schauwunder, die nur materielle Hilfe brin­ gen, werden von Jesus nicht erzählt. Vorlukanisch ist der Name „Simon Petrus“; Lukas nennt ihn vor 6, 14 „Simon“, nachher „Petrus“ außer in traditionellen Worten 22,31; 24,34 (vgl. die Umschreibungen Apg 10,5.18.32; 11,13). (2) Vorlukanisch wurde das verknüpft mit der Tradition von den drei Vertrauten Jesu (Mk 5,37; 9,2; 14,33). Das entsprach dem Mk 1, 16-20 Berichteten; nur daß dort wie in 1,29; 13,3 (beides nicht bei Lukas) auch Andreas dazugehört, der aber in der Apostelliste Mk 3, 17; Apg 1, 13 erst an vierter Stelle, nicht mit seinem Bruder zusammen aufge­ zählt wird. Außerdem wird Mk 1 die Berufung der Zebedäussöhne gesondert von der des Petrus erzählt, was vielleicht das zweite Boot in Lk 5,2.7 erklärt. Vorluka­ nisch ist die Nennung des Jakobus vor Johannes (wie Mk 1,19), was Lukas sonst ändert (8,51; 9,28; vgl. zu 22,8; auch Apg 1,13 gegen die traditionelle Stellung in Lk 6,14). (3) Lukas hat mit V. 1-3 eingeleitet, vielleicht auch „die mit ihm“ (V.9) eingeführt, weil das in 4,42 = Mk 1,36 noch nicht möglich war. Ihm ist die Nach­ folge aller (V. 11) wichtig (vgl. 6, 13). Lukanisch ist auch die Betonung des „Wortes“ Jesu (V.5). Die Geschichte ist in vielem mit Joh 21, 1-14 verwandt. Auch dort war ursprüng­ lich wohl alles auf Petrus ausgerichtet (vgl. V. 11 a nach V.9, auch V. 15-17). Wie Lk 5,4-11 wurden auch dort die beiden Zebedaiden und andere Zeugen zugefügt, nicht aber Andreas (21,2). Wie Lk 5,4- 11 fangen sie auch dort die ganze Nacht hindurch nichts, auf Jesu Wort hin aber ein Übermaß von Fischen. Ebenso folgen nach einer Art Sündenbekenntnis des Petrus, auch dort Simon (Petrus) genannt, seine Einsetzung, freilich zum Hirten, nicht zum Menschenfischer, und sein Nachfolgen (V. 15-17.22). Falls die 153 Fische (21, 11) die Völker symbolisieren (s.d.), wäre der Nachklang des Wortes vom Menschenfischer ebenfalls sichtbar. Kniefall und Bitte des Petrus (Lk 5,8) paßten viel besser, wenn dieser schon am Ufer wäre wie in Joh21,ll. Ist also eine Ostergeschichte nachträglich ins Leben Jesu zurückversetzt worden? Daß nur Jünger Zeugen des Wunders sind, nicht das ganze Volk, paßt zu einer Oster­ geschichte; doch fehlen in den Erscheinungsberichten Wunder, die eigentlich mit dem Wunder der Auferstehung konkurrieren. Umgekehrt fehlen in Lk 5,4—11: Zweifel der Jünger und deren Überwindung, ihre Sendung und das Verschwinden des Auferstandenen. In Joh 21,7 ist der Zug vom Wiedererkennen Jesu offensicht­ lich erst nachträglich hinzugewachsen; höchstens V. 12b könnte ursprünglich sein. Außerdem spricht Joh 21, 11 („das Netz zerriß nicht“) eher dafür, daß umgekehrt eine Bemerkung der Berufungsgeschichte Lk 5,6 (wörtlich: „ihre Netze zerrissen“) später korrigiert wurde, und das „Nachfolgen“ paßt Lk 5,11, nicht aber Joh 21,20. 22, da es ja unmöglich ist, im wörtlichen Sinn hinter dem Auferstandenen herzuge­ hen. So ist eher die Grundlage von Lk 5, 4—11 nachträglich zur Ostergeschichte ausgebildet worden, weil der irdische Jesus derselbe ist wie der auferstandene. Diese Analyse ergibt: Die Spannung zwischen Eingangsszene, wo (trotz 4, 38 f.) nur das Volk wirklich beteiligt ist, und der Fischfanggeschichte, zwischen der Kon­ zentration auf Simon allein und der Zufügung der Zebedaiden, ja eines zweiten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 5, 1-7: Rut zum Glauben und zur Erfahrung des Wunders

Bootes, auch das Ineinander der Formen von Wunder- und Berufungsgeschichte lassen sich aus der Entstehung begreifen. Umso klarer erscheinen Berufung und Nachfolge als Ziel des jetzigen Textes. Sie sind freilich Gnadengeschenk (s. schon zu Mk 1, 16-20 Schl.), wie es durch die Erfahrung des Wunders, das Sündenbekenntnis Simons und die dieses und alle Angst aufhebende Verheißung Jesu unterstrichen wird. Dadurch unterscheidet sich auch, was hier beginnt, eindeutig von der Reaktion des Volkes auf die Wundertaten Jesu (4,42; 5,15). Gewisse Unausgeglichenheiten lassen gerade erkennen, was dem Evangelisten und den Tradenten vor ihm derart wichtig war, daß sie Spannungen in Kauf nahmen. Darauf ist im folgenden zu ach­ ten. Die Wahrheit, die sie in der Form einer solchen Geschichte verkünden wollen, hängt nicht daran, wie sie sich im einzelnen historisch abgespielt hat, wohl aber daran, ob das darin Gesagte das Entscheidende an Jesus heraushebt und ihn so cha­ rakterisiert, wie er in seinem ganzen Wirken und Erleben wirklich war und für uns ist (s. zu Mk, Einführung 5). 1

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Die Schilderung beginnt beim „Volk“; der Hauptsatz setzt aber mit dem „Er“ Jesu ein. Mit ihm tritt etwas anderes in die kleinbürgerliche Welt von Fischern und Bauern. Lukas spricht immer korrekt vom „See“, nicht vom „Meer“. „Galiläa“ (Mk 1, 16) fehlt (wegen 4,44?). Lukas betont mit „Wort Gottes“ die Kontinuität zur Gemeindeverkündigung (8, 11.21; 11,28; oft Apg; Briefe; Offb; sonst nur = Altes Testament: M k 7 , 1 3 = Mt 15,6; Joh 10,35). Wie Mk 1,16 (s.d.) „sieht“ Jesus die Jünger und setzt dadurch einen Neuanfang (s. zu 9,38). Während sich das Volk, willig zu hören, auf Jesus hin bewegt, verläuft die entscheidende Bewegung von Jesus her zu den Fischern hin, von denen es nur heißt, daß sie ihr Werk eben erfolglos beenden. Ziel Jesu scheint nur ein kleiner Dienst zu sein, den Simon leicht leisten kann; doch erwähnt Lukas das sich hinziehende (Imperfekt) Lehren Jesu, dessen Hörer Petrus wird. Das wirkliche Zicl wird erst nach dessen Ende sichtbar, wo die bisher geringe Entfernung von der Menge zur eigentlichen Aussonderung auf die „Höhe“ (griechisch: die Tiefe) des Sees hinaus auswächst. Wird dahinter schon die Ausweitung der Mission in Apg 10 sichtbar? Nur Simon ist dazu gerufen, während das Auswerfen der Netze natürlich auch seine Mitarbeiter einschließt. Er nennt wie alle Jünger bei Lukas und die Aussätzigen 17,13, von denen einer „gerettet“ wird, Jesus nicht „Lehrer“ wie alle andern, sondern „Meister“ (ebenso 9,33.49 statt „Rabbi“ oder „Lehrer“ in Mk 9,5.38). Darin zeigt sich schon seine Offenheit für ihn als den „Herrn“ (V. 8, vgl. Einführung, 2c). Die Feststellung der Erfolglosigkeit menschlichen Bemühens steigert das nachherige Tun Jesu und betont noch einmal die allein von Jesus ausgehende Bewegung im Text. Simon äußert unverkrampft seine Bedenken und Zweifel und lernt gerade so, Jesu Wort noch wichtiger zu neh­ men. Damit ist die Situation gezeichnet, in der der Mensch nichts mehr hat als das Wort, das dann freilich „getan“ werden soll (wie schon Q betont: 6,46; 8 , 2 1 ; vgl. 11,28). V.6 f. demonstrieren den wunderhaften Erfolg. Das schwer vorstellbare Niederfal­ len Simons im bis zum Rand gefüllten Schiff soll nur die jetzt erkannte unvergleich­ liche Größe Jesu unterstreichen, und das ebenfalls unvorstellbare, nur einem göttli­ chen Wesen mögliche „Weggehen“, um das Simon Jesus bittet, die unendliche Di© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 5,8-1 1: Sündenerkenntnis und Ruf zum Dienst

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stanz, die zwischen ihnen beiden liegt. „Sünde“ ist im Deutschen mit „Sonderung“ verwandt; das hebräische und griechische Wort bezeichnet das Verfehlen eines Zie­ les, ein Ncbenausgeraten. Auch Lk 5,8 ist nicht moralische Minderwertigkeit, son­ dern die Gottesferne des Menschen gemeint. Daher erkennt Simon seine Sünde auch erst nach der unerhörten Erfahrung der Gnade Gottes. So wenig wie Jes 6,5 ist eine besondere Verfehlung vorausgesetzt (anders Joh 21, 15-18). Höchstens könnte Lukas schon an 22,32b denken, wo gerade dem Sünder der „Menschenfang“ verhei­ ßen wird. „Staunen“ überkommt auch die, bei denen es sich nicht im Bekenntnis 9 ausspricht (s. zu 2,33). Erst hier erscheinen die Zebedaiden (im zweiten Schiff?) als 10 „Geschäftspartner“ Simons, im Unterschied zu den „Genossen“, der Mannschaft (V.7). Wie im Alten Testament Gott oder der Engel (vgl. 1,13; 2,10) befreit Jesus den Simon von Furcht. Es folgt nicht eigentlich eine Berufung in der Befehlsform, sondern eine Feststellung in der Aussageform. Von Vergebung ist keine Rede, Sünde ist überwunden durch die Indienstnahme (wie beim Zöllner Mk 2, 14). Damit ist der gottferne Mensch wieder gottnahe geworden. Lukas spricht nicht vom „Fischen“ (Mk l,17, s. d. Einl.), das ja tötet, sondern vom (lebendig) Fangen, das vom Tod errettet (dasselbe Wort 4.Mose31, 15.18; Jos2, 13; 6,25; 9,20 usw.). Der „Fang“ von V.4 und 9 macht das Bild eindrücklich. Daß die Jünger „alles“ verließen (auch 5,28), korrigierten schon Abschreiber in Mk l,18 hinein, weil ihre Leser kaum Netze, Schiffe oder Zolltisch zu verlassen hatten. Lukas will damit die besondere Anforderung an den engeren Kreis der Jünger des irdischen Jesus hervorheben (14,33; vgl. zu 6,20a und 18,28). Doch wird dabei weniger klar, daß es Jesus nicht um Verzicht als solchen geht, sondern darum, daß der eine dies, der andere jenes verläßt, weil es ihn in seinem Dienst hinderte. Von zögernder, begeisterter oder demütig ablehnender Antwort ist nichts erzählt, sondern nur davon, daß sie als andere Menschen von ihrem Erlebnis zurückkehrten und Jesus - was jetzt am Land möglich ist - „nachfolgten“. Das letzte Wort ist „ihm“; er bestimmt von jetzt an ihr Leben. Sein Ziel aber sind die „Menschen“. Damit ist die Erfahrung Einzelner schon über sie hinausgewachsen in eine die Welt bewegende Sache. Beides stimmt: der Text ist ganz, ursprünglich wohl ausschließlich, auf Simon ausgerichtet, und: er beginnt mit der Verkündigung an das ganze Volk und zielt auf das Wort vom „Menschenfangen“. In der Gotteserfahrung des Einzelnen vollzieht sich also etwas, was auf die Menschen überhaupt zielt und im großen Zusammen­ hang gesehen werden muß. Daß die Verkündigung Jesu an das Volk durch seine Nachfolger weitergehen muß, genügt aber nicht, zwischen V. 1 und V. 11 haben ja die dazu Bestimmten Gottes Sünde heilende Tat an sich erfahren. Sie werden also nicht nur wie Jesus Heil verkünden; sie werden ihn und was ihnen durch ihn wider­ fahren ist, als Heil verkünden. Freilich das Wort „Heil“ fällt nicht, und von „Sünde“ spricht nur Simon selbst. Erzählt wird vom Einbruch Gottes in ein Menschenleben, wobei das, was Mk 1,16-20 holzschnittartig auf das Entscheidende reduziert, ent­ faltet wird. Es ist ein sehr konkretes Erleben, fast ohne religiöse Worte. Gottes Weg zu Simon wird Schritt um Schritt nachgezeichnet. Er hat 4, 38 f. Jesu Macht erfahren. Durch einen kleinen Dienst, um den er gebeten wird, gerät er unter das Wort Gottes. Weder vom Verlangen darnach noch vom Widerstand dagegen noch vom Eindruck, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 5, 1 - 1 1 : Glaube als Erfahrung und In-Dienst-nahme

den es ihm macht, ist etwas gesagt. Alles geht sehr normal zu. Die entscheidende Erfahrung setzt auch bei einem rein weltlichen Mißerfolg an. Glaube beginnt nicht als Zustimmung zu den vorher gepredigten Sätzen, sondern als zutrauen gegenüber dem Angebot Jesu, es wider alle Vernunft nochmals zu versuchen. In einer prakti­ schen, nicht einmal so arg wichtigen Lebensfrage und in der Erfahrung einer alles Erwarten übersteigenden Hilfe lernt Simon Jesus als den zu sehen, der er wirklich ist, damit aber auch sich selbst als „Sünder“. Das ist kein moralisches Urteil, wohl aber die Erkenntnis, daß Gott in seinem Leben nicht den Platz gehabt hat, der ihm zuge­ hört und den er jetzt von sich aus eingenommen hat. Darum braucht auch Jesus nicht von Sünde und Vergebung zu reden, wohl aber vom kommenden Dienst Si­ mons. Heil ereignet sich also so, daß Gott seinen Platz im Leben Simons erobert. Doch wäre alles mißverstanden, wenn Simon - gläubig und dankbar - dabei stehen bliebe. Der Sinn des Geschehens mit ihm liegt ja nicht in ihm selbst, sondern bei den „Menschen“, für die er zum „Fänger“ werden soll. Die Erfahrung eines Einzelnen ist außerordentlich wichtig, aber nur in der Ausrichtung auf den Willen Gottes, den „Menschen“ überhaupt zu begegnen.

C Die Bildung der Gemeinde 5,12—6,11

Auseinandersetzung 5,12-6,11, vgl. Mk 1,40-3,6; Mt 8,1-4; 9,1-17; 12,1-14 Und es geschah, als er in einer der Städte war, [und] siehe, da war ein Mann voller Aussatz. Da er aber Jesus sah, fiel er auf sein Gesicht und bat ihn: Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen. 13 Und er streckte seine Hand aus, rührte ihn an und sagte: Ich will, sei rein. Sogleich ging der Aussatz von ihm. 14 Und er sprach ihm zu, niemandem etwas zu sagen, sondern gehe weg, zeige dich dem Priester und bring für deine Reinigung dar, wie Mose angeordnet hat, innen zum Zeugnis. 15 Das Wort über ihn verbreitete sich aber noch mehr, und die großen Massen kamen zusammen, um zu hören und von ihren Krankheiten geheilt zu werden. 16Er aber zog sich in der Wüste zurück und betete. 17 Und es geschah an einem der Tage, da lehrte er, und Pharisäer und Gesetzeskundige waren dort, die aus jedem Dorf Galiläas und Judäas und aus Jerusalem gekom­ men waren. Und die Kraft des Herrn war gegenwärtig, daß er heilte. 18 Und siehe, Männer, die auf einer Bahre einen Menschen brachten, der gelähmt war, und sie suchten ihn hineinzubringen und vor ihn zu legen. 19 und da sie nicht fanden, wie sie ihn hineinbrächten wegen der Menge, stiegen sie auf das Dach hinauf und ließen ihn samt seinem Lager durch die Ziegel hinunter in die Mitte gerade vor Jesus hin. 20 Und als er ihren Glauben sah, sprach er: Mensch, verge­ ben sind dir deine Sünden. 21 Und die Schriftgelehrten und die Pharisäer fingen an zu denken: Wer ist dieser, der da Lästerungen redet? Wer kann Sünden verge­ ben außer allein Gott? 22 Jesus aber erkannte ihre Gedanken, antwortete und sprach zu ihnen: Was denkt ihr in euren Herzen? 23 Was ist leichter zu sagen: Vergeben sind dir deine Sünden, oder zu sagen: Steh auf und wandle. 24 Damit ihr aber wißt, daß der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu ver12

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C Lk 5,12-6,11: Analyse

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geben - sprach er zu dem, der gelähmt war: Ich sage dir: Stehe auf und nimm dein Lager, wandere in dein Haus. 25 Und sofort stand er vor ihnen auf, nahm das, worauf er gelegt war und ging weg in sein Haus, in dem er Gott pries. 26 Und fassungsloses Staunen ergriff alle und sie priesen Gott und wurden erfüllt mit Furcht und sagten: Außerordentliches haben wir heute gesehen. 27 Und danach ging er hinaus und sah einen Zöllner mit Namen Levi am Zoll sitzen und sprach zu ihm: Folge mir nach. 28 Und er verließ alles, stand auf und folgte ihm nach. 29 Und Levi bereitete ihm ein großes Mahl in seinem Haus und es war eine große Menge von Zöllnern und anderen, die mit ihnen zu Tische lagen. 30 Und ihre Pha­ risäer und Schriftgelehrten murrten und sagten zu den Jüngern: Warum eßt und trinkt ihr mit den Zöllnern und Sündern? 31 Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Die gesund sind, haben den Arzt nicht nötig, sondern die Lei­ denden. 32Ich bin nicht hergekommen, Gerechte zur Umkehr zu rufen, sondern Sünder. 33 Sie aber sprachen zu ihm: Die Jünger des Johannes fasten häufig und halten Gebete, ebenso auch die der Pharisäer, die deinen aber essen und trinken. 34 Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr könnt doch die Hochzeitsgäste nicht fasten lassen, während der Bräutigam bei ihnen ist. 35Es werden aber Tage kommen, und wenn der Bräutigam von ihnen weggerissen wird, dann werden sie fasten, in jenen Tagen. 36 Er sagte aber auch ein Gleichnis zu ihnen: Niemand trennt einen Lappen von einem neuen Kleid und setzt ihn auf ein altes Kleid; sonst wird er das neue zertrennen und zum alten wird der Lappen vom neuen nicht passen. 37 Und niemand schüttet neuen Wein in alte Schläuche; sonst wird der neue Wein die Schläuche zerreißen, und er wird verschüttet werden, und die Schläuche werden verloren gehen, 38 sondern neuen Wein muß man in neue Schläuche schütten. 39 Und niemand, der alten getrunken hat, will neuen; denn er sagt: Der alte ist bekömmlich. ' Es geschah aber, daß er am Sabbat durch die Saaten hindurchwan­ derte und seine Jünger rauften Ähren aus und aßen sie, indem sie sie mit den Händen zerrieben. 2Einige aber von den Pharisäern sprachen: Was tut ihr, was an den Sabbaten nicht erlaubt ist? 3 Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Habt ihr auch nicht gelesen, was David tat, als ihn hungerte und die mit ihm waren? 4 Wie er ins Haus Gottes ging und die Schaubrote nahm und aß und sie seinen Begleitern gab, die doch niemand essen darf außer die Priester allein? 5 Und er sagte zu ihnen: Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat. 6 Es ge­ schah aber an einem anderen Sabbat, daß er in die Synagoge kam und lehrte. Und ein Mensch war dort, und seine rechte Hand war verdorrt. 7Es belauerten ihn aber die Schriftgelehrten und Pharisäer, ob er am Sabbat heilen würde, damit sie etwas fänden, ihn zu verklagen. 8Er aber wußte ihre Gedanken und sprach zu dem Mann, der die verdorrte Hand hatte: Steh auf und stelle dich in die Mitte. Und er stand auf und stand da. 9 Jesus aber sprach zu ihnen: Ich frage euch, ob man am Sabbat Gutes tun darf oder Böses, ein Leben retten oder verderben? 10 Und er blickte sie alle im Kreis herum an und sprach zu ihm: Streck deine Hand aus! Er aber tat es, und seine Hand wurde wiederhergestellt. '' Sie aber wurden erfüllt von blinder Wut und beredeten miteinander, was sie Jesus antun könnten. Lukas schreibt „biblischen“ Stil: „Und es geschah ... und siehe ... sogleich ...“ (5,12f./17.18.25; vgl. 8, 40-56; 18,35-43 und zu 9,28-36 Einl.). Konsequent ge­ staltet er die markinischen Streitgespräche zur grundsätzlichen Auseinandersetzung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 5, 12-26: Vollmacht Jesu und Auseinandersetzung

Jesu mit dem pharisäischen Schriftgelehrtentum (5,17.21.30.33; 6,2.7; vgl. zu 4,3 1-5,11). Die Heilung des Aussätzigen hat Markus durch seinen Neuansatz in 2,1 von den Konfliktsgeschichten getrennt. Lukas ordnet sie (nach 5,1-11) diesen vor, um Jesu Treue gegenüber dem Gesetz (5,14) zu zeigen und so auch das Folgende als wahren Gehorsam gegen Gottes Willen darzustellen; außerdem stehen dann Reini­ gung und Sündenvergebung (5,13.20) nahe zusammen. Auch weist 7,22 darauf zurück. Die Heilung des Gelähmten beweist Jesu Vollmacht, Sünden zu vergeben, als stünde er an der Stelle Gottes selbst. Sein Mahl mit den Zöllnern zeigt Gottes Zunei­ gung zum Menschen, dem Umkehr angeboten wird. Sie kann nicht durch Fasten oder Gebetsübungen geleistet werden, sondern fordert die radikale Wendung zum Neuen hin, das Jesus bringt. Auch Sabbat-Gesetzlichkeit kann geradezu daran hin­ dern, das von Gott geforderte Gute zu tun. So ist die letzte Geschichte die Klimax; nicht der Buchstabe des Gesetzes ist entscheidend, sondern Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes, der dem Sünder vergeben (5,17-26), den Abgewichenen zur Umkehr einladen (5,27-32), Hochzeitsfreude ausrufen (5,33-39), Gutes tun ( 6 , 6 11) will. Etwas von der Unberechenbarkeit Jesu wird sichtbar: Er beobachtet das Gesetz peinlich und bricht den Sabbat; dem einen wird Heilung, dem andern statt dessen Vergebung zuteil; einmal ergreift der Kranke, einmal Jesus die Initiative; einmal soll die Heilung verschwiegen, ein anderes Mal durch das Heimtragen des Bettes allen demonstriert werden. Glaube ist nie Bescheidwissen, sondern Bereit­ schaft, immer neu zu lernen, wo Gott einem begegnen will. So erweist sich Jesus in seiner Vollmacht (5,17.24) als den endzeitlichen „Bräutigam“ (5,34) und „Herrn über den Sabbat“ (6,5). 12-16

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Die typisch lukanische Einleitung in biblischer Sprache läßt Ort (V. 12) wie Zeit (V. 17) unbestimmt. Was hier geschieht, geht alle an. Wie Mt 8,1-4 fehlt der Hin­ weis auf Jesu Gemütserregungen (Mk 1,41.43) und den Ungehorsam des Geheilten. Das Beten Jesu (bei Markus schon 1,35; vgl. zu Lk 4,43; 6,12) wird hier aufgenom­ men, vielleicht um seine enge Verbundenheit mit Gott gerade zu Beginn der anschlie­ ßenden Auseinandersetzung zu betonen. Das Herzuströmen des Volkes (Mk 1,45; vgl. zu Lk 14,25) interpretiert Lukas als Verlangen nach dem Wort und nach Hei­ lung. „Pharisäer und Gesetzeskundige“ strömen herbei, selbst aus Jerusalem, das zum ersten Mal in negativer Rolle erscheint. Die Abgrenzung ihnen gegenüber wird von Anfang an markiert (bei Markus erst 2,6 „einige Schriftgelehrte“). Lukas verbindet vor der Passion die Schriftgelehrten konsequent mit den Pharisäern, in ihr mit den Hohepriestern (s. zu 3,7). Die Theologen fangen also an, auf Jesus aufmerksam zu werden. Inneres (V.20f.) und äußeres (V.24f.) Heil werden verknüpft. Programma­ tisch wird die „Kraft des Herrn“ (ähnlich 6,19; 8,46; auch 4,14.36; 24,49; Apg) zum Heilen zu Beginn der Auseinandersetzung genannt, nicht die Lehre wie Mk 2,2. Lukas stellt sich ein Ziegeldach vor (vgl. zu Mk 2,4) und läßt den Kranken „vor Jesus hin“ gebracht werden. Wie Mt 9,5.7 (s. zu Mt 4,17-11,30 [Kap. 8-9]) kürzt er in V.23, fügt aber V.25 hinzu, daß der Geheilte nach Jesu Geheiß (24) „in sein Haus ging“, zugleich grenzt er stärker ab: Der Geheilte lobt Gott uneingeschränkt (vgl. zu 17,15), die andern werden von „Furcht“ heimgesucht, weil sie „Paradoxes“ (so © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

L.k5,27-39: Umkehr angesichts der neuen Zeit

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wörtlich) gesehen haben, d.h. etwas, was an allen bekannten Meinungen vorbeigeht und so auf den hinweist, der gegen alle Erwartungen handelt: Gott. Auch hier verschärft Lukas die Auseinandersetzung, läßt daher das Volk 27-32 (Mk 2,13) weg und nur Pharisäer und Schriftgelehrte (V.30) als Zeugen auftreten. Sie „murren“ (nicht Mk 1,16), was sich bei ihm immer auf Jesu Verhalten zu Sün­ dern bezieht (15,2; 19,7). Levi verläßt „alles“ (s. zu 5,11), kann aber trotzdem 28 Gastgeber für viele „Zöllner und andere“ (Mk 2,15: und Sünder) sein, was 29 Mk 2,15-17 (s.d., Einl.) unklar bleibt (vgl. noch zu Lk 8,20; 15,2). Von „Nachfol­ gen“ spricht Lukas nur bei Levi (anders Mk 2,15); nur er ist das Musterbeispiel für „Umkehr“, wie V. 32 gegen Mk 2,17 zufügt (vgl. Lk 2 4 , 4 7 ; Apg 11,18; 2 0 , 2 1 ) . Sie 32 führt zur Sündenvergebung (Mk 1,4; Apg 2,38; 3,19; 5,31; 8,22). Für Lukas ist sie nicht nur der Akt des Glaubens (Mk 1,15), sondern eher die damit verbundene Ab­ wendung von „allem“ Alten, die „Bekehrung“ (17,3f.; Apg 3,19; 26,20 beides verbunden), die Wendung von den bösen Werken weg zu den guten (Apg 26,20; vgl. zu Lk 3,8). Wenn bei ihm die Jünger gefragt werden, warum „sie“ mit Zöllnern und 30 Sündern essen und trinken (ähnlich 6,2; Mk 2,16: Jesus), denkt er schon an das Abendmahl der Gemeinde (vgl. Gal 2,12 und die Auseinandersetzung mit diesem Problem Apg 15, 19f., auch 10, 13f.). Fügt Lukas „und trinkt“ in Erinnerung an 7,34 zu, wo das vom Menschensohn ausgesagt ist? Auch die Verbform von V.32 betont 32 die Bedeutung des schon zurückliegenden Handelns Jesu für die Gegenwart. Ein Anlaß (Mk 2,18) wird nicht genannt; die Diskussion beim Gastmahl (s. zu 33-39 14,1) geht ohne Unterbrechung weiter. Nach V.30 wären Pharisäer und Schriftge- 33.34 lehrte die Frager; aber V.33 b spricht von jenen in dritter Person. Fragen also andere? Gegenüber Mk 2,18 werden die Johannesjünger (s. zu 11,1) stärker hervorgehoben. Wie Mt 9,15 wird Mk 2,19b weggelassen. Neu eingefügt wird die, vielleicht in der lukanischen Gemeinde aktuelle, Frage nach regelmäßiger Gebetspraxis, die freilich in der Antwort Jesu (V.34) nicht berücksichtigt werden kann. Oder soll nur betont werden, daß das Fasten das Gebet vorbereitet? Es wird als pharisäische Zumutung hingestellt („ihr laßt ... fasten", anders Mk 2,9). V.35 denkt mit „jenen Tagen" 35 (Mk 2,20b Sing.) wohl an die Zeit nach dem »Weggang" Jesu (vgl. 19,12; Apg 13,2 f.) - oder nur an die Tage bis zur Gewißheit über Jesu Auferstehung? Die 36 folgenden Bildworte werden als „Gleichnis" bezeichnet (s. zu 6 , 3 3 - 3 9 , „er sagte" ist lukanisch). Schwer verständlich sind V. 3 6 - 3 9 . Daß Lukas V. 36 gegenüber M k 2 , 2 1 verdeutlicht, ist auch sonst zu beobachten (11,18; 20,26.38 usw.). Aber nach V.39 wird ja das Alte empfohlen, weil „alter Wein" besser schmeckt. Soll man also alles als Warnung vor Neuerungen verstehen? Aber das paßt nicht zu V . 3 3 - 3 5 , außer man bezöge es nur auf V . 3 5 . Vor allem hat Lukas erst in W.36 eingefügt, daß bei solchem Handeln das neue Kleid zerrissen wird. Das „Neue" muß also doch wohl Jesu Botschaft sein (wie Mk 2,22). Dann kann doch nicht das „alte" Fasten der Johannesjünger und des Judentums, das die Gemeinde wieder aufgenommen hätte, gelobt werden. Soll also mit V.39 nur erklärt werden, daß 39 Unterscheidung dringlich ist, ohne daß ein Werturteil über das Alte eingeschlossen wäre? Auch in 16,1 und 18,2 sind ja ungerechter Haushalter und Richter nicht vorbildlich, schließen also kein Werturteil über ihr Handeln ein. Nur ist dort der Schluß einfacher: Wenn die schon so handeln, wieviel mehr Gott! Dann soll V.39 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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6,1-5 4.5 1

5

6-11 7 8 9

11

Lk 6,1-11: Gesetz und Glaube - D 6 , 1 2 - 9

vermutlich nur die bedauerliche Erfahrung ausdrücken, die auch für die Frager von V.33 gilt, daß alle von Natur lieber beim Alten bleiben als sich Jesu neuem Ruf zu öffnen (vgl. 18,8 b). Wie Mt 12,1-8 (s.d.) wird das Essen der Jünger (s. zu 5,30) erwähnt (V. 1), hinge­ gen die falsche Datierung (Mk 2,26) wie der Satz vom Sabbat, der für den Menschen geschaffen wurde (Mk 2,27), gestrichen; dieser vielleicht, weil er christliche Sabbat­ feier (noch um 200 n.Chr.: Tertullian, Fasten 14,3) legitimieren könnte oder weil die Streichung den Menschensohn direkt neben David rückt. Das „Zerreiben“ der Äh­ ren mag als am Sabbat (vgl. zu 13,10 und Schl, dort) verbotenes zubereiten eines Mahles gelten (Jub 2,29; 50,3.8f.; selbst für eventuelle Gäste ist es am Vortag zu besorgen, vgl. Bill. II 202 f.). Nach einigen Handschriften geschah es am „zweiter­ sten“ Sabbat. Ist das der übernächste (nach 4,16. 33)? Ist es der zweite Sabbat nach Erntebeginn oder in der Passawoche oder der zweite im ersten Monat? Oder be­ zeichnet „erster Sabbat“ den jüdischen, „zweiter“ den christlichen (= Sonntag)? Eine Handschrift fügt in V.5 hinzu:,, An diesem Tage sah er einen, der am Sabbat arbeitete und sprach zu ihm: Mensch, wenn du weißt, was du tust, Heil dir; wenn du es aber nicht weißt, bist du verflucht und ein Gesetzesübertreter“. Dahinter steht wohl das Problem von Röm 14,1-6.22 f.: Nur der Glaube kann die Gesetzes­ freiheit so verstehen, daß sie nicht bequeme Ausrede wird, sondern Aufgebot der Liebe. Aufgehoben ist das Gesetz nur in eine Erfüllung hinein, die nach dem sich darin ausprägenden Willen Gottes fragt, nicht nach dem Buchstaben, die also nicht den Zaun wichtig nimmt, sondern den dadurch geschützten Garten. Anders als Mk 3,1; Mt 12,9 ist die folgende Geschichte, parallel zu V. 1, auf einen „anderen“ Sabbat verlegt und Jesu „Lehren“ in „der“ (vgl. Mt) Synagoge betont (auch 13,10; vgl. 4,15 f.). Nur Lukas nennt „Schriftgelehrte und Pharisäer“ (vgl. aber Mk 3,6), deren „Gedanken“ (wie 9,46) Jesus „kennt“ und mit seinem „Fra­ gen“ herausfordert. Vom „Verderben“ (statt: Töten, Mk 3,4) spricht V.9 vielleicht, weil das Wort „Leben“ auch die „Seele“ bedeutet, die man nicht töten (s. zu 8,55), wohl aber durch Unterlassen des Guten zugrunderichten kann. „Du hast Geld ge­ wonnen, aber Seelen verdorben“, sagen auch Rabbinen um 140 n. Chr. (Bill. 1588; vgl. zu 13,10-17 Schl.). Die Wut der Gegner (auch 11,53 f.) steigert sich noch nicht zu einem Todesbeschluß wie Mk 3,6 (vgl. aber 4,29). Ihn fassen auch nicht die Pha­ risäer (s. zu 13,31), sondern die Hohenpriester und Schriftgelehrten (19,47f.; 20,19 f.; 22,2). Die Feindschaft des Herodes und seiner Anhänger (Mk 3,6) wird erst später sichtbar (9,7-9; 13,31 f.; 23,6-16; Apg 4,27). D Berufung und Unterweisung 6, 12-49 Der Höhepunkt des Konflikts (vgl. zu 4, 31-5,11) führt unmittelbar zur Wahl der Zwölf und in der Rede Jesu (V. 20-49) zur Zurüstung der auf ihn Hörenden. Ruf an jünger und Volk 6,12-19, vgl. Mk3,7-19; Mt 4, 24- 5,1; 10,1-4 12 Es

geschah aber in diesen Tagen, daß er hinausging auf den Berg, um zu beten. Und er blieb über Nacht im Gebet zu Gott. 13 Und als es Tag wurde, rief er © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 6,12-13: Die Jünger und die zwölf Apostel

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seine Jünger herbei und erwählte zwölf aus ihnen, die er zugleich Apostel nannte: 14 Simon, den er zugleich Petrus nannte, und Andreas seinen Bruder, und Jakobus und Johannes und Philippus und Bartolomäus 15 und Matthäus und Tomas und Jakobus, Sohn des Alfäus, und Simon, den sogenannten Zeloten, und Judas, Sohn des Jakobus, 16 und Judas Ischariot, der sein Verräter wurde. 17 Und er stieg mit ihnen hinunter und machte an einer ebenen Stelle halt, und eine große Menge seiner Jünger und eine große Masse Volk aus ganz Judäa und Jeru­ salem und der Küstengegend von Tyrus und Sidon, 18welche kamen, um ihn zu hören und von ihren Krankheiten geheilt zu werden, und die von unreinen Gei­ stern Geplagten wurden geheilt. 19 Und die ganze Menge suchte ihn anzurühren, weil eine Kraft von ihm ausging und alle heilte. Gegenüber Mk 3,7-19 stellt Lukas um; der Zulauf der Menge wird erst V. 17-19 geschildert, so daß sie die Hörerschaft bildet. Jesu Gebet erscheint auch 3,21; 5, 16; 12 9,18. 28 f.; 11,1; 22,41 (knieend); 23,34.46 (im Wortlaut angeführt). Wie 9,28 betet Jesus „nachts“ auf „dem“ Berg (4,5; 21,7 gestrichen) vor der Wahl der Zwölf; Gott selbst muß diese schenken (ähnlich Apg 1,24; 6,6; 13,2 f.; 14,23; vgl. 4,2431). So bleibt der Berg Ort des engsten Zusammenseins Jesu mit den Seinen, die Ebene, in die Jesus hinabsteigt, Ort der Welt mit ihrem Alltag, die Jesu Verkündi­ gung sucht. Erinnerung an den Sinai, die Stätte von Gottesdienst und Anbetung (2.Mose 3,12; 24,1; vgl. 19,3.20; 24,9-18) ist dies trotz 2.Mose 24,1.9 und 34,29 kaum. Dagegen betet Jesus auch nach Mk 6,46 auf „dem Berg“ (vor dem Seewandel, ähnlich Joh 6,15); der Berg ist Bild der Nähe Gottes. Lukas hat nur von vier berufe­13 nen Jüngern berichtet (5,10 f.27), setzt aber eine größere Schar voraus (V. 17), aus der Jesus zwölf „erwählt“ (wie Gott die Väter Israels, Apg 13,17). Ihre Erwählung ist Lukas und Johannes (Apg 1,2.24; 15,7; Joh 6,70; 13,18; 15,16.19) wichtig, während Mk 13,20; l.Kor l,27f.; Eph 1,4 die der Gemeinde betonen. Lukas er­ wähnt weder ihr Bleiben bei Jesus noch ihre Aussendung zu Verkündigung und Heilung (Mk 3,14f.). Anders als Mt 10,1 f. (und Mk 6,30) nennt Jesus selbst die zwölf „Jünger“ auch „Apostel“. Erst Lukas beschränkt den Aposteltitel deutlich auf die Zwölf (vgl. A. vor Mk 6,7 und nach Apg 1,26). Nur Apg 14,4.14 werden Paulus und Barnabas, wohl in übernommener Missionssprache, als „Gesandte“ (der Ge­ meinde Antiochien?) auch so genannt. Für Paulus ist der Apostelkreis größer (l.Kor 15,5.7) und schließt wahrscheinlich eine Frau ein. Iunia (Röm 16,7) ist nämlich nur als Frauenname bekannt, schwerlich ist es eine sonst nicht bezeugte Kurzform des Männernamens Junianus (vgl. noch Offb 2,2). Auch für Paulus bleibt der Kreis der Apostel begrenzt auf die, die den Auferstandenen sahen (l.Kor 9,1; 15,8). Durch Apg 1,21 sichert sich Lukas gegen Behauptungen Späterer, sie seien vom Geist zu Aposteln berufen. Die hier Erwählten sind zunächst nicht die Ausgesandten, sondern die zuhörenden Weggenossen Jesu, die als solche dann Missionare werden, nachdem sie als Augenzeugen des Lebens Jesu und ernste Empfänger des heiligen Geistes zu Zeugen seiner Auferstehung wurden (Apg 1,21 f., s.d.; 4,33). „Kephas“ (Joh 1,42; Gal 2,7-9 usw.), auf griechisch Petrus (= „Stein, Fels“) ist prägender Bildname, kein Doppelname wie Saul-Paulus; denn Paulus ist kein Zuname, der bei der Erwählung zum Apostel verliehen wird, sondern einfach die Namensform, die im griechischen Sprachgebrauch (ab Apg 13,9) verwendet wird. Anders als Mk 3,16.18 14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 6, 14-19: Apostel-Jünger-Gottesvolk-Heiden

werden die beiden Brüderpaare zusammengestellt (s. zu 5,1-11 Einl. gegen Ende; für die übrigen Abweichungen zu Mk 3,13-19 Einl.)- Es gibt also noch keine feste Liste heiliger Personen. Aller Nachdruck liegt auf Jesu Ruf in den Dienst. Die Gruppe, die Eischer und Zollbeamte, also etwa den unteren Mittelstand umfaßt, zeigt eine Spannweite, die den Revolutionär Simon (s. zu Mk 3, 18) und den „Verräter“ (schär­ 17.18 fer als Mk 3,19) einschließt. Von See und Boot (Mk 3,7.9) lesen wir nichts (s. zu 4,31-5, 11). Unter den zum „Hören“ Gekommenen (anders Mk 3,8) werden die Galiläer nicht genannt, weil Judäa das ganze Land bezeichnet. Hörer sind also die Zwölf, umgeben von einer „großen Menge seiner Jünger“ (auch 19,37) und vielem Volk. Ähnlich sieht es in der Gemeinde des Lukas aus. Alle sind angesprochen, ob­ wohl es Worte gibt, die speziell den Jüngern gelten (s. zu V.20 a). Jesu Wille zum ganzen Zwölfstämmevolk (s. A. zu Mk 6,7-13), nicht zu einer Sondergemeinde, wird hier aufgenommen, wobei Lukas wohl schon an die Heiden denkt (Tyrus und 18.19 Sidon sind heidnisches Gebiet). Wieder stehen Wort und Tat zusammen und wird die „alle“ (Mk 3,10: viele) heilende „Kraft“ besonders erwähnt (vgl. zu 5,17). Jesu Taten (6,18f.; 7,1-17) rahmen die Feldrede und weisen so auf 7,21-23 voraus. Hinter V. 19 mag Aberglaube stecken (vgl. Apg 5,15; 19,12), aber man soll Jesus durchaus belästigen, nicht nur anstaunen. Gottes helfende und heilende Zuwendung steht vor dem Aufruf Jesu in V. 20-49.

Die Feldrede 6, 20-49 Die Feldrede ist bedeutend kürzer als die Bergpredigt und steht zu Unrecht in deren Schatten, entspricht sie doch im Wesentlichen Q, also schon der Vorlage des Mt(s. zu Mt 4,7-11,30; 5,21-48 und zu den einzelnen Abschnitten). Sie steht ver­ mutlich Jesu eigenen Worten sehr nah. Ihre Konzentration läßt zunächst das ent­ scheidende Gebot der Feindesliebe und seine Begründung im Verweis auf Gottes endzeitliches Handeln (35 f.) stärker hervortreten. Es wird entfaltet durch die einge­ arbeitete Warnung vor Widerstand gegen das Böse und die goldene Regel, die durch die anschließenden Sätze radikaler gefaßt ist als bei Matthäus und durch das Verbot des Richtens nochmals überboten wird. So entstehen zweimal vier Aufrufe (27f./ 29f.) und drei etwas künstlich parallelisierte Begründungen (32-34) mit V. 31 in der Mitte und V. 35f. als Ziel. Dieses Zcntrum der Rede ist durch Heil- und Wehe­ sprüche einer-, durch die Gleichnisse vom Baum und Hausbau andererseits einge­ schlossen, die die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten unterstreichen. Die traditionel­ len Hinweise auf „Gottes Reich“ und Jesu „Tag“ (V. 20.23) bezieht Lukas dabei auf die schon jetzt zu fällende Entscheidung (s. zu V. 48). Die Folge von prophetischem Zuspruch (20-26), ethischer Mahnung (27-38) und Gleichnis (39-49) findet sich ähnlich in den Visionen, Geboten und Gleichnissen des Hermas, die Folge von Mah­ nungen (mit Feindesliebe beginnend, 27-28), Gemeindeordnung (39-45) und Aus­ blick auf das Gericht (46-49) auch in Didache. Aber Anklänge an die Feldrede fin­ den sich nur Did. 1 (s. A. nach Mt 7,28 f., b7), so daß schwerlich schon an eine feste Tradition für Taufunterricht gedacht werden kann. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 6,20-49: Die Feldrede

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Die Feldrede ruft zum Handeln. Der Heilszuspruch ist gefolgt von der Warnung der Wehesprüche, und auch die Schlußgleichnisse stellen beide Möglichkeiten neben­ einander. Gottes Gnadenhandcln erscheint in der Kategorie des Vorbildes. Ver­ gleicht man aber mit der Didache, wird der Abstand sichtbar. Sie setzt unvermittelt mit der Wahl zwischen den beiden Wegen ein, und die Gebote (Feindesliebe, Nicht­ widerstand, Freigebigkeit) erscheinen als vernünftige, Erfolg versprechende Lebens­ regeln, gefolgt von einer langen Reihe von Geboten und Verboten. Ihre Gemeinde­ ordnung will nur korrekte Durchführung von Taufe, Gebet, Fasten und Herrenmahl sichern; einzig in den liturgischen Gebeten wird Gottes große Güte sichtbar. Ihr Ausblick auf die Endzeit ist vor allem Warnung vor Irrlehrern. Demgegenüber be­ ginnt die Feldrede mit dem Heilszuspruch an die „Armen“ (vgl. 4,18), ursprünglich ohne Weherufe (s. zu 24-26). Gerade die, die nichts vorzuweisen haben, dürfen die Verheißung kommenden Heiles vernehmen. Bei den Weisungen zum Leben unter dieser Zusage wird auf die Barmherzigkeit des Vaters auch gegenüber Unwürdigen zurückgegriffen. Über die Bergpredigt hinaus erscheint der Hinweis auf kommendes Heil, und zwar ohne entsprechende Drohung, und auf den „Meister“, der sich nicht für sich selbst gewehrt hat (s. zu v. 35.38.40). Auch treten der Verzicht auf das Rich­ ten und den überheblichen oder deprimierenden Vergleich mit anderen wie das Bild von der Frucht, die nur wachsen, nicht gemacht werden kann, in der kurzen Feldrede stärker hervor; ebenso die Schlußgleichnisse vom Wurzelboden und Felsfundament, die allein im Gericht bewahren. Damit sind entscheidende Impulse Jesu bewahrt, die Paulus in ganz anderer Weise als die Vorordnung des Handelns Gottes vor dem des Menschen (Gal5,25 u.o.), als Warnung vor allem „Sichrühmen“ (2.Kor 10,17f. u.o.), als den einen schon gelegten Grund aller Gerechtigkeit aufnimmt (1.Kor 3,11). Freilich ist die Feldrede kein theologisch durchdachter Versuch, das Ganze der christlichen Botschaft zusammenzufassen. Sie ist Aufruf zum Leben der Nachfolge, ursprünglich interpretiert durch das gesamte Wirken Jesu, bei Lukas durch das ganze übrige Evangelium. Paulus muß diese Interpretation durch den konzentrierten Hinweis auf Kreuz, Auferstehung und Parusie vollziehen. Wie die ethischen Mahnungen im Ganzen der Paulusbriefe steht die Feldrede im Ganzen des Evangeliums. Sie ist Angebot des Heils in der Form der Mahnung.

Gottes Parteilichkeit für die Armen 6,20-26, vgl. Mt5,3-12 20 Und

er hob seine Augen auf seine Jünger und sagte: Heil den Armen, denn euer ist das Gottesreich. 21 Heil den jetzt Hungernden, denn ihr werdet satt werden. Heil den jetzt Weinenden, denn ihr werdet lachen. 22 Heil euch, wenn die Menschen euch hassen und wenn sie euch ausstoßen und euch schmähen und euren Namen als böse verwerfen wegen des Menschensohnes. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 6,20: Gottes Parteilichkeit für die Armen 23 Freut

euch an jenem Tag und tanzt; denn siehe euer Lohn ist groß im Himmel. Ebenso haben nämlich ihre Väter den Propheten getan. 24 Doch wehe euch, den Reichen, denn ihr habt eure Tröstung schon erhalten. 25 Wehe euch, die ihr jetzt gesättigt seid, denn ihr werdet hungern. Wehe den jetzt Lachenden, denn ihr werdet trauern und heulen. 26 Wehe, wenn alle Menschen von euch wohl reden; ebenso haben nämlich ihre Väter den falschen Propheten getan. 20 a

Lukas unterscheidet gern zwischen Außenstehenden und Jüngern als Hörer: 17,20/22; 18,1/9. Freilich ist das Volk dabei, wenn Jünger angesprochen werden: 6,17-19; 7,1/6,20 (vgl. 12,1; 16,1/14 und zu Mt 5,1 f.). Umgekehrt nennt Jesus dem Volk (14,25) die Bedingungen für Jüngerschaft (im engeren Sinn, gegenüber dem irdischen Jesus: 14,33, s.d.). So gelten der Heilruf an die Armen den Jüngern im engeren Sinn, die alles aufgegeben haben und verfolgt werden (6,20), die Weherufe V. 24-26 Außenstehenden (kaum Irrlehrern, obwohl deren Hab- und Genußsucht gern angeprangert wird, vgl. zu V. 39), das Gebot der Feindesliebe allen Hörwilligen (6,27). Auch Kap. 12 unterscheidet Mahnungen, die allen Hörwilligen gelten (V. 1315) von solchen, die Jünger im engeren Sinn betreffen, deren Gefahr nicht Habsucht ist, wohl aber Heuchelei und Sorgen (V. 1.4.22). Die Frage, wem Jesu Worte gelten, wird daher 12,41 ausdrücklich gestellt. Nur Jünger im engeren Sinn, nicht die „große Menge von Jüngern“ (6,17), müssen „alles“ (so nur Lukas: 5,11 [s.d.].28; 14,33; 18,22) aufgeben (s. zu 18,18-30). Die Gemeinde hat dies nach Lukas auch höchstens in der ersten Zeit erfüllt (Apg 2,44 f.; 4,32-35; aber schon 4,36f. als Sonderleistung hervorgehoben; ähnlich 5,4). Ein engerer Kreis von Jüngern des irdi­ schen Jesus ist aber zum besonderen Zeugnis gerufen, das allen Reichen zur Freiheit vom Besitz helfen soll. Sie soll in der jeweils möglichen Form verwirklicht werden (Lk8,3; 10,38; 14,12-14; 19,8; Apg 20,33-35). Darum ist wichtig, daß das Volk schon bei V.20 anwesend ist. 20b Die Heilrufe gelten den Armen, Hungernden, Weinenden (ohne weiteren Zusatz). Die Anrede in 2. Person ist ungewohnt. Alttestamentlich geschieht das nur gegenüber einem Land oder Volk. Erst in der Apokalyptik werden die für die Heilszeit Be­ stimmten durch die direkte Heilszusage ausgegrenzt (äth.Hen. 58,2; sonst nur Test. Isaak 8,12, was christlich sein könnte). Hier wird nicht derart geistlich formuliert, daß die konkreten, leiblich durchzustehenden Verhältnisse verschwänden. In Palä­ stina haben sich die Armen weithin auch als die Demütigen, allein auf Gott Hoffen­ den verstanden (Mt 5,3); in den hellenistischen Städten der lukanischen Gemeinden gibt es soziale Bedrückung durch die Reichen (Jak 5, 1-6). Dagegen wird nicht stoische Verachtung alles Äußeren gepredigt, sondern die schockierende Parteilich­ keit Gottes für die Elenden (s. zu Mt 5,3). Aber wer hat Recht, Matthäus oder Lukas: Meint Jesus geistliche oder wirkliche Armut? Er hat sich den Armen bedingungslos zugewandt und hat dabei nie schwärmerisch irdisches Elend übersprungen, als lebte der Glaubende schon im Himmel, sondern hat die Einlösung seines Zuspruchs von der Zukunft des Gottesreiches erwartet. Freilich wird sein Wort nur dem zur Hilfe, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 6,20-23: Heil jetzt und einst

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der es hören und aufnehmen kann, so daß etwas von der kommenden Wirklichkeit schon durchbricht. So versteht Lukas. In V. 21 hat er zweimal „jetzt“ eingefügt, um den Unterschied zur zukünftigen Vollendung zu markieren. Aber dies will sich schon Bahn brechen. Darum sind vor allem die Jünger angesprochen, die Jesu Wort schon in ihr Leben aufgenommen haben. Sie sollen mit ihrem radikalen Verzicht auch andere bewegen, ihren Besitz den Armen zu öffnen. Darum erzählt Lukas besonders gern von Angesehenen und Reichen, die diesen Ruf hören (19,1-10; Apg4,36f.; 10; 16,14f.27-34; 18,8). So geht in der Gemeinde weiter, was bei Jesus geschah: die „heute“ erfüllte Frohbotschaft (4,21; 7,22; vgl. die Gegenwartsform 6,20) zeigt sich ja in Jesus Heilungen (4,23-27; 6, 18 f.; 7,21) und in seinem Aufruf, Hungernde einzuladen (vgl. 14,13.21 nebeneinander). Das ist in 6,20 nicht als Bedingung for­ muliert, sondern als Zusage. In jedem, der wirklich hört, wird Gott wirken, um etwas von dem Reich, das er selbst einst bringen wird, schon zeichenhaft erscheinen zu lassen, zugleich gibt die totale Armut den Jüngern die Chance, in ihrer Bedürftig­ keit Jesu Wort besonders gut zu verstehen. Diese Seite der Wahrheit, dem damaligen Judentum besonders bewußt, ging in die Fassung von Mt 5,3 ein (s.d.). Sie gilt über den engeren Jüngerkreis hinaus all denen, die um ihre Armut (in jeder Form!) wissen, vgl. 2.Kor 6,9.: „... als die Traurigen allezeit fröhlich“. Beides ist also gesagt: Jesus verheißt sozial Armen die Wendung ihres Schicksals im Gottesreich und zeichenhaft schon in der Gemeinde. Hören kann das aber nur, wer sich davon bewegen läßt; V. 22 setzt ja Gefolgschaft Jesu voraus. Insofern gehören matthäisches und lukani­ sches Verständnis zusammen. Wer so hört, wird frei zum konkreten Schenken und Sich-schenken-Lassen. Als Schenkender wie als Beschenkter ist er offen für das kom­ mende Reich, weil er sich nicht mehr abfinden kann mit dem Zustand dieser Erde (vgl. auch Jes 55, 1; Am 8, 11; Sir. 24, 21). Aus dem Hören der Verheißung Jesu lebt 21 beides, der Einsatz für alle Armen, Hungernden und Weinenden wie die unbändige Hoffnung auf jene kommende Welt, die dem „Jetzt“ ausdrücklich entgegengestellt wird. Ohne sie bräche die religiöse Schwärmerei aus, die alles schon im Glauben erfüllt sieht und keine Augen mehr hat für das Leiden, über das keine menschliche Bemühung je endgültig Herr werden wird. Aber ohne den Einsatz für dessen Über­ windung, soweit sie menschenmöglich ist, gäbe es kein wirkliches Hören der Verhei­ ßung. Darum redet gerade Lukas so unreligiös konkret von „Sättigung“ und „La­ chen“, ja von Haß, Ausschluß, Schmähung und „Rufmord“ (merkwürdig formuliert 22 infolge eines Übersetzungsfehlers?, s. zu Mt 5,11 Einl.). Mit „jenem Tag“ ist wohl 23 der gemeint, an dem sie „ausgestoßen“ werden (vgl. Apg 8, 1). Ursprünglich war das wohl die Ausstoßung aus der Synagogengemeinschaft, die in rein jüdischer Umge­ bung das Leben fast unmöglich machte. Und gerade da sollen sie wie Kinder vor Freude „tanzen“. Schwerlich ist wie in Lk 10,12; 17,31, wo aber der Zusammenhang das klar macht, an den jüngsten Tag gedacht; dann wäre formuliert „Ihr wer­ det euch freuen“. Erst das nächste Sätzlein spricht von der Einlösung der Verhei­ ßung, dem himmlischen „Lohn“. Zu den Heilrufen sind nachträglich vier Weherufe zugewachsen. Das zeigt der 24-26 (vorlukanische) Neueinsatz mit „jedoch“, die andere Formulierung („wehe euch ...“) und der Stichwortanschluß mit „hassen“, der ursprünglich V.22 f. mit 27 ver­ band; ebenso stand wohl „verfolgen“ in Mt 5,11 und 44 einmal direkt hintereinan© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 6,24-26: Wehcrufc

der. V.26 ist nicht nur länger, sondern auch ohne „Denn“-Satz formuliert. Die We­ herufe gelten denen, die außerhalb der Jüngerschar stehen und den dunklen Hinter­ grund bilden, den „Reichen“, „Gesättigten“, „Lachenden“ (vgl. Pred 8,14; Ps 126,1 f. 137,1; Offb l9,7; 21,4), denen „alle wohlreden“; also nicht einfach allen, die genug zum Leben haben und zufrieden sein können. Getroffen werden soll jenes Darüber-hinaus, das niemanden und nichts mehr nötig hat, auch Gott nicht. Jes 61,1 f. hat wie die matthäischen Heilrufe, so die lukanischen Weherufe geprägt (s. zu Mt 5,4); jetzt aber so, daß auch der Gegensatz von Heil und Rache Gottes nachwirkt (ebenso Jes 57,15-21; 65,13 f.). Jcs 56-66 (dritter Jcsaja) scheinen die 24 Feldrede zunehmend beeinflußt zu haben (vgl. zu V. 38 Einl.). Wie V. 20b (s.d.) ist auch V. 24 präsentisch formuliert: Gottes Zusage der Zukunft steht schon über den 26 Menschen; wo sie nicht gehört wird, vollzieht sich schon das „Wehe“. Falschprophe­ ten, die den Leuten nach dem Munde reden (Jer 28,8 f.), leutselige, allseits beliebte Prediger können sogar gefährlicher sein als der, der seinen Mißerfolg dem eigenen Ungehobeltsein zu verdanken hat. Das zentrale Gebot der Liebe 6,27-36, vgl. Mt5,38-48; 7,12 27 Aber ich sage euch, die ihr hört: Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, 28 segnet, die euch verfluchen, betet für die, die euch beschimpfen. 29 Dem, der dich auf die Wange schlägt, biete auch die andere dar, und dem, der dein Obergewand raubt, verwehre auch das Untergewand nicht. 30Jedem, der dich bittet, gib, und von dem, der dein Eigentum raubt, fordere es nicht zurück. 31 Und wie ihr wollt, daß die Menschen euch tun, so tut ihnen gleichermaßen. 32 Und wenn ihr die liebt, die euch lieben, was für eine Gnade ist das für euch? Denn auch die Sünder lieben die, die sie lieben. 33 Ja, auch wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, was für eine Gnade ist das für euch? Auch die Sünder tun desgleichen. 34 Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr hofft, etwas zu be­ kommen, was für eine Gnade ist das für euch? Auch Sünder leihen Sündern, um das Ihre wieder zu bekommen. 35 Liebt jedoch euere Feinde und tut Gutes und leiht denen, von denen ihr nichts erhofft, und euer Lohn wird groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein, denn er ist gütig über die Undankbaren und Bösen. 36 Werdet barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.

27.28

Dieses Zentralgebot Jesu ist in vielen Versionen überliefert (s. zu Mt 5,21-48 [3848 und 43-48] und zu 1.Kor 4,12). Es gilt allen „Hörenden“ (s. zu V.20a, kaum schon im Sinn von 8,8). Über Mt 5,44 hinaus betont Lukas das praktische Gutestun und das Segnen. Das Wort „beschimpfen“ kann auch „mißhandeln“ bedeuten, deckt also ein breites Band von Erfahrungen. Als erstes ist nicht ein Beten oder Tun gefor­ dert, sondern die Grundhaltung der Liebe, aus der dann freilich Taten herauswach­ sen (32-35). Das „Wohltun“ (V.27) wird auch V.33.35 (vgl. l.Makk. 11,33) leicht variiert aufgenommen. Was solcher Liebe, die ja schon Gabe Gottes ist, zuteil wer­ den wird, nennt Lukas „Gnade“ (V.32-34, anders 35b), nicht „Lohn“ (Mt 5,46 f.; 29.30 s. auch bei 5,21-48). In diese Sätze hinein ist das singularisch mit „du“ formulierte Verbot des Widerstandes eingefügt (s. zu Mt 5,21-48 [38-48; für Angleichung an © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 6,27-36: Unbegrenzte Liebe

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griechische Verhältnisse ebd. zu 39-42]). Did. l,4 f. (vgl. Justin, Ap. I 16,1) setzt die Form von Lk 6,29 f. voraus, kennt also wahrscheinlich deren Vorlage (kaum Lukas selbst). Ebenso folgt alles zusammenfassend die goldene Regel (s. zu Mt 7,12), 31 selbstverständlich nicht bloß im Sinn eines klugen Rates, weil man dann die Gegen­ leistung des andern erwarten dürfte (so Sir.12,1-6; Epiktet II 14,18; Dio Chrysosto­ mus, Rede 7,88 f.). Sie schließt hier gut an; denn in der Vorlage von V. 30 war wie 29—34 Mt 5,42 vom Leihen die Rede, nicht vom zurückverlangen des Geraubten, wie Lukas in Anknüpfung an V.29 formuliert. Das beweist auch V.34, der auf diese Form zurückverweist und trotz der Angleichung an V.32 f. nicht parallel formuliert ist (nicht: „von denen, die auch euch leihen“), also Lukas schon vorlag. Stand ur­ sprünglich das Verbot des Widerstands (V.29f.) wie Mt 5,39-42 am Anfang, zu­ sammen mit der goldenen Regel (singularisch formuliert?), gefolgt vom Gebot der Feindesliebe (V.27f. mit 32f.)? Wurde dann vorlukanisch beides zusammenfassend und wiederholend V. 34.35 a eingeschoben? V.35 b mag in Erinnerung an Mt 5,45 35 hierher versetzt und allgemeiner formuliert worden sein. W. 35 ruft zu großzügigem Leihen auf, auch wo man nicht auf Gegendienste hoffen kann. Oder ist an Zins oder Rückerstattung gedacht? Oder ist es gar ein mißverstandener aramäischer Ausdruck gewesen, der einfach hieß „ohne abzulehnen“? Jedenfalls denkt Lukas praktisch: der Leser wird häufiger um ein Darlehen gebeten als geschlagen und beraubt. Daher gibt er dem Aufruf zum Leihen größeres Gewicht. Feindesliebe ist nicht eine Hochstim­ mung, zu der man sich aufpeitscht, sondern Wohltat an Unsympathischen, Auslei­ hen an Unzuverlässige. Der zukünftige „Lohn“ besteht darin, daß sie einst vollkom­ men sein werden, was zu sein sie hier einüben: „Söhne des Höchsten“, der für „Un­ dankbare und Böse“ da ist. Das ist mehr als Sir. 4, 10 LXX: „Werde Waisen Vater und ihrer Mutter wie ihr Mann und du wirst wie ein Sohn des Höchsten sein und mehr als deine Mutter wird er dich lieben“. V.36 wird fast gleich von jüdischen 36 Lehrern formuliert (Bill.), aber dort als Anweisung für korrektes Schlachten. Hier ist Gottes Güte und Barmherzigkeit gegenüber undankbaren Empfängern betont, nicht sein gleichmäßiges Walten über Böse und Gute (Mt 5,45). Der Mensch gleicht also dem Flußbett, durch das das Wasser der Güte Gottes fließt. Darum wird auch nicht sofort zum Gebet oder zu einer religiösen Sonderlei­ stung aufgerufen. Aber selbst ein Flußbett wird verändert durch das Wasser, das es durchfließt. So will das Leben der Güte Gottes den Menschen öffnen zum Beten und zum praktischen Tun dessen, was sich angesichts auch einer feindlichen Welt auf­ drängt, zu einem sorglosen und gerade so echt besorgten Leben, nicht zu patronisie­ render „christlicher Liebe“. Gott schafft sich sogar Einzelne, die Jünger im engeren Sinn, in denen schon etwas von der Vollendung aufleuchtet, auf die hin er alle Men­ schen prägen will. Das geht noch über die goldene Regel hinaus.

Die Liebe als Brüderlichkeit, die nicht richtet 6,37-42, vgl. Mt 7,1-5; 15,14; 10,24f. 37 Und richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet werden, und verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt werden. Laßt los, und ihr werdet losgelas-

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Lk 6,37-42: Nicht richten

sen werden. 38 Gebt, und euch wird gegeben werden; ein gutes Maß, fest ge­ drückt, geschüttelt und überfließend, werden sie in euren Schoß legen; denn in dem Maß, in dem ihr meßt, wird euch zugemessen werden. 39 Er sprach aber auch ein Gleichnis zu ihnen: Es kann doch nicht ein Blinder den andern führen; wer­ den sie nicht beide in die Grube fallen? 40 Der Jünger ist nicht über dem Meister. Wenn er ganz ausgebildet ist, wird er wie sein Meister sein. 41 Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, des Balkens aber im eigenen Auge wirst du nicht gewahr? 42 Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, laß mich den Splitter in deinem Auge herausziehen, und siehst dabei den Balken in deinem Auge nicht? Du Heuchler, ziehe erst den Balken aus deinem Auge, dann magst du zusehen, den Splitter im Auge deines Bruders herauszuziehen.

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Auch hier folgt Lukas Q. Die Mt 7,1-6 (s.d. Einl.) fehlenden Verse 37b. 38 enthal­ ten unlukanische Ausdrücke, sind also wohl vorlukanisch zugefügt oder von Mat­ thäus in Q gestrichen worden. Der Wechsel vom Passiv zur 3.Person Plur. Aktiv in V.38 (s.d.) ist kein Beweis für einen ursprünglich selbständigen V.38 b; dasselbe geschieht in 12,48. Wie Mt 4,24 Ende schildert V,38 die überfließende Fülle der Gabe Gottes, nur daß eine Wendung aus Jes 65, 6f. verwendet wird (vgl. zu 6,2426). Soll man V.39f. zu 41-49 ziehen und als Rede an die Zwölf oder als Warnung vor Irrlehrern verstehen? Aber Wechsel der Hörerschaft ist nicht angedeutet, und V.41 f. setzen V.37f. fort (wie Mt 7, 1-5). Eher sind V.39f. (par. Mt 15,14; 10,24f.) von Lukas oder seiner Quelle eingefügt, die auch durch V.37f. gegenüber Mt 7,1 aufgefüllt hat. Oder sie standen schon in Q an dieser Stelle. Die neue Einleitung könnte zwar lukanischen Zusatz andeuten; doch s. zu 21, 10 Einl. Lukas redet (außer 8,10, s.d.) immer vom „Gleichnis“ im Singular, auch wo mehrere folgen (5,36; 14,7; 15,3; 18,1) oder Markus den Plural setzt (8,4.9.[11] ; 20,9), faßt also V.3942 als Gleichnisrede vom Blindsein, die das V.37f. Gesagte illustriert. Der direkte Anschluß an den Hinweis auf die Barmherzigkeit Gottes und die Ver­ heißung der Gottessohnschaft (V.35 f.) begründet die Warnung vor dem Richten und die Verheißung des Nicht-gerichtet-werdens. Lukas interpretiert zusätzlich durch „verurteilen“ und „freigeben“. Das Wort kann sich auf Verhaftete beziehen, im zwischenmenschlichen Umgang auch auf das Vergeben oder das Erfüllen einer Bitte. Wie er V.27 „lieben“ als „wohltun“ erläutert hat, so folgt die positive Aufforderung zum „Geben“. Darauf bezieht sich jetzt das „Maß“, nicht mehr wie Mt 7,2 (s.d.) auf das Richten. V.38 stand wohl in Q, vielleicht in der Form von Lk, während Mt 7,2 an Mk 4,24 anglich. Jesus-Worte wurden also immer wieder in neue zusam­ menhänge gestellt. Die 3. Person Plur. umschreibt bei Rabbinen oft Gott (Bill. II 221; Dam. 2,13); was auch für Herkunft aus Q spricht. Da Lk 6,17-8,1 nie Pharisäer nennt, kann das Mt 15,14 auf sie bezogene Wort in Lk 6,39 wohl nur Jesusjünger meinen, die sich ein Urteil über andere und damit Führung anmaßen, dabei selbst einen „Balken im Auge“ (V.41) haben und also blind sind, im besonderen wohl Gemeindeleiter (s. zu 12,42). Der rabbinische Satz vom Hirten, der den Leithammel blendet, wenn er über die Herde zürnt (Bill. I 721), hebt das Gericht über die Leiter und die Auswirkung auf das ganze Volk hervor, Lk 6, 39 ihre Verantwortung. Das Bild von Lehrer und Schüler sagt Mt 10, 24 f., daß es den Jüngern nicht besser erge­ hen werde als Jesus (vgl. Joh 15,20); Joh 13,16 ruft es zu demütigem Dienst. Lk 6,40 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 6,43-49: Wurzelgrund und Felsfundament

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aber spricht im zweiten Glied statt von Sklaven und Herren vom „Vollausgebilde­ ten“, also vom Lehrer in der Gemeinde, der mit seiner Verurteilung „nicht über“ Jesus hinausgehen soll, wie es Stephanus mit seiner Fürbitte vorbildlich illustriert (Apg 7,60). An neue Lehren (wie Apg 20,30) wäre nur gedacht, wenn der ganze Abschnitt sich auf Irrlehrer bezöge; aber dann wäre der Zusammenhang von V.41 f. mit V.37 zerrissen. Vielleicht weist auch die eingefügte Anrede „Bruder“ auf herab­ 42 lassende Ansprachen von Gemeindeleitern hin, während Jesu paradoxes Bild sie doch dazu führen will, auch über sich selbst und die Lächerlichkeit ihrer Anmaßung zu lachen.

Wurzelgrund und Felsgrund 6,43-49, vgl. Mt 7,15-27; 12, 33-35 43 Denn es gibt keinen guten Baum, der schlechte Frucht bringt, und wiederum auch keinen schlechten Baum, der gute Frucht bringt; 44 denn jeder Baum wird an seiner eigenen Frucht erkannt. Denn man liest von Dornen nicht Feigen, auch erntet man nicht vom Dornbusch eine Traube. 45 Der gute Mensch fördert aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute, und der Böse fördert aus dem bösen das Böse; denn aus dem, wovon das Herz überfließt, redet sein Mund. 46 Was nennt ihr mich Herr, Herr, und tut nicht was ich sage? 47 Jeder, der zu mir kommt und auf meine Worte hört und sie tut, ich will euch zeigen, wem der gleich ist. 48 Er ist gleich einem Menschen, der ein Haus baute, der grub und aus­ schachtete und das Fundament auf den Felsen legte. Als es aber Hochwasser gab, brandete der Fluß gegen jenes Haus und konnte es nicht erschüttern, weil es gut gebaut war. 49 Wer aber hört und nicht tut, der ist gleich einem Menschen, der sein Haus ohne Fundament auf die Erde baute, an das der Fluß brandete, und es fiel sogleich zusammen und der Einsturz jenes Hauses wurde groß.

Auch V.43-49 stammen aus Q (s. zu Mt 7,16-18; 12,33-35 Einl.). Konsequent ist nur im Singular von der „Frucht“ (so auch 20,10) und vom „Guten“ oder „Bö­ sen“ die Rede. Das Leben ist eines, mit all seinen Licht- und Schattenseiten auf Gott ausgerichtet oder nicht. Daß V.44b nur das negative Beispiel (Mt 7,16) anführt, ist kaum polemisch zu verstehen; denn das Paradox kann eigentlich nur so ausgedrückt werden und ruft gerade in dieser Weise dazu auf, von der Wurzel her guter Baum zu werden. Schon V.45a (nicht Mt 12,35) erwähnt das „Herz“, das alles Handeln bestimmt wie der Baum die Frucht. Damit ist alttestamentlich das Ich gemeint, das auch den Willen einschließt. Erst dann, nicht vorangestellt wie Mt 12,34, wird als Sonderbeispiel auf das (lehrende?) Reden verwiesen, in dem sich dies ausdrückt. V.46 wie das Schlußgleichnis rufen wieder zum „Tun“, das aus der grundlegenden Erkenntnis des „Herrn“ und dem Hören auf ihn fließen muß. Er mag schon den Gegensatz zwischen gottesdienstlichem Pathos und kläglichem Versagen im Alltag im Blick haben. Die doppelte Einleitung des Schlußgleichnisses scheint für Q typisch zu sein (vgl. 13,18-21 und s. zu Mt 7,24-27 Einl.). „Ich will euch zeigen“ erinnert dabei noch an direkten mündlichen Zuspruch. Lukas interpretiert das Hören neu als „Kommen zu Jesus“. Das tut er auch 14,26; denkt er dabei an die Taufe? Ebenso betont er die Bemühung des Menschen, zum Felsfundament (s. zu Mk 12,1-12 Einl. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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ELk 7, 1-9,50: Überblick

und zu Mt 16, 18) vorzudringen (s. zu Mt 7,24-27). Damit ist der Entscheidungscha­ rakter der ganzen Feldrede nochmals festgehalten (vgl. 5. Mose 28, 1 f. 15). Die an das Endgericht erinnernden Bilder Mt 7,25.27 sind hingegen verblaßt. Wie Mt 7,28 unterstreicht Lk 7, 1, daß Jesu Rede alles Volk erreichen will. E Ruf zur Sammlung 7,1-9, 50 Kap. 7f. zeigen Jesu Ringen um Israel. Die großen Taten Jesu 7,1-17; 8,26-56, beidemal mit einer Totenerweckung schließend, rahmen den zentralen Abschnitt über das rechte Hören des Gotteswortes 7,36-8,21, der seinerseits umschlossen ist von der Frage, wer Jesus ist, und der Aufforderung zur rechten Entscheidung 7,1835 und 8,22-25. Sie zielen auf die Sendung der Zwölf (9,1-6) und werden aufge­ nommen durch die jetzt eindeutig gestellte, deutlich auf 9,20 (vgl. V.8/19!) verwei­ sende Frage: „Wer ist der?“ (9,9; vgl. schon 7,49). Sie findet ihre Antwort in der Speisung der 5000 (9, 12-17), vor allem aber im Petrusbekenntnis (9,20) und seiner Korrektur durch den Hinweis Jesu (9,22.44 mit der Warnung vor dem Groß-sein­ Wollen, auch 46-50), und das Gespräch Moses und Elijas mit Jesus über seinen „Ausgang“ in Jerusalem, also seine Passion (9, 31; vgl. 9,41). Diese ist gegenüber Markus noch stärker betont (s. zu 9, 31), bildet aber weder im ersten noch im zwei­ ten Teil des Wirkens Jesu das strukturierende Element wie dort (s. Mk, Rückblick, Tabelle). Schon in Q schloß die Geschichte vom Hauptmann hier an (vgl. Mt, Einführung 2.), wahrscheinlich auch der Täuferabschnitt 7,18-35 (Mt 11,2-19); denn Mat­ thäus hat in 8,18-22 (s.d.) und 10 bewußt Q-Tradition nach vorne gezogen (s. zu Mt 4,17-11,30, Abschnitt 1). Lukas oder seine Vorlage hat im Blick auf 7,22 in 7, 11-17 einen Beleg für Totenerweckung eingefügt, während sich die Geschichte von der Sünderin 7,36-50 (vgl. 8,1-3) als Evangeliumsangebot an die Armen an V.34 anschließt. Den ganzen Abschnitt Mk 3,20-35 läßt Lukas weg, weil er die Beelzebul-Diskussion 11,14-23 (12,10) in der Q-Version bringen wird. Den Mk 3,21. 31-35 damit verknüpften Satz über Jesu Familie und die, die „das Wort Gottes hören und tun“, holt er 8, 19-21 nach. Typisch für ihn ist die Betonung von Hören und Tun. Wie Matthäus läßt er das negative Urteil über Jesu Familie (Mk 3,21) weg. Er illustriert durch die Versetzung nach 8, 19-21 wie mit der Reduk­ tion auf ein Gleichnis in 8,1-15 das „Hören“ des „Wortes Gottes“ (8, 11.15.18). Im übrigen folgt Lukas Markus bis zur Speisung der 5000, weglassend, was er schon gebracht hat (Mk 6, 1-6a. 17-29 [s. zu Lk 20,9-19]) oder noch bringen wird (Mk 4,30-32) oder was ihm inhaltlich nicht einleuchtet (Mk 4,26-29). zwischen 9, 17 und 9, 18 fehlt der ganze Abschnitt Mk 6,45-8,26. Hat in seinem Exemplar des Markus etwa 6,47-8,27a gefehlt? Das wäre denkbar; Mk 6,45 f. wären dann der Abschluß der Speisungsgeschichte 6,32-44 gewesen und 8,27b der Anfang des Berichts vom Petrusbekenntnis, während 27a noch den Abschluß der ausgelassenen Blindenheilung gebildet hätte. Dann hätte in seinem Markus das Petrusbekenntnis direkt an die Speisung und Jesu einsames Gebet (Mk 6,46) angeschlossen, und Bet­ saida wäre unmittelbar vorher (Mk6,45, Papyrus 45 usw. ohne „hinüber“) genannt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 7, 1-9,50: Fehlen von Mk 6,45-8, 26

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Das könnte die seltsame Bemerkung Lk 9, 18 erklären, daß Jesus allein betete und die Jünger doch bei ihm waren, ebenso die Lokalisierung des Petrusbekenntnisses bei Betsaida (Lk 9,10). Freilich hätte Lukas dann auch in Mk 6,46 gelesen, daß Jesus sich von den Jüngern getrennt hatte. Die Auslassung läßt sich auch als bewußte Kürzung des Lukas verstehen, bringt er doch sonst viel neuen Stoff. Lk 11,16 erin­ nert an Mk 8 , l l , Lk 11,38 an Mk 7,2.4, Lk l 2 , l an Mk 8,15 (s.d. Einl.). Doch handelt es sich dabei immer um Einleitungen zu Q-abschnitten. Das beweist also so wenig die Abhängigkeit vom ausgelassenen Markusteil wie die Tatsache, daß z.B. das Senfkorngleichnis in Q auch allerlei mit der Markusform gemeinsam hat. Sicher­ heit läßt sich aber auch nicht gewinnen; denn außer der nicht mehr und im Verständ­ nis des Lukas für Jesus überhaupt nicht aktuellen Gesetzesfrage (Mk 7,1-23, vgl. 24-30) und dem Seewandel ähneln die ausgelassenen Abschnitte früher Erzähltem (vgl. Mk 6,51 mit Lk 8,24). Auch die Reise ins heidnische Land fällt dadurch weg (vgl. 8,26.39), weil dieses sich erst nach Ostern den Jüngern öffnet, und die von Lukas eingefügte Frage nach Jesus (9,9) rückt ihrer Antwort näher (s.o. und zu 9, 18-27 Einl.). Weggelassen wird auch die apokalyptisch gefärbte Gleichsetzung des Täufers mit Elija (Mk 9,9-13, s. zu Lk 3,15-20 Schl.). Nicht er, sondern der wieder­ kommende C hristus wird alle Dinge wiederherstellen (Apg 3,20f.). Vollmacht und Schwachheit der Apostel (9,1-17/37-50) bilden jetzt einen guten Kontrast; C hri­ stusbekenntnis und Ruf zur Nachfolge auf Jesu Leidensweg verknüpfen beides (9,18-36). Sie sind zugleich von zwei Wunderberichten (9, 10-17/37-43) umrahmt, die Jesu Macht zeigen. Das entscheidende Geheimnis ist also nicht Jesu Messianität, sondern seine Passion. Darauf wird ab 9,22 hingewiesen und damit 9, 51 vorbereitet. Aber sie ist Zeichen der Macht, nicht der Ohnmacht Gottes. Der Glaube des Hauptmanns von Kafarnaum 7, 1-10, vgl. Mt 8,5-13 1 Als er alle diese Worte in die Ohren des Volkes vollendet hatte, ging er nach Kafarnaum hinein. 2 Eines Hauptmannes Knecht aber, der ihm teuer war, war krank und lag im Sterben. 3 Als der aber von Jesus hörte, schickte er Älteste der Juden zu ihm und bat ihn, er möchte kommen und seinen Knecht erretten. 4 Als sie aber zu Jesus gelangten, baten sie ihn voll Eifer und sagten: Er ist würdig, daß du ihm dies gewährst, 5 denn er liebt unser Volk und hat uns die Synagoge ge­ baut. 6 Jesus aber wanderte mit ihnen. Als er nicht mehr weit vom Haus entfernt war, sandte der Hauptmann Freunde und sagte ihm: Herr, bemühe dich nicht; denn ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehst; 7deswegen habe ich mich auch nicht für würdig erachtet, zu dir zu kommen. Aber sprich ein Wort und mein Junge soll geheilt werden. 8 Denn auch ich bin ein Mensch, der unter Be­ fehlsgewalt steht, und habe unter mir Soldaten und sage zu diesem: Geh!, und er geht, und zu einem andern: Komm!, und er kommt, und zu meinem Sklaven: Tu dies!, und er tut es. 9 Als Jesus aber dies hörte, verwunderte er sich über ihn und wandte sich um zu der Menge, die ihm nachfolgte, und sprach: Ich sage euch, selbst in Israel habe ich keinen so großen Glauben gefunden. 10Und die Abge­ sandten kehrten in das Haus zurück und fanden den Knecht gesund.

Sprachlich erweisen sich als vorlukanisch der Zug, daß der Kranke am Sterben (und daher nicht transportfähig) ist (auch Joh 4,47), die Sendung der Freunde (V.6) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 7, 1-10: Glaube des gottesfürchtigen Heiden

und das mit Matthäus übereinstimmende anschließende Gespräch. Lukas hat Einlei­ tung und Schluß stilistisch geformt. Vielleicht war ursprünglich nur von einer Ge­ sandtschaft die Rede, die Jesus von der Krankheit des Knechtes unterrichtete und V.6b. 7b.8 sprach, also fast wörtlich das, was nach Mt 8,8f. der Hauptmann sagte. 3-6 Dann hätte Lukas nach mündlicher Tradition oder in Angleichung an Apg 10,2.5.22 (s. zu Apg 10,1-48) V.3-6 a gebildet und durch 7a (im Kontrast zu 4b) mit seiner Vorlage verbunden. Der Durchbruch zur Heidenmission erfolgt erst nach Israels Entscheidung (vgl. zu 8,26.39). Daher läßt Lukas den Bittsteller nicht einmal auftre­ ten, und sein Heidentum dient nur der Beschämung Israels. Auch der Satz von den herzuströmenden Heiden (Mt 8,11 f.) steht Lk l3,28 f. im Zusammenhang eines 9 Bußwortes an Israel, zugleich wird Jesu Bemühung um Israel sichtbar; er wendet sich „zur Menge“ (nicht Mt 8,10). Auch sind es Israeliten, die einem gottesfürchti­ gen Heiden (im Dienst des Herodes?) den Weg zu Jesus öffnen und so vielleicht für die Zeitgenossen des Lukas Vorbild sein sollen. Während sie seine guten Werke (vgl. Apg 10,2) loben, preist Jesus seinen Glauben. Im Zusammenhang ist der zum Glau­ ben rufende Machterweis Jesu wichtig. Wer ihm diesen zutraut, gerade wenn er selbst um seine Unwürdigkeit weiß, hat auf Felsgrund gebaut (6,48). Macht über den Tod 7, 11-17 11 Und es geschah daraufhin, daß er in eine Stadt wanderte, die Nain genannt war, und seine Jünger und eine große Menge wanderten mit ihm. 12 Als er sich aber dem Tor der Stadt näherte, da, siehe, wurde ein Verstorbener herausgetra­ gen, einziger Sohn seiner Mutter, und sie war Witwe, und eine beträchtliche Menge aus der Stadt war mit ihr. 13 Und als der Herr sie sah, erbarmte er sich über sie und sprach zu ihr: Weine nicht! 14 Und hinzutretend rührte er den Sarg an, die Träger aber standen still. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, stehe auf! 15 Und der Tote setzte sich auf und begann zu reden, und er gab ihn seiner Mut­ ter. 16 Furcht aber packte alle und sie priesen Gott und sagten: Ein großer Pro­ phet ist unter uns aufgestanden, und: Besucht hat Gott sein Volk. 17 Und dieses Wort über ihn ging aus im ganzen Judäa und der ganzen Umgebung.

Die Geschichte setzt mit einer gegenläufigen Bewegung ein: Der Zug Jesu kommt auf die Stadt zu, der Leichenzug aus ihr heraus. Jesu Initiative verhindert, daß sie aneinander vorbeiziehen. Die barmherzige Zuwendung Jesu zur Mutter in Wort und Tat (13.15 b) rahmt die entscheidende Mitte: Jesu Geste und Wort an den Toten und dessen Reaktion und Demonstration des Wunders (14.15 a). Die Wirkung wird beschrieben durch die Furcht des Volkes und das Lob des Gotteshandelns in Jesus (16) wie durch die Ausbreitung des Rufes Jesu (17). Nur Lukas erzählt diese Ge­ schichte, die er wohl (mündlich oder eher schriftlich) in fester Form übernimmt. Sein Stil wird nur V.11f.l6a (s. zu 17,15). 17 sichtbar. Sie ist dem Vorbild Elijas nach­ erzählt, der sich ebenfalls der Stadt und ihrem Tor nähert, dort einer Witwe begeg­ net, deren (einzigen?) Sohn er später erweckt und „ihn seiner Mutter zurückgibt“ (wörtlich gleich), was ihn als Gottesmann (Prophet) ausweist (l.Kön 17,8-24). V. 13-16 enthalten Unlukanisches. Z.B. streicht Lukas in Mk 6,34 den Zug, daß © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 7,11-17: Jesus, Anführer des Lebens

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Jesus „sich erbarmte“; Mk 8,2 und 9,22 fehlen sowieso, und in Apg kommt das Wort nie vor. Dann wird Jesus als „der Herr“ bezeichnet (s. Einführung, 2c). „Weine nicht“ steht zwar auch 8,52, könnte aber von Lukas dieser Stelle (7,13) nachgebildet worden sein. Helfer und der Hilfe Ermangelnde gehen auf einander zu. Dem der Macht des 11.12 Todes hilflos ausgelieferten Menschen begegnet Gottes Hilfe in Jesus, der als „An­ führer des Lebens“ (Apg 3, 15) vor seinen Jüngern herzieht. Als „einziger“ (vgl. zu 8,42) Sohn „für seine Mutter“ (so wörtlich) war der Tote ihr Ernährer. „Herr“ ist 13 Jesus, weil er die Not „sieht“ und sich ihr zuwendet (s. zu Mk 1, 16; 6,34; Mt20,34). Särge wurden zur Bestattung benutzt (Bill. I 696, 1047f. usw.); Joh 19,40-42; 20,6 (vgl. Mk 15,46) ist Ausnahmesituation. Hinausgetragen wurde der Tote aber in ein Tuch oder eine Decke gewickelt auf einer Bahre ( im offenen Sarg?). Anders als Elija 14.15 ruft Jesus weder Gott an (vgl. zu Apg 9,40) noch streckt er sich über den Toten aus. Er befiehlt ihm aufzustehen. Weder ein Aufschreien (l.[3.] Kön 17,22 LXX) noch ein siebenmaliges Nießen (2.[4.] Kön 4,35) des Auferweckten macht auf das Wunder aufmerksam, sondern ein sehr natürliches Sichaufrichten und Reden. Die Rückgabe des Sohns an seine Mutter betont wie V. 13 die Zuwendung Jesu zum Leidenden und, weil Unglück als Strafe Gottes angesehen wurde, auch Verachteten. Wie 17, 15 16 wird Gott gepriesen (s.d.). Ein „großer Prophet“ war schon Johannes (1,15.17); aber vielleicht ist hier damit der letzte, messianische gemeint (s. zu 3,15—20 Schl.). Wenn gesagt wird, er sei „auferstanden“ (= aufgetreten), sieht Lukas darin viel­ leicht eine unbewußte Voraussage von Ostern. Gottes „Besuch“, V. 16 griechisch mit einem zweiten „daß“ angehängt, ist Lukas wichtig (s. zu 1,68). Die Kunde von 17 Jesus dringt jetzt selbst in die Nachbarländer Judäas (über 4,14.37; 5,17 hinaus, vgl. 6,17). Zum Grundsätzlichen vgl. A. nach Mk 5,43. Ein heidnischer Wundertäter des 1. Jh. n.Chr. wird mit Herakles verglichen: „Ein Mädchen schien zur Stunde ihrer Hochzeit gestorben zu sein. Der Bräutigam folgte der Totenbahre und wehklagte ... Da nun Apollonius gerade zu dem Unglück dazukam, sprach er: Setzt die Bahre ab ...Er berührte sie aber lediglich und sagte unbemerkt etwas und erweckte so das Mädchen von dem vermeintlichen Tode. Die Jungfrau gab einen Laut von sich und kehrte in das Haus ihres Vaters zurück“ (Philostrat, Apoll. 4,45, um 200 n.C hr.; Weiteres A. zu Mk 4,35—41). Vielleicht sind solche Berichte aber nicht nur durch die Herakles-Sage, sondern auch durch die Konkurrenz christlicher Erzählungen ge­ prägt. Lukas denkt nicht wie der kritische Philostrat an Scheintod; das Wunder am Sterbenden (V. 1-10) wird überboten durch die alle menschlichen Möglichkeiten sprengende Macht Gottes, die in Jesus wirkt und sich in seiner Auferstehung zeigen wird (s. zu 9,31). Lukas hat die Geschichte im Blick auf 7,22 eingefügt; was sie sagen will, drückt also 7,23 aus. Sie ist Ruf zum Glauben an den, in dem die Verhei­ ßungen Gottes erfüllt sind. Dabei weiß Lukas, daß das nicht einfach offen zutage liegt; man kann an Jesus auch „zu Fall kommen“. Gerade daß damals auch Totener­ weckungen griechischer Wundertäter erzählt wurden, hilft zum Verstehen: Für Lukas ist die Geschichte kein eindeutiger Beweis, wohl aber ein Zeichen Gottes, das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 7,18-21: Reaktion des Täufers auf Jesu Wunder

nicht übersehen werden soll, sondern hinweisen will auf den, der nicht den Tod will, sondern durch ihn hindurch das wirkliche, endgültige Leben. Gottes erstaunliches Handeln im Täufer und in Jesus 7,18-35, vgl. Mt 11,2-19 18 Und dem Johannes meldeten seine Jünger all das, und Johannes rief zwei seiner Jünger 19 und schickte sie zum Herrn und sagte: Bist du der Kommende oder sollen wir einen andern erwarten? 20 Als die Männer aber zu ihm gelangten, sprachen sie: Johannes der Täufer hat uns zu dir gesandt und sagt: Bist du der Kommende oder sollen wir einen andern erwarten? 21 In jener Stunde heilte er viele von Krankheiten und Geißeln und bösen Geistern, und vielen Blinden schenkte er das Gesicht. 22 Und er antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und meldet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taubstumme hören, Tote stehen auf und Arme empfangen Freudenbotschaft, 23 und Heil dem, der nicht an mir zu Fall kommt. 24 Als die Boten des Johannes weggegangen waren, begann Jesus zur Menge über Johannes zu reden: Was seid ihr hinausgegangen in die Wüste zu sehen? Ein Rohr, das vom Winde gebeugt wird? 25 Oder wozu seid ihr hinausgegangen? Einen Menschen zu sehen, mit weichen Obergewändern bekleidet? Siehe, die in prächtigem Obergewand und Prunk leben, sind in den Königspalästen. 26 Oder was seid ihr hinausgegangen zu sehen? Einen Propheten? Ja, ich sage euch, mehr noch als einen Propheten. 27Dieser ist es, von dem geschrieben steht: „Siehe, ich sende einen Boten vor dir her“, „der deinen Weg vor dir bereiten soll“. 28Ich sage euch, kein Größerer ist unter den Weibgeborenen als Johannes. Aber der Kleinste im Gottesreich ist größer als er. 29 Und das ganze Volk, das ihn hörte, und die Zöllner gaben Gott recht und ließen sich mit der Taufe des Johannes taufen. 30Die Pharisäer aber und die Gesetzeskundigen verwarfen den (Heils­) Willen Gottes, was (oder: der) sie selbst betraf, und ließen sich nicht von ihm taufen. 31 Wem nun soll ich die Menschen dieses Geschlechts vergleichen, und wem sind sie gleich? 32 Kindern gleichen sie, die auf dem Marktplatz sitzen und einander zurufen, die sagen: Wir haben euch gepfiffen und ihr habt nicht ge­ tanzt, wir haben ein Klagelied angestimmt und ihr habt nicht geklagt. 33Denn Johannes der Täufer ist hergekommen, aß kein Brot und trank keinen Wein, und ihr sagt: Er hat einen Dämon. 34 Der Menschensohn ist hergekommen, ißt und trinkt, und ihr sagt: Siehe, der Fresser und Weinsäufer, Freund der Zöllner und Sünder. 35 Und die Weisheit wurde gerechtfertigt von allen ihren Kindern.

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Lukas kehrt zu Q zurück, hier sehr stark mit Mt 11,2-19 übereinstimmend. Er begründet als Historiker die Frage des Johannes und zwar durch sein Hören von Jesu Wundern, nicht durch Kerkerhaft und Zweifel an Gottes Sache, die verloren scheint (Mt ll,2.12 f. fehlen). Seine Frage wird von anderen aufgenommen: 7,49; 21 9,9.18. Die rechte Antwort, die freilich erst 9,22 (vgl. zu 9, 31) genauer entfaltet wird, findet nur, wer in Jesu „Schenken“ (V. 21 Ende) endzeitliche Erfüllung sieht (V. 22f. wie 4,18-21). Matthäus hat in der Bergpredigt Jesu Verkündigung und in Kap. 8f. seine Taten zusammengestellt und so Jesu Antwort an den Täufer vorberei­ tet (s. zu Mt 4,17-11,30, Anfang). Lukas hat 7,11-17 eine Totenerweckung einge­ fügt und in V.21 nochmals zusammenfassend auf Jesu Wundertaten verwiesen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 7,22-35: Gottes Weisheit im Täufer und Menschensohn

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so daß die Johannesjünger sogar zu Augenzeugen werden. Darum werden auch die Blinden, von denen bisher noch nicht erzählt war, besonders genannt, freilich nicht auch die Tauben. Zu den „Armen“ s. zu 6,20b, zur Bedeutung der Wunder zu 10,17 und 14,21, zu „Herr“ (V. 19) zu V. 13. Beim Zeugnis Jesu über den Täufer läßt er Mt 11, 12f. als Dublette zu 16,16 (s.d.) weg, meidet also den Satz vom gegen­ wärtigen, Gewalt leidenden Gottesreich (vgl. A. nach 21,38, b), ebenso die Sicht des Täufers als Elija (Mt ll,14f.), s. zu Lk 3,15-20 Schl. 29f. passen nicht in die Rede Jesu. Ganz wenige Handschriften lassen V. 31 Jesu Rede neu einsetzen. Verstände man aber so V.29f. als eingeschobenen Bericht, hieße das, daß Jesus damals die „Johannestaufe“ gespendet hätte, außer man deutete den Text auf die Vorvergan­ genheit. Nun findet sich Mt 21, 31 f. eine ähnliche Aussage Jesu, wobei dort der Anredecharakter, hier die Form besser bewahrt worden ist. Vielleicht stand ein ähnliches Wort hier in Q; denn „recht geben“ steht auch V.35. Vom „(Heils-)Willen Gottes“ spricht auch 1 QS 1,8. Es hätte dann wohl den Abschluß gebildet, bevor V. 31-35 angehängt wurden. Vielleicht waren neben den Zöllnern auch Dirnen genannt (Mt 21,31; vgl. Lk 7,37, dort freilich auf Jesus bezogen). Lukas könnte den Hinweis auf „das ganze Volk“ beigesteuert haben (vgl. zu 14,21); das könnte erklä­ ren, warum die Zöllner jetzt nur als Anhängsel erscheinen, als gehörten sie nicht auch zum Volk. Lukas hat dann V.29f. beibehalten, weil ihm die positive Wirkung des Täufers und die glaubende Reaktion der Zöllner im Gegensatz zu Pharisäern und Schriftgclehrten (15,1 f.) wichtig waren, zugleich könnte Lukas damit das folgende Gleichnis schon deuten: nicht „das ganze Volk“, sondern nur eine besondere Gruppe hat Täufer und Menschensohn verworfen. „Johannestaufe“ ist schon im Unterschied zur christlichen Taufe formuliert. Man kann den griechischen Ausdruck „für sich selbst“ auf das Verbum „verwarfen“ oder auf das Hauptwort „(Heils-)Willen“ beziehen. Zur Gleichniseinleitung vgl. zu 13,18-21. Die ungenaue Wendung, Johan­ nes habe „nicht gegessen und getrunken“ (Mt 11,18; vgl. zu Lk 15,2), präzisiert Lukas als Verzicht auf Brot und Wein (1,15; Mk 1,6 fehlt bei ihm). Den Schlußsatz überliefert Lukas im ursprünglichen Wortlaut (s. zu Mt 11,19c): Die in Johannes wie Jesus wirkende Weisheit wird von „allen ihren Kindern“ (Spr 8,32; Sir. 4,11), von denen, die ihr gleichen, ja von ihr (wieder)geboren sind, anerkannt. Keineswegs hat also „das ganze Volk“ Johannes (und Jesus) abgelehnt und Gottes Reich Gewalt angetan. Anders als nach Mt 11,2-19 haben Jesu Taten den Täufer zu der entschei­ denden und heilsamen Frage nach Jesus geführt und gibt es auch neben ihm Kinder der Weisheit, die Gott recht geben und schon auf Johannes hören, auch wenn sie noch nicht verstanden haben, wer er wirklich ist (27f.).

Freund der Sünder 7, 36-50, vgl. Mk 14,3-9; Mt 26,6-13; Job 12, 1-8 36 Es

bat ihn aber einer von den Pharisäern , daß er mit ihm äße. Und als er ins Haus der Pharisäers kam, legte er sich zu Tisch. 37 Und siehe, eine Frau, die in der Stadt war, eine Sünderin, als sie erfuhr, daß er im Hause des Pharisäers zu Tische lag, da brachte sie eine Alabasterflasche mit Salböl, 38 stand weinend hinten zu seinen Füßen und begann mit ihren Tränen seine Füße zu benetzen und trock© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 7,36-50: Analyse

nete sie mit den Haaren ihres Hauptes und küßte seine Füße und salbte sie mit dem Salböl. 39 Als der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte, das sah, sprach er bei sich selbst: Wenn dieser ein Prophet wäre, wüßte er, wer und was für eine die Frau ist, die ihn anrührt, denn sie ist eine Sünderin. 40 Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Der aber sagt: Sprich, Leh­ rer. 41Ein Geldverleiher hatte zwei Schuldner. Der eine schuldete ihm 500, der andere 50 Denare. 42 Da sie nicht zurückzahlen konnten, schenkte er es beiden. Wer von ihnen wird ihn nun mehr lieben? 43 Simon antwortete und sprach: Ich nehme an, der, dem er mehr geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt. 44 Und sich zu der Frau wendend sagte er zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich kam in dein Haus; du gabst mir kein Wasser für die Füße, sie aber benetzte meine Füße mit ihren Tränen und trocknete sie mit ihren Haaren. 45 Einen Kuß hast du mir nicht gegeben, sie aber hörte nicht auf, meine Füße zu küssen, seit ich hereinkam. 46 Mit Öl hast du mir das Haupt nicht gesalbt, sie aber salbte mit Salböl meine Füße. 47Deswegen, sage ich dir, sind ihre vielen Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt. Wem aber wenig vergeben wird, der liebt we­ nig. 48 Er sprach aber zur ihr: Deine Sünden sind vergeben. 49 Und die Tischge­ nossen fingen an, bei sich selbst zu sagen: Wer ist der, der Sünden vergibt? 50 Er sprach aber zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh in Frieden! „Dein Glaube hat dir geholfen“ (V.50) schließt sonst Wundergeschichten ab. Jedoch eine solche liegt gar nicht vor; denn auf Situationsangabe (V.36) und Auftre­ ten der Frau (37f.), deren Not aber nur indirekt sichtbar wird, folgt eine lange Schil­ derung des Hindernisses (39) und seiner Lösung (40—47). Das Gleichnis beträfe so nur einen Nebenpunkt und stimmte nicht recht, weil die Hilfe ja erst V.48 als Pointe erscheint und einen neuen Konflikt auslöst (V.49L). Man muß also das Ganze als Streitgespräch lesen, in dem auf die Situationsangabe (V.36: Ort, Umstände, Person) die Schilderung des durch Eintreten einer Sünderin entstandenen Konfliktes folgt (37-39), worauf die Lösung durch Gleichnis und Anwendung gegeben wird (40-47). Die Zuspitzung auf die C hristusfrage (48-50) ist ein, an sich nicht notwendiger, Anhang. Er zeigt durchwegs den Stil des Lukas, der nach dem Vorbild von Mk 2,5 b 7 alles auf diese Frage hin zuspitzt. Daher muß die in V. 40-A7 schon vorausgesetzte, unausgesprochen durch die gewährte Gemeinschaft verliehene Vergebung nochmals in V. 48 zugesprochen werden. Für Lukas ist das Vorhergehende erst Buße und gläu­ bige Dankbarkeit für diese Möglichkeit, auf die hin Jesus der Frau das Heil mit dem sonst Heilungen abschließenden Satz zusagt (V.50). Schloß dieser ursprünglich die Geschichte nach V.47 oder gar V.43 ab? Vielleicht lautete V.47a einmal „Wem viel vergeben ist, der liebt viel“, so daß erst Lukas ihn an seine Sicht angepaßt hätte; andernfalls hätte er zuerst den Erkenntnisgrund bezeichnet (s. zu V.47). Streng genommen bestätigt das Gleichnis Simon, daß er wenig schuldig und daher zu wenig Liebe verpflichtet ist. Aber es will, ohne über andere, weniger Sündige, zu reflektie­ ren, nur Jesu (und seiner Gemeinde) Verhalten beschreiben. Ist das Gleichnis erst nachträglich aus der Geschichte herausgesponnen worden? Wäre der Wert der Salbe wie in Joh 12,5 von Anfang an als „300 Denare“ angegeben gewesen, hätte das das Bild vom Schuldner anregen können. Aber ohne dieses hätte die Erzählung ja keine Pointe. Umgekehrt ist auch das Gleichnis ohne den erzählenden Rahmen unver­ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 7,36-46: Sünde als Einsichts- und Lieblosigkeit

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ständlich. Einzelheiten mögen sekundär, aber noch vor Lukas, zusammen mit der Deutung des Gleichnisses in V. 4 4 - 4 6 aus der Mk 1 4 , 3 - 9 zugrunde liegenden Tradi­ tion eingeflossen sein. Joh 12, 1-8 (worauf seltsamerweise schon 11,2 verwiesen wird) zeigt diese jedenfalls mit auch bei Lukas erscheinenden Zügen (vgl. V.3 mit Lk 7,38 Ende). Der Name Simon, der Lk 7,40 merkwürdig spät erscheint, ist der­ selbe wie Mk 14,3. Salbung der Füße (v. 38.46) ist vor dem Ausgehen (Bill. 1427, c) denkbar, aber sonst kaum (das „Waschen“ mit Öl, Bill. 1428, ist Ausnahmefall). Das vorbereitete Mitbringen der Ölflasche paßt gut zu Mk 1 4 , 3 - 9 , aber nicht ganz zu dem spontanen Tränenausbruch in Lk. 7,38, der Jesu Füße netzt. Hingegen ist hier das Abtrocknen der Tränen sinnvoll, nicht aber das des Öls in Joh 12,3. Lukas hat die Parallelität bemerkt und Mk 1 4 , 3 - 9 in der Passionsgeschichte daher ausge­ lassen. Zum Gastmahlgespräch s. zu 1 4 , 1 , zur Offenheit des Pharisäers zu 3,7. Die Stadt ist nicht benannt; es könnte auch die des Lesers sein. „Sünderin“ bezeichnet wahr­ scheinlich die Dirne (vgl. Mt 21,31 f.; s. zu Lk 7,29f.). Die Türen stehen offen, und es gibt Zuschauer; aber das Eindringen einer Dirne in Männergesellschaft ist ein Skandal. Ängstlich, ungeschickt und ein wenig tollpatschig versucht sie, ihren Trä­ nenstrom von den Füßen wegzutrocknen, die der zu Tisch Liegende von sich streckt. Offenes Haar ist (trotz l.Kor 11,5f.; vgl. V. 15) in Palästina kaum als unanständig empfunden worden (Bill. III 443), aber vielleicht von Lukas. Gewiß ist die Szene auch erotisch gefärbt und mag etwas von Hysterie zeigen; Geistliches und Natürli­ ches sind immer gemischt. Sicher wird nicht von einem Engel erzählt; aber gerade weil sie keine respektable Dame mehr ist, kann sie „Gott rechtgeben“ (V.29). Von Jesus wird nichts gesagt; aber die höflich entschuldigenden und zugleich Jesu Autori­ tät nivellierenden („Prophet“, s. zu 3 , 1 5 - 2 0 Schl.) Überlegungen Simons heben Jesu schweigendes Gewährenlassen ins Zentrum, da Simon darin zu Recht Gewährung von Gemeinschaft erblickt. Während Jesus sich so aufs Spiel setzt, bleibt Simon der von außen urteilende, nicht betroffene Zuschauer. Aber das prophetische Durch­ schauen, das er bei Jesus vermißt, trifft jetzt ihn; und zwar so, daß er nicht einfach beschämt, sondern im Gleichnis eingeladen wird, sich selbst zu sehen. Seine An­ rede zeigt eine gewisse, freilich abwartende, sich nicht hingebende Anerkennung (s. zu 5,5). Daß ein Gläubiger einfach Schulden erläßt, ist auffallend unwahrscheinlich; Gott, der im Gleichnis lebendig wird, sprengt die Wahrscheinlichkeitsrechnungen des Menschen (s. A. zu Mk 4 , 1 - 9 gegen Ende). Das Gleichnis leugnet den von Simon so betonten Unterschied zwischen der Dirne und ihm gar nicht (ebensowenig 18,11 f.); es werden auch keine Tränenausbrüche von ihm erwartet. Doch sind beide schuldig, und weil der Pharisäer (wie 18, 11) das aus theologischen Gründen in seiner sehr vorsichtig formulierten Antwort nicht zugeben kann, wird er (wie 18,14) zum eigentlichen Schuldigen und bleibt sogar zum „weniger Lieben“ unfähig. V. 44-46 schildern schon ungewohnte Ehrungen; die Frau hat noch mehr getan als das. Er hat sich nur gerade korrekt verhalten; ihr unkorrektes Tun zeigt, daß sie verstanden hat, was an ihr geschehen ist. Statt „seit“ kann man auch übersetzen „von der her“, so daß also Jesus vorher schon bei ihr gewesen wäre. Aber das aus dem einen Wort herauszulesen, braucht viel Phantasie; denn „seit ich hereinkam“ ist gut zu verstehen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 7,47-50: Liebe als Grund und Folge der Vergebung

und soll die lange Dauer ihres Dienstes im Gegensatz zu einer nur beim Eintreten 47 zu erwartenden Höflichkeit betonen. Im Anschluß an das Gleichnis kann man V.47 nur verstehen im Sinne von „Ihr muß viel Vergebung zuteil geworden sein (Perfekt), da sie so viel Liebe zeigt“. So sagen wir auch: „Es muß draußen kalt sein, da das Thermometer so tief steht“. Lukas versteht wohl anders. Er will vielleicht das Tun der Liebe betonen (vgl. zu 10,37), das nicht nur Folge, sondern auch Grund der 48 Vergebung ist. Er faßt die gleiche Form des Perfekts („sind vergeben“) in 5,20.23 49 (vgl. Joh 20,23) auch als Gegenwart, also parallel zu V.47 b. Daß Jesus aufgrund der ihm erwiesenen Liebe die Vergebung Gottes feststellt, führt zu der weit über 5,21 hinausgehenden, für Lukas alles entscheidenden Frage nach ihm selbst, die schon V.39 erschien. Die Frau mag unfähig sein, ihre mehr oder minder klare Selbsterkenntnis intellektuell auszudrücken; wohl aber findet sie in ihrem Verhalten 50 ihren Weg zu Jesus. Das ist für ihn Glaube, der ins Heil führt (Apg 16, 30 f.) und in den Frieden entläßt. Das Gleichnis beschreibt Jesu Offenheit gegenüber den am Rande und jenseits der Grenzen des Gottesvolkes Stehenden, den „Freund der Zöllner und Sünder“ (V.34), und lädt damit zur Freude ein. Die Szene illustriert das am Extremfall einer Dirne. Der Gegenspieler gleicht dem älteren Bruder in 15,25-32. Damit kommt die War­ nung vor der Selbstgenügsamkeit hinzu, die nichts nötig zu haben meint. Die Ant­ wort Simons, die ihn selbst trifft, fragt den Leser, ob das auch ihm gelte. Schließlich konzentriert Lukas alles auf die Christusfrage. Er betont aber nicht wie Mk 14,3-9 die Hoheit Jesu, sondern seine Zuwendung zum Armen. Daß er den auch 8,48; 17,19; 18,42 vorkommenden Satz aufnimmt, zeigt, daß Glaube sich auch ohne Sün­ den- oder Glaubensbekenntnis, ja selbst ohne die Bitte um Hilfe, im Handeln aus­ drücken kann und daß „Heil“ und „Heilung“ sehr nah zusammengehören (s. zu 17,19). Was der Frau geschenkt wurde, ist mehr als erstaunliche körperliche Hei­ lung, gibt es doch auch ein Kranksein an der Sinnlosigkeit des Lebens, das dazu führt, sich wegzuwerfen und im Selbstmitleid oder im resignierten Trotz, im Alko­ hol- oder Drogenkonsum, in chronischer Krankheit oder Prostitution das einzig Sinnvolle zu finden. Hier wird sich erst im Leben der Frau sichtbar zeigen, was un­ sichtbar an ihr geschehen ist; ein anderes Mal steht die sichtbare Heilung am Anfang und ob sie zum Zeichen wird, das zum Heil führt, bleibt noch offen (17,19); aber immer will Heil sich auch sichtbar gestalten.

Nachfolge der Frauen 8, 1-3 Und es geschah in der Folgezeit, da zog er von Stadt zu Stadt und Dorf zu Dorf, predigend und das Gottesreich als Frohbotschaft verkündend, und die Zwölf mit ihm 2 und einige Frauen, die von bösen Geistern und Krankheiten geheilt worden waren, Maria die sogenannte Magdalenerin, von der sieben Dä­ monen ausgefahren waren, 3 und Johanna, Frau des Chuzas, eines Verwalters des Herodes, und Susanna und viele andere, die ihm aus ihrem Vermögen dienten. 1

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Lk 8,1—3: Frauen bei Jesus

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V. 1 erinnert an Mt 9,35, ist aber kaum Hinweis auf Q, da er wie V. 2f. aus eindeutig 1 lukanischen Wendungen zusammengesetzt ist. Immerhin folgt in 9, 51-56/57-10,16 nach dem aus Mk stammenden Gut 8,4-9,50 wiederum Material aus S und Q zum Thema Mission. Hat Lukas bewußt Erzählungen von Frauen zusammengestellt (7,11-17.36-50) und durch 8,1-3 festgehalten, daß auch sie als Zeuginnen der Auferstehung (23,55; 24,1.6-8) schon beim irdischen Wirken Jesu dabei waren wie die Apostel (Apg. 1,21 f.)? Oder waren 8,1-3 ursprünglich Einleitung zu 9,51 ff.? Die Verkündigung des Gottesreiches (vgl. zu 4,43) blickt auf 8,10 voraus. „Städte“ sind zur Zeit des Lukas die Zentren der Gemeinde (vgl. auch Mt 9,35). Maria aus 2 Magdala wurde später der Sünderin von 7,37 gleichgesetzt, weil beide Texte nah zusammenstanden, vielleicht sogar weil Magdala für seine Unzucht bekannt war (aber ein anderes!, Bill. I 1047). Ihre nur hier erwähnte Heilung von schwerer Beses­ senheit (vgl. 11,26) hätte dann freilich schon 7,37 erscheinen müssen. Setzte man ferner alle Salbungsgeschichten einander gleich, was aus zeitlichen und inhaltlichen Gründen nicht geht, wurde sie dadurch die Frau von Mk 14,3, nach Joh 11,1 f. Schwester des Lazarus und der Marta, die „zu Tisch diente“ wie die von Lk 10,40, also auch die Lk 10,39.42 erwähnte Maria. Dann wäre Jesus aber Lk 10,38 nahe bei Jerusalem, was Lukas jedenfalls nicht annimmt. Ist dies reine Spekulation, so er­ scheint sie doch eindeutig in allen Ostergeschichten, außer Joh 19,25 (doch vgl. 20,1) immer als die erste von meistens drei Frauen. Johanna (auch 24,10) aus sozial 3 höheren Kreisen und Susanna finden sich nur bei Lukas. Sie alle „dienen“ Jesus. Es ließe sich an Bereitstellung von Essen und Nachtquartier denken; nur ist das auf der Wanderschaft schwer vorstellbar, da sie offenbar mitziehen. Geld und Vorräte konn­ ten Frauen damals wohl kaum mit sich nehmen. Lukas wird bei der Formulierung an Frauendienste in den ihm bekannten Gemeinden gedacht haben. Daß Frauen über­ haupt so betont erwähnt werden, geht zweifellos auf Jesus zurück, wie ihn besonders das Sondergut des Lukas schildert, ist aber auch vorbereitet durch Frauengestalten wie Sara, Mirjam, Debora, Hanna, Rut, Judit, Ester und die Erwähnung von Frauen z.B. in 5.Mose 29,11.18; 31,12. Lukas hat verstanden, wie unerhört der Durch­ bruch durch die übliche Verachtung der Frau (Joh 4,27!) war. Zwar hat Jesus kein Programm entwickelt; aber es gehen Anstöße von ihm aus wie von einer Initialzün­ dung, deren Wirkungen viel weiter führen. Darum stehen neben Zacharias Maria (1,11 f./27—29 und 46/67), neben Simeon Hanna (2,25/36), neben der Mutter des toten Sohns der Vater der toten Tochter (7, 12/8,41), neben dem Schriftgelehrten die beiden Schwestern (10,25-37/38-42), neben dem inständig bittenden Mann die Witwe (11,5-7/18,1-8), neben der am Sabbat Geheilten der Geheilte (13,10-17/ 14,1-6), neben der Tochter der Sohn Abrahams (13,16/19,9), neben dem Hirten die Frau (15,3-7/8-10), neben den Zeugen die Zeuginnen (8,l/2f. ; 24,22/24), neben dem Sämann die Brotbäckerin (13,19/21, Q), neben den zwei Männern die zwei Frauen bei Jesu Wiederkunft (17,34f., Q); vgl. 4,33-37/38f. (= Mk.). Das Gleichnis vom Hören des Wortes 8,4-21, vgl. Mk 3,31-4,25; Mt 12,46-13,23 4 Als aber die große Volksmenge zusammenlief und sie von Stadt zu Stadt zu ihm herzogen, sprach er durch ein Gleichnis: 5 Der Sämann ging aus, um seinen Samen zu säen, und als er säte, da fiel das eine an den Weg und wurde zertre­ ten, und die Vögel des Himmels fraßen es. 6 Und anderes fiel auf den Felsen nieder und wurde, als es herangewachsen war, versengt, weil es keine Feuchtigkeit

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Lk 8,4-9: Der Same Gottes

hatte. 7 Und anderes fiel inmitten der Dornen, und die mit ihm herangewachse­ nen Dornen erstickten es. 8 Und anderes fiel in die gute Erde und brachte, heran­ gewachsen, hundertfältige Frucht. Als er das sagte, rief er: Der, der Ohren hat zu hören, der höre. 9 Es fragten ihn aber seine Jünger, was dieses Gleichnis be­ deute. 10Er aber sprach: Euch ist es gegeben, die Gleichnisse des Reiches Gottes zu erkennen, den übrigen aber (ist es) in Gleichnissen (gegeben), damit sie se­ hend nicht sehen und hörend nicht hören. n Dies aber bedeutet das Gleichnis: Der Same ist das Wort Gottes. 12Die am Wege sind die, die gehört haben, dann kommt der Teufel und nimmt das Wort weg aus ihrem Herzen, damit sie nicht zum Glauben kommen und gerettet werden, 13die aber auf dem Felsen, die, wenn sie gehört haben, das Wort mit Freuden annehmen, und diese haben keine Wurzel; sie glauben eine Zeitlang und zur Zeit der Versuchung fallen sie ab. 14 Das aber in die Dornen Fallende, das sind die, die gehört haben und von Sor­ gen und Reichtum und Vergnügungen des Lebens in ihrem Lebeswandel er­ stickt werden und die Frucht nicht reifen lassen. 15Das aber in der guten [schö­ nen] Erde sind die, die in einem feinen [schönen] und guten Herzen das Wort, das sie gehört haben, behalten und in Ausdauer Frucht bringen. 16 Niemand aber ergreift ein Licht und verbirgt es durch ein Gefäß oder stellt es unter ein Bett, sondern er stellt es auf einen Leuchter, damit die Hereinkommenden das Licht sehen. 17Denn nichts ist verborgen, das nicht offenbar werden wird, und nichts geheim, das nicht erkannt würde und ins Licht käme. 18 Seht nun zu, wie ihr hört! Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und wer da nicht hat, von dem wird auch, was er meint zu haben, weggenommen werden. 19Es ge­ langten aber seine Mutter und Brüder zu ihm und konnten nicht zu ihm kom­ men wegen der Menge. 20Es wurde ihm aber gemeldet: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen dich sehen. 21Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Meine Mutter und meine Brüder sind diese, die das Wort Gottes hören und tun. 4

Ab 8,4 folgt Lukas wieder Markus, bringt zunächst freilich nur ein (V.4 Sing.) Gleichnis (s. zu 7,1-9,50). Er betont die Städte (s. V. 1) und läßt das Bootmotiv (schon 5,1-3 verwendet) weg (s. zu 4,31-5,11). Das Gleichnis entspricht ganz dem bei Markus, in Kleinigkeiten (aufgrund mündlicher Tradition oder Q?) der Mat­ thäusfassung. Freilich hat Markus einen feinen Unterschied gemacht zwischen dem „einen“ und „anderen“, das verloren geht (im Griechischen Sing.) und dem (vielen!) „anderen“, das Frucht bringt (Plur. in 4,8), während Matthäus überall den Plural, Lu­ kas den Singular verwendet. Auch läßt Lk 8,6 die Sonne weg, so daß die Gegenkräfte (zu V. 5 vgl. Jub. 11,11!) nur zweimal erscheinen. Dafür malt er aus, fügt die Gefahr des Zertretenwerdens (V.5) und den Mangel an Feuchtigkeit (V.6, vgl. Jer 17,8) zu, was beides in der Deutung nicht aufgenommen wird. Auch ist der wichtige Unter­ schied in der Zeitform bei der Deutung (s. zu Mk 4,20) nicht übernommen. Dafür hebt Lukas den „Samen“ (V.5.11) hervor, läßt (wie Mt) den besonderen Hinweis auf Mißerfolg (Mk 4,7) weg und steigert den Erfolg (V. 8a: nur hundertfach). Oder 8 will er die Vorstellung von verschiedenen Erfolgsklassen meiden (s. zu 19,13)? Den Weckruf betont er durch eine neue Einleitung: Gefade die Gleichnisrede (s. zu Mk 4,1-9, A.) lädt zu einem Hören ein, das Entscheidungen trifft (vgl. V. 199 21). Die Frage nach dem Sinn der Gleichnissprache (Mk 4,10-12) deutet er um in 10 die nach der Deutung dieses einen Gleichnisses. Sie eröffnet den „Jüngern“ (nicht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 8,10-18: Aufnahme des Samens

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nur den Zwölfen) die Geheimnisse (Plur. wie Mt 13,11) des Gottesreiches, während diese für andere rätselhaft bleiben. Nur in dieser Formel (s. zu Mk 4 , l l ) beläßt Lu­ kas den Plural „Gleichnisse“ (s. zu Lk 6,37-42 Einl.). Weder sagt er, der Rest (jetzt also die Menge) bleibe „draußen“, noch, ihm seien Umkehr und Vergebung ver­ schlossen (so Mk 4, l l f.; doch vgl. Lk 8,12 Ende; Apg28,26f.). Er läßt auch Mk 4,34 weg, wonach Jesus seinen Jüngern Gleichnisse erklärte (vgl. zu Mk 8,1820) und weist dafür mit V. 16f. auf die Offenheit der Botschaft für alle hin. Auch 20,9 ist das Gleichnis ausdrücklich für das „Volk“ (s. zu 19,48) bestimmt (vgl. zu 21,5). Umgekehrt redet er nicht vom Unverständnis der Jünger (Mk 4,13); ihre Frage beantwortet Jesus in V. 11-15. Der Sämann wird nicht mehr genannt, also nicht direkt mit Jesus gleichgesetzt; der Same ist einerseits „das Wort Gottes“, ande­ rerseits nach V. 12-15 die Menschen als Gottes Saat. Ähnlich werden nach 4.Esra 9, 31 einerseits das Gesetz ins Herz und andererseits nach 8,41 die Menschen in die Welt gesät, aber nicht alle gerettet. „Teufel“ bezeichnet eigentlich den Ver­ leumder, der alles verwirrt und so den Menschen Gott entfremden will. Markus schreibt immer Satan; Lukas nur im Sondergut (s. zu 22,3) und 11,18 (Q?). Die Rabbinen denken vor allem an materielle Schädigungen durch Satan und seine Gei­ ster, im Neuen Testament ist fast immer an Sünde und Verführung gedacht. Die Gemeindesituation tritt bei Lukas stärker hervor. Er spricht über Markus hinaus vom „Glauben“ und „Heil erlangen“ (V. 12), von der „Versuchung“ (V. 13, s. zu 4,13), auch vom „Herzen“ (wie Mt), das „schön und gut“ (das griechische Ideal, auch Tob.5, 14; 2.Makk. 15,12) sein soll (V. 12.15). Er spricht nicht wie Mk 4,17 von denen, die keine Wurzel „in sich“ haben (V. 13), vielleicht weil er daran denkt, daß die Wurzel im Boden haften und von dort ihre Nahrung aufnehmen muß (vgl. Mk4,28). Außerdem läßt er den Hinweis auf die Verfolgung weg. Im letzten Wort wird aufgerufen zur „Ausdauer“, wörtlich zum „Bleiben unter (etwas)“, wo andere davonlaufen (vgl. das Verbum 2,43), zum getrosten, auf Gott trauenden (vgl. 21,18f.) Ausharren, das Heil bringt. Das Verhalten des Menschen ist also stärker betont; doch ist nicht vergessen, daß es das Wort ist, das solche Frucht schafft. Noch zur Zeit des Lukas sind also Gleichnis und Deutung weiterentwickelt worden. V. 16 f. sind in der Form an 11,33; 12,2 (Q) angeglichen. Umgekehrt kommt das Bild vom „Scheffel“ und die Mk 4,21 genau entsprechende Formulierung „auf den Leuchter“ erst 11,33 (s.d.), während die hier stehende unlukanisch ist. Die Verse sind ohne Einleitung näher an das Gleichnis angeschlossen. Im Unterschied von Mk 4,21 f. sprechen sie 1. vom „Ergreifen des Lichts“ (nicht von seinem Kommen), 2. von den „Hereinkommenden, die das Licht sehen sollen“, 3. vom „Erkanntwer­ den“ des Geheimen. Bezieht sich das auf Jesus, der nicht verborgen bleiben kann (s. zu Mk 4,21 f. und Lk 11,33)? Aber die Unterschiede zu Markus weisen eher darauf, daß die Jünger gemahnt werden, das Licht (die Verkündigung Jesu) zu „ergreifen“, um es den Herbeiströmenden (den Völkern?) zu bringen. V. 17 könnte die Erkennt­ nis des Evangeliums beschreiben, ist aber eher Warnung der Jünger vor dem Gericht (Futurum wie Mt 10,26!), das ihr Versagen enthüllen würde (s. zu 12,2 f.). Davon spricht ja V. 18 (Mk 4,25). Der Satz vom Maß, mit dem man mißt, der im Lukaszu­ sammenhang nicht mehr recht paßt (Mk 4,24 b) wird weggelassen; er stand ja auch schon Lk 6,38. Im Gericht wird sich entscheiden, „wie“ (Mk 4,24a: „was“) sie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 8,19-21: Familie Jesu

gehört haben, ob sie nämlich ihre missionarische Verantwortung in Lebenshaltung und Verkündigung ernst genommen haben (19,11-27, wo 8,18 wiederholt wird!). Wer das nicht tut, „meint“ (so nur Lk 8,18) bloß, den Glauben zu besitzen. Jeden­ falls ist festgehalten, daß die Gemeinde nicht kleine, abgeschlossene Sekte bleiben darf; die Aussaat muß weitergehen. 20 Zur Einordnung von V.20 f. s. zu 7,1-9,50. Der Ausdruck „draußen“ suggeriert ein Haus (so Mk 3,20). Aber Lukas streicht oder verändert Mk 2,1.15; 3,20; 7,17 (24); 9,28.33; 10,10, wonach Jesus ein Haus „in Kafarnaum“ zur Verfügung hat. Jesus ist bei ihm der Wandernde, der sein „Haus aufgegeben hat“ (18,29) und sich nicht mit seinen Jüngern dorthin zurückziehen kann (vgl. zu 8,9f.). Zwar fehlt die negative Schilderung der Angehörigen Jesu (Mk 3,21); dennoch stehen sie noch 21 „draußen“. Wäre gemeint „Meine Mutter und Brüder sind es, die ...“ müßte im Urtext der Artikel stehen wie V.20. „Diese“ muß man nach 8, 11.15.18 also auf die beziehen, die Jesu Wort als „Wort Gottes“ so hören, daß sie es auch tun, vgl. schon 6,47 Q. V.21 umfaßt nicht einfach alle Zuhörer wie Mk3,34, sondern läßt offen, wer diese Bedingung erfüllt (z.B. später auch Jesu Familie, Apg 1,14).

Die Vollmacht Jesu über Sturm, Dämonen und Tod 8,22-56, vgl. Mk 4,35-5,43; Mt 8,23-34; 9,18-26 22 Es geschah an einem der Tage, da stieg er in ein Boot und seine Jünger. Und er sprach zu ihnen: Wir wollen ans andere Ufer des Sees fahren. Und sie began­ nen die Fahrt. 23 Als sie aber dahin fuhren, schlief er ein, und ein Fallwind fuhr herunter auf den See, und Wasser strömte ein, und sie kamen in Gefahr. 24 Da gingen sie auf ihn zu und weckten ihn und sagten: Meister, Meister, wir gehen zu Grunde. Er aber wachte auf, bedrohte den Wind und das Gewoge des Wassers, und sie hörten auf und es ward eine Windstille. 25 Er sprach aber zu ihnen: Wo ist euer Glaube? Voll Furcht aber staunten sie und sagten zueinander: Wer ist denn dieser, daß er den Winden und dem Wasser gebietet und sie ihm gehorchen? 26 Und sie fuhren in das Land der Gerasener, das Galiläa gegenüberliegt. 27 Da lief ihm, als er auf das Land ausstieg, ein Mann aus der Stadt entgegen, der Dämonen hatte und seit geraumer Zeit kein Kleid mehr anhatte und sich nicht in einem Hause aufhielt, sondern in den Grabstätten. 28 Da er aber Jesus sah, schrie er auf, fiel vor ihm nieder und sprach mit lauter Stimme: Was habe ich mit dir zu schaf­ fen, Jesus, Sohn des höchsten Gottes? Ich bitte dich, quäle mich nicht. 29 Denn er hatte dem unreinen Geist geboten, aus dem Menschen auszugehen. Lange Zeit hindurch hatte er ihn nämlich gepackt und er war gebunden, mit Hand- und Fußfesseln gesichert und wurde mit zerrissenen Banden vom Dämon in die Wü­ stengegenden getrieben. 30 Jesus aber fragte ihn: Was ist dein Name? Er aber sprach: Legion, weil viele Dämonen in ihn hineingefahren waren. 31 Und sie baten ihn, er möchte ihnen nicht befehlen, in den Abgrund zu fahren. 32Es war aber dort eine ansehnliche Schweineherde, die auf dem Berge weidete. Und sie baten ihn, ihnen zu erlauben, in jene zu fahren, und er erlaubte es ihnen. 33 Als die Dämonen aber aus dem Menschen ausgefahren waren, fuhren sie in die Schweine, und die Herde stürmte den Abhang hinunter in den See und ertrank. 34 Als die Hirten aber das Geschehene sahen, flohen sie und meldeten es in der

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Lk 8,22-25: Ruf zum Glauben auch im Sturm

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Stadt und auf den Gehöften. 35 Sie kamen aber heraus, das Geschehene zu sehen, und kamen zu Jesus und fanden den Menschen, aus dem die Dämonen gefahren waren, bekleidet und vernünftig zu Jesu Füßen sitzen, und gerieten in Furcht. 36Es meldeten ihnen aber die, die es gesehen hatten, wie der Dämonische gerettet wurde. 37Die ganze Menge aus der Umgebung der Gerasener bat ihn, von ihnen wegzugehen, weil sie von großer Furcht befangen waren. Er aber stieg ins Boot und kehrte zurück. 38Es bat ihn aber der Mann, aus dem die Dämonen ausgefahren waren, mit ihm sein zu dürfen. Er entließ ihn aber und sagte: 39 Kehre in dein Haus zurück und erzähle, was Gott an dir tat. Und er ging weg und verkündete in der ganzen Stadt, was Jesus an ihm getan hatte. 40 Als Jesus aber zurückkam, empfing ihn die Menge; denn sie warteten alle schon auf ihn. 41 Und siehe, es kam ein Mann, dessen Name Jairus war, und dieser war ein Vorsteher der Synagoge. Und er fiel zu Füßen Jesu und bat ihn, in sein Haus zu kommen, 42 weil er eine zwölfjährige einzige Tochter hatte, und die war am Sterben. Da er aber hinging, drängte ihn die Menge. 43 Und eine Frau, die seit zwölf Jahren blutflüssig war, die von niemandem geheilt werden konnte, 44 kam herzu und berührte die Quaste seines Kleides von hinten, und sofort hörte das Fließen ihres Blutes auf. 45 Und Jesus sprach: Wer ist es, der mich berührt hat? Da alle aber verneinten, sprach Petrus: Meister, die Menge umgibt und bedrängt dich. 46 Jesus aber sprach: Es hat mich jemand berührt; denn ich erkannte, daß eine Kraft von mir ausging. 47 Als die Frau aber sah, daß sie nicht verborgen bleiben konnte, kam sie voll 2ittern, fiel vor ihm nieder und berichtete vor allem Volk, warum sie ihn berührt hatte und wie sie sofort geheilt worden war. 48 Er aber sprach zu ihr: Tochter, dein Glaube hat dir geholfen; gehe in Frieden. 49 Während er aber noch redete, kommt einer vom Synagogenvorsteher und sagt: Deine Tochter ist gestorben, bemühe den Meister nicht mehr. 5 0 Als Jesus es aber hörte, antwortete er ihm: Fürchte dich nicht, glaube nur, und ihr wird geholfen werden. 51 Er kam aber ins Haus und ließ niemanden mit sich hinein­ kommen außer Petrus und Johannes und Jakobus und den Vater des Kindes und die Mutter. 52 Alle aber weinten und klagten über sie. Er aber sprach: Weint nicht; sie ist nicht gestorben, sondern schläft. 53 Und sie verlachten ihn, wohl wissend, daß sie gestorben war. 54 Er aber ergriff ihre Hand und rief und sagte: Kind, stehe auf! 55 Und ihr Geist kehrte zurück und sie stand sofort auf, und er ordnete an, daß ihr zu essen gegeben werde. 56 Und ihre Eltern entsetzten sich. Er aber mahnte sie, niemandem von dem Geschehenen zu sagen Durch den Einschub von V. 19-21 ist die Verbindung mit der Gleichnisverkündi­ gung (Mk4,35: am gleichen „Abend“) gelöst. Jesu Schlaf ist für die Geschichte wesentlich, nicht aber daß es nachts war; V.26f. sprechen eher dagegen. Lukas gestaltet frei und kürzt ähnlich wie Mt 8,23-27, s.d. (zu 4,17-11,30); ferner zu Mt 8,25 („hinzutreten“) und Lk 5,5 („Meister“). Das „Tun“ des gehörten Wortes (V.21) erweist sich also primär im „Glauben“, der Jesus alles zutraut und ihn ernster nimmt als alle bedrohenden Stürme und Wellen. Daß die Jünger nicht glauben (Mk 4,40), sagt Lukas nicht direkt (vgl. zu Mt 13,16f.). Dies ist die einzige Erwähnung eines (halb)heidnischen Gebietes; aber weiß das Lukas? Daß es „gegenüber Galiläa“ liegt, fügt er zwar aufgrund von Mk 5,1 zu, und V.32 (Mk 5 , l l ) erwähnt Schweine; doch fehlt die Ortsangabe „Dekapolis“ und die Notiz vom „Erstaunen“ der Bevölkerung (Mk 5,20). Ja, die Ablehnung Jesu wird © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 8, 26-56: Vollmacht Jesu über Dämonen und Tod

37 durch Zufügung der „ganzen Umgebung“ (V. 37) noch gesteigert. Die Rückfahrt 40 über den See ins jüdische Gebiet (Mk 5,21) wird auch nicht extra erwähnt (8,40). Noch ist die Stunde der Heiden nicht da. Darum fehlen auch die Aufhebung der schei­ denden Speisegebote und das Gespräch mit der Syrophönizierin (Mk 7,20.27-29). Der heidnische Hauptmann wird 7,3-6 (s.d.) als Gottesfürchtiger geschildert, der engste Beziehungen zum Judentum hat. Weder Magier vom Osten (Mt 2, 1-12) noch Griechen (Joh 12,20 f.) kommen zu Jesus, und das Bekenntnis des römischen Offi­ ziers (Mk 15,39) wird 23,47 sehr abgeschwächt. Die Verheißung vom Tempel als Gebetsstätte aller Völker (Mk 11,17) ist gestrichen. Die Verbreitung des Evange­ liums in alle Welt (Mk 13,10; 14,9) erscheint erst 24,47. Damit ist der geschicht­ liche Tatbestand bewahrt. Heidenmission, 2,31 f.; 4,24-27 angedeutet, erfolgt erst nach Pfingsten, zugleich ist ihre enge Verbindung mit dem Weltende (Mk 13,10) 27.28 gelöst. Daß der Mann nackt ist, wird aus V.35 (Mk 5,15) vorweggenommen. Der 29 Dämon „bittet“ Jesus; „beschwören“ (Mk 5,7) kann er ihn nicht. Die Fesselung des Kranken (Mk 5,4 f.) wird nachgetragen, wohl weil Jesu Hilfe so den stärkeren Kon­ 35 trast bietet. Das „Sitzen zu den Füßen Jesu“ (vgl. 10,39; Apg22,3) zeigt seine Of­ fenheit, sich belehren zu lassen. 40 Schiffahrt und Seeufer (Mk 5,21) werden nicht erwähnt (vgl. zu 4,31-5, 11), dafür 42 das „Warten“ des Volkes, das ihn „empfängt“. Die Not des Bittstellers ist gesteigert: Es ist seine „einzige“ (ebenso 7, 12; 9,38) Tochter, die „zwölfjährig“ ist, also gerade heiratsfähig. Dafür wird die Flandauflegung (Mk 5,23) weggelassen; er schreibt 43 Jesus nicht vor, wie er helfen soll. Sie ist „am Sterben“ (Mk 5,23 ähnlich; Mt 9,18 schon gestorben). Daß die Frau ihr ganzes Vermögen den Ärzten geopfert habe, fehlt in einigen der ältesten Handschriften; das wurde vermutlich nach Mk 5,26 ergänzt. 44 Die „Quaste“ (auch Mt 9,20; bei Mk erst 6, 56; s. zu Mt 23,5) weist Jesus als ge­ 45 setzestreuen Juden aus. Anders als Mk 5, 31 ist Petrus Wortführer der Jünger, ebenso 12,41 in einer redaktionellen Überleitung. In 22,8 werden die zwei ungenannten Jünger (Mk 14,13) mit Petrus und Johannes (vgl. Apg 3 , l - l l ; 4,19; 8,14 und zu Lk 24,12) identifiziert; 9,32 (in vielen Handschriften auch hier) steht „Petrus und die mit ihm“ (vgl. 5,9 und Mk 1,36). Vor allem heben Lk 5, 1—11 (s.d.) und Apg 1 46 15 die Bedeutung des Petrus hervor (zu „Meister“ vgl. zu 5,5). Lk 8,46 läßt Jesus ausdrücklich sagen, daß eine Kraft von ihm ausgegangen sei, betont dies also (vgl. Mk 5,30). Jesus blickt sich nicht nach der Frau um (wie Mk 5,32); es liegt ganz an 47 ihr, ob sie aus ihrer Verborgenheit heraustreten will. Das tut sie freilich, und zwar in einem öffentlichen Bekenntnis, das ihre, damals beschämende und sie dauernd ver­ unreinigende Krankheit und ihre Heilung nicht verheimlicht. Glaube erweist sich als ein die Grenzen der Sitte durchbrechendes, wagendes und zugleich doch sehr scheues 51 zutrauen (vgl. zu 7,36-50 Schl.). V.51 erwähnt den Eintritt ins Haus (anders Mk 5,37), muß daher auch die Eltern (Mk 5,40) jetzt schon nennen. Man muß dann 53 annehmen, daß alle andern draußen klagen (V.52; anders Mk 5,39). Die Tatsache 54 des Todes wird nochmals gesichert. Wie V.8 betont V.54 Jesu lautes Rufen, läßt aber wie Mt 9,25 die aramäische Wendung (Mk 5,41, vgl. zu Lk 19,38) weg; sie 55 gliche damaligen fremdsprachigen Zauberformeln. Aus V.55 läßt sich keine Un­ sterblichkeit der Seele ableiten. Zwar spricht Lukas vom zurückkehren (so l.Kön 17,21; aber: der „Seele“) des „Geistes“, sagt jedoch Apg 20, 10 dafür „Seele“ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 9,1-6: Sendung der Zwölf

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oder „Leben“ und berichtet Apg 9,40 nur vom Augenaufschlag der Toten. In Lk 9,25 schreibt er „sich selbst“ statt „seine Seele“ (Mk8,36), vielleicht weil man diese nicht „einbüßen“ kann (Mk8,36). Aber daß man die Seele nicht töten kann (Mt 10,28), fehlt bei Lukas (vgl. auch zu 6,9). Nach Apg2,31 überlebt das „Fleisch“, nicht die „Seele“ (so V.27 = Ps 16,10!) des Verstorbenen, nach Lk 16,22 f. der ganze Mensch. Das zeigt, daß weder hier noch im Wort an den Mit­ gekreuzigten 23,43 an leiblose Existenz des Geistes oder der Seele gedacht ist wie bei Seneca (Heracles Oet. 1703 f. 1725 f.: „Nimm meinen Geist, ich bitte dich, zu den Sternen auf ... Siehe, mein Vater ruft mich und öffnet den Himmel; ich komme, Vater, ich komme“). Zwar ist der Sprachgebrauch nicht einheitlich - auch äth.­ Hen. 22,3.5 (aram. und griech. Text ebenso) stehen „Seelen“ und „Geister“ (so auch Jub. 23,31) nebeneinander - ; doch zeigt Lk 24,39 (s.d.) auf alle Fälle, daß der „Geist“ gerade nicht das wiedererstandene Ich ist, sondern so etwas wie ein Ge­ spenst. Die Weisung, der Auferweckten zu essen zu geben, erfolgt an der richtigen 56 Stelle (Mk 5,43 später), so daß die Geschichte mit dem Staunen der Eltern schließt und mit der Weisung Jesu, der mit dem Wunder keine Propaganda starten will. Die Aussendung der Zwölf 9,1-6, vgl. Mk 6,7-13; Mt 10,1.7-14 Er rief aber die Zwölf zusammen und gab ihnen Kraft und Vollmacht über alle Dämonen und zur Heilung von Krankheiten 2 und sandte sie aus, das Gottes­ reich zu verkünden und zu heilen. 3 Und er sprach zu ihnen: Nehmt nichts mit auf den Weg, weder Stock noch Ranzen noch Brot noch Silber noch daß jeder zwei Unterkleider habe. 4 Und in was für ein Haus ihr eben einkehrt, da bleibt und zieht (nachher) von dort weiter. 5 Und alle, die euch nicht aufnehmen, aus der Stadt geht hinaus und schüttelt den Staub von euren Füßen zum Zeugnis gegen sie. 6 Sie aber zogen aus und durchstreiften Dorf um Dorf, überall Froh­ botschaft verkündend und heilend. 1

Die Predigt in Nazaret (Mk 6,1-16) ist schon 4,16-30 erzählt (s.d.); so folgt die 1.2 Aussendung (s. zu Mt 10,1-16, Einl.), freilich nicht „paarweise“ (wie Lk 10,1 und Mk6,7). Bleiben also nach Lukas die Zwölf zusammen? Über Mk6,7 hinaus wer­ den ihnen Verkündigung (so Mk 3,14) und Heilung (V. 1 f.6, bei Markus erst V. 13) aufgetragen; dafür werden Dämonenaustreibung und Ölsalbung (Mk 6,13) nicht erwähnt. Wie Jesus (V. 11) sollen auch sie das „Gottesreich“ (vgl. 10,9; s. zu 3,1520 Schi.) ausrufen, nicht nur die „Umkehr“ (Mk 6,12). So wichtig diese Lukas ist (s. zu 5,32), hier betont er die grundlegende Frohbotschaft (ebenso Apg 8,12). Das 6 Verbot des Stockes (10,4 auch der Sandalen) steht Mk 6,8 nicht, wohl aber 3 Mt 10,10 (s.d.; vgl. auch „Silber“ wie Lk 9,3). Lukas unterstreicht also, daß nur Jünger, die ihr Vertrauen auf Gott konkret im Verzicht auf Sicherungen leben, glaubwürdig werden, weiß aber, daß wörtliche Befolgung nur möglich ist, wo Gast­ freundschaft (V.4) wie in Palästina selbstverständlich ist (s. zu 22,36a). Das prophe­ 5 tische Zeichen gegen eine ganze „Stadt“ stammt aus der anderen Version der glei­ chen Rede (10,8-11). Vielleicht ist damit sogar im Gegensatz zum kleinen Anfang in 6 palästinischen „Dörfern“ der endzeitliche Heilscharakter der Frohbotschaft, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 9,7-9: Wer ist Jesus?

„überall“ ertönen muß (auch Mk 16,20; Apg 17,30; 28,22; 1. Kor 4,17), unterstri­ chen. In ihr bricht schon das Gottesreich ein. Wer sie ablehnt, lehnt das Heil ab. Im 1 Griechischen ist daher auch die Bevollmächtigung der Boten deutlicher als in Mk 6,7 als einmaliges Ereignis geschildert (Aorist). Wer ist dieser? 9, 7-9, vgl Mk 6,14-16; Mt 14,1-2 7Es

hörte aber Herodes, der Vierfürst, all das Geschehene und war in Verle­ genheit, weil von einigen gesagt wurde: Johannes wurde von den Toten auf­ erweckt, 8 von einigen aber: Elija erschien, und von anderen: Ein Prophet, einer der alten, ist auferstanden. 9 Herodes aber sprach: Johannes habe ich enthauptet, wer aber ist dieser, von dem ich solches höre? Und er suchte, ihn zu sehen. 7

Herodes ist der aufgeklärte „Vierfürst“ (auch Mt 14,1, s.d.), der nicht wie das Volk an Auferstehung eines Hingerichteten glaubt (anders Mk 6,14-16), wohl aber 9 durch Jesus in ein verlegenes Fragen hineingeführt wird (vgl. V.9 mit 23,8). Die Frage, wer Jesus sei, hat Lukas schon 7,49 (vgl. 16) eingefügt, 7,19f. (mit Verdoppe­ lung) aus Q, 8,25.28 aus Markus übernommen. Sie weist auf 9,18-20 voraus; an­ r.8 ders als in Mk 6,15 heißt es darum wie in 9,19: „Ein Prophet, einer der alten, ist auferstanden“. Die Ausdrücke „auferweckt - erschienen - auferstanden“ beschrei­ ben Gottes endzeitliches Wunder, vergleichen freilich auch Jesus mit schon Dagewe­ senem. Dabei wird Elija schon erscheinen, aber nur um Jesus als den zu bezeugen, auf den man hören muß (9,31). Belege für einen jüdischen Glauben an Auferstehung vor dem Weltende gibt es nicht; nur von Entrückten wie Elija, also von nicht Gestor­ benen, erwartete man eine Wiederkunft (s. zu 1,17). Ob es den Glauben, Jesus sei der auferstandene Johannes, je gab, ist sehr fraglich. Solange man noch um die Taufe Jesu durch Johannes wußte, konnte man sowieso diese Vorstellung nicht hegen. Herodes könnte so gedacht haben (Mk 6,14), wenn er vom Anfang der Wirksamkeit Jesu nichts gewußt hätte. Aber eher hat Markus einen solchen Glauben aus einem übertragen verwendeten Wort abgeleitet, das nur sagen wollte, der Täufer, den man erledigt glaubte, sei mit seiner Umkehrpredigt in Jesus wiedererstanden (Mk 6,16). Für Lukas ist die Vorstellung von V.7 neben Kap. 1 f. sowieso Unsinn; doch setzt er solche Auferstehungserwartungen beim Volk sogar im Blick auf die Propheten vor­ 8 aus, falls er V.8 nicht nur im Sinn von Apg 3,22; 7,37 und Dam. (Qumran) 6, 10 f. als „Auftreten“ versteht. Die Hinrichtung des Täufers läßt er weg (s. zu 3,20 und 20,9-19 Schl.). So heilsam solches Fragen ist, wenn es für das Vernehmen der rechten Antwort offenbleibt und sich diese nicht allzu rasch selbst gibt, so gefährlich wird es, wenn sich einer seine „Verlegenheit“ (V.7) nicht eingestehen und sich nicht zur Umkehr rufen lassen will. Dann führt es dazu, den Ursprung dieses unangenehmen Fragens mit oder ohne Gewalt zu beseitigen (13,31; 23,11 f.).

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Lk 9, 10-17: Brot für alle

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Die Vollmacht Jesu in der Speisung der Fünftausend 9,10-17, vgl. Mk 6,30-44; Mt 14,13-21 10 Und

die Apostel kehrten zurück und erzählten ihm, was sie getan hatten. Und er nahm sie zu sich und wich abseits in eine Stadt, Betsaida genannt, zurück. 11 Die Menge aber merkte es und folgte ihm. Und er nahm sie an und redete zu ihnen vom Gottesreich, und die, die Heilung nötig hatten, heilte er. 12 Der Tag aber begann sich zu neigen. Die Zwölf aber kamen zu ihm und sprachen zu ihm: Entlasse die Menge, daß sie in die umliegenden Dörfer und Gehöfte wandern, um Unterkunft und Nahrung zu finden; denn hier sind wir in einer einsamen Ge­ gend. 13 Er sprach aber zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen. Sie aber sprachen: Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische, falls wir nicht hingehen und Essen für dieses ganze Volk einkaufen sollen. 14 Denn es waren an die fünftausend Mann. Er sprach aber zu seinen Jüngern: Laßt sie sich lagern in Tischgemein­ schaften von je fünfzig. l5 Und sie taten so und ließen alle sich lagern. 16 Er nahm aber die fünf Brote und die zwei Fische, schaute zum Himmel auf, sprach den Segen über sie und brach und gab sie den Jüngern, sie der Menge vorzulegen. 17 Und sie aßen und wurden alle satt. Und die ihnen übriggebliebenen Brotreste wurden aufgehoben, zwölf Körbe voll. Wie Mk 6,30 führt die Rückkehr der „Apostel“ (s. zu Lk 6,13) zur Speisungsge­ schichte. Merkwürdigerweise zieht sich Jesus (nicht im Schiff wie Mk 6,32) „ab­ seits“ in die Stadt (!) Betsaida zurück (s. zu 7,1-9,50), befindet sich dann freilich, wie wir V. 12 hinterher erfahren, doch an einem „einsamen Ort“ (wie Mk 6,32). Mt 14,13-16 und Lk 9,11-13 stimmen gegen Markus im folgenden überein: „die Menge folgte ihm“ (ähnlich Joh 6,2); das Hirtenmotiv (auch Joh 6,5 fehlend) und die „200 Denare“ (Joh 6,7 wie Mk 6,37) fehlen; das Wort für ,,Essen“ ist dasselbe (vgl. die Ausdrücke für die „Reste“ Mt 14,20; Lk 9,17; Joh 6,12). Mündliche (oder gar schriftliche?) Überlieferung vor und neben Markus hat wohl nachgewirkt. Betsaida, nach Joh 1,44 Wohnort oder mindestens Geburtsort von Petrus, An­ 10 dreas und Philippus, liegt außerhalb des Herrschaftsgebietes des Herodes. Das „Fol­ 11 gen“ der Menge soll vielleicht bloße Neugicr anzeigen (9,7-9; vgl. Joh 6,2: wegen der „Zeichen“ Jesu), im Gegensatz zu den Aposteln (V. 10). Lk 9,12 nennt sie, an­12 ders als Mk 6,35, die „Zwölf“ - wegen ihrer Rolle in der Gemeinde (Apg 2,14) oder wegen der zwölf Körbe (V. 17)? Das betont am Ende stehende „ihr“ mag ihre Unfä­ 13 higkeit hervorheben. Den Gegenvorschlag der Jünger, einkaufen zu gehen (Mt 14,17 fehlend), bringt Lukas erst hier, nachdem der geringe Vorrat von fünf Broten und zwei Fischen schon festgestellt ist. Umgekehrt zieht er die Zahlenangabe 5000 vor, 14 damit das Wunderhandeln Jesu sofort deutlich werde. Dieses stimmt fast wörtlich 16.17 mit Mk 6,41—43 (ohne V.41 Ende) überein; das ist der Kern, der sich in der Erzäh­ lung zuerst gefestigt hat. Daß Jesus „sie“ (die Brote und Fische) segnet, betont das Schöpfungswunder des Segenswortes Jesu. Diese Wendung findet sich bei Markus erst bei der zweiten Speisung (8,7); sie fehlt Lk 22,19 beim Abendmahl. Die Zeit der Ruhe, die zur Missionsarbeit gehört, schließt hier die Bereitschaft ein, sich durch Menschen in Not stören zu lassen. So tritt neben den Dienst des Wortes © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 9,18-22: Der Christus Gottes

die irdisch-konkrete Hilfe, in der sich Schöpfermacht erweist. Dann folgt freilich wiederum der Rückzug zu einsamem Gebet und Gespräch in kleinem Kreis (9,18). Wer ist dieser? - die Antwort 9,18-27, vgl. Mk 8,27-9,1; Mt 16,13-28 18 Und es geschah, als er einsam betete, daß seine Jünger bei ihm waren. Und er fragte sie und sagte: Wer sagt die Menge, daß ich sei? 19Sie aber antworteten und sprachen: Johannes der Täufer, andere aber: Elija, wieder andere: ein Prophet, einer der alten, ist auferstanden. 20 Er aber sprach zu ihnen: Ihr aber, wer sagt ihr, daß ich sei? Petrus aber antwortete und sprach: Der C hristus Gottes. 21 Er aber bedrohte sie und warnte sie, das niemandem zu sagen, 22 indem er sprach: Der Menschensohn muß viel leiden und verworfen werden von den Ältesten, Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet und am dritten Tag auf­ erweckt werden. 23 Er sagte aber zu allen: Will jemand hinter mir hergehen, so verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf und folge mir nach, 24 denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren. Wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird errettet; 25 denn was ist einem Menschen geholfen, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst aber vernichtet oder einbüßt. 26 Denn wer immer sich meiner und meiner Worte schämt, dessen wird sich auch der Men­ schensohn schämen, wenn er kommt in seiner, des Vaters und der heiligen Engel Herrlichkeit. 27Ich sage euch aber in Wahrheit, es sind einige unter den Daste­ henden, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie das Reich Gottes sehen.

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Wie Joh 6 kennt Lukas nur eine Speisung, an die das Petrusbekenntnis anschließt (vgl. zu Mk 6,32-44 Einl.), doch weiß Joh 6,16-21 vom Seewandel Jesu (Mk 6,4552). Statt der Nordgrenze des Landes (Mk 8,27a) ist die Gegend von Betsaida vor­ ausgesetzt (s. zu 7,1-9,50), nahe bei Kafarnaum, wo er nach Joh 6,59 kurz vorher weilte. Neu ist der Hinweis auf Jesu Beten (s. ebd. und zu 6,12). Ist die „Menge“ (statt „Menschen“ Mk 8,27) die in V. 11 genannte, die immer noch in der Nähe weilt (auch V.23)? Die Formulierung der Jünger entspricht denn auch zum Teil wörtlich der von V.7f. (s.d.). Der von Simeon, Petrus und Israel gebrauchte Titel „der C hristus Gottes“ (vgl. 2,26; 23,35; Apg 3,18; 4,26; Offb 11,15; 12,10) ver­ steht den Messias in alttestamentlich-jüdischer Weise betont als Repräsentanten des einen und einzigen Gottes. Freilich ist Jesus mehr als der in Stellvertretung Gottes regierende König Israels; darum lassen Engel und Dämonen und Jesus selbst den Zu­ satz „Gottes“ weg (2,11; 4,41; 20,41; 24,26.46). Doch sichert umgekehrt der Zu­ satz gegen eine Verwechslung mit Gott selbst oder mit einem nationalen Revolutio­ när (daher 22,67; 23,2 ohne Zusatz). Er stellt auch besonders den Leidensweg unter Gottes Willen. Vor dessen Vollendung ist die Christuswürde nicht zu verstehen, auch von den Jüngern nicht (s. zu 18,34). Nur so versteht Lukas die Warnung Jesu V.21, verbindet sie darum auch ganz eng mit der Leidensansage V.22 als Begründung dafür. Das harte Wort gegen Petrus, das Mk 8,32 f. dazwischen steht, läßt er sowieso gern weg, um Petrus nicht zu diffamieren. „AuferweC kt werden“ (s. zu Mt 17,9) betont stärker als „Auferstehen“ (Mk 8,31; Lk 18,33; 24,7.46) Gottes Tat („am dritten Tag“ wie Mt 16,21). Zur Nachfolge werden betont „alle“ gerufen. Leiden sind der notwendige Durchgang zur Herrlichkeit, wie für Jesus (24,26) so für die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 9,23-27: Gott - Menschensohn - Engel

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Gemeinde (Apg 14,22). Dabei denkt Lukas an die „tägliche“ Verwirklichung eines Lebens, das nicht mehr nur sich selbst zum Ziel hat (s. zu 14,33 und Mk 8,34). „Um des Evangeliums willen“ (Mk 8,35, s.d. Einl.) läßt Lukas wie Mt 16,25 weg. V.23 f. kehren in 14,27; 17,33 in der Q-Form wieder. Beispiel einer solchen Hal­ tung sind die Missionare (Apg 15,26). „Sich selbst“ (statt „seine Seele, sein Leben“, Mk 8,36) verdeutlicht dem Griechen, daß es weder nur um seelische Erlebnisse noch nur um physisches Leben geht; daher wird auch Mk 8,37 weggelassen (s. zu Lk 8,55). Nach Lukas kommt der Menschensohn in seinem eigenen „Glanz“ (nicht nur in dem des Vaters, Mk 8,38). Freilich leben in gleichem Glanz auch die Engel, die nicht mehr wie Mk 8,38 Jesu Begleiter sind (ebenso 21,27, s.d.). Ein Teil der frühen Gemeinde sah C hristus mit den Engeln zusammen als Vertreter der himmli­ schen Welt, ohne die Unterschiede besonders hervorzuheben. Schon Weish 18,15 f. stellt Gottes Wort (Logos) wie einen Engel dar, und noch in Hermas, Gl. IX 12,7f. und Ps.-Cyprian, Centesima 25 (218) ist der Gottessohn der größte von sieben (Erz­) Engeln. Das wirkt hier wie 1.Tim 5,21; l.Thess 3,13 (falls „seine Heiligen“ Engel sind) und besonders Offb 1,4 f. nach („Geister“ ist oft Engelbezeichnung; vgl. Offb. 4,5 mit 8,2). Es macht daher auch kaum einen Unterschied, ob der Herr, der Geist oder der Engel den Weg der Boten bestimmt (Apg 18,9; 16,6 f.; 8,26.29; 10,3. 7.13 f. 19). Jesus ist Gott unterstellt. Nur Gott ist Schöpfer und bestimmt den Heils­ plan, dessen Werkzeug und „Prophet“ (s. zu 3,20—25 Schl.) Jesus ist. Zu Gott betet er immer wieder. Gott hat ihn erwählt (Lk 9,35; 23,35) und zum Herrn und C hri­ stus gemacht (Apg 2,36). zugleich aber kann von Jesus ausgesagt werden, was sonst nur von Gott selbst gesagt wird, eben weil er dessen vollkommenes Werkzeug ist. Ohne Einleitung folgt die Verheißung des Sehens des Gottesreiches, freilich ohne den Zusatz „in Macht kommen“ (Mk 9,1). Nach 19,11 f. kommt aber das Gottesreich erst bei der „Rückkehr“ Jesu am jüngsten Tag (A. nach 21,38,b). Man übersetzte daher „einige der (bei der Wiederkunft) dabei Stehenden“; aber wer sollte das ver­ stehen? „Da stehen“ bezieht sich natürlicherweise nur auf die Hörer (vgl. noch zu V.31). Entweder erwartete Lukas wirklich das Weltende noch in den nächsten 2 0 30 Jahren oder man muß das „Sehen“ (vgl. 8,10) des Gottesreiches von seinem Kommen unterscheiden und an Stellen wie 10,9.11.23 f.; 11,20; 17,21 denken, aber auch an die Verklärung, wo die Jünger „seine Herrlichkeit (V.26!) sahen“ (V.32 Lukaszusatz, vgl. 36 und Apg 7,56). Lukas schließt den Ruf in die Nachfolge direkt an die Ankündigung des Sterbens und Erwecktwerdens Jesu an. Er hebt die Bereitschaft zum Leiden und zur täglichen Absage an ein rein ichbezogenes Leben hervor, daher gibt es keine Christusverkündi­ gung vor Karfreitag und Ostern. Der Mensch aber, der sich selbst nicht verliert, darf schon vor dem Weltende etwas von Gottes Reich und Jesu Wirken sehen.

Gottes Ja zum Leidensweg Jesu 9,28-36, vgl. Mk 9,2-8; Mt 17,1-8 28 Und es geschah nach diesen Worten, etwa acht Tage, da nahm er Petrus und Johannes und Jakobus mit sich und stieg auf den Berg, um zu beten. 29 Und es

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Lk 9,28-36: Analyse

geschah, während er betete, daß das Aussehen seines Gesichtes anders wurde und seine Kleidung weiß aufblitzend. 30 Und siehe, zwei Männer unterhielten sich mit ihm, die Mose und Elija waren. 3 1 Sie erschienen in Herrlichkeit und sagten seinen Ausgang an, den er in Jerusalem erfüllen sollte. 32 Petrus aber und die mit ihm waren vom Schlaf beschwert. Als sie aber aufwachten, sahen sie seine Herrlich­ keit und zwei Männer bei ihm stehen. 33 Und es geschah, als sie sich von ihm trennten, da sprach Petrus zu Jesus: Meister, es ist gut, daß wir hier sind, und wir wollen drei Hütten machen, dir eine und eine für Mose und eine für Elija; dabei wußte er nicht, was er sagt. 3 4 Als er das sagte, kam eine Wolke und überschattete sie. Sie fürchteten sich aber, als sie in die Wolke eingingen, 35 und eine Stimme kam aus der Wolke, die sagte: Dieser ist mein erwählter Sohn, auf ihn hört! 36 Und da die Stimme kam, fand Jesus sich (wieder) allein. Und sie schwiegen und verkündeten in jenen Tagen niemandem etwas von dem, was sie gesehen hatten. Die Geschichte bekommt einen andern Stellenwert als bei Markus, weil sie Gottes Antwort auf das Bekenntnis des Petrus, das bei Lukas ja nicht wie in Mk 8,30 geta­ delt wird, und auf Jesu Einladung zur Nachfolge ist. Als Höhepunkt der ersten Hälfte des Wirkens Jesu weist sie daher auch schon auf die zweite, auf den Weg zum Leiden in Jerusalem (V.31.44 f.). Biblische Sprache tritt hier besonders hervor. Drei­ mal wiederholt sich „und es geschah“, einmal steht „und siehe“. Ähnliches ist auch in V.37-39 zu beobachten. Beidemal ist freilich das markinische „sogleich“ oder „plötzlich“ (Mk 9,8.20) weggelassen (vgl. zu Lk 5,12-6,11 Einl.). Auch die Gegen­ wartsform in V.33 (s. zu 16,23 Einl.) unterstreicht den biblischen Stil. Er deutet für Lukas das Geheimnisvolle, menschlichem Verstehen und Reden nicht zugängliche des Geschehens an. Geht er auf eine Quelle zurück? Jedenfalls sind die Namen in V. 30b merkwürdig ungeschickt nachgetragen (aufgrund von Mk 9,4?). Lukas da­ tiert „acht Tage“ nach der Ankündigung der Passion, nicht sechs wie Mk 9,2. Er denkt auch an Nachtzeit, wie V. 32 und 37 zeigen. Geht das auf eine Sonderquelle zurück, die auch die merkwürdige Konstruktion bei der Datierung verursacht hätte? zweimal wird Jesu Beten auf „dem Berg“ erwähnt. Auch nach 6,12 hat er bei Nacht „auf dem Berg“ gebetet. „Der Berg“ ist auch Mk 3,13 (s.d.) und 6,46 erwähnt, während Mk 9,2 bei der Verklärung allgemeiner von „einem hohen Berg“ spricht. Der Berg symbolisiert die der gewöhnlichen Erfahrungswelt entrückte Sphäre Got­ tes. Die andere Datierung könnte an sich auf mündliche Tradition oder gar einen christlichen Festkalender zurückgehen; aber auch V. 31-33 a, wo der Hinweis auf die Passion wieder erscheint, sind Sondergut, lassen also ebenfalls an eine Quelle denken. 29.30

Wie Mt 17,2 (s.d.) erwähnt Lukas die Verwandlung des Gesichtes Jesu und stellt Mose vor Elija (vgl. „Mose und die Propheten“ Lk 16,29.31; 24,27). Er spricht vom aufblitzenden Weiß des Gewandes Jesu (vgl. Dan 12,3), weil er die grundlegende Andersartigkeit Gottes, die doch im Menschen Jesus durchbricht, in menschlichen Worten darstellen muß, so wie ein Maler es mit leuchtender Farbe oder Glorien­ 31 schein oder einem Symbol tut (vgl. auch 24,36f.). Auch Mose und Elija erscheinen in himmlischer Herrlichkeit; denn als Entrückte haben sie „den Tod nicht geschmeckt“ (4.Esra 6,26; vom Glaubenden Joh 8,52). Der „Ausgang“ Jesu, den sie anzeigen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 9,28-36: Die unaussprechliche Herrlichkeit Jesu

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entspricht seinem „Eingang“ bei der Jordantaufe (Apg 13,24; vgl. 1,21 f.), bezeich­ net also sein Sterben, nicht etwa seinen Ausgang aus dem Grab oder die Himmel­ fahrt. Das gilt auch für Apg 1,21, wonach der neu zu wählende Apostel Augenzeuge des „Ein- und Ausgehens“ Jesu sein muß; denn jedenfalls war dieser weder bei Jesu „Ausgang“ aus dem Grab noch bei der Himmelfahrt dabei. Es ist gerade das Kreuz Jesu, das vom Alten Testament bestätigt wird. Nicht daß Jesus der Messias ist, bildet das eigentliche Geheimnis, sondern daß „der Menschensohn in Menschenhände ausgeliefert“ wird (s. zu 18,34), wie es V.44 heißt, der gegen Mk 9,31 nur vom Leiden spricht. 9,51; 12,49f.; 13,31-35; 17,25; 22,15.37 werden über Markus hinaus Leidensansagen eingefügt, und an Ostern wird erneut darauf hingewiesen (24,7.20.25-27.46 f.; vgl. Apg 3,13-15). Doch wird Lukas den Tod als Durchgang zum „Eingang in die Herrlichkeit“ (24,26; vgl. Apg 14,22) und die Erhöhung eher wie Johannes mit dem Tod zusammen als ein Ereignis ansehen, freilich so, daß er diesen, Johannes jene betont. Neu ist der Hin­ weis auf Jerusalem; dort wird sich alles entscheiden (V.51). Gebet Jesu (V.28 f.) und Schläfrigkeit der Jünger erinnern an Getsemani. Vom „Beschwertsein“ der Augen spricht dort Mt 26,43, ähnlich Mk 14,40, während Lk 22,45 vom Schlafen der Jünger redet. Wieder deutet der Zustand der Jünger das Geheimnisvolle, für den Menschen nicht mehr Verständliche (V.45) der „Herrlichkeit“ Jesu an, die sie „se­ hen“ (s. zu V.27). Joh 12,24—30 stehen Nachfolgeworte, Anfechtung Jesu, Gottes Stimme und Verklärung Jesu zusammen. Petrus erscheint als Hauptfigur (s. zu 8,45), die andern sind nur „mit ihm“. Doch wird sein törichtes Reden hier nicht verschwiegen (s. zu V.21; zur Anrede „Meister“ zu 5,5). Sein Drängen zum Hütten­ bau ist begreiflicher, weil, nach Lukas, Mose und Elija schon am Verschwinden sind; aber die Wolke, Gottes eigener Wohnraum, zeigt zugleich, wie unnötig irdische Hütten sind. Unklar bleibt, ob nur Mose und Elija in die Wolke „eingehen“ oder auch Jesus und die Jünger, ob diese also nur fürchten, daß die Herrlichkeit zu Ende gehe, oder gar, daß Jesus sich ihnen entziehe. Da Gottes Stimme „aus der Wolke“ auf Jesus hinweist, ist eher das erste anzunehmen. Die Wolke erinnert auch an 2. Mose 24,15-18; 40,34; 1. Kön 8,11, wo Gottes Gegenwart Bundeszelt oder Tem­ pel erfüllt, und ist nach 2.Makk. 2,8 in der Endzeit das Zeichen der Herrlichkeit Gottes. Neu ist die Bezeichnung Jesu als des „erwählten“ Sohnes (so Jes 42,1 vom Gottesknecht, s. zu V.26). Den Schweigebefehl Jesu (Mk 9,9) läßt Lukas weg; die Jünger schweigen von sich aus. Sie haben Unaussprechliches „gesehen“ (s. zu V.27). Die Geschichte weist bei Lukas auf 9,51 und damit auf die Wanderung Jesu zu Kreuz und Auferstehung hin. Lukas sieht das Problem des Abscheidens Jesu, dem gegenüber die Jünger auf sein Wort verwiesen werden. Sie haben, weil für eine kurze Zeit gewissermaßen der Vorhang weggezogen wurde, an Jesus etwas von der Herr­ lichkeit Gottes und seines Reiches schauen dürfen, von jenem anderen Leben, für das Menschenaugen sonst blind sind. Das ist für sie so überwältigend, daß sie davon gar nicht reden können. Und doch wissen sie, daß die Herrlichkeit des künftigen Gottes­ reiches in Jesus schon Gestalt angenommen hat und in seinem Wort ausgerufen wird. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 9,37—45: Verschlossenheit der Jünger

Der Unverstand der Jünger 9,37-50, vgl. Mk 9, 14-41; Mt 17,14-23; 18,1-5 37 Es

geschah aber am folgenden Tage, als sie vom Berge herabstiegen, da lief eine große Menge auf ihn zu. 38 Und siehe, ein Mann aus der Menge rief und sagte: Lehrer, ich bitte dich, auf meinen Sohn zu schauen, denn er ist mein einzi­ ger, 39 und siehe, ein Geist packt ihn und plötzlich schreit er und verkrampft ihn unter Schäumen, und er weicht kaum von ihm und reibt ihn auf. 40 Und ich bat deine Jünger, sie möchten ihn austreiben, und sie vermochten es nicht. 41 Jesus aber antwortete und sprach: Du ungläubiges und verdrehtes Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein und euch ertragen? Bring deinen Sohn her. 42 Wie er aber noch am Herbeikommen war, zerrte der Dämon ihn und krampfte ihn zusammen. Jesus aber bedrohte den unreinen Geist und heilte den Knaben und gab ihn seinem Vater zurück. 43 Alle aber gerieten außer sich über die Größe Gottes. Da alle aber staunten über alles, was er tat, sprach er zu seinen Jüngern: 44 Nehmt diese Worte in eure Ohren auf; der Menschensohn wird nämlich ausge­ liefert werden in Menschenhände. 45 Sie aber verstanden dieses Wort nicht und es war vor ihnen verborgen, daß sie es nicht begriffen, und sie fürchteten sich, ihn zu fragen über dieses Wort. 46Es kam aber ein Gedanke in ihnen darüber auf, wer der Größte von ihnen sei. 47 Jesus aber wußte den Gedanken ihrer Herzen, nahm ein Kind, stellte es vor sich 48 und sprach zu ihnen: Wer immer dieses Kind auf­ nimmt um meines Namens willen, nimmt mich auf, und wer immer mich auf­ nimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat. Denn wer der Kleinste unter euch allen ist, der ist groß. 49 Johannes aber antwortete und sprach: Meister, wir sahen einen, der in deinem Namen Dämonen austreibt, und wir wollten es ihm verweh­ ren, weil er nicht mit uns nachfolgt. 50 Jesus aber sprach zu ihnen: Verwehrt es nicht; denn wer nicht gegen euch ist, ist für euch.

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Noch betonter als bei Markus treten am Ende des ersten Teils des Wirkens Jesu der Unverstand ( 3 7 - 5 ) , das Groß-sein-Wollen (46-48)und der Egoismus (49f.) der Jünger seiner Vollmacht entgegen und weisen so schon auf seinen Leidensweg vor, der 9,51 signalisiert wird. Wie Mt 17,14-21 (s.d.) enthält Lk 9,37—43 eine kürzere Variante. Wie dort ist Jesu Seufzer an 5. Mose 32,5 (auch Phil 2,15 zitiert) und 20 angeglichen; aber die Diskussion über den Kleinglauben der Jünger (Mk 9,28 f.) fehlt ganz, da auch Mt 17,20 (Q) erst Lk 17,6 erscheint. Nicht er ist Thema, sondern die Wundermacht Jesu, die dem Unverständnis (der Menge oder der Jünger?) ent­ gegentritt. Durch das Fehlen des Gesprächs beim Abstieg (Mk 9,11-13, s. zu Lk 3, 15-20 f. Schl.) steht es noch direkter neben der Herrlichkeit der Verklärung, zugleich auch die Ansage der Passion in V. 31 neben der Wundermacht Jesu in V. 42 f. (s. zu V.43 b und besonders zu 7,1-9,50 am Ende). Will Lukas seiner Gemeinde sagen, daß es nur an ihrem „Verdreht-sein“ hängt, wenn keine Wunder geschehen, nicht an der Abwesenheit des Wundertäters? Der Vater bittet um Jesu barmherzigen „Blick“ (ebenso Lk 1,48; 3. Mose 26,9; l.Sam l , l l ; 9,16; l.Kön 8,29; Ps 13,4 usw. von Gott) für seinen „einzigen“ (s. zu 8,42) Sohn. Ihm „gibt“ Jesus dann den Geheilten zurück (wie 7,15). Was der Abschnitt bezeugen will, ist „die Größe Gottes“, die in Jesus wirkt (vgl. Apg 10,38). Aber mit dem Staunen des Volkes wird die Ansage des Leidens direkt verknüpft (anders Mk 9,30) und durch eine Einführung mit einer biblischen Wendung (vgl. 1,66) von Lukas stark hervorgehoben. Weil Lukas die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 9,46-50: Die Größe des Kindes

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Leidensansage durch „nämlich“ (nicht Mk 9,31) mit dem Einführungssatz ver­ knüpft und „diese“ sich meist auf Vorangehendes bezieht, dachte man an die Be­ wunderung der Menge, die sich die Jünger angesichts der kommenden Passion ein­ prägen sollten. Aber die „Worte“ der Menge sind V.43 gar nicht referiert; also sind die folgenden gemeint, die anders als Mk 8,31 (s.d.) nur die Verwerfung Jesu ankün­ den, nicht die Auferstehung. Sein Leiden ist ja dauerndes Gesprächsthema (s. zu V.31), nicht nur wie bei Markus in den drei ausdrücklichen Ankündigungen. Dafür unterstreicht Lukas, daß es den Jüngern (nach Gottes Willen?) „verborgen“ blieb (ähnlich 18,34, s.d.); gerade die Enthüllung der „Geheimnisse“ Gottes (8,10) läßt sie perplex vor Gottes unbegreiflichem Weg stehen. Auch der Streit der Jünger wird direkt angeschlossen (anders Mk 9,33). Darin zeigt sich ihr Unverständnis, in dem sie mit allen andern eins sind. Auch äußerlich sind sie nicht durch einen Rückzug ins Haus (so Mk 9,33, s. zu Lk 8,20) von ihnen geschieden. Wie in 6,8 fügt Lukas zu, daß Jesus ihre Gedanken durchschaut, und stellt die Zeichenhandlungvor V.48 c (anders Mk 9,36). Dadurch bezieht sich der Satz Jesu auf „dieses“ als Gleichnisgestalt verstandene Kind, empfiehlt also nicht einfach allgemein die Fürsorge für eins von solchen Kindern (Mk 9,37; ähnlich Mt 18,5), sondern erklärt, daß die Aufnahme des Kleinsten und Schwächsten Aufnahme Jesu selbst und damit Gottes ist. Das unterstreicht der angehängte Satz. Er ist weniger Mahnung an die Jünger, im Dienen „klein“ zu werden (wie Mk 9,35), als Aussage über die Kleinen, die der Gemeinde die Wichtigsten sein müssen, weil sie vor Gott „groß“ sind. Da Lukas „unter euch allen“ zufügt, denkt er dabei an Gemeindeglie­ der. Auch die Mitteilung des Johannes ist als „Antwort“ eng an Jesu Weisung ange­ schlossen (zum „Namen“ Jesu vgl. zu 10,17). Hier geht es ja um einen, der nicht „mit“ den Jüngern Jesus nachfolgt (wie Lk 9,49 richtiger formuliert als Mk 9,38, s.d.). Aber auch hier korrigiert Jesus alle Engherzigkeit; Mt 12,30 behandelt eine andere Frage (s.d.). Ein ähnlicher Satz wird auch von C icero (Ligarius 33) C äsar zugeschrieben, freilich in einem Plädoyer, das ihn günstig stimmen soll. Mk 9,14-29 dreht sich alles um die Frage, was Glauben ist; denn das Petrusbe­ kenntnis (Mk 8,29) grenzt den ersten Teil des Wirkens Jesu ab; nachher folgt kein eigentliches Wunder mehr (s. zu Mk 9,14-29 Schl.). Bei Lukas setzt der neue Ab­ schnitt erst 9,51 ein. Für ihn wird in der Heilung des Knaben abschließend noch ein­ mal Gottes große Macht sichtbar. Freilich, menschliches Denken, das nur auf das eigene Groß-sein ausgerichtet ist und darüber blind wird für anderes, macht selbst die Jünger unfähig, den Weg des Menschensohnes zu verstehen. Daher wird er in die Hände der für Gottes Weg blinden Menschen fallen (V. 44). Damit ist die Ausrich­ tung des Weges Jesu ab 9,51 gegeben. Wie ihm gerade die Kleinsten und Schwäch­ sten groß und wichtig sind, wie er aller Konkurrenzangst absagt, so werden nur die seinen Weg verstehen, die ihm darin nachfolgen. Mk9,41-10,12 fehlen; freilich bieten Lk l7,lf. ; 14,34f.; 16,18 parallele Worte, und Mk 10,1 mag in Lk9,51 sein Echo finden.

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III Lk 9,51-19,27: Überblick

III. Unterwegs nach Jerusalem 9,51—19,27 Gewöhnlich spricht man vom Reisebericht; aber Jesus ist schon vorher unterwegs und auf Gastfreundschaft angewiesen (5,29; 7,36; 8,1-3). Das Stichwort „wan­ dern“ findet sich auch 4,30.42; 7,11; 22,22. Neu ist aber die Ausrichtung auf Jeru­ salem (9,51; 13,22.33; 17,11; 18,31), womit Jesus Gottes Auftrag (9,31) bewußt übernimmt. Wie die Taufe Jesu seine erste Wirksamkeit einleitet (3,21 f.), so die parallele Verklärungsgeschichte (9,28-36) seinen Zug nach Jerusalem; wie jene mit der Abweisung Jesu in Nazaret beginnt, so diese mit der in Samarien. Beidemal wird Jesus dadurch weitergeführt (4,31a; 9,56). Man grenzt daher besser als bei 18,14 bei 19,27 (oder sogar 19,44, s.u.) ab. Freilich fehlen vor 18,35; 19,1 (Jericho) Orts­ angaben außer dem rätselhaften Hinweis 17,11. Jesu Wandern ist wie Mk 10,32f. weniger geographisch bestimmt als Ausdruck seiner Bereitschaft, den ihm bestimm­ ten Weg (zum Kreuz) zu gehen (12,50; 17,25; 22,22). Auch die relative Sicherheit eines Heimes ist ihm nicht gegeben; ständig kann er nur in der Ausrichtung auf Gott leben, auf dessen Weisung und Gabe er jeden Tag neu angewiesen bleibt. Hat der erste Teil das Messiasbewußtsein Jesu geklärt, so der zweite sein Leidensbewußtsein. Darin ist freilich auch Schritt um Schritt der Weg zur „Hinaufnahme“ (s. zu V.51) zum Vater eingeschlossen, die Johannes (schon Joh 3,14) in den Mittelpunkt stellt. Beides ist schon 9,22.29-31 angesagt, und Jesu nachösterliches Wirken tritt jetzt stärker in den Blick. Anders als Mk 9,2-10,52 berichtet Lukas dabei von Volks- wie von Jüngerbelehrung. Das Motiv der Nachfolge und der Mission findet sich beson­ ders am Anfang (9,52.57-62; 10,1; 14,25-33). Die Gliederung ist schwierig. Man hat schon den Reisebericht ein „christliches Deuteronomium (= 5.Mose)“ genannt und folgende Stellen verglichen: 5.Mose 1,22-25/Lk 10,1: Sendung von Boten; 5,6-21; 6,4f./10,27: 10 Gebote und Gebot der Gottesliebe; 8,3/10,38-42: „... lebt nicht vom Brot allein“; 9,10-13/11,1426: halsstarrig trotz (den 10 Geboten geschrieben von) dem Finger Gottes; 12,1-16/ 11,37-44: Reinheit vor Gott; 12,17-28/12,13-34: verantwortlicher Umgang mit Besitz; 13,6-11/12,51-53: Trennung von Familien; 13,12-18/13,1-5: Zerstörung der gottlosen Stadt und „aller Einwohner“; 15,1-18/13,10-17: Freigabe von Schuldnern im siebten Jahr/einer kranken Frau am siebten Tag; 18,15/13,31-35: Prophet (wie Mose); 20,5-7/14,18-20: Entschuldigungen (Militärdienst/Gast­ mahl); 21,15-22,4/15,1-32: Verloren und gefunden; 24,1-25,3/16,18-31: Ehe­ scheidung und Unterdrückung der Armen; 26,12-18/18,12: Verzehnten. Aber oft handelt es sich bei diesen Parallelen nur um Assoziationen, und viele Abschnitte werden dabei nicht erklärt. Da die parallelen Lukas-Stücke teils aus Q, teils aus S stammen, läßt sich auch nicht an eine Urform des Reiseberichtes denken, der dem Aufbau von 5. Mose einigermaßen gefolgt wäre. Ähnliche Themen wiederholen sich, und man könnte sogar eine chiastische (um­ kehrende) Reihenfolge darin finden: A 9,51-56: Jerusalem; Gottes Gericht / B 9,57-10,24: Nachfolge / C 10,25-42: Was tun, um ewiges Leben zu erlangen? / D U , 1-13: Gebet /E 11, 14-36: Zeichen des gegenwärtigen und kommenden Rei­ ches / F 11,37-12,1: Auseinandersetzung mit Pharisäern, rechte Jüngerschaft / © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

ALk 9,51-11,36: Überblick

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G 12,2-34: Jüngertreue, Umgang mit Geld / H 12,35-59: Bereitschaft für das kom­ mende Reich / I 13,1-9: Ruf an Israel / K 13,10-21: Sabbatheilung; Wesen des Gottesreiches / L 13,22-35: Gottes Gericht; Jerusalem / K 14,1-14: Sabbathei­ lung; Wesen des Gottesreiches / I' 14,15-15,32: Ruf an Israel und Außenstehende / H 16,1-8: Bereitschaft für das kommende Reich / G' 16,9-13: Umgang mit Geld, Jüngertreue / F' 16,14-17,10: Auseinandersetzung mit Pharisäern, rechte Jünger­ schaft / E'17,11-37: Zeichen des gegenwärtigen und kommenden Reiches / D'18,1-14: Gebet / C 18,15-30: Was tun, um ewiges Leben zu erlangen? / B' 18,31-19,10: Nachfolge / A' 19,11-27 (evtl. 44): Jerusalem; Gottes Gericht. Auch so sind einige Entsprechungen eindeutig, andere weniger. Oft sind auch andere Worte eingeschoben oder angehängt, die nicht streng zum Thema passen. Vielleicht läßt sich erkennen, daß die Mitte (L) durch K und K' gerahmt ist, und daß das Thema BC D, D'C'B' nach der ersten und vor der letzten Erwähnung des Zugs nach Jerusalem am Platz ist. Dazwischen stehen Auseinandersetzungen mit Pharisäern, Jüngerbelehrung und eschatologische Reden (F-H, H - F ) . Der sehr lange Abschnitt I zeigt gegenüber I eine Ausweitung auf Außenstehende. Nicht berücksichtigt ist der Neueinsatz in 17,11; doch wird Jerusalem wie 17,11 vor der ersten Endzeitrede, so 19,11 vor der zweiten von Lukas eingeschoben. Ebenso wird beidemal das Thema der Endzeit im Zusammenhang mit dem des Glaubens und Erkennens nachher wie­ der aufgenommen (18,8.14; 19,41-44). Ab 18,15 prägt der Markusaufriß die Reihenfolge, aber so, daß das von den Jün­ gern erwartete neue Leben dargestellt wird. Für die Zachäusgeschichte bestimmt neben dem Thema Nachfolge auch die Lokalisierung in Jericho den Ort des Ein­ schubs. Sie beleuchtet durch 19,10 den Zug Jesu nach Jerusalem und wird durch V. 11 mit dem Gleichnis V. 12-27 verbunden, das ihn vor schwärmerischen Mißver­ ständnissen schützt. Darauf setzt 19,28 mit dem Hinweis auf den Zug nach Jerusa­ lem wiederum neu ein. So ist nur ein grober Gliederungsversuch möglich. Das zeigt auch, daß Lukas vor allem Tradent und so erst auch theologisch ausgerichteter Er­ zähler ist. A Ruf zur Nachfolge angesichts des kommenden Reichs 9,51-11,36 Die Verweigerung des Gastrechts und Jesu Wissen um Gottes Langmut im Gericht (9, 51-56) setzen den Ton. V. 57-62 schließen die Nachfolger in Jesu Schicksal ein. Dem korrespondiert der Lobpreis des Gottes, der die Kleinen beruft (10,21-24). Der Sendung (10,1-12) entspricht die Rückkehr der Siebzig (17-20). Sie geht - nach Herodesfrage, Petrusbekenntnis, Verklärung und Wendung nach Jerusalem - über die Mission der Zwölf hinaus. Die Weherufe dazwischen (13-16) unterstreichen den Ernst der jetzt fallenden Entscheidung. 10,25-37 weist Jesus, gegenüber einem für das Doppelgebot der Liebe offenen jüdischen Partner, auf das Tun hin, V. 38-42 umgekehrt auf das Hören seiner Worte. 11,1-13 grenzt die Gebetspraxis der Jünger von der der Johannesgruppe ab, wobei die Kürze des Gebetes Jesu nichts an der Dringlichkeit dieses Betens abmarkten soll. 11,14-36 werden Verdächtigung (14— 26), bloße Begeisterung (27f.) und Mißverständnis seiner Heilstätigkeit (29-36) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 9,51: Ausrichtung auf Jerusalem

zurückgewiesen. Zur Frage der Quellen vgl. Einführung 2 und zu Mt 11,21—24 Einl. Q dürfte schon vorlukanisch mit S (9, 52-56.61 f.; 10,29—42) verbunden worden sein. Nach Jerusalem 9,51-56, vgl. Mk 10,1; Mt 19,1 f. 51 Es geschah aber, als sich die Tage seines Heimgangs erfüllten, da richtete er sein Gesicht daraufhin, nach Jerusalem zu wandern. 52 Und er sandte Boten vor sich [seinem Gesicht] her, und sie wanderten und kamen in ein Dorf der Samari­ taner, um Herberge für ihn zu bereiten. 53 Und sie nahmen ihn nicht auf, weil er [sein Gesicht] nach Jerusalem wanderte. 54AIs die Jünger Jakobus und Johannes das sahen, sprachen sie: Herr, willst du, daß wir sagen, daß Feuer vom Himmel herunterkommen und sie verzehren soll? 55 Er aber wandte sich um und bedrohte sie. 56 Und sie wanderten in ein anderes Dorf.

V. 51 bildet die Überschrift für alles Folgende. Er ist ganz auf Jesu Tun konzen­ triert. V.52a sendet Jesus seine Jünger und weist sie V.55 zurecht. Dazwischen wird ihre Ausführung des Auftrags (52b) und der Vorschlag zweier unter ihnen (54) er­ zählt. V.53 hingegen ist im Singular nur auf Jesus bezogen, weil sein Weg nach Jeru­ salem alles andere bestimmt. Jesu Entscheidung führt denn auch zur Weiterreise. V.56 sind dabei zum ersten Mal Jesus und Jünger zusammen Subjekt. Lukas hat wohl V.51 anstelle von Mk l0, l gebildet; Mk9,41-50 ist durch L k l 7 , l f . ; 14,34f. ersetzt (s.d.). V. 52f.56 mit vier „Und“-Sätzen haben ihm wohl vorgelegen (vgl. auch zu 5,1—11 Einl., gegen Ende), wobei V.53 b freilich lukanischen Stil ver­ rät. 51

In biblischem Stil wird die „sich erfüllende“ Gotteszeit betont (Apg2,1; vgl. 7,23.30; 9,23.31; 24,27; Lk9,31; ein anderes Wort in 1,23.57; 2,6.21 f.). Mit „Heimgang“ ist übersetzt, weil es wie das griechische Wort doppeldeutig ist. An sich heißt es „Hinaufnahme“, und das entsprechende Tätigkeitswort beschreibt Jesu oder Elijas Himmelfahrt (Apg l , l l ; 2.Kön2,ll; Sir. 48,9 [vgl. 49,14]; l.Makk. 2,58). Auch findet sich in Kap. 24 Entrückungsterminologie, freilich durch den nachdrück­ lichen Hinweis auf die Passion (V.26[39?].46) korrigiert. Aber das Hauptwort be­ deutet „Tod“ (Ps.Sal.4,18, Ps.-C l., Hom.3,47). Er ist auch 9,31 (s.d.) angesagt, und auf ihm liegt der Ton (vgl. A. nach 22,30, a). Nur weiß Lukas dabei, daß die Passion zur Himmelfahrt führt, wird also das in dem Wort mithören wie wir, wenn wir vom „Heimgang“ sprechen. Auch kommt das von Gott Bestimmte nicht einfach 53 über Jesus. Wenn es heißt: „sein Gesicht“ sei unterwegs nach Jerusalem, ist sein bewußter Wille betont, mit dem er sein Ziel selbst übernimmt. Ähnlich heißt es 51 2.Sam 17,11 von Absalom, „sein Gesicht ziehe mitten unter ihnen“. „Sein Gesicht darauf richten“ bezeichnet biblisch die Entscheidung gegen jemanden (Ez 6,2; 13,17; 14,8; 15,7; Jer3,12; 21,10); nur einmal heißt es im hebräischen Text „sich entschließen“ (2.Kön 12, 18). Aber deswegen kann man Jesu Zug nicht als Gerichts­ drohung gegen Jerusalem verstehen. Näher liegt das Wort des Gottesknechtes Jes 50,6f. LXX: „Ich habe mein Gesicht nicht abgewendet von der Schmach ... Ich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 9,51-56: Ablehnung Jesu am Anfang des Weges nach Jerusalem

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habe mein Gesicht wie festen Fels (auf Gott den Helfer) gerichtet.“ Letzte Sicher­ heit bietet nicht eine auf Felsgestein gebaute Burg, sondern nur felsenfeste Aus­ richtung auf Gott. Sie macht darum Jesus so beweglich und offen für alle und alles, was ihm begegnet, auch für immer neue Wendungen seines Weges (schon V.56). Dreimal erscheint Jesu „Gesicht“ in V.51-56, viermal „wandern“, das auch 9,57; 10,38; 13,33; 17,11; 19,28.36; 22,39; 24,28 wiederkehrt. Zu den Samaritanern s. zu Mt 10,5. Seit der Zerstörung ihres Tempels auf dem 52 Garizim (128 v. Chr.) wurden ihre Feindschaft gegen Israel und ihre Zuwendung zu den Römern immer entschiedener. Kriegerisch machtlos spielten sie wenigstens ihren Feinden böse Streiche, indem sie z.B. Totengebeine durch den ganzen Jerusalemer Tempel hin zerstreuten, um ihn zu entheiligen (Jos., Altert. 18,30). Zu Jakobus und 54 Johannes s. zu Mk 3,17. Ihr Vorschlag erinnert direkt an 2. Kön 1,10.12 und erweist ein erstaunliches Vertrauen auf Gottes Macht; aber Jesus ist kein Elija. Lukas über­ 55 nimmt zwar eine Geschichte, die Jesu Wunder ähnlich wie die Elijas schildert (7,15; vgl. 4,25-27), gleicht aber von sich aus nirgends daran an. Die Abweisung der Jün­ ger ist so scharf wie 9,21.42 (gegenüber einem Dämon!) und Mk 8,33. Der Versu­ chung, sich selbst durchzusetzen, muß am Anfang des Leidensweges besonders wi­ dersprochen werden. Die Frage „Wißt ihr nicht, welches Geistes ihr seid?“ wie auch die Zufügung des Satzes aus Lk 19,10 fehlten in den ältesten Handschriften, sind aber zu Jesu Geist durchaus passende Interpretationen. Daß Juden nicht begeistert aufgenommen werden, liegt nahe. Die sehen Samarita­ ner ja höchstens als Halbgläubige an, für die es keine Auferstehung gibt. Keine Toch­ ter aus jüdischem Haus würde einen von ihnen heiraten; aber gegenüber ihrer Gastfreundschaft sind sie keineswegs so skeptisch. Jesus hingegen wendet sich nicht gegen diese „Randsiedler“, die Mühe haben mit dem Glauben, sondern gegen die zwei in seiner eigenen Gruppe, die zwar einen außergewöhnlichen Wunderglauben haben, aber von Jesus das Gericht über andere erwarten. Wie er nicht in seinem relativ sicheren Haus bleibt, sondern auf Wanderschaft auszieht, so muß er auch seine Anerkennung durch andere nicht durchsetzen und bleibt gerade darin sich selbst treu. Er hält sein eigenes Wesen durch, indem er nicht dort sitzen bleibt, wo er gestern und vorgestern war. Er hält seinen eigenen Wert durch, indem er nicht dar­ auf abstellt, wie Menschen ihn werten, sondern nur darauf, wie Gott das tut. Er hält sein eigenes Leben durch, indem er es riskiert und in Jerusalem verliert, um es in der Auferstehung wirklich zu gewinnen. Sein Wille zur Machtlosigkeit steht im Gegen­ satz auch zum „gläubigsten“ (und bewundernswerten) Kraftbewußtsein. Er wird sich am Kreuz, wo Jesus noch ganz anders beleidigt wird, durchsetzen. Wie die Na­ zarener schon die Haltung Jerusalems voraus abbilden (4,28-30), obwohl die Gali­ läer sonst Jesus freundlich sind, so die Samaritaner hier trotz 10,33-35; 17,16. So oder so ist kein Platz für Jesus, weder dort, wo man als Frommer auf die andern hinuntersieht, noch dort, wo man überzeugt ist, so recht zu leben, daß man den Frömmler nicht nötig hat. 9,54 liegt wie 4,23 der Ton auf Jesu Wort und Werk im Gegensatz zu einer Wundererwartung, die eigene Wünsche erfüllt sehen möchte.

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Lk 9,57-62: Nachfolge

Nachfolge 9,57-62, vgl. Mt 8,18-22 57 Und als sie auf dem Wege wanderten, sprach einer zu ihm: Ich will dir nach­ folgen, wohin du nur gehst. 58 Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben ihren Bau und die Vögel des Himmels Nester, aber der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt niederlege. 59 Er sprach aber zu einem andern: Folge mir nach. Der aber sprach: Erlaube mir zuerst, wegzugehen und meinen Vater zu begraben. 60 Er aber sprach zu ihm: Laß die Toten ihre Toten begraben; du aber gehe und verkünde das Reich Gottes. 6I Es sprach aber noch ein anderer: Ich will dir nach­ folgen, Herr; erlaube mir aber zuerst, von denen in meinem Haus Abschied zu nehmen. 62 Jesus aber sprach: Niemand, der seine Hand an den Pflug gelegt hat und zurückschaut, ist brauchbar für das Gottesreich.

Der Nachfolgebereitschaft wird Jesu Warnung (in 3. Person vom Menschensohn sprechend) zuteil (57f.); seiner Forderung begegnet der Wunsch zum Kompromiß, der von Jesus (in direkter Anrede) abgelehnt wird (59 f.); schließlich verknüpft der dritte Nachfolger Bereitschaft und Wunsch zum Kompromiß, was Jesus mit einer allgemeinen Ablehnung aller Halbheit (in 3.Person auf jeden Nachfolger bezogen) beantwortet. V. 57-60 stammen aus Q und stehen auch Mt 8,18-22 vor der Aus­ sendung 9,35-10,16 (s. zu Mt 4,17-11,30). V.61 zeigt lukanischen Stil. Das Ange­ bot wiederholt V.57, die Bedingung V.59b. Nur entspricht der Abschied von der Familie dem von Elischa Gewünschten, an dessen Berufung (1.Kön 19,19-21) die schon in Q gebrauchte Wendung „erlaube mir zuerst noch“ und auch die Erwäh­ nung des Pfluges (V.62) erinnert. V.62 ist stilistisch unlukanisch und ihm gewiß schon überliefert gewesen. Sachlich ähnelt er griechischen, vielleicht schon von jü­ disch-christlichem Denken beeinflußten Sätzen: „Wenn du ins Heiligtum gehst, wende dich nicht zurück; ... wer im Aufbruch zu Gott steht, darf nichts zwiespälti­ ges oder an Menschlichem Hängendes an sich haben“ (Simplicius zu Epiktet 74, 322). Anders als in V.57-60 sind hier am Ende auch Bild und Sache vermischt. Hat Lukas selbst den Satz durch V.61 als Überleitung zu 10,1-12 eingeführt oder, da er sonst nie Jesus mit Elija parallelisiert, diese Einführung nur wie die in V.57 und 59 stilistisch neu gestaltet? Daß er prophetischer Einsamkeit (58) und priesterlicher Verkündigung (60b) königliche Vollmacht anfügen wollte (62), ist unwahrschein­ lich. 57.58 Zum fünften Mal seit V.51 wird auf Jesu Wandern hingewiesen. Seine Warnung wörtlich wie Mt 8,20, aber nicht an einen Schriftgelehrten gerichtet, bekommt da­ 59 durch aktuelle Bedeutung. Anders als Mt 8,21 (s.d.) fordert hier Jesus zur Nachfolge auf. Es ist das einzige Beispiel, bei dem der Erfolg des vollmächtigen Rufes Jesu nicht berichtet wird (s. zu Mk 1,17.20). Auch hier entsprechen Bitte und Abweisung 60 Mt 8,21 f. Sie bekommen aber neues Gewicht durch den Hinweis auf Jesu Tod (V.51) und die Aufforderung zur Verkündigung des Gottesreiches (10,9.11!, s. zu 4,43). Der Mensch sehnt sich nach der Geborgenheit im Heim, wo man die Tür vor allen Anforderungen der andern schließen kann; aber Jesus zieht nach Jerusalem zum Sterben. Er ist nur in Gott geborgen, in der Zukunft Gottes zu Hause. Darum macht das „Haus“, in das man sich zurückziehen möchte wie der Fuchs in seinen Bau, unfähig zur Nachfolge. Nur von einem für Kommendes offenen Menschen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 10,1-16: Analyse

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kann das Gottesreich ausgerufen werden. So wird Jesu Wandern in seinen Jüngern weiterleben (vgl. 23,26). Daß Gott auch das Versagen des Jüngers heilen und sein 62 Saatgut in sehr krumm geratene Ackerfurchen legen kann (22,32), hebt die Radikali­ tät der Forderung nicht auf, bewahrt sie sogar davor, als unerfüllbares Ideal verehrt und damit abgeschrieben zu werden (vgl. noch zu Mt 14,31; 5,48).

Aussendung der Siebzig 10,1-16, vgl. Mt 9,37 f.; 10,7-16.40; 11,20-24 'Danach bestimmte der Herr andere (2weiund)siebzig und sandte sie paar­ weise vor sich [seinem Gesicht] her in jede Stadt und an jeden Ort, wo er selbst hingehen wollte. 2 Er sagte aber zu ihnen: Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige. Darum bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende. 3 Geht; siehe, ich sende euch wie Lämmer mitten unter die Wölfe. 4 Tragt keinen Geldbeutel, keine Reisetasche, keine Sandalen mit euch und grüßt nie­ manden am Wege. 5 In was für ein Haus ihr aber eben geht, da sagt zuerst: Friede diesem Haus! 6 Und wenn dort ein Friedenssohn ist, wird euer Friede auf ihm ruhen. Wenn aber nicht, wird er sich zu euch zurückwenden. 7 In dem Haus bleibt, eßt und trinkt, was euch von ihnen (vorgesetzt wird). Denn der Arbeiter ist seines Lohnes wert. Wechselt nicht von Haus zu Haus. 8 Und in was für eine Stadt ihr eben geht und sie euch aufnehmen, da eßt das euch Vorgesetzte 9 und heilt die Kranken in ihr und sagt zu ihnen: Genaht ist euch das Gottesreich. 10In was für eine Stadt ihr eben geht und sie euch nicht aufnehmen, da geht hinaus auf ihre Straße und sprecht: „Auch den Staub, der uns von eurer Stadt an den Füßen hängt, schütteln wir euch ab; doch dies wißt, daß das Gottesreich genaht ist. 12Ich sage euch: Sodom wird es an jenem Tag erträglicher gehen als jener Stadt. 13Wehe dir, Chorazin, wehe dir, Betsaida; denn wären in Tyrus und Sidon die Krafttaten geschehen, die in euch geschehen sind, sie wären längst, in Sack und Asche sitzend, umgekehrt. 14Doch Tyrus und Sidon wird es erträglicher gehen im Gericht als euch. 15 Und du, Kafarnaum, wirst doch nicht etwa zum Himmel erhöht werden? 2um Totenreich wirst du hinabgestoßen werden. 16 Wer euch hört, hört mich, und wer euch abweist, weist mich ab; wer aber mich ab­ weist, weist den ab, der mich gesandt hat. Vers 15: J e s l 4 , 1 3 . 1 5 .

Vgl. Einl. zu Mt 10,1-16.40; 11,20-24 und Mk 6,7-13. V. 1 ist typisch luka­ nische Situationsangabe. Paarweise Sendung und „Orte“ erinnern an Mk 6,7.11. Ob die Zahl 70 (72) und der Titel „Herr“ in der Vorlage standen, bleibt unsicher. 22,35 (S) setzt nämlich die Zwölf als Adressaten der Weisung 10,4 voraus. Auf das grund­ sätzliche Wort V.2 folgt die Sendung (3 f.) mit den Weisungen zur Ausrüstung (4) und zum Verhalten in Haus (6-7) und Stadt (8-11). Im ersten Fall scheidet sich am Heilszuspruch (5) Annahme und Ablehnung (6); die Inanspruchnahme des Gastrech­ tes wird nachgetragen (7). Im zweiten Fall werden Annahme, Inanspruchnahme des Gastrechts und Heilszuspruch (8 f.) der Ablehnung und dem Gerichtszuspruch (l0 f.) entgegengestellt. V. 12 droht der ablehnenden Stadt das Gericht an, was V. 13-15 an Beispielen illustriert wird. V. 16 schließt die Rede mit einer grundsätzlichen Erklä­ rung über die Vollmacht der Boten. Sollte erst Lukas mit V.8.10f. (vgl. 1) die Stadt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 10,1-5: Die Jünger-Verweis auf den „Herrn“

eingefügt haben, weil sich Vieles wiederholt? Aber das prophetische Zeichen (V. 11) ist doch nur einer ganzen Ortschaft gegenüber sinnvoll. Haus und Stadt müssen also schon in Q unterschieden worden sein, was Mk 6 , l l („Orte“) nur undeutlich an­ klingt (vgl. zu Lk 9,5). V. 13-15 gehören ursprünglich nicht hierher; während V. 12 und 16 die Jünger angesprochen sind, sind es hier die drei Städtchen. Außerdem wird doch wohl auf Jesu Wirken zurückverwiesen (so Mt 11,20), nicht auf das der Jünger (V. 10). Die Parallele zwischen V. 12 und 14 hat wohl schon in Q zur Einordnung an dieser Stelle geführt. Lukas mag das Einzelwort V. 16 hier zugesetzt haben. Mk 9,37 (Mt 18,5; Lk 9,48) wie Mt 10,40 beziehen sich auf Gewährung von Nahrung und Schlafgelegenheit, Lk 10,16 auf die Verkündigung (lukanische Redaktion wie V. 17?). Lukas hat also die Q- und die Mk-Version in 9,1-6 und 10,1-11 gesondert nebeneinandergestellt wie 17,22-37/21,6-36 und 11,37-54/20,45-47. 1

2.3 4

5 6

Hervorgehoben ist Jesu herrenhaftes Handeln; in den Boten kündet sich sein eigenes Kommen an. Sie sind nichts als Verweis auf ihn selbst. Ähnlich setzen Apg9,4f.; 22,7f.; 26,14f. voraus, daß wer die Jünger verfolgt, gegen Jesus selbst kämpft, und 18,10 sagt, daß er in seinem Volk selbst am Werk ist. 70 ist die Zahl der Völker nach l.Mose 10 und den Rabbinen (Israel das Schaf unter 70 Wölfen, Bill. 1 754). Die griechische Übersetzung gibt wie viele Handschriften in Lk l0, 1 die Zahl 72 an. Auch an die 70 nach Ägypten ziehenden Israeliten (2.Mose l , 5 ; vgl. 5.Mose32,8), die 70 Ältesten (2.Mose24,l; 4.Mose l l , 1 6 ) oder die 70, die in 70 Tagen das Alte Testament übersetzten (Arist. 50.307) ließe sich denken. Ob Lukas daran dachte und, wenn ja, an die Völker oder an Israel oder an dessen Älteste, ist schwer zu sagen. Übrigens wäre bei paarweiser Sendung ja an 35 (oder 36) Zielorte zu denken, also nicht an 70 Orte, die die Völker symbolisieren könnten. Daß Jesus wirklich an so viele Orte zog, ist schwer vorstellbar. Zu V.2 vgl. zu Mt 9,37, zu V.3 zu Mt 10,16a. Forderung an die Jünger („geht hin“) und Befreiung von der Last letzter Verantwortung („bittet den Herrn“) stehen hier eng zusammen. Wie Mt 10,10 (s.d.) und über Mk 6,8 f. (s.d.) hinaus werden auch Tasche und Sandalen verboten. Anders als dort ist das damit begründet, daß alles nicht unbedingt Not­ wendige nur beschwert und am Dienst hindert (vgl. zu 22,36). Nur nach Lukas ist wie 2.Kön 4,29 auch der Gruß verboten; so dringlich ist ihr Auftrag. Mindestens Lukas denkt dabei nicht an eine so große Nähe des Gottesreiches, daß der, im Orient mehr Zeit beanspruchende, Gruß unterwegs die Jünger daran hindern könnte, ihr Ziel vorher noch zu erreichen. Wahrscheinlich soll damit nur zeichenhaft und die Jünger von anderen Boten unterscheidend die Dringlichkeit des Auftrags Jesu unter­ strichen werden, der nicht erlaubt, daß die Sprache des Boten zur Höflichkeitsformel absinkt. Das hier verwendete Wort „grüßen“ bedeutet Apg 18,22; 20,1; 21,7.19; 25,13 etwa, was wir durch „besuchen“ wiedergeben, Lk 1,40 allerdings eindeutig „begrüßen“. Die Gefahr, unterwegs noch Besuche zu machen, könnte zwar die War­ nung erklären, ist aber doch im Zusammenhang dieser Rede schwerlich als Meinung des Textes anzunehmen. Jedenfalls spricht V.5 nicht nur vom „Grüßen“ (Mt 10,12), sondern füllt dies inhaltlich. Der Zuspruch des endgültigen, den Menschen heil ma­ chenden „Friedens“ (2,14!) ist so real gedacht, daß er (wie der Geist 4. Mose 11,25; 2.Kön 2,15 auf Menschen) auf einem Haus bleiben oder zu den Jüngern zurück© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 10,6-16: Zuspruch des Friedens des Gottesreiches

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kehren kann. Man müßte die Realität des Friedens oder Unfriedens über einem Haus sehen und werten lernen, nicht nur seine sichtbaren Vorzüge oder Nachteile. Weil es um solche Entscheidungen geht, setzt die Verkündigung auch beim einzelnen Haus, ja beim einzelnen „Sohn des Friedens“, bei dem von Gottes Frieden überwundenen Menschen an (vgl. „Menschen des Wohlgefallens“ 2,14). Der Ausdruck kennt keine Parallelen (vgl. nur Ps41,9: wörtlich „Mensch meines Friedens“). Hat Jesus ihn geprägt und als Jude unter „Frieden“ das allumfassende Heil verstanden? Damit ist gesagt, daß alles neue Leben letztlich Gottes Tat ist, ohne daß diese doch zum Zwang wird (s. zu Mt 10,13). Daß der Friede des Einzelnen, sein Glauben und sein Getauftwerden auch sein Haus mit ins Heil einschließen kann, zeigt Apg 16,31. Mis­ sionserfahrung hat V. 7 gestaltet. Der Grundsatz vom Recht auf „Lohn“ (wie l.Tim 5,18; dagegen Mt 10,10 „Nahrung“) ist gerahmt durch die Warnung vor Umzug in komfortablere Quartiere (natürlich nicht vor Verkündigung in anderen Häusern, V. 5 f.) und die Mahnung alles zu essen. Sie sollen also nicht mehr ängstlich sein wegen kultisch unreiner Nahrung, die dem Juden verboten war Lukas wiederholt die Weisung in V. 8, vielleicht weil er schon an nichtjüdische Städte denkt. Sie ist in späterer Zeit unerhört wichtig, weil sie erst die Einheit der Gemeinde, die am Eßund Abendmahlstisch sichtbar werden will, ermöglicht (Gal 2,12). Kirchliche Tradi­ tionen, Bräuche, Interpretationen, sanktionierte Rassenunterschiede, die diese Ein­ heit verunmöglichen, haben in Jesu Jüngerschar keinen Platz. So sehr die Verkündi­ gung beim Einzelnen ansetzt, kann sie ihren Öffentlichkeitsanspruch nicht verleug­ nen. Dabei können auch Seel- und Leibsorge nicht mehr geschieden werden. Die Nähe der ausgerufenen Gottesherrschaft ist nicht mehr zeitlich zu verstehen (wie Mt 10,7), sondern räumlich. In Jesu Handeln rückt sie denen, die sich zum Glauben rufen lassen, denen sie dann „gegeben wird“ (12,32, auf die Jünger [12,22] bezo­ gen), und denen, die sich ihr verweigern (vgl. 11,20; 17,21), auf den Leib („euch“). In Jesus ist sie objektiv für beide da (V. 11 Ende). Darum soll das prophetische Zeichen (s. zu Mk 6,11) nicht nur getan, sondern öffentlich ausgesprochen werden. Zeichen und Wort müssen zusammenstimmen. Gerade so wird die Einladung zum Heil ernsthaft und die Möglichkeit zur Umkehr für die Gewarnten noch offen gehal­ ten. Darum schließt die Warnung vor dem Gericht den Auftrag an die Jünger ab. Wie Mt 11,24 (anders 10,15); Bill. 1574; IV 1197 und bei Jos, Krieg 5,566 fehlt „Gomorra“.

7

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10.11 12

Mit V. 13 wendet sich Jesus an die Städtchen, die die drei Eckpunkte seiner Haupt- 13 Wirksamkeit darstellen. Setzt Lukas voraus, daß er aus Samarien dorthin zurückge­ kehrt ist? Doch kümmert er sich kaum um Ortsangaben. Die Verse stimmen fast wörtlich mit Mt 11,21-23 (s.d.) überein; Mt 11,23b.24 ist unnötig beim direkten Anschluß des Lukas an V. 12. Ihre Funktion im Lukaszusammenhang ist wohl die Tröstung der Jünger bei Mißerfolgen. Vielleicht ist auch der Umkehrwille der Hei­ den Lukas wichtig (vgl. 4,25-27). Der alles zusammenfassende Schlußsatz ist deut­ 16 lich auf die Mission der Jünger bezogen (Joh 12,48; l.Thess 4,8; Jud 8 [vgl. Sodom in V.7!]; Hermas, Geb. 3,2). 16b ist nur negativ formuliert. Erst Justin (Ap. I 63,5; ähnlich, mit Mt 7,21 kombiniert, 16,9 f.) fährt fort: „Wer mich hört, hört den, der mich gesandt hat“ (vgl. Mt 10,40). Vielleicht bestand eine gewisse Scheu, das Wort © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 10,1-16: Jesus im Wort der Boten

der Boten so direkt nicht nur der Stimme Jesu, sondern auch dem Wort Gottes selbst gleichzusetzen. Zwar spricht im Wort des Boten Jesus selbst und damit auch Gott selbst; daher gilt uneingeschränkt, daß wer es grundsätzlich ablehnt, Jesus ablehnt und mit ihm Gott, der in ihm kommen wollte. Es gibt aber überhaupt keine menschlichen Worte, die voll umschließen können, was Gott spricht. Darum muß sich der Geist zu Zeiten in menschlich nicht mehr verständlichen Sprachen, in „Engelszungen“ ausdrücken (Apg 10,46; 19,6; 1.Kor 13,1; 14, 16.23). Das warnt vor einer Überheblichkeit, die die Schuld nur beim Hörer sieht und nicht bei der eigenen ungereinigten, für Gottes Wirken viel zu wenig offenen Sprache. Vielleicht kann man fragen, ob heutige Men­ schen prophetische Sprache überhaupt noch verstehen können. Voraussetzung wäre jedenfalls, daß diese im Gebet, also im Wissen um ständiges Angewiesensein auf Gott wurzelt. Der prophetische Bote soll ja nicht seine Lehre oder seine Ideen an den Mann bringen, sondern dem Kommen Jesu selbst, über dessen Art und Weise er noch keine festen Vorstellungen haben kann, den Weg bahnen. Bei Lukas wandert Jesus betont auf dem Weg in den Tod. Es geht also nicht um triumphale Missions­ erfolge, sondern um eine Öffnung der Menschen für diesen Weg, der oft genug auf sichtbare Siege verzichtet. Dazu kommt die paarweise Sendung, die alle Selbstüber­ hebung und Fixation auf persönliche Lieblingsgedanken korrigiert, und der Verzicht auf Sicherheiten, zu denen auch das Vertrauen auf Reklame, Management, Rhetorik und Massenenthusiasmus gehört. Andererseits müssen Wort und Zeichen zusam­ menstimmen. Wohl kann ein ganzes Haus im Segen leben, der dem Glauben eines Einzelnen entspringt, wie es die Kindertaufe ausdrücken sollte; aber eine Kirche, die (z.B. in ihrer Taufpraxis) den wie immer begründeten Unglauben nicht mehr ernst nimmt, kann auch in ihrer Verkündigung des Glaubens nicht mehr ernst genommen werden. Sie soll zwar nicht entscheiden, wer hier, wer dorthin gehört; aber Heilun­ gen und Warnungen vor dem Vorbeileben an dem jetzt kommenden Gottesreich müßten zeichenhaft aufzeigen, was auf dem Spiele steht. Der Fall Satans 10,17-20 17Es kehrten aber die (Zweiund)siebzig mit Freuden zurück und sagten: Herr, auch die Dämonen sind uns in deinem Namen Untertan. 18Er sprach aber zu ihnen: Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel stürzen. 19Siehe, ich habe euch die Vollmacht gegeben, über Schlangen und Skorpione zu schreiten und über alle Kraft des Feindes, und nichts wird euch irgend etwas anhaben. 20Doch freut euch nicht darüber, daß euch die Geister Untertan sind; freut euch aber, daß eure Namen im Himmel eingeschrieben sind.

V. 17a greift auf die vorangehende, aber nicht geschilderte Mission zurück (Ver­ gangenheit), die eine weiterhin gültige Erfahrung brachte (17b, Gegenwart). Jesus verweist auf das zugrundeliegende Ereignis (V. 19, Vergangenheit, Subjekt = Jesus), das wiederum in einem noch grundlegenderen, durch Gott gewirkten Geschehen (V. 18, Vergangenheit) gründet. V.20 ist die Klammer, die wieder mit 17b verbindet © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 10,17-20: Analyse

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(Gegenwart), jene Erfahrung aber zugleich überhöht. 19 a.c.20b sprechen von dem den Jüngern Zugutekommenden, V. 17b.19b (und 20a im jetzigen Zusammenhang) von der Wirkung, die anderen zugute kommt. Die Herkunft der Sätze ist schwer zu erforschen. Nach Lukas begründen sie den Jubelruf Jesu; „in dieser Stunde“ (V.21) ist lukanisch. Dann ist vermutlich auch V. 17 von ihm gebildete Situationsangabe aufgrund des ihm überlieferten Satzes V.20, wobei er „Dämonen“ statt „Geister“ schreibt (wie 9,1.42a; vgl. 4,33 gegenüber Mk). Die Rettung von Schlangen- und Skorpionenbissen ist schon Ps 91,13 dem Gerechten (Bill. II168 f.: Noa) verheißen. Eine jüdische Stelle verknüpft Schlangen, Skorpione und böse Geister, von denen der Erlöser einst retten wird (Sifre Dt. 193), und nach Test.Lev. 18,12 werden die „Kin­ der“ des messianischen Hohenpriesters Gewalt haben, auf die bösen Geister „zu treten“. Ursprünglich besagen V. 19f. also, daß die Endzeit angebrochen, die Macht des Bösen gebrochen ist, daß aber die Erwählung Gottes wichtiger ist als Wunder­ erfahrungen. Das paßt zu V. 18. Lukas hat dies (wie V. 16) auf die Missionserfahrun­ gen der Jünger bezogen und daher wohl in V. 19 die störende Wendung „und über alle Kraft des Feindes“ aufgrund von 9,1 eingefügt, weil ihm die Vollmacht der Jün­ ger zu Heilungen wichtiger war, als daß „ihnen nichts anhaben“ kann. Beides kann sich leicht verbinden, wie die jüdischen Belege und vor allem Mk 16,17 f. zeigen. Woher stammt die Vision vom Satanssturz? Sie könnte schon vor Lukas an dieser Stelle gestanden haben, weil Jes 14,12-15, wo die Geschichte vom Sturz Luzifers auf den König von Babel übertragen wurde, hinter V. 15 wie V. 18 steht. Deswegen ist wohl der Abschnitt nicht schon bei 9,10 eingeschoben worden. Fehlte sie in diesem Fall noch in Q oder hat Mt 11,20-27 sie weggelassen? Geht V. 18 wie Offb 12,9 auf die Vision eines christlichen Propheten zurück, die später auf Jesus übertragen wurde? Aber auch V. 19 bezieht sich eindeutig auf Jesus. Vor allem stammt der Satanssturz weder aus der jüdischen Tradition, die Ähnliches erst von der noch aus­ stehenden Endzeit sagen könnte, noch von der Gemeinde, die das mit Jesu Kommen vom und Aufsteigen zum Himmel (Offb 12,5!) verbinden müßte. Sollte also eine Erfahrung Jesu, ähnlich den alttestamentlichen Prophetenvisionen und vor allem der Mk 1,10 berichteten („er sah die Himmel sich öffnen“) dahinterstehen, in der sich die Gegenwart des endzeitlichen Gottesreiches (11,20; 17,21) bildhaft ausprägt (vgl. V.23 f.)? Der Anklang an alttestamentliche Stellen bei völlig neuer Deutung (V. 15 wie 18) ist für Jesus typisch. Dann hätte Jesus schon die vom Satan befreite, neu unter Gottes Herrschaft gebrachte Schöpfung geschaut und ihre Wirklichkeit in seinem Handeln erfahren. Das könnte sogar das Nebeneinander der „endzeitlichen“ Aussagen über das Gottesreich und der „weisheitlichen“ über das Vertrauen in Got­ tes gute Schöpfung (z.B. 12,6 f.) erklären. Die Rückkehr der Boten ist durch ihre Freude charakterisiert. Predigt oder Heilun­ 17 gen sind nicht erwähnt, wohl aber die Erfahrung der Wirklichkeit Gottes. Dämonen­ austreibungen sind Mt 10,8 genannt, nicht aber in der lukanischen Sendungsrede (höchstens 9,1). Der „Name“ Jesu ist Lukas wichtig. Wo er glaubend angerufen wird, da ist Jesu Macht gegenwärtig. Das entspricht einem Handeln „im Namen des Königs“, vor allem aber der alttestamentlichen Überzeugung, daß der Name Gottes seine Gegenwart unter den Menschen beschreibt (l.Kön 8,16-20). Wer im Namen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 10,17-20: Satanssturz - neue Schöpfung

eines andern wirkt, der repräsentiert ihn so, daß dieser andere in allen Belangen, auf die es ankommt, gegenwärtig ist. Darum stehen „Name“ Jesu und er selbst Apg 4,12 (vgl. 3,16) gleichwertig nebeneinander. Für Lukas gehören Wunder und Lehre stets zusammen (4,23-27; 5,15.17). Sie führen zum Lobpreis Gottes (s. zu 17,15) und zum Glauben (17,19; 4,23 vor 5,1-11) und weisen Jesus aus (7,21), weil sie über die der Propheten hinausgehen (s. zu 9,55 [7,16 und 24,19 sind Meinungen ande­ 18 rer]). Jesu Wort aber sagt erst, was sich tatsächlich abgespielt hat. Daß der Satan ursprünglich im Himmel lebt, freilich als ein Gott unterstellter Bote, ist von Hiob 1,6; 2,1 (vgl. l.Kön 22,21 f.) bis zu Joh 12,31 und Offb 12,7 ausgesagt. Jesus sieht das Ende dieses Zustandes. Das Griechische drückt dabei mehrmaliges Sehen aus, doch ist die, auch aramäisch nicht vorhandene, Form für Einmaligkeit bei diesem Verb ungebräuchlich geworden. Vom Kampf des Lichtes gegen die Finsternis spre­ chen die Leute in Qumran, aber auch jüdische Apokalyptiker (Sib. 3, 796-807; Him­ melf. M. 10,1-3). Aber hier ist das nicht mehr nur Hoffnung; Jesu Augen haben sich für die Wirklichkeit Gottes geöffnet und sehen schon den gestürzten Satan. Gott ist wieder der allein im Himmel Thronende (Ps 33,14 f.; 103,19). Das heißt, daß das für Menschenaugen undurchdringlich Finstere und Böse innerhalb seines Handelns jetzt grundsätzlich an sein Ende gekommen und Gottes Wirken eindeutig als Heil erwie­ sen ist. Natürlich ist nicht an den Fall von 1. Mose 6,1—4 gedacht, sondern an das, was im Wirken Jesu geschieht. Was im „Himmel“, also in Gottes Entscheidung für das Heil des Menschen, schon geschehen ist, will sich jetzt auf Erden durchsetzen. Darum wird die ganze Schöpfung wieder für Gottes Herrschaft reklamiert, und es gibt Menschen auf Erden, die sorglos wie Blumen und Vögel leben (12,6f. 24-27) und wie Gott der Schöpfer Guten und Bösen mit Liebe begegnen können (Mt 5,4547; Lk 6,35 f.). Hat schon die jüdische Weisheit von der für alle geschaffenen Schöp­ fung her zur Aufgeschlossenheit für das Wohl aller aufgerufen, so bekommt dies bei Jesus eine völlig neue Begründung in Gottes endgültigem Entscheid zur Liebe, die den Satan entthront und damit alles Geschehen auf Erden auf Gottes endgültiges 19 Heil hin ausgerichtet hat. Das zeigt sich zeichenhaft in der Erfahrung derer, die sich Jesu Ruf stellen. Gewiß kann man nur mit Jesu Augen etwas von diesem Entscheid sehen, der oft von Mißerfolg (V. 13-15!) verdeckt bleibt. Für Lukas sind solche zei­ chen des jetzt durchbrechenden, schon auf den Menschen zukommenden Gottesrei­ ches zentral, nicht so sehr die zeitliche Nähe des Weltendes. Freilich begrenzt V.20 20 auch; Zeichen für Gottes Einbruch weisen erst hin auf das Entscheidende. Sie sind immer zweideutig. Ihre „Obernatürlichkeit“ beweist ja nichts; nur der Glaube kann erkennen, wie sehr Gott alle Kräfte seiner Schöpfung, normale wie völlig ungewohnte, benützen kann, um sein Heil zu schaffen (Apg28,3-6; auch Ev. Tom. 17; Act. Tom.33; vgl. Lukian, Lügenfreund 12). Darum ist nur das eine entscheidend: daß Gott Menschen zum Heil bestimmt hat. „Nicht der verjagte Teufel, sondern der für sie vorhandene Gott macht sie froh“ (Schlatter). Das Bild vom Himmelsbuch ist seit Dan 12,1; Jub. 19,9; äth.Hen. 47,3; 104,1.3 f. verbreitet, Phil 4,3 ebenfalls auf Jesu Boten angewendet (vgl. Offb 3,5; 13,8; 20,15). In den von Lukas übernommenen Worten ist der Jubel über das in Jesu Wirken schon angebrochene Heil (V. 21-24) hörbar. Lukas hat dies deutlicher auf die Erfah© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 10,21-24: Analyse

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rungen der Jünger bezogen, nicht eigentlich auf ihre Mission. Er spricht nie von „Verkündigung“ (kerygma) oder „Verkündern“. Die Reden in Apg 2-5 sind eher „Zeugnis“ gegenüber Anklagen als Mission; der Gang des Evangeliums zu den Völ­ kern ist 24,4; Apg 1,8 verheißen, aber nicht direkt befohlen, denn die Apostel blei­ ben ja in Jerusalem. Wohl aber sind die Zwölf, Paulus und Stephanus „Zeugen“. Die eigentliche Missionsperiode, die mit Apg 9,15; 10,1-48 einsetzt, scheint für Lukas beendet zu sein (vgl. A. nach Lk 21,38,a). Trotzdem haben 9,1-6; 10,1-16 für Lukas auch Gegenwartsbedeutung, in der Verantwortung des Glaubens Nachbarn und Freunden gegenüber und in Heilungen, die Jesu Macht zeigen. Jedenfalls darf V. 18 nicht einfach zum Dogma erstarren, das man für wahr hält, aber nirgends mehr erfährt. Umgekehrt warnt V.20 vor einer Überschätzung der Erfahrung, die in sich selbst immer zweideutig bleibt. Jesus wünscht sich offene Augen, die hinter den äußeren Geschehnissen Gottes wirkende Wirklichkeit erkennen, ohne sie doch mit äußerem Erfolg einfach gleichzusetzen. Das schließt eine erstaunliche Offenheit für die Schöpfung ein, deren bedrückende Schattenseiten nicht mehr dämonisch sind. Unbegreiflich Böses geschieht freilich noch immer; aber der Jünger, der Jesu Erfah­ rung in Anfechtung und Verfolgung geteilt hat, kann bezeugen, daß sich selbst darin der Sturz Satans auswirkt, der nervös wird, weil er keine Zeit mehr hat (Offb 12,12f. 17). Ihm darf es auch Lukas und der heutige Leser nachsagen. Gegenwart des Heils 10,21-24, vgl. Mt 11,25-27; 13,16f. 21 In der Stunde jubelte Jesus im heiligen Geist und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr Himmels und der Erde, daß du dies vor den Weisen und Verständi­ gen verborgen und es den Kindlichen offenbart hast. Ja, Vater, denn so hat es dir Wohlgefallen. 22 Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand er­ kennt, wer der Sohn ist, als nur der Vater, und wer der Vater ist, als nur der Sohn und wem der Sohn es offenbaren will. 23 Er wandte sich zu seinen Jüngern im besonderen und sprach: Heil den Augen, die sehen, was ihr seht; 24 denn ich sage euch: Viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr da seht, und haben es nicht gesehen, und hören, was ihr hört, und haben es nicht gehört.

Auf eine lukanische Einleitung (21a) folgt der Lobpreis Gottes und seine Begrün­ dung durch zwei gegensätzlich parallele Sätze (mit „daß“ oder „denn“, griechisch dasselbe Wort) und eine zusammenfassende Feststellung (21). Jesu Wirken wird erst V.22 eingeführt mit dem Verweis auf Gottes Handeln in der Vergangenheit und der dadurch gegebenen Einheit von Vater und Sohn (in der Gegenwartsform). Die Schlußwendung öffnet diesen Kreis auf die Jünger hin, denen in V.23 das durch V.24 begründete Heil zugesprochen wird. Die Worte haben wohl schon in Q an dieser Stelle gestanden und drücken, wenn auch nicht in der Einzelformulierung, Jesu Wissen um die hereingebrochene Zeit Gottes aus (s. zu Mt 11,20-24 und 2 5 27 Einl. und zu 13,16). Bezog sich „dies“ in Q ursprünglich auf die V. 13-15 erwähnten Wunder, so in der Vorlage des Lukas wohl auf den Satanssturz, den er auch in den Heilungswundern der Jünger erkennt (V. 17). Zum heiligen Geist vgl. zu 3,21 f.; 4,1. Das Wortspiel © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 10,21-24: Offenheit für Gottes Geheimnis

„Verbergen/Enthüllen“ ist im Griechischen bei Lukas deutlicher als in Mt 11,25. Markion (s. zu 4,31) hat „und der Erde“ gestrichen, weil er den bösen Schöpfergott 22 vom guten Erlösergott unterschied. V.22 formuliert „wer der Sohn (der Vater) ist“ statt nur „den Sohn (Vater)“, betont also stärker das Offenbarungswissen als die persönliche Gemeinschaft (s. zu Mt 11,27 und vgl. 1QH 7,26). Das bekommt bei Lukas durch 2,49 noch einen besonderen Akzent. Im übrigen sind die Verse wörtlich 23 gleich wie Mt 11,25-27 (s.d.). Die Überleitung zu V.23 ist unlukanisch, lag ihm also wohl vor (vgl. 22,61). Anders als Mt 13,16 f. spricht Lk 10,23 nur vom Sehen, ob­ wohl das „Hören“ V.24 auch erscheint. Er formuliert nicht „eure Augen“, denkt also wohl auch an spätere „Jünger“ (vgl. zu 10,17), so wichtig ihm die Augenzeu­ 24 genschaft (Apg 1,22) gerade Jesu Wundern gegenüber ist. Neben den Propheten erscheinen die Könige (Jes 52,15; 60,3; Mt: Gerechte), also die, an denen Gottes Handeln sichtbar und denen doch nur vorläufige Offenbarung zuteil wurde. Der Jubel Jesu ist hier direkt auf die Gotteserfahrung seiner Jünger, der „Kindli­ chen“ bezogen. Was darin geschehen ist, kann nur als Lobpreis Gottes ausgesagt werden, nach Lukas sogar nur „im heiligen Geist“, also in Gottes eigener Sprache. Es gibt Erfahrungen, die man nicht in mathematisch eindeutiger Formulierung definie­ ren kann, ohne sie zu zersagen. Wohl aber können sie als Gebet zu Gott ausgespro­ chen werden, weil Gott durch die menschlich unzulänglichen Worte hindurch ver­ steht, was wir sagen wollen. Wer daher nicht mehr weiß, daß es Geheimnis gibt, ungeheure Gebiete von Leben, die unserem Erkennen und Formulieren verschlossen sind, der mag dasselbe sehen, was die Jünger sahen, und doch nicht wirklich sehen, was geschehen ist. Sie haben im Wirken Jesu Gott selbst gesehen und sein Leben als Modell und Maßstab für solches Gottesgeschehen verstanden. Daher haben sie auch auf ihrem Botengang, getrennt von Jesus, dasselbe Wirken Gottes sehen lernen dür­ fen (s. Rückblick, bes. 3). Über solche „Offenbarung“ jubelt Jesus. Das Wort gilt also nicht nur den Zeitgenossen Jesu. Zur Frage von Vater, Sohn und Geist s. zu Mt 28,19. Während es im Zusammenhang von Mt 11 f. stärker um die rechte Er­ kenntnis Jesu als des Christus geht, betont Lukas vor allem den Durchbruch Gottes zu den Menschen hin. Schon in Q hat sich das Unservater (Lk 11,2—4) angeschlos­ sen, in dem die Jünger in die Beziehung Jesu zu seinem Vater hinein aufgenommen wurden. Die Chance der Liebe 10,25-37, vgl. Mk 12,28-34; Mt22,34-40 Und siehe, ein Gesetzeskundiger stand auf, um ihn zu versuchen, und sagte: Lehrer, was soll ich tun, um ewiges Leben zu ererben? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Wie liesest du? 27 Er aber antwortete und sprach: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ 28 Er sprach aber zu ihm: Du hast recht geantwortet, tue das und du wirst leben. 29 Er aber wollte sich rechtfertigen und sprach zu Jesus: Und wer ist mein Nächster? 30 Jesus nahm das auf und sprach: Ein Mensch zog von Jerusalem nach Jericho hinunter und fiel unter die 25

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Lk 10,25-37: Analyse

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Räuber, die zogen ihn aus und schlugen ihn und gingen davon, ihn halbtot liegen lassend. 31 2ufällig aber zog ein Priester auf jenem Weg hinunter und als er ihn sah, ging er vorbei. 32 Gleichermaßen kam auch ein Levit an den Ort und als er ihn sah, ging er vorbei. 33Ein Samaritaner aber, der seines Weges ging, kam dort­ hin und als er ihn sah, erbarmte er sich. 34 Und er lief hinzu, verband seine Wun­ den, goß Öl und Wein darauf, setzte ihn auf sein eigenes Reittier und führte ihn in eine Herberge und sorgte für ihn. 3 5 Und am nächsten Tag zog er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sprach: Sorge für ihn, und wenn du etwas mehr brauchst, werde ich es dir zurückzahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Wer von diesen dreien, scheint dir, ist dem, der unter die Räuber gefallen ist, zum Näch­ sten geworden? 37 Er aber sprach: Der ihm die Barmherzigkeit erwiesen hat. Jesus aber sprach zu ihm: Gehe auch du hin und tue gleichermaßen. Vers 27 f.: 5. Mose 6,5; 3 Mose 19,18;

Vers 28: 3. Mose 18,5.

Der Aufbau verläuft parallel. Der Frage des Gesetzeskundigen (s. zu Mt 22,35) folgt die Gegenfrage Jesu (V. 25/26 und 29/30-36), darauf die selbst zu gebende Antwort (27/37a) und Jesu Weisung (28/37b). Beide Teile gehören schon vorluka­ nisch zusammen, wie Spracheigentümlichkeiten zeigen. Beide sind bestimmt durch Jesu zweimalige Aufforderung zum „Tun“ (28.37b). Lukas verstärkt sie durch seine Redaktion von V.25b (= 18,18!) und 37a (?). „Gleichermaßen“ (V.37b) ist zwar unlukanisch, wiederholt aber den Ausdruck von 6,31 und 10,32. V. 29-37 sind stark von Lukas redigiert, zeigen aber auch Unlukanisches. Die Erzählung spräche auch ohne 25-28.36 f. für sich selbst, z.B. in einer Situation, in der auf kultische Erfüllung des Gesetzes Gewicht gelegt und Leute wie die Samaritaner daher abge­ lehnt wurden. Sie ist ein Extrembeispiel wie 18,9-14; vgl. aber schon 2. Chr. 28,815. Sie geht vom Uberfallenen aus (V.30) und erzählt, was ihm begegnet: dreimal kommen Menschen, „sehen“ ihn und „gehen“ zweimal an ihm „vorbei“, das dritte Mal auf ihn zu, was in V.34 f. als umfassende Hilfeleistung entfaltet wird, zweifellos markiert V.33 die Wende. Daß aber V.34 a/b/35 drei Etappen sein sollen, die V.30/ 31/32 in umgekehrter Reihenfolge entsprechen, so daß V.33 die zentrale Aussage über C hristus wäre, ist wohl Überinterpretation. Die Geschichte selbst dürfte von Jesus stammen, obwohl die Form anders ist als in den Gleichnissen Mk 4,1-32 usw. Die Verbindung mit dem Gespräch über das höchste Gebot (Mk 12,28-34) ist schon vorlukanisch. Damit war betont, daß Gottes Liebe sich in der Nächstenliebe äußert und dabei keine Grenzen setzen darf; die Frage V.29 ist sprachlich unlukanisch. Lukas übernimmt dies, richtet es aber stärker auf das Problem Wissen und Tun aus. Mk 12,32 stimmt der Schriftgelehrte Jesus zu; Matthäus streicht dies; Lk 10,27f. stimmt umgekehrt Jesus dem Gesetzeskundigen zu, der das Doppelgebot von sich aus zitiert. Lukas setzt das Wissen um dieses Gebot beim jüdischen Gesetzeskundigen voraus 27 und betont neu dessen Frage nach dem richtigen, zu „ewigem Leben“ führenden 25 „Tun“. Es ist für Lukas wohl keine rein akademische, sondern wie 18,18 eine echte Frage. Daß er Jesus „versucht“, stand schon in der Tradition; Lukas mag das im Sinne der Selbstrechtfertigung (V.29) verstehen. Damit hängt zusammen, daß Got­ tes- und Nächstenliebe jetzt ein einziges Gebot sind (Mk 12,31; Mt 22,39: zwei). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 10,27-37: Liebe, die zum Nächsten werden läßt

Jene erweist sich (nur) in dieser. Das Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes (Mk 12,29) fehlt, weil sich Juden, aufgeklärte Heiden und C hristen darin einig sind (vgl. Apg 17,24-29 und zu Mt 22,40). In der Theorie ist man sich also einig; es kommt aber auf das Tun des Erkannten an. Daher wird die Lehre zur Geschichte. Die Ge­ genfrage V.29 könnte die entscheidende sein. Darum ginge es ja gerade, den Ort zu sehen, an dem die folgende Geschichte wahr werden will. Sie ist aber „Selbstrechtfer­ tigung“ (s. zu 16,15 und 13,1-5). Dem Frager liegt an der Grenze der geforderten Liebe. Er will stehen bleiben, wo er schon ist. Er diskutiert viel, um wenig zu tun. Jesus aber will mit ihm weiterkommen. So wird der Frager nochmals zum Gefragten. Jesu Geschichte ist eher Beispielerzählung, die ein dem geschilderten ähnliches Ver­ halten hervorlockt, ist aber nicht streng vom Gleichnis zu unterscheiden. Sie ist ebenso Forderung wie Geschenk und Öffnung zur freien Erfahrung der Wirklichkeit. „Irgendein Mensch“ wird geschildert; er kann jedem begegnen. Der Priester, Gottes Diener von Beruf, und der ihm untergeordnete Levit haben das sie bestimmende Gesetz erfüllt, geleistet, was sie leisten sollten. Sie sind leidenschaftliche Kämpfer für Gottes Ehre wie vielleicht sogar die „Räuber“, die Zeloten (s. zu Mk 3,18). Und gerade so „sehen“ sie wohl den Verwundeten, nicht aber Gott, der in ihm wartet, sie fordernd und damit auch beschenkend. Betont am Satzanfang steht „Ein Samarita­ ner ...“ (s. zu 9,52; 17,14), nicht ein jüdischer Laie, wie man erwartet. Der, der nach Meinung der Hörer Jesu kein Gottesgesetz kennt, ist frei zum „sich Erbarmen“ wie Jesus selbst (7,13; vgl. 15,20). So kommt die Liebe dem Gesetz zuvor. Sie lebt, längst bevor ihrem Träger vielleicht in den Sinn kommt, daß sie auch vom Gesetz gefordert ist (V.27). Sie ist keineswegs nur Gefühl, sondern äußert sich in nüchter­ nem Gebrauch ärztlicher Heilmittel, wobei neben der direkt ausgeübten Liebe durchaus die indirekte durch Geldgaben ihren Platz hat, wenn nur wirklich geholfen wird. Weder wird eine Extremleistung vollbracht - der Helfer geht wieder seinen Geschäften nach - noch wird das Notwendige unterlassen. Der der Hilfe bedürftige Mensch ist das einzige Gesetz des Handelns. Das müßte selbstverständlich sein; aber bei den dem Gesetz Verfallenen haben falsche Selbstverständlichkeiten, z.B. daß ein Samaritaner außerhalb des Bundes Gottes lebe, das verdeckt. So nimmt der Ge­ sprächspartner noch in V.37a den Namen nicht in seinen Mund. Daher sind Jesu Frage und Aufforderung Angebot von Befreiung. Seine Geschichte zeigt die Liebe als das eine notwendige Tun wie Joh 6, 28 f. den Glauben. Der Gesetzeskundige hatte gefragt: „Wer ist mein Nächster?“, wobei er, wie überall im Alten Testament, ihn als Objekt seines Handelns sieht. Jesus fragt: „Wer ist dem Überfallenen zum Nächsten geworden?“ Eine spekulative Frage wird damit umgewandelt: Wer bereit ist, dem andern zum Nächsten zu werden, der wird den, der ihn braucht und ihn damit zugleich beschenkt, überall finden. Darum ist es „ir­ gendein Mensch“, der als einziger nicht näher beschrieben wird. Daß ein Samarita­ ner ihn findet, unterstreicht, daß es dafür keine Grenzen gibt. Wer der Nächste ist, kann und muß nicht definiert werden; sonst würde er ja zum „Objekt“ der Fürsorge, und Tür und Tor wären offen für eine demütigende „christliche Liebe“, die ein hilfe­ bedürftiges Objekt für eine gute Tat sucht. Darum zwingt die Geschichte den Frager, sich mit einem der darin Geschilderten zu identifizieren. Andere Deutungen liegen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 10,38-42: Analyse

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ferner: das Gleichnis sei vom Standpunkt des Verwundeten aus erzählt; mit ihm müsse man sich identifizieren. Selbst wenn das richtig wäre, wäre damit nicht über seinen Sinn entschieden (s. zu 15,11-32 Einl., Ende). Von diesem Standpunkt aus gesehen wolle Jesus sagen, daß Nichtisraeliten, die die Liebe faktisch übten, als Nächste anzusehen seien, obwohl im Alten Testament dieser Begriff auf die Volksge­ nossen eingeschränkt war. Oder man betonte, daß der Priester „zufällig“ zu dem Verwundeten kam, daß also nur Gott selbst uns den Nächsten schicke und wir ihn nicht selbst bestimmen könnten. Oder man erklärte, der Frager müsse sich als auf Hilfe angewiesen verstehen und sie dort finden, wo er sie gar nicht erwartet hätte, nämlich nicht vom Tempelkult her, sondern von Jesus. Noch unwahrscheinlicher ist, daß der Verwundete, von Juden abgelehnt, von Samaritanern angenommen, Jesu Geschick darstellen soll. Gewiß wird die Religionsgrenze durchbrochen und ist das befreiende Geschenk der Botschaft Jesu zentral in der Geschichte; aber so, daß seine Einladung „Tue gleichermaßen!“ beides schenkt. „Gnade“ ist nicht ein theologischer Begriff, den man nur theoretisch zu erkennen und zu akzeptieren hätte. Sie ge­ schieht; nach Jesu Wort so, daß seinen Hörern eine Aufgabe in ihr Leben hinein geschenkt wird, die sie von fixierten Maßstäben befreit, nach denen sie sich selbst einschätzen und mit den Leistungen anderer vergleichen. Sie dürfen das Selbstver­ ständliche tun, also wahrhaft menschlich werden und darin den Sinn ihres Lebens finden, also auch sich selbst annehmen, wie sie sind, und dadurch frei werden für die Liebe zu anderen. Daß dies nicht Belastung, sondern Befreiung zu sinnvollem Leben wird, ist das Wunder der Gnade Gottes, die in Jesu eigenem Wirken Gestalt ange­ nommen hat. Das zeigt sich im folgenden Abschnitt. Zum Gesetzesverständnis des Lukas vgl. zu 16,14-18 Schl, und A. hinter 21,24. Die Chance des Glaubens 10,38-42 38 Während sie wanderten, ging er in ein Dorf. Eine Frau aber mit Namen Marta nahm ihn auf ins Haus. 39 Und sie hatte eine Schwester, Maria genannt, die sich auch zu den Füßen des Herrn setzte und seinem Wort zuhörte. 40 Marta aber wurde von vielem Dienst ganz in Anspruch genommen. Sie trat aber heran und sprach: Herr, kümmert es dich nicht, daß meine Schwester mich allein die­ nen läßt? Sag ihr doch, daß sie mir zur Hand gehe. 41 Der Herr aber antwortete ihr und sprach: Marta, Marta, du kümmerst dich und sorgst um Vieles, 42 eins aber ist not; Maria nämlich hat das gute Teil erwählt, das soll ihr nicht genom­ men werden.

Die im Aorist erzählte Handlung wird ganz von Jesus und Marta getragen: Jesus kam (38a) - Marta nahm ihn auf (38b) - sie sprach: „Herr ...“ (41) - er sprach: „Marta ...“ (42). Dazwischen erscheint, imperfektisch geschildert und an die Er­ wähnung Martas (39a) angeschlossen, Maria und ihr Verhalten (39b), dem das der Marta (40 a) nochmals entgegengesetzt wird. Grammatisch nur als Martas Schwe­ ster und ohne eigentlich aktive Handlung erscheinend, steht Maria so genau in der Mitte und wird durch Jesu Schlußwort ins Zentrum gerückt. In seinem Wort er­ scheint ihr Verhalten als (aoristisch erzähltes) Handeln („sie hat erwählt“). V.38 ist © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 10,38-42: Eins ist not

Wort für Wort lukanischer Stil; was darin von Marta als Hausherrin gesagt ist, die Männer einlädt, ist in Palästina fast undenkbar (s. aber zu 8,3). V.39—41 enthalten unlukanische Wendungen, und die Doppelanrede V.41 ist ausgesprochen palästi­ nisch (Lk 22,31; Apg 9,4; Bill. I 943; II 258). Zu Maria und Marta s. zu 8,2. 38 Wandern (s. zu 9,51) und Einkehr für einige Stunden gehören zusammen (vgl. zu 39 14,1). Die Freiheit, die Jesus Frauen gab, spiegelt sich darin (s. zu 8,3). Man sitzt zu Füßen eines Lehrers (Apg 22,3; Bill.: „Laß dich bestäuben mit dem Staub ihrer Füße“), nur daß ein rechter Rabbi keine Frau lehrte. Wohl aber geschieht das in der 40 Gemeinde Jesu, wo man vom „Hören des Wortes des Herrn“ sprach. Damit ist, wie die Anrede „Herr“ zeigt, nicht einfach an den Herrn über alle gedacht, sondern an den, den Marta und Maria persönlich als ihren Herrn ansehen. Ob Marta egoistisch an sich selbst denkt oder altruistisch daran, daß Jesus und seine Begleiter endlich zu ihrem Mahl kommen, ist nicht gesagt. Weiß Lukas noch, daß es nach 10,1 an die hundert sein müßten? So lobenswert Martas Dienen ist (4,39; 8,3; vgl. Mk 10,43. 41 45!), so fraglich ist ihre Sorge (12,22). Das „Viele“, das durchaus sein Recht behält, 42 muß ins rechte Verhältnis zu dem „Einen“ kommen, dem Geschehen des Wortes Jesu. So ist mit den ältesten Handschriften zu lesen. Die Lesart „Weniges“ besagt nur, daß Jesus mit einem einfachen Abendessen zufrieden wäre, und die Lesart „We­ niges oder (eigentlich nur) Eines“ kombiniert beides. Wie V.40 Martas „vielem“ Dienen ihr „Allein“-bleiben entgegengesetzt ist, so hier dem Vielerlei das eine Not­ wendige, eben das Hören auf Jesu Wort, das in noch ganz anderer Weise nährt. Nur so ist das genannt, was Maria im Gegensatz zu Marta „gewählt hat“ nur so der Ausdruck „ist not“ (nicht: genügt) verständlich. So sehr es Jesus gegenüber menschliches Dienen gibt, so sehr ist er selbst letztlich immer der Dienende (12,37; 22,27). Daß neben die Nächstenliebe (29-37) die Got­ tesliebe (38-42) tritt, genügt darum noch nicht. Das eine Notwendige ist Jesu eige­ ner Dienst als die Quelle alles Handelns. Ihn aufnehmen (auch 19,6), heißt sein Wort aufnehmen (8,13; Mk 4,20) und sich davon heilen lassen. 19,1-10 zeigt, daß dies nichts mit passiver Mystik im Gegensatz zu aktivem Handeln zu tun hat, wohl aber mit einem Handeln, das aus dem Hören stammt, in dem Jesus Herr werden darf. Die Chance des Betens 11,1-13, vgl. Mt6,9-13; 7,7-11 1 Und es geschah, als er irgendwo betete und aufhörte, da sprach einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. 2 Er aber sprach zu ihnen: wenn ihr betet, sagt: Vater, dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, 3 gib uns Tag um Tag unser Brot für den kommenden Tag, 4 und vergib uns unsere Sünden, denn auch wir vergeben jedem, der uns schuldig ist, und führe uns nicht in Versuchung hinein.

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Lk 11, 1—4: Unservater

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5 Und

er sprach zu ihnen: Wer unter euch wird einen Freund haben und zu ihm gehen um Mitternacht und ihm sagen: Freund, ich brauche drei Brote, 6 da mein Freund von unterwegs zu mir gekommen ist und ich ihm nichts anzubieten habe, 7 und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Mühe; die Tür ist schon verschlossen, und meine Kinder sind mit mir im Bett, ich kann nicht aufstehen, es dir zu geben? 8 Ich sage euch: Und wenn er nicht aufstehen wird, es ihm zu geben, weil er sein Freund ist, wird er sich doch wegen seiner zudringlichkeit erheben, ihm zu geben, was er nötig hat. 9 Und ich sage euch: Bittet, so wird euch gegeben werden; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan werden; 10 denn jeder Bittende empfängt und der Suchende findet und dem Anklopfenden wird aufgetan werden. 11 Oder was für einen Vater unter euch wird ein Sohn um einen Fisch bitten - er wird ihm doch nicht statt des Fisches eine Schlange geben? 12 Oder um ein Ei - er wird ihm doch nicht einen Skorpion geben? 13 Wenn nun ihr, die ihr böse seid, es versteht, euren Kindern gute Gaben zu geben, wieviel mehr wird der Vater vom Himmel her denen, die ihn bitten, heiligen Geist geben! Die 10,42 empfohlene Haltung wird in 11,1-13 als Anweisung zum Gebet darge­ stellt. Der Q-Stoff V.2-4 und das etwas veränderte Gleichnis V.9-13 sind in V.5-8 vorlukanisch mit einem weiteren Gleichnis aufgefüllt worden, das V.9f. gut illu­ striert. Der speziellen Gebetsanweisung folgt also die durch zwei Gleichnisse um­ rahmte allgemeine. Zum Unservater s. zu Mt 6,7-13. Die Einleitung V. 1 stammt 1 von Lukas, dem Jesu eigenes Beten als Quelle alles Betens seiner Jünger wichtig ist (s. zu 6,12). Daß „irgend einer“ inner- oder außerhalb des Jüngerkreises (auch 9,57; 11,15; 21,5.7 immer gegen Mk oder Mt; vgl. 10,25; 20,27) direkt oder durch sein Verhalten eine Frage stellt und dadurch Jesu Belehrung auslöst, ist typisch lukanisch (11,27.45; 12,13.41; 13,1.23.31; 14,15; 15,2; 16,14; 17,5.20; 18,9; 19,11.39; 22,24.49; 23,27). Dahinter steht die Einsicht, daß, wie Paulus seine Briefe als Ant­ wort auf praktische Probleme schreibt, auch Jesus nicht allgemeine Wahrheiten doziert, sondern konkreten Menschen in bestimmten Verhältnissen helfen will, ihr Leben zu bestehen. Losgelöst von der Situation können seine Wahrheiten falsch werden: 10,37 ist nicht zu Marta und 10,42 ist nicht zum Gesetzeskundigen gesagt, zugleich betont Lukas Ähnlichkeit mit und Abgrenzung von den Johannes-Jüngern (vgl. zu 3,15-20 Schl, und 5,33), ohne daß diese verketzert würden. Auch Apg 18,25; 19,1-3 sehen in ihnen potentielle C hristen, betonen aber, daß man dort nicht stehen bleiben darf. Das ist zur Zeit des Lukas offenbar wichtig. In der lukani­ 2—4 schen Form erheben sich die ersten drei Bitten (in umgekehrter Reihenfolge) gegen die drei Versuchungen Jesu (4,1-12) und der letzten Bitte entspricht deren Abschluß (4,13). Vor der Versuchung sollen Jesu Jünger bewahrt bleiben, so sehr sie ihren Glauben in allerlei Versuchungen zu bewähren haben (s. zu 4,13). Lukas ist wichtig, daß die Gemeinde von Jesu Gebetsanweisung lebt und daß diese ihr gesamtes Leben prägt; darum richtet sich das Gebet auf die großen Ziele Gottes wie auf den sich täglich wiederholenden Alltag (vgl. zu 9,23). Das Gleichnis (V.5-8) ist ganz als Frage (5-7; vgl. zu Mt 12,11) und Antwort (8) 5-8 konzipiert. Dem Verhalten des Bittenden (5 a) korrespondiert in der Antwort das des Freundes (8 b), wie auch Rede des Bittstellers (5b.6) und (nicht zu erwartende) Ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 11,5-13: Gebet zu dem, der gerne hilft

genrede des Freundes (7) korrespondieren. Die vielen semitischen Anreihungen mit „und“ (statt Unterordnung, Begründung und Gegensatz) stammen kaum von Lukas. Das Gleichnis betont wie V.9-13 (13 b ausdrücklich ausgesprochen) die zuversicht­ 5 liche Erwartung des Bittstellers. Die Frage am Anfang unterstreicht die Selbstver­ ständlichkeit der Hilfe, ist doch ein Freund, nicht ein beliebiger Nachbar erwähnt; Läden gibt es ja keine. Drei Brote sind die übliche Ration. Das nicht ganz korrekte Futurum „wird haben“ (5) mag wie das in V.8 an kommende Situationen denken, in denen Jesu Jünger so bitten werden. Die Frage (5 a) lädt zur Identifikation mit dem Bittenden ein; denn die Übersetzung „und dieser (der bittende Freund) kommt zu 8 ihm ...“ wäre doch sehr merkwürdig. Jedoch spricht der Schlußsatz nur von dem Freund, der „alles Nötige“ schenkt. Auch die Frage in V. 11 weist auf den Schenken­ den. Eben dieses Wissen macht den Bittsteller getrost. Gott ist da für die, die wissen, wie nötig sie ihn haben. V.8 b begründet dies freilich durch die Eindringlichkeit des Bittens (wie 18,1-8, s.d.; 21,36 = S ?). Im Gleichnis selbst ist aber nichts von „mehrmaligem“ Anklopfen erzählt. Der Ton verschiebt sich also in V. 8 b zur Mah­ nung hin, die freilich ohne das zutrauen zum Freund sinnlos wäre, außer man über­ setzte, auf den Freund bezogen: „um nicht schamlos dazustehen“. Das ist aber sprachlich kaum möglich und inhaltlich nicht zu erwarten. 9-13 V.9 f 13 sind Mt 7,7-11 fast wörtlich gleich tradiert (s.d.). Der lukanische Zu­ sammenhang ist aber ganz auf das Beten ausgerichtet; Mt 6,1-18 steht dieses neben Almosen und Fasten, 7,7-11 neben anderen Mahnungen, die im Gebot der Näch­ stenliebe 7,12 zusammengefaßt sind. Der Satzbruch (11 a zuerst der Sohn, dann der Vater Subjekt) zeigt, wie wichtig dem (vorlukanischen?) Erzähler die Einfügung des „Vaters“ war. Lukas nennt den heiligen Geist (V. 13), weil er für ihn das „Gute“ (so Mt 7,11) darstellt (vgl. zu 3,21 f.) und weil er um die Zweideutigkeit aller „Güter“ (12,18 f.; 16,25; anders 1,53) weiß. In der Gabe des Geistes ist alles zusammenge­ faßt, was der Gemeinde Jesu an Freude, Kraft, Mut zum Zeugnis und damit zum Leben geschenkt wird. Damit ist das Beten um das Reich Gottes (V. 2), das anders als der heilige Geist noch aussteht, stärker auf das ausgerichtet, was die Gemeinde in zu erwartenden Anfechtungen (vgl. zu 4,13; 22,28) nötig haben wird, als auf das „Komm, Herr“ (1.Kor 16,22; Offb 22,20; vgl. zu Lk 18,8). Neben die eigene Elternerfahrung (V. 11) tritt die mit Freunden (V.5); beide machen Mut zum Beten und lassen Gottes gute Antwort erwarten. Beide Gleichnisse scheinen Selbstverständlichkeiten auszu­ sprechen, aber nur unter der Voraussetzung, daß Gott dem Menschen „Freund“ und „Vater“ geworden ist. Eben darum sind sie nur im Munde Jesu möglich. Wie Jesu eigenes Beten (V. 1) darf daher auch das Gebet der Jünger ständig ihr neues Leben begleiten (V.8; 18,1). Ihm öffnet Gott auch neue Wege (Apg 1,14.24.; 6,6; 8,15; 10,9; 13,3). So holt dieser Abschnitt die Jünger und damit auch die Leser nicht nur in Jesu Leben mit Gott hinein, sondern sogar in Gottes Wirken auf Erden.

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Lk 11,14-36: Analyse

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Die C hance der Begegnung mit Jesus 11,14-36, vgl. Mk 3,22-27; 4,21; Mt 5,15; 6,22f.; 22,22-30.38-45. 14 Und

er trieb einen Dämon aus, und der war stumm. Es geschah aber, als der Dämon ausfuhr, redete der Stumme. Die Menge staunte. 15 Einige aus ihnen sprachen: Er treibt die Dämonen durch Beelzebul, den obersten der Dämonen aus. 16 Andere aber forderten versucherisch von ihm ein Zeichen vom Himmel. 17Er aber wußte ihre Überlegungen und sprach zu ihnen: Jedes Reich, das in sich selbst aufgespalten ist, wird verwüstet, und ein Haus fällt über das andere. 18 Wenn aber auch der Satan in sich selbst aufgespalten ist, wie wird sein Reich bestehen?, weil ihr doch sagt, ich triebe Dämonen mit Beelzebul aus. 19 Wenn ich aber durch Beelzebul die Dämonen austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein. 20 Wenn ich aber durch Gottes Fin­ ger die Dämonen austreibe, so ist ja Gottes Herrschaft über euch gekommen. 2 ' Wenn der Starke wohl bewaffnet seinen Palast bewacht, dann ist sein Eigentum in Frieden. 22 Wenn aber einer kommt, der stärker ist als er, und ihn besiegt, nimmt er seine Rüstung fort, auf die er vertraut hat und verteilt seine Beute. 23 Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut. 24 Wenn der unreine Geist vom Menschen ausfährt, durchzieht er dürre Steppen, sucht Ruhe und findet sie nicht. Er sagt: Ich will zurückkehren in mein Haus, aus dem ich fortging, 25 kommt und findet es gefegt und geschmückt. 26 Dann geht er hin und nimmt sieben andere Geister, die sind schlimmer als er; und sie kommen hinein und wohnen dort; und das Ende dieses Menschen ist schlimmer als der Anfang. 27Es geschah aber, als er dies sagte, erhob eine Frau aus der Menge die Stimme und sprach zu ihm: Heil dem Leib, der dich getragen, und den Brüsten, von denen du getrunken hast. 28 Er aber sprach: Ja, heil denen, die Gottes Wort hören und bewahren. 29 Als die Menge sich aber sammelte, fing er an zu sagen: Dies Geschlecht ist ein böses Geschlecht; es verlangt ein Zeichen, und es wird ihm kein Zeichen gegeben werden außer dem Zeichen Jonas; 30 denn wie Jona den Niniviten zum Zeichen wurde, so wird es auch der Menschensohn diesem Geschlecht sein. 31 Die Königin des Südlands wird beim Gericht mit den Männern dieses Geschlechtes aufstehen und wird sie verurteilen; denn sie kam von den Enden der Erde, Salomos Weisheit zu hören, und siehe, hier ist mehr als Salomo. 32 Die Männer von Ninive werden beim Gericht mit diesem Geschlecht auftreten und werden es verurteilen; denn die kehrten um auf die Predigt Jonas hin, und siehe, hier ist mehr als Jona. 3 3 Niemand ergreift ein Licht und stellt es in den Keller oder unter den Scheffel oder unter das Bett, sondern auf den Leuchter, damit die Hereinkommenden den Schein sehen. 34 Die Leuchte des Leibes ist dein Auge. Wenn dein Auge klar ist, ist auch dein ganzer Leib Licht. Wenn es aber böse ist, ist auch dein Leib düster. 35 Schau also, daß das Licht in dir nicht Finster­ nis ist. 36 Wenn nun dein ganzer Leib Licht ist und keinen düsteren Teil hat, wird er ganz Licht sein, wie wenn die Leuchte dich mit ihrem Strahl erleuchtet. Vers 3 1 : l . K ö n 1 0 , 1 - 1 3 ;

Vers 3 2 : Jon 3.

Als Gegensatz zum heiligen tritt der unreine Geist auf (V. 13/14), den Jesus mit dem Finger (Mt: Geist) Gottes austreibt. Dem Anlaß (14) entspricht genau der Vor­ wurf (15) und die von den Gegnern selbst zu beantwortende Gegenfrage Jesu (V. 19). Darauf folgt, wie Mt 12,28-30 die positive Antwort (20), der im Bild verschlüsselte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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23.24-26

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29-32

Lk 11,14-28: Der Stärkere, der mit dem Finger Gottes wirkt

Hinweis auf das, was in Jesus wirklich geschieht (21 f.), und die Warnung (23). Die Worte von der Rückkehr des unreinen Geistes haben wohl schon in Q hier gestanden (s. zu Mt 12,43-45 Einl.). V.27f. scheinen lukanischer Einschub zu sein, während 29-32 und vielleicht auch 33-36 schon zu Q gehörten. Über Mt 12,22-28 (s.d.) hinaus bereitet Lukas in V. 16 (Mk 8,11) schon auf V. 29-32 (Q) vor, sieht also alles bis V.36 als Einheit. Ihm ist die grundsätzliche Haltung des Volkes (beidemal nicht der Pharisäer, Mt 12,24.38) wichtig (vgl. V.23). Oder stand ein ähnlicher Satz, vielleicht auch die Mk 3,24 näherstehende Wendung „in sich selbst“ in V. 17, schon in Q? Das Bild ist einheitlicher als Mk 3,24f.; Mt 12,25; beim Zusammenbruch des „Reiches“ fallen auch die „Häuser“. V. 18 b geht mit gut griechischer Konstruktion wohl auf Lukas zurück; zu V.20 s. zu Mt 12,28. V.21f. sind gegenüber Mk 3,27 (s.d.) stark ausgestaltet, was schon auf Q zurückgehen wird (s. zu Mt 12,29 Einl.). Darauf weist auch die größere Nähe von V.22 Ende zu Jes 49,25; 53,12, während Lukas solche Anklänge eher fallen läßt (s. zu 23,35). Hier ist es nicht mehr ein Haus­ herr, sondern ein bewaffneter Burgherr (Jes 49,25 ein Riese), der gefangen genom­ men und dessen Besitz verteilt wird. Die Frage nach einem (ohne Artikel!) noch Stärkeren, der durch seinen „Sieg“ „Frieden“ schafft und das falsche Vertrauen auf Besitz überwindet, wird damit noch betonter. Die entscheidende Frage ist die, worauf man „vertraut“ (22), auf das, was sicht­ bare Sicherheit zu geben scheint, oder auf jenen „Finger Gottes“, den der Psalmsän­ ger in der Schöpfung (Ps 8,4), der Geschichtsschreiber in Israels historischem Schick­ sal (2. Mose 8,19) schaut, um dessen Eingreifen man aber immer nur bitten (11,1— 13) und sich dafür die Augen öffnen lassen kann (10,23). Das Bild drückt in fast unübertrefflicher Klarheit beides aus: daß Gott wirklich in die Welt des Menschen eingreift und doch zugleich unendlich größer ist als alles, was sich davon sehen läßt. V.23 deutet Lukas wohl auf Sammlung der Gemeinde (12,32). V.24-26 sind gegen­ über Mt 12,43-45 kaum verändert (s.d.) und schwerlich anders, nämlich als wört­ lich auf Exorzismen (V. 19) bezogen, zu verstehen. Sie wollen nicht Jesu Sieg über den „Starken“ (V.21 f.) in Frage stellen, wohl aber die Warnung an die Hörer (V.23) unterstreichen. Auch ein erfahrenes Jesuswunder (V.20) ist keine Garantie (vgl. 17,11-19). Der Mensch kann nicht neutral bleiben als leeres Haus, sondern nur Haus des heiligen (1. Kor6,19) oder des unreinen Geistes sein. Lukas will aber auch positiv zeigen, wie die rechte Entscheidung fällt, ähnlich wie er am Ende des Sä­ manngleichnisses nach den Warnungen vor dem Gericht (8,16-18; vgl. 11,33) be­ tont, daß selbst Blutverwandtschaft mit Jesus nicht hilft, sondern nur das Hören und Bewahren des Wortes Gottes. Auch Mk 3,20-35 stehen Beelzebul-Diskussion und Wort von der wahren Verwandtschaft derer, die Gottes Wort hören, zusammen. Die Segnung von Mutterleib und -brüsten (auch jüdisch: Bill.; s.Bar. 54,10) ist indirekt Huldigung an Jesus selbst, also kaum Zeugnis für eine beginnende Marienverehrung (doch vgl. zu Mk 3,33). Das griechische Wort (für „ja“) kann das vorher Gesagte berichtigen oder steigern. Jedenfalls ist gesagt, daß bloßer Jesuskult und bloße Jesus­ begeisterung nichts hilft (vgl. 6,46), sondern nur die Bereitschaft, in ihm Gottes Wort zu hören und sich daran zu halten (wofür Maria Vorbild sein könnte, 2,19.51). Zur Ursprünglichkeit und Auslegung von V.29-32 vgl. zu Mt 12,38-42 und Mk 8,11-13 Einl. Wie Jona durch seine Verkündigung des Gotteswortes (vgl. V. 28), © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 11,29-36: Jesus-Licht des Menschen

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das zur Umkehr rief, zum Zeichen wurde, so Jesus, freilich zum „Zeichen, dem widersprochen wird“ (2,34!). An ein erneutes Angebot nach Ostern ist nicht ge­ dacht; denn V.32 schließt mit dem Hinweis auf das Gericht über „dieses Ge­ schlecht“. Dennoch soll das Wort zur Umkehr rufen. Der hoffnungslose Satz „So (wie dem von sieben Dämonen Besessenen) wird es diesem bösen Geschlecht erge­ hen“ (Mt 12,45) fehlt in V.26, und der dringliche Hinweis auf Jesus („Hier ist mehr als Jona“) führt zum Bild vom Licht, das alle sehen sollen (V.33). Es wird in Q hier gestanden haben. Lukas hat wohl den „Keller“ des griechisch-römischen Hauses zugefügt, wo man freilich ein Licht brauchte (oder soll man übersetzen „ins Verbor­ gene“?). Anders als in 8,16 (s.d.) bezieht sich der Vers auf Jesus. Lukas betont aber seit 10,25, daß der Mensch sich entscheiden, also (in die Jüngerschar bzw. die Ge­ meinde?) hereinkommen und im Lichte Jesu stehen soll. Das wird durch V.34 f (Mt 6,22f., s.d.) und „klar“ ist das Auge, wenn es „ein-fältig“ (so wörtlich) ist. „Einfalt des Herzens“ ist fern von „Versuchungen“ (V. 16!) und „Unglauben“ (Weish 11,1-2) und schaut auf nichts anderes als auf Gottes Willen (Test. Iss. 4,1-6); so schielt auch das „einfältige“ Auge nicht nach Zeichen (V. 29-30) und rufen V. 34 f. zu ganzherzigem Offensein für Jesus, im Gegensatz zum Unglauben von V. 14-32. V. 36 sagt anscheinend nur: „Wenn du hell bist, bist du hell“. Da nur hier das Futurum (= Mt 6,22!) steht, ist vielleicht an das letzte Gericht gedacht, in dem der Lichtstrahl (eigentlich: der Blitz) Jesu (17,24) den Menschen, in dem Jesu Licht schon wohnt, mit ewigem Glanz erfüllt. Jedenfalls wird „das Licht in dir“ nochmals hervorgehoben. Nach Spr 20,27 LXX ist „das Licht des Herrn der Lebensatem der Menschen“, nach 1 QS3,1.7; 4,2 lassen Umkehr und Versöhnung das Licht des Lebens erblicken und erleuchtet der gute Geist das Herz. Daß das Licht das Sehvermögen des Menschen erst schafft, lehrt Philo (Schöpfung 53 f.), der das als Bild für Gott versteht, der das rechte Denken schenkt. Hier ist aber von der Gegenwart Gottes in Jesus, nicht vom Erkennen einer Idee die Rede und vom Hellwerden des ganzen Menschen, den das Licht Jesu erreicht. Darum ist das viel intensivere Bild vom Wohnen des Lichtes im Menschen (im Gegensatz zu V. 24-26) verwendet. So schließt der Abschnitt nicht mit der Warnung vor totaler Finsternis (Mt 6,23), sondern mit der Verheißung. Auch in seinen mahnenden und warnenden Teilen bleibt der Text Hinweis auf den, der als der Stärkere den Starken schon überwunden hat (21 f.), der nur als Gottes direktes Wort an den Menschen recht verstanden wird (28) und so mehr als alle Könige und Propheten Zeichen (29-32) und alles durch­ dringendes Licht (33-36) ist. Die Frage ist nur, ob sich der Mensch die lichten Augen schenken läßt oder ob er das, was in Jesus geschieht, einfach in schon Bekanntes ein­ ordnet (15), weil er das Staunen (14) verlernt hat und nicht mehr damit rechnet, daß Gottes Finger in diese Welt hineingreift und sich nach dem Menschen ausstreckt (20). B

Rechte, für das Kommende bereite Jüngerschaft im Gegensatz zu Pharisäern und Schriftkundigen 1 1 , 3 7 - 1 2 , 5 9

11,37-12,1 werden die Grenzen gegenüber Pharisäern und Schriftkundigen gezo­ gen, wobei 12,1 schon durch den Wechsel der Hörerschaft auf die Jüngerunterwei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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BLk 11,37-12,59: Überblick

sung 12,2-34 hinweist. Jesu Ruf an alle zur Feiheit vom Besitz (12,13-21, auf­ grund der Bitte eines Außenstehenden) wird bei den Jüngern (V. 1.4.22.32) zur For­ derung des Nichtsorgens, selbst wo ihr Leben auf dem Spiel steht. Das führt zur Endzeitrede V.35—59, die zunächst den Jüngern gilt (s. zu 41.42), aber mit einem Appell an alle endet (54-59). Auseinandersetzung mit Pharisäern und Schriftgelehrten 11,37-12,1, vgl. Mk 7 , 1 5; 12,38 f.; Mt 23,1-36 37 Während er aber so redete, bittet ihn ein Pharisäer, daß er bei ihm zu Mittag äße. Er aber ging hinein und legte sich zu Tisch. 38 Da der Pharisäer das aber sah, wunderte er sich, daß er sich nicht vor dem Mittagsmahl zuerst wusch. 39 Der Herr aber sprach zu ihm: Nun, ihr Pharisäer, ihr reinigt die Außenseite an Be­ cher und Gefäß, euer Inwendiges aber ist voll Raub und Bosheit. 40 Ihr Toren, hat nicht der, der das Außen geschaffen hat, auch das Inwendige geschaffen? 41Gebt jedoch das, was darin ist, als Almosen, und siehe, alles wird euch rein sein. 42 Aber wehe euch Pharisäern, denn ihr verzehntet Minze und Raute und jegliches Gar­ tengewächs und geht vorbei am Gericht und an der Liebe Gottes. Dieses sollte man tun und jenes nicht weglassen. 43 Wehe euch Pharisäern, denn ihr liebt den ersten Sitz in den Synagogen und die Begrüßungen auf dem Markte. 44 Wehe euch, denn ihr seid wie die unkenntlichen Gräber, und die Menschen, die darüber gehen, wissen es nicht. 45Es antwortete aber einer von den Gesetzeskundigen und sagt zu ihm: Lehrer, wenn du das sagst, beschimpfst du auch uns. 46 Er aber sprach: Wehe auch euch Schriftkundigen, denn ihr ladet den Menschen schwer zu tragende Lasten auf und ihr selbst rührt nicht mit einem Finger die Lasten an. 47 Wehe euch, denn ihr baut die Grabmale der Propheten, eure Väter aber töteten sie. 48 Also seid ihr 2eugen und habt Gefallen an den Werken eurer Väter, denn sie haben sie getötet, ihr aber baut. 49Deswegen sprach die Weisheit Gottes: Ich werde zu ihnen Propheten und Apostel senden, und einige von ihnen werden sie töten und verfolgen, 50 damit das Blut aller Propheten von diesem Geschlecht gefordert werde, das seit der Erschaffung der Welt vergossen worden ist, 51 vom Blut Abels bis zum Blut des Zacharias, der zwischen dem Altar und dem (Tem­ pel)Haus umkam. Und ich sage euch, es wird gefordert werden von diesem Ge­ schlecht. 52 Wehe euch Schriftkundigen, denn ihr habt den Schlüssel der Erkennt­ nis weggenommen. Ihr selbst werdet nicht hineingehen und die hineingehen wollen, habt ihr gehindert. 53 Und als er von dort wegzog, begannen die Schrift­ gelehrten und Pharisäer ihm hart zuzusetzen und in allem möglichen auf seinen Mund aufzupassen 54 und ihm aufzulauern, ob sie ihn mit einer seiner Äußerun­ gen fangen könnten. 1 Da sich aber eine Riesenmenge, Zehntausende, sammelte, so daß sie einander auf die Füße traten, begann er zu seinen Jüngern zu sagen: Hütet euch vor allem vor dem Sauerteig, vor der Heuchelei der Pharisäer.

Vers 51: 2. Chr 24,20-22.

Die hier zusammengestellten Weherufe finden sich auch Mt 23 (s.d., besonders zu 13-33). Lukas hat sie in Q vorgefunden. Auch die Einordnung in eine Mahlszene mit dem auffälligen Präsens (s. zu 16,23 Einl.) in V.37 muß ihm schon vorgelegen ha­ ben, wie merkwürdige Verwandtschaften mit Mk 7,4 zeigen. Vielleicht ist ein Wort © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 11,37-12,1: Analyse

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wie Lk 11,39 schon früh einerseits in ein Wehe verwandelt worden (Mt 23,25), andererseits durch den Hinweis auf unterlassenes Händewaschen in das Leben Jesu und seiner Jünger eingegliedert worden (Mk 7,2; Lk 11,38; vgl. den Gegensatz zwischen Innerem und Äußerem in Mk 7,14-23). V.49-51 bildeten einmal mit dem Jerusalemwort (Lk 13,34f.) zusammen den Abschluß der Weherede wie in Mt 23, 34-39 (s.d. Einl.); Lukas mußte dieses aber ins Kap. 13 verschieben, da Jesus bei ihm, anders als in Mt 23, noch nicht in Jerusalem weilt. 12,1 schließt sachlich die Auseinandersetzung mit den Pharisäern ab, obwohl es zugleich einen Neueinsatz einleitet. Anklänge an Mt 16,6.11 könnten vermuten lassen, daß das Wort auch in Q stand, vielleicht am Schluß der Weherede (s. zu Lk 20,46). Die Einladung des Pharisäers (s. zu 14,1) zeigt schon eine gewisse Offenheit (s. zu 37 13,31). Darum beginnt Jesus nicht mit einem „Wehe“, sondern mit dem Hinweis 40 auf den Schöpfer, für den der Pharisäer besonders offen sein müßte. Wenn schon Becher Gottes Herrschaft unterstellt werden, wieviel mehr das Herz! Das ist so ein­ leuchtend, daß der Gesprächspartner das anerkennen muß, wenn er nicht ein „Tor“ bleiben will, also ein gegenüber Gott Verblendeter (Ps 14,1; 53,2; 92,7; 94,8; Bill. I 280; vgl. II 102). Den Menschen nicht als ganzen zu sehen, sondern sein äußeres Handeln vom inneren zu lösen, ist in dieser umfassenden Weise Dummheit. Ähnli­ ches findet sich daher auch in jüdischen Schriften (Himmf.M. 7,7-10: „voller Ver­ brechen und Ungerechtigkeit ... Hände und Herz unrein ...“ und doch: „... rühre mich nicht an, daß du mich nicht verunreinigst“; vgl. ebd. 5,5 „Schriftgelehrte“). Damit ist eine Frömmigkeit, die sich auf kultische Erfüllung aller Vorschriften ver­ läßt, aus den Angeln gehoben. Was Jesus erwartet, ist weit mehr, und es läßt sich auch nie feststellen, daß man jetzt alles Geforderte getan hat. Schon für die Vorlage 41 des Lukas ist das Almosengeben (12,33 red., ApglO trad.?) wichtig (mit unlukani­ schem „jedoch“ eingeführt), weil damit dem Leser konkret geholfen werden soll. Will man nicht ziemlich gekünstelt übersetzen „was (euer) Inneres betrifft“, kann sich der „Inhalt“ nur auf das im Becher Befindliche beziehen; denn sein „Inneres“ kann der Mensch ja nicht als „Almosen“ geben. In der Vorlage bezog sich also V. 39b (ohne „euer“) noch wie V.41 und wie Mt 23,25 f. auf den Becherinhalt, der unredlich erworben wurde, und erst Lukas hat ihn auf den Menschen bezogen, der sich selbst, sein Herz wegschenken sollte. Ihm ist dann wohl auch die Zusammenfassung, die alle Gesetzlichkeit aufhebt, zuzuschreiben, daß dem, der grundsätzlich rein ist, alles rein ist (vgl. Mk 7,15), weil er Liebe übt (vgl. Röm 14,14.20.23: weil er an Gottes Rechtfertigung glaubt; Tit 1,15: weil er nicht mehr unter dem Gesetz steht). Mit 42 V.42 (Mt23,23, s.d., Einl. und Auslegung) ist die Frage der Reinheit verlassen. „Vorbeigehen“ ist ein besonders eindrückliches Bild. Neben der gebotenen „Liebe“ (und dem „Almosen“) steht das „Recht“ des andern, das man auf keinen Fall links liegen lassen darf. Daß sie das Gewichtigere im Gesetz seien (Mt 23,23), steht aber nicht hier. Auch hier wird im Gegensatz zu Markion (s. zu 4, 31), der das letzte Sätz­ lein streicht, Frömmigkeit nicht herabgesetzt, wohl aber zur Konsequenz aufgerufen. V.43 (s.o. Einl.) träfe eher die „Gesetzeskundigen“ (Mk 12,38f., s.d., auf sie bezo­ 43 gen). Eigenliebe, die am Übertreffen des andern interessiert ist, macht wirkliche Liebe unmöglich. V.44 denkt an Erdgräber (anders Mt 23,27 f.); daß sie verunreini­ 44 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 11,37-12,1: Ganzherziger Gehorsam

gen, muß von dorther ergänzt werden. Ob dahinter ein aramäisches Wort steht, das 45 „übertüncht“ oder „unkenntlich“ heißt, bleibt fraglich. Der Gesetzeskundige wird vielleicht eingeführt, weil neben der Lebensweise V.46 auch die Lehre getroffen werden soll, geht es doch um die viel grundsätzlichere Frage der Geltung der Schrift. 46 Die Vorschriften stehen ja in der Bibel! Darum wird der Satz Mt 23,4 jetzt in die Weherufe hineingenommen. Lukas löst das Problem etwa wie Apg 15,10f.: nach der schriftgelehrten Auslegung kann keiner mehr diese Gebote erfüllen; nur fehlt der ausdrückliche Hinweise auf „die Gnade des Herrn“ hier. Er ist im Ganzen des Evan­ 47.48 geliums zu finden. Die Logik von V.47f. ist unklar. Rühmen sie sich ihres Propheten­ kults statt Buße zu tun? Oder soll gesagt werden, daß sie nicht auf jene hören oder gar daß sie mit ihrer nicht mehr lebendigen Interpretation die Gräber der Propheten bauen oder tote Propheten ehren, in einer Religion, die nur noch die heilige Vergan­ genheit pflegt? Ähnlich ruft ja Apg 2,29-31 dazu auf, vom Grab Davids zu dem fortzuschreiten, was er als Prophet verkündet hat: zur Auferweckung Jesu. Deutli­ 49-51 eher wird das erst durch V. 49-51. V. 50 f. sprechen von den Propheten innerhalb der durch den alttestamentlichen Kanon umschlossenen Periode. Lukas betont aber, daß die Verfolgung Jesu (13,33) und seiner Apostel (11,49; vgl. zu 6,13), die ganz mit ihm zusammengeschlossen sind, die Klimax herbeiführt, das Gericht, für Lukas die Zerstörung Jerusalems. Was Mt 23,34-39 als Endzeitgeschehen voraussagt, hat sich schon erfüllt (s. zu 13,35). Sie werden das Prophetenschicksal erleiden (vgl. zu 13,33). Weil er nicht zur Gruppe der Verfolgenden, sondern der Verfolgten gehört, 52 spricht Jesus auch von „euren“ Vätern (V.47). V.52 stellt die Frage der rechten (Schrift-)Erkenntnis (vgl. 1QH4,11) betont ans Ende. Ist der Schlüssel zu ihr ge­ meint oder der durch sie verliehene Schlüssel zum Eintritt ins Gottesreich? Eher das zweite (wie Mt 23,13, s.d.); denn das Bild vom „Hineingehen in die Erkenntnis“ wäre seltsam, doch ist das Wort so verkürzt, daß es schwer verständlich geworden 53.54 ist. Lukas schließt diese Periode ab mit einer zusammenfassenden Bemerkung über die Feindschaft von Schriftgelehrten und Pharisäern, die freilich nicht an Mk 3,6 heranreicht (s. zu Lk 6,11), ob man „hart zusetzen“ oder „es auf ihn absehen“ über­ 1 setzt (beides ist möglich), und durch eine Warnung vor ihnen. Zum Wechsel zwi­ schen Anrede an Jünger und Volk s. zu 6,20a. Das Wort „vor allem“ heißt auch „zunächst“ und könnte zum Vordersatz gehören. „Zehntausende“ ist wie bei Jose­ phus (und Apg 21,20) nicht wörtlich zu nehmen. „Heuchelei“ (vgl. zu Mt 6,2) ist ursprünglich deutlich auf falsche Lehre bezogen (auch Mk 7,6 und noch l.Tim 4,2). Das ist hier und 13,15 auch eingeschlossen; aber 12,56 (und 6,42 Q; auch l.Petr 2,1) sieht Heuchelei nicht nur bei den pharisäischen Gegnern Jesu. Lukas denkt also eher an ein inkonsequentes Leben, in dem der Glaube nicht alles durch­ dringt (11,34-36), an das Nichtübereinstimmen von Erkenntnis und Tun, das den Menschen hindert, ganzheitlich zu leben (vgl. schon Hiob 34,30; 36,13 LXX). Lukas stellt ein den Menschen ganzheitlich erfassendes Leben einer rein äußeren Beobachtung bestimmter Regeln entgegen, ohne aber nur eine innere Seelenhaltung zu propagieren. Es soll ein Leben sein, das sich in Geldgaben (41) und im Verzicht auf Karriere (43), zusammenfassend im Eintreten für das Recht des andern und in der Liebe zu ihm (42) äußert. Der Vorwurf der „Heuchelei“ (Mt) fehlt, wird aber © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 11,37-12,1: Umkehr als Heil

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12,1 nachgetragen, und V.44 beschreibt den Zustand des Menschen, bei dem (für ihn selbst wie für andere) überhaupt nicht mehr sichtbar wird, was an Bösem in ihm steckt. Daß es sich letztlich um die rechte Auslegung der ganzen Schrift handelt, wird durch den Übergang zu den Schriftkundigen markiert Sie verhindern das rechte Verständnis der Gebote, die den Menschen nicht erschlagen (46), sondern ihm das Gottesreich öffnen wollen (52). Möglich wird dieses Schriftverständnis nur dadurch, daß Jesus und seine Boten den Weg der stets verfolgten und getöteten Propheten gehen (47-51). Das ist in keiner Weise antisemitisch. Lukas nimmt ja ein jüdisches Weisheitswort auf (s. zu Mt 23,34-36 Einl. und 29 f.), und die gleiche Anklage findet sich Neh 9,26; Jub. 1,12 und in späteren rabbinischen Stellen: Pes.R. 138a: „Wir haben unsere Propheten getötet und alle Gebote übertreten . . . “ ; 146a: „Ich (Zion) habe die Propheten getötet...“; 153 b: „Wieviele Gesandte (die Propheten) habe ich zu euch gesandt und ihr habt nicht auf sie gehört“. Es ist Schuldbekenntnis Israels (Dan 9,6.10), das zur Umkehr ruft, weil die Klimax erreicht ist und Gott sich dem umkehrenden Israel gnädig zuwenden will. Damit ist in erstaunlicher Klarheit beides gesagt: daß Gott sein Heil in Israel vollenden will und daß dies nicht auf Israels besondere Frömmigkeit zurückgeht, ja gegen alle Logik gerade einem immer wieder sündigen Volk zukommt. Die Anklage hebt also die besondere Erwählung Israels her­ vor und erwartet von ihm Umkehr und Heil (vgl. schon 5. Mose 4,25-31; auch Sach 1,2-4, den Aufbau in Baruch LXX [Bußgebet - Umkehrpredigt - Preis der Heils­ zeit] und 4.Esra 7,127-131). Dasselbe geschieht Apg 2, 23 f. 36.38; 3,15.19; 4,10.12; 5,30 f.; 7,52 (Rede abgebrochen); 10, 39 f.; 13,27-30. Gegenüber Gottesfürchtigen und Diasporajuden wird freilich der Ruf zur Umkehr, der den palästinischen Juden und in anderer Weise auch den Heiden gilt (14,15; 17,30), nicht ausdrücklich erho­ ben; doch gibt es für Lukas keine Menschen, die nicht umkehren müssen, vgl. Rück­ blick 1. Die Kreuzigung Jesu durch Israel und zugleich Gottes Zuwendung zu Israel in der Auferweckung Jesu rufen dieses und dann alle Völker zur Umkehr. So be­ kommt Jesu Gang ans Kreuz, der Gottes Geschichte mit den Propheten zu Ende führt, als Ruf zur Umkehr Heilsbedeutung (vgl. A. nach 22, 30, b.2.3).

Jüngerschaft ohne Angst 12,2-12, vgl. Mt 10,22-33; 12,31 f.; 10,193f.;Mk 13,11 2 Es gibt aber nichts Verhülltes, das nicht offenbar werden, und nichts Verbor­ genes, das nicht bekannt werden wird. 3 Darum wird alles, was ihr im Dunkeln gesagt habt, im Licht gehört werden, und was ihr in den Kammern ins Ohr gere­ det habt, auf den Dächern verkündet werden. 4 Ich sage euch, meinen Freunden: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach keine Möglichkeit mehr haben, etwas darüber hinaus zu tun. 5 Ich will euch aber zeigen, vor wem ihr euch fürchten sollt; fürchtet euch vor dem, der nach dem Töten die Macht hat, in die Hölle zu werfen. Ja, ich sage euch: vor dem fürchtet euch. 6 Werden nicht fünf Sperlinge für zwei Pfennige verkauft, und nicht einer von diesen ist vor Gott vergessen. 7 Aber auch die Haare eures Hauptes sind alle gezählt. Fürchtet euch nicht, ihr seid viel mehr wert als Sperlinge. 8 Ich sage euch: Jeder, der sich zu mir bekennt vor den Menschen, zu dem wird sich auch der Menschen­ sohn bekennen vor den Engeln Gottes. 9 Der aber, der mich verleugnet vor den

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Lk 12,2-12: Analyse

Menschen, wird verleugnet werden vor den Engeln Gottes. 10 Und jeder, der ein Wort über den Menschensohn redet, dem wird es vergeben werden. Dem aber, der über den heiligen Geist lästert, wird nicht vergeben werden. .Wenn sie euch vor die Synagogen und die Behörden und die übrigen bringen, so sorgt nicht, wie oder was ihr zur Verteidigung sagen oder sprechen sollt; 12denn der heilige Geist wird euch in eben der Stunde lehren, was ihr sprechen sollt. Auf den warnenden Imperativ (1, inhaltlich 11,37-54 abschließend) folgt die Begründung in zweimal zwei parallelen Sätzen, wobei die allgemeine Aussage (2) in die Anrede (3) übergeht. Eine neue, negativ (4) und positiv (5) entfaltete imperati­ vische Warnung wird wiederum durch eine allgemeine (6) und eine in 2. Person formulierte (7) Aussage begründet. Darauf folgen vier „Rechtssätze“, wobei der positive (8.10a) jeweils mit „jeder, der . . . “ , der negative (9.10b) mit Partizip ausge­ drückt wird. Ein nochmals warnender Imperativ (11) wird durch einen die Jünger anredenden Satz begründet (12). V.2f./8-10 weisen auf das letzte Gericht hin, wäh­ rend V.4—7/11 f. innerzeitlich begrenzt und reine Verheißung sind. V.4 und 8 glie­ dern mit „Ich sage euch aber“, V. 11 schließt unmittelbar an V. 10 an. Lukanische Redaktion ist deutlich beim Hinweis auf das Schicksal nach dem Tod in 4b.5. Dage­ gen bewahrt Lukas in V.8 wohl die älteste Form des Spruchs. Das Stichwort „Men­ schensohn“ (auch Mk 8,38, s.d. und zu Mt 10,32f.) verbindet V.8 und 10, das vom „heiligen Geist“ V. 10 und 11 f., die durch das Stichwort vom „Nicht-sorgen“ ihrer­ seits mit V.22 verklammert sind. Auch der Wechsel zwischen Nebensatz („jeder, der ...“ V.8.10a) und Partizip (V. 9.10b), der in den Parallelen Mt 10,32/33 und 12,32 nicht bewahrt ist, scheint für Q typisch zu sein (Mt5,32; 6,2/3.16/17, in V.5/6 freilich fehlend; 10,37-39.40-2; vgl. noch zu Lk 15,1-32 Einl.). Da auch die Paral­ lele Mt 10,26-33 (s.d.) in einer Lk 12,1-9 entsprechenden Jüngerrede enthalten ist, dürften V. 10-12 schon in Q mit V.8 f. zusammen in einer solchen Ansprache an die Jünger gestanden haben. Die passive Form von V.9, in einem alten Papyrus ohne sichtlichen Grund ausgelassen, kann nachträgliche Kürzung sein. Auch V. 11 f. stam­ men aus Q, wie die Übereinstimmung der Wendung „sorget nicht, wie oder was ...“ (V. 11) mit Mt 10,19 gegen Mk 13,9-11 zeigt, obwohl die Erwähnung der Synago­ gen von dort eingedrungen sein könnte. An allen Stellen sind jüdische und römische Gerichte genannt. 2 V. 1 paßt als Einführung von 2(-9); denn bei Lukas ist nicht mehr von Mission die 3 Rede. V.3 ist darum nicht Aufforderung an die Jünger zur Verkündigung (wie Mt 10,27). Sollte es Verheißung sein, daß das Evangelium überall „von den Dä­ chern“ gepredigt werde, im Unterschied zu einem ängstlichen Weitersagen im eng­ sten Kreis? Doch ist anders als Mt 10,27 nur je im Vordersatz vom menschlichen Tun gesprochen, während der Nachsatz im Passiv steht. So ist eher an Gottes Gerichts­ spruch gedacht wie in V.8 f. Gegensatz ist dann kaum das heimliche Reden der Pha­ risäer, sondern das feige der Jünger. Die Flachdächer Palästinas sind der geeignete Ort für öffentliche Verkündigung (Jes 15,3; 22,1). Für Gottes Gericht ist der Aus­ 4 druck etwas seltsam, aber ist wohl sprichwörtliche Wendung. V.4 nennt auch die Jünger nochmals ausdrücklich, obwohl sie schon nach V. 1 angesprochen sind. Auch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 12,2-12: Jüngerschaft

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die Fortsetzung redet von Jüngerverfolgung bis in den Tod hinein, und nach Joh 15,14-16 spricht Jesus im gleichen Zusammenhang von seinen „Freunden“, die sein Schicksal teilen werden. Lukas meidet die Formel von der Seele, die nicht getötet werden kann (s. zu 8,55 und Mt 10,28). Das Leben nach dem Tode ist ihm wichtig; er meidet aber, ohne geradezu dagegen zu kämpfen, die griechische Vorstellung von einer unsterblichen Seele. Gut biblisch hebt er den Tod als Grenze für alles Mensch­ liche, nicht aber für Gottes Handeln heraus. V.7a wird 21,18 wiederholt; an beiden Stellen hebt das die Möglichkeit des gewaltsamen Todes nicht auf. Anders als Mk 8,38 liegt der Ton auf der positiven Aussage, in der der „Menschensohn“ (s.A. zu Mk 8,27-33) genannt ist. Das erinnert an 22,28; Mt 19,28; 2.Tim 2,12: gegen­ wärtige Treue zu Jesus wird endzeitlich vom Menschensohn anerkannt. Der Über­ gang zur dritten Person ist völlig natürlich, wo es um Gottes geheimnisvolles Han­ deln an einem Menschen geht (2. Kor 12,2, auch bei Nikiaus von Flües [1417-87] Visionen und in modernen Romanen). Durch die Einbettung in V.9-12 ist die Sünde gegen den heiligen Geist nicht mehr wie bei beiden früheren Evangelisten die Uneinsichtigkeit, die in Jesu Heilungen Gottes Wirken nicht sehen will. Gewarnt ist jetzt, offenbar im Sinne des ursprünglichen Q-zusammenhangs, der Jünger, der seinem Auftrag untreu würde. Da die Lästerung des Menschensohns vergeben wird, ist Lästerung des Geistes nicht nur Feigheit oder Egoismus (22,56-62, vgl. Apg 8,18-22), sondern so etwas wie Kampf gegen das Wirken des Geistes aus einer Stärke heraus, in der der Mensch sich selbst zum Gott macht (s. zu Mk 3,28-30). Lukas betont wie 21,12-14 das konkrete „Hineinbringen“ in die Gerichte und den Gedanken der Verteidigung; er unterscheidet deutlicher das Lehren des Geistes (21,15: Jesu) und das davon bestimmte, also nicht unbewußte, ekstatische (vgl. Mk 13,11) Reden der Jünger. Der ganze Abschnitt ist Warnung vor dem Auseinanderfallen des Menschen in ein kontrollierbares äußeres Tun und ein nicht mehr ernstgenommenes inneres Sein. Da­ zu soll das Wissen um den letzten Tag die Jünger befreien. Er wird die Zerrissenheit des Menschen enthüllen, bei dem Sein und Verhalten nicht mehr zusammenstimmen (wie immer man V.3 deutet), zugleich befreit dies von der Angst zur Gottesfurcht. Diese hat nur noch davor Angst, an dem vorbeizuleben, der seine Schöpfung so lieb hat, daß er sich um jeden Sperling, ja um die einzelnen Haare seiner Menschen küm­ mert. V.9f. sind scharfe Warnungen, aber umschlossen von der großen endzeitlichen (V.8) wie der innergeschichtlichen Verheißung Gottes, die einem solchen auf Gott hin offenen Leben gilt.

Verfehlte Kapitalanlage 12,13-21 13Es

sprach aber einer aus der Menge zu ihm: Lehrer, sprich zu meinem Bru­ der, daß er das Erbe mit mir teile. 14 Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Testamentsvollstrecker über euch gesetzt? 15 Er sprach aber zu ihnen: Sehet zu und hütet euch vor aller Habsucht; denn sein Leben (hat einer) nicht in seinem Uberfluß und nicht aus dem, was ihm gehört. 16Er sprach aber © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

5 7 8.9

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11

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Lk 1 2 , 1 3 - 2 1 : Analyse

ein Gleichnis zu ihnen und sagte: Eines reichen Menschen Land hatte gut getra­ gen, 17 und er überlegte bei sich selbst und sagte: Was werde ich tun, weil ich keinen Platz habe, meine Früchte aufzuspeichern? ,18Und er sprach: Das werde ich tun; ich werde meine Scheunen niederreißen und größere bauen, und dort werde ich all mein Getreide und meine Güter aufspeichern 19 und werde zu meiner Seele sagen: Seele, du hast viele Güter für viele Jahre liegen. Sei ruhig, iß, trink und freue dich. 20 Gott aber sprach zu ihm: Du Narr, in dieser Nacht for­ dern sie deine Seele von dir; was du an Vorrat angelegt hast, wem wird es gehö­ ren? 21 So geht es dem, der für sich selbst sammelt und nicht auf Gott hin reich ist. zwischen V.11 f. und 22 ist eine Bcispielsgeschichte eingeschoben. Auf die Bitte um Schiedsrichterdienst (13) folgt Jesu Ablehnung (14) und eine Mahnung, die schon zusammenfassend deutet (15). Diese ist wie 16a lukanisch und betont, daß Jesus zu allen spricht (vgl. zu 6,20a). V. 14 hingegen ist sprachlich unlukanisch. Stand er mit 13 b in der Vorlage? Doch könnte er aufgrund von 2. Mose 2,41 (Apg 7,27) sprichwörtlich geworden sein, so daß nur V. 16 b—21 überliefert gewesen wären. Dafür spricht die typisch lukanische Neucinleitung V. 16a. Auch in Ev.Tom. erscheint beides getrennt (72 = V. 13-15; 63 = V. 16-21), aber wohl abhängig von Lk. Die Erzählung besteht aus Situationsangabe (16b), Frage (17) und Antwort (18 f.) des Grundbesitzers, Spruch Gottes (20) und Anwendung (21). Im Grunde wird nur ein Selbstgespräch berichtet, in das sich Gott einmischt. 13 Eine an Jesus herangetragene Frage (s. zu 11,1) löst das Wort Jesu aus. Schriftgc­ 14 lehrte werden in solchen Fällen um Entscheidung gebeten. Ohne Recht oder Unrecht zu untersuchen, weist Jesus merkwürdig scharf ab. Er ist nicht Jurist und will sich nicht dazu machen lassen. Daß auch an heikle Aufgaben von Gemeindeleitern mitge­ 15 dacht wäre (1. Kor 6,2-4), ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Lukas (vgl. zu 13,1-5) versteht dies als Warnung vor Habsucht (Tcst.Jud. 18 f.; Mk 7,22; Röm 1,29; oft in christlichen Lasterkatalogen), was weder zur Bitte noch zur nach­ folgenden Erzählung ganz stimmt. Entscheidend ist aber die Aussage über den Men­ schen: sein Besitz ist nicht die Quelle, aus der ihm Lebenskraft zuströmt, und Über­ fluß ist nicht der Sinn, der sein Leben erfüllen kann. 16 Anders als Jer 17,11; äth.Hen. 97,8-10: Sir. ll,18f. (hebr. Text) ist nichts von Unrechtem Erwerb gesagt, erst recht nicht wie Spr 11,26, daß der Mann die Preise in 17.18 die Höhe treiben will. Seine Überlegung ist an sich normal. Er ist nicht einmal im 19 Leistungsdenken gefangen, sondern plant eine sinnvolle Ruhezeit. Vielleicht kennt er 20 „kein Glück außer Essen und Trinken und Fröhlichsein“ (Pred 8,15). Er ist aber nicht verbrecherisch, sondern nur dumm. Dumm, weil er für seine Überlegungen keinen Partner hat, weder Gott noch Menschen, und darum nur um sich selbst kreist, als ob er über sich selbst verfügen könnte. Doch können „sie“ jederzeit sein Leben (oder: seine Seele) fordern. Dabei ist kaum an Todesengel (Bill. I 144-149) gedacht, sondern an Gott, der oft so umschrieben wird (s. zu 6,38). Daß der reiche Bauer dafür Verantwortung abzulegen habe und daß dies über sein Schicksal nach dem Tod entscheide, ist nicht gesagt (vgl. auch V. 22 f.). Gesagt ist, daß ihm sein Besitz nicht bleibt, daß dieser also nicht das Leben ausmacht und daß der Mann darum nicht wirklich gelebt hat. Das ist die Dummheit des Menschen, der sich auf © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 12,13-21: Verfehlte Kapitalanlage

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„Lebensfremdes“ ausrichtet. Merkwürdigerweise verfehlt der Mensch sich selbst, 21 gerade wo er alles Sammeln und Einheimsen auf sich selbst ausrichtet statt auf Gott. Es ist nicht einmal gesagt, daß sein Besitz „für Gott“ dasein, wohl aber im ständigen Blick „auf ihn hin“ verwaltet (oder auch aufgegeben) werden müsse. Oder ist an Reichtum im Sinn von V. 33 f. gedacht? Das Abreißen der alten Scheunen, die größeren, neuen Platz machen müssen, ist kein Verbrechen, sondern zunächst normales wirtschaftliches Handeln, wie es sich in allen möglichen Sparten zu allen Zeiten vollzieht. Wirklich fraglich ist aber die Hal­ tung, in der dies geschieht, und das Ziel, auf das hin gehandelt wird. Wer „Fleisch (also alles Irdische) für seinen Arm hält“ (Jer 17,5), entdeckt nicht nur, daß, was er als Sicherheit ansah, zusammenbricht, sondern vor allem, daß kein Platz mehr da ist für letzte Verantwortlichkeit, weil „das Herz vom Herrn gewichen ist“. Vielleicht ist darum V. 14 so scharf formuliert. Wer nämlich in seinem Reichsein nicht „auf Gott hin“ ausgerichtet bleibt, der sieht nicht mehr, wie sein an sich korrektes Handeln Ausdruck einer Lebenshaltung geworden ist, die überhaupt nicht mehr damit rech­ net, daß Gott plötzlich in ein Leben hineintreten könnte. Paulus formuliert einmal, man müsse alles Irdische so besitzen, als besäße man es nicht (1. Kor 7,29-31). Er meint, daß man sich durchaus daran freuen und damit handeln soll, aber nie so, daß man davon gebunden wird. Weil ein ganz anderer Herr die letzte Verantwortung trägt, darum muß alles andere, was Herrschaft über uns gewinnen könnte, dann auch losgelassen werden, wenn es notwendig ist. Das gibt auch ein völlig anderes Verhältnis zu den Mitmenschen. Vieles, was sie belastet, ist nicht zu vermeiden; aber wer offene Augen dafür hat, wägt vor Gott ab, was notwendig ist und was nicht, und übt in der kleinen und großen Alltagsentscheidung ein Leben ein, das nicht mehr nur für sich selbst sammelt. Das wird unerhört verschärft dadurch, daß Lukas dies dem Zug Jesu nach Jerusalem einordnet; denn dort wird seine Gelassenheit manifest, die in der vollen Ausrichtung auf Gott alles, selbst das Leben lassen kann und nichts mehr krampfhaft festhalten muß.

Befreiung von der Sorge 12,22-34, vgl. Mt 6,25-34.19-21 22 Er sprach aber zu seinen Jüngern: Darum sage ich euch: Sorgt nicht um das Leben, was ihr essen, noch um den Leib, was ihr anziehen sollt. 21 Denn das Leben ist mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung. 24 Schaut auf die Raben; sie säen nicht, sie ernten nicht, ihnen gehört kein Speicher und keine Scheune, und Gott ernährt sie. Ihr seid viel mehr als die Vögel. 25 Wer aber unter euch kann durch Sorgen seiner (Lebens-)Länge eine Elle zusetzen? 26 Wenn ihr nun nicht das Geringste vermögt, was sorgt ihr für das übrige? 27 Schaut auf die Lilien, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht und spinnen nicht; aber ich sage: Selbst Salomo in seiner Pracht war nicht angetan wie eine von diesen. 28 Wenn aber Gott das Gras auf dem Felde, das heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, so bekleidet, wieviel mehr euch, ihr Kleingläubigen? 29 Und ihr, trachtet nicht danach, was ihr essen und was ihr trinken sollt, und seid nicht unruhig; 30 denn nach dem allem trachten die Heiden der Welt. Euer Vater aber weiß, daß

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Lk 12,22-34: Richtige Kapitalanlage

ihr dessen bedürft. 31 Trachtet jedoch nach seinem Reich, und das wird euch hinzugegeben werden. 32 Fürchte dich nicht, du kleine Herde; denn es gefällt eurem Vater wohl, euch das Reich zu geben. 33 Verkauft, was euch gehört, und gebt Almosen. Schafft euch Beutel, die nicht alt werden, einen Schatz, der nie im Stiche läßt, in den Himmeln, wo sich kein Dieb naht und keine Motte vernichtet; 34 denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein. In Q gehörten 12,22-34 mit 12,11 f. und 39-46 (s. zu Mt 6,19-34 Einl.) zusam­ men. V.22-31 und 33 b.34 sind Mt 6,25-34.19-21 (s.d.) sehr ähnlich. Lukas be­ zieht durch V.22 und 32 eindeutig auf die Jünger (s. zu 6,20a). Vermutlich hat er das (ihm schon bekannte?) Wort von der kleinen Herde hier eingefügt. Jesus hat immer seinen Anspruch auf ganz Israel erhoben und nicht an eine Sondergruppe gedacht; V.32 spiegelt also wohl nachösterliche Verhältnisse wieder. Oder wäre an die Botensituation von 10,3 gedacht? Aber dann spräche Jesus kaum von der „Herde“. 22 27 28 24 27 29 31 32

33.34

Im Anschluß an V. 13-21 unterstreicht Lukas die besondere Gefahr der Jünger. Sie ist nicht die Habsucht, wohl aber die Einschränkung Gottes auf den Bereich des Seelenheils, die den Erlöser nicht auch als Schöpfer ernst nimmt (vgl. zu 10,18). Wie die Lilien ein anschauliches Beispiel für besondere Pracht darstellen, obwohl sie kurzlebiges „Gras“ sind, sind die „Raben“, die auch 1.Kon 17,6; Hiob 38,41; Ps 147,9; Jub. 1,11 erscheinen, anschaulicher als „Vögel“ (Mt6,26; Lk 12,24 am Ende). Daß sie als besonders grausam und unrein (Bill.) angesehen waren, spielt also kaum eine Rolle. In V.27 lesen die ältesten Handschriften wie oben übersetzt. V.29 („trachter danach“ wie V.30 gegen Mt 6,31) weist auf eine Ausrichtung des ganzen Lebens, die das Ruhelos-sein, das Hin- und Hergerissenwerden zwischen Angst und Hoffnung ausschließt. Anders als Mt 6,33 kennt V. 31 weder die matthäische Zufü­ gung der Gottesgerechtigkeit noch erklärt er, daß wir „das alles“ (etwa die „vielen Güter“ von V. 19!) nötig hätten. V.32 schließt an die Stichwörter „Reich“ und „Va­ ter“ an; hinter ihrem ganzen Trachten steht Gottes Entscheidung für sie. Die Auffor­ derung folgt aus der Tatsache des schon zugesprochenen Heils. Sie sind schon „die Menschen des Wohlgefallens“ (2,14). Zum alttestamentlichen Bild von der Herde vgl. zu Mk 6,34, auch Joh 10 und 21,17. V.33b.34 deutet Lukas praktisch in V.33 a. Die Jünger im engeren Sinn (s. zu 6,20 a) sind zu einem als Modell wirken­ den radikalen Verzicht gerufen, in dem sich nicht menschliche Superleistung aus­ drücken soll, sondern ein Herz, das auf den ausgerichtet ist, der ihr Schöpfer und Erlöser ist, der „nicht im Stich läßt“, wie V.33 mit einem griechischen Ausdruck (auch Weish. 7,14; 8,18) erläutert. Daß Almosen himmlischen Lohn bringen, sagen Tob 4,8-11; sl.Hen. 50,5; Bill. IV 552-557 (vgl. zu Mt 6,2). Daß der Mensch unter allen Lebewesen, die auf ihr „Ich“ und „Mein“ ausgerichtet sind, „freien Geistes“ .werden und wie die Götter nichts bedürfen sollte, weil dort, „wo sein Denken ist, auch sein Gott ist“, wissen auch Stoiker (Seneca, Brief 17; Epiktet II 22,19). Lukas verkündet aber den Gott, der als Schöpfer für seine Menschen sorgen und als Erlöser ihnen sein Reich bereiten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 12,35-48: Analyse

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will. Dort müßte ihr Herz schlagen, so daß Gott wieder ernsthaft gegenwärtige Wirklichkeit wird. Darum möchte Lukas, indem er der Gemeinde die Jünger als Leitbild vorsetzt, das jedenfalls die Richtung ihres Lebens bestimmen müßte, sie vor der Dummheit (V.20) bewahren, an ihrem wirklichen Leben, das Gott ihr schenken will, vorbeizuleben. Offenheit für das Kommende 12,35-48, vgl. Mt 24,42-51 35 Eure Hüften sollen umgürtet und eure Lampen angezündet sein, 36 und ihr sollt Menschen gleich sein, die auf ihren Herrn warten, wenn er vom Hochzeits­ fest aufbricht, daß ihr, wenn er kommt und anklopft, ihm sofort öffnet. 37 Heil jenen Knechten, die der Herr bei seinem Kommen wach findet! Amen, ich sage euch: Er wird sich gürten und sie zu Tische liegen lassen, hinzutreten und sie bedienen. 38 Und wenn er in der zweiten oder dritten Nachtwache käme und sie so fände, heil ihnen! 39 Das aber erkennt: wenn der Hausherr wüßte, in welcher Stunde der Dieb kommt, so ließe er sein Haus nicht durchgraben. 40Seid auch ihr bereit; denn zu einer Stunde, da ihr es nicht meint, kommt der Menschensohn. 41 Petrus aber sprach: Herr, sagst du dies Gleichnis zu uns oder zu allen? 42 Und der Herr sprach: Wer also ist der treue und kluge Verwalter, den der Herr über seine Dienerschaft setzen wird, daß er ihnen zur rechten Zeit ihre Portion gebe? 43 Heil dem Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, so tun findet! 44 In Wahrheit sage ich euch: Er wird ihn über alles setzen, was er hat. 45 Wenn aber jener Knecht in seinem Herzen spricht: Mein Herr kommt noch lange nicht, und er beginnt, die Knechte und Mägde zu schlagen, zu essen, zu trinken und sich zu berauschen, 46 so wird der Herr jenes Knechtes an einem Tag kommen, da er es nicht erwartet, und zu einer Stunde, die er nicht kennt, und er wird ihn entzwei­ hauen und ihm seinen Lohn geben mit den Ungläubigen. 47 Jener Knecht aber, der den Willen seines Herrn kennt und keine Vorbereitungen getroffen und nicht nach seinem Willen getan hat, wird schwer gezüchtigt werden; 48 der es aber nicht weiß und tut, was der Schläge wert wäre, nur wenig. Von jedem, dem viel gegeben wurde, wird viel erwartet werden, und von dem, dem sie viel verliehen haben, werden sie um so mehr verlangen.

Falls V.39 einmal an 34 anschloß (s. zu Mt6,19-34 Einl.), könnte Lukas V . 3 5 38 (aus Q?) eingefügt haben. Erfunden hat er das Gleichnis nicht. V. 36.37a(38) ist die älteste Form von Mk 13,34-36 (s.d. Einl.). Sie rechnet (jüdisch) mit drei, nicht (römisch) mit vier Nachtwachen wie Apg 12,4. Sie könnte auf Jesus zurückgehen und an das jetzige oder endzeitliche Kommen des Reiches denken. Daß alle Diener aufbleiben sollen, nicht nur der Türhüter, ist spätere Angleichung an das von allen Glaubenden Geforderte. V.35 ist Einleitung in gängiger Bildsprache (s. zu 13,1-5). V.38 faßt in einen Heilruf, was Mk 13,35 und Mt24,42 als Mahnung aussagen. Innerhalb des Gleichnisses vom Dieb erscheinen dort „Wachen“ und „Nachtwache“ wie Lk 12,37f. Verrät dies, daß das Gleichnis mit den beiden Stichwörtern schon in Q (wenn auch nicht von allem Anfang an) vor Lk 12,39 stand, von Matthäus aber wegen 25,1-13 ausgelassen wurde? Das „Amen“ in V.37b stammt jedenfalls nicht von Lukas, obwohl der Satz von ihm redigiert ist und 17,8 (= S?) widerspricht. Er © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

140

l.k 12,35-40: Bereitschaft

ist derart unerwartet, daß er aus Jesu Ankündigung des Gottesreiches stammen könnte. Lukas hätte auch V.41 eher zwischen V.38 und 39 eingefügt, wenn 37f. nicht schon mit 39f. verbunden gewesen wären. Alle drei Gleichnisse kreisen um das unvermutete Kommen des Herrn. Das erste ist als Verheißung für den ihn Erwarten­ den, das zweite als Warnung für den nicht dafür Vorbereiteten, das dritte als Mah­ nung konzipiert, sich wie der erste, nicht wie der zweite zu verhalten. Alle drei beto­ nen die Haltung in der Gegenwart, während das Kommen Jesu unter dem Bild des Herrn wie des Diebes erscheinen kann. Daß die Gemeinde schon längere Zcit darauf wartet, wird in V.38 und 45 spürbar, ohne aber zum eigentlichen Thema zu werden. V.39-46 stimmen mit Mt24,43-51 überein (s.d.). V.47f. (s.d.) behandeln eine andere Frage. Sie setzen wohl wie V.42 (s.d.) das Gegenüber von Gemeindegliedern und -leitern voraus. Der Mahnung (35) folgt ein Gleichnis. V.36 zeichnet (in einem Geflecht gramma­ tisch untergeordneter Wendungen) die Situation. Darauf folgt ein Heilruf mit einem folgenden Relativsatz, der die richtige Haltung beschreibt (37a). Mit einem auf den Konditionalsatz folgenden neuen Heilruf (38) zusammen rahmt er V.37b. Sind die Knechte in den Heilrufen noch Subjekt (wie die Menschen in V.36), so wechseln sie sonst durchwegs in die Objekt-, der Herr aber in die Subjektstellung. Die Pointe V.37b wird durch eine in Vollmacht deklarierte Verheißung Jesu gebildet. Die Gleichnisform ist weithin verlassen. Die Knechte müssen ja weder alle miteinander wach bleiben noch zum Aufbruch bereit sein noch alle Lichter brennen lassen. Die Bilder V.35 sind also schon traditionell (s.u.). Dasselbe gilt für „anklopfen“ und „öffnen“ und das darauf folgende, um Mitternacht oder noch später keinesfalls zu erwartende Mahl (vgl. Offb 3,20). Auch erscheinen Heilrufe sonst nicht in Gleich­ nissen. Schließlich besagt V. 39 ja eigentlich, daß es eben unmöglich ist, immer zu wachen. 35

36 37.38

41 42

Die Bildsprache der Einleitung versteht christliche Existenz als Unterwegssein und als Bereitschaft zu immer neuem Aufbruch auf neue Wege zu nicht festgelegter Zeit oder auch zu unerwarteter Begegnung und entsprechendem Handeln. Sie stammt aus den Anweisungen zur Bereitschaft vor dem Auszug aus Ägypten (2. Mose 12,11) und dient schon Philo (Abel 63) zur Beschreibung des Dienstes für Gott. So wird sie Eph 6,14 aufgenommen, während l.Petr 1,13 und vor allem Did. 16,1, wo beide Bilder nebeneinanderstehen, stärker auf das endzeitliche Kommen Christi ausgerich­ tet sind. Das paßt zu 9,51; 13,22 usw. Das Hochzeitsfest ist nicht Bild der Endzeit­ der Herr verläßt es ja - ; es ist nur Anlaß für nächtliche Heimkehr. In der jetzigen Form bildet die unerhörte Verheißung, umrahmt von dem doppelten „heil“ (vgl. V.43), das eigentliche Zentrum. Wie oft in Jesu Gleichnissen ist das darin Ausge­ sagte zwar nicht undenkbar, übersteigt aber - wie Jesu eigenes Handeln in 22,27 und Joh 13,4f.!-bei weitem die normalen Erfahrungen, sprengt hier freilich auch die vorausgesetzte Situation mitten in der Nacht. So läßt es durch einen Verfremdungs­ effekt (s.A. zu Mk 4,1-9) auf das darin dem Hörer zugesprochene Heil aufmerken. 22,27 wird zeigen, worin diese alle Erwartungen hinter sich lassende Zusage begrün­ det ist. Die typisch lukanische Frage, die zwischen Worten an die Jünger und Worten an alle unterscheidet (s. zu 6,20a), führt zur Ersetzung des Knechtes durch einen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 12,4 1—48: Verantwortung in der Zwischcnzcit

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Verwalter (s. zu Mt 24,45-51 Einl.). Lukas denkt also immer noch an besondere Jüngerunterweisung (V.22). V.42 setzt er daher ins Futurum: nach Ostern wird Jesus seinen Jüngern die Leitung seiner Gemeinde anvertrauen (s. zu 22,26). Ihnen 44 ist Größeres verheißen, aber auch größere Verantwortung Überbunden. Das wird 47.48 durch zwei parallele, nur Lukas eigene Doppelsätze ausgesagt. Der erste beschreibt das Prinzip der abgestuften Verantwortung gegensätzlich (vgl. das Nichtwissen 23,34 und Weish. 6,6-8), der zweite Doppelsatz parallel: denn darin steht nur der, dem viel anvertraut ist, also der Apostel, zur Diskussion. Das Bild vom Verwalter, der seinen Mitknechten das Notwendige bereitstellt (42), beherrscht auch diese Sätze. Sie sind Sondergut des Lukas, stammen aber kaum von ihm, wie der Wechsel zur Gott umschreibenden 3. Person Plur. zeigt (s. zu 6,38 und Einl. dazu). Alle drei Gleichnisse kreisen um das Kommen Jesu. Es ist keineswegs in den Hin­ tergrund getreten. Nur der böse Knecht meint, der Herr verziehe; „zu kommen“ fügt nur Lukas ausdrücklich zu. Wohl aber ist es stärker als das schon die Gegenwart bestimmende Ereignis gesehen; darum spricht Lukas schon hier und in 17,20—37 davon (vgl. auch 19,11-26) und verschiebt das Thema nicht erst in ein letztes Kapi­ tel der Lehre Jesu (Mk 13; Lk 21). Der Ton ist verschieden. In V.39f. ist das Kom­ men Jesu wie eine bedrohende Katastrophe gesehen und die ständige Bereitschaft gefordert, ihr zu begegnen. V. 35-38 sind als Verheißung formuliert, bei der die Herrlichkeit des zu Erwartenden selbst die Form des Gleichnisses sprengt. Auch hier ist das ständige Bereitsein entscheidend. V.42-46 zeigen dagegen, daß die Zwischen­ zeit des Wartens ein für das Wohl anderer verantwortliches Handeln erfordert. Die Frage des Petrus wird indirekt beantwortet, indem Jesus vom Verwalter und den ihm Unterstellten spricht. Dabei geht es freilich nicht um Rechte und Vollmachten, son­ dern um größere Verantwortung und auch größere Versuchung, sich selbst als Herrn aufzuspielen (45). Verheißung (35-38) und Warnung (39f.), die allen gelten, gelten also in noch größerem Maße dem Apostel und darum dann auch den Gemeindelei­ tern (47f.). Scheidung durch heuer und Taufe 12,49-53, vgl. Mt 10,34-36; 5,25 f. 49 Ein Feuer auf die Erde zu bringen bin ich gekommen, und wie wünsche ich, daß es schon entflammt wäre. 50 Mit einer Taufe muß ich getauft werden, und wie drängt es mich, bis sie vollzogen ist. 5l Meint ihr, ich sei gekommen, um Frieden auf Erden zu geben? Nein, sage ich euch, sondern gerade Entzweiung. 52 Denn es werden von jetzt an fünf in einem Hause miteinander entzweit sein, drei gegen zwei und zwei gegen drei werden sie entzweit sein, 53 der Vater gegen den Sohn und „der Sohn gegen den Vater“, die Mutter gegen die Tochter und „die Tochter gegen die Mutter“, die Schwiegermutter gegen ihre Schwiegertochter und „die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter“.

Vers 53: Mi 7,6.

zweimal spricht Jesus von seinem Auftrag und fügt seinen Wunsch mit einer Fragepartikel an (49f.). Eine an die Hörer gerichtete Frage formuliert ein Mißver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 12,49-53: Taufe-Feuer-Schwert

ständnis (51 a), dessen Ablehnung (51 b) durch einen im Futurum stehenden Satz begründet wird (52a), der unter Wiederaufnahme des Verbums „entzweitsein“ durch traditionell-biblische Aussagen entfaltet wird (52b.53). V.49f. sind Sonder­ gut, V.51-53 sind eine, sprachlich vorlukanische, Umgestaltung von Mt 10,34-36 (s.d.). War beides schon vorlukanisch (Q) verbunden („bringen“ V.49 wie Mt 10,34)? 50

51 52 50 49

„Taufe“ und „taufen“ sind, wohl von Jesus stammendes, Bild für seinen Tod (s. zu Mk 10,38); das Wort wird griechisch auch für „Belastung“, ja „Untergang“ der Seele gebraucht (Plutarch, Kindererziehung 9 B; Hercher, Erotici II, C haritonos Aphr. III 2,6; Libanius, Reden 64.115). Was das zielbewußte Wandern nach Jerusa­ lem seit 9,51 für Jesus wirklich bedeutet, wird sichtbar. Er geht dem Untergang entgegen. Wie nach Mk 10,38 auch Jesu Jünger daran teilhaben, so verheißt Jesus ihnen hier nicht Frieden, sondern Entzweiung. Ursprünglich auf die Endzeit bezo­ gene Bibelworte werden „von jetzt an“ Wirklichkeit; engste Familienbande werden zerrissen. Jesu Taufe scheint „brandende Wogen des Todes, Bäche des Verderbens“ (2.Sam 22,5) zu entfesseln, wo man „im Schlamm versinkt, in Wassertiefen gerät und von Fluten überströmt wird“ (Ps 69,3), und sein Bedrängtsein zeigt, wie wenig man das zum rein geistlichen Bild abschwächen sollte. V.49 bezeichnet dies, in für Jesus typischer Verhüllung, als das Feuer, von dem er nichts mehr wünschte, als daß es schon entfacht wäre. Die Parallele von V.49 und 50f., die das Feuer wie die Ent­ zweiung als Ziel des Kommens Jesu bezeichnet, zeigt, daß nichts grundsätzlich ande­ res gemeint sein kann. Feuer ist Bild des Gerichtes (s. zu Mk l , 7 f.; auch Lk 3,9; 9,54; Offb 8,5; 20,9). Während das Wort in V.50 den bezeichnet, der (von Furcht oder von einem Plan oder Willensentschluß) voll in Anspruch genommen, bedrängt wird, drückt V.49 freilich eindeutiger Jesu Sehnsucht aus. Das Gerichtsfeuer Gottes ist aber nach Sach 13,9; Mal 3,2f. zugleich Läuterung (vgl. Lk 3,16f.). Im Gottes­ wort fährt es durch das Volk (Jer 5,14; 23,29; vgl. 22,29; Sir. 48,1). Ein nichtkano­ nisches Jesuswort drückt diese Doppeldeutigkeit von Gericht und Heil am schärfsten aus: „Wer mir nahe ist, ist dem Feuer nahe; wer mir fern ist, ist dem Reiche fern“ (Ev.Tom. 82); Feuer und Reich stehen im Parallelismus und meinen letztlich das­ selbe. Was 2,34 (s.d.) verhieß, wird also wahr. Nur durch das Gerichtsfeuer hin­ durch findet man das Reich. Gottes Feuer bringt Bedrängnis und Todesfurcht; Ent­ zweiung und Angegriffensein führt aber zum Eingang in das Reich, wo der Mensch Mahlgemeinschaft (V.37) und Identität (V.44) findet. So ist beides wahr: daß Jesus nicht den Frieden des Nichtgestörtseins bringt, den wir meinen, wohl aber im letzten und tiefsten Sinn „unser Friede“ ist (Eph 2, 14). Von stellvertretendem Leiden Jesu ist nicht die Rede (s.A. nach 22,30, a). Wohl aber geht Jesus seinen Weg in die Todestaufe hinein, damit hinter ihm her immer wieder Menschen etwas von seinem glühenden Herzen geschenkt werde und sie zu Feuerbränden einer stürmischen und oft harten, aber unerhört hilfreichen Liebe für die gesamte Menschheit werden.

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Lk 12,54-59: Gotteszeichen

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Blindheit für Gottes Zeichen 12,54-59, vgl. Mt 16,2-3; 5,25-26 54 Er

sagte aber auch zur Menge: Wenn ihr eine Wolke im Westen aufgehen seht, dann sagt ihr sofort: Es kommt Regen, und es geschieht so. 55 Und wenn (ihr) den Südwind wehen (seht), dann sagt ihr: Es wird heiß werden, und es ge­ schieht. 56 Heuchler, das Antlitz der Erde und des Himmels versteht ihr zu beur­ teilen, wie könnt ihr denn diese Zeit nicht beurteilen? 57 Warum urteilt ihr nicht von euch aus, was gerecht ist? 58 Denn wenn du mit deinem Widersacher zur Be­ hörde gehst, dann gib dir auf dem Wege Mühe, von ihm loszukommen, daß er dich nicht vor den Richter schleppe und der Richter dich dem Gerichtsvollzieher übergebe und der Gerichtsvollzieher dich ins Gefängnis werfe. 59Ich sage dir, du wirst von dort nicht herauskommen, bis du auch den letzten Groschen bezahlst. Das Wort V.58 f. im Du-Stil ist durch den lukanischen V.57 („von euch aus“, 21,30 von Lukas eingefügt) mit den an die „ihr“ gerichteten V. 54-56 nachträglich verknüpft. V.54—56 kommen in zwei parallelen „wenn - dann“-Sätzen von der alltäglichen Erfahrung her zur kritischen Frage an die Hörer, V.58 f. von der mit Vergleichspartikel geschilderten Situation zum darin notwendigen Handeln (Impera­ tiv) und den zu vermeidenden Folgen (verneinter Finalsatz). Die betonte Warnung von V.59 zeigt aber erst, daß wie in V.54 f. gleichnishaft auf eine weit ernstere Situation hingewiesen wird. Lukas führt die Menge als Hörerschaft ein und betont, wie selbstverständlich eigentlich die Forderung sein müßte. Das erste Wort ist lukanisches Sondergut (s. zu Mt 16,2f.), es soll die Dringlichkeit der auch Mt 5,25 f. (s.d.) stehenden, von Lukas mit Ausdrücken der römischen Gerichtssprache formulierten Mahnung unterstreichen. Es steht in eindeutig endzeitlichem Zusammenhang, ob­ wohl Lukas selbst es vielleicht auf die Entscheidung für oder gegen die Gemeinde bezieht (v. 51-53). Beide Bilder meinen also dasselbe: die Erkenntnis des Kommen­ den (54-56) muß zum entsprechenden Handeln führen, so lange dazu noch Zeit ist (57-59). Der Westwind vom Meer her bringt Regen, der Wüstenwind vom Süden her Hitze. Das kann jeder beurteilen (wörtlich: „unterscheiden“). Aber die Gegenwart als die besondere „Zeit“ des Einbruchs Gottes von der einfach weiterlaufenden, unerfüllten „Zeit“ (das Griechische verwendet dafür ein anderes Wort) unterschei­ den können sie nicht (zu „Heuchler“ vgl. zu 12,1). Darum fehlt ihnen auch das daraus folgende prüfende „Unterscheiden“ des Gotteswillens (Rom 12,2; Phil 1,10; l.Thess 5,21) vom eigenen Willen oder der Forderung Gottes von der eigenen Le­ bensart (l.Kor 11,31; 2.Kor 13,5). Beides hängt eng zusammen, wie V.57 zeigt: die rechte „Unterscheidung“ der durch Gott qualifizierten Zeit führt zum Beurteilen und Tun des „Rechten“. An sich ist V.58 nur Bild für die Dringlichkeit solchen Tuns; doch wird die lukanische Formulierung „(versöhnt) von ihm loskommen“ wohl an die vom Gericht befreiende Versöhnung mit Gott als das eine Notwendige erinnern. C

Umkehr angesichts des kommenden Reiches 13,1-21

Man muß so begrenzen; denn die erneute Zielangabe V.22 markiert den Absatz zum zentralen Abschnitt V. 22-35. V. 1-9 sind dringlicher Umkehrruf an das schon © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

54 57 54-56 58.59

54.55 56

57 58

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CLk 13,1-21: Überblick

12,54-59 angesprochene Volk. In Tat (V. 10-17) und Wort (V. 18-21) wird das kommende Gottesreich (V. 18.20) ausgerufen. Das führt zur Scheidung (V. 17).

Zeit zur Umkehr 13,1-9 'Es kamen aber zu der Zeit einige, die ihm berichteten von den Galilàern, de­ ren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte. 2Und er antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr, diese Galiläer seien sündiger gewesen als alle Galiläer, weil sie das erlitten haben? 3 Nein, sage ich euch, sondern wenn ihr nicht um­ kehrt, werdet ihr alle gleichermaßen umkommen. 4 Oder jene achtzehn, auf die der Turm in Siloa fiel und sie tötete, meint ihr, sie seien schuldiger gewesen als alle Menschen, die in Jerusalem wohnen? 5 Nein, sage ich euch, sondern wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle ebenso umkommen. 6Er sagte aber dieses Gleich­ nis: Es hatte einer einen Feigenbaum in seinem Weinberg gepflanzt, und er kam, um nach der Frucht an ihm zu schauen, und fand keine. 7 Er sprach aber zum Weingärtner : Siehe, drei Jahre sind es seit ich komme und nach Frucht an die­ sem Feigenbaum schaue und keine finde; hau ihn um. Was soll er die Erde aus­ saugen? 8 Der aber antwortete und sagt zu ihm: Herr, laß ihn noch dieses Jahr, bis ich um ihn herum umgrabe und Mist zuführe, 9 ob er dann nicht Frucht bringt in Zukunft; wenn aber nicht, magst du ihn umhauen. V. 1-5 enthalten zwei bis in den Wortlaut parallele Sprüche Jesu: nur wird das erste Beispiel in lukanischer Manier (s. zu 11,1) durch die Frage „einiger“, das zweite durch Jesus selbst eingeführt (4a). Beidemal folgt der Position die Rückfrage Jesu und seine warnende Antwort mit leichten Stiländerungen. Neben die Galiläer treten die Jerusalemer. V. 1-5 deuten schon das Gleichnis V.6-9. Das geschieht auch Lk 10,29.37; 11,9; 12,21(41); 16,9-13; 18,14b; für Lukas besonders typisch ist dabei ein zusammenfassender Satz am Anfang: 12,15.35; 15,1 f.; 18,1.9; 19,11. Der Situationsangabe (6) folgt die Folgerung des Herrn (7). Der Einspruch dagegen (8) läßt die Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten noch offen. 1

Hinter V. 1 steht die Frage aller Zeiten nach Gottes Gerechtigkeit; daher sind weder Frager noch Zeitpunkt näher bezeichnet. Auch sind die „sie“, denen Jesus ant­ wortet, nicht nur die Frager (s. zu V. 23). Jos., Altert. 18,85-87 erzählt von Samari­ tanern, die zum Heiligtum zogen und auf Geheiß des Pilatus niedergemetzelt wur­ den, aber erst nach Jesu Tod und auf dem Garizim. Hingegen berichten 18,60-62 von einer jüdischen Demonstration in Jerusalem etwa zu Jesu Zeit, die von Pilatus 2 blutig niedergeschlagen wurde. Jesu Antwort macht das Dogma, daß besondere Schuld zu besonderem Unglück führe, unmöglich und damit auch die Meinung, wir 3 seien „allzumal Sünder“, aber doch nicht wie die und die. Sie weist mit betonter Einleitung die Zuschaucrfrage und damit auch die Erklärung des Handelns Gottes ab. Nicht der Mensch soll Gott in Frage stellen oder ihn dadurch retten wollen, daß er bei dem vom Unglück Betroffenen besondere Schuld vermutet; Gott stellt ihn in Frage. Das ist freilich ein unerhörter Satz; wer wagt es, in dieser Weise Unterschiede aufzuheben, ohne sich um eine Untersuchung des Frömmigkeitsgrades zu kümmern? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 13,1-9: Schweigt Gott?

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Auch der Einsturz des Turmes wird sonst nirgends berichtet; aber daß beim Bau des 4 Heiligtums nie ein solcher stattfand (Bill.), ist kein Beweis dafür, daß es nicht z.B. beim Bau der Stadtmauer oder der Wasserleitung zum Siloateich (Jos., Krieg 5,145. 275; Altert. 18,60) hätte geschehen können. Gerade zu dem unlösbare Rätsel aufge­ 5 benden Gott soll der Mensch umkehren. Dazu ruft auch das Gleichnis dringlich auf. 6-9 Lk 13,3.5 denkt gewiß an ein „Umkommen“ wie das der Galiläer oder Jerusalemer, also an eine geschichtliche Katastrophe, nämlich den Fall Jerusalems. Auch sind Weinberg und Feigenbaum Bilder Israels (Jes 5 , l - 7 ; Hos 9,10; Mi 7,1; Jer 8,13). Aber wer V. 1-5 gehört hat, kann jedenfalls nicht mehr daran glauben, daß Gott zeitliche und ewige Strafen genau nach Verdienst zuteile, jedes Unglück also Folge besonderen Vergehens sei. Er kann daher nicht eine besondere Schuld der Juden Jerusalems durch Jesu Gleichnis hervorgehoben sehen. Wohl aber läßt Lukas Jesus in seine Zeit hinein sprechen und nicht allgemeine Wahrheiten verkünden, weiß er doch, daß es nur in Jesus wahrgeworden ist, daß nicht einfach das Gericht über den Menschen kommt (wie in der von Lukas gestrichenen Erzählung vom verdorrten Feigenbaum Mk 11,12-14), sondern daß Jesu Zeit mit all ihren schrecklichen, vom Menschen verschuldeten oder nicht verschuldeten Ereignissen Einladung zum Heil ist. Das bildet das Gespräch zwischen Herrn und Gärtner ab, zu dem es in ähnlichen Gleichnissen (Achikar 8,35; Bill. IV 474) keine Parallele gibt. Schon das Präsens in V.8 (s. zu 16,23 Einl.) zeigt, daß es vorlukanisch, wohl echtes Jesuswort, ist. Darin wird etwas vom Geheimnis Jesu sichtbar, daß um des Gnadenangebotes für den Menschen willen Gott gegen Gott stehen kann. Doch solche Gegenwart Jesu ge­ schieht immer wieder, wo er bei einem Menschen lebendig werden darf (s. zu 4,21). Darum folgt der Abschnitt auf den sich an Jünger (12,35-53) wie Volk (54-59) richtenden Aufruf zur Bereitschaft für Gottes Kommen. So gelten die Fragen V.2 und 4 zugleich allen Lesern. Ihnen wird gesagt, daß Gott zwar nicht erklärbar, wohl aber erfahrbar ist. Der Sabbat als Zeichen für Gottes neue Schöpfung 13,10-17 10Er lehrte aber an den Sabbaten in einer der Synagogen. 11 Und siehe, da war eine Frau, die schon 18 Jahre lang einen Krankheitsgeist hatte, und sie war zu­ sammengekrümmt und konnte sich nicht mehr ganz aufrichten. 12AIs Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr: Frau, sei gelöst von deiner Krankheit, 13 und er legte ihr die Hände auf und sogleich stand sie gerade auf und pries Gott. 14 Es antwortete aber der Synagogen Vorsteher, unwillig darüber, daß Jesus am Sabbat geheilt hatte, und sagte zur Menge: Es gibt sechs Tage, an denen man arbeiten soll. An ihnen mögt ihr also kommen und euch heilen lassen und nicht am Tage des Sabbates. 15 Der Herr aber antwortete ihm und sprach: Heuchler, löst nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe und führt ihn zur Tränkung? 16Diese aber, die Tochter Abrahams ist, die der Satan gefesselt hat, siehe, 18 Jahre lang, sollte nicht gelöst werden von dieser Fessel am Tag des Sabbats? 17 Und als er das sagte, „wurden alle beschämt, die gegen ihn waren“, und die ganze Menge freute sich über alles Herrliche, das durch ihn geschah. Vers 17: 45,16.

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Lk 13,10-17: Analyse

Die Wundergeschichte endet mit V. 13, wo vermutlich Lukas das Gotteslob zufügt (s. zu 17,15). Auf das Auftreten des Helfers (10) und der Notleidenden mit typischer Angabe der Schwierigkeit des Falles (11) folgt Heilung durch Wort und Geste, Erfolg und Lobpreis Gottes (12f.). Entscheidend ist aber der Einwand V. 14, beantwortet durch zwei Gegenfragen (15 f.), die die Hörerschaft in die beschämten Gegner und das sich mitfreuende Volk scheiden. Dort liegt also das Gewicht des Textes. So sehr 10-13 (Zuwendung Jesu zu einer Frau!) und 17 sprachlich lukanisch sind, sind 1416 unlukanisch. Der Plural „Sabbate“ wird oft für einen einzigen verwendet, so wohl ursprünglich auch hier. Lukas braucht immer den Singular außer in der Wendung „Sabbattag“ 4,16 (= Tradition?), korrigiert auch Mk und Q dementsprechend (6,1. 7.9; 14,3.5). Den Satz Mk 2,24 „Warum tun sie am Sabbat, was nicht erlaubt ist?“, in dem der Plural steht, obwohl nur der betreffende Tag gemeint ist, an dem Jesu Jünger Ähren rauften, korrigiert Lk 6,2, weil er den Plural auf mehrere Sabbate bezieht, zu: „Warum tun sie, was an den Sabbaten nicht erlaubt ist?“ So stand auch in unserer Geschichte wohl ursprünglich der Plural wie in V. 10. Lukas hat korri­ giert, auch bei der Wendung „Sabbattag“ (V. 14-16), den Plural in V. 10 aber stehen lassen, weil er an wiederholtes Lehren „an den Sabbaten“ denkt. Die für Jesus ty­ pische Frage „Wer unter euch ...?“ (ähnlich V. 15) ist 14,5; Mt 12,11 (s.d.) mit dem Sabbatproblem verbunden. Da Sabbatheilungen weder in der Urgemeinde noch im Judentum als Problem auftauchen, werden sie auf Jesus selbst zurückgehen, dann aber wohl auch ein Argument wie V. 15, das ohne seine Situation ja sinnlos ist und außerdem die Aussage vom „Lösen“ gleichnishaft verwendet. 10 11

12 13

15

16 17

Lukas denkt sich Jesus als Lehrer im (oder nach dem?) Synagogengottesdienst: 4,16.31.33 (Mk 1,21.23); 6,6 („lehren“ zugefügt); vgl. Apg 13,5.14; 14,1; 17,1 f. usw. Da Frauen nicht zur Synagogengemeinde zugelassen sind, ist eine Begegnung erst beim Weggang möglich. Denkt Lukas an ein Herbeirufen aus dem Hintergrund (V. 12)? Krankheiten wie Besessenheit sind auf Geister zurückgeführt worden wie bei unserem Ausdruck „Hexenschuß“. Darin drückt sich das Gefühl einer Übermacht aus, gegen die der Mensch nicht aufkommt. Die Initiative Jesu (vgl. 6,8 = Mk 3,3; 14,3 f.) ist einer Frau gegenüber noch auffälliger (s. zu 8,3). Nie hören wir von einer jüdischen Frau, die Jesus um Hilfe bittet (vgl. nur Mt 20,20; Joh 11,20-22). Wohl aber wendet sich Jesus ihnen zu. Lukas betont auch die körperliche Berührung (vgl. Ps l45,14; 146,8 und s. zu Lk 4,39.40) und das Lob Gottes (vgl. zu 17,15), der durch Jesus gehandelt hat. Entscheidend ist der Unwille (vgl. 15,2) des Synagogen­ vorstehers (s. zu Mk 5,22), der beim Gesetz, dem schon immer Gültigen, stehen bleibt und nicht erkennt, daß von Gott her Neues einbricht. Darin sieht Jesus „Heu­ chelei“ (s. zu 12,1). Tränken des Viehs am Sabbat ist später nur unter größten Ein­ schränkungen erlaubt worden (Bill.): wenn man den Strick mit einer Hand lösen kann und der Brunnen innerhalb des Hofzaunes steht; ähnlich schon Dam. 11,5-7 (vgl. zu Mt 12,11). Das Argument ist nicht schlagend,.da Heilung ja auch am näch­ sten Tag erfolgen könnte (14b). Erst der auffällige Hinweis auf Satan und vor allem auf den Abrahamsbund (vgl. 19,9) und der Anklang an die Schilderung der Heilszeit, wo die Widersacher Israels beschämt werden, dem Volk aber Heil widerfährt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 13,10-17: Anbruch des Sabbats Gottes

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(Jes 45,16), zeigen, daß es hier um mehr geht als eine dem Verstand eingängige liberale Praxis. Lukas, der oft Doppelüberlieferung meidet, referiert neben 6,6-11 (= Mk 3,1—6) hier und 14,1-6 Sabbatheilungen, obwohl die Sabbatfrage in seiner Gemeinde nicht mehr aktuell war. Er hat gespürt, daß hinter dieser Praxis Jesu Tieferes steckt. Das wird hier deutlich. Schon daß es um eine Frau geht, deutet etwas von der neuen Zeit an, in der es „weder männlich noch weiblich“ gibt, sondern in C hristus alle „ein Mensch“ sind (Gal 3,28). Wichtiger ist die Berufung auf den Abrahamsbund. Die Formulierung ist nicht ungewohnt (Bill. II 200: „Wenn jede Frau, über die Spinnerin­ nen schwatzen, entlassen würde, bliebe Abraham keine Tochter, die beim Mann bleiben dürfte“). Sie tritt aber hier in Gegensatz zur Herrschaft Satans. Diese wird durch Jesu Heilung gebrochen und der Gottesbund mit Israel wieder herge­ stellt. Gerade die neue Haltung Jesu zum Sabbat, die die christliche Gemeinde am offensichtlichsten vom Judentum abgrenzte, löst also nicht von Israel, sondern vollendet Gottes Weg mit Israel. Darum geht es jetzt nicht um engere oder weitere Auslegung der Sabbatregeln, über die sich diskutieren läßt, sondern um grundlegend falsche Lehre (Heuchelei) oder Offenheit für Gottes endzeitlich neues Handeln. Der Sabbat ist Tag der Vollendung alles Handeln Gottes (l.Mose 2,1-3) und daher jedes Mal, wo er gefeiert wird, Andeutung der endgültigen Vollendung in Gottes Heils­ handeln für alle Welt (Hebr4,9-ll; s. zu Mt 12,1-8). Die Sabbatfreude Israels wurde zugeschüttet durch die krebsartig wachsenden Regeln und Verbote; Jesus eröffnet sie wieder (s. zu Mk 2,27). Rückblick auf die Schrift muß also nicht konser­ vativ machen. Vielleicht ist darum 14,1-6 im Zusammenhang eines Sabbatmahles voller Gespräche erzählt, die in V.7-14 noch fast versteckt, in 15-24 dann offen auf die kommende Freudenzeit hindeuten. Hat Jesus nicht auf den folgenden Tag gewar­ tet, weil er auf den erwarteten endgültig befreienden Sabbat Gottes hindeuten wollte, der in seinem Wirken anbrach? Hat Lukas oder schon ein Sammler vor ihm die Geschichte deswegen mit dem Umkehrruf an Israel 13,1-9 und den Aussagen vom Gottesreich und seiner Öffnung für die Völker 18-21 zusammengestellt? Und ist 14,3 noch eine Erinnerung daran, daß Jesus die Grundfrage nach dem Sabbat gestellt hat? Versteht man so, dann hat Jesus in der Tat den Menschen seiner Selbst­ entfremdung entrissen und zu einem sinnvollen Leben zurückgebracht (Mk 2,27). Die Kleinheit und die Größe des Gottesreiches 13,18-21, vgl. Mk 4,30-32; Mt 13,31-33 18Er sagte nun: Wem ist das Gottesreich gleich und wem soll ich es verglei­ chen? 19Es geht mit ihm wie [es ist gleich] einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und in seinen Garten streute, und es wuchs und wurde zu einem Baum und „die Vögel des Himmels nisteten in seinen Zweigen“. 20 Und wieder sprach er: Wem soll ich das Gottesreich vergleichen? 21Es geht mit ihm wie mit einem Sauerteig, den eine Frau nahm und in drei Scheffel Weizenmehl verbarg, bis daß es ganz durchsäuert war. Vers 19: Ez 1 7 , 2 3 ; 3 1 , 6 .

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DLk 13,22-35: Überblick

Zu den beiden Gleichnissen vgl. zu Mt 13,31-33. Die doppelte (V. 18.19a drei­ fache) Einleitung klingt auch Mk 4,30 an. Sie scheint für Q typisch, von Matthäus verkürzt worden zu sein (ebenso Lk 6,47b.48 a.; 7,31). Statt vom Acker spricht V. 19 vom Garten. Für Lukas schließen die Gleichnisse an die Sabbatheilung an. Ähnlich wie 14,7-14 sagen sie, daß sich in der Heilung dieser einen Frau die schon angebrochene und nicht mehr aufzuhaltende Endzeit anmeldet. D Jerusalem Stadt der Entscheidung für Jesus, Israel und die Völker 13, 22-35 Um diesen zentralen Abschnitt gruppiert sich die Zeit der Wanderung (s. zu 9 , 5 1 19,27). Jerusalem ist daher am Anfang und Ende genannt. V. 22-30 sind zwar stark endzeitlich gefärbt wie 12,35-59, jetzt aber eindeutig auf Jesu Zeitgenossen zuge­ spitzt (13,26) und in V.29f. schon über Israel hinausgreifend. Man schließt die Verse also besser mit der entscheidenden Aussage über Jesu Auftrag (V. 31-35) zusammen als zwischen V.30 und 31 abzuteilen. Die Nähe der Fernen zu Jesus 13, 22-30, vgl. Mt 7, 13 f.22 f.; 8, 11 f. 22 Und er durchwanderte lehrend Stadt für Stadt und Dorf für Dorf und war auf der Wanderschaft nach Jerusalem. 23Es sprach aber einer zu ihm: Herr, gibt es wenige, die gerettet werden? Er aber sprach zu ihnen: 24 Ringt darum, durch die enge Tür einzugehen; denn viele, sage ich euch, trachten danach einzugehen und vermögen es nicht. 25 Sobald der Hausherr aufgestanden und die Tür ge­ schlossen ist und ihr anfangt, draußen zu stehen und an die Tür zu klopfen und zu sagen: Herr, öffne uns, da wird er antworten und euch sagen: Ich weiß von euch nicht, woher ihr seid. 26 Dann werdet ihr anfangen zu sagen: Wir haben vor dir gegessen und getrunken, und in unseren Straßen hast du gelehrt. 27 Und er wird zu euch sprechen und sagen: Ich weiß nicht, woher ihr seid; steht ab von mir, all ihr Täter des Unrechts. 28 Da wird Wehklagen sein und Zähneknirschen, wenn ihr Abraham und Isaak und Jakob und alle Propheten im Gottesreich se­ hen werdet, euch aber draußen ausgestoßen. 29 Und sie werden kommen „von Osten und Westen und Norden und Süden“ und zu Tische liegen im Gottesreich. 30 Und siehe, es sind Letzte, die Erste sein werden, und sind Erste, die Letzte sein werden.

Vers 27: Ps 6, 9;

Vers 29: Ps 107,3.

Wie üblich (s. zu 11,1) durch „irgendeinen“ Frager hervorgerufen (23a), formu­ liert Jesus in gängiger Bildsprache seine Mahnung (24a, s. zu 12,35) und begründet sie (24b). V. 25-27 folgt das Gleichnis. Es beginnt mit einem temporalen Satz im Konjunktiv, der die Situation erzählend beschreibt. Mit dem Gerichtsspruch des Hausherrn geht er, grammatisch nicht korrekt, zum Hauptsatz über (25). Auf die Einrede (26) hin wiederholt der Hausherr seinen Spruch (nochmals mit überflüssi­ gem „anfangen“) und verschärft ihn durch den abweisenden Imperativ (27). Die traditionelle Gerichtsschilderung (28 a, s. zu Mt 8,12) ist wiederum gefolgt von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 13,22-30: Analyse

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einem Temporalsatz im Konjunktiv (28 b), der in einen Hauptsatz übergeht (29), dessen positive Heilsverheißung den Gegensatz zum Gerichtsspruch (25 Ende) bil­ det. Schon V. 25-27 sind in der Zukunftsform und in direkter Anrede mit „ihr“ formuliert. V. 27 und erst recht 28 f. sprengen das Bild. Die geschlossene Tür stammt aus einem wirklichen Gleichnis (Mt 25,10-12, s.d.), der Gerichtsspruch aus einer direkten Gerichtsansage (Mt 7,23, s.d.), die Verheißung des Herbeiströmens der Völker aus dem Mt 8,11 f. (s.d.) noch in 3.Person formulierten Jesuswort. Der Ab­ schlußvers ist ein Mt 20,16 (in umgekehrter Reihenfolge auch Mk 10,31 = Mt 19,30) in anderem Zusammenhang zitierter bekannter Spruch. Mindestens V. 25-27 sind sprachlich unlukanisch; die Einrede der Abgewiesenen ähnelt der von Mt 7,22, die auch dort in der Nähe des Bildes von der engen Tür steht, freilich als Beispiel für das bloße „Herr, Herr“-Sagen, das schon Lk 6,46 (Mt 7,21) verurteilt wurde. Der Satz „Ich weiß nicht von euch“ (so wörtlich Mt 25,12 = Lk 13,25) hat das Wort „Ich weiß nicht“ (Lk 13,27 = Mt 7,23: „Ich habe euch nie gekannt“) angezogen, und das Stichwort „draußen“ steht in V.25 wie 28; zugleich hat die Anrede „Herr“ an das mit der Warnung vor dem „Herr, Herr“-Sagen eingeleitete Wort Mt 7,22 (Lk 13,26) erinnert. Dieses bezieht sich freilich nicht mehr auf charis­ matisch begabte Propheten, sondern auf Zeitgenossen Jesu in Palästina. Diese Ein­ engung ist nicht lukanisch (s. zu 13,1-9 Schl.), ebensowenig das Partizip Präsens „ausgestoßen“ (V.28) und der Hinweis auf das Glauben der Heiden (s. zu V.29). Vielleicht sind die verschiedenen Bildworte schon in katechetischer Überlieferung zusammengestellt worden und Lukas hat sie nur stilistisch überarbeitet und einander angeglichen. Sein Stil ist in V. 22-24 zu bemerken. Das Zicl Jerusalem bestimmt wiederum alles Folgende. Wieder ist Jesu Lehre (s. 22 zu V. 10) betont. Von „einem“ nach „den Geretteten“ (Jes 37,32 LXX) gefragt, 23 antwortet Jesus „ihnen“, wendet sich also an alle. So diskutierten Rabbinen und 24 Apokalyptiker. Einerseits hieß es: „Ganz Israel hat teil an der zukünftigen Welt“ (Bill. I 883), andererseits: „Diese Welt hat der Höchste um Vieler willen geschaffen, aber die zukünftige für Wenige“ (4.Esra 8,l, wo auch ein Gleichnis folgt). Diese Ebene einer theologischen Diskussion wird aber in der direkten Anrede Jesu verlas­ sen. Schon 2.Makk. 13,14 spricht vom „Ringen“ (eigentlich „Wettkampf“) der Märtyrer, und C hristen haben das Bild oft übernommen. Der Gegensatz der Vielen zu den Wenigen ist schon Mt 7,13 f. mit dem Bild von der engen Tür verknüpft. Dort ist sie aber schwer auffindbar, weil der Weg dazu schmal ist. So sprechen auch Rab­ binen von der schmalen „Pforte“, durch die man ins weite Meer hinaus fahren muß (Bill. 1461). Lk 13,24 bleibt unklar, warum die Vielen „nicht vermögen“ (lukani­ scher Ausdruck) hindurchzugehen. Ihr wird auch kein breites Tor (griechisch das­ selbe Wort) mit gut sichtbarer Zufahrt entgegengesetzt, sondern eine verschlossene Tür, bei der es gleichgültig ist, ob sie schmal oder breit ist. Lukas spricht also schon abgegriffene Sprache, in der die Bilder nicht mehr richtig leben. Auch der Hausherr 25 ist nur noch Bildwort für Jesus, wird daher mit „Herr“ und „Du“ auf sein Wirken in der Umgebung der Zuhörer hin angesprochen. Anders als Mt 25,10, wo der Bräuti­ gam am Festmahl sitzt, erhebt er sich hier, um die Tür zu schließen. Er ist stärker als Richter gezeichnet. Der Bezug auf die historische Situation des Wirkens Jesu zeigt, 26 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 13,22-30: Gottes unerwartetes Richten

daß vorlukanisch an die für Israel begrenzte Frist gedacht war; doch hat Lukas mit 27 V.23 f. verallgemeinert und darin den Entscheidungsruf für alle gesehen. „Alle Täter des Unrechts“ ist lukanische Formulierung, ebenso der Hinweis auf „alle Prophe­ 28 ten“. Der Anschluß von 28 f. an das Gerichtswort hat vorlukanisch oder bei Lukas zur Umstellung geführt. Das Bild am Anfang drückt jetzt das Aufbegehren der Abge­ wiesenen aus, dann folgt erst das Bild von der Aufnahme der Herzuströmenden, 29 während es Mt 8,11 f. (s.d.) umgekehrt ist. V.29 spricht nur von den Fernen, die nicht zu den palästinensischen Zeitgenossen Jesu (Mt 8,12: zu den Söhnen des Rei­ ches = Israel!) gehören (vgl. zu 11,37-54 Schl.), also nicht eindeutig von Heiden, 30 obwohl diese sicher eingeschlossen sind (s. zu 8,39). Erst recht heißt es nicht „viele Erste“ oder gar „die Ersten“ (Mt 19,30; 20,16), sondern „es gibt Erste, die . . . “ . V.28 f. werden also korrigiert: es gibt Heiden, aber auch Juden, die glauben. Wie Mt 20,16 (gegenl9,30) steht dabei die Verheißung am Anfang. Wie die allgemeine Mahnung am Anfang wird Lukas auch die sprichwörtlich gewordene Sentenz am Ende angefügt haben. Diese Sammlung ethischer Mahnungen in schon schematisch verwendeten Bildern warnt vor aller Selbstsicherheit. So wenig die bloße Berufung auf Abraham hilft, so wenig das Bekenntnis zum Herrn, selbst bei denen, die noch die reale Tischgemein­ schaft mit ihm erlebt haben. Die Tochter Abrahams muß erst gelöst werden (V. 16), die ihm Fernen werden zu ihm herbeiströmen (29), und beides geschieht im voll­ mächtigen Wirken Jesu, das nur für den nutzlos ist, der meint, schon alles zu besitzen und keiner Hilfe zu bedürfen.

Jerusalem, Stadt der Entscheidung 13,31-35, vgl. Mt 23,37-39 31 In

der Stunde kamen einige Pharisäer und sagten zu ihm: Geh weg und wan­ dere fort von hier; denn Herodes will dich töten. 32 Und er sprach zu ihnen: Geht und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen heute und morgen, und am dritten Tage werde ich vollendet. 33Doch muß ich heute und morgen und am folgenden Tage wandern, weil es nicht angeht, daß ein Prophet außerhalb Jerusalems umkommt. 34 Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und die zu dir Gesandten steinigst, wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, wie eine Vogelmutter ihre Brut unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt. 35 Siehe, „euer Haus wird euch verlassen werden“. Ich sage euch aber: ihr werdet mich nicht mehr sehen, bis es dazu kommt, daß ihr sprecht: „Gesegnet, der da kommt im Namen des Herrn“. Vers 3 5 : Jer 22, S; Ps 1 1 8 , 2 6 .

Jesu Wort wird durch eine von außen kommende Warnung hervorgerufen (31, s. zu 11,1); es beschreibt sein Tun in drei Ausdrücken (32) und stellt ihm das Muß Gottes (wörtlich „es muß sein, daß ich ...“) entgegen, das durch einen „Weil“-Satz begründet wird. Daran schließt sich ein Ruf an Jerusalem an, der einen Rückblick auf Jesu Tätigkeit und eine Zukunftsdrohung enthält. Er entspricht praktisch wört© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 13,31-35: Analyse

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lich Mt 23,37-39. Urspünglich stand er mit 11,49-51 zusammen (s.d. Einl.). Er paßt freilich auch zu 13,26-30, falls man annimmt, die Worte seien in Jerusalem gesprochen worden; aber das Bild von V.34, wo der Vogel weiblichen Geschlechts ist wie die Weisheit oder die „Gegenwart“ Gottes, von der das gleiche Bild gebraucht wird (s. zu Mt 23,37), gehört eindeutig in ein Weisheitswort wie 11,49-51. Dem „von hier“ entspricht keine Ortsangabe, der Ausdruck „es geht nicht an“ steht im Neuen Testament nur hier. Weist das darauf, daß Lukas ein (vielleicht lokalisierter) Spruch vorlag, daß Gott allein das Ende der Drei-Tage-Tätigkeit Jesu und sein Sterben bestimme? Stilistisch lukanisch sind V.31 und die Wendung „am folgenden Tag“ (Apg 20,15; 21,26). Der Prophetentod in Jerusalem ist ihm wichtig (s. zu 3,15-20 Schl, und A. nach 22,30). Für ihn gehört auch der Gang ans Kreuz zum „Wandern“ (Lk und Apg 88mal) Jesu. So hat er V. 31-33 stilistisch redigiert, wenn nicht ganz geschaffen. Historisch könnte die Warnung im Auftrag des Herodes erfolgt sein, der Jesus 31 gern losgeworden wäre. Auch nach Mk 3,6 vereinen sich Pharisäer und Herodianer als Gegner Jesu. Aber Lukas deutet nichts davon an, versteht den Hinweis also eher als Freundesdienst. Herodes und Jerusalem (V.34) wollen den Tod Jesu, während die Pharisäer und Römer (s. zu V.35) zwar im Zwielicht stehen, aber jedenfalls nicht einfach Gegner Jesu sind. Gewiß bilden V.34 f. ursprünglich das Ende einer Rede gegen die Pharisäer. Aber nach Lukas sind viele von ihnen für Jesus offen. Sie laden ihn ein: 7,36; 11,37; 14,1. Gegenüber Markus wird ihre Reaktion entweder gemil­ dert (6,11) oder weggelassen (11,15 f.; 16,18 [vgl. Mk 10,2]; 20,19 f.); nur 5,17.21 fügt er sie zu den Schriftgelehrten hinzu. Q nimmt er weniger antipharisäisch auf als Matthäus. In S oder lukanischer Redaktion sind kritische Stimmen besonders gegen ihre Lehre gerichtet: 7,30.39; 11,37-44.53 f.; 12,1; 14,3; 15,2; 17,20; 18,10-14; 19,39. Es gibt aber auch christliche Pharisäer (Apg 15,5; vgl. 5,34), und Paulus wird als echter Pharisäer geschildert (s. zu Lk 16,14-18 Schl.). Damit hat Lukas etwas Richtiges bewahrt. Obwohl Pharisäer in der Gerichtsbehörde saßen, erscheinen sie mit Ausnahme von Mt 27, 62 (und Joh 18,3) nie in der eigentlichen Passionsge­ schichte. Nicht sie sind dort die treibenden Kräfte, sondern die sadduzäische Ober­ schicht, der besonders an einem politischen Modus vivendi mit Rom gelegen war. Die Pharisäer, die sich bei Sabbatkonflikten und Diskussionen über Kultregeln gewiß auch schon mit Jesus auseinandersetzten, wurden in die Rolle der eigentlichen Feinde Jesu gedrängt, weil sie später lehrhaft festlegten, was jüdische Praxis war und daher mit der Jesusgemeinde in Konflikt kamen, besonders nach der Zerstörung Jerusalems. Geschichtlich gesehen waren beide Gruppen gezwungen, ihre Eigenart mit größter Strenge festzuhalten, wollte das Judentum nicht aufgehen in der Vermi­ schung aller Religionen oder die Jesus-Gemeinde nicht einfach jüdische Sekte blei­ ben. „Fuchs“ ist Bild für den unbedeutenden oder listigen Menschen (Bill.). Wie 7,21 32 sind Dämonenaustreibungen und „Heilungen“ (Hauptwort und Verbum fast nur lukanisch, also von ihm zugefügt) als Ausdruck der gottgegebenen Vollmacht Jesu zentral. In Jerusalem finden sie (außer 22, 51) nicht mehr statt. Die drei Tage sind die von Gott bestimmte Zeit; das ist die große Freiheit Jesu, daß alles Handeln wie auch das dafür gesetzte Ende Gott gehört. Das besagt „vollenden“. Dessen Wortstamm ist © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 13,31-35: Jesu Geschick - Prophetengeschick

derselbe wie in „vollbringen“ und mag für Lukas schon andeuten, daß das Leben Jesu in Erfüllung des Gotteswillens auf die Erhöhung und die Vollendung des Gottes­ 33 heils hinzielt. Gottes Zwang steht über seinem Wandern (s. zu 9,51). Es ist nicht seinem Belieben oder der Angst vor Herodes anheimgestellt. Daß Jerusalem Prophe­ ten tötete, ist selten berichtet (Jer 2 6 , 2 0 - 2 3 ; vgl. 2,30; 2.C hr 2 4 , 2 1 ; vgl. l.Kön 18,4.13; 19,10.14; Neh 9,26). Doch wird das in Legenden erzählt (s. zu Mt 23,29 f.), und jüdische Sündenbekenntnisse haben dies als typische Haltung Israels gesehen (s. zu Lk 11,37-12,1 Sch.). Dieser Reihe der Propheten ordnet sich Jesus ein, freilich als der sie endgültig abschließende (s. o.Einl.). In einer unerhörten Weise übernimmt Jesus diesen Satz jüdischer Schuldbekenntnisse und damit sein Prophe­ tenschicksal. Aber eben dies ist ja nicht einfach Verdammung eines ungehorsamen, uneinsichtigen Volkes, sondern Angebot eines Heils, in dem Letzte Erste werden können (V. 30). Der Satz vom Prophetentod ist Lukas überaus wichtig: Jerusalem (90mal bei Lukas, 49mal sonst im Neuen Testament) ist durch menschliche Schuld 34 und göttliches Handeln über alle Städte der Welt herausgehoben. Lukas verbindet das mit V. 34 f. (s. zu 11,49-51): Nicht nur in, sondern durch Jerusalem wird Jesus 35 sterben. Damit ändert sich ihr Sinn entscheidend. Der Segensspruch (35) steht ja jetzt an anderer Stelle als M t 23,39. Er ist der Antwort an Pharisäer im Hoheitsgebiet des Herodes eingegliedert und wird 19,38 wieder ertönen. Daß diese Jesus „nicht mehr sehen“, bezieht sich so nur auf die Zeit bis zum Einzug vom Ölberg her (19,38) und wird daher auch nicht wie Mt 23,39 durch „von jetzt an“ als endgültige Zeit der Krisis bezeichnet. So deutet Lukas das „verlassene Haus“ auf den Tempel (vgl. 11,51), in den Jesus 19,45 einzieht. Er läßt daher die Pharisäer auch 19,39 wieder auftreten, freilich als die, die den Ruf der „großen Menge der Jünger“ (so nur Lk 19,37) ab­ lehnen. Dann wird die Entscheidung fallen. Bis dahin trennen sich die Wege Jesu und seiner Warner; bis dahin bleibt ihnen noch eine Frist zur Umkehr (vgl. V. 1-9); nach­ her wird das Ende Jerusalems kommen. Für Lukas ist es seine Eroberung durch die Römer (vgl. zu 19,39-44 Schl.). Ein ursprünglich auf die Endzeit bezogenes Wort (so Mt 23,39) sieht Lukas also im Geschick Jesu in Jerusalem erfüllt, das seinerseits auf den Fall Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. hinweist. Das heißt nicht, daß ihm die Endzeit unwichtig wäre (s. A. nach 21,38), wohl aber, daß ihm die dem Menschen in seiner geschichtlichen Situa­ tion gegebene Entscheidungszeit wesentlich ist. Darum ist auch der Fall Jerusalems Warnung für seine Leser. Beides, die Ausrichtung auf das Leben als Zeit des geistli­ chen „Ringens“ (V.24) und das Verständnis Israels als Warnung vor aller Selbstsi­ cherheit, die im letzten Gericht scheitern wird, prägt ja V. 2 2 - 3 0 , mit denen V.31 das folgende Wort eng verknüpft. Die Pharisäer werden daher nicht verteufelt; sie sind Menschen, die nichts gegen Jesus haben, aber doch froh sind, wenn er ihnen mit seiner Radikalität, die sich so gar nicht anpassen kann, nicht allzu nahe kommt (31). Ihnen entgegen setzt Lukas die Kompromißlosigkeit, mit der Jesus sich Gott unter­ stellt und darin mit den Menschen, besonders den notleidenden, solidarisch wird. Dabei darf das nicht dem Mißverständnis einer bloßen Begeisterung anheimfallen. Es ist schon bestimmt durch jenen „dritten Tag“, und weil Jesus darum weiß, kann er wirklich intensiv leben (32) und Gottes Solidarität mit dem Menschen bis ins © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

E Lk 14,1-15,32: Überblick

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Letzte durchhalten. Das ist von Propheten vorgebildet, und Jesus wird V.33 so ge­ nannt. Prophetischer Rede entsprechen auch Partizipial- und Frageform in V.34f. wie die Folge von Anruf - Scheltwort - Drohwort - Hinweis auf Gottes Treue Weissagung. Aber die Botenformel „So spricht der Herr“ fehlt in Jesu Worten wie ein entsprechender Hinweis in seinen Zeichen. Er spricht und handelt in eigener Autorität und wird so zum Bußruf und zur Heilsverkündigung zugleich, weil er zeigt, wie es um den Menschen steht und wie es um Gott steht, der seine Liebe zum Men­ schen bis ans Kreuz durchhält. Für Gott ist kein Platz in der Welt (2,7) und doch ist er unterwegs zu ihr (13,33)! Erschreckend daran ist, daß es ausgerechnet die Stadt der Frommen ist, die das exklusive Vorrecht hat, Propheten zu töten, weil sie, mehr als die Pharisäer von V.31, meint, über Gott genau Bescheid zu wissen. Wo aber der lebendige Gott sein Haus verläßt, da stehen zwar noch prächtige Tempel- und Kir­ chenmauern (vgl. 21,5), aber der ganze religiöse Betrieb mit allem theologischen Bescheidwissen täuscht nicht darüber hinweg, daß sie leer, „von allen guten Geistern verlassen“ sind, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie zu Ruinen zerfallen (35) und nur noch von kunsthistorisch interessierten Touristen besucht werden, deren Führer als schreckliches Echo den Satz „Der Tempel des Jahwe hier!“ (Jer 7,4) wie­ derholen. In Jesus hingegen kommt Gottes lebendige Gegenwart (s. zu Mt 23,37) über Jerusalem, auch hier also nicht über eine von Jesus zu gründende Sonderge­ meinde. Darum ist die Warnung vor kommendem Gericht zugleich dringlichste Einladung Gottes. Sie ergeht an den starr gewordenen Frommen wie an die zweifelnd beiseitestehenden Pharisäer und an den Halbjuden Herodes, aber damit zugleich an (halbe und ganze) Jünger Jesu. Für sie alle gibt es Zeiten, in denen sie Jesus nicht mehr sehen werden; aber es gilt bereit zu sein, bis er sich wieder als der Lebendige erweist.

E Die Freude der Umkehr 14,1-15,32 Mit 13,1-21 umrahmt der Abschnitt die ganz auf Jerusalem ausgerichtete Mitte 13,22-35. Wie 13,10-21 wird in Tat (14,1-6, Sabbatheilung wie dort) und Wort (14,7-14, Gleichnisse wie dort) das kommende Gottesreich (13,18.20/14,14.15) ausgerufen. Wie dort führt das zur Scheidung (13,17/14,6). Stand in 13,1-9 der Umkehrruf an Israel voran, so folgt er hier in 14,15-15, 32, freilich in außerordentli­ cher Ausweitung, die zeigt, wie wichtig die Tatsache ist, daß die eigentlich nicht Erwarteten umkehren und kommen (14,15-24; 15,1-32). 15,1 setzt neu ein: doch sind die Zöllner und Sünder die Illustration derer, die 14,21.23, die Pharisäer und Schriftgelehrten derer, die 14,24 genannt sind. Mahlgespräche als Ruf zum Reich Gottes: 1. Sabbatheilung 14,1-6 1 Und es geschah, als er in das Haus eines Vorstehers der Pharisäer kam, um am Sabbat zu essen, da waren sie dabei, ihn zu belauern. 2 Und siehe, da war ein was­ sersüchtiger Mensch vor ihm. 3 Und Jesus antwortete und sprach zu den Geset-

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Lk 14, 1-6: Befreiung am Sabbat

zeskundigen und Pharisäern und sagte: Ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen oder nicht? 4 Sie aber schwiegen. Und er faßte ihn an, heilte ihn und entließ ihn. 5 Und er sprach zu ihnen: Wessen Sohn oder Ochse unter euch fällt in einen Brunnen und er zöge ihn nicht sofort heraus am Sabbattag? 6 Und sie vermochten ihm darauf nichts zu entgegnen. V. 1-24 sind in den Rahmen eines Gastmahls gestellt, vgl. 7,36; 10,38; 11,37; auch 5,29. Diese bei Plato und Plutarch wie im hellenistischen Judentum (Arist. 187-300) verwendete literarische Form, zu der V.7-14, die wie Sprüche jüdischer Weisheit klingen, gut passen, dürfte, wie die lukanischen Wendungen in V. 1.7.12.15 zeigen, von Lukas stammen. Da aber außer V. 15 nur Jesus redet, ist ihm wohl das Herrenmahl als Ort der Lehre Jesu (22,24-30; Joh 13-16) Vorbild für die Form (vgl. zu V.24 und Apg 20,7; 2,42). Auch der stark auf die Endzeit ausge­ richtete Ton der Freude (V. 11.14.16) paßt dazu. Da V.2-6.8-14 (ohne 12a). 16-24 Unlukanisches enthalten, sind sie vermutlich schon vor Lukas zusammengestanden; 1-6 darum hat er auch die Heilung (1—6) in die Mahlsituation hineingenommen. Wie eine Wundergeschichte beginnen V. 1 f. mit der Einführung des Helfers und des Notlei­ denden. Doch werden schon Gegner erwähnt. Ungewöhnlich ist, daß Jesus die grundsätzliche Frage stellt und damit die Gegner zum Schweigen bringt (3.4a), bevor die Heilung geschieht (4). Erst dann folgen das Argument und die Aporie der Gegner (5f.). Die Geschichte ist also durch das überwiegende Interesse an der Grundsatzfrage umgeformt; das zeigt, worum es geht (vgl. 13,10-17 Schl.). Stili­ stisch sind V. 1.2a (in Erinnerung an 6,6f.?).4.6 deutlich lukanisch; die Frage V.3 und das Argument V.5 sind mit Mt 12, l0f. (s.d.) verwandt. Standen sie als Jesus­ wort mit kurzer Einleitung (das Wort für „vor“ in V.2 b ist unlukanisch) und einer Notiz von der Heilung schon mit V.7-24 zusammen, so daß erst Lukas eine eigent­ liche Geschichte, die freilich Dublette ist, daraus formte? 1

Der Pharisäer sieht wohl in Jesus einen seinem eigenen Denken nahestehenden Lehrer. Vorbeireisende Rabbinen werden oft eingeladen, besonders zum Mittags­ mahl (11,37; wörtlich: „zum Brot-Essen“, s. zu V. 15) nach dem Sabbatgottesdienst 3 (Bill.1589L, 611-615; II 202f.). Sonst ißt man nur morgens und abends. Die Frage wird nicht theoretisch gestellt; Jesus fragt immer in ganz bestimmten Situationen, was hier und jetzt der Wille Gottes ist. Die auffallende Wendung „Sohn oder (auch nur ein) Ochse“ (s. zu Mt 12,9-14) ist von Abschreibern vielfach korrigiert worden. 4 Zu Feier und Fest gehören für Jesus also auch die Belasteten und die ihnen widerfah­ 6 rende Befreiung. Man kann offen sein für Jesus (vgl. zu 13,31), gern über seine Lehre diskutieren und doch an ihm vorbeileben, weil man in einer praktischen Frage Grundsätze nicht aufgeben will und darum schweigt. Dabei provoziert Jesus seinen Gastgeber doch nur, weil er ihn für das einbrechende neue Handeln Gottes öffnen möchte. Die Sabbatfreude Gottes will ihn befreien von seinem Moralismus, der ihm den Weg zum leidenden Bruder versperrt.

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Lk 14,7-14: Tischordnung im Gottesreich

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2. Vom kommenden Reich geprägtes Leben 14, 7-14 7 Er

sagte aber zu den Eingeladenen ein Gleichnis, da er beobachtete, wie sie sich die ersten Tischplätze aussuchten und sagte ihnen: 8 Wenn du von jemandem zur Hochzeit eingeladen wirst, lege dich nicht auf den ersten Platz nieder, damit nicht ein Würdigerer als du von ihm eingeladen ist 9 und der, der dich und ihn eingeladen hat, zu dir sagen wird: Mach dem Platz, und du dann anfängst, mit Schanden den letzten Platz einzunehmen. 10 Sondern wenn du eingeladen bist, geh und leg dich auf den letzten Platz, damit wenn der, der dich eingeladen hat, kommt, er zu dir sagen wird: Freund, rücke hinauf. Dann wirst du vor allen Eingeladenen Ehre haben. 11 Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und der sich selbst erniedrigt, erhöht. 12Er sagte aber auch zu dem, der ihn eingeladen hatte: Wenn du ein Mittag- oder Abendessen veranstaltest, ruf weder deine Freunde noch deine Brüder noch deine Verwandten noch reiche Nachbarn, damit sie dich nicht wieder einladen und dir Gegenrecht widerfährt. 13 Sondern wenn du eine Einladung veranstaltest, lade Arme, Krüppel, Lahme, Blinde ein, 14 und heil dir, weil sie dir nicht vergelten können. Es wird dir aber vergolten werden in der Auferstehung der Gerechten. Die beiden Worte sind parallel gebaut: „Wenn du, ..., dann (verneinte Aufforde­ rung) ..., damit nicht ...; sondern wenn du ..., dann (positive Aufforderung mit anderem Wort) ... “. Beidemal weisen zwei Verben in Zukunftsform auf das Resultat im irdischen und im ewigen Leben. Dies und die einleitende C harakterisierung als Gleichnis zeigen, daß es sich nicht nur um Anstandsregeln handelt. V. 11 erscheint auch 18,14 und Mt 23,12 (vgl. Jak 4,6; l.Petr 5,5; l.C lem.30,2; Ign. Eph.5,3); er ist offenbar ein bekannter, oft zitierter Satz gewesen. Zu V. 13 s. zu V. 21, zu 7-10 s. zu Mt 20,20-28 Schl. Die Tischordnung war schon damals ein heikles Problem, und man ging später 8-10 vom Kriterium des Ansehens oder Vermögens zu dem des Alters über, um nieman­ den zu beleidigen. So erscheinen V.8-10 als kluger Ratschlag für den, der auf beson­ dere Ehrung erpicht ist: „Halte dich fern von deinem Platz zwei oder drei Sitze (man soll die Bescheidenheit auch nicht übertreiben!) und warte, bis man dir sagt: Komm herauf ...“ (Bill.; ähnlich Spr 26,6f.). Aber V. 11 und das auffällige „heil“ V. 14f. (s. 11 zu 12,37f.) zeigen, daß Jesus damit in eine ganz andere Tiefe hineinleuchten will. Ebenso scheinen V. 12-14 eine rein sozial begründete Regel zu sein (zu „Lahmen 12-14 und Blinden“ vgl. zu Mt 21,14); aber wiederum zeigt die Aufnahme der Begriffe „Vergeltung“ / „vergelten“ (12.14a) im Schlußsatz, daß Jesus noch etwas Umfas­ 14 senderes im Sinn hat. Von Auferstehung (nur) der Gerechten spricht auch 20,36 (s.d.); Jos., Altert. 18,14 (vgl. 2.Makk.7,9). Anders als Dan 12,1-3 ist sie nur Heilsereignis (ebenso 20,35), nicht Erweckung zum Gericht (s. zu Mk 12,18-27 Schi, und A. zu Mk 5,21-43). Aber man darf in diesem Ausdruck keine dogmatische Belehrung darüber finden, so wenig wie umgekehrt aus dem Bild von 16,23 (s.d.). Jesu Worte wären also völlig mißverstanden als Aufforderung zu einer christlichen „Demut“, die mit ihrem „Ich bin nichts“ immer noch nur um sich selbst kreist. Sie würde ja nicht frei für den andern, sondern erwartete heimlich nur den Widerspruch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 14,7-14: Befreiung zu wahrem Menschsein

und um so größere Ehrung. Ohne Selbstcinschätzung gibt es keine wahre Schätzung des andern. Ebensowenig geht es nur um ein etwas utopisches Überspringen gesell­ schaftlicher Grenzen für die kurzen Stunden eines Festes, sondern um den Ausbruch aus dem gewohnten, komfortablen Kreis. Daß Jesus seine Hörer davon befreien möchte, sich überall durchsetzen und in den Vordergrund drängen oder den Gewinn berechnen zu müssen, kommt der Sache schon näher. Nicht mehr mit seinem Reden oder auch Schweigen, mit seiner Leistung oder mit seinem gesellschaftlichen Status imponieren zu müssen (um dann doch wieder übertrumpft zu werden), nicht mehr immer gleich denken zu müssen „Die könnten auch einmal etwas für mich tun“, -sondern bedingungslos großzügig sein zu dürfen, das wäre in der Tat Befreiung zu wahrem Menschsein. Da ließe sich wirklich mit andern feiern und in der Freude einer neuen Zeit leben; da könnte man sich einordnen, ohne daß es so wichtig wäre, ob man auf dem zweiten oder zehnten Platz sitzt oder wo man lahm und blind ist. Erst die Schlußsätze V. 11.14 lassen diese Mahnungen transparent werden. Sie besagen, daß es einzig Gott ist, der uns Identität, Ehre und Platz schenkt. Daß Jesus sie sagt, ist nicht gleichgültig; er ist selbst Gast, auf Einladungen anderer angewiesen (V. 1) und solidarisch mit all denen, die das ebenso sind (Mt 25,35). Damit befreit er vom Zwang, überall obenanstehen, sich mit anderen vergleichen und daraus seinen Eigenwert beziehen zu müssen (V. 8), und macht uns zu Menschen, bei denen es einem wohl werden kann wie den Zöllnern bei Jesus. Er ist zugleich Gastgeber, der die Außenstehenden und Nichtsseienden einlädt (15,2; vgl. 14,21) und damit Frei­ heit zu einem sinnvollen Leben für andere schenkt (V. 13), in dem der Hilfsbedürftige oft dem Helfer mehr schenkt als umgekehrt. Das Tischgebet „... sei du unser Gast“ bekommt seinen tiefen Sinn (vgl. auch 1. Mose 18,2-5 und Hebr 13,2) von dem Mahl her, bei dem Jesus Tischherr und niedrigster Diener zugleich ist (22,15.27) und damit seine Jünger von einem Denken befreit, das durch einen Raster von gesell­ schaftlichen, moralischen oder religiösen Stufen beherrscht ist und so den Menschen dem höher wie dem niedriger Gewerteten gegenüber verschließt (vgl. Phil 2,5-11). Das soll freilich so irdisch und nüchtern eingeübt werden, wie es V. 8-10.12-14 a darstellen. 3. Reich Gottes als Gastmahl 14,15-24, vgl. Mt 22,1-10 15 Als

einer von denen, die mit ihm zu Tische lagen, das hörte, sprach er zu ihm: Heil dem, der im Reiche Gottes Brot ißt. 16 Er aber sprach zu ihm: Ein Mensch veranstaltete ein großes Gastmahl und lud viele ein. 17 Und er sandte seinen Knecht zur Stunde des Gastmahls zu den Geladenen zu sagen: Kommt; denn es ist schon bereit. 18 Und alle fingen auf einmal an, sich zu entschuldigen. Der erste sprach zu ihm: Ich habe einen Acker gekauft und muß unbedingt hin­ ausgehen, ihn zu besichtigen; ich bitte dich, laß mich entschuldigt sein. 19 Und ein anderer sprach: Ich habe fünf Paar Ochsen gekauft und gehe hin, sie zu prü­ fen; ich bitte dich, laß mich entschuldigt sein. 20 Und ein anderer sprach: Ich habe eine Frau geheiratet und kann darum nicht kommen. 21 Und als der Knecht zu ihm kam, meldete er das seinem Herrn. Da wurde der Hausherr zornig und sprach zu seinem Knecht: Gehe schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 14,15-24: Analyse

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Stadt und bringe die Armen und Krüppel und Blinden und Lahmen hierher. 22 Und der Knecht sprach: Herr, es ist geschehen, was du angeordnet hast, und ist noch Platz. 23 Und der Herr sprach zum Knecht: Gehe hinaus an die Wege und Zäune und dränge sie zu kommen, damit mein Haus gefüllt werde. 24 Denn ich sage euch, daß keiner jener Männer, die eingeladen waren, mein Gastmahl kosten wird. Das anschließende Gleichnis wird in lukanischer Manier durch den Einwurf eines Tischgenossen hervorgerufen (s. zu 11,1). Dadurch wird der Bezug des Vorangehen­ den und Nachfolgenden auf das Gottesreich (auch Mt 22,2) betont; aber auch ge­ sagt, daß gläubige Sehnsucht nach Gottes Endzeit nicht genügt, wenn darüber ver­ gessen wird, daß die Einladung jetzt und hier angenommen werden muß, daß also die entscheidende Frage nicht die ist, wann das Reich kommt, sondern wer daran teilhaben wird (s. zu 19,11-27). „Brot essen“ (so wörtlich, wie 14,1 eine ganze Mahl­ zeit bezeichnend) mag auf die durch das Brechen des Brotes und das Dankgebet begründete Tischgemeinschaft anspielen (Lk 24,30; Apg 2,46 usw.). V. 16-24 sind im ganzen einfacher als Mt 22,1-10 (s.d.). Neben Grundbesitz und Arbeit tritt jetzt auch die Sexualität als Hinderungsgrund dazu, ohne daß man lange diskutieren müßte, warum dem Eingeladenen die Gesellschaft seiner Frau lieber ist als die beim Festmahl (vgl. 5.Mose 20,5-7 und zu Lk 17,26-33). Sollte der Mt 22,5 inhaltlich fehlende und anders als Lk 14,18f. formulierte V.20 in der Grundform noch gefehlt haben, hätten die Eingeladenen ursprünglich vielleicht später schon kommen wollen, nur nicht gerade jetzt. Dann wären Menschen getroffen, denen zwar Gottes kom­ mendes Endheil wichtig ist, die aber nicht sehen, daß es jetzt in Jesus auf sie zu­ kommt. Sicher gilt das jedoch nicht mehr für den heutigen Text, der die grundsätz­ liche Ablehnung schildert und dem die Einladung, nicht die Auseinandersetzung mit Gegnern entscheidend ist. Lukas selbst hat wahrscheinlich die mit V. 13 identische Liste der Elenden in V.21 b (auch „viele“ in V. 16?) eingefügt, ja vielleicht dadurch erst eine erste Einladung innerhalb der Stadt (Israel) von einer zweiten vor den Toren draußen (Heiden) unterschieden (s. zu Mt 22,8-10). Einige unlukanische Wörter (schnell, hierher, und er sprach, Platz, 23b.24a) hätten dann in der ursprünglich einfachen Einladung gestanden und das Gleichnis hätte das bei jedem Hörer mög­ liche Schwanken zwischen Annahme und Ablehnung (V.24) besiegen wollen, wäh­ rend Lukas es konkret (s. zu 13,9) auf Ablehnung Jesu und darauf folgende Juden­ und Heidenmission bezogen hätte (s. zu 13,28-30). Daß Lukas nur im Sinn von V. 13 die Reichen oder die von Verfolgung noch Verschonten mahnen wollte, ist schon wegen des Neuansatzes in V. 15 unwahrscheinlich. Außerdem sind Arme und körperlich Leidende für Lukas Bild für alle der Hilfe Gottes Bedürftigen wie die Zöllner und Sünder von 15,1 f. für alle dafür Offenen inner- und außerhalb Israels. Darum ist ihm ihre Heilung durch Jesus und die Gemeinde (Apg 2,43; 3,6f. usw.) Kennzeichen des vollmächtigen Einbruchs Gottes, der die noch viel tiefere Not und Entfremdung des Menschen von Gott und damit von sich selbst heilen will (4,21— 27; 7,21-23; s. zu 10,17). Auch V.21a, in dem der „Mensch“ und „Hausherr“ (V. 16.21b) „Herr“ genannt wird, enthält lukanische Sprache. Vom „Nötigen“ (unlukanischer Ausdruck) ist kaum deswegen die Rede, weil man im Orient zuerst © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 14,15-24: Offenes Haus

ablehnen muß (l.Mose 19,2f.) oder weil ein heilsgeschichtliches Muß (s. zu 13,33) dahinterstünde, was später sogar Zwangsbekehrungen mit Schwert und Feuer be­ 17 gründen sollte. Nur die Dringlichkeit der Einladung ist unterstrichen, wie auch durch 24 den Hinweis auf „die Stunde des Mahles“, da „alles bereit ist“, und den auch für das Gemeindemahl (Apg 20,11) verwendeten Ausdruck „kosten“; schwerlich ist dabei an Leckerbissen gedacht, die man Verhinderten gelegentlich zukommen ließ. So ist das Gleichnis weit offene Einladung. Sie ist das eigentliche Zentrum. Das ist unterstrichen durch die zwar denkbare, aber alles zu Erwartende sprengende Einla­ dung in Stadt und Land. Die im Schlußvers Gewarnten haben nichts Böses getan; sie haben nur nicht gemerkt, wie klein ihre vordergründigen Beschäftigungen gegenüber der unbegreiflichen Größe der Einladung wurden. Sie ähneln damit dem älteren Sohn 15,25-32 und den Zeitgenossen Noas und Lots 17,27f. So kann Moralisches wie Unmoralisches wie rein Alltägliches zum Fluch werden, wenn man sein Gutsein oder Bösesein oder Normalsein wichtiger nimmt als den Herrn. Er will nämlich in all das hineinbrechen und Böse wie Gute (Mt 22,10), Arme und Kranke wie auch sich auf normalem Lebensweg Befindende (Lk 14,21.23) rufen, weil er an nichts so Freude hat wie daran, daß seine Geschöpfe an seinem Fest teilnehmen und sein Haus füllen. Durch die direkte Beziehung auf die Annahme des Evangeliums durch Juden und Heiden unterstreicht Lukas, daß es nicht nur um Theorie, sondern um praktische Entscheidungen geht. Die Deutung von V.23 auf die Heiden wird vielleicht dadurch gestützt, daß hier alle eingeladen zu sein scheinen, nicht nur Arme usw. (V.21). Der Gefahr, die Verworfenen nur unter den ablehnenden Juden der Zeit Jesu zu suchen (s. zu V.34 f.), ist dadurch gewehrt, daß Juden und Heiden im Festsaal sitzen, aber auch durch V. 12f., wonach Gottes gutes Tun am Menschen in dessen sozialem Handeln weitergehen muß, und durch V. 25-33 mit ihren radikalen Forderungen. Außerdem ist an die ursprüngliche Form zu erinnern, in der beide Möglichkeiten bei jedem Hörer gesehen werden. Überlegte Jüngerschaft 14,25-35 25 Es

lief aber eine große Menge zusammen, und er wandte sich um und sprach zu ihnen: 26 Wenn einer zu mir kommt und nicht seinen Vater und seine Mutter und seine Frau und seine Kinder und seine Brüder und seine Schwestern haßt, ja auch sein eigenes Leben, kann er nicht mein Jünger sein; 27 wer nicht sein Kreuz trägt und hinter mir herkommt, kann nicht mein Jünger sein. 28 Denn wer unter euch, der einen Turm bauen will, setzt sich nicht zuerst hin und berechnet die Kosten, ob er hat, es zu vollenden, 29 damit nicht etwa, wenn er das Fundament gelegt hat und nicht fertig machen kann, alle, die es sehen, anfangen über ihn zu spotten, 30 indem sie sagen: Dieser Mensch fing an zu bauen und konnte nicht fertig machen? 31 Oder welcher König, der einem andern König im Krieg begeg­ nen will, setzt sich nicht zuerst hin zur Beratung, ob es möglich ist, mit zehntau­ send dem entgegenzutreten, der mit hunderttausend gegen ihn heranrückt? 32 Wenn aber nicht, dann schickt er, solange der noch fern ist, eine Gesandtschaft und bittet um Frieden. 33 So also kann jeder unter euch, der nicht allem absagt, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 14,25-35: Analyse

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was ihm gehört, nicht mein Jünger sein. 34 Nun ist das Salz gut, wenn aber das Salz fade wird, womit soll es gewürzt werden? 35Es ist weder für das Land noch für den Mist tauglich; so wirft man es fort. V.25 gibt die Situation an. Es folgen zwei parallele Sätze („Wenn einer zu mir kommt und nicht ...“ / „Wer nicht ...“ (26f.), die durch V.33 („Jeder, der nicht ...“) zusammengefaßt werden (von Lukas selbst?). Alle drei enden gleich. Dazwi­ schen sind zwei als Fragen formulierte Gleichnisse eingeschoben; das erste ist ein einziger Satz, mit „Wer unter euch ...“ (s. zu Mt 12,11) eingeleitet, das zweite for­ muliert nach dem Fragesatz noch die andere Möglichkeit des Handelns (die freilich Jesus gegenüber kaum in Frage kommt). V.26f. stehen ähnlich in Mt 10,37f. (s.d. und zu Mk 8,34), V.34f. in Mt 5,13 (s.d.), beidemal aber in anderem Wortlaut. Es sind also wohl Einzelworte, die hier zusammengestellt sind, um die Dringlichkeit der Entscheidung für Jesus herauszustreichen, die auch das gegenüber V.27 und 33 überschießende „zu mir kommt“ in V.26 betont. Sie haben schon im Laufe der Tra­ dition aufeinander abgefärbt. In V.26 ist am Ende zugefügt „ja auch sein eigenes Leben“, weil V.27 in Mk 8,34f. mit dem Satz vom Verlieren „seines eigenen Le­ bens“, der in Joh 12,25 in der Form „sein eigenes Leben hassen“ erscheint, zusam­ mensteht. Da die Gleichnisse die Zeit vor dem Beginn eines Unternehmens schildern, läßt Lukas sie (im Anschluß an V. 21.23!) an das Volk gerichtet sein, das sich noch nicht zur Jüngerschaft entschlossen hat. V.34 ist von Mk 9,50 beeinflußt, aber auch wie V.35 von Mt 5,13 (Q). „Eine große Menge“ ist lukanisch (griech. Plural wie 5,15; Singular: 7,11; 8,4; 9, 37), in Erinnerung an V.21.23 formuliert. Die Aufteilung der Verwandten entspricht Mk 10,29, nurdaß wie Lk 18,29 auch die Frau genannt wird. „Hassen“ ist nicht emo­ tional verstanden, sondern, wie z.B. l.Mose29,30f.; 5.Mose21,15, als sachlich radi­ kale Nachordnung, vielleicht sogar als „Verlassen“. Der kleine Mann, der einen Turm in seinem Weinberg baut (Jes 5,2), kann das einfach bleiben lassen, um den Spott der Nachbarn zu meiden, der große König müßte sich dem Gegner unterwer­ fen (2.Sam 8,10; Test.Jud. 7,7). Die Fälle liegen also nicht gleich; sie könnten auf­ grund von Spr 24,3—6 zusammengestellt sein. Was dort von der Weisheit gesagt ist, daß sie ihr Haus klug baut und ihren Krieg wohl führt, könnte in einer Predigt auf Gott oder auf Jesus bezogen worden sein (A. nach Mt 23,39). Dann wäre es Auffor­ derung, dem nachzufolgen und dem zu trauen, der sein Haus schon gebaut, den Sieg schon errungen hat. Doch ist davon im heutigen Text nichts gesagt. Noch weniger kann gemeint sein, daß wer sich Jesus anschließt, im Gegensatz zu Bauer und König auf alle den Erfolg sichernden Mittel verzichten muß; denn V.33 schließt mit „So also ...“ an. Die Gleichnisse erklären demnach, daß wer Jesus nachläuft wie das Volk, wohl überlegen muß, ob er zur ganzen Nachfolge bereit ist. Im zusammen­ hang mit V.28-32, die die Lage vor der Entscheidung für Jesus beschreiben, muß auch V.33 an das ganze Volk gerichtet sein, obwohl er die radikalste Möglichkeit von Jüngerschaft im Auge hat. Wie in V.26 f. ist die Bereitschaft dafür von allen gefordert, auch wenn sie nicht für alle Wirklichkeit wird (vgl. zu 6,20a). Freilich spricht schon Lk 9,23 vom dauernden Hinter-Jesus-Hergehen, nicht vom einmaligen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 14,25-35: Radikale Nachfolge

Entschluß, das zu tun (Mk 8,34), und der den ganzen Abschnitt prägende Refrain heißt: „... kann nicht mein Jünger sein“ (nicht: werden!). So gilt Jesu Warnung auch 34.35 den Lesern, die schon zur Gemeinde gehören. Das wird durch V.34f. unterstrichen: Salz sein bezeichnet Jüngerschaft (Mt 5,13). Schärfer als die Parallelen besagt daher V.35, obwohl die genannte Verwendung des Salzes nicht recht zu erklären ist, daß ein Jünger, der nicht wirklich Jünger ist, nutzloser ist als der, der sich Jesus nie ange­ schlossen hat. Das sichert ähnlich wie Mt 22,11-14 (s.d.) das Gleichnis vom Gast­ mahl gegen das Mißverständnis, es nur auf Jesu ungläubige Zeitgenossen zu bezie­ hen (s. zu 15-24 Schl.). Liebe fordert den Geliebten ganz. Darum ist Gott schon im Alten Testament ein so eifersüchtiger Gott und fordert den, der sein Priester sein soll, ebenso radikal (5.Mose 33,9; auch 4Qtest 15-17 zitiert). Wer sich dieser Liebe aussetzen will, überlege sich, worauf er sich einläßt. Lukas denkt in V.33 besonders an den Besitz. Die notwendige Ausrüstung zur Nachfolge besteht gerade darin, nichts zu haben. Das ist so wesentlich wie die Mittel zum Bau des Turmes und zur Kriegsführung. Freilich weiß auch Lukas, daß man einmal seine Familie verlassen (26), ein andermal sie mit in die Gemeinde hineinführen (Apg 16,33; l.Kor 7,12; Kol 3,18-21), einmal das Kreuz tragen (27), ein andermal sich Speise und Trank und Kleidung schenken lassen (12,22-32; 14,1), einmal auf alles verzichten (33), ein andermal seinen Besitz sich selbst und anderen dienen lassen soll (5,29; 7,37; 10,38; 22,10-12). Sicher sind nicht alle in derselben Weise zur selben Form der Nachfolge gerufen. Ebenso sicher ist eine völlig verbürgerlichte Jüngerschaft unmöglich, in der es nur noch das Stehen­ bleiben beim Alten gibt und nie das radikale Aufgeben lebendig wird.

Der suchende Hirte und die suchende Frau 15,1-10, vgl. Mt 18,12—14 'Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, ihn zu hören, 2 und die Pha­ risäer und Schriftgelehrten murrten und sagten: Der nimmt Sünder an und ißt mit ihnen. 3 Er sprach aber zu ihnen dieses Gleichnis und sagte: 4 Welcher Mensch unter euch, der hundert Schafe hat und eines von ihnen verliert, läßt nicht die 99 in der Wüste und geht dem Verlorenen nach, bis er es findet? 5 Und wenn er es gefunden hat, legt er es auf seine Schulter voll Freude 6 und, wenn er ins Haus kommt, ruft er die Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir, weil ich mein verlorenes Schaf gefunden habe. 7Ich sage euch, so wird Freude im Himmel sein über einen Sünder, der umkehrt, mehr als über 99 Gerechte, die der Umkehr nicht bedürfen. 8 Oder welche Frau, die zehn Drach­ men hat, zündet nicht, wenn sie eine Drachme verloren hat, eine Lampe an und fegt das Haus und sucht sorgfältig, bis sie findet? 9 Und wenn sie gefunden hat, ruft sie die Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: Freut euch mit mir, weil ich die Drachme, die ich verloren hatte, gefunden habe. l0 So, sage ich euch, entsteht Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der umkehrt. V.4-10 enthalten zwei an „Murrende“ (V. 1 f., lukanisch, vgl. 5,30 und zu 13,15) gerichtete, parallele Gleichnisse, denen in 11-32 ein weiteres mit offenem Ende © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 15,1-10: Analyse

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folgt. Dreiheit ist auch 9 , 5 7 - 6 2 ; 11,42-52; 1 4 , 1 8 - 2 0 ; 2 0 , 1 0 - 1 2 zu beobachten (vgl. aber zu 19,13). 16,1 wendet sich Jesus wieder an die Jünger. Die ersten zwei Gleichnisse sind völlig gleich gebaut. Auch 14,28/3 1 steht „Wer/Welcher (griechisch gleich) unter euch . . . ? “ (s. zu Mt 12, 11) nur an erster Stelle (15,4/8), und der Wech­ sel zwischen Partizip („der ... hat . . . “ ) und Wenn-Satz (V.4a/8a) ist üblich (s. zu 12,8 f.). In Kleinigkeiten paßt Lukas das zweite Gleichnis seinem Stil besser an. Nur im ersten ist es sinnvoll, vom zurücklassen der 99 zu reden und dies auch V.7 aufzu­ nehmen. Je dreimal ist vom Verlorengehen (V.8-10 nur zweimal) und vom Finden die Rede. Beides gehört selbstverständlich zur Geschichte. Überschießend ist beide­ mal die Freude mit dem zusammenrufen von Freunden und Nachbarn. Sie ist auch in der Deutung allein genannt, also für Erzählung wie Deutung die Pointe. Das erste Gleichnis findet sich auch Mt 18,12f. (s.d.). Der Satz „Ich sage euch: so wird Freude ... sein über einen Sünder, mehr als über 99 ...“ ist stilistisch unlukanisch (vgl. zu 19,40). Er war ihm also schon überliefert, vielleicht aber wie Mt 18,13 innerhalb des Gleichnisses („über das eine [Schaf ]“). „Himmel“ im Singular ist lukanisch, ebenso „gerecht“ und der ganze Relativsatz (beides fehlt V. 10!), und das Umkehren des Sünders ist ihm wichtig. Das paßt freilich nicht zum Gleichnis; denn das Schaf ist ja (im Unterschied zum Sohn V.20) nicht umgekehrt. Die Spannung zeigt, daß die Gleichnisse vorlukanisch (jesuanisch, s. zu Mt 18,10-14) sind. „Gerechte, die der Umkehr nicht bedürfen“ ist nur als Gegenformulierung zu dem Einen, der sich fin­ den läßt, verständlich; denn daß gerade sie tatsächlich zur Umkehr gerufen sind, weiß Lukas wie das dritte Gleichnis; gerade gegen die „Gerechten“ muß ja das Fest Gottes verteidigt werden (V.2.32!). Die Dreiheit entspricht einigermaßen Jer 3 1,1014/15 f./17-20; doch ist dies wohl Zufall. Lukas spricht von „allen“ Zöllncrn und Sündern, um ihre grundsätzliche Hörwil­ ligkeit zu betonen. Ebenso repräsentieren die Pharisäer die grundsätzliche Ablehnung Jesu. Sie werfen Jesus das „Essen und Trinken“ vor wie 5,30 (beide Wendun­ gen so nur bei Lukas), vielleicht weil nach 5. Mose 21,20f. (dazu Bill. IV 608 und Spr 23,20f.) ein Sohn, der „Fresser und Säufer“ (Lk 7,34) geworden ist, gesteinigt werden soll. Dieselbe Stelle ist in der Tempelrolle von Qumran (64,5) zitiert, wo Z . 8 - 1 2 von der Kreuzesstrafe handeln. Alles Folgende wird als ein Gleichnis angese­ hen (s. zu 6 , 3 7 - 4 2 Einl.), also einheitlich verstanden. Wieder formt Jesus V.4 als Frage, die die Stellungnahme des Hörers fordert. Das Verhalten des Hirten wider­ spricht l.Sam 17,20.28. Ist der Zug vom zurücklassen (der V.8 fehlt) zugewachsen, um das Erstaunliche des Handelns Jesu (V.2.7) hervorzuheben? Jüdisch wird Gottes Einsatz für Josef in Ägypten mit einem Mann verglichen, dereinem von zwölf belade­ nen Tieren nachgeht, das in ein heidnisches Lagerhaus hineintrottet (Bill. 1785). Das Tragen auf den Schultern könnte an griechische Orpheusstatuen erinnern; das Bild ist aber schon im 8. Jhdt. v. Chr. in Nordsyrien zu finden und liegt nahe, wenn man die besondere Fürsorge betonen will. Die V.6 und 7 wie 9 und 10 genannte Freude ist (durch Lukas?) schon hier eingeführt. Sie nimmt eine das zu Erwartende weit übersteigende Gestalt an. Die Deutung widerspricht rabbinischem Empfinden, wo­ nach die Gerechtgebliebenen doch höher stehen (Bill.). Ihr Gerechtsein ist auch hier nicht geleugnet, und sie werden nicht verdammt. Zwar steht im Griechischen nur ein © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 15,1-10: Die große Freude Gottes

Wort, das „als“ oder „oder“ heißt. Man muß aber übersetzen „mehr als“ wie in 17,2; Mk 9,43 (wo im Parallelsatz V.42 das „mehr“ steht) und öfters in LXX. So versteht es auch Mt 18,13. In Lk 18,14 kann man fragen, ob man nicht mit „nicht aber“ wiedergeben sollte; aber dort ist im Urtext anders formuliert. Ob es freilich Gerechte gibt, die ihren Anspruch auf Sonderplätze im Himmel aufgeben können, ist eine andere Frage (vgl. Rückblick 1.). Doch will das Gleichnis nur als Botschaft von der großen Freude Gottes (2,10) verstanden sein. 8 V.8 schildert den Einsatz beim Suchen, das im fensterlosen palästinensischen Haus nicht einfach ist, und ähnelt einer jüdischen Auslegung (Bill.): „Der das Gesetz Erforschende ist gleich einem Menschen, der, wenn er eine Münze oder ein Halsband in seinem Haus verliert, viele Lichter und Lampen anzündet, bis er sie wieder er­ langt“; doch ist dort der Mensch gemeint, dem das Studium des Gesetzes Lichter aufsetzt. Eine Drachme (etwa = 1 Denar) ist der Taglohn des Ungelernten und mag Teil des ins Kopftuch eingenähten Brautschatzes der Frau (s. zu 8,3) sein. Hier ist die Freude noch stärker übersteigert und wird in der Deutung in Gegenwartsform ge­ schildert, nicht in der Zukunf t wie in V. 7. Beide Gleichnisse zielen also auf die Freude. Wie das Suchen betont wird, so über­ steigt die geschilderte Freude alles Übliche. Der Junge, der einmal im Religionsunter­ richt erklärte, das sei doch eine sehr dumme Frau, die für die Bewirtung ihrer Freun­ dinnen mehr ausgeben müsse, als was sie gefunden habe, hatte mit seinem Urteil völlig recht. Das Schaf hat sich nicht bemüht und das Geldstück noch weniger; den­ noch sind sie Gegenstand des Jubels. Hier wird dem Sünder nicht nur ein Türspalt geöffnet, hier bricht, wie die Deutung sagt, der ganze Himmel in Jubel über ihn aus. Lukas hat die Gleichnisse in Jesu Situation hineingestellt. Damit bleibt der Verlorene nicht ein nebelhafter Typus, sondern wird zu einem Menschen, der höchst zweifel­ hafte Geschäftsmethoden anwendet (Zöllner, s. zu 3,13) und allem Religiösen, das ihn in seinem bürgerlich-mittelmäßigen Leben stören könnte, aus dem Weg geht (Sünder). Auch die Gegner sind nicht Schreckgespenster, sondern Fromme, die sich große Opfer auferlegen, um ihrem Gott wirklich zu dienen (Pharisäer, s. zu 3,7), und theologische Fachleute (Schriftgelehrte). Entscheidend ist aber ein anderes: dadurch sagt Lukas, daß Jesus selbst die Auslegung seiner Gleichnisse ist. Er redet nicht von einer allgemeinen Vaterliebe Gottes, belehrt nicht über Gottes Eigenschaften, son­ dern erzählt von seinem Handeln, das in Jesu Wirken jetzt geschieht und daher jetzt schon (s. zu V. 10) Freude im Himmel aufbrechen läßt. Wenn C yrill (gest. 444 n. Chr.) den Hirten auf Jesus deutet, die 99 Schafe auf die Engel, das eine auf die Menschheit (21.Homilie), hat er sachlich nicht unrecht; doch sagt Jesus das, was in seinem Wirken geschieht, im Gleichnis aus, das durch die Situation, also hier durch Pharisäer und Zöllner, gedeutet wird.

Die Ohnmacht des allmächtigen Vaters 15,11-32 Er sprach aber: Ein Mensch hatte zwei Söhne, 12 und der jüngere von ihnen sprach zum Vater: Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zusteht. Er 11

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Lk 15,11-32: Analyse

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aber teilte das Gut unter ihnen auf. 13 Und nach einigen Tagen packte der jüngere Sohn alles zusammen und zog davon in ein fernes Land. Und dort vergeudete er sein Vermögen unsinnig. 14 Als er aber alles verbraucht hatte, entstand eine schwere Hungersnot in jenem Land, und er begann Mangel zu leiden. 15 Und er ging hin und schloß sich einem der Bürger jenes Landes an, und er schickte ihn auf seine Felder, Schweine zu hüten. l6 Und er begehrte seinen Bauch mit Johan­ nesbrotschoten zu füllen, die die Schweine fraßen, und keiner gab sie ihm. 17Da kam er zu sich und sagte: Wieviele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als genug zu essen, ich aber gehe da am Hunger zugrunde. l8 Ich werde mich aufma­ chen, zu meinem Vater gehen und sagen: Vater, ich habe gegen den Himmel und vor dir gesündigt. l9 Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden. Mach mich zu einem deiner Tagelöhner. 20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit weg war, sah ihn sein Vater und erbarmte sich und lief hin, fiel ihm um den Hals und küßte ihn. 21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gegen den Himmel und vor dir gesündigt, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden. 22 Der Vater aber sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Kleid her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße 23 und holt das gemästete Kalb und schlachtet es, und wir wollen essen und fröhlich sein, 24 denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder zum Leben gekommen, war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an fröhlich zu sein. 25 Sein älterer Sohn aber war auf dem Feld, und als er kam und sich dem Haus näherte, hörte er Musik und Tanz 26 und rief einen der Burschen und erkundigte sich, was das sei. 27 Er aber sprach zu ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn wieder gesund hat. 28 Er aber wurde wütend und wollte nicht hineingehen. Der Vater aber ging hinaus und redete ihm zu. 29 Der aber antwortete und sprach zum Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir wie ein Knecht und habe dein Gebot nie übertreten, und mir hast du nie auch nur einen Bock gegeben, daß ich mit meinen Freunden fröhlich sein könnte. 30 Jetzt aber wo dieser dein Sohn kommt, der dein Gut mit Dirnen verpraßte, hast du das gemä­ stete Kalb geschlachtet. 31 Er aber sagte zu ihm: Kind, du bist immer bei mir, und alles was mein ist, ist dein. 32 Aber man mußte doch fröhlich sein und sich freuen, weil dieser dein Bruder tot war und wieder zum Leben kam und verloren war und gefunden wurde. Auf die Darstellung der Ausgangslage (V. 11, Vater als Subjekt) folgt die grund­ sätzliche, innere Trennung des jüngeren Sohnes vom Vater (12), deren äußerer Voll­ zug (13-15, Aorist) und Folge (16, Imperfekt) und das grundsätzliche, innere (1719) und äußere (20a.21) Umkehren (Aorist, durchwegs Sohn als Subjekt). Gestört wird das durch das Dazwischentreten des Vaters (20 b als Subjekt), das grundsätzlich und später auch äußerlich (22-24) die Trennung beseitigt und nicht nur physisches Überleben ermöglicht (wie in V. 17-20a). V.25-28 a wird die äußere Trennung des älteren Sohnes (25a, Imperfekt) zur grundsätzlich inneren (25b-28a.29f., Aorist). Doch tritt wiederum der Vater störend dazwischen (28 b) und läßt solche Trennung nicht gelten (31). V.32 formt den Satz von der Pflicht zur Freude, dessen Annahme oder Ablehnung darüber entscheidet, ob die Ausgangslage (11) wieder hergestellt ist. Mit dem Vater beginnt und endet das Gleichnis. In beiden Teilen tritt er störend und damit alles entscheidend in das Reden seiner Söhne hinein. Seine Freude ist das Krite© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 15,12-24: Die unglaubliche Liebe des Vaters zum Tunichtgut

rium, an dem sich alles entscheidet (32). Der Dialog, in dem das Erzählte auf seinen Sinn hin befragt und damit auch zum theologischen Nachdenken gebracht wird, beschreibt das Verhältnis des Vaters zu den Söhnen, aber auch des jüngeren zu sei­ nem Arbeitgeber und vor allem zu sich selbst und des älteren zum ganzen Gutsbe­ trieb. Dem jüngeren Sohn gegenüber braucht es keine Worte mehr, nur noch das Handeln der Freude, wohl aber dem älteren, noch zu gewinnenden gegenüber. Ihm muß ja noch die Freiheit zum Ja oder Nein gegeben werden. Der Vater schafft beiden geradezu erst die Möglichkeit, sich von ihm zu trennen. Völlig unerwartet handelt der Vater, wie vorher der Hirte und die Frau, besonders wenn man an das damalige Erziehungsmuster denkt, wonach man einen geliebten Sohn „immerwährend die Rute fühlen lassen soll“ (Sir. 3 0 , 1 - 1 3 ) . Das Verhalten der Söhne hingegen entspricht dem zu erwartenden Muster. Mit ihnen kann man sich ohne weiteres identifizieren, mit dem Vater nicht; gerade darum dreht sich das Gleichnis völlig um ihn. Mit ihm beginnt es, mit ihm schließt es; er allein verbindet beide Teile. 12

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Der Wunsch des Sohnes geht über die Normen hinaus. Unmöglich ist er, etwa bei Auswanderung, weder nach jüdischem noch nach hellenistischem Recht. Normaler­ weise verblieb aber die Nutznießung des Drittels, das dem zweiten Sohn nach 5. Mose 21,17 zusteht, immer noch dem Vater. Selbst durch den Sohn Verkauftes fiel dem Käufer erst nach dem Tode des Vaters zu. So wird deutlich, wie der Sohn nur etwas vom Vater will, nicht den Vater selbst. Der Vater wird zurückgelassen; der Sohn hat ihn faktisch schon überlebt, „zusammenpacken“ bedeutet vielleicht auch „zu Geld machen“. Unmoralisches wird nicht erzählt, nur daß er sein Geld „unsin­ nig“ verschwendet (vgl. die Dummheit des Reichen 12,20). Seine Notlage ist auch nicht nur selbstverschuldet. Neben den Hunger („Wenn die Israeliten Johannesbrot nötig haben, dann tun sie Buße“, Bill., d) tritt der Verlust der religiösen Identität. Schweine sind seit 3.Mose 11,7 unrein; nur Heiden essen ihr Fleisch (Jes 6 5 , 4 ; 66,17) und „verflucht ist, wer Schweine züchtet“ (Bill. I 493). Der Sohn ist zur Un­ person geworden. Umkehr ist die Erinnerung an die Herrlichkeit beim Vater, die den Sohn „zu sich kommen“ läßt. Sie führt zur Einsicht, daß er den Weg verfehlt hat. Ähnlich spricht Israel (Jer 3 1,18-19; Hos 2,9). Gott und Vater werden unterschie­ den (wie Gott und Israel im Satz Pharaos 2. Mose 2,16); der Vater ist also nicht nur allegorisches Bild für Gott. Der Sohn weiß, daß er kein Recht auf den Vater hat, bei dem kein Mangel herrscht, und höchstens im Dienst und ohne begehrlichen Griff nach seinem Reichtum bei ihm sein kann. Der Vater ist so schon bei ihm, im Bild der Erinnerung, aber faktisch auch im aktiven Ausschauen nach ihm (wie Jer 31,20). Daß der Vater ihm entgegenläuft, ist gegen alle Sitte, und für den Orientalen ist schon das schnelle Laufen eines Älteren würdelos. Bei dem jüngeren Esau (1. Mose 33,3) ist das möglich, zeigt aber auch die starke Gemütsbewegung. Mit Recht haben viele Maler darin das Herzstück des Gleichnisses gesehen. Die Verge­ bung kommt dem Schuldbekenntnis zuvor, so daß dieses wirklich zum Nach-Satz wird und nicht einmal zu Ende kommen kann, weil es schon überholt ist. Vergebung wird vollzogen, nicht ausgesprochen. Ring, Gewand (1. Mose 4 1 , 4 2 ; Ez 16,10) und Schuhe (im Gegensatz zum barfußgehenden Sklaven) bezeichnen darüber hinaus Einsetzung in die Ehrenstellung. Das mag an den jüdischen Ritus der Restitution © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 15,25-32: Die unglaubliche Liebe des Vaters zum Rechtschaffenen

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eines Ausgestoßenen erinnern. Der Extrabraten - Fleisch ißt man in Palästina so­ 23 wieso sehr selten - läßt alles zum Fest werden. Die Begründung ist nicht Vorwurf an 24 den Sohn, sondern öffentliche Bestätigung. Sie spricht nicht mehr nur vom Finden des Verlorenen (V.6.9), sondern von der Auferweckung des Toten. Auch Ps 41,13 braucht dieses Bild, weil Gottferne immer die Sphäre des Todes darstellt. Von Buß­ stimmung, Bewährungsfrist, Fortschritt und Prüfung ist keine Rede, nur von der einsetzenden großen Freude (V.6f., 9f.). Von Gott geliebte jüngere Brüder sind auch Abel, Isaak, Jakob, Josef, Benjamin, David, Gideon, Judas Maccabaeus (vgl. Gal 4,21-31). Der Ältere ist typischerweise bei der Arbeit; er ist betont als der 25 Nicht-Verlorene geschildert. Er lebt - äußerlich - mit dem Vater, nicht aber in sei­ nem Bewußtsein. Die weitherum schallende Festfreude - von Musik und Tanz hören wir vorher nichts - markiert den Gegensatz zu seinem Krampfen. Für den Knecht ist 27.28 nur das gesunde Heimkommen wichtig. Er sieht das Vordergründige; das V.24 Ausgesprochene geht ihn nichts an. Im Aufflammen des Zorns (Aorist) zeigt sich die Selbstbehauptung des Sohnes; ihr steht die andauernde Bemühung des Vaters (Im­ perfekt) entgegen. Das Weglassen der Anrede „Vater“ und das Meiden des Bruder- 29.30 titels („dieser dein Sohn“) vollzieht die innere Trennung vom Vater. Mit dessen un­ begreiflichem Handeln hat der ältere Sohn so wenig zu schaffen wie mit dem ver­ werflichen des Bruders. Er kann nur bedauern, daß es in der Welt und sogar beim Vater so unmoralisch zugeht. Er spricht vom Verkehr mit Dirnen, wovon die Erzäh­ lung nichts weiß, weil er damit sein eigenes gerechtes Verhalten, vielleicht sogar den Widerstand gegen entsprechende Wünsche rettet. Trennung vom Vater vollzieht sich als Trennung vom Bruder, und der entscheidende Vorwurf ist der der Güte. Dem 31 entgegen bestätigt der Vater seinen Sohn; er hätte es doch gar nicht nötig, seine Geltung durch das Schlechtmachen des andern zu suchen. Dabei verteidigt er weder 32 sich noch seinen jüngeren Sohn. Er ruft nur zur Freude, weil sie allein von allem Rechnen und Vergleichen befreit, und entläßt auch den älteren nicht aus seiner Liebe. Das Gleichnis erzählt vom Vater (s.o.) und läßt damit Gott Wirklichkeit werden. Dieser Vater ist an sich ein allmächtiger Vater. Er könnte dem jüngeren Sohn sein Erbe verweigern („Du kannst wohl nicht warten, bis ich unter dem Boden bin?“) oder ihm bloß die Zinsen zukommen lassen oder sein Taschengeld erhöhen („Dann wollen wir einmal sehen, wie du dich bewährst“). Er könnte ihn aus dem fernen Land zurückholen oder durch einen Freund oder gar die Polizei zurückschaffen lassen („Habe ich es dir nicht gesagt, wie das ausgeht?“). Er könnte ihn seine Macht spüren lassen („Jetzt arbeite einmal ein paar Jahre lang als Knecht!“). Er könnte den Älteren durch zwei Knechte innert fünf Minuten in den Festsaal schaffen lassen („Dir bin ich keine Rechenschaft schuldig“). Aber dieser Vater ist als der Allmäch­ tige der ganz und gar Ohnmächtige. Er hat sich nämlich ein für allemal für die Liebe entschieden und weiß, daß er, wenn er so handelte, seine Söhne für immer verloren hätte. Darum kann er nur den jüngeren ziehen lassen, sich um ihn sorgen und täglich nach ihm ausschauen. Darum kann man auch vom Festmahl, bei dem der Vater obenansitzt und dem Heimgekehrten wie dem ganzen Gesinde Speise und Trank und Freude austeilt, keine Momentaufnahme machen und sie ins Photoalbum kleben, als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 15,1-32: Allmacht des Ohnmächtigen: Sieg über Ödipuskomplexe

habe man damit das Bild des allgütigen und allmächtigen Vaters erwischt, zweifellos ist das auch wahres Bild dessen, was Gott ist; aber weil Gott ein lebendiger Gott ist, muß das Bild wechseln. Schon fünf Minuten später steht der Vater im Gleichnis Jesu draußen im Dunkeln, wo er sich eine Lungenentzündung holen könnte, wehrlos seinem älteren Sohn gegenüber und hat nichts als die Worte, in denen sich sein bren­ nendes Herz ausspricht. In der Erzählung Jesu wird damit Gottes Reich wirklich. Nur Wochen oder Monate später wird er ebenso ohnmächtig am Kreuz hängen, verspottet von allen: „Bist du nicht der C hristus? Rette dich selbst und uns!“ (23,39). Seine ganze Macht ist das von Liebe brennende Herz, das zu Gott einlädt: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein“ (23,43). Gott wird nirgends anders wirklich als bei den Menschen. Das gilt so sehr, daß man die beiden Söhne geradezu psychoanalytisch auf ihrem Weg verfolgen kann. Die Ödipus-Situation ist deutlich: der Jüngere erledigt den Vater, indem er ihn zurück­ läßt und schon das nach seinem Tod fällige Erbe antritt, aber weiter von ihm verfolgt wird. Er verschwendet sein Eigenes (und seine Sexualität?), scheidet sich damit von allem, was zum Vater gehört, und sucht sich in seinem Herrn einen Ersatzvater, der aber hart ist. Nun „kommt er zu sich“, erkennt seinen „Schatten“, den Sinnverlust in seinem Leben, bleibt aber auch noch am Vergangenen hängen. Besteht die Lösung darin, daß er als Knecht zur „Sache“ des Vaters wird, also sein Kindsein getötet wird? Auch der Ältere erledigt den Vater, indem er sich mit ihm identifiziert, aber mit dem Vater, wie er seiner Meinung nach sein müsste. So freilich trennt auch er sich von ihm. Kann man also nur so dem Vater begegnen, daß man sich ihm völlig anpaßt, infantil bleibt? Das aber wäre der Gott des Menschen, den dessen eigenes Unterbewußtsein schafft. Der Gott des Gleichnisses Jesu überwindet gerade diesen vom Menschen geschaffenen Gott. Die auffälligen Handlungen des Vaters durchbre­ chen im Gleichnis immer wieder das übliche Bild. Er will nichts besitzen und nieman­ den beherrschen. Wohl ist das Gesetz im Gleichnis da, der jüngere Sohn übertritt es, der ältere hält es; doch beides wird durch das unglaubliche, dem Gesetz gerade nicht entsprechende Handeln des Vaters und seine alles umstürzende Freude über das Kommen seines Sohnes über den Haufen geworfen. Ohne Predigt, fast sakramental wird der Heimkehrende in die Liebe des Vaters hineingenommen. So schafft das Gleichnis, indem es erzählt wird, die große Freude, weil der Hörer eigentlich nicht anders kann als dem Schlußsatz des Vaters Recht geben. Und doch bleibt das Gleichnis offen, letztlich auf Jesu eigenes Schicksal in Jerusalem hin, in dem sichtbar wird, wie wenig der Mensch diese selbstverständliche Freude leben kann. Was der Zöllner von 18,13 erkannt hat, was Paulus darin ausspricht, daß der Mensch sich weder mit seiner Gerechtigkeit (Phil 3,9) noch mit seiner Weisheit (1.Kor 2,6f.) vor Gott behaupten kann, das geschieht, wo ein Mensch diesem Gleichnis zuhören, ja vielleicht sogar in seiner äußeren Not schon hörbar den Schritt Gottes vernehmen kann, der ihm entgegengeht. Dann entdeckt er nämlich, daß er keinen Anspruch auf das Wunder hat, das in diesem Gleichnis geschieht: daß der Mensch Gott „Abba, Vater“ nennen darf. Auch Gal 4 , 6 ; Röm 8,15; l.Joh 3 , l ; Offb 2 1 , 7 ist dies als endzeitliches Wunder verstanden. Jesus kommt im Gleichnis qicht vor; aber nur, weil er es erzählt und bis in sein Sterben hinein lebt, wird das Fest des Wiederfindens Wirklichkeit, von dem es berichtet. Im Gleichnis „bleibt für © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

F Lk 16,1-17,10: Überblick

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einen Vermittler zwischen Gott und dem Sünder ... kein Platz“ (Jülicher); aber noch viel weniger ist es ohne diesen verständlich, Jesus hat nicht bloß als Lehrer Gott als Vater aller Menschen entdeckt; ohne sein Wirken wäre das Gleichnis gar nicht wahr. Nicht Jesus definiert darin Gott, sondern, wo immer das Gleichnis wirklich lebendig wird, erweist Gott darin, was es um Jesus ist. Man kann daher die Wahrheit dieses Gleichnisses nicht annehmen, so lang sein erster Erzähler, Jesus, nicht beim Hörer oder Leser je in seiner Situation lebendig wird. So wenig man eine Musikveranstal­ tung lehrhaft weitergeben kann, ohne daß sie wieder hörbares Ereignis wird, so wenig das Geschehen dieses Gleichnisses, das darum auch - gegen lukanische Ge­ wohnheit (s. zu 13,1-5) - in keinen zusammenfassenden Satz eingefangen werden kann. Lukas hat zwar durch seine Einleitung das falsche Verhalten des „Gerechten“ betont (vgl. Einl. und Schi, zu V.3-10), vielleicht auch das des Sünders (7.10.18 b. 19a.21?). Das kann dazu verführen, den Ton vom Handeln Gottes auf das des Men­ schen hin zu verschieben. Aber ihm liegt mit Recht daran, daß das Wort „Freunde und Feinde trifft“ (A. Pötzsch: „Es ist ein Wort ergangen ...“), daß also der Leser die Gleichnisse so liest, daß sie sein Leben prägen. Das wird in dem verwandte Züge zeigenden Gleichnis Mt 21,28-32 ausgesprochen, aber auch in Lk 16, wo V. 14 die Pharisäer wieder genannt werden. Daß Gottes erstaunliches Handeln allem Umkeh­ ren des Menschen vorangeht, das weiß freilich auch Lukas sehr gut (19,5-10; 24,46f. usw.). F Die Stellung des Jüngers zum Besitz im Blick auf das Kommende 16,1-17,10 Ähnlich 12,35-59 (vgl. zu 9,51-19,27) spricht das ebenfalls an die Jünger gerich­ tete Gleichnis 16,1-8 von der Bereitschaft für das Kommende und endet mit einer allgemeineren Mahnung; ähnlich 12,2-34 beschreiben 16,9-13 den Umgang mit dem Besitz und die im besonderen vom Jünger erwartete Treue, beidemal weit kür­ zer als in Kap. 12. In 16,14-18 folgt wie 11,37-12,1 die Auseinandersetzung mit den Pharisäern, wiederum stark verkürzt; doch ist die Geschichte vom armen Laza­ rus aufgrund von V. 14 ebenfalls dazuzurechnen. 17,1-10 ist ein Obergangsab­ schnitt, eindeutig auf die Jünger ausgerichtet, die in 12,1 nur kurz genannt sind. Befreiung für die Zukunft Gottes 16,1-13, vgl. Mt 6,24 1 Er sagte aber zu den Jüngern: Es war ein reicher Mensch, der einen Verwalter hatte, und von dem wurde ihm hinterbracht, daß er sein Vermögen vergeude. 2 Und er rief ihn und sprach zu ihm: Was höre ich da von dir? Lege Rechenschaft ab über deine Verwaltung; du kannst nicht mehr Verwalter sein. 3 Der Verwalter aber sprach bei sich selbst: Was werde ich tun? Denn mein Herr nimmt die Ver­ waltung von mir. Graben kann ich nicht, zu betteln schäme ich mich. 4 Ich habe gefunden was ich tun werde, damit sie, wenn ich von der Verwaltung entlassen werde, mich in ihre Häuser aufnehmen. 5 Und er rief jeden Einzelnen der Schuld­ ner seines Herrn zu sich und sagte dem ersten: Wieviel schuldest du meinem Herrn. 6 Der aber sprach: 100 Bat Öl. Der aber sprach zu ihm: Nimm dein Doku-

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Lk 16, 1-3: Analyse

ment und setze dich hin und schreib schleunigst 50. 7 Dann sprach er zu einem andern: Du aber, wieviel schuldest du? Der aber sprach: 100 Kor Weizen. Er sagt zu ihm: Nimm dein Dokument und schreibe 80. 8 Und der Herr lobte den unge­ rechten Haushalter, weil er klug gehandelt hat, weil die Söhne dieser Welt klüger sind gegenüber dem eigenen Geschlecht, über die Söhne des Lichtes hinaus. 9 Und ich sage euch: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit, wenn er versagt, sie euch in die ewigen Hütten aufnehmen. 10Der im Kleinsten Treue ist auch im Großen treu, und der im Kleinsten Ungerechte ist auch im Großen ungerecht. 11Wenn ihr nun beim ungerechten Mammon nicht treu werdet, wer wird euch das Wahrhaftige anvertrauen? l2 Und wenn ihr beim Fremden nicht treu werdet, wer wird euch das Eure geben? l3 Kein Hausknecht kann zwei Herren dienen; denn entweder wird er den einen hassen und den an­ dern lieben oder er wird sich an den einen halten und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Die lukanische Einleitung bezieht das Gleichnis auf die Jünger. Entweder läßt man es V.8a schließen. Dann ist „der Herr“ wie 18,6 Jesus und 8 b eine etwas unge­ schickt auch mit „weil“ angehängte Deutung. Oder man versteht unter „dem Herrn“ den des Gleichnisses (wie V.3,5, vgl. 14,23), weil Jesus in V.9 mit betont gegensätzlichem „Ich“ redet. Aber wie sollte dieser den „ungerechten“ (V.8!) Haus­ halter loben? Etwa darum, weil er nur die 5.Mose 23,19 verbotenen Zinsen (nach V.6 wären das freilich 100%) wieder abgezogen hätte? Oder wäre es resignierte Selbstironie im Kreise anderer Gutsherren? Jedenfalls ist V.9 ein Einzel wort, das am Ende an V.4 angeglichen ist. Ihm sind zwei weitere (10-12.13) angeschlossen, die beschreiben sollen, wie das vom Gleichnis Gelehrte praktisch gelebt werden kann. V. 10 könnte 19,17 (Q) nachgebildet sein. V. 13 ist Mt6,24 (s.d.) wörtlich gleich außer dem Ausdruck „Knecht“, der den Jünger eher als Verwalter bezeichnet. Alles andere ist Sondergut, wofür schon „irgendein Mensch“ V. 1 typisch ist (s. zu 11,1). 1.2 Was der jüngere Sohn tat (15,13), wird vom Verwalter berichtet. Das Gleichnis 3 setzt in verkürzender Erzählung die Richtigkeit des Vorwurfs voraus. Das Entschei­ dende wird mit lukanischer Wendung als Selbstgespräch des Angeklagten geschil­ dert. Die Abscheu vor dem Betteln (Sir. 40,28) und die Unfähigkeit als Bauarbeiter (Aristophanes, Vögel 14.32) sind in üblichen Wendungen beschrieben. Vielleicht läßt sich auch an die niedrige Einstufung des Bauarbeiters in Sir. 38,27, dort freilich 5 im Gegensatz zum Schriftgelehrten (38,34-39,5), erinnern. Die Schuldner können Pächter oder Großhändler sein; jedenfalls handelt der Verwalter mit der Routine eines gewitzten und von moralischen Skrupeln nicht geplagten Geschäftsmanns. 6.7 Dabei geht es um große Summen, die übrigens wertmäßig ungefähr gleich sind. 8 „Verwalter der Ungerechtigkeit“ (so wörtlich) kann nicht bedeuten: „des ungerech­ ten (Mammons)“, sondern nur, nach häufigem semitischem Gebrauch, ihn als unge­ recht bezeichnen. Das streicht das überraschende Lob noch stärker heraus. Weder die dämonische Wirkung des Reichtums noch das richtige Verwalten des Besitzes ist also die Pointe, sondern die Klugheit des Verwalters. Klug ist er, weil er um die auf ihn zukommende Zukunft weiß und sich davon bestimmen läßt. So versteht das Gleichnis die Gegenwart als Möglichkeit, sich auf die Zukunft hin ausrichten zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 16,1-13: Ausrichtung auf die Zukunft Gottes

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lassen; ja, es lädt dringlich dazu ein (vgl. 1 2 , 4 2 - 4 6 ) . V.8b ist Anmerkung zur rech­ ten Art der Auslegung: An sich ist der Verwalter nicht vorbildlich, er ist „Sohn dieser Welt“; aber wenn schon er so klug handelt, wieviel mehr müßten es „die Kinder des Lichtes“ tun. Das ist richtig, gibt aber in dieser verallgemeinernden und resignierten Form nicht mehr den Blick in die Zukunft frei, sondern beklagt zurückschauend das geringe Verständnis der Hörer Jesu. Der Gegensatz zwischen Söhnen des Lichtes und der Finsternis ist typisch für äth.Hen. 108,11; l Q S l , 9 f . ; 3,13.2üf.; aber auch Joh 12,36; l.Thess 5,5; Eph 5,8. Das Gleichnis betont aber keineswegs diesen Ge­ gensatz, sondern stellt im Gegenteil den Weltmenschen als Vorbild der Lichtsöhne hin. Es folgt eine neue Anwendung über die rechte Verwendung des Geldes, von dem 9 im Gleichnis streng genommen nicht die Rede war, jedenfalls nicht von der des eige­ nen Geldes. Ist es „ungerecht“ (so auch äth.Hen. 63,10), weil es zu Unrecht verführt oder weil es einen im Stiche läßt (Zeph 1,18: am Gerichtstag)? „Mammon“ (noch nicht im Alten Testament) heißt vielleicht ursprünglich „das, worauf man vertraut“, könnte dann also alles umfassen, was man zu seinem Gott macht. Aber falls das stimmt und nicht doch ein kanaanäisches Lehnwort mit ganz anderer Bedeutung vorliegt, wer weiß das noch? Das Bild von der Aufnahme entspricht V.4 b. Sie erfolgt im letzten Gericht; das gilt, ob man bei „sie“ an die beschenkten Armen, die Engel oder Gott selbst denkt (s. zu 6,38). Die „Hütten“ (oder: Zelte) erinnern an die Heils­ zeit des Auszugs aus Ägypten (vgl. zu Mk 9,5). Das kluge Handeln des Verwalters bleibt nicht nur Bild für das nicht detailliert beschriebene des Glaubenden, sondern wird als praktisch nachzuahmendes Beispiel verstanden; man darf dabei freilich nicht an fremdes Gut denken, was die Gefahr einer allegorischen Verwertung der Einzelzüge zeigt. Richtig ist daran, daß nicht nur zu klugem Denken, sondern zu klugem Handeln aufgerufen wird, das freilich weiter reicht als vernünftiger Umgang mit Geld. Das betonte „Ich“ weist ausdrücklich auf Jesus, dessen Lehre und Verhal­ ten das der Söhne des Lichtes bestimmen soll. Das zuzufügen ist notwendig, sobald Jesus nicht mehr als Erzähler da ist. Noch einmal anders ist die Anwendung, in der 10-12 das Verhalten des Haushalters zum abschreckenden Beispiel für den Jünger wird. Neben der radikalen Kritik am Mammon (V. 13) steht also eine auf Praxis ausgerich­ tete Mahnung zum rechten Gebrauch. Gemildert wird der Gegensatz durch V. 11 f., die den Grundsatz V. 10 weiterbilden und betonen, daß das Eigentliche noch etwas anderes ist, falls damit wirklich geistliche Güter gemeint sind, die die Jünger verwal­ ten sollen und nicht etwa nur größere finanzielle Verantwortung von Gemeindelei­ tern. Für das erste spricht nicht nur 19,17, sondern vor allem auch der Wortlaut von V. 11 f.; denn das „Wahrhaftige“ kann im Gegensatz zum „Mammon“ doch nur Geistliches sein. Ganz parallel dazu steht „das Eure“, wie die ältesten Handschriften lesen (nicht „das Unsrige“), das dem „Fremden“ entgegensteht, also das ihm im Glauben wirklich Geschenkte im Gegensatz zu allem äußeren Besitz. „Nichts ist dem Menschen eigen, alles ist ihm fremd“, sagt in ähnlichem Sinn auch Epiktet (IV 5,15). Unterstreicht das Gleichnis die Entscheidung angesichts der Gegenwart Jesu, der ein Leben auf die gewisse Zukunft hin ermöglicht, so expliziert V.9 das dahin, daß Jesu Forderung über das Gericht entscheidet. V. 10-12 zeigen, daß dies nicht im Sinne einer Flucht aus der Welt zu verstehen ist, sondern als Treue in der Welt, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 16,14-18: Analyse

zur Treue in geistlichen Dingen fähig macht, während der Schlußvers noch einmal die Radikalität der Entscheidung darüber, wem der Mensch angehören will, betont. Die späteren Zusätze 9—13 treffen den Sinn des Gleichnisses nicht; aber sie helfen, es zu leben. Daß man den Sinn des Lebens nicht im zusammenraffen von Besitz er­ blickt, sondern in den „Freunden“, die man sich damit unter Notleidenden, an den Rand Gedrängten machen kann, daß es eine Treue des Einsatzes gibt, die vom Klein­ sten bis ins geistlich Letzte hineingeht, von der guten Verwaltung des Haushaltgeldes bis zum Gebetsleben, das weist konkrete Lebensmöglichkeiten auf. Dabei ist in den Rahmenversen die Radikalität nicht vergessen: wo der Besitz den Menschen be­ herrscht, da hat er sogar die Klugheit der Weltkinder verloren und sollte sich nicht mehr zu den Kindern des Lichtes zählen. Die Funktion des Gesetzes 16, 14-18, vgl. Mt ll,12f.; 5,18.32; 19,9 14 Das

hörten aber die Pharisäer, die das Geld lieben, und rümpften die Nase über ihn. 15 Und er sprach zu ihnen: Ihr seid die, die sich selbst vor den Menschen rechtfertigen. Gott aber kennt eure Herzen, weil was bei den Menschen hoch ist, vor Gott ein Greuel ist. 16Das Gesetz und die Propheten reichen bis zu Johannes. Von da an wird das Gottesreich als Frohbotschaft verkündet und jedermann wird dringlich eingeladen. 17Es ist aber leichter, daß der Himmel und die Erde vergehen, als daß ein Häkchen des Gesetzes dahinfalle. 18Jeder, der seine Frau entläßt und eine andere heiratet, bricht die Ehe, und wer eine vom Mann Entlas­ sene heiratet, bricht die Ehe. V. 16-18 finden sich auch Mt ll,12f.; 5,18; 19,9 (s.d.) mit denselben seltenen Wörtern („wird dringlich eingeladen" [s. zu V. 16], „Häkchen"), aber in ganz ande­ rer Formulierung. Wahrscheinlich hat Lukas sie so in der Vorlage gefunden und durch V. 14f. eingeleitet (s. zu 11,1 u. 23,35). 16a ist ursprünglicher als Mt 11,13, wo „Gesetz" schlecht paßt; doch wird Mt 11,12 die ältere Fassung sein als Lk 16,16b. „Sich selbst rechtfertigen" (10,29; 18,9) und das Wort für „vor" sind lukanisch. Der „weil"-Satz (ohne Verbum, unlukanisch) ist ein traditioneller Grund­ satz. 14 Die Pharisäer (s. zu 13,31) werden unter das Gericht von V. 13 gestellt (V. 14). 17.15 Dazu paßt die Einschärfung des Gesetzes (V. 17). Beides rahmt V. 15f.: äußere Kor­ 16 rektheit ist keine Selbstrechtfertigung, da Gott die Herzen wägt; wird doch jetzt über das Gesetz hinaus das Gottesreich verkündigt, dessen Gebote, wie der Nachtrag 18 V. 18 zeigt, den Menschen weit radikaler beanspruchen; doch ist der Gedankengang 14 nicht sehr klar. Das Gelächter der Gegner gilt dem Weltverbesserer, der die Realitä­ ten nicht sieht. Nach V.9-12 wäre das gerade der lukanischen Form der Jesusworte 15 nicht vorzuwerfen. Jesu Antwort zeigt darum auch, daß es nicht einfach um ein unmögliches Ideal geht, wohl aber darum, daß der Mensch sich bis in sein Herz hinein von Gott prüfen läßt und darum nicht zu jenem „greulichen“ Wesen wird, das andere verurteilend obenauf schwimmen will (vgl. zu 14,7-14 Schl.; ferner 1,51 f.; 16 18,9-14; Jes2,11-19; 5,14-16). Schwierig ist V.16. Genau dieselbe Wortform ist © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 16,14-18: Jesu neues Gesetzesverständnis

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Mt 11,12 übersetzt „leidet Gewalt“. Das Verbum bedeutet (mit einer Vorsilbe, wie sie Lukas gerne ohne Bedeutungsunterschied zusetzt) in 24,29; Apg 16,15 „dringlich einladen“. Das steht am deutlichsten parallel zu „verkünden“ und trifft vermutlich das, was Lukas sagen will. Die Form kann freilich auch heißen „drängt hinein“, wie man gewöhnlich übersetzt; aber tut das „jedermann“? Wichtiger ist, ob „bis zu Johannes“ diesen noch einschließt oder nicht. Seine Zeit ist Zwischenzeit wie die zwischen Ostern und Pfingsten (auch zwischen Lk 9,31 und 51?). Auferstehungser­ scheinungen und Himmelfahrt werden daher sowohl als Beginn der Apostelge­ schichte als auch als Abschluß des Evangeliums erzählt und auf Pfingsten schon Lk 24,49 verwiesen. Zwar „verkündet“ Johannes „Frohbotschaft“ (3,18) und ver­ bindet insofern Gesetz und Propheten mit dem kommenden Gottesreich; aber Lukas sagt nie direkt, er habe dieses verkündet. Dennoch setzt 3,1 f. das Neue mit ihm ein. Lukas rückt das Zitat 3,4—6 nach vorne und schließt seine Predigt mit „also“ an, kennzeichnet ihn demnach als Erfüller der Prophetie. Darum ist er auch mehr als Prophet, Ankündiger des Kommenden (7,26; s. zu 3,15-20 Schl.). Seine gesamte Tauftätigkeit (Apg 10,37; 13,24f.), nicht etwa nur die an Jesus (3,21 ist Johannes nicht genannt!) gehört nach 7,29f.; Apg 1,21 f. zur Heilszeit. Sein Leben ist Lk 1 f. völlig mit dem Jesu verschränkt. So wenig seine Zeit also schon Gegenwart des Got­ tesreiches ist wie die Jesu, gehört sie grundsätzlich für Lukas doch zur neuen Zeit. Auch für die Jesuszeit gilt, daß man zwar schon „ins Gottesreich hinein“ eingeladen ist, daß das aber nicht ausschließt, daß das Gesetz, in der neuen Auslegung durch 17 Jesu Gottesreichverkündigung, als Norm sittlichen Handelns bestehen bleibt (vgl. V. 29). In Jesu Deutung kommt das Gesetz zu seinem eigentlichen Ziel. Ähnlich wie 18 es von den Propheten gilt, ist manches davon auch in die Erfüllung hinein aufgeho­ ben, z.B. die Kultgesetze; aber eine scharfe Trennung der Zeiten gibt es bei Lukas nicht. V. 18 ist in der Q-form angefügt, erwähnt aber eine doppelte Möglichkeit der Schuld des Mannes und ist damit noch typischer jüdisch als Mt 5,31 f. (s.d.). Daß Markion (s. zu 4,31) V. 17 auf Jesu Worte umdeuten mußte, zeigt, wie radi­ kale Paulussätze zur Verteufelung des Alten Testamentes führten, wenn man Aussa­ gen wie Röm 3,31; 7,12 vergaß. Dagegen stellt Lukas ein durch Jesus geschenktes neues Verständnis des Gesetzes, s.A. nach 21,24, b. Was er von der Geldliebe (V. 14f.) wie von der Geltung des Gesetzes (V. 16-18) sagt, wird in V. 19-31 wieder aufgenommen.

Besitz als Trennung von Gott und Menschen 16,19-31 19Ein Mensch aber war reich und kleidete sich in Purpur und feinstes Linnen und genoß Tag für Tag in Pracht. 20Ein Armer aber mit Namen Lazarus, mit Geschwüren bedeckt, war an seine Schwelle gelegt 21 und voller Verlangen, sich mit dem zu sättigen, was vom Tisch des Reichen fiel; aber selbst die Hunde ka­ men und beleckten seine Geschwüre. 22Es geschah aber, daß der Arme starb und von den Engeln an die Brust Abrahams weggetragen wurde. Es starb aber auch der Reiche und wurde begraben. 23 Und in der Unterwelt hob er seine Augen auf,

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Lk 16,19-31: Analyse

da er in Qual war, sieht Abraham von weitem und Lazarus an seiner Brust. 24 Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich über mich und schick Lazarus, daß er seine Fingerspitze ins Wasser tauche und meine Zunge kühle; denn ich leide Qualen in dieser Flamme. 25 Abraham aber sprach: Kind, denli daran, daß du dein Gutes in deinem Leben empfangen hast und Lazarus gleicher­ maßen das Böse; jetzt aber findet er hier Trost, du aber leidest Qualen. 26 Und bei all dem ist zwischen uns und euch eine große Kluft gesetzt, damit die, die vor hier zu euch hinübergehen wollen, es nicht könnten, noch daß sie von dort zt uns herüberkämen. 27 Er sprach aber: Also bitte ich dich, Vater, daß du ihn in Haus meines Vaters schickest, 28 denn ich habe fünf Brüder, damit er ihnen Zeug nis ablege, damit sie nicht auch an diesen Ort der Pein korhmen. 29 Abraham abei sagt zu ihm: Sie haben Mose und die Propheten, die sollen sie hören. 30 Er abei sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihner käme, kehrten sie um. 31 Er aber sprach zu ihm: Wenn sie auf Mose und die Pro­ pheten nicht hören, dann werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenr einer von den Toten auferstände. 19-24

25.26 27-31 23

19 20.21

V. 19-21 schildern die Situation beider Personen vor, V.23 nach dem V.22 erzähl­ ten Tod. V.20 schaut der Arme begehrend auf den Reichen hin, V.23 umgekehrt, weil der Reiche nicht mehr oben, sondern unten ist und seine Augen „aufheben“ muß (V.23). Beidemal sieht nur der Leidende den anderen, zwischen ihnen gibt es auch keinen Wortwechsel, und der zwischen dem Reichen und Abraham ist nur Bestätigung der definitiven Scheidung (25f.). Ging es V.21.24 um Essen und Trin­ ken, so V. 27-31 um das Wort als die voll genügende Richtschnur des Lebens. For­ mal parallel zu V.24 wird V.27 Abraham angerufen, um Sendung des Lazarus gebe­ ten und in einem Finalsatz V.28 der Zweck dafür angegeben. Wie schon die Gegen­ wartsform in V. 23.29 zeigt (bei Mk beseitigt Lk 92 von 93 Fällen!), lag die Beispiel­ erzählung Lukas schon vor (zu Lazarus vgl. V. 29-31). Dahinter steht ein ägyptisches Märchen von einem Gott, der Kind irdischer Eltern wird und ihnen Hades und Paradies zeigt, wo nach einem Prachtbegräbnis des Reichen seine großartige Grabausstattung dem Armen gegeben wird. Denn „wer auf Erden gut (böse) ist, zu dem ist man auch im Totenreich gut (böse).“ Davon beein­ flußt erzählte man im Judentum vom ehrenvollen Begräbnis eines reichen Zöllners, dem damit seine eine gute Tat abgegolten ist, während der Fromme eine ärmliche Bestattung erlebt, wodurch seine eine Sünde (daß er einmal die Gebetsriemen an der Stirn vor denen am Arm [s. zu Mt 23,5] anzog!) gesühnt war, damit beiden im Jen­ seits die volle Geltung zuteil werden konnte (Bill.; oft ähnlich). Ebenso denkt äth. Hen. 103,5f.: „Wehe (denen, die sagen): Heil den Sündern, sie haben alle ihre Tage Gutes gesehen in ihrem Leben und sterben ruhmvoll, und kein Gericht geschah zu ihren Lebzeiten!“ Für sie besteht im Jenseits ein besonderer Strafraum (22,10, wo auch ihre Beerdigung erwähnt wird). Der Reiche wird nicht als Wucherer geschildert. Er lebt, wie es damals als richtig angesehen wurde (s. zu 12,16-19), teilt doch Gott Armut und Reichtum zu und weiß wohl, warum. Das Schreckliche ist seine Harmlosigkeit (vgl. 17,27f.), mit der er kontaktlos und unbekümmert an seiner Umgebung vorbeilebt. Wie Priester und Levit (10,31 f.) sieht er den Notleidenden gar nicht. Darum geschieht in dieser ersten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 16, 19-31: Der arme Gotthelf und der allzu harmlose Reiche

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Szene einfach nichts. Dazu paßt die in Gleichnis oder Beispielerzählung höchst auf­ fällige Nennung eines Namens. Der Arme ist nicht irgendwer; er heißt „Gotthelf“. Diese Betonung ging verloren, als Abschreiber auch für den Reichen einen Namen (Neves) einfügten. Da dieser zuerst in Ägypten auftaucht, stammt er vielleicht aus dem genannten Märchen. Lazarus scheint lahm zu sein („war ... gelegt“). Hunde gelten als unrein; das besagt also kaum, daß sie barmherziger seien als der Reiche, sondern betont die Not des Armen. Nur beim Reichen ist vom Begräbnis gespro­ chen, nur dieses ist bemerkenswert. Die „Unterwelt“ ist biblisch nie die Hölle, son­ dern der Ort der Toten vor dem Gericht. Das „Eingehen (oder Versammeltwerden) zu den Vätern“ (l.Mose 15,15; 47,30; 5.Mose 31,16; Ri 2,10) und das Weilen bei Abraham, hier am Ehrenplatz beim Festmahl (vgl. Mt 8,11; Joh 13,23), erfolgen auch direkt nach dem Tod und sind endgültig. Lukas scheidet Leben nach der Auf­ erstehung deutlicher als Markus von allem Diesseitig-Weltlichen (20,34-36!). Er ver­ steht also das Gleichnis nicht als Reiseführer für das Jenseits. Ob er an Warteräume (äth. Hen. 18-27!) denkt oder verkürzt den Endzustand direkt nach dem Tod ansetzt (s. zu 23,43), ist unklar. Nach 4.Esra 7,32-36 folgen Hölle oder Paradies auf das Warten in den „Kammern“. Verhaftung in der Unterwelt und Unmöglichkeit einer Fürsprache betont auch das jüdische „Buch der Altertümer“ (35,3.5). „Leben“ be­ zeichnet hier wie in äth. Hen.3,5 (s.o. Einl.) untypisch nur die irdische Zeit, weil nicht über das Jenseits belehrt, sondern nur V. 29 eingeschärft wird. Darum ist die Schilderung des Glücks des Armen auch nicht Vertröstung auf ein Jenseits, in dem die Verhältnisse umgekehrt werden (vgl. Ez 17,24, auch Jes 55,13; 60,17). Im Ge­ genteil soll das auf Erden ihm angetane Unrecht gegeißelt werden und die Qual des Reichen ist so geschildert, daß er sich nach dem verzehren muß, was früher den Inhalt seines Lebens ausmachte. Bloße Berufung auf Abraham (3,7 f.) hilft nicht; der Reiche hat durch sein Leben eine unüberbrückbare Kluft geschaffen. Wie 12,30 (vgl. 13,30; 16,8) setzen V.27f. voraus, daß die Notwendigkeit der Umkehr einsichtig wäre und Sünde in der Dummheit besteht, die nicht über den Augenblick hinausdenkt. Ihr kann nur Gottes Wort entgegengestellt werden, selbst wenn einer „von den Toten auferstände“ (christliche Formulierung), hülfe es nicht. Das beweist der Lazarus von Joh 11,43-53. Denkt Lukas oder seine Vorlage daran, daß Jesu Auferstehung nicht überall Umkehr bewirkte (Apg 3,15-17; 13,27-30; 17,30 f.), oder hat ein Verlangen von Gemeindegliedern nach eigenen Ostererfahrungen zu diesem Satz geführt? Entgegen allen Parallelen ist nichts von der Güte des Armen berichtet, höchstens angedeutet, daß er keine Helfer mehr hat außer Gott selbst. Ebensowenig ist der Reiche ein Schurke; aber seine Harmlosigkeit entschuldigt ihn nicht. Sie ist Dumm­ heit, die am Bruder, den er auf seiner Schwelle sehen müßte, und damit an Gott selbst vorbeilebt. Auch wird keine jenseitige Idealwelt ohne Armut (5.Mose 15,4; Piatos „Staat“) als Trost für diesseitige Not gezeichnet. Die Seligkeit des Armen erscheint nur als Objekt des Sehens des Reichen (23). Das Problem der ausgleichen­ den Gerechtigkeit Gottes ist nicht das Thema (vgl. zu 13,1-9). Die ganze Geschichte ist auf den Reichen, genauer auf seine noch lebenden Brüder, auch auf die den luka­ nischen Text lesenden, ausgerichtet. Sie müßte das Wort Gottes von ihrer verkehrten und strohdummen Selbstsicherheit befreien. Sie müßte es das Sehen in umgekehrter © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 17,1-4: Unbegrenztes Vergeben

Richtung lehren und für die Tischgemeinschaft mit allen Armen und Benachteiligten öffnen, wie die Auslegung von „Gesetz und Propheten“ durch Jesus sie schenkt (24,27-31). Lukas hat damit etwas betont, was für das Alte Testament wie für Jesus außerordentlich charakteristisch ist: Gottes Parteilichkeit für die Armen. Man muß sich aber vom Wort treffen lassen, um sie zu verstehen. Dann kann einem auch die Auferweckung eines Toten zum Zeichen werden (Apg 10,40f.); sonst führt selbst sie nur zur Verstockung. Das Leben des Jüngers 17,1-10, vgl. Mk 9,42; Mt 18,6f.l5.21 f.; 17,19f. 1Er sprach aber zu seinen Jüngern: Es ist ausgeschlossen, daß die Anstöße nicht kommen; wehe aber dem, durch den sie kommen. 2Es wäre für ihn eher von Nutzen, wenn ihm ein Mühlstein um seinen Hals gehängt und er ins Meer geschmissen würde, als daß er einen dieser Kleinen zu Fall brächte. 3 Nehmt euch in acht. Wenn dein Bruder sündigt, weise ihn zurecht, und wenn er umkehrt, vergib ihm. 4 Und wenn er siebenmal am Tag gegen dich sündigt und sich sieben­ mal zu dir umwendet und sagt: Ich will umkehren, sollst du ihm vergeben. 5 Und die Apostel sprachen zum Herrn: Verleih uns Glauben. 6 Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, sagtet ihr zu diesem Maulbeerbaum: Entwurzele dich und pflanze dich ins Meer, und er gehorchte euch. 7 Wer aber unter euch, der einen Knecht hat, der pflügt oder weidet, wird dem sagen, wenn er vom Feld heimkommt: Komm rasch herbei und leg dich zu Tisch? 8Wird er ihm nicht im Gegenteil sagen: Bereite mir mein Abendessen, gürte dich und diene mir zu, bis ich gegessen und getrunken habe, und dann iß und trinke du? 9 Er wird dem Knecht doch nicht danken, daß er getan hat, was ihm aufgetragen? 10So auch ihr, wenn ihr alles getan habt, was euch aufgetragen war, sagt: Wir sind unnütze Knechte; wir haben getan, was wir zu tun verpflichtet waren.

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Wenn die Jünger als Adressaten erscheinen, ist betont, daß die vorher anvisierte Gefahr in verschiedener Weise auch für sie besteht. Sie erbitten sich Jesu Hilfe dage­ 1.2 gen und erhalten sie (5-10; s. zu 16,1-13). V. 1 f., ursprünglich eine endzeitliche Warnung, standen schon vorlukanisch zusammen (s. zu Mk 9,42; Mt 18,7), wohl in 3-4 dem von S aufgenommenen und veränderten Wortlaut von Q, ebenso V.3f. (s. zu Mt 18,21-35). Im lukanischen Zusammenhang warnen sie vor jeder Gefährdung des Schwachen, wie sie 16,19-21 für das materielle, 17,3f. für das geistliche zusam­ menleben beispielhaft geschildert ist. Wie Mt 18,15 (s.d.) denkt Lk 17,3 wohl an den Bruder in der Gemeinde; anders als dort an persönliches Betroffensein durch den Fehler des andern, da V.4 („gegen dich“) eng damit verbunden ist. Außerdem setzt Lukas (ähnlich wie Test.G. 6,3 f. [6f.]) voraus, daß der andere „sich umwendet“ und „umkehrt“ (beides oft von der Wendung zu Gott). Lukas liegt sehr daran, daß Jesu 5.6 Ruf Tag um Tag praktisch gelebt wird. Es folgt ein Wort, das Mt 17,20 (s.d. und zu Mk 11,23) ebenfalls als Antwort auf eine Jüngerfrage (s. zu 11,1) steht. Diese ist hervorgerufen durch die Forderungen in 1-4. S kennt den durch Jesus vermittelten Glauben als Hilfe gegen satanische Anfechtungen (22,31 f.); die Verbindung mit V. lf. könnte also schon dort bestanden haben und nicht nur auf das Stichwort „Meer“ (2/6) zurückgehen. Auch das zweimalige Vorkommen von „der Herr“ © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 17,5-10: Glaube als Geschenk

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könnte dafür sprechen (s. Einführung, 2c). Die Pharisäer wurden im Anschluß an das Gleichnis 16,1-8 in 14-18 auf die Geltung des, durch die Gottesreichpredigt neu ausgelegten, Gesetzes hingewiesen, die Jünger auf den Glauben, den sie nur als Ge­ schenk erbitten können (s. zu 22,31). Freilich geht es nicht um ein Mehr oder Weni­ ger; wenn sie echten „Glauben haben“ (nicht „hätten“!), wirkt er, mag er noch so winzig sein (Mk 4,31). Das gilt, selbst wenn beim Bild vom Senfkorn auch an Wachstum gedacht wäre. Ist die verfremdende Vorstellung vom Baum, ohne jü­ dische Parallelen und in der Gemeinde nicht zu erwarten, vielleicht von Jesus ge­ prägt? V . 7 - 1 0 sind Sondergut. Vielleicht gehören die Deutung (10), die die Pointe 7-10 etwas verschiebt (s.u.), und die Ausmalung V. 8 bc noch nicht zur ältesten (jesuanischen) Fassung. Die Formel „Wer unter euch . . . “ (s. zu Mt 12,11) mit Relativsatz oder Partizip und Nachsatz ist typisch für Q (12,25.42f., bei Lk verkürzt: 11,1 f.; 14,5) und S ( 1 1 , 5 - 7 ; 14,28.31; 15,4.8; 1 7 , 7 - 9 ) . „Pflügen“ und „Weiden“ haben zwar keine Funktion im Gleichnis, sind aber Ausmalung der mühsamen Arbeit, ohne daß man sie allegorisch auf Missionare und Gemeindeleiter beziehen sollte. Die 8.9 Haltung des Herrn wird nicht gerechtfertigt (vgl. 12,37); es wird nur festgestellt, daß es so ist. Eingeprägt werden soll der Schlußsatz: wenn schon der Knecht auf dem 10 Bauernhof sich nichts darauf einbildet, daß er das Nötige tut, wie viel weniger der Jünger Jesu. Heute ist der Anspruch des Meisters arbeitsrechtlich nicht mehr so selbstverständlich; aber für Jesu Jünger ist der Streik nie Waffe zur Regelung seiner Verpflichtung gegen Gott. Sicher ist V.10 nicht ein demütiges Schuldbekenntnis empfohlen, sondern Liebe, die weiß, daß sie nie mit ihrer Aufgabe ans Ende kommt. „Unnütz“ ist der Jünger Jesu nicht, weil er nichts ist und nichts kann, sondern weil er bei weitem nicht erfüllt hat, was es alles noch zu tun gäbe. Das gilt auch für Gemeindeleiter, an die Lukas vielleicht denkt, und geht über jüdische Sprüche hinaus: „Wenn du viel Gesetz erfüllt hast, dann tu dir darauf nichts zugut; denn dazu wurdest du geschaffen ... Seid nicht wie Knechte, die dem Herrn dienen, damit sie Lohn empfangen“ (Bill. II 235 und IV 19,k). Das befreit von aller Einbildung, die dann doch wieder zum Messen und Vergleichen und damit zu Minderwertigkeitsgefühlen führt, zur Einsicht in den Geschenkcharakter alles dienenden und daher sinnvollen Lebens. Auf die Bitte um sein vollmächtiges Schenken (V.5) hin befreit Jesus seine Jünger zur Natürlichkeit und zu einem selbstverständlichen Dasein für die, die ihren Dienst nötig haben. Es geht nicht um Sonderleistungen. Alles Vergleichen und Messen wird darum falsch, ob man dann sogar seinen Glauben noch mißt und ihn als besonders groß (oder auch als beschämend klein) einstuft, oder ob man feststellen möchte, daß man jetzt genug geleistet habe und alles, was etwa darüber hinausginge, als außerordentliche Lei­ stung ansieht. „Wir gehören Gott mit allem, was wir sind und haben; darum ist es so dumm, mit Gott abrechnen zu wollen“ (C alvin). So ordnen sich die Sätze auch V. 1— 4 zu; nur wo unbegrenzt und ohne zu zählen vergeben wird, wird der „Skandal“ (so griechisch) vermieden, der „diese Kleinen“ gefährdet.

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G

GLk 17,11-19,27: Überblick

Die Nähe zu Jerusalem: Ausrichtung auf Gottes Endgericht 17, 1 1 - 1 9 , 2 7

Man kann sich fragen, ob die Endzeitrede (17,20-37) gerahmt sein soll durch je einen Abschnitt zum Dank- oder Bittgebet (17,11-19/18,1-8) und je einen, der sich gegen Selbsteinbildung wendet (17,7-10/18,9-14); doch markiert 17,11 den Neueinsatz, und 11-19 ist auch nicht eigentlich vom Dankgebet die Rede. Man sieht also besser in 17,11-19 die V.5-10 aufnehmende Einleitung, die den Glauben (V.5f.l9; 18,8) als dankbar bewußtes Empfangen des geschenkten Lebens versteht. Dann läßt sich eine gewisse in der Reihenfolge umgekehrte Parallele zu 9,51-11,36 (s.d.) sehen. Wie 11,14-36 werden 17,11-19 Mißverständnis der Heiltätigkeit Jesu, 20-25 allzu großer Enthusiasmus und 26-37 falsche Erwartungen abgewiesen. Der Abschnitt über das Gebet 18,1-14 entspricht deutlich 11,1-13 (wo auch zwei Gleichnisse erscheinen, freilich neben anderem). 18,18 wiederholt wörtlich die Frage nach dem ewigen Leben 10,25, wobei 18,15-30 Kinder und Jünger, 10,38-42 Marta und Maria als Gegenfiguren auftreten. 18,31-19,10 endlich erzählt von der Nachfolge des Blinden und dem Gehorsam des Zachäus, während 9,57-10,24 Nach­ folgeworte, Sendung und Rückkehr der Jünger enthalten, wobei dem Jubelruf Jesu 10,21-24 das grundsätzliche Wort vom Menschensohn (19,10) einigermaßen ent­ spricht. In 19,11 ist das 9,51 als Ziel genannte Jerusalem nahe, und das Gleichnis von der Verantwortung der Jünger vor Gottes Gericht 19,12-27 erinnert an das von den Jüngern angedrohte, von Jesus abgelehnte Gottesgericht 9,52-56. Die Entspre­ chungen sind freilich nicht immer klar, manchmal wohl nur zufällig. Vermutlich ist die Reihenfolge eher dadurch motiviert, daß die Endzeitrede 17,20-37 durch zwei Gleichnisse (18,1-14) mit ihren sittlichen Mahnungen (18,8.14b) abgeschlossen wird, wie es ähnlich für die Endzeitreden 21,6-28/29-33/34-36 und 12,35-59 gilt, wo Mahnungen (13,1-5) und Gleichnis (13,6-9) in umgekehrter Reihenfolge ebenfalls erscheinen. In 18,15 geht Lukas ohne Neuansatz zum Markusstoff über. Erst 19,28 markiert er mit der geographischen Annäherung an Jerusalem den Beginn einer neuen Peri­ ode. Die für ihn nicht mehr aktuelle Auseinandersetzung mit den jüdischen Scheide­ briefregeln (Mk 10,2-12) läßt er weg; das Entscheidende ist schon 16,18 (Q) gesagt. Die neue Wertung der Kinder durch Jesus (18,15-17) schließt dann auch gut an V.9-14 an. Die Auseinandersetzung mit den Zebedaiden (Mk 10,35-45) fehlt we­ gen 22,24-27 (s.d.), kaum weil Lukas die Jünger schont (vgl. 9,54f. und zu 18,28). Eher wäre daran zu denken, daß die Jünger Jesu Leiden nicht verstehen können (V.34), daher auch nicht Martyrium und himmlische Herrlichkeit (Mk 10,37-39). Blindenheilung (35-43) und Zachäusgeschichte (19,1-10) müssen hier eingeordnet werden, weil sie in Jericho vor dem Aufstieg nach Jerusalem lokalisiert sind und die Nachfolge schildern. Das Gleichnis 19,11-27 schützt schon im vornherein die fol­ gende Einzugsgeschichte vor Mißdeutung (vgl. zu 13,1-9). Heilung und Heil 1 7 , 1 1 - 1 9 11 Und es geschah, als er nach Jerusalem wanderte, da zog er mitten durch Samarien und Galiläa. 1 2 Und als er in ein Dorf kam, liefen ihm zehn aussätzige

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Lk 17,11-19: Analyse

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Männer entgegen, die fern von ihm stehen blieben. l3 Und sie erhoben ihre Stimme und sagten: Jesus, Meister, erbarme dich über uns! l4 Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht, zeigt euch den Priestern. Und es geschah, während sie hingingen, da wurden sie gereinigt. 15 Einer aber von ihnen, als er sah, daß er geheilt worden war, kehrte um, indem er mit lauter Stimme Gott pries. l6 Und er fiel auf sein Gesicht zu seinen Füßen, ihm zu danken. Und das war ein Samaritaner. 17Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht zehn gereinigt worden? Wo aber sind die neun? 18 Hat sich keiner gefunden, der zurückkehrte, um Gott den Lobpreis zu erstatten außer dieser Fremde? 19 Und er sprach zu ihm: Steh auf und gehe, dein Glaube hat dir geholfen. V. 11 und 19 weisen lukanischen Stil auf. Sie zeigen, wie er die Geschichte theolo­ gisch einordnet. Sie ist klar in ihrem Ablauf: Helfer und Hilfebedürftige treten auf (12). Auf deren Bitte (13) folgen Zuspruch der Hilfe und ihre Verwirklichung (14). zusätzlich wird die Reaktion des Einen erzählt (15 f.), die zur Pointe führt, zur Frage Jesu (17f.). Darin werden am Anfang und Ende die Zehn dein Einen entgegenge­ stellt, während dazwischen das Verhalten der Neun in zwei Fragen beschrieben wird. Die Überlieferung von Aussätzigenheilungen (Mk 1,40-45; vgl. 2.Kön 5,l-19) ist hier vielleicht verwendet worden, um diese Pointe einzuprägen. Sonst gibt es kaum Parallelen dazu. Die Geschichte mag schon mit der Endzeitrede verbunden gewesen sein, weil Heilung von Aussatz wie eine Totenerweckung angesehen war, wohl weil sie ebenso schwer zu sein schien (Bill. IV 751). Für Lukas setzt der neue Hinweis auf Jesu Zug nach Jerusalem das Signal: nur Glaube, wie er hier geschildert wird, ist bereit für das Kommen des Menschensohns, der zuvor in Jerusalem leiden muß (17,25; vgl. 19,11). Die geographische Angabe ist völlig unklar. „Mitten durch Samarien und Galiläa“ verliefe eine Wanderung von Jerusalem in den äußersten Norden. Darum haben Abschreiber korrigiert „zwischen ... hindurch“, was höchstens einen Sinn gäbe, wenn es hieße „an der Grenze ent­ lang“. Aber Lukas liegt nur daran, die Anwesenheit eines Samaritaners (s. zu 9,52; 10,33) unter den Juden zu erklären. Die Kranken halten sich an die gesundheitspoli­ zeilichen Vorschriften von 3.Mose 13,45 f. und halten Distanz, überbrücken diese aber zugleich durch ihren Anruf (s. zu 5,5). Heilung von Aussätzigen muß von Priestern bestätigt werden (5,14). Das damit verbunden Opfer war nur in Jerusalem möglich (V. 11!). V. 14 soll aber wohl nur die Rückkehr des Einen (ohne die Neun) vorbereiten. Weder ist es also als Glaubensprobe zu verstehen, daß die Heilung erst beim Weggehen erfolgt, noch dient die Treue Jesu zum Gesetz als Kontrapunkt zum Handeln des Samaritaners (s. zu 5,12-6,11 Einl.). Der Lobpreis, der sich auf Gott selbst richtet und nicht einen Heilkünstler vergöttert, ist Lukas wichtig; er fügt ihn 5,25 (V.26 = Mk2,12); 18,43 („Preis“ und „Lob“ wie 2,20); 19,37; 23,47 (?) zu und übernimmt ihn in S (1,64; 2,20; 7,16; 13,13; vgl. 5,8; 9,43; Apg3,8; 4,21; 11,18; 13,48; 21,20 und zu Lk 10,17). Er fehlt in der von Markus übernommenen und der damit, freilich auch mit Mt 12, l0f. verwandten Geschichte von der Sabbat­ heilung (6,10; 14,4). Daneben tritt der Dank an Jesus, der durch das Niederfallen gesteigert wird. In der späteren Kirche heißt das Herrenmahl „Danksagung“ (Eucha­ ristie) und wird der Ruf „Erbarme dich“ wie die Wendung vom „Sicherheben“ und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 1 7 , 1 1 - 1 9 : Heilung und Heil

„Auf(er)stehen“ (vgl. Eph 5,14) liturgisch; in Apg wird das aber noch nicht spürbar. 17.18 V. 17 deutet schon die Geschichte; vielleicht ist die zusätzliche Erwähnung des Got­ 19 teslobes (s. zu V. 15) und der Fremdstämmigkeit des Geheilten lukanisch. Sehr wahr­ scheinlich ist dies beim Schlußsatz. „Heilung“ und „Heil“ ist im Griechischen ein Wort. Apg 27,20.31.34; 28,4 ver­ wenden es rein weltlich. Der Satz, der sonst die körperliche Heilung auf den Glauben zurückführt (8,48; 18,42 = Mk 5,34; 10,52) wird hier nur dem Einen gesagt, 7,50 (s.d., Schl.) sogar der Frau, die keinerlei körperliche Gebrechen hatte. Durchbre­ chung sozialer Barrieren (7,37—43) und Heilung von Krankheit (17,14) gehören zum Heilsgeschehen, und schon daß es dafür nur ein Wort gibt, zeigt, wie wenig sich echter Heilszuspruch davon dispensieren kann. Aber selbst der erstaunliche Glaube der Neun, die auf das bloße Wort hin Jesus das Wunder zutrauen, oder der bewun­ dernswerte Mut, mit dem die Frau sich revolutionär über die ihr gesetzten sozialen Schranken hinwegsetzt, sind nicht das Heil, solange es nicht zur Erkenntnis des barmherzigen Tuns Gottes kommt, die in der großen Liebe (7,44—47) und Dankbar­ keit (17,15 f. 18) Gestalt annimmt. Sonst bleibt der Mensch bei sich selbst, ja mehr als zuvor, weil er sich in seinem revolutionären oder zur physischen Heilung führen­ den Tun vergöttert. Daß das Stehenbleiben beim Status quo des im Gesetz Geforder­ ten und das Vorbeileben am Elend der Kranken genauso vom Heil wegführt, ist z.B. 11,37-12,1; 14,1-6 schon gesagt worden. Der Samaritaner ist Außenseiter (V. 19) wie die Frau von 7,50. Gerade bei ihm gehören Heilung und Heil zusammen, weil er nicht bei der Heilung stehen blieb. Sein Glaube hat ihn zum wirklichen Heil geführt, nämlich zu dem, der sie ihm verlieh. Wie die Schöpfung zum Götzen wird, wenn der Mensch nicht durch sie hindurch den Schöpfer sieht, so kann körperliche Heilung vom Heil wegführen, wenn der Mensch nur „etwas“ (z.B. Gesundheit oder poli­ tische Befreiung oder soziale Sicherheit) will und nicht in diesem „etwas“ drin Gott selbst. Naeman nahm nach seiner Heilung zwei Maultierlasten Erde mit, um unter den vielen Göttern in seinem weltlichen Dienst nicht zu vergessen, was Gott an ihm getan hatte (2. Kön 5,17-19). Er brauchte ein Stück heiligen Bodens, auf dem er Stand hatte. Darum schenkt auch Jesus seiner Gemeinde die Eucharistie als Erinne­ rungshilfe. Ebenso wären Wegkreuze, Bildstöcke und die etwas altmodisch gewor­ dene Dankopferbüchse zu verstehen, noch besser eine moderne Gemeindeordnung (im Hochland von Neuguinea), nach der jedes Gemeindeglied jährlich einmal den Ältesten darüber Rechenschaft ablegt, was Gott ihm alles geschenkt und was es damit angefangen hat. Eine Gemeinde ohne Krankenheilung ist eine geistlich arme Gemeinde. Eine Ge­ meinde, in der das nicht mehr in aller Stille geschieht, sondern ins Zentrum gerückt propagandistisch wirken soll, ist eine geistlich gefährdete Gemeinde. Denn ob Hei­ lung in außergewöhnlicher Weise durch Gebet erfolgt oder in „gewöhnlicher“, etwa im treuen Einsatz eines Arztes, ist nicht die wichtigste Frage. Entscheidend ist, ob die körperliche Heilung in ein neues Leben mit Gott hineinführt oder nicht. Dazu kann das Zeichen einer Gebetsheilung helfen, und ihr völliges Fehlen ist ein für die Ge­ meinde unnatürlicher Zustand. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 17,20-37: Analyse

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Gegenwart und Zukunft des Gottesreiches; Endzeitrede für die Jünger 17,20-37, vgl. Mk 13,19-23.14-16; Mt 24,23-28.37-41.17f.; 10,39 20 Als

er aber von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes komme, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man es beobachten kann [mit Beobachtung]; 21 auch werden sie nicht sagen: Siehe hier, siehe dort! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch. 22 Er sprach aber zu den Jüngern: Es werden Tage kommen, da ihr danach verlangen werdet, einen der Tage des Menschensohns zu sehen, und werdet ihn nicht sehen. 23 Und sie werden zu euch sagen: Siehe da, siehe hier! Geht nicht weg und lauft dem nicht nach! 24 Denn wie der Blitz bei seinem Blitzen von einem Horizont zum andern leuchtet, so wird der Menschensohn sein an seinem Tage. 25 Zuerst aber muß er viel leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht. 26 Und wie es geschah in den Tagen Noas, so wird es auch in den Tagen des Menschensohns sein. 27 Sie aßen, tranken, heirateten und ließen sich heiraten bis zu dem Tag, da Noa in die Arche ging, und es kam die Flut und vernichtete alle. 28 Gleicherma­ ßen wie es geschah in den Tagen Lots, sie aßen, tranken, kauften, verkauften, pflanzten, bauten. 29 An dem Tage aber, an dem Lot aus Sodom auszog, „ließ er es Feuer und Schwefel vom Himmel regnen“ und vernichtete alle. 30Ebenso wird es sein an dem Tag, an dem der Menschensohn offenbart wird. 31 An jenem Tag soll der, der auf dem Dache sein wird und seine Habseligkeiten im Haus, nicht hinab­ steigen, um sie zu holen, und gleichermaßen soll, wer auf dem Felde ist, sich nicht rückwärts wenden. 32 Erinnert euch an die Frau Lots. 3 3 Wer immer sein Leben zu erhalten sucht, wird es verlieren, und wer immer es verlieren wird, wird es be­ wahren. 34Ich sage euch: In der Nacht werden zwei auf einem Bette sein, der eine wird angenommen werden und der andere zurückgelassen. 35Es werden zwei am selben Ort mahlen, die eine wird angenommen werden, die andere aber zurück­ gelassen. 37 Und sie antworteten und sagten zu ihm: Wo, Herr? Er aber sprach zu ihnen: Wo die Leiche ist, da werden sich die Geier darüber sammeln. Vers 27.32: vgl. l.Mose 7,12; 19,24.26.

Von 17,23 an folgt Lukas Q. In Mt 24 folgten nämlich V.37-39 ursprünglich direkt auf V.26f. (s.d.) wie bei Lukas. Nur hat dieser aus theologischen Gründen V.25 dazwischen eingefügt. In V.28f. ist, schon im Blick auf Lots Frau in V.32, Lot als zweites Beispiel neben Noa angeführt. Die Satzkonstruktion läßt noch deutlich den sekundären Einschub erkennen. Selbst die Warnung vor der Rückkehr ins Haus V. 31 (Mk 13,5) stand wahrscheinlich in Q, wurde aber von Matthäus weggelassen, weil er sie nach Markus schon in V. 17f. aufgenommen hatte. Darauf weisen stili­ stische Kleinigkeiten und der dann bestehende Stichwortanschluß „auf dem Acker“ (Mt 24,18/40). Die Warnung davor, „sich umzuwenden“ (V.31) hat Lukas geistlich im Sinn von 9,62 und 14,26.33 verstanden und hat darum auf Lots Frau zurückver­ wiesen und die Mahnung, sein Leben nicht retten zu wollen, angehängt (V.32f). Das Wort vom Aas stand wohl schon in Q am Ende wie bei Lukas (V. 37); Matthäus mag es nach 24,28 vorgezogen haben, weil dort in V.26 von der Wüste die Rede war. Lukas hat diese Rede durch V. 20-22 eingeführt. Schon das sachlich nicht unmög­ liche, stilistisch aber harte Nebeneinander von „Sie werden nicht sagen ...“ und „Sie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 17,20-21: Das Gottesreich - schon da

werden sagen ...“ (V.21.23) weist daraufhin, daß Einleitung und Rede nicht aus einem Guß sind. Hat Lukas ein ihm bekanntes Wort über den nicht zu errechnenden Zeitpunkt des Kommens des Reiches (V. 20b.21 a) durch eine von außen kommende Frage (s. zu 11,1) und vor allem durch den Satz von der Gegenwart des Gottesrei­ ches von einer rein apokalyptischen Zukunftserwartung abgehoben? Sollte er dann sogar V.21a nach dem Muster von V.23 gebildet haben? Aber ohne den entschei­ denden Satz von der Gegenwart des Reiches bleibt doch alles ohne Pointe. Viel eher lag also der, vermutlich wie 11,20 auf Jesus zurückgehende, Satz V.21b mit dem ungewohnten Ausdruck „mitten unter euch“ schon in der Tradition vor, und Lukas hat durch V.20a und 22 eingeführt und mit der folgenden Rede verknüpft. Wie bei der Aussendungsrede hat Lukas also Q in 17,23-37 und Mk in 21,5-33 gesondert übernommen, während Matthäus beide Versionen ineinander gearbeitet hat. Q enthielt V.23f.26f.30f.34f.37; Lukas interpretiert sie durch V.25.28f.32f. Auf die Warnung vor falschen Erwartungen folgt die Ankündigung des Kommens des Menschensohns, die sofort durch den Hinweis auf die Passion korrigiert wird (25). V.26-30 gehen zur Haltung der Menschen gegenüber dem sicher kommenden Gericht über, was durch die Deutung von V.31 in 32f. verstärkt wird. V.34-37 schließen mit seiner scheidenden Funktion. Ähnlich Mk 13 scheint auch S (Q) das Wirken Jesu vor der Passion mit einer Endzeitrede und zwei darauf hinweisenden Gleichnissen (18,1-14) abgeschlossen zu haben, die freilich schon vor dem Einzug in Jerusalem eingeordnet waren. 20

Die Frage, wann das Gottesreich komme, wird immer im Zusammenhang mit Jerusalem (V. 11) gestellt (19,11; 21,7; Apg 1,6). Lukas grenzt von der Erwartung eines auf Israel begrenzten (Apg 1,6) Weltreiches ab. Vielleicht sind deswegen auch die Pharisäer die Frager. Ist die „Beobachtung“ des Gesetzes (Gal 4,10) gemeint, die das Kommen des Reiches beschleunigte? Nach den Rabbinen bräche die Erlösung an, wenn Israel zwei Sabbate völlig hielte (Bill. I 600,b). Oder ist an die Passanacht gedacht (vgl. zu V.34), in der man das Reich erwartet? 2. Mose 12,42 nennt sie in einigen griechischen Ubersetzungen „Nacht der Beobachtung“. Aber Apg richtet sich weder gegen das eine noch gegen das andere, sondern gegen Jünger, die nach „Zeiten und Zeitabschnitten“ fragen (1,7). Daher ist am wahrscheinlichsten, jedenfalls für Lukas, das Ausschauen nach Zeichcn gemeint, nach denen man das Kommen berechnen könnte (Bill. IV 1015: „Wer das Ende berechnet, hat keinen Anteil an der 21 zukünftigen Welt“). Dazu paßt, daß man auch den Ort nicht festlegen kann. Apg 1,6-8 wird neben der falschen Zeit- auch die falsche Ortserwartung (nicht nur Israel!) korrigiert. Wenn das Reich da ist, kann niemand mehr auf die Idee kommen, es auf ein „Hier“ oder „Dort“ zu begrenzen (vgl. V.24). Das zeigt sich schon in der Gegenwart. Man könnte übersetzen „in euch“, d.h. in den Herzen der Menschen. So versteht es ein Papyrus (Hennecke I 63): „Das Gottesreich ist in euch und (wer sich) erkennt, wird es finden“ (ähnlich Ev.Tom. 3: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch und [nicht?] außerhalb. Wenn ihr euch erkennt, dann werdet ihr erkannt werden...“; vgl. 113). So verstehen die meisten Kirchenväter. Man kann dann die Verbor­ genheit des Schatzes und Sauerteigs betonen (Hippolyt), die Teilhabe des Glauben­ den an Gott (Origenes), den im Wort mystisch in uns wohnenden C hristus (Athana© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 17,21-22: Mitten unter euch-erst zukünftig

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sius), die moralische (Erasmus) oder kirchliche (C alvin) Herrschaft Gottes in den Herzen. C alvin sieht freilich die Schwierigkeit und erklärt, die Antwort Jesu richte sich schon an die Jünger (im Text freilich erst V.22). Im Sinne von Mk 7,15 (vgl. Mt 18,3 f.) wäre das nicht unmöglich, obwohl für Jesus innere Haltung und äußere, lebensmäßige Gestaltung sonst zusammengehören. Auch für Lukas wäre es im Sinn von 16,15 (vgl. Eph. 3,17) denkbar; aber er verwendet dort wie immer ein anderes Wort für „in“, und nach ihm richtet sich der Satz „es ist in euch“ an Pharisäer. Das wäre nur möglich, wenn man verstünde: „in eurem Machtbereich“, d.h. es liegt an euch, ob es da ist oder nicht. So versteht es Tertullian: es hängt von unserem Willen ab. Dann wäre es der Schritt von rein passiver Erwartung zu aktiver Zuwendung. Aber die Belege für diese Bedeutung sind nicht klar, freilich auch nicht für die Übersetzung „in eurer Mitte“ (Xenophon und spätere griechische AT-Übersetzun­ gen?). So versteht C yrill, der daneben für die Jünger „in euch“ gelten läßt. Aber wie ist das zu verstehen? Von der Zukunft, wo es plötzlich da sein wird (so Loisy)? Aber dann müßte es wie V. 23 f. nicht nur heißen „sie werden sagen“, sondern auch „es wird sein“ oder „es kommt“ wie V. 20. Wiederum könnte das ursprünglich der Fall gewesen sein; aber mindestens Lukas hält (wie auch Loisy erwägt) als Gegen­ gewicht gegen V. 22-37 fest, daß zwar das sichtbare Kommen des Menschensohns zukünftig sein wird, nicht aber das Gottesreich (dazu vgl. A. nach 21,3,b). Das gilt, ob seine Gegenwart in Jesus („in eurer Mitte“) betont ist oder die in der Bereitschaft der Hörer für ihn oder gar die in den Herzen derer, die sich ihm öffnen. Jedenfalls dringt es in Jesu Wort und Wirken schon jetzt in das Leben des Menschen hinein und ruft praktische Folgen hervor, wie sie V. 15-19 eben illustriert haben. Vgl. 1,33 und Röm 14,17. Das folgende ist Jüngerbelehrung. Der Plural „Tage des Menschensohns“ stammt 22 wohl aus V.26. Dort ist freilich die Periode vor dem Gericht gemeint, wie die Tage Noas diejenigen vor der Sintflut sind, während „der Tag“ V.24.30f. der des Kom­ mens des Menschensohns ist (wie 21,34; 10,12). Lukas liebt „Tage“ als Bezeich­ nung einer ganzen Periode (9,51; lukanisch auch 4,2; 5,35; 6,12; 9,36). Aber was ist damit gemeint? Die Formel „es kommen Tage“ bezieht sich in 21,6 (s.d.) wie in 5,35 auf die Zeit nach Jesu Tod. Das paßte mit 17,26.28 zusammen, wo an eine Zeit der Bedrohung und Versuchung gedacht ist. Was wären dann die „Tage des Menschensohns“, nach denen man sich sehnt? Sicher nicht wie in V.26 dieselbe Periode. Sind es etwa die des irdischen Jesus, die in 10,12 mit denen von Sodom ver­ glichen werden (wie in Lk 17,28 die Zeit zwischen Ostern und Weltende), in 11,2932 mit denen Jonas, der gegen das Jesus ablehnende Geschlecht auftreten wird, wenn der Menschensohn kommt? Könnte 17,22 also sagen, daß die Menschen nach Jesu Tod die verpaßte Zeit der Entscheidung zur Zeit der irdischen Wirksamkeit Jesu zurückersehnen, daß es dann aber zu spät sein wird? Aber einmal ist der Satz ja den Jüngern gesagt und dann ist der „Menschensohn“ im ganzen Zusammenhang immer der einst zum Gericht Kommende. Dann muß man im Sinn von 22,30 an einen der Tage des kommenden Reiches denken, in dem die Jünger mit dem Menschensohn zusammen sein werden. Klarer wäre der Gedanke, wenn man statt „einen“ nach semitischem Gebrauch, der auch Apg 20,7 übernommen ist, „den ersten“ übersetzen dürfte. Aber das wäre nur möglich, wenn der Artikel dabei stünde, kommt auch nur © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 17,23-37: Das Kommen des Menschensohns

in der häufigen Wendung „der erste der Woche“ vor. So gut es zu 21,28 paßte, Lu­ kas kann nicht an den ersten Tag der Erlösung, an den Tag des Kommens Jesu ge­ dacht haben. Jedenfalls charakterisiert die Einleitung die kommende Zeit als An­ fechtung (Apg 14,22), in der sich die Jünger, die die V.21 den Pharisäern zugemutete Entscheidung schon getroffen haben, nach Jesu Kommen sehnen. Sie, die die Herr­ lichkeit sehen möchten, müssen glauben lernen. Die Warnung hat Lukas an V.21a angeglichen (wie oft: 23,35/37/39; auch 8,21/11,28; 10,25/18,18; 12,11/21,14; 22,2/4; vgl. Einführung 2a). Was in Wahrheit unmöglich ist (V.21), tun die Irrlehrer. Über Mt 24,27 (s.d.) hinaus ist das Leuchten des Blitzes von Horizont zu Hori­ zont betont (vgl. s.Bar. 53,8 f.: der Blitz „erleuchtete die ganze Erde und heilte die Länder“). Der Tag ist wie V.31 der des Kommens Jesu. Wie 19,11 wird der Ge­ danke an eine Herrlichkeit ohne Passion abgewehrt. Dafür verwendet Lukas eine alte Formel (9,22; s. zu Mk 8,27-33 Einl.), die nur das Jesus von „diesem Ge­ schlecht“ (s. zu Mt 11,16) angetane Leiden hervorhebt (ähnlich 9,44; vgl. Apg 14,22). Über Mt 24,37-39 hinaus werden das Beispiel Sodoms und damit auch Handel, Acker- und Hausbau als typische Alltagsbeschäftigungen (nicht etwa die Sünden Sodoms!) zugefügt. „Die Tage des Menschensohns“ bezeichnen hier die Zeit, an deren Ende er endgültig (V.30) kommen wird. Da man diesen Tag aber nicht kennt, steht faktisch die ganze Zeit seit Ostern unter der Möglichkeit, diese letzte Periode zu sein. Wie Noas „Eingehen“ in die Arche in biblischen Wendungen beschrieben ist, so das Gericht nach dem „Hinausgehen“ Lots. Beide sind auch 2.Petr2,5f. zusammengestellt, ebenso Weish 10,4-7; Philo, Mose 1153-56; Bill. I 574; 3.Makk. 2,4f.; Test.N. 3,4f. Während in V. 26 neben den Tagen Noas auch die Tage des Menschensohns standen, ist V.30 wie Mt 24,39 von „dem Tag“ ge­ sprochen, an dem sich der Menschensohn „offenbart“. Das bezeichnet „Offenba­ rung“ auch 1.Kor 1,7; 2.Thess 1,7, während das Verb „sich offenbaren“ sonst anders verwendet wird (Röm 1,18; 2.Thess 2,3-8). V.31 (s. zu Mk 13,15f.) drückt in diesem Zusammenhang wohl nur aus, daß beim Kommen Jesu keiner mehr seinen Besitz zusammenraffen kann. Darum wird Lots Frau als warnendes Beispiel ange­ führt. Die Mahnung, nicht zurückzuschauen, sagt in l.Mose 19,17 wohl, daß es beim Gericht Gottes keine Zuschauerhaltung gibt; entweder entrinnt man ihm, in­ dem man nur auf das von Gott gesetzte Ziel schaut, oder man wird davon betroffen. Die dort damit verbundenen Stichworte vom „Retten des Lebens“ haben aber Lukas an das Q-Wort V. 33 (s. zu Mk 8,35 und Mt 10,39) erinnert. Auch in der zweiten Endzeitrede fügt er 21,18 einen Satz aus Q ein. Er versteht also ihr Zurückschauen als Hängen am irdischen Besitz und mahnt zu jener inneren Freiheit, die schon im irdi­ schen Leben eingeübt werden muß. Als Warnung vor Konservativismus (s. zu 21,19) ist es gewiß nicht zu verstehen. „Erhalten“ (so Ez 13,19 im Gegensatz zu „töten“) hat im Griechischen den Nebenton „durch eigene Leistung erwerben“, der Gegenbe­ griff „bewahren“ (so 2. Mose 1,17; Apg 7,19) den des „Erweckens“ und „Zeugens“. Lukas unterstreicht also das Beteiligtsein des Menschen, konzipiert die Annahme des Kommenden als sittliche Mahnung für die Gegenwart und denkt dabei nicht mehr nur an Märtyrer. Anders als Mt 24,40f. erwarten V.34f. das Gericht nachts, beim Festmahl (so Ev.Tom. 61b) oder im Schlaf der Männer und beim Mahlen der Frauen (vgl. zu 8,3) vor Sonnenaufgang. Oder ist an ein schlafendes Ehepaar gedacht, des© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 17,20-37: Endzeitrede

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sen Mägde schon an der Arbeit sind? Wahrscheinlich gehört die Nacht aber nur zum Bild vom „Wachen“ (Mk 13,35), das hier freilich nicht betont, jedoch Mt 24,42 mit diesem Doppelspruch verknüpft ist, freilich im Anschluß an 24,36 auf den „Tag“ des Kommens Jesu bezogen (während die Nacht-„Stunde“ in V.43f. erscheint). V.36 (Mt 24,40) fehlt in allen alten Handschriften. V.37, mit unlukanischer Einfüh- 36.37 rung in der Gegenwartsform (s. zu 16,23 Einl.), schließt die Rede und weist noch­ mals alle örtliche Beschränkung ab (s. zu V.21). So ist das „Aas“ Bild für Gottes Gericht (s. zu Mt 24,28) wie Hiob 39,30: „Wo Erschlagene sind, da ist er (der Geier)“. Die ganze Rede betont, daß man sich das Kommende weder örtlich noch zeitlich vorstellen kann. Sie verwendet daher lauter Bilder, die den Menschen in Bewegung setzen und schon sein jetziges Leben, das V.22 als Anfechtung beschreibt, prägen sollen. Darum erscheint die Endzeitrede nicht nur am Ende der Wirksamkeit Jesu unmittelbar vor der Passion wie Mk 13 (Lk 21), sondern auch innerhalb des Berich­ tes von Jesu Wanderung. Schon die ersten zwei Verse machen eine Zuschauerhaltung, die sich absichern will, unmöglich. Man kann nicht wie ein unbeteiligter Wis­ senschaftler „beobachten“, um dann daraufhin eventuell eine persönliche Entschei­ dung zu treffen, als ob der Mensch sich einfach von sich aus so oder anders zum Gottesreich verhalten könnte. Faktisch verhält sich das Gottesreich zu ihm, indem es nämlich schon auf ihn zugekommen ist. Darum kann der Mensch auch nicht dem Gottesreich seinen Platz anweisen, in der Gegenwart oder in der nahen oder fernen Zukunft. Es weist ihm seinen Platz an, weil es in Jesu Wirken schon die ganze Gegen­ wart prägt. Wer nach Zeichen für sein zukünftiges Kommen ausschaut, hat immer noch Zeit, wenn vielleicht auch nur kurze, sich zu überlegen, ob er sich darauf ein­ stellen will oder nicht. Beim Gottesreich ist aber die Zukunft nicht als Abstand von der Gegenwart zu verstehen; sie nimmt die Gegenwart schon in sich herein. Als sich in der Zukunft vollendendes ist es schon da wie der wirkende Sauerteig im Mehl, der lebendige Same im Acker, der das Tun der Knechte bestimmende Herr. Wer es nur als Gotteskindschaft verstünde, hätte in falscher Weise spiritualisiert und vergessen, wie sehr es die Welt, ja den Kosmos erfassen und sie in ihren Grundstrukturen wan­ deln will. Wer es nur als Hoffnung auf ein zukünftiges wunderhaftes Weltende ver­ stünde, hätte in falscher Weise apokalyptisiert und vergessen, wie sehr es den Men­ schen heute bestimmen und bis ins Letzte hinein prägen will. Darum ist der Rückzug in die Innerlichkeit ebenso verkehrt wie die Gleichsetzung mit irgendeiner, auch säkularisierten Utopie oder der Durchsetzung eines reaktionären oder revolutionä­ ren Programms. Das Gottesreich ist weder hier noch dort (23). Die eigentliche Ge­ fahr ist die Harmlosigkeit, in der der Mensch im bürgerlich wohlanständigen Alltag den offenen Blick in die Zukunft Gottes hinein verliert (26-30). Erst recht sind alle Träume von unmittelbarer Verwirklichung paradiesischer Herrlichkeit aufzugeben. Wie Jesus selbst (25) muß sein Jünger für das Kommende frei, nicht mehr an das Vergehende gebunden leben (31 f.). Das mag so sinnlos erscheinen wie der Bau der Arche oder die Flucht Lots (27.29), und der Jünger kann niemandem beweisen, was Jesus ihm sagt: daß das Leben, das der Mensch krampfhaft bewahren oder sich schaffen will, Schein, das Leben, das der Glaube erweckt, Wirklichkeit ist (33). Wie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 18,1-8: Analyse

Lots Frau beweist, ist auch der zur Rettung Erwählte gefährdet. Darum soll das Wissen um die kommende Scheidung (34-37) ihn zu einem Leben bewegen, das betend alles auf Gott setzt (18,1-14). So ernst die Mahnung ist, so sehr zeigen die anschließenden Gleichnisse, daß sie Mut zu einem Leben machen will, das frei ge­ worden ist von dem, was alle Welt für wichtig hält. Das mag Leiden mit sich bringen, und sein Sinn kann nicht einfach jedermann demonstriert werden. Es ist aber ein Leben, das nicht mehr an Gott vorbei, sondern auf ihn hin gelebt wird. Zwar kann und soll man sich Jesu Kommen nicht in menschlichen Begriffen vorstellen, wohl aber auf jene letzte Begegnung mit ihm hin leben, die über alles hinaus, was ge­ schichtliche Tradition, ja selbst der heilige Geist mitten in der Anfechtung vermittelt, den endgültigen Frieden bringen wird. In ihr wird sichtbar werden, daß Gott das Gesicht Jesu trägt und daß alle Begegnung mit Jesus im irdischen Leben des Men­ schen Einübung auf jenen Tag hin ist, an dem Gott selbst in der Gestalt Jesu C hristi den Menschen in das endgültige Leben mit Gott hereinholt.

Ruf zum anhaltenden Gebet zum gnädigen Gott 18,1-8 1 Er sagte ihnen aber ein Gleichnis, daraufhin, daß man immer beten und nicht müde werden soll, 2 und sagte: In einer Stadt war ein Richter, der weder Gott fürchtete noch sich um einen Menschen kümmerte. 3 In jener Stadt war aber eine Witwe, und die kam zu ihm und sagte: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersa­ cher. 4 Und lange Zeit wollte er nicht. Dann aber sprach er bei sich selbst: Wenn ich auch Gott nicht fürchte und mich um keinen Menschen kümmere, will ich, 5 weil diese Witwe mir Mühe macht, ihr Recht schaffen, nicht daß sie am Ende noch kommt und mich malträtiert. 6Der Herr aber sprach: Hört, was der unge­ rechte Richter sagt. 7 Sollte Gott aber nicht seinen Auserwählten Recht schaffen, die Tag und Nacht zu ihm schreien und wird er ihnen gegenüber auf sich warten lassen? 8Ich sage euch: Er wird ihnen rasch Recht schaffen. Doch wird der Men­ schensohn, wenn er kommt, Glauben finden auf Erden?

Das Gleichnis umfaßt V. 2-5. Der Helfer wird durch seine Lebensweise, die Hilfs­ bedürftige durch ihr Handeln charakterisiert (2f.). Das Hindernis zur Hilfe ist eben diese Lebensweise des Helfers (V.4 wiederholt). Es wird durch das Handeln der Bittenden überwunden (V. 4L). Die deutende Einleitung V. 1 (vgl. zu 13,1-5) mit der schon stereotypen Wendung vom „ständigen Beten“ ist lukanisch (s. zu 5,36). V. 5 erinnert in der Wortwahl an 11,7f. V. 8 b ist ein Einzelwort oder ursprüng­ licher Abschluß nach 17,37 in unlukanischem Stil. Hat Lukas damit am Schluß einen Appell an den Leser zugefügt (vgl. 15,25-32), wie er auch 17,19 nach dem Dank(gebet) des Aussätzigen auf den „Glauben“ hinweist? V. 6 erinnert an 16,8a, wobei hier „der Herr“ eindeutig Jesus ist. Ohne V. 7 (und 8 a) wäre das Gleich­ nis unverständlich, außer Jesus hätte es in eine Situation hineingesagt, die es ein­ deutig ausgelegt hätte. Dann müßte aber schon der erste Erzähler mindestens V. 7 zugefügt haben. V.8a wiederholt V.7 mit stärkerer Betonung der raschen Hilfe, was dem Bild vom Richter eher widerspricht. Schwierig ist das Ende von V.7. Soll man eine aramäische Vorlage annehmen und übersetzen „selbst wenn er ... auf sich war© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 18,1-8: Beten dürfen

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ten läßt“? Im Griechischen geht das jedenfalls nicht; auch 2. Kor 13,4 ist für solchen Sprachgebrauch keine Parallele. Außerdem wäre dann Konjunktiv Aorist oder Futu­ rum zu erwarten. Man könnte übersetzen: „und er ist mit ihnen geduldig“; aber das paßt weder zum Gleichnis noch erst recht zu „rasch“ in V . 8 a , ob man dabei an die Jünger denkt, deren Bitten er anhört, oder an die, denen seine Geduld noch eine Möglichkeit zur Umkehr schenkt (2.Petr 3 , 9 - 1 2 ) . Mindestens müßte dann „Aber“ stehen. Dann kann man also auch kaum an eine Urform von V. 2-5.7f. denken, die einerseits das sichere Kommen des Menschensohns zum Gericht betonte, anderer­ seits an seine große Geduld erinnerte und damit die Endzeitrede 1 7 , 2 0 - 3 7 begrün­ dete. So kann man wohl nur wie oben übersetzen und die Schlußwendung ebenfalls als Frage verstehen, obwohl das Verbum eher ein geduldiges Warten beschreibt als ein Hinauszögern. Der Stil erinnert durchweg an Lukas. Wie 11,8 betont Lukas das anhaltende oder immer wieder einsetzende, ja Gott bedrängende Bitten stärker als die Gewißheit des (baldigen) Kommens des Endes. Diese soll das Leben in der Gegenwart prägen (s. zu 17,20-37 Schl.). „O daß der Mensch doch den ganzen Tag hindurch beten könnte!“, wünscht auch der Rabbi (Bill.). „Weder fromm gegen Gott noch gütig gegen die Menschen“ schildert Jose­ phus Altert. 10,83 Jojakim. Bei Vermögensstreitigkeiten darf ein allgemein anerkannter Mann auch als Einzelrichter entscheiden (Bill. 1289). Das noch zu erwar­ tende Drängen der Witwe wird kraß geschildert (wörtlich: „durch kontinuierliche [Präsensformenj Schläge unter das Auge“), ob man wie oben übersetzt oder „in alle Ewigkeit, unaufhörlich“ (trotz anscheinender Nutzlosigkeit). Schwerlich ist nur gemeint „mich mein Gesicht verlieren läßt“. Was selbst der ungerechte Richter (wörtlich: Richter der Ungerechtigkeit, vgl. 16,8) schließlich tut, wird Gott noch viel eher tun (vgl. zu 11,8). „Die Unverschämtheit besiegt den Bösen, wieviel mehr den Allgütigen der Welt“ (Bill. I 456). Das von ihm durchgesetzte Recht, das gerade den Wehrlosen und Schwachen zugute kommt, ist Ziel Gottes; doch wird nochmals das andauernde Bitten eingeschärft. Die Wendung „auf sich warten lassen“ könnte aus Sir. 35(32), 13-22(18!) stammen, wo der Richter geschildert wird, der ohne Partei­ lichkeit der Witwe hilft. V.8 stellt „rasche“ Hilfe in Aussicht. Lukas denkt dabei vielleicht an ihr „plötzliches“ Kommen; doch vgl. zu 21,32. Die Übersetzung „ohne Bedenken“ (statt „rasch“) läßt sich auch durch Berufung auf 1.Tim 5,22 kaum rechtfertigen. Die Schlußfrage ist nicht die, ob Gott handeln wird, sondern ob der Mensch dafür bereit ist. Eine Frage nach einem Gleichnis ist unüblich, außer sie wäre wie 7,42 b als direkte Frage an den Hörer die Pointe, die das ganze Gleichnis deutete. V . 8 b ist also Zusatz, der einen wichtigen anderen Gesichtspunkt zufügen will. Die älteste Form des Gleichnisses gipfelte in dem „Wieviel mehr“. Sie schärfte die Gewißheit ein, daß Gott die Bitten der bedrängten „Witwe“, also seiner Gemeinde, die um das Kommen des Reiches bittet, erhört. Das Gleichnis wäre völlig verändert, wenn der Partner ein Großgrundbesitzer mit allen möglichen Beziehungen wäre, der allerlei unternehmen könnte, um zu seinem Recht zu kommen. Der Gemeinde ist also damit zugleich gesagt, daß das Bitten ihrem Verhältnis Gott gegenüber ent­ spricht. Sie kann Gott nicht zwingen, muß es aber auch nicht. Sie darf sich getrost als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 18,9-14: Analyse

die ganz und gar auf Gott Angewiesene sehen und bitten lernen, auch in Zeiten, wo das völlig sinnlos aussieht. Gott wird ihr in seiner Freiheit sein Reich schenken, wann und wo es Zeit dazu sein wird. Diese Gewißheit gründet darin, daß Jesus das Gleich­ nis erzählt (oder daß die Gemeinde es auf ihn zurückführt); denn in ihm kommt das Reich schon auf den zu, der sein Gleichnis wirklich hören kann. Später wurde wich­ tig, daß es bald kommt (7b.8b). Auch die mahnende Frage 8b wurde zugefügt, und schließlich sieht Lukas die Gemeinde seiner Zeit mit nüchternen Augen und erkennt, daß das Gebet einen viel zu kleinen Platz in ihrem Leben einnimmt. Er legt daher das Gewicht stärker auf den Aufruf dazu (1). Im Zusammenhang mit 17,22-37 wird auch er an das Gebet um das Kommen des Menschensohnes denken.

Ruf zu rechter Selbsteinschätzung vor dem gnädigen Gott 18,9-14 9 Er

sprach aber zu einigen, die auf sich selbst vertrauten, daß sie gerecht seien, und die übrigen verachteten, dieses Gleichnis: 10 Zwei Menschen stiegen in den Tempel hinauf, um zu beten, der eine ein Pharisäer und der andere ein Zöllner. 11 Der Pharisäer stellte sich hin und betete dies bei sich selbst: Gott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie die übrigen Menschen, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. 12Ich faste zweimal die Woche, verzehnte alles, was ich kaufe. 13 Der Zöllner aber stand fern und wagte nicht einmal, seine Augen zum Himmel emporzuheben, sondern schlug sich an seine Brust und sagte: Gott, sei mir Sünder gnädig. 14Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt in sein Haus hinunter vor jenem; denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, der aber sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Die auch stilistisch lukanische Einleitung deutet die Beispielerzählung (vgl. zu 13,1-5). Diese ist mit ihren unverbundenen Sätzen sicher vorlukanisch und war wohl schon mit V.2-8 verbunden („Recht“/„Rechtfertigung“ V.7/14). Sie stammt wahrscheinlich von Jesus. V. 10 führt die beiden Beteiligten ein. Ihrem „Hinaufge­ hen“ (10) entspricht das „Hinuntergehen“ (V. 14). Beide sind auf den „Tempel“ und „Gott“, also „senkrecht nach oben“ hin ausgerichtet. Beide werden durch ihr Gebet gekennzeichnet (11-13). Beim ersten ist dies sehr lang und Subjekt ist durchweg „ich“, beim zweiten sehr kurz mit Gott als Subjekt. Der erste verläßt, freilich in der Nachfolge des Gerechtigkeitsideals von Ps 26 usw., die Ausrichtung auf Gott und ist „waagerecht“ mit dem Vergleich mit anderen beschäftigt. Der zweite stellt, mit Ps51 usw., Gott über das, was er verglichen mit andern ist. Das Erscheinen des ersten wird knapp, aber betont, das des zweiten ausführlich geschildert. Jesu Spruch wertet das Erzählte (14a). Gottes Urteil allein schafft („senkrecht von oben“) auch auf der „waagerechten“ Ebene das Verhältnis des einen zum andern. Ein geläufiger Satz verallgemeinert das Gesagte (14b). Rabbinen kennen eine Ge­ rechtigkeit des Menschen, die selbst die Welt versöhnen könnte (Bill. I 211 f.; b. Sukk.45b), 1QS 11, 2-5; 1 QH 11,3.10-18. 30f.; 13,16f. hingegen sprechen vom Gott, der den Sünder rechtfertigt, freilich damit er dann das Gesetz erfüllen könne. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 18,9-14: Rechtfertigung des Ungerechten

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Das Auftreten des Pharisäers ist betont; vielleicht soll darum das „Beten bei sich selbst“ andeuten, daß er in einem Monolog befangen bleibt. Sein Dank ist freilich echt und findet sich ähnlich in jüdischen Gebeten, ja in Ps 26 usw. „Wer sich in der Synagoge um das Paradies müht statt im Theater und Zirkus um die Hölle, soll Gott danken“, erklären auch Rabbinen (Bill.). Nur ist, was er aufzählt, keine Versuchung für ihn. Er lebt in einer Gesellschaftsschicht oder -gruppe, in der man „das nicht macht“, - der Zöllner nicht. Gefordert ist Fasten nur am Versöhnungstag; doch zeigt Did. 8 , 1 , daß damals von den „Heuchlern“ (also den Juden) Montag und Donnerstag (von den „guten C hristen“ Mittwoch und Freitag!) als Fastentage beachtet wurden, was bei Verzicht auch auf das Trinken schon ein Opfer war. Daß man selbst vom Gekauften ein zehntel für Gott in die Armenkasse legt, ist über das Gesetz hinausge­ hende Vorsicht für den Fall, daß der Verkäufer das noch nicht getan hätte. Der Pha­ risäer läßt kein Hintertürchen offen, durch das er sich dem Dienst Gottes entziehen könnte. Sein Einsatz ist bewundernswert. Er hat eigentlich nichts zu erbitten, der Zöllner (s. zu 3,13) aber wohl. Seine Bitte scheint freilich aussichtslos zu sein; denn Versöhnung mit Gott gibt es doch nur für den, der sich mit allen von ihm Geschädig­ ten versöhnt hat (Bill. II 375), und das ist unmöglich. Aber der Zöllner gibt von vornherein Gott recht, auch gegen sich selbst. Darum muß er sich nicht mehr mit sich und seinem Status im Vergleich mit anderen beschäftigen. Seine Demut ist daher nicht reflektierte „christliche Tugend“, die um das eigene Ich kreist, nur mit verdreh­ tem Selbstgefühl. Sie zeigt sich nicht in seinen Gedanken und Worten, sondern völlig natürlich in seiner Haltung. Vom Auftreten des Zöllners wird nichts erzählt; er „steht“ nur da, „fern“ (vermutlich vom Zentrum des Vorhofes oder vom Tempelein­ gang) und „wagt“ (so semitisch, wörtlich: wollte) seine Augen nicht zu erheben (vgl. äth.Hen. 13,5: „Sie konnten nicht mehr reden noch ihre Augen zum Himmel empor­ heben aus Scham über ihre Sünden“). Daß Gottes Rechtsspruch die über Heil oder Unheil entscheidende Wirklichkeit ist, hat Paulus von Jesus gelernt. Genau heißt es „über jenen hinaus, an jenem vorbei“; vielleicht wäre also zu übersetzen „nicht jener“. Lukas deutet diese Pointe als Ablehnung aller Selbstrechtfertigung (s. zu 16,15, zur Formulierung Ez 33,13) und betont seine Sicht durch Zufügung des Spru­ ches V. 14b (s. zu V. 16 und 14,7-14 Schi.), der mit seinem Futurum auf das kom­ mende Gericht Gottes verweist und so den Zusammenhang mit 1 7 , 2 0 - 3 7 herstellt. Was der Pharisäer (s. zu 13,31) sagt, ist wahr, durchaus lobenswert und Gott wohlgefällig. Ebenso richtig ist die Selbstbezeichnung des Zöllners als Sünder. An­ ders als auf manchen Illustrationen ist eher der Pharisäer der Hagere, Asketische, der Zöllner der Behäbige und Beleibte. „Dieser“, keinesfalls jeder, Zöllner ist Gott recht, und „jener“, keinesfalls jeder, Pharisäer ihm fremd. Falsch ist nicht die Frömmigkeit des Pharisäers; selbst der Vergleich ist an sich richtig (wie Gal 1,14; 2 , 1 5 ; Phil 3,6). Solche Vergleiche mit andern werden auch bei Examen, Bewerbungsschreiben usw. wichtig; Über- und Unterordnung muß es geben, damit eine Organisation funktio­ niert. Sie können selbst im Leben des Glaubenden als Ansporn ihre Rolle spielen. Der Hörer dieser Erzählung wird und soll sich daher nicht nur mit dem Zöllner identifizieren, sondern in sich selbst auch etwas vom Pharisäer entdecken. Unheilvoll ist aber, was zwischen Hinauf- und Hinuntergehen geschieht, die Wende, in der der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 18,9-14: Der erstaunliche Gott

Betende Gott auf die Verwerfung des Zöllners festlegen will; denn einen Gerechten, der nicht gut ist gegen die Geschöpfe, verwerfen auch jüdische Gelehrte (Bill. III 223). Damit läßt er Gott nicht mehr Gott sein, sondern bleibt in einer Welt gefangen, in der der Mensch seine Geltung ohne Gott sucht. In V. 14 tritt aber im Vollmachts­ spruch Jesu Gott selbst aus seiner Verborgenheit heraus und enthüllt die Wirklich­ keit. Vor ihm verschwinden die für irdisches Leben vielleicht notwendigen Unter­ schiede. Wenn eine Gesellschaft photographiert werden soll, müssen sich die hinte­ ren auf höhere Stufen stellen; von einem Flugzeug oder gar der Sonne aus gesehen, verschwinden diese Stellungen. Doch geht die Aussage von V. 14 tiefer. Darin wird nämlich ein ganz anderer Gott sichtbar, als beide ihn sich gedacht haben. Gott ist nicht die Instanz, die automatisch Frömmigkeit belohnt, Unfrömmigkeit bestraft. Dann hätten wir Gott gar nicht nötig. Er würde zur Maschine, deren Funktion wir steuern und die wir deshalb als Mittel zur endgültigen Belohnung benützen können. Gott hat tatsächlich die, die mit leeren und schmutzigen Händen kommen, nicht weniger lieb als die, die viel für ihn geleistet haben, und zwar nicht erst nach der Versöhnung aller Geschädigten (s. zu 19,8). Mit Minderwertigkeitsgefühlen ist also nichts erreicht; erst mit der Entdeckung dieses unvorstellbar gnädigen Gottes (C al­ vin). Ob ein Flußwirbcl links oder rechts herumdreht und den Schwimmer in die Tiefe zieht, macht nichts aus. Er muß aus dem Zentrum des Wirbels herausgerissen werden zu einem andern Mittelpunkt, zum Lebensretter hin. Das Gleichnis befreit also vom Leistungsdenken, das um das vollbrachte Werk kreist, wie von der Lebens­ untüchtigkeit, die um den mangelnden Selbstwert kreist, von Schwärmerei bei Erfolg wie von Resignation bei Mißerfolg. Es befreit zum Risiko eines Lebens, das sich nicht mehr selbst sichern muß. Wer Gott einzige Instanz sein läßt, kann seine eigenen Licht- und Schattenseiten sehen: daß er mehr arbeitet als alle andern (l.Kor 15,10) und daß Satan ihn dabei so sticht, daß er sich nie überheben kann (2. Kor 12,7). Das Bild vom „fleischernen“, d.h. lebendigen Herzen im Gegensatz zum steinernen (Ez 11,19) ist darum besser als das vom „zerschlagenen“ (Ps 51,19), weil selbst der zu Sand zerstoßene Stein in jedem Körnchen noch seine Kanten bewahrt. Ein solches lebendiges Herz kann freilich nur Gott selbst schenken. Das geschieht im Wunder einer solchen Jcsuserzählung. So wird das Gleichnis zur Selbstenthüllung Gottes gegen alle vom Menschen errichteten Gottesbilder. Lukas hat es durch V.9.14b als Mahnung gedeutet, sich auf diesen Gott wirklich einzulassen und nicht an ihm vor­ beizuleben.

Ruf zu Kindlichkeit und Freiheit von Besitz 18,15-30, vgl. Mk 10,13-22; Mt 19,13-22 15 Sie brachten ihm aber auch die Säuglinge, daß er sie anrühre. Als die Jünger qs aber sahen, bedrohten sie sie. 16Jesus aber rief die Säuglinge zu sich und sagte: Lasset die Kinder zu mir kommen und hindert sie nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes. 17 Wahrlich [Amen], ich sage euch: Wer immer Gottes Reich nicht aufnimmt wie ein Kind, wird nicht in es eingehen. 18 Und es fragte ihn ein Vorste­ her und sagte: Guter Lehrer, was soll ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe?

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Lk 18,15-17: Gottes Reich für die Kindlichen

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aber sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als der Eine Gott. 20 Du kennst die Gebote: „Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsches Zeugnis reden, ehre deinen Vater und die Mutter“. 21 Er aber sprach: Das alles habe ich gehalten von meiner Jugend an. 22 Als Jesus das hörte, sprach er zu ihm: Eins ist für dich noch übrig; verkaufe alles zusammen, was du hast, und verteile es Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach. 23Als der das aber hörte, wurde er traurig; denn er war sehr reich. 24 Da Jesus ihn sah, sprach er: Wie schwer gehen die Begüterten ins Gottesreich ein. 25 Denn es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr eingehe, als daß ein Reicher in das Gottesreich eingehe. 26Die aber, die das hörten, sprachen: Und wer kann dann gerettet wer­ den? 27 Er aber sprach: Was bei den Menschen unmöglich ist, ist möglich bei Gott. 28 Petrus aber sprach: Siehe, wir verließen unser Eigentum und folgten dir nach. 29 Er aber sprach zu ihnen: Wahrlich [Amen], ich sage euch: Es ist nie­ mand, der Haus oder Frau oder Brüder oder Eltern oder Kinder verlassen hat um des Gottesreiches willen, 30 der es nicht vielfach empfange in dieser 2eit und in der künftigen Welt ewiges Leben. Vers 2 0 : vgl. 2. Mose 20, 1 2 - 1 6 ; 5. Mose 5 , 1 6 - 2 0

Lukas folgt fast wörtlich Markus. In V. 15 spricht er von „Säuglingen“, so daß ihr völliges Angewiesensein auf Hilfe, ihre Unfähigkeit, sich selbst durchzusetzen, stär­ ker hervorsticht. Sie sind die, die sich nicht selbst rechtfertigen können, noch nicht eingebildet sind (wie die wirklich Glaubenden nicht mehr). Da V. 17 im Laufe der Überlieferung mit der Taufe verbunden wurde (s. zu Mt 18,3 Einl.), könnte die Änderung sogar mit dem Brauch der Kindertaufe (A. nach Mk 10,16) zusammen­ hängen. Sollte der Satz, daß nichts an der Taufe hindere (Apg 8,36; 10,47; 11,17), zeigen, daß es eine Taufliturgie gab, in der etwas wie Lk 18,16f. stand, ja, die viel­ leicht auch V. 14b enthielt, weil auch Mt 18,3 mit einem ähnlichen Spruch (18,4) verknüpft ist? Daß Jesus nach 18,2 wie nach Lk 18,16 „herbeiruft“, ist jedoch wohl Zufall. Lukas hätte dann V. 14b als Übergang eingeschoben. Doch bleiben das reine Vermutungen. Das idyllische Bild des Kinderfreundes, der segnend die Hände auflegt (Mk 10,16), fehlt bei Lukas, vielleicht weil V. 17 nicht diesen Säuglingen gilt oder Handauflegung bei Taufe, Diensteinsetzung und Heilung (Apg 6,6; 8,17; 9,17; 13,3; 19,6; 28,8; vgl. 14,23) schon institutionell wurde, was dann freilich gegen eine Beziehung auf Kindertaufe spräche. Dem Unverständnis der Jünger entspricht das von V.34. Der Abschnitt lehrt einen Glauben, der kindlich (nicht kindisch) sein Heil ganz auf Gott setzt und nicht mehr auf eigene Leistung abstellt, wie ihn der Zöllner von V.9-14 zeigt. V. 18 schließt (gegen Mk) direkt an. Auch hier tritt einer auf, der wie der Pharisäer von V.9-14 Sicherungen aufgeben muß, freilich anderer Art als jener. Nur Lukas sagt, es sei ein Vorsteher gewesen. Die Gebote zählt er in anderer Reihenfolge auf. Jesus spricht bei Lukas (außer 8,14 = Mk 4,19; doch vgl. 16,13 = Mt 6,24) nie vom gefährlichen Reichtum, wohl aber von gefährdeten Reichen oder vom Reich­ sein. Betonter als bei Markus ist auch die Einordnung in die Wanderung Jesu nach Jerusalem. Er selbst geht also in der Einübung eines Lebens voraus (s. zu V.31), das auf Selbstsicherung verzichtend kindlich auf Gott ausgerichtet ist. So macht er das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 18,18-30: Heil dem Ungesicherten

auch für andere möglich. Das wird an den Jüngern illustriert. Während Lukas in 5,11 (s.d.).28 und 18,22 (über Markus hinaus!) zufügt, daß die Jünger „alles“ ver­ lassen, streicht er es Mk 10,28 und läßt Petrus nur sagen, sie hätten ihr Eigentum verlassen. Petrus prahlt also nicht. Die Jünger dürfen auch ruhig nach dem Sinn solcher Nachfolge fragen: Macht der Glaube das Leben ärmer oder reicher? Da­ durch daß Lukas Mk 10,31 wegläßt, wird „ewiges Leben“, wonach der Vorsteher V. 18 fragt, das letzte Wort Jesu: in der Nachfolge werden sie es finden. Um diese Verheißung dürfen sie wissen. Als Garantie, auf die sie ihren Anspruch erheben können, können sie das nicht mißverstehen. Sie sind ja von Jesus dazu berufen wor­ den, während uns nie von einem erzählt wird, der sich von sich aus zur Nachfolge drängte und die Kraft zur Durchführung besaß. Nachfolge, auch in diesem besonderen Sinn des radikalen Verzichtes auf alles, ist also Geschenk. V.29 spricht vom Gottesreich, nicht vom Evangelium oder Namen Jesu wie Mk 10,29; Mt 19,29. Da Lk 21,12 für die Zeit nach Ostern „um meines Namens willen“ sogar zufügt, läßt er es hier vielleicht weg, um den Satz deutlicher in die Zeit des irdischen Jesus und seiner Jünger zu stellen (vgl. A. nach 4,30, Anfang). Damit bekommen andere lukanische Änderungen ihren Sinn. Der Vorsteher geht nicht weg; V.24f. sind also ihm persönlich gesagt, nicht den Jüngern wie Mk 10,23. Darum ist in der Gegenwart formuliert: er, der „sehr Reiche“ (V. 23), sollte jetzt „ins Reich Gottes eingehen“ (nicht Zukunftsform wie Mk 10,23). Darum fehlt auch der allgemeine Satz Mk 10,24, daß es schwer sei, dies zu tun. Auch fragen V. 26 nicht die Jünger, son­ dern irgendwelche Zuhörer, wer dann gerettet werden könne. Das alles zeigt, daß Lukas auf diesen einen Fall zuspitzt. Jesus hat dem Reichen mit den Geboten das Heil angeboten. Gerade daß Gott uns fordert und damit unser Leben sinnvoll macht, ist Heil. Das müßte er verstehen. Einen neuen Heilsweg will Jesus nicht anbieten. Aber der Reiche redet weiter (21) und versperrt sich damit den Rückweg. Er hat die Ruhe noch nicht gefunden. Dar­ auf gibt ihm Jesus keine dogmatische Belehrung. Die könnte er auch noch schlucken und damit das Geforderte leisten, selbst wenn sie gegen seinen Verstand ginge. Jesus fordert ihn auf, alles auf Gott abzustellen; für den Reichen heißt das aber: auf das Nichts. Das zu 6,20a Gesagte bestätigt sich also: es gibt für jeden Glaubenden das praktische Einüben eines Lebens, das alles auf Gott abstellt; es gibt darüber hinaus Nachfolge im engeren Sinn, in der ein Mensch zeichenhaft mit seinem radikalen Verzicht anderen zu dieser Lebensgestaltung helfen darf. Sie gelingt freilich nur, wo Jesus selbst dazu ruft und sie als der Vor-gänger möglich macht. Wenn die Bruder­ schaft von Taizé zwar nüchtern für Kranken- und Altersversicherung vorsorgt, im übrigen aber jedes Jahr allen Besitz verschenkt, ist das, neben vielen anderen weniger bekannten, ein solches Mut machendes Zeichen. Blindheit für Gottes Weg und Gottes Heilkraft 18,31-43; vgl. Mk 10,32-34.4652; Mt 20,17-19.29-34 31 Er nahm aber die Zwölf zu sich und sprach zu ihnen: Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und alles, was geschrieben ist durch die Propheten, wird am

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Lk 18,31-43: Das unbegreifliche Leiden Jesu

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Menschensohn vollendet werden; 32 denn er wird den Heiden ausgeliefert werden und wird verspottet und übermütig verhöhnt und angespien werden, 33 und nachdem sie ihn gegeißelt haben, werden sie ihn töten. Und am dritten Tag wird er auferstehen. 34 Und sie verstanden nichts davon, und dieses Wort blieb vor ihnen verborgen, und sie begriffen das Gesagte nicht. 35Es geschah aber, als er sich Jericho näherte, da saß ein Blinder am Weg und bettelte. 36 Als der die Menge vorbeigehen hörte, erkundigte er sich, was da los sei. 37 Sie berichteten ihm aber, daß Jesus der Nazoräer vorbeikomme. 38 Und er rief und sagte: Jesus, Sohn Da­ vids, erbarme dich über mich. 39 Und die Voranziehenden bedrohten ihn, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Sohn Davids, erbarme dich über mich. 40 Jesus aber stand still und befahl, daß er zu ihm gebracht werde. Als er aber herbeikam, fragte er ihn: 41 Was willst du, daß ich dir tue? Er aber sprach: Herr, daß ich wieder sehe. 42 Und Jesus sprach zu ihm: Werde wieder sehend, dein Glaube hat dir geholfen. 43 Und sogleich sah er wieder und folgte ihm nach, in­ dem er Gott pries. Und das Volk, das das sah, lobte Gott. Auch diese Leidensankündigung (s. A. nach 22,30,a) folgt Markus, ist aber enger mit dem Vorangehenden verknüpft. Wie 12,50; 22,37 wird die Vollendung des Planes Gottes hervorgehoben; auch 13,32 steht zwar nicht dasselbe, aber ein nah verwandtes Wort. Darum ist auch V. 32 durchwegs passiv formuliert, s. zu 21,8 f. Hinter allem menschlichen Tun steht Gott selbst. Das Todesurteil durch Priester und Schriftgelehrte (Mk 10,33) läßt auch Lk 22,71 weg, schwerlich aus Schonung gegen­ über den Juden (s. zu 23,25 und vgl. Apg 3,13 f.; 13,28). Vielmehr sind die mensch­ lichen Subjekte unwichtig; dem Menschensohn widerfährt nur, was die Schriften der Propheten erfüllt (V.31, lukanisch). Damit nähert sich Lukas der Sicht von Joh 19,28.30. Darum übernimmt er auch von Markus das Anspeien und Geißeln (Jes 50,6; s. zu Mk 14,65), die in seinem Passionsbericht fehlen oder unbetont sind. Ja, er betont zusätzlich den „Übermut“ der Heiden (Römer), deren Schuld er sonst zurücktreten läßt, mit einem Wort, das Ps 94,2-7; 123,4; Zeph 3,llf.; Sir. 10,1218 u.o. die Hochmütigen bezeichnet, die die „niedrigen“ Gerechten verfolgen. Dafür fügt er, dreifach umschrieben, das Unverständnis der Jünger gegenüber dem Leiden (s. zu 9,31), nicht der Messianität Jesu hinzu, das erst durch den Auferstandenen überwunden wird (24,26f.46, vgl. 6f.). Gerade daß ein Nichtverstehen des klaren Wortes V.32f. fast undenkbar ist, zeigt das theologische Interesse des Lukas: hier liegt die eigentliche Glaubensschwierigkeit (schon 9,20f. [s.d.] 45; dann Apg 2,23; 3,18; 17,3;26,22f.). Eigentlich wäre die in Jericho spielende (19,1) Zachäusgeschichte hier anstelle von Mk 10,35-45 zu erwarten (s. zu 18,15-19,27 und zu 19,10 Einl.), weil die Blindenheilung nach Mk 10,46 beim Verlassen der Stadt stattfand. Lukas ändert, weil er die starke Betonung der Nachfolge des Blinden (s. zu Mk 10,32-34 Einl.) nicht übernimmt, in Zachäus hingegen ein glänzendes Beispiel dafür und zugleich für die im Gleichnis von den anvertrauten Geldern (19,11-27) geforderte Haltung, im geheilten Blinden umgekehrt den Gegensatz zu V.34 fand. Gegen seine Gewohnheit (s. zu 5,12-16) übernimmt Lukas die Ortsangabe, weil sie die Nähe zu Jerusalem zeigt, läßt aber den Namen des Blinden weg. Er schildert zusätzlich die Jesus voranziehende Volksmenge (V.36 in lukanischem Stil und 39; vgl. 19,37), ebenso ihren © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 19,1-10: Analyse

42 wie des Geheilten Lobpreis Gottes (43, s. zu 17,15). V.42 fügt er „werde wieder sehend“ hinzu, so daß sich in V.41-43 das schon 4,18 (substantivisch) im Prophe­ tentext stehende Wort dreimal wiederholt. Apg 9,17f. verknüpft leibliche und das Herz dem Glauben erschließende Öffnung der Augen (Lk 18,34!; vgl. 24,45; Apg 26,18; Eph l,18). Den auf einen national-revolutionären Messias (s. zu Mk 12,35.37) deutenden Titel Davidssohn braucht Lukas außer 20,41—44 = Mk 12,35-37 (wo er eher abgelehnt wird) sonst nie, obwohl David in Lk 1-2 und Apg oft vorkommt. Er übernimmt ihn hier aus der Tradition, weil er im Munde des Heilungsuchenden nicht politisch mißverstanden werden kann. Daß Lukas den Titel im Sinne eines Wundertäters verstünde, weil der Davidssohn Salomo als solcher galt (Bill. IV 533 f.; vgl. Mt 12,23.27), ist nicht wahrscheinlich.

Die Umkehr der Fernen 19,1 — 10 'Und er ging hinein und zog durch Jericho. 2 Und siehe, ein Mann, Zachäus mit Namen genannt, und er war Oberzöllner und er war reich. 3 Und er trach­ tete danach, Jesus zu sehen, wer er sei, und konnte nicht vor der Menge, weil er klein von Wuchs war. 4 Und er lief voraus, (allen) voran, und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen, weil er dort durchziehen sollte. 5Und als er an den Ort kam, sah Jesus auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig schleunigst herab; heute muß ich in deinem Haus bleiben. 6 Und schleunigst stieg er herab und nahm ihn mit Freude auf. 7 Und alle sahen es und murrten und sagten: Bei einem sündigen Mann ist er eingekehrt, um Gast zu sein. 8 2achäus aber trat hin und sprach zum Herrn: Siehe, die Hälfte meines Vermögens, Herr, gebe ich den Armen, und wenn ich etwas von jemandem erpreßt habe, gebe ich es vierfach zurück. 9 Jesus aber sprach, auf ihn gemünzt: Heute ist diesem Haus Heil wider­ fahren, weil auch er Sohn Abrahams ist; l0 denn der Menschensohn ist gekom­ men, daß er das Verlorene suche und rette. V. 2-5 und 6-10 entsprechen sich: Zachäus sucht den Kontakt mit Jesus (2.3 a/6); den Widerstand des Volks (3b/7) sucht er zu überwinden (4/8); aber Jesu Wort bringt die Entscheidung (5/9-10). In V. 8 spricht Zachäus, so daß sich V.9f. jetzt an ihn richten. Nach normalem Sprachgebrauch lautet die Einführung: „... sprach zu ihm (ursprünglich zu ihnen?)“; aber da Jesus ja von ihm in dritter Person redet (9 b), muß man jetzt so seltsam übersetzen wie oben. Sprachlich ist es nicht unmöglich; auch 20,19 (wörtlich „zu ihnen gesprochen“) schließt wohl die Bedeu­ tung „auf sie gemünzt“ ein. V. 8 kann also kaum zur Urform gehören. Ist er aber erst von Lukas eingefügt? Von ihm stammt wahrscheinlich V. 10. Die Wendung „denn der Menschensohn ist gekommen, daß er ...“ erinnert direkt an den von Lukas hier ausgelassenen Vers Mk 10,45 und ist ihm wohl nachgebildet; Jesus selbst hätte auch kaum vom Retten in der Gegenwart gesprochen (auch 7,50; 17,9 scheinen lukanisch zu sein). Vom „Verlorenen“ ist im Neuen Testament nur noch Lk 15,6.24.32 die Rede, abgesehen vom alttestamentlichen Ausdruck „die verlorenen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 19,1-10: Die Offenheit des Gottfernen

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Schafe“ (Mt 10,6 = Ps 119[118], 176; vgl. Jer 50[27],6). „Suchen und Retten“ entspricht Gottes endzeitlichem Handeln durch seinen Knecht David in Ez 34,4.16 (vgl. Jes 11,12). Hat Lukas so das Kommen Jesu als Grund des Heils betont, dann ist V. 8, der das V.9 genannte Heil auf die Bekehrung des Zachäus gründet und jüdisches Recht zu kennen scheint, eher schon vor ihm zugefügt worden. Lukas ist zwar die Umkehr wichtig und er übernimmt Formeln, die das Heil als Angebot der Umkehr (Apg 5,31) beschreiben (s. zu 11,37-12,1 Schl.). Ihm liegt auch am praktischen Vollzug des Erkannten im Alltag (vgl. zu 17,32; 18,1), und er betont die auf die Gnade folgende, Gott preisende Dankbarkeit (s. zu 17,15). Schwerlich hat er aber neben V. 10 von sich aus V.8 gebildet und V.9 in seinem Sinn verändert. Im Griechischen ist die Stellung von „meines“ unlukanisch; das seltene Wort für „erpressen“ steht 3,14 in S. Die Geschichte ist mit ihren vielen „und“ bis in die Form hinein vorlukanisch, freilich von ihm stilistisch bearbeitet; Nachfolge (im wörtlichen Sinn) fehlt sprachlich und sachlich darin. Ort und Name gehören wohl zur Urform. Zachäus heißt vielleicht „der Reine, der Gerechte“ (doch vgl. Esra 2,9; Neh 7,14; 17,14; 2.Makk. 10,19). Die Berufsangabe weist auf das Problem der Einordnung in weltlich notwendige Strukturen gegenüber dem von Gott herkommenden Ruf. Der Oberzöllner pachtet, wenn er den höchsten Betrag bieten kann, den Zoll von den Römern und zieht ihn durch seine Angestell­ ten, die Zöllner ein (s. zu 3,13 und Mk 2,14). Ob ihn mehr als Neugier bewegt, ist nicht gesagt. Das Hindernis ist eher lächerlich, jedenfalls nicht mit dem „Schwert des Glaubens“ zu besiegen, sondern unpathetisch mit etwas Schlauheit. Freilich riskiert er, sich damit lächerlich zu machen; er ist also mindestens ernsthaft neugierig, und das ist schon etwas! Dahinter steckt manchmal unbewußt verschüttete Sehnsucht nach Gottesschau. Auch Herodes war nach 9,9 neugierig, aber er blieb in seinem Palast sitzen und wartete; als Jesus dann wirklich kam, war es zu spät (23,11). Wie Mk 1,16.19 (s.d.) beginnt die Wende mit Jesu erwählendem Blick und Ruf. Gottes Barmherzigkeit kommt der Selbsterkenntnis und Umkehr zuvor. Die Dringlichkeit ist durch „schleunigst“ (auch V.6; 2,16) und „heute“ (auch V.9; 2,11; s. zu 4,21) unterstrichen. Das „Bleiben“ impliziert Dauer. Auch hier ist weder dogmatische Belehrung noch entsprechendes Sünden- und Glaubensbekenntnis erwähnt; Gnade geschieht im Ruf zum Handeln und in der Freude, in der dieses erfolgt. Sie geschieht, sie wird nicht gedanklich als Lehrinhalt übernommen. Der Widerspruch beweist, daß „alle“ (vgl. 5,30; 15,2) verstanden haben, was hier vor sich gegangen ist. „Gebe ich“ ist Versprechen für die Zukunft, kaum Verteidigung mit dem, was er immer schon tut, obwohl V. 8 griechisch wie 18,11 beginnt. Weggabe eines Fünftels des Vermögens und zukünftigen Einkommens galt als Höchstansatz (Bill. IV 547, gegen Mißbrauch der Wohltätigkeit). Bei Betrug war Rückgabe plus 20% gefordert (Bill.). Nur gestohlenes Vieh wurde vier- bis fünffach ersetzt (2.Mose 22,1; 2.Sam 12,6). Jesus spricht nicht nur ihm, sondern seiner ganzen Familie das Heil zu (vgl. Apg l0,2; 11,14; 16,15-31; 18,8 und A. nach Mk 10,16). Der Grund ist wie 13,16 nicht die Bußleistung des Zachäus, sondern seine Zugehörigkeit zu Abraham, also Gottes freie Gnade. Was im Geschehen selbst deutlich wurde, ist jetzt ins Wort gefaßt: die Bundestreue Gottes vollzieht sich im Wirken des Menschensohnes. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 19,1-10: Versöhnung, die Gestalt annimmt

Wie 18,35-43 das Gegenstück zu 18,(31-)34 bildete, so 19,1-10 (mit V.8!) zu 18,18-30. Anders als dort beginnt die Geschichte aber wie alle echten Nachfolgege­ schichten bei Jesus, nur daß das, was beim andern Zöllner (5,27) in einem einzigen Satz konzentriert ist, hier entfaltet wird. Wie Lukas nämlich die Heilung der Schwie­ germutter vor den Simon erwählenden Blick und Ruf Jesu setzt (4,38 f.; 5,2-4), so hat Zachäus auch die schon zu ihm gedrungene Kunde von Jesus neugierig gemacht, und wie dort Jesus einen kleinen Dienst von Simon fordert und ihn so zur Nachfolge einübt, so hier (5). In dem allem ist Jesus am Werk und ist schon bei Zachäus zu Hause, bevor dieser mit seinem Einsatz antwortet. Versöhnung ist geschehen, bevor Zachäus etwas gut gemacht hat (s. zu 18,13). Dirnen und Zöllner finden den Weg ins Gottesreich (Mt 21,32). Ob er im Sinne des Bekenntnisses fromm ist oder sich doch mindestens nach Gott sehnt oder nur eine Abwechslung im Alltag, ein wenig Sensation erwartet, ist nicht wichtig. Wichtig ist, daß Jesus in sein normales Alltags­ leben einbricht. Das wird unterstrichen durch den sich dagegen erhebenden Wider­ spruch. Freilich hängt alles daran, ob Zachäus das kann, wozu offenbar gerade die Frommen am wenigsten fähig sind, ob er vernehmen kann, was da mit ihm gesche­ hen ist, und sich dadurch bewegen läßt. Davon wird schon in V.8 (nicht erst nach V. 10) berichtet. Was Jesus im Leben des Zachäus bewirkt, beschämt die Murrenden und läßt zugleich alles Wiedergutmachen eingerahmt sein vom Handeln Gottes an ihm, das in Jesus Gestalt angenommen hat (V.5 und 9f.). Darum muß Zachäus jetzt nichts mehr verdrängen, kann von seinen Erpressungen reden und zum ersten Mal offen zu sich selbst stehen. Er glaubt nicht nur mit Herzen und Mund, sondern auch mit Beinen und Händen; aber nicht so, daß er damit aus der Welt flüchtete. Er übt im Gegenteil seine Nachfolge in der „Welt“ und ihren Institutionen aus (vgl. Mk 5,19). So wenig wie bei den Nachfolgegeschichten ist die Schwierigkeit dieses Unternehmens geschildert, etwa der stadtbekannte hohe Beamte, der von Tür zu Tür geht und Betrügereien zugibt oder später seine Pacht ohne solche zu bezahlen hat (s. zu V.2). Sein Verhalten ist nicht als Sonderleistung wichtig, sondern als Lobpreis Gottes, in dem Jesu Heil schaffendes Handeln an ihm Gestalt annimmt. Leben im Blick auf Gottes Kommen 19,11-27, vgl Mt 25,14-30 Da sie das hörten, fügte er ein Gleichnis an, weil er nahe bei Jerusalem war und sie meinten, das Reich Gottes werde gleich erscheinen. 12 Er sprach also: Ein hochgeborener Mensch reiste in ein fernes Land, um ein Königreich für sich zu empfangen und zurückzukehren. 13 Als er aber seine zehn Knechte gerufen hatte, gab er ihnen zehn Minen und sprach zu ihnen: Handelt, während ich reise (oder: komme). 14 Seine Bürger aber haßten ihn und schickten eine Gesandtschaft hin­ ter ihm her und sagten: Wir wollen nicht, daß dieser über uns regiere. 15 Und es geschah, als er wieder kam, nachdem er das Königreich empfangen hatte, da sprach er, diese Knechte, denen er das Silber gegeben hatte, sollten gerufen wer­ den, damit er erführe, was jeder erhandelt habe. 16Es kam aber der erste zu ihm und sagte: Herr, deine Mine hat zehn weitere Minen hervorgebracht. 17 Und er sprach zu ihm: Sehr gut, du wackerer Knecht; weil du im Kleinsten treu gewor­ den bist, sollst du Vollmacht über zehn Städte haben. 18 Und es kam der zweite 11

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Lk 19,11-27: Analyse

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und sagte: Deine Mine, Herr, hat fünf Minen geschaffen. 19 Er sprach aber auch zu diesem: Und du sollst über fünf Städte (gesetzt) werden. 20 Und der andere kam und sagte: Herr, siehe da deine Mine, die ich im Taschentuch behalten habe; 21 denn ich fürchtete dich, weil du ein strenger Mensch bist, nimmst, was du nicht eingelegt hast und erntest, was du nicht gesät hast. 22 Er sagt zu ihm: Nach dei­ nem Munde werde ich dich richten, du böser Knecht. Wußtest du, daß ich ein strenger Herr bin, nehme, was ich nicht eingelegt, und ernte, was ich nicht gesät habe? 23 Und warum hast du mein Silbergeld nicht zur Bank gebracht, und ich wäre gekommen und hätte es mit Zinsen zurückgefordert? 24 Und er sprach zu den Dabeistehenden: Nehmt die Mine von ihm und gebt sie dem, der die zehn Minen hat. 25 Und sie sprachen zu ihm: Herr, der hat (schon) zehn Minen. 26Ich sage euch: Jedem der hat, wird gegeben werden; von dem aber, der nicht hat, wird auch das genommen werden, was er hat. 27Doch diese meine Feinde, die nicht wollten, daß ich über sie regiere, bringt hierher und metzelt sie vor mir nieder. Die Einleitung zu dem auch Mt 25,14-30 (s.d.) überlieferten Gleichnis ist ganz von Lukas gestaltet (vgl. zu 17,20). Der logisch verlaufende Gedankengang wird in V. 14 und 27 (in deutlich unlukanischem Stil) von einem andern durchkreuzt. Das zeigt sich in der mühsamen Wiedereinführung der „Knechte“ V. 15 und in der Rück­ kehr zum Bild V. 27, nachdem V.26 schon in allgemeiner Form die gemeinte Sache beschrieben hat. V. 14.27 handeln nicht von Knechten, sondern von „Bürgern“. Darauf bezieht sich auch das „Königreich“ V. 12b. 15a. Hat Lukas das eingefügt, um allegorisch zu erklären, warum Gottes Königreich nicht sofort anbreche (v. 11!)? Aber ihm liegt nicht am Hinausschieben seines Kommens, sondern eher an seiner Gegenwart und vor allem am Handeln der Gemeinde in der Zwischenzeit. Er sagt auch nicht wie Mt 25,19, daß der Herr „nach langer Zeit“ zurückgekommen sei, während er den Weinbergbesitzer in 20,9b für „längere Zeit“ verreisen läßt. Aber dort handelt es sich um Gott und die Zeit von den ersten Propheten bis zu Jesus und zum Anbruch der Heidenmission. Dazu ist „fernes Land“ unlukanische Formulie­ rung, die freilich aus 15,13 übernommen sein könnte. Gewiß sind V. 14.27 nur am Gegensatz zu den Feinden interessiert, die nach dem Weggang des Herrn gegen ihn kämpfen und dafür bestraft werden; Lukas denkt dabei wohl schon an 19,42—44; 20,2 usw. Aber das historische Ereignis, das zur Bildung dieser Verse führte, war tatsächlich eine Bewerbung um ein Königreich (Jos., Altert. 17,299-303.339; s. zu Mt 25,28). So hat umgekehrt dessen Erwähnung in der Vorlage zu V. 12.15 a Lukas zur Anwendung von V. 11 geführt. Während nämlich seine Sondergutsgleichnisse keine das Gottesreich erwähnende Einleitung kennen (vgl. Mt 25,1!), führt Lk 14,15 (vgl. Mt 22,2) ebenfalls eine solche redaktionell ein. Endlich wird auch die Einset­ zung der Knechte zu Gouverneuren von Städten (17.19) auf diese Weiterbildung zurückzuführen sein. Das Gleichnis hat also in schon stark entwickelter Form vorge­ legen; V.22a enthält auch ein unlukanisches Präsens (s. zu 16,23 Einl.). Die Nähe zu Jerusalem wird hervorgehoben. Das wird mißverstanden. Wohl heilt 11 Jesus die Not am Wegrand und auf den Bäumen Jerichos, aber nicht so, dàß Gottes Reich allen sichtbar aus der Verborgenheit herausträte, wie es die „Zuhörer“ (vgl. zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 19,11-27: Handeln in Erwartung des kommenden Herrn

21,5) erwarten. Es wird im Gegenteil in dem kommen, den Jerusalem tötet wie die Propheten vor ihm (13,31-35). Polemik gegen Schwärmer, die in Jesu Ostererschei­ nungen schon sein endgültiges Kommen sahen und die Gemeinde Jesu mit dem Gottesreich gleichsetzten, liegt kaum vor. Eher ist an Angefochtene zu denken. Da auch Apg 1,6-8 gegen die Erwartung einer sichtbaren Verwirklichung innerhalb von Israel gerichtet ist, denkt Lukas vielleicht an jüdische Einwände, die auf die Unsicht­ barkeit des von Jesus angesagten Gottesreiches hinweisen. Aus dem Bild aus der damaligen Politik mag Lukas heraushören, daß Jesus sich das Reich nicht selbst nimmt, sondern es empfängt (22,29). Jedenfalls betont er mit einem 33mal bei ihm (fünfmal im übrigen N.T.) vorkommenden Verb seine „Rückkehr“ (auch V. 15 ent­ hält lukanische Wendungen). Für Lukas bleibt sie wichtig (Apg 1,11!), nicht aber ihr Wann. Obwohl V. 15-24 nur drei Knechte auftreten, sind hier zehn genannt. Die drei sind also beispielhaft gewählt. Die Mine enthält 100 Drachmen, also hundert Tage­ löhnc für Hilfsarbeiter. Damit kann man die Welt nicht umstürzen; Treue im un­ scheinbaren, anscheinend nichts verändernden Dienst ist erwartet. V. 17 (vgl. 16,10) stimmt also. „Während“ (statt: bis) ist auffällig. Ist an die jetzt schon durch das Kommen des Herrn bestimmte Zeit gedacht? Hinter dem Übergang zu V. 14 steckt vielleicht die Erfahrung einer feindlichen Welt, in der die Gemeinde ihren Dienst tut. Ihr „Nichtwollen“ erinnert an 13,34. Lukas betont das „Handeln“ und „Treusein“ der Knechte, während im Gleichnis die Mine selbst das Subjekt ist; sie hat zehn weitere hervorgebracht. Anders als Mt 25,21 bleibt Lukas im Bild, das die unver­ hältnismäßige Größe der Belohnung (vgl. 12,32) ebenso betont wie ihren Dienstcha­ rakter. Zwar ist nicht gesagt, daß „der Lohn für Gebotserfüllung (neue) Gebotserfül­ lung ist (Bill. I 249), wohl aber daß die endgültige Herrlichkeit Teilnahme an Gottes Wirken ist“ (22,30; l.Kor6,2), nicht einfach Nichtstun und Leere. Der zweite Knecht macht anschaulich, daß es keine fixierte, von allen zu erreichende Leistungs­ grenze gibt. Zwar wird abgestuft; aber wohl eher je nach der dem Einzelnen gegebe­ nen Kraft als lohnmäßig. Jedenfalls wird kein Vorwurf über weniger Geglücktes hörbar, sondern die Treue bei kleinerem wie bei größerem Erfolg gelobt. Das Handeln des dritten ist törichter geschildert als Mt 25,18.25 (s.d.). Er redet in C lichés (V. 21b wie Jos., Ap. 2,216; Philo, Hypothet. 7,6; Aelian, Nachrichten 3,46). Anders als Mt 25,30 trifft ihn keine Strafe (vgl. 1. Kor 3,15, wonach auch der Versager noch „wie durchs Feuer hindurch“ gerettet wird). Er bleibt nur Knecht, wie er es vor V. 13 war. V.25 ist ungeschickt eingefügt (doch s. zu Mt 25,28). Es müßte eigentlich eine Entgegnung des „Adligen“ folgen. Statt dessen ergreift Jesus selbst das Wort, um das Gleichnis abzuschließen, wobei das nachhinkende „von ihm“ (Mt 25,29; Lk 8,18/Mk 4,25/Mt 13,12) bei Lukas beseitigt ist. Ob Lukas V.27 an die Zerstö­ rung Jerusalems denkt, wofür der direkte Anschluß von V. 28-44 spricht, oder an das Endgericht, ist nicht zu entscheiden. Lukas übernimmt V.27, weil für ihn nicht die Frage entscheidend ist, wann das Gottesreich kommt, wohl aber die nach dem Wer: Wer nimmt daran teil und wer nicht (s. zu 14,15-24 Einl.)? Wichtig ist für ihn auch die Einordnung am Ende der Wanderung nach Jerusalem. Jesus hat die revolutionär-messianische Stimmung nicht ausgenützt. Damit werden die Leser von allen Phantasien einer sichtbar herrschenden Jesusgemeinde weg in die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

IV Lk 19,28-24,53 - A Lk 19,28-21,38: Überblick

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Nachfolge auf den Kreuzesweg gerufen (17,25; 19,11). Schon vorlukanisch ist die Ausrichtung auf das Handeln in der Zwischenzeit mit seiner übermäßigen Beloh­ nung durch Schenkung des gesamten Gewinns (24f.) und Einsetzung in Ämter (17.19) und dem warnenden Hinweis auf das Schicksal Israels. Es ist gerade Lukas selbst, der die Rückkehr des Herrn betont. Zwar ist Jesus vorher in seiner Gemeinde gegenwärtig, aber in der Regel indirekt in seinem Geist, seinem Namen, seiner Kraft (s.A. nach 21,38,b). Erst seine Rückkehr bringt den Seinen volle Erlösung (21,28). Sie ist zugleich die des Richters (Apg 10,42; 17,31), der schon in der Zwischenzeit ihr ganzes Verhalten bestimmt. Das läßt. Lukas hier noch einmal anklingen. Dabei wird das Gericht differenzieren: nicht von jedem ist verlangt, was vom Jünger im engeren Sinn gefordert ist (vgl. zu V. 18f. und 18,18-30). Neben Feld-, Wald- und Wiesenchristen gibt es Gipfelstürmer. Wesentlich ist die Treue, die sich im Handeln erweist (V. 15.17). Die Jünger haben ihr Eigentum verlassen und finden in der Ge­ meinde, erst recht in der Vollendung neue Heimat (18,28.30) Der Blinde ruft Jesus an und geht nachher mit ihm (18,38.43). Zachäus verläßt seine Villa und geht zu den von ihm Übervorteilten (19,3.8). Dabei ist aber nicht das Handeln als solches schon Heil - die Feinde handeln ja sehr aktiv (V. 14.27) - , sondern das Handeln des Jün­ gers, der sich wie ein Kind völlig auf Gott angewiesen weiß und sich ihm öffnet (18,31-34). Eben das wird Jesus selbst in der nun folgenden Passionsgeschichte tun und damit seinen Jüngern den Weg dazu eröffnen.

IV. Passion und Auferstehung 19,28-24,53 Ähnlich wie bei Markus wird man die Tage in Jerusalem 19,28-21,38, die eigent­ liche Passion 22,1-23,56 und die Ostergeschichten 24,1-53 unterscheiden. Zu den Sachfragen vgl. zu Mk 11,1-16,8 Einl., zu den Quellen des Lukas A. nach 23,25. A Die Tage in Jerusalem 19,28-21,38 Lukas folgt Markus, schiebt aber das Wort über Jerusalem ein (19,39-44) und läßt Verfluchung des Feigenbaums (s. zu 13,6-9) und Frage nach dem höchsten Gebot (s. zu 10,25-28) weg. Er scheint eine längere Wirksamkeit in Jerusalem vor­ auszusetzen (19,47; 21,37f.; 22,39; s. zu 22,1).

Tempelbesetzung durch Jesus 19,28-48, vgl. Mk 11,1-17; Mt 2 1 , l - 1 3 ; Job2, 13-17 28 Und als er das gesagt hatte, wanderte er voran und stieg nach Jerusalem hinauf. 29 Und es geschah, als er in die Nähe von Betfage und Betanien an den sogenannten Ölberg kam, sandte er zwei der Jünger 30 und sagte: Geht in das Dorf da vorne; in ihm werdet ihr, wenn ihr hineinkommt, ein Füllen angebun-

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Lk 19,28-38: Zug zum Tempel

den finden, auf dem noch niemals irgendein Mensch gesessen hat, und bindet es los und bringt es. 31 Und wenn euch jemand fragt: Weswegen bindet ihr da los?, so sprecht: Der Herr bedarf seiner. 32 Nachdem die Abgesandten aber weggegan­ gen waren, fanden sie, wie es Jesus ihnen gesagt hatte. 33 Da sie aber das Füllen losbanden, sprachen seine Herren zu ihnen: Was bindet ihr das Füllen los? 33 Sie aber sprachen: Der Herr bedarf seiner. 35 Und sie brachten es zu Jesus und war­ fen ihre Kleider auf das Füllen und ließen Jesus darauf Platz nehmen. 36 Als er aber (dahin-)wanderte, breiteten sie ihre Kleider auf dem Weg aus. 37 Als er aber schon nahe zum Abhang des Ölbergs kam, begannen die ganze Menge der Jün­ ger voll Freude Gott mit lauter Stimme zu loben über alle Machttaten, die sie sahen, 38 und sagten: Gesegnet, der da kommt, der König, im Namen des Herrn; im Himmel Friede und Herrlichkeit in der Höhe! 39 Und einige der Pharisäer aus der Menge sprachen zu ihm: Lehrer, schilt deine Jünger. 40 Und er antwortete und sprach: Ich sage euch, wenn diese ver­ stummen, werden die Steine schreien. 4 l Und als er näher kam, brach er beim Anblick der Stadt in Tränen aus über sie 42 und sagte: Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was zum Frieden (dient). Jetzt aber wurde es vor deinen Augen verborgen. 43 Denn es werden Tage über dich kommen, und deine Feinde werden einen Wall um dich aufwerfen und dich einschließen und dich von allen Seiten bedrängen 44 und werden dich zu Boden werfen und deine Kinder in dir und werden keinen Stein auf dem andern lassen, weil du die 2eit des Besuches (Gottes) bei dir nicht erkannt hast. 45 Und er zog in den Tempel und begann, die Verkäufer hinauszutreiben 46 und sagte zu ihnen: Es steht geschrieben: „Und mein Haus wird ein Haus des Gebetes sein“; ihr aber habt es zu „einer Räuber­ höhle“ gemacht. 47 Und er lehrte Tag für Tag im Tempel; die Hohenpriester und die Schriftgelehrten aber suchten ihn zu vernichten, und die Obersten des Vol­ kes. 48 Und sie fanden nicht, was sie ihm antun könnten; denn das ganze Volk hing an ihm und hörte auf ihn. Vers 3 8 : Ps 1 1 8 , 2 5 f.;

28 31.34 35 37

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Vers 4 4 : Ps 137, 9,

Vers 4 6 : Jes 56, 7; Jer 7 , 1 1 ; Such 1 4 , 2 1 ; Jes 60, 7.

Lukas knüpft betont an V. 11-27 an: man darf den Einzug nicht als endgültigen Triumph mißverstehen. Daher unterstreicht er auch das „Wandern“ Jesu als Führer („voran“) nach Jerusalem. Das Wort „wandern“ erscheint seit 9,51 zum neunten Mal und V. 36 nochmals, so wichtig ist es Lukas. Er kürzt, hebt aber durch Wieder­ holung von „Der Herr bedarf seiner“ Jesu Herrsein und initiatives Handeln hervor. Das lukanische Wort für das Setzen auf das Füllen wird l.Kön 1,33 (anders V.38) für Salomo verwendet, der zur Krönung reitet (vgl. auch zu Mk 11,8). Neu ist die Erwähnung des Ölbergabhangs (in unlukanischer Konstruktion). Woher kommt diese Ortskenntnis, die besser ist als V. 29 = Mk 11,1 (s.d.)? Beginnt hier eine an­ dere Quelle, die vielleicht den Ritt auf dem Esel nicht kannte? Hervorgehoben ist die „Menge“ der Jünger (s. zu 6,17f.), ihre Freude und das Lob Gottes über die Wun­ dertaten Jesu (s. zu 17,15). Im Ruf fehlt wie 13,35 (s.d.) das Hosianna (vgl. 8,54; auch 23,23); dafür ist der Schluß an 2,10.13f. angeglichen, wo die „Menge“ der Engel „Gott loben“ und „große Freude“ ankündigen. Nicht das David verheißene © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 19,39-44: „Friedensschau“

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Gottesreich steht in der Mitte wie in Mk 11,10; Jesus selbst wird Friede und Herr­ lichkeit zugesprochen. Wie in 2,14 (s.d.) wird die Reihenfolge umgekehrt: „im Himmel Friede und Herrlichkeit in der Höhe“ (s. 24,26). Der Himmel tritt aber an die Stelle der Erde. Hier war der Friede durch Jesus verwirklicht, jetzt schwindet er (22,36) und zieht sich mit ihm in den Himmel zurück, bis er, durch die Jünger weiterverkündigt (Apg 10,36), einst mit Jesus endgültig auf Erden kommen wird. Darauf weist der Einzug Jesu mit seiner Jüngerschar schon voraus. Darum kann Jesus schon König genannt werden (19,12), wie es nur Lukas und, besser in den Satz eingefügt, Joh l2,13 tun. Er zieht in den Tempel, d.h. in das „religiöse“ Je­ rusalem, nicht in die Stadt (Mk 11,11.15) ein. V.39-44 findem sich nur bei Lukas. Eingeleitet durch einen Einwurf Außenstehender (s. zu 11,1), deutet ein prophe­ tisches Wort Jesu bildhaft an, was geschehen wird; darum steht V.40 „werden“, nicht „würden“. V.43.44a beschreiben dies im Einzelnen, in Vorwegnahme von 21,6.20; 23,28-30. Gerahmt ist es durch die prophetischem Stil entsprechende Anklage V.42.44b. Das geheimnisvolle Geschick ist zugleich Schuld, die freilich nicht moralisch zu messen ist. Beides gilt: „es wurde verborgen“ (V.42b) und „du hast nicht erkannt“ (V.44). Das letzte war, griechisch mit der gleichen Verb­ form ausgedrückt, ja auch schon V.42a gesagt. Der Bezug auf die gesamte Stadt ist hervorgehoben durch die neue Ortsangabe. Jesu Weinen ist prophetische Zeichenhandlung. Sie zeigt inneres Beteiligtsein, wie es griechische Autoren, aber auch 2.Kön 8,11; Jer 9,1; 14,17; 15,5; ähnlich in der Form Jes 48,18 ebenso tun. Wie 13,31-35 führt also die Warnung der Pharisäer zum Wort über Jerusalem, das in unlukanischer Weise eingeleitet wird (s. Einführung, 2c). Beides steht nur bei Lukas, der vielleicht wie dort an eine Warnung denkt, die es mit Jesus gut meint, ihn aber nicht versteht (vgl. Mt 21,16). Das „Schreien“ der Steine mag wie Hab 2,11 (vgl. Bill.) als Anklage verstanden sein. Wie es sich vollzieht, sagt V. 44 (= 21.6). So sind Jubel (37-40) und Tränen (41) nah beieinander. Auch V.41-44 sind nur bei Lukas zu finden. Jerusalem, übersetzt „Friedensschau“ (Philo, Träume 2,250; vgl. Hebr 7,2; Ps 122,6; 147,12-14) ist „das zum Frieden Dienende“ verborgen, wohl weil Gott der ihn verwerfenden Stadt schon den Rücken gekehrt hat. Das endzeitliche „Kommen der Tage“ sagen auch Propheten an (LXX siebzehnmal, auch s.Bar. 70,2; ähnlich l.Sam 2,31; 2.Kön 20,7). Lukas verwendet aber immer ein anderes Zeitwort als hier (5,35 = Mk 2,20; 17,22; 21,6; noch anders 23,29). Soll man das fünffache „und“, die unlukanische Form in V. 40 und 43 Anfang wie die gegenüber 21,6.20; 23,29a geänderte Formulierung lukanischer Stilkunst zutrauen? Eher ist es Zeichen besonderer Überlieferung. Die „Kinder“ Jerusalems sind auch 13,34 ge­ nannt (vgl. Nah 3,10; wirkliche Kinder: Lk 23,28; vgl. Hos 10,14). „Einkreisen“ der Stadt, „Wall“ und Schanztürme sind Jes 29,3 (vgl. Jer 6,6-21) geweissagt, „zu­ Boden-Werfen“ der kleinen Kinder Ps 137(136), 9. „Kein Stein auf dem andern“ könnte Lukas aus 21,6 (Mk 13,2) vorwegnehmen, doch spricht die andere Form (3.Pers. Plur.) eher für vorlukanische Tradition; das Wort „bedrängen“ könnte seine Redaktion verraten. Stärker als bei Markus tritt die Gott lobende Freude einer größeren Jüngerschar hervor. Die Weihnachtsverheißung erfüllt sich. Aber Jesus bleibt der Wandernde (V.28); der Jubel wird aufhören, und die Steine werden schreien (V.40); Jesus muß © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 19,28-48: Jerusalem und sein Tempel - Raumsymbol der Treue Gottes

weiterziehen, dorthin wo schon Friede und Herrlichkeit herrschen (V.38); denn Jerusalem hat an dem angebotenen Frieden vorbeigelebt. Jesus spielt dabei die Rolle eines Propheten. Seine innere Beteiligung und die Ansage des endgültigen Gerichtes über Jerusalem (nicht die Welt) unterscheiden ihn noch nicht wesentlich von ande­ ren; wohl aber dies, daß der alles entscheidende „Besuch“ Gottes (s. zu 1,68) in Jesu unscheinbarem Einzug stattfindet. Das kann freilich nicht einfach festgestellt werden (wie der künftige Einzug des römischen Siegers!). Es kann nur auf Jesu Wort hin geglaubt und so erfahren werden. Wie in Kap 1 f. (vgl. A. nach 2,52,b) ist für Lukas Jesu Kommen als ganzes, freilich jetzt als ein Kommen zum Sterben, die Zeitwende. Diese wird schon angezeigt: Jerusalem, das Lukas so wichtig ist, daß 94 von 143 neutestamentlichen Belegen auf sein Konto gehen, hat seine Rolle in der Geschichte Gottes ausgespielt. Es ist die Stadt, in der Gott wohnt (Ps 84,1), zu der alle Stämme zum Gotteslob zusammenströmen (Ps 122), die auf dem Gottesberg als Ziel aller Völker gebaut ist (Jes 2 , 1 - 5 ) , die Gott selbst mit seiner Macht umgibt (Ps 125). Von ihr wird in Wendungen gesprochen, die an Gottes Endhandeln denken lassen (43a); aber es ist eiti innergeschichtliches Gericht, das ihre Zeit beendet, nämlich ihre Zer­ störung durch die Römer 70 n. Chr. zugleich ist Jerusalem aber Ort des Abscheidens und der Himmelfahrt Jesu. Das ist Lk 24 wie Apg 1 erzählt, so daß Zeit Jesu und Zeit der Gemeinde eng verknüpft erscheinen. Vor allem beginnt in Jerusalem auch die Verkündigung. „Von Zion wird die Weisung ausgehen und das Wort des Herrn von Jerusalem“ (Jes 2,3). So wird Jerusalem geradezu „Raumsymbol“ für die Konti­ nuität des Handelns Gottes. Der Tempel wird daher schon hier zur Wirkungsstätte Jesu und seiner Apostel ( 2 , 4 1 - 5 0 ; 19,17; 2 4 , 5 3 ; Apg 2,46; 3 , 1 . 1 2 - 2 6 ; 5,201.42; vgl. 2 1 , 2 7 - 3 0 ; 22,17); seine „Besetzung“ durch Jesus und seine Schar ( V . 4 5 - 4 8 ) ist Zeichen der angebrochenen neuen Zeit. In ihr kommt Israel dadurch zur Erfüllung, daß es sich den Völkern öffnet, so daß seine Hauptstadt in der jetzt alle Welt umfas­ senden Geschichte Gottes nicht mehr die Hauptstadt bleibt (vgl. A. nach 21,24 und nach 2 1 , 3 8 , a ) . So ist auch diese Warnung noch Ruf zur Umkehr für die, die sich nicht selbst rechtfertigen, sondern als Wartende für Gottes neues Handeln offen sind. Das gilt auch für den Leser, der sich als Gewarnten verstehen, auf keinen Fall sich über andere, z.B. über Jerusalem, erhaben fühlen soll. 45-48 45 46

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Die Reinigung des Tempels wird auf das Allernotwendigste zusammengestrichen; sie schafft den Raum für Jesu tägliches Lehren (vgl. 22,53 = Mk 14,49). Es scheint eine längere Zeit zu umfassen (vgl. 20,1). Jesus zieht nach Lukas nicht in die Stadt, sondern direkt in den Tempel ein (vgl. 2,46). Er wirkt dort nur durch sein Wort, stürzt weder Tische um (Mk) noch verwendet er eine Peitsche (Joh). Auf die Völker (Mk 11,17) ist nicht hingewiesen, vielleicht weil erst der Auferstandene zu ihnen führt (s. zu 8,39) oder weil Jerusalem zur Zeit des Lukas römisch-heidnisches Heiligturn ist oder weil Lukas nur die wahre Bestimmung des Tempels als Ort der Lehre Jesu, gegen die alle Machenschaften der Behörden (s. zu 20,1) nicht aufkommen, betonen will. Die Notiz eröffnet die jerusalemitische Tätigkeit Jesu wie 4,14f. die galiläische. Auch Jerusalem ist nicht Endstation; von dort aus wird Jesu Lehre die Welt durchdringen. Schon hört „das ganze Volk“ auf sie. Insofern ist die Tempelrei­ nigung auch Zeichen für eine endgeschichtliche Tat Gottes. Kultkritik an sich ist nicht wesentlich, sondern Jesu Lehre, die dem Tempel erst Sinn verleiht, ihn dann © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 20, 1-8: Lehre in Vollmacht

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freilich auch aufheben wird. Ebenso steht der Kult Apg 7,40-48 im Kontrast zu den auf Jesus weisenden „Lebensworten“ Moses (V.37f.). Für „Volk“ (Mk 11,18) ver­ wendet Lukas von 19,43 bis 23,35 die biblische Bezeichnung für Gottes Volk (s. zu 2,10) siebzehnmal. Es trennt sich von seinen Behörden (auch 20,1.9.19; 21,38; 22,2). 23,4 ist die Menge (23,13 das Volk) zwar dabei, ist aber von den Führern (23,2.5) unterschieden, doch wird die Kreuzigung von allen gefordert (23,18-23, auch Apg 13,27f.). Hat Lukas das von Mk 15,11-14 her so verstanden? Waren ursprünglich nur die Führer genannt (s. zu 23,5)? Jedenfalls werden nach Apg 2,41; 4,4; 5,14; 6,7; 21,20 Tausende aus diesem Volk zur Schar Jesu zählen, von der dann seine Botschaft an die Völker ausgehen wird. Lehre Jesu im Tempel 20,1-21,4: 1. Die Vollmacht seiner Lehre 20,1-8, vgl. Mk 11,27-33; Mt21,23-27 Und es geschah an einem der Tage, da er das Volk im Tempel lehrte und Froh­ botschaft verkündete, traten die Hohenpriester und Schriftgelehrten mit den Ältesten gegen ihn auf, 2 sprachen und sagten zu ihm: Sag uns, in welcher Voll­ macht tust du dies oder wer ist es, der dir diese Vollmacht gegeben hat? 3 Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Ich will euch auch etwas fragen, und ihr sollt es mir sagen: 4Die Taufe des Johannes, war sie vom Himmel oder von Menschen? 5 Sie aber bedachten sich bei sich und sagten: Sagen wir „vom Himmel“, so wird er sagen: Warum habt ihr ihm nicht geglaubt? 6 Wenn wir aber sagen „von Men­ schen“, wird das ganze Volk uns zu Tode steinigen; denn es ist überzeugt, daß Johannes ein Prophet ist. 7 Und sie antworteten, sie wüßten nicht woher. 8 Und Jesus sprach zu ihnen: So sage auch ich euch nicht, in welcher Vollmacht ich dies tue. 1

Lukas folgt durchwegs Markus, scheidet aber deutlich das (Gottes-)Volk (vgl. zu 19,48) von den Behörden, die sogar ein Attentat der Menge fürchten. Nach Lukas ist Jesu Lehre und Evangeliumsverkündigung Anlaß zur Vollmachtsfrage, nicht die Tempelreinigung. „Daß du dies tust“ (Mk 11,28) ist daher gestrichen. Die Geister scheiden sich am positiven Zuspruch der Gegenwart Gottes, die allem Volk gilt. Wie Mk 11,27 gehören die Ältesten zur Behörde, werden aber bei Lukas den anderen untergeordnet, wie er sie schon 19,47 (gegen Mk 11,18) am Satzschluß anhängt. Die Frage Jesu ist noch brisanter, weil nach Lk 3,21 f. der heilige Geist „in leiblicher Gestalt“ und vor dem ganzen „(Gottes-)Volk“ herniederstieg. Damit ist die Diskus­ sion, in der Argumente zur Verteidigung der eigenen Position wichtig sind, in der man auch sein Nichtwissen zugeben kann, in ein Stadium gerückt, in dem man sich nur für Ja oder Nein entscheiden kann. Sie ist so auch für die Gegner Angebot des Evangeliums (V. 1). Das gilt um so mehr, als bei Lukas nicht wie bei Markus die Tempelreinigung und damit die Ablösung vom jüdischen Gottesdienst unterstrichen wird, sondern im Gegenteil dessen Kontinuität in der Lehre Jesu im Tempel Israels.

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1 2 1 4 8 1

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Lk 20,9-19: Der Mord am Sohn

2. Das Gleichnis von der Verwerfung der Gottesboten 20,9-19, vgl. Mk 12,1-12; Mt 21,33-46 9 Er begann aber, dies Gleichnis zum Volk zu sagen: Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und vergab ihn an Pächter und zog auf längere Zeit außer Landes. 10 Und als es 2eit war, sandte er einen Knecht zu den Pächtern, daß sie ihm von der Frucht des Weinberges gäben. Die Pächter aber schickten ihn, nachdem sie ihn geschlagen hatten, mit leeren Händen fort. 11 Und er beschloß, einen anderen Knecht zu schicken. Sie aber, nachdem sie ihn geschlagen und beschimpft hatten, sandten auch diesen mit leeren Händen fort. 12Und er beschloß, einen dritten zu schicken. Sie aber, nachdem sie ihn verwundet hatten, jagten auch diesen davon. 13 Der Herr des Weinbergs aber sprach: Was soll ich machen? Ich will meinen geliebten Sohn schicken, vielleicht werden sie sich vor diesem scheuen. l4 Als ihn aber die Pächter sahen, überlegten sie und sagten zueinander: Dies ist der Erbe; wir wollen ihn töten, damit das Erbe unser werde. 15Und nachdem sie ihn aus dem Weinberg hinausgeworfen hatten, töteten sie ihn. Was wird nun der Herr des Weinbergs ihnen tun? 16Er wird kommen und diese Pächter umbringen und den Weinberg anderen geben. Als sie das hörten, sprachen sie: Auf keinen Fall! 17Er aber blickte sie an und sprach: Was ist denn das, was geschrieben ist: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden.“ 18 Jeder, der auf diesen Stein fällt, wird zerschmettert werden; auf wen immer er aber fällt, den wird er zermalmen. 19 Und die Schriftgelehrten und Hohenprie­ ster suchten zu der Stunde, Hand an ihn zu legen und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, daß er dieses Gleichnis auf sie gemünzt hatte.

Vers 17: Ps 1 1 8 , 2 2 .

9 10-12 15 13 15 16

17 18

Nochmals ist das Gottesvolk als Hörerschaft genannt (vgl. zu 8,10). Betont ist die längere Abwesenheit des Herrn, also die Zeit verantwortlichen Handelns (in Israel!). Lukas spricht nur von drei Knechten, ebenso 19,13-23, obwohl er dort zehn voraus­ setzt. Sie stehen also beispielhaft für die „vielen anderen“ (Mk 12,5), die die Bezie­ hung auf die Propheten noch deutlicher machen. Die Übeltaten steigern sich bis zum Mord am Sohn, der nur bei Lukas ohne Parallele bei den Knechten ist (s.A. nach 22,30). Außerdem wird dessen Sendung als Ergebnis einer Überlegung geschildert, die bewußt auch das Risiko eines schlechten Ausgangs („vielleicht“) einrechnet. Das Hinauswerfen steht vor dem Töten (gegen Mk 12,8 mit Mt 21,39, s.d.), vielleicht weil Israel Jesus schon vor dem Karfreitag verworfen hat. Da Lukas Volk und Behör­ den unterscheidet, auch V. 19 nur diese nennt, und (gegen Mk 12,9) von „diesen“ Pächtern spricht, denkt er dabei wohl an die für Israels Führung Verantwortlichen. Die „anderen“, denen der Weinberg übergeben wird, sind dann die Apostel (anders Mt 21,43). V. 17 spricht von denen, die den „Stein“ verwerfen, und von Gott, der dies zum Heil wendet. V. 18 aber betont, anders als Mk 12,11, nur das Gericht (auf­ grund von Dan 2,34f.44f.; Jes 8,14f.; s. zu Mt 21,44), ähnlich wie im jüdischen Sprichwort: „Fällt der Stein auf den Topf, wehe dem Topf; fällt der Topf auf den Stein, wehe dem Topf“ (Bill. I 877). Die Jesus Drohenden sind in Wahrheit die Be­ drohten. Daß Lukas noch eine Ev. Tom. 65 verwandte Form gekannt hat, mit der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 20,20-26: Religion und Politik

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Pointe, so energisch wie die Pächter danach zu trachten, das Gottesreich zu erben, bleibt sehr unwahrscheinlich. Lukas sieht also wie das vormarkinische Gleichnis Jesu Schicksal in der Linie der Propheten (s. zu 11,37-12,1 Schl.); aber endgültige Verwerfung und Mord werden nur von Jesus erzählt. Läßt er aus dem gleichen Grund den Tod des Täufers und des Paulus weg (doch vgl. Apg 7,54-60)? Gerade als Verworfener wird Jesus zum Grundstein dessen, was Gott bauen will, und zugleich zum Verderben für die, die ihn verwerfen. So sind Karfreitag und Ostern als Abschluß und Neuanfang (s.A. nach 4,30,b) hervorgehoben. 3. Die Fangfrage: Religion und Politik 20,20-26, vgl. Mk 12,13-17; Mt 22,15-22 Und sie belauerten ihn und sandten Aufpasser aus, die vorgaben, gerecht zu sein, damit sie ihn bei einem Wort erwischten und so der Obrigkeit und Macht des Statthalters auslieferten. 21 Und sie fragten ihn und sagten: Lehrer, wir wis­ sen, daß du richtig sagst und lehrst und nicht nach der Person fragst, sondern in Wahrheit den Weg Gottes lehrst. 22Ist es uns erlaubt, dem Kaiser Steuer abzuge­ ben oder nicht? 21 Er aber erkannte ihre Hinterlist und sprach zu ihnen: 24Zeigt mir einen Denar. Wessen Bild und Aufschrift trägt er? Sie aber sprachen: Des Kaisers. 25 Er aber sprach zu ihnen: Also gebt, was des Kaisers ist, dem Kaiser, und was Gottes ist, Gott. 26 Und sie vermochten ihn nicht bei einem Wort zu erwischen angesichts des Volkes, wunderten sich über seine Antwort und schwie­ gen. 20

Anders als Mk 12,13 nennt Lukas die Pharisäer nicht (s. 13,31), prangert aber 20 Selbstgerechtigkeit an (s. zu 18,9) und nennt die Tötungsabsicht (vgl. zu 23,25). Schon 11,53 f.; 19,47 betonten den Versuch, Jesus bei einer verdächtigen Äußerung gegen das mosaische oder römische Gesetz zu ertappen. Eben daran wird seine Unschuld sichtbar. Jesu Lehren wird doppelt erwähnt. „Weg Gottes“ (Mk 12,14) 21 beschreibt Apg 18,26 (vgl. 18,25; 9,2; 16,17; 19,9.23; 22,4; 24,14.22) das Ganze des christlichen Glaubens, der als ein Wandern verstanden ist (vgl. Lk 1,79), also nicht nur Denken, sondern auch Wollen und Handeln umschließt. Das Scheitern des 26 Anschlags wird betont. Lukas hebt wiederum die andere Haltung des (Gottes-)Volks hervor, vielleicht auch die positive Stellung Jesu gegenüber dem Staat (V.20 ist der „Statthalter“ genannt). Staatlicher und kirchlicher Bezirk können nicht grundsätzlich geschieden werden. Der Mensch muß immer wieder vor Gott entscheiden, wo er wie die Zeloten dem Staat Widerstand leisten, wie die Sadduzäer mitwirken oder wie die Pharisäer auf beides verzichten und einen ihm von Gott besonders aufgetragenen Dienst leisten muß. Die Antwort unter immer neuem Fragen nach Gottes Willen wird ihm nicht abgenommen.

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Lk 20,27-36: Auferstehung ins „ganz andere“ Leben

4. Die religiöse Frage nach der Auferstehung 20,27-40, vgl. Mk 12,18-27; Mt 22,23-33 27 Einige der Sadduzäer aber kamen heran, die behaupten, es gebe keine Auf­ erstehung. Sie befragten ihn 28 und sagten: Lehrer, Mose hat uns geschrieben: „Wenn jemandes Bruder stirbt“, der eine Frau hatte „und kinderlos“ ist, soll „sein Bruder die Frau nehmen und seinem Bruder Nachkommen erwecken“. 29 Nun waren sieben Brüder und der erste, nachdem er eine Frau genommen hatte, starb kinderlos. 30Und der zweite 31 und der dritte nahm sie, ebenso auch alle sieben, hinterließen keine Kinder und starben. 32 Zuletzt starb auch die Frau. 33Die Frau also, wem von ihnen wird sie in der Auferstehung zuteil werden? Denn alle sie­ ben haben sie zur Frau gehabt. 34 Und Jesus sprach zu ihnen: Die Kinder dieser Welt heiraten und werden geheiratet, 35 die aber, die gewürdigt werden, jene Welt und die Auferstehung von den Toten zu erlangen, heiraten nicht und werden nicht geheiratet; 36 denn sie können nicht mehr sterben, sie sind nämlich engel­ gleich und sind Kinder Gottes, da sie Kinder der Auferstehung sind. 37 Daß die Toten aber auferweckt werden, hat auch Mose beim Dornbusch angezeigt, wo er den Herrn den Gott Abrahams und Gott Isaaks und Gott Jakobs nennt. 38Gott ist er aber nicht der Toten, sondern der Lebendigen; denn alle leben ihm. 3 9 Einige der Schriftgelehrten aber antworteten und sprachen: Lehrer, du hast gut gespro­ chen. 40 Denn sie wagten nicht mehr, ihn über etwas zu befragen.

Vers 28: 5. Mose 25,5 f.

Vers 37: 2. Mose 3,6.

27 Auch Apg 23,8 sagt, daß die Sadduzäer (s.A. zu Mk 1,21-28) die Auferstehung 34.35 leugnen (stärker als Mk 12,18). Merkwürdigerweise fehlt der Verweis auf die Schrift (vgl. V. 37) und die Macht Gottes (Mk 12,24). Statt dessen wird „jene Welt“ dieser und ihren „Kindern“ entgegengesetzt, wobei aber nicht an ein Weiterleben der Seele (s. zu 8,55), sondern an die „Auferstehung von den Toten“ (ähnlich Mk 12,25) gedacht ist. Sie wird nicht allen Menschen zuteil, sondern ist eindeutig als Heilsgut verstanden (s. zu 14,14). Ob Lukas neben 16,23 und der Betonung des Richters in Apgl0,42; 17,31; 24,25 (vgl. Lk ll,31f.; 12,47f.58) eine solche Auferstehungs­ 36 lehre ohne Vorlage von sich aus eingeführt hätte? Wie 16,8 in semitischer Weise von den „Kindern dieses Aeons“ sprach, so nennt V.36 hier die „Kinder Gottes“ oder „Kinder der Auferstehung“ oder nach V.35 „Kinder jenes Aeons“ (= jener Welt), vgl. ähnlich „Kind des Friedens“ 10,6. Auch nach Weish. 5,5.15f. erscheinen die Gerechten unter den „Kindern Gottes“, weil ihnen das Reich der Herrlichkeit be­ stimmt ist. Einige Handschriften lassen den Ausdruck weg, vielleicht um zu betonen, daß Jesus allein Sohn Gottes ist. Den Engeln gleich ist ihre künftige Unsterblichkeit, nicht nur ihre Ehelosigkeit (Mk 12,25). Einige Handschriften lesen in V.34 „zeugen nicht und werden nicht gezeugt“, was dazu paßte, aber schwerlich ursprünglich ist. 37 Während Mk 12,26f. die Stelle im „Buch“ Moses als Grundlage anführt, tritt hier 38 „auch“ Mose als Zeuge für Jesu Verkündigung der Auferstehung auf. Sie gipfelt in der Aussage, daß „alle ihm leben“. Ist damit nur wie 4. Makk. 16,25 gemeint, daß sie nach dem (Märtyrer-)Tod „Gott leben wie Abraham, Isaak und Jakob und alle Erzväter“ (ähnlich 7,19)? Die Gegenwartsform erinnert aber an Rom 14,8: die­ jenigen, deren Leben auf Gott hin offen ist, gehören schon zu ihm. Sie erfahren schon © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 20,37-40: Gort - Gott der Lebenden

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den Einbruch Gottes und damit eines Lebens, das dem physischen Tod nicht unter­ worfen ist. Das Lob der „Schriftgelehrten“ erinnert an Mk 12,32 und entspricht 39 sachlich Apg 23,8f. In dieser Frage ist Jesus mit ihnen einig. Da das folgende Ge­ 40 sprach fehlt (s. zu 10,25-28 Einl.), schließt sich dessen Abschluß (Mk 12,34) schon hier an. Im Gegensatz zu griechischen Vorstellungen von einer dem Menschen von Natur innewohnenden unsterblichen Seele akzentuiert Lukas die Auferstehung von den Toten, die Geschenk ist. Sie wird dem zuteil, der „Gott lebt“, also erfahren hat, daß Gott, der das Leben und nicht den Tod will, sich ihm zugesagt hat. Die Kontinui­ tät zwischen irdischem Leben und künftiger Auferstehung bildet also Gott, dessen Leben schon in die Existenz des Glaubenden einbricht und mit dem physischen Tod nicht zu Ende geht, sondern in der Auferstehung einst vollendet wird. Über die Zeit zwischen Tod und jüngstem Tag reflektiert Lukas nicht - vermutlich zu recht, weil es Zeit in unserem Sinn außerhalb des menschlichen Lebens kaum gibt.

5. Jesu Gegenfragen an Volk und jünger, 20,41-21,4, vgl. Mk 12,35—44; Mt22,41-46; 23,1.6 41 Er

sprach aber zu ihnen: Wie sagen sie, der Messias sei Davids Sohn? 42 Denn David selbst sagt im Buch der Psalmen: „Es sprach der Herr zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, 43 bis ich deine Feinde zu deinen Füßen lege“. 44 David also nennt ihn Herrn, und wie ist er dann sein Sohn? 45 Als das ganze Volk aber zuhörte, sprach er (zu) den Jüngern: 46 Nehmt euch vor den Schriftge­ lehrten in acht, die wünschen, in langen Gewändern einherzugehen, und Begrü­ ßungen auf den Straßen und die ersten Sitze in den Synagogen und Ehrenplätze bei den Gastmählern lieben, 47 die die Häuser der Witwen verzehren und zum Schein lange Gebete halten. Diese werden ein um so schwereres Gericht erhalten. 1 Als er aber aufblickte, sah er die Reichen, die ihre Gaben in den Opferstock einwarfen. 2 Er sah aber eine bedürftige Witwe, die dort zwei Lepta einwarf 3 und sprach: Wahrlich, ich sage euch, diese arme Witwe hat mehr als alle eingeworfen; 4 denn diese alle haben von ihrem Uberfluß für die Opfergabe eingeworfen, diese aber warf aus ihrer Not heraus ihren ganzen Lebensunterhalt, den sie hatte, ein. Vers 42f.: Ps 110,1.

Die V.39 genannten Schriftgelehrtcn müssen nicht mehr neu erwähnt werden (wie Mk 12,35), obwohl die Formulierung „sagen sie“ eigentlich ausdrückt, daß sie nicht mehr da sind. Jesu Wort ist weniger Kritik als Frage, wieso der Messias als Davidssohn auch Herr sein kann. Darauf wird freilich erst Apg 2,34-36 die Antwort geben. Das Zitat wird nach LXX korrigiert. Statt auf den heiligen Geist (Mk 12,36) wird auf die Psalmen verwiesen; wohl gegen ein Mißverständnis, als ob der Geist nur in der Schrift und nicht auch in der Gegenwart rede (doch vgl. Apg 1, 16; 4,25; 28,25). Anders als Mk 12,37f. (wie Mt 23,1) ist die Warnung „den Jüngern“ gesagt. Diese Dativform und der Ausruck „nehmt euch in acht“ sind unlukanisch, aber auch nicht markinisch. Ist es Erinnerung an den Schluß der Weherede in Q (s. zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

41 44 42 45 46

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Lk 20,41-21,4: Jesu Gegenfragen

12,1)? V.46 ist schon 11,43 (s.d., Einl.) nach Q wiedergegeben worden, enthält aber nicht dort, sondern hier dasselbe Wort für „lieben“ wie Mt 23,6 (Q). Ein langes Gewand kann jedermann anziehen; doch ist es besonders Tracht der Gelehrten (Bill. 1131,33). Später sitzen Rabbinen auch dem Volk gegenüber (I 915f.). Lukas sieht darin eher eine allgemeine Warnung vor Ehr- und Habsucht als eine besondere Mah­ nung an Gemeindeleiter; denn ein Trend zu Talar und Sondersitz ist schwerlich 47 schon zur Zeit des Lukas anzunehmen, so wenig wie Schaugebete oder Verwaltung von Witwengut, wie sie später bezeugt (Ign.Pol. 4,1; Ap.Konst. II 25,2; vgl. Didas­ kalia 114,1; 5,2) und gegen Mißbrauch geschützt wird (Ap.Konst. IV 6,4; Hermas Gl. IX 26,2). 1 Die mit leichten Kürzungen Markus folgende Geschichte wird enger mit dem Vorangehenden verbunden. Als Lehrender sitzt Jesus, „schaut“ daher „auf“. Daß die Reichen „viel“ geben, ist nicht mehr gesagt; nicht das Mehr oder Weniger ist wichtig, sondern die Gabe aus dem Überfluß oder aus Mangel heraus.

Gegenwart und Zukunft des Gottesreiches; Endzeitrede für Volk und Gemeinde 21,5-38, vgl Mk 13,1-32; Mt 24,1-25.29-36; 10,17-22 Und da einige vom Tempel sagten, er sei mit schönen Steinen und Weihge­ schenken geschmückt, sprach er: 6 Was ihr da seht - es werden Tage kommen, in denen nicht ein Stein auf dem andern gelassen werden wird, der nicht abgebro­ chen werden wird. 7 Sie befragten ihn aber und sagten: Lehrer, wann denn wird dies sein? Und was ist das 2eichen, wann dies sein wird? 8 Er aber sprach: Sehet zu, daß ihr nicht verführt werdet; denn viele werden kommen in meinem Namen und sagen: Ich bin es, und: Die Zeit ist genaht. Zieht nicht hinter ihnen her! 9 Wenn ihr aber von Kriegen und Aufständen hört, geratet nicht in Furcht; denn das muß zuerst geschehen; aber das Ende (kommt) nicht sofort. l0 Dann sagte er ihnen: „Es wird sich erheben Volk wider Volk und Königreich wider Königreich“, 11„und große Erdbeben“ werden sein und strichweise Pestaus­ brüche und Hungersnöte, und Schreckliches und große Zeichen vom Himmel werden sein. 12 Vor dem allem aber werden sie Hand an euch legen und euch verfolgen, indem sie euch in die Synagogen und Wachtlokale ausliefern und euch wegführen vor Könige und Statthalter um meines Namens willen. 13Es wird für euch in ein Zeugnis auslaufen. 14 Nehmt es also in eure Herzen auf, euch nicht um eure Verteidigung vorauszukümmern; 15denn ich werde euch Beredsamkeit [Mund] und Weisheit geben, der all eure Widersacher nicht werden widerstehen oder entgegnen können. 16Ihr werdet aber auch von Eltern und Brüdern und Verwandten und Freunden ausgeliefert werden, und sie werden einige von euch zu Tode bringen, l7 und ihr werdet gehaßt sein von allen um meines Namens willen. 18Und kein Haar von eurem Haupt wird verloren gehen. 19 In eurer Aus­ dauer werdet ihr eure Seelen gewinnen. 20 Wenn ihr aber Jerusalem von Heeren umringt sehet, dann erkennt, daß seine Verwüstung genaht ist. 21 Dann sollen die, die in Judäa sind, in die Berge fliehen, und die in seiner Mitte sollen ausziehen und die auf dem Land nicht in es hineinziehen, 22 denn „Tage der Rache“ sind dies, daß alles, was geschrieben ist, erfüllt werde. 23 Wehe den Schwangeren und Stillenden in jenen Tagen! Denn 5

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Lk 21,5-38: Analyse

große Not wird sein in diesem [dem] Lande und Zorn über dieses (Gottes-)Volk, 24 und sie werden fallen durch das Fressen des Schwertes und werden in alle Völ­ ker gefangen abgeführt werden. Und Jerusalem wird „von den Völkern zertreten werden“, bis sich die Zeiten der Heiden erfüllen. 25 Und es werden Zeichen an Sonne und Mond und Sternen sein und auf der Erde eine Angst von Völkern in Ausweglosigkeit vor dem „Brausen und Wogen des Meeres“, 26 wo Menschen vor Angst und Erwartung dessen, was über die Menschenwelt hereinbricht, den Geist aufgeben. Denn „die Gewalten des Himmels werden erschüttert werden“, 27 und dann werden sie sehen den Menschensohn in einer Wolke kommen mit großer Gewalt und Herrlichkeit. 28 Wenn das aber zu geschehen beginnt, richtet euch auf und erhebt eure Häupter, weil eure Erlösung naht. 29 Und er sprach zu ihnen ein Gleichnis: Seht den Feigenbaum und alle Bäume; 30wenn sie schon sprossen, dann erkennt ihr, wenn ihr es seht, von euch aus, daß der Sommer schon nahe ist. 31 So auch hier, wenn ihr dies geschehen seht, er­ kennt, daß das Gottesreich nahe ist. 32 Wahrlich [Amen], ich sage euch, dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bevor das alles geschieht. 33Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen. 34 Nehmt euch in acht, daß eure „Herzen“ nicht durch Katzenjammer und Rausch und Sorgen um Lebensunterhalt „beschwert“ werden und jener Tag nicht unvermutet 35 wie eine „Schlinge über euch“ falle. Er wird nämlich „über die auf der [auf dem Ange­ sicht der] ganzen Erde Wohnenden“ kommen. 36 Wacht aber, indem ihr zu jeder Zeit betet, daß ihr vermögt, dem allem zu entfliehen, was geschehen soll, und vor dem Menschensohn aufgerichtet zu werden. 37Die Tage hindurch war er aber lehrend im Tempel, für die Nächte aber ging er hinaus und übernachtete auf dem sogenannten Ölberg , 38 und das ganze Volk war schon früh am Morgen bei ihm im Tempel, um ihn zu hören. Vers 9: Dan 2 , 2 8 ; Vers 10: Jes 1 9 , 2 ; Vers 22f.: .S.Mose 3 2 , 3 7 ; Hos 9 , 7 ; Dan 8 , 1 3 ; Vers 2 5 : Ps 6.S,8 f.; Vers 2 6 : Jes 3 4 , 4 ; Vers 2 7 : Dan 7 , 1 3 ; Jes 2 4 , 1 7.

Vers 24: Such 12,3 LXX; Jes 6 3 , 1 8 ; Vers 34: 2 . M o s e 7,14; Vers 3 5 :

Die Rede gibt Mk 13,1-37 wieder, ist aber öffentlich im Tempel gehalten (V.5.7). Die Ereignisse von V. 10 und 11 finden erst nach denen von V. 12-24 statt (V. 12), und V. 20-24 korrigieren Mk 13,14-20 wesentlich. V . l l ist an V.25f. angeglichen. Wollen also V.5-11.12-19.20-28 je die Zeit vom Fall Jerusalems bis zum Ende beschreiben? Vom Nichtwissen Jesu über den Tag der Vollendung (Mk 13,32) schweigt Lukas, und die Schlußmahnungen lauten anders, weil er schon 12,38-40 und 19,12f. ähnliches wie Mk 13,33-37 gebracht hat. Daß Jesus V. 10.29 neu eingeführt wird, zeigt, daß Lukas kaum an eine ununterbrochene Rede denkt. V.34- 34-36 36 enthalten unlukanische Wendungen, auch biblische und urchristliche. So reden 2.Mose 7, 14 vom „beschwerten Herzen“, l.Thcss5,3f.7 vom „Tag“, der mit seinen Schrecken „unvermutet über“ die, die „berauscht sind“, „kommen“ wird, Eph 6,18 vom „Bitten“ und „Wachen“ „zu jeder Zeit“, 1.Tim 6,9 von der „Schlinge“. Lukanische Ausdrücke sind: „nehmt euch in acht“ (17,3; Apg 5,35) und „Angesicht der ganzen Erde“ (Apg 17,26, s.u. zu V.34). An Mk 13,33-37 erinnert höchstens der Ruf „wachet“. In diesem Ton redet Lukas sonst nicht; jedenfalls warnt er in der Apg nicht vor dem unvermuteten Kommen des Tages in derart biblischer Sprache. So liegt hier vermutlich Sondertradition vor. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 21,5-38: Analyse

Läßt sich die eigentliche Rede als lukanische Neudeutung von Mk 13,1-37 verste­ 25-28 hen? V. 25-28 könnten Neuinterpretation des Textes Mk 13,24-27 sein. Sonne, Mond und Sterne erscheinen V.25 wie dort, nur sehr verkürzt. Dann folgen Erinne­ rungen an Ps 65(64),8f.(LXX): „... der das Meer aufwühlt, den Schwall seiner Wogen; aufgewühlt werden die Völker und es fürchten sich (die Menschen) vor deinen Zeichen.“ Ähnliche Schreckensschilderungen finden sich z.B. Offb 6,12-17 (womit auch V. l0f. verwandt sind, s.u.). V.26b.27 sind wieder markinisch; doch fehlt die Sammlung der Erwählten (Mk 13,27), ohne daß man einen Grund angeben könnte. Dafür ist V.28 neu und paßte gut zu V.25 f., nicht aber zu V.27; denn er redet ja erst vom „Beginn“ der Endereignisse. Steht eine Tradition dahinter, die V.25.26a.28 enthalten hätte, aber nicht das Kommen des Menschensohns (V.27)? Dann mußte V. 28 hinter V. 27 eingeordnet werden, weil V. 27 noch von den Men­ schen im allgemeinen, nicht wie V. 28 und 29-33 in direkter Anrede zu den Jüngern 20-24 spricht. Auch V. 20-24 sehen zunächst wie eine Deutung zum Text Mk 13,14-23 aus, von dem der Anfang „Wenn ihr seht ...“, das Stichwort „Verwüstung“ und Lk 21,21a.23a übernommen wären. Lukas hätte in V. 20-22 auf die Belagerung Jerusalems und das Verlassen der Stadt durch die Gemeinde Jesu gedeutet und Mk 13,15.21-23 weggelassen, weil er das schon in 17,31.23 gebracht hat. Den geheimnisvoll apokalyptischen Hinweis auf den „Greuel der Verwüstung“ und die Ausmalung eines einmaligen endzeitlichen Schreckens in Mk 13,14.19f. hätte er historisiert und auch den Satz von den „Zeiten der Heiden“ eingebracht (V. 23 f.). Das ist möglich; aber in V. 21b bezieht sich „aus ihr,, und „in sie“ sicher auf die Stadt Jerusalem wie in V. 20. Sinnvoll ist das nur in einer Tradition, die V. 21a noch nicht gekannt hat. Hätte Lukas nicht „aus Jerusalem“ geschrieben, wenn er von sich aus formuliert und nicht eine schon feste Überlieferung V. 20.21b durch den jetzt störenden Markussatz 21a aufgefüllt hätte? Vor allem verweist Lukas in Apg nie auf die Zerstörung Jerusalems, so daß auch hier die davon handelnden Sätze 8-19 mit ihren biblischen Anspielungen eher auf eine zweite Quelle zurückgehen. Auch in V. 8 f. 12-19 finden sich auffällige Änderungen. V. 14 f. erscheint eine andere Version des Trostwortes für Gerichtverhöre, weil Lk 12,11 f. schon eine Q-variante gebracht hat. Dazu paßt das andere Trostwort, daß kein Haar ihres Hauptes verloren gehen werde (V. 18), das in einer etwas anderen Form auch in 12,7 in der Nähe des ersten erscheint, hier aber nach 21, 16 f., die das Martyrium in Aussicht stellen, gar nicht mehr zu erwarten ist. Standen beide Worte also schon in einer Vorlage? In V. 11 erscheint nur bei Lukas die Pest. Erst damit stimmt die Liste der apokalyptischen Zeichen Mk 13,7-13.24-27 (s.d.) mit der von Offb 6 überein. Ist das zufällig oder hat Lukas noch eine ursprüngliche Version erhalten? Vor allem stören V. l0f. Lukas an der jetzigen Stelle, wie die Rückdatierung in V. 12a zeigt. Die Hemmung des Lukas, V. 10f. einfach an V. 9 anzuschließen, erweist sich auch in der neuen Einlei­ tung zu V. 10, wie er sie sonst nur bei Einführung eines Gleichnisses einfügt (5,36; 6,39; 21,29; vgl. 12,42). Hätte Lukas die ganze Rede nur aufgrund der Markusvor­ lage so durchgehend verändert, warum hätte er dann nicht V. l0f. vor V. 25 einge­ schoben, wo sie seiner Meinung nach hingehörten? Da schwerlich alle Abänderun­ gen, besonders die (nicht rein stilistischen) alttestamentlichen Wendungen, der Ge­ gensatz von V. 16f. und 18 und der durch V. 21 a gestörte Zusammenhang (s.d.), auf © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 21,5-12: Tempelzerstörung-Krieg: Vorzeichen

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Lukas zurückgehen, bleibt wahrscheinlicher, daß er neben Mk 13 noch eine Variante kennt, die in ähnlicher Richtung wie Mk 13 aus einer noch älteren Form entwickelt wurde, die Lk 17,23-37 (Mt 24,17f.23-28.37-41) näherstand. Das könnte auch das zu 17,31 Gesagte (s.d., Einl. und zu 21,21) bestätigen (vgl. A. nach 23,25). Anders als Mk 13,1 verläßt Jesus den Tempel nicht; „einige“ (s. zu V. 12 und 5 11,1) weisen auf die dort sichtbaren, wie für die Ewigkeit verklammerten Quadern (Jos., Altert. 15,399) und Weihgeschenke, z.B. den von Herodes gestifteten golde­ nen Weinstock (ebd. 395), nicht nur auf Mauern und Gebäude, die man von draußen sieht (Mk 13,1). Die Endzeitrede und die anschließenden Gleichnisworte sind also anders als 12,42; 17,22 (s.d. und vgl. zu 8,10) an alle gerichtet wie auch 19,11-27, nicht nur an die Jünger wie Mk 13; Mt 24-25. Mit Satzbruch und biblischer Formel 6 (s. zu 19,43) wird die Ansage der Tempelzerstörung hervorgehoben. Sie gehört nach Lukas zum Handeln Gottes, das zur Endzeit führt. Daß sie schon erfüllt ist, beweist, daß auch das übrige von Jesus Ausgesagte kommen wird. Ähnlich ziehen Kap 1 f. auch Zacharias und Elisabeth in die Geschichte Gottes vor Jesus hinein, und sieht Simeon schon das Endheil Gottes (2,30). Wie Gottes vorbereitendes Handeln auch in geschichtlicher Nähe zu Jesus sichtbar wird, so sein vollendendes (s. A. nach V.38,a). Auch weist 24,7 auf die Erfüllung der Weissagung Jesu schon an Ostern. Nicht die Jünger fragen Jesus wie in Mk 13,3f. (s.d.); Mt 24,3, sondern die V.5 7 Genannten; denn die Jünger nennen Jesus nie „Lehrer“. „Dies“ ist auch nur die Tempelzerstörung, nicht wie dort die Endvollendung, die bei Lukas erst mit V. 10 einsetzt. V. 8-9 sind stilistisch überarbeitet. Die drei mit „nicht“ verbundenen Ver­ 8.9 ben enden im Griechischen alle gleich (auch 18,32) und beginnen mit dem gleichen Buchstaben. Daß „die (von Gott bestimmte) Zeit“ (s. zu 12,56) nahe sei, brand­ markt Lukas hier also als Irrlehre (vgl. auch 17,23; 12,45). Er erwartet das Ende nicht so rasch wie Offb 1,3; 22,10, wo eben dies verkündet wird. Lukas hat auch „Aufstände“ zugefügt, wohl weil sie damals häufiger waren als „Kriege“. Das alles „muß vorher geschehen“ (s. A. nach 22,30,b), ist also nicht Grund zur Angst. V. 10 f. werden durch eine neue Einleitung, den schon auf V. 25 („Zeichen“ am Hirn­ 10 mel) verweisenden Schluß und die Rückblende in V. 12 davon abgehoben. Der durch V. 16 (s.d.) noch verstärkte Anredecharakter von V. 8 f. 12-20 ist hier auch verlas­ sen. Daß dies erst „der Anfang der Wehen“ sei (Mk 13,8), fehlt; für Lukas ist es die allerletzte Zeit vor dem Ende. Die Erwähnung der „Pest“ könnte alte Tradition sein 11 (s.o. Einl.). Schon die Zerstörung Jerusalems ist Zeichen der auf das Ende hin lau­ fenden Zeit; aber erst die kosmischen Zeichen lassen auf dessen unmittelbare Nähe schließen. Daß sie noch nicht eingetroffen sind, bewahrt vor falscher Sicher­ heit und vor falschem Bescheidwissen über Gottes Plan. Die Verfolgung gehört 12 nicht dazu; sie kommt „vor“ dem allem (vgl. zu Mt 10,17-25 Schl.). Vielleicht ersetzt V. 12 die jüdischen Gerichte (Synedrien, Mk 13,9) durch „Wachtlokale“ oder „Gefängnisse“, weil jene kaum mehr eine Rolle spielen. Nun läßt Lk 8,13 den markinischen Verweis auf Verfolgungen weg, und Apg kennt an Martyrien nur das des Stephanus und die kurze Notiz zu Jakobus (7,58; 12,2). Von Paulus wird berichtet, wie er alle Bedrängnis überwindet (z.B. 14,19f.), nicht aber sein Tod. Wohl erfährt er als Apostel Anfeindung, und 14,22 verheißt auch der Gemeinde © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 21,12-19: Verfolgung der Jünger: Vorzeichen

„Trübsale“. Lk9,52f. sprechen vom täglichen Glaubenslebcn, nicht vom Martyrium (so eher Mk8,34f.), so daß 21,12-19 wohl die Frühzeit der Gemeinde beschrei­ ben, in der nach Apg5,36f. ja auch Falschmcssiasse (Lk 21,8) auftreten. So liegt auch hier der Ton eher auf V. 15.18 f. Der „Name“ Jesu (auch V. 17 = Mk 13,13) ist die Art und Weise seiner Gegenwart nach Ostern (s. zu 18,29 und A. nach 4,30,a). 13 Trotz V.5.7.10 ist faktisch die Jüngerschar oder Gemeinde angeredet. Für sie ist dies Gelegenheit zum Zeugnis (etwas anders Mk 13,9), vgl. zu 8,39. Oder ist gemeint, daß ihre Verfolgung vor Gottes Gericht Zeugnis (gegen die Verfolger) ablegen wird? 14 Die Einleitung stimmt wie 1,66 fast genau mit Mal 2,2 LXX zusammen, während der ähnliche Satz in Lk 9,44 diese Stelle mit 2. Mose 17,14 verbindet. Ist es Zeichen einer Quelle? Nicht nur sollen sie nicht sorgen (so 12,11 Q), sondern sogar ihre 15 Verteidigungsrede (auch 12,11) nicht vorbereiten. An die Stelle des Geistes (12,12; Mk 13,11) tritt der Herr selbst. Gewiß spricht dieser auch im Geist, weil Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat, darin zu uns kommt (vgl. Apg 18,9 neben 16,6f. 10); aber hätte Lukas ohne Vorlage so geändert? Nur in der Vision oder Ekstase (meist nachts) erscheint der „Herr“, aber wohl vom Himmel her (Apg 9,10; 18,9; 22,17-19; vgl. 23,11). Wo es sich nicht darum handelt, spricht der Engel, den der Herr schickt (Apg 12,9; vgl. 10,3; 11,5.8 [als „Herr“ angesprochen]; 27,23), oder der Geist. Daß dem Herrn niemand widerstehen kann (vgl. Apg 6,10!), schließt nicht 16 aus, daß Gegner wider besseres Wissen „einige von ihnen“ töten werden. Erst Lukas setzt den Satz in die zweite Person und bindet ihn damit enger an V. 15, wobei der biblische Bezug, nämlich die Verfolgung der Eltern durch die Kinder (Lk 12,53; auch 18 Jub. 23,16-21), freilich verloren geht. Hart daneben steht V. 18 (ähnlich 12,7). Die Wendung ist sprichwörtlich (l.Sam 14,45; 2.Sam 14,11; l.Kön 1,52; Apg 27,34); aber was meint Lukas, der wohl Wunder von Bewahrung kennt, aber auch Marty­ 19 rien (V. 16; Apg 7,57-60; 12,2)? V. 19 könnte man auch übersetzen: „Mit eurer Geduld werdet ihr euer Leben retten“ und so verstehen, daß, wer sich nicht hinrei­ ßen lasse, von Verfolgung verschont werde. Aber gemeint ist sicher das Durchhalten im Glauben und das wirkliche Leben der Auferstehung („eure Seelen“, vgl. zu 8,55). Darum formuliert Lukas auch aktiver als Mk l3,13 und redet vom „Gewinnen“ oder „Erwerben“. In diesem Sinne werden sie nicht das Geringste verlieren (V. 18). Lukas betont also, daß zwar Verfolgung wie für Jesus (17,25) auch für die Jünger möglich ist (vgl. A. nach 22,30, b 3), daß aber dann die Hilfe des lebendigen Herrn stärker sein wird. Das sollen sich seine Leser ins Herz schreiben lassen. 20 „Der Greuel der Verwüstung“ (so Mk 13,14 wörtlich) ist jetzt die Belagerung, die die Verwüstung bringt, und der Ort, „wo er nicht stehen darf“, Jerusalem. Dahinter stehen Stellen wie Jer 4,7; 7,34; 22,5; 25(32), 18; 44(51),6.22, nicht mehr Daniel 21 wie Mk 13,14. Die Warnung, nicht mehr ins Haus hineinzugehen, weil der Men­ schensohn gleich kommt (Mk 13,15), stand schon in der eigentlichen Endzeitrede 17,31, dafür werden hier die Landbewohner davor gewarnt, nach Jerusalem hinein­ zuziehen; Apg 8,1 ist mit dem gleichen Wort das Land der Stadt entgegengesetzt. Freilich steht V.21a (wörtlich = Mk 13,14b) dazwischen, so daß davor gewarnt wäre, nach Judäa hineinzuziehen, was aber unsinnig ist, da das Bergland ja auch judäisch ist (s.o. Einl.). Die neue Deutung ist mit Lk 11,49-51; 19,41-44; 23,28-31 verwandt. Das „Erkennen“, zu dem die, zur Zeit des Lukas schon vergangene Gene© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 21,20-24: Fall Jerusalems: Vorzeichen

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ration um 70 n. Chr. aufgerufen wird, bezieht sich also auf eine geschichtliche Kata­ strophe. Sie ist noch von der Schrift vorausgesagt - als das Letzte, so daß dann „al­ 22 les“ in der Schrift erfüllt ist. Die kosmisch-apokalyptischen Ereignisse (vgl. zu V.25 f.) hingegen sind nur von Jesus geweissagt (V.33). So dankbar Lukas an Jerusa­ lem als Mutter der Gemeinde zurückdenkt, eine heilsgeschichtliche Rolle spielt sie also nicht mehr. Die Gemeinde ist auch aus ihr „ausgezogen“. Daß ihre Zerstörung aber prophezeiht ist, hilft dem Glauben, auch in solchen Schrecken Gott zu sehen, und ruft ihn auf, diesen rechtzeitig zu erkennen, damit das Kommende ihm nicht zum Gericht werde. V.23a entspricht wieder wörtlich Mk 13,17, ist aber auf die 23 Belagerung Jerusalems 69/70 n. Chr. bezogen, nicht auf die von Lukas ausgelassenen unvergleichlichen Schrecken der Flucht in Mk 13,15f.l8-20. V.23b spricht auch nicht mehr von endzeitlicher Not, sondern nur von der über „dieses Volk“ gekom­ menen, so daß man das griechische Wort vorher wohl mit „Land“, nicht mit „Erde“ übersetzen muß. Darum folgt auch die Beschreibung eines geschichtlichen Ereignis­ ses mit seinen Details, in denen sich freilich prophetische Weissagung (s.o.) erfüllt. Das Zertretenwerden durch die Völker (oder: Heiden) und die dafür bestimmte Zeit 24 findet sich auch Offb 11,2 (vgl. Sach 8,13.22; Tob 14,5f.). „Die Zeit der Heiden“ ist daher schwerlich die d e Heidenmission, sondern die der Herrschaft Roms, die frei­ lich zugleich die der heidenchristlichen Gemeinde ist (zu Jerusalem s. zu 19,41-44 Schl.). Durchwegs sind also endgeschichtliche Erwartungen aus Mk 13,14—20 oder sei­ ner Vorlage und dem Alten Testament aufgenommen, aber auf den zur Zeit des Lukas schon Geschichte gewordenen Fall Jerusalems bezogen. Ein Ereignis nach Ostern ist so betont ins Evangelium aufgenommen. Geschichtliche Erfahrung be­ kommt Offenbarungscharakter wie sonst nur in Offb und im A.T. Zwar wird das Weltende davon unterschieden (schon V. 10f.); daß es nicht 70 n.Chr. eintrat, weiß natürlich jeder. Lukas will aber den sachlichen Zusammenhang betonen, es vielleicht sogar ähnlich direkt mit dem endgültigen Kommen Jesu zusammensehen wie die Urchristenheit die Auferstehung. Jedenfalls streicht Lukas „in jenen Tagen nach jener Trübsal“ (Mk 13,34) und schließt V.25 ohne Absatz direkt an die Zeit der Völker an, ist doch mit dem Fall Jerusalems alles, was die Schrift voraussagt, erfüllt. Schon vor ihm ist das Evangelium bis nach Rom gekommen (Apg 28,26-28), so daß er direkt auf die letzte Vollendung hin zeigt. Er warnt davor, an Gott vorbeizuleben, leitet er doch die Zeit ein, die unaufhaltsam auf das Kommen des Menschensohns hinläuft. Obwohl dies zeitlich nicht festgelegt werden kann, wird daher auch auf seine Nähe hingewiesen (17,24-37; vgl. 12,45; 21,32). Insofern ist der Fall Jerusa­ lems Endgeschichte (s. A. nach V. 38,a). 2ur Bedeutung Israels (vgl. A. nach 2,38) a) Lukas beginnt sein Evangelium im Tempel von Jerusalem und läßt es dort schließen (1,8-10; 2,22-38.41-50; 19,47; 21,37; 24,53). Jüdische Frömmigkeit prägt Jesus und seine Gemeinde. Paulus ist als Pharisäer geschildert, so daß der Streit nur darum geht, ob es Auferstehung gibt und ob sie in Jesus schon geschehen ist oder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Israel

nicht (Apg 4,2; 23,6; 24,15.21; 26,8). Jüdischer Schöpfcrglaube und aufgeklärte hellenistische Gottessicht sind Grundlage, zu der nur noch eine christliche Zusatzverkündigung über Auterstehung und Gericht kommt (Apg 17,24-31). Doch ist auch der Bruch festzustellen. Jerusalems Rolle ist zu Ende (s. zu 19,28-44 Schl.). Lk 21,20-24 ersetzt Mk 13,14-20 (s.d., Schl, und zu Lk 13,1-9 Schl.). Lk 19,4143; 23,28-31 stellen dies als Erfüllung der Weissagung Jesu, 21,22 als die der Schrift dar. Der Tempel ist zum Ort der Lehre Jesu geworden (s. zu 2,47; 19,47); darum liegt so viel daran, daß die über die Judenschaft hinausgreifende Verkündi­ gung von Jerusalem ausgeht (Apg 8,14-17). Aber die Gemeinde versammelt sich jetzt nicht mehr im Tempel; denn mit Paulus zieht die Verkündigung des Gottes­ reichs und die Lehre vom Herrn Jesus Christus von Jerusalem in die Völkerwelt bis nach Rom (Apg 28,31), freilich erst, nachdem Israel sich entschieden hat. In Jerusa­ lem nehmen 3000, 5000, schließlich Zehntausende (s. zu Lk 12,1 und NTD 5, 232 und 314) das Evangelium an (Apg2,41; 4,4; 5,14; 6,1.7; 12,24; 21,20). Bei den Diaspora-Juden wie bei den Gottcsfürchtigen wird das noch selbstverständlicher (9,42; 13,43; 14,1; 17,11 f.; vgl. zu Lk 11,37-54 Schi.). In der ersten Rede an Hei­ den wird das zu Israel gesandte Evangelium verkündet (10,36.42; vgl. 13,23 f.)- In Abrahams Nachkommen sind alle Völker gesegnet (3,25), und Volk im Vollsinn bleibt Israel (s. zu Lk 2,10). Sagt Apg 26,18, daß die Heiden in Israel, den von Gott „Geheiligten“, ihren Anteil bekommen wie nach Rom 11,17f.? Aber die „Heiligen“ von 9,13.32.41; 26,10 sind die Christen, wenn auch die von Jerusalem und Umge­ bung. Die nächste Parallele 20,32 ist sicher nicht so zu verstehen, und auch nach Apg 26,17 ist doch wohl von Juden und Heiden die Rede, die unter den „Geheilig­ ten“, also in der Gemeinde Gottes ihren Anteil finden sollen. Nur ausnahmsweise nennt Lukas in Apg 15,14; 18,10 auch die Gemeinde Jesu „(Gottes-)Volk“ und nie „das wahre Israel“. So sehr die Völker zu den Israeliten dazukommen, die das Evan­ gelium angenommen haben, so wichtig die Kontinuität ist, der Name „Israel“ wird nicht auf die Gemeinde übertragen, obwohl die Judenschaft als Gesamtorganisation das Angebot Gottes abgelehnt hat (Apg 28,26-28). b) Ähnliches zeigt sich beim Problem des Gesetzes. Die Eltern des Täufers und die Jesu sind vorbildlich in der Gesetzeserfüllung (1,6; 2,22-24.27.41), und es kommt dabei auf das Tun an (3,10-14; 8,15.21; 10,37). Nach Apg 7,53 sind es die Juden, die das Gesetz nicht halten, während Paulus als konsequenter Pharisäer es befolgt hat und sich auch nach seiner Berufung zum Apostel daran halten kann (Apg 16,3; 18,18; 26,5; vgl. 16,4.13). Freilich predigt er jetzt „aus Gesetz und Propheten“ das Gottesreich (Apg 28,23; vgl. Lk 16,31). Jedoch die vom Gesetz geforderte Gerech­ tigkeit gibt es in jedem Volk (10,35); denn auf das Ritualgesetz kommt es nicht an, obwohl ein Minimum bewahrt werden muß (15,10.19-21; 21,24f.), was selbstver­ ständlich kein Pharisäer je akzeptiert hätte. Darum gibt es auch im vorchristlichen Israel echten Glauben, nicht nur in dem vor der Zeit des Gesetzes lebenden Abraham wie bei Paulus (Gal 3,6-18). Lukas kennt einen Übergang vom Gesetz zum Evange­ lium, das seine Unvollkommenheiten aufhebt (Apg 13,38f.; 15,i0.19f.). Mk7,15 wie die Gegensatzformulierungen Mt 5,21—48 fehlen. Andererseits wird das Gesetz radikalisiert (vgl. zu Lk 16,17). Geht es also nur darum, unnötige oder überspannte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Gesetz

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Ritualforderungen zu reduzieren, dafür alles auf die zentralen ethischen Gebote zu konzentrieren? Das alles ist gewiß weit entfernt von der Klarheit, mit der Paulus das Gesetz dem Evangelium entgegenstellt. Und doch kennt Lukas wie Paulus die Gefahr der Selbst­ rechtfertigung (10,29; 16,15; 18,9; 20,20), in der man meint, Gott nicht mehr nötig zu haben. Sie ist Mißbrauch der an sich guten, vom Gesetz geforderten Werke. Sie macht nämlich die Liebe unmöglich, weil sie zum Messen und Vergleichen zwingt, bei dem der Mensch „oben“ bleiben will (vgl. zu 15,29f. Schl.). Doch begegnet sie Lukas ja nicht mehr in der Form peinlicher Erfüllung des Mosegesetzes. Man könnte ihm eher vorwerfen, daß 10,29; 16,15 und 18,9 nur im Zusammcnhang damit erscheinen. Doch weiß er, daß es echten Glauben nur gibt, wo einer mit leeren Hän­ den als Wartender vor Gott steht (s. A. nach 2,52,c). Darum „übersetzen“ Gestalten wie die Reichen von 12,16-21 und 16,19-31 (vgl. zu 18,8!) oder der ältere Sohn 15,25-32, der Pharisäer 7,36-50 oder die Zuschauer 13,1-5, die sich von den Sün­ dern abheben wollen, aber auch lukanische Hinweise auf gegenwärtige Bedeutung der Warnungen Jesu (s. z.B. zu 14,15-24 Schl.; 14,33; 17,1-4) die falsche Selbst­ rechtfertigung in die neue Situation hinein. Weil es kaum mehr gesetzlich-jüdische Frömmigkeit als Gefahr gibt, das Mosegesetz also nicht mehr Fleilsweg ist, kann Lukas es mit den Propheten zusammen als Hinweis auf das Evangelium und (wie Röm 3,31; 7,12) als guten Ausdruck des Willens Gottes verstehen. Gerade er zeigt ja, wie Reichtum oder Geltungssucht zur falschen Selbstbehauptung vor Gott führt. Andererseits kann es dem, der gelernt hat, aus dem Geschenk Gottes zu leben, zum Wegweiser werden, der die Richtung angibt, in der der Weg etwa verlaufen soll. Lukas sieht also die falsche Weichenstellung stärker in der praktischen Lebenshal­ tung als in der lehrhaften Zustimmung zu einem Heilsweg des Gesetzes statt der Gnade. Darum geht die Scheidung mitten durch Juden und Heiden hindurch und vollzieht sich auch in der christlichen Gemeinde immer wieder. Die kosmischen Wunder (Mk 13,24) werden stark verkürzt als „Zeichen“ (wie 25.26 V. 11) zusammengefaßt, so daß die Aufnahme von Jes 13,10; 34,4 verschwindet und nur der biblische Ausdruck „Himmelskräfte“ (die Heere der Sterne, Dan 8,10; auch 2.Kön 17,16) erhalten bleibt. Dafür wird der Schreck der Völker, also ein irdisches Geschehen, mit Anklängen an Ps 65,8f. geschildert (vgl. auch zu Mt 24,30). Anders 27 als Dan 7,13, Mk 13,26 und 14,62; Offb 1,7 ist nur von einer Wolke die Rede wie bei der Himmelfahrt; nach Apg 1,11 werden die Jünger Jesu ihn ja kommen sehen, wie er von ihnen geschieden ist, weil sein Kommen die Vollendung seiner Erhöhung ist (vgl. zu Mk 14,62). Auch ist die Wolke (Einzahl) 2.Mose 19,16; 24,16; 4. Mose 11,25 u.o. Zeichen der Gegenwart und Herrlichkeit Gottes, vgl. 9,26. Die Sendung der Engel durch den Menschensohn (Mk 13,27) ist weggelassen (vgl. zu 9,26); diese gehören betont zu Gott (12,8 f.; 15,10), nicht zum Menschensohn (Mt 13,41; 16,27; 24,31; 25,31). Die Lukas an sich wichtige Richterfunktion (Apg 10,42; 17,31) tritt hier beim Menschensohn stark zurück. Wahrscheinlich hat Jesus selbst sich noch nicht als Richter, sondern als entscheidenden Zeugen im letz­ ten Gericht verstanden (so 12,8; in 12,9 nicht einmal genannt), wie es schon Weish. 5,1-5 vom leidenden Gerechten erwartet hat (s.A. zu Mk 8,27-33 gegen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 21,25-36: Das Kommen des Menschensohns

28 Ende). Als solcher tritt er für die Seinen ein (Apg 7,56); daher schließt ein, wieder in Anredeform übergehender, Aufruf zur Freude den Abschnitt ab. Er verheißt „Erlö­ sung“ (vgl. äth.Hen. 51,2: „der Tag ihrer Erlösung ist nahe“) aus der gegenwärtigen Anfechtung, die sehr ernst genommen ist, nämlich das „Reich Gottes“ (V.31), das nach dem Gericht kommt. Lukas schildert die doppelte Reaktion der Menschen beim Kommen Jesu, von der Mk 13,24-27 nichts sagt. Nicht die Gemeinde muß sich fürchten (V.9.14f.), son­ dern die, vor denen sie jetzt sich zu fürchten in Versuchung ist. Gewiß betrifft die Vollendung auch die Welt selbst; aber Verfinsterung von Sonne und Mond und Fall der Sterne sind nicht interessant. Sie erregen höchstens Neugier, statt zu einem Leben zu rufen, das in endgültige Hoffnung, nicht in Angst und Schrecken führt. 29 Lukas gibt dem Gleichnis Mk 13,28-32 eine Einleitung (s. zu 6,37-42 Einl.) und spricht von „allen Bäumen“, so daß daraus ein allgemeines Naturgesetz wird, das 30 man „von sich aus“ (vgl. 12,57) einsehen müßte, was den ursprünglichen Bezug auf 31 Joel 2,22 verwischt. „Reich Gottes“ ist Zusatz des Lukas, der schon V. 16.19.28 den Bezug auf die Jünger betonte. Aber wie versteht er seine Nähe? Seine Gegenwart in Jesus (wie 9,27, s.d.) kann nicht gemeint sein, weil kosmische Zeichen und das 32 Kommen des Menschensohns vorangehen. Wer ist dann „dieses Geschlecht“? Nach 17,25; ll,29-32.50f. müßte es das zur Zeit Jesu lebende sein, so daß Lukas das Gottesreich erwartete, bevor die letzten Augenzeugen, die V.28—32 in zweiter Per­ son angeredet werden, gestorben sind, also innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahrzehnte. Vielleicht meint Lukas das wirklich (vgl. 18,8). „Alles“ (V.32) müßte dann aber auch Jesu Kommen V.27 einschließen. Wahrscheinlich ist das nicht; sonst könnte doch die Apg nicht fast ohne jeden Hinweis auf dieses Ende der Welt und ohne alle apokalyptische Sprache geschrieben sein. Sind also mit „diesem Ge­ schlecht“ die Juden gemeint? Daß sie nicht in den andern Völkern aufgehen können, wäre dann Zeichen der Geschichte Gottes (Rom 9-11). Aber hätte sich Lukas bei etwas so Wichtigem auf dieses eine unklare Wort beschränkt? Hätte dann nicht mindestens in Apg 28,26-28 davon etwas gesagt sein müssen? Nie heißen die Chri­ sten „dieses Geschlecht“. Wäre also die Menschheit gemeint wie 16,8? So sicher sie nicht ausstirbt, so sicher kommt das Reich. Aber das wäre doch eher banal ausge­ drückt. Am ehesten meint Lukas, daß seit Ostern alle zum Geschlecht der Endzeit gehören, das auch nach l QpHab 2,7; 7,2 mehrere Generationen zu umschließen scheint, weil „sich die Zeit des Endes ausweitet“ (7,7). Darum ist auch betont, daß kein Mensch um das Datum des Kommens Jesu weiß (Apg 1,7), was freilich für 34 Jesus nicht gilt - Mk 13,32 ist nämlich gestrichen! Ohne Parallele ist der Abschluß. Er ist stärker warnend als V. 28.31; doch sind Hoffnung auf Enderlösung, Mahnung zu anhaltendem Gebet und die Frage nach der Reaktion der Menschen auch 18,1-8 verbunden. Wie dort übernimmt Lukas seine Tradition (s. Einl.) zustimmend. Trun­ kenheit ist der Zustand, in dem „die Sinne vom Wein schwer werden“ (Homer, Od. 19,122; 3,139; vgl. Philo, Trunkenheit 104 [Begierden, Leidenschaften]. 131), so daß man die Wirklichkeit nicht mehr sieht und in Illusionen lebt. Zu ihnen gehört, was wir realistisch nennen: die Sorge um den Lebensunterhalt (8,14; 12,22; vgl. 35 12,13-34.45; 17,26-30). Darüber vergißt man „jenen Tag“ (10,12; 17,31) und gerät in ihn hinein wie ein Tier in eine Schlinge (auch 1.Tim 6,9). Die Ausweitung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 21,5-38: Endzeitrede

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auf alle Erdbewohner stammt aus Jes 24,17 und verstärkt den Aufruf an den Einzel­ nen. Anhaltendes Gebet (vgl. 18,1; Eph 6,18) gibt die Kraft zur Flucht aus all diesen 36 Schrecken zum Menschensohn; nicht zum Richter (wie 2. Kor 5,10), sondern zu dem, vor dem man als Glaubender „aufgerichtet wird“ (das gleiche Wort Rom 14,4). Wie 12,8 könnte das echtes Jesuswort sein. V.37f. verklammern mit 19,47f.; 20,1 und schließen die Periode der Lehre in 37.38 Jerusalem ab (s. zu 22,1). Wie dort erscheint das Volk auf Jesu Seite (vgl. den Ab­ schlußder Lehre Moses gegenüber dem Volk: 5. Mose 31,1; 32,44f.). Joh 8,lf. sind auch in der Wortwahl verwandt, könnten aber Lk 21,37 nachgebildet sein, da Joh 7,53-8,11 in einer Handschrift zwischen Lk 21,37 und 38 erscheint. Joh 18,2 jedoch setzt wie Lk 22,39 voraus, daß Jesus oft auf dem („sogenannten“, obwohl er 19,37 [vgl. 22,39] schon erwähnt ist) Ölberg weilt. Damit ist die Szene seiner Ver­ haftung vorbereitet. Wie Mk 13 beschließt die Endzeitrede das öffentliche Wirken Jesu. Das Ende kommt nicht einfach irgendwann einmal, sondern bestimmt das gegen­ wärtige Leben. Darum nimmt Jerusalem seinen wichtigen Platz ein, während end­ zeitliche Naturkatastrophen zurücktreten. Sein Fall leitet die Endzeit Gottes ein, die „Zeit der Heiden“, die Lukas schon stark mit dem letzten Kommen Jesu verknüpft. Darum wird die objektive Schilderung V. 16.18 f.28 in direkte Anrede umgestaltet, während Mahnungen wie Mk 13,33-37 schon in 12,35-59 und 17,22-37 breit entfaltet wurden. „Rausch“ und „Katzenjammer“, Glanz und Not können das Herz so ausfüllen, daß das wirklich Wichtige keinen Platz mehr findet: das Wissen des Glaubens, daß das Ende der Anfang endgültiger Freude ist. Davon muß heilsame Unruhe ausgehen, die neue Werte setzt. Endgültiges Kommen und Endgeschichte a) Die Endereignisse mit dem endgültigen Kommen des Menschensohns sind Lukas wichtig. Lk 19,12 unterstreicht redaktionell die Rückkehr des Herrn. Weit mehr als bei Markus durchziehen die Hinweise darauf das Evangelium. Lukas hat nicht nur eine, sondern drei Endzeitreden (12,35-59; 17,20-37; 21,5-36), während er sonst Markustexte wegläßt (z.B. 4,30-32; 6,1-6; 9,42-50; 10,2-12), wenn er schon Ähnliches (z.B. aus Q) aufnahm. Wird in der ersten Rede Wachsamkeit einge­ schärft, so in der zweiten die Plötzlichkeit des Kommens Jesu; in der dritten werden Zwischenzeit und Endgeschehen in ihrer Verschiedenheit und Zusammengehörigkeit geschildert, während Apg 1,6-8 ausdrücklich vom Geist reden. Deutlich unterschei­ det Lukas schon eingetretene Ereignisse wie die Eroberung Jerusalems und die Ver­ folgung der Gemeinde von der eigentlichen Endzeit, die den Kosmos betreffen wird (21,10a. 12a.20-24). Bei den ersten werden typisch apokalyptische Sätze gestrichen (der „Greuel“ Mk 13,14) oder auf die letzte Periode übertragen (17,31). Doch ist das schon Geschehene nicht Profangeschichte, sondern Teil des endzeitlichen Han­ delns Gottes. Auch dafür wird biblische Sprache verwendet (s. zu 12,52; 21,22). Die kosmischen Ereignisse schließen sich 21,10f. an die schon geschehenden an; vor allem geht die Zeit der Heiden, die nicht mehr auf die apokalyptischen 3 ½ Jahre © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Endgcschichte

(Offb 11,2) begrenzt ist, direkt in die des Kommens des Menschensohns über; 21,25 läßt den Ausdruck „in jenen Tagen (nach jener Trübsal)“, der die eigentliche Endzeit markiert, weg (s. zu V.23). Nach Apg 2 , 1 7 - 2 1 haben „die letzten Tage“ begonnen und die Zeit des Geistes geht bruchlos in die Zeit der kosmischen Wunder, der Ver­ finsterung der Sonne und des jüngsten Gerichtes über. Daß der Fall Jerusalems nicht das Weltende war, weiß jeder; für die Leser des Lukas betraf dies wohl einen unbe­ deutenden Winkel des römischen Reichs. Lukas unterstreicht aber den sachlichen Zusammenhang mit den eigentlichen Endereignissen. Auch der Tod des Paulus war nicht das Ende. Seine Abschiedsrede spricht wohl von den kommenden „Wölfen“ (Apg 20,29f.), die man in der Endzeit erwartet (s. zu Mt 7,15); aber wie in Lk 10,3 ist damit die Zeit der Verfolgung vor der letzten Endperiode gezeichnet. Sicher denkt Lukas nicht an Jahrhunderte; jederzeit kann das Ende kommen; darauf wartet die vom Geist geprägte Gemeinde der Endzeit. Ja, nach 21,32 (s.d.) scheint es bald zu kommen. Die Israelmission ist abgeschlossen (Apg 28,28), und die Verkündigung an die Heiden hat mit dem Tod des Apostels wohl auch ihr Ziel erreicht. Freilich soll die Verkündigung weiterlaufen (28,31); aber 20,28 denkt darum nicht an Mission, sondern an das Weiden der Herde (jetzt als „Wachen“ bezeichnet, V . 3 1 ! , s. zu 10,17-20 Schl.), Wobei sich das Problem der Bewahrung der Lehre für künftige Generationen (2.Tim 2,2) noch kaum stellt. Andererseits schreibt Lukas (wie schon Markus!) ein Evangelium, in dem sich das Gewicht der Mahnung (wie schon Mk 1 3 , 3 4 - 3 7 , s.d.) auf die Verantwortung in der Zwischenzeit verschoben hat. Die Apostelgeschichte betont zwar die Auferstehung der Toten (24,21 u.o.) und das Gericht samt der dadurch geforderten Gerechtigkeit (24,25); von kosmischen End­ ereignissen und dem Kommen Jesu , das nur 3,20f. in einer traditionellen Wendung angedeutet ist, hören wir aber nichts. Das von Gesetz und Propheten Geweissagte umschließt vor allem Passion und Auferstehung Jesu, Fall Jerusalems und Verkün­ digung an die Völker (Lk 21,22; 24,26f.46f.; Apg 17,3; 26,22f.27, wohl auch 3,21-26; vgl. 2.Kor 5,19), d.h. die von Evangelium und Apostelgeschichte umgrenz­ te Zeit, nicht aber die eigentlichen Endereignisse. Gewiß treten biblische Wendungen in der Schilderung der letzten Periode auch außerhalb der Markus-Parallelen auf (17,29; 21,25.35), werden aber nicht als solche gekennzeichnet und sind vielleicht von Lukas übernommen. Vor allem weisen sie auf das den Menschen erwartende Gericht hin. Die Abschnitte von der Endzeit bekommen damit die Funktion, die Leser an das auch sie erwartende Gericht und die sie erwartende Herrlichkeit zu erinnern (21,28.36; Apg 10,42; 17,31). b) Doppeldeutig ist auch „Reich Gottes“. In der vom Volk (19, 1 1) und von den Jüngern (Apg 1,6) erwarteten Vollendung bricht es noch nicht an, sondern erst nach der Rückkehr des Herrn (19,12.15). Jesus hat (in seiner Erhöhung?) das „Vermächt­ nis“ des Vaters schon angetreten und „vermacht“ seinerseits das Reich seinen Jün­ gern, die es aber erst in Zukunft mit ihm teilen werden (22,29f.). Ebenso wird die Gemeinde erst „durch viele Trübsale hindurch“ einst in das Gottesreich eingehen (Apg 14,22). Aber die Belehrung über das Gottesreich (Apg 1,3), seine Ankündigung durch Jesus (Lk 4,43) und die Jünger ( L k 8 , l ; Apg 28,31) ist sicher nicht nur als Abhandlung über die Endereignisse zu denken. Die Jünger, die Jesu Kommen ankün­ den (Lk 10,1 redaktionell), erklären der Stadt, die sie abweist, das Reich sei ihr nahe © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Reich Gottes

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gewesen (10,11). Die lukanische Änderung in 18,24 (s.d.) betont das gegenwärtige Eingehen ins Gottesreich. Beides beschreibt für Lukas aber wohl die Entscheidung für das künftige Reich. Während nämlich seine Sondergutgleichnisse keine auf Got­ tes Reich hinweisende Einleitung kennen, führt er dieses im genannten Sinn 14,15; 19,11 redaktionell ein. In den Parallelen Mt 2 2 , 2 ; 25,1 steht es innerhalb des Gleichnisses, aber in eindeutig endzeitlichem Zusammenhang. So versteht er wohl auch die übernommenen Aussagen von der Gegenwart des Reiches 11,20; 17,21 (vgl. auch zu 10,19) und kann so auch 13,18-21 aus Q aufnehmen. Wo die Frage nach dem Wann auftaucht (17,20; 1 9 , 1 1 ; 2 1 , 7 ; Apg l,6f.),wird auf die noch ausste­ hende Zukunft verwiesen. Wie bei Jesus selbst (A. zu Mk l , 1 4 f . ) soll man weniger fragen, ob das Reich gegenwärtig oder zukünftig ist, als in welcher Weise es gegen­ wärtig oder zukünftig ist; nur daß Lukas nicht die paradoxe Antwort von Mt 11,12 (s.d.) gibt, sondern die jetzt fällige Öffnung des Menschen für das Kommende be­ tont, zukünftig ist es im Sinne der endgültigen Erlösung von aller Trübsal ( L k 2 1 , 2 8 - 3 1 ; Apg 14,22), der ungestörten Gemeinschaft mit dem Herrn (Lk 22,30), also des Heraustretens aus der Verborgenheit ( 1 9 , 1 1 ; vgl. 13,19b.28f.). Zcit und Ort bleiben dabei Gott vorbehalten (s. zu 17,20 und 21). Gegenwärtig ist es im Wirken und in der Person Jesu (vgl. zu 17,15 f. und 11-19 Schl.), dem man sich öffnen muß. „Mit ihm“ werden die Jünger ins Gottesreich eingehen und sind darum in gewisser Weise schon dort ( 2 2 , 2 8 - 3 0 ; 2 3 , 4 3 ; Apg 7,56). Für sie ist es schon be­ reit, freilich nicht identisch mit der Gemeinde (12,32). Sie können es schon „sehen“ (s. zu 9,27). Apg 1,6-8 weisen nicht nur ein Vorauswissen von Ort und Zeit ab, sondern setzen das weltweite Wirken der Jünger und ihre Verkündigung Jesu als des Christus (5,42; vgl. 10,36) in der Kraft des heiligen Geistes an seine Stelle, ohne den Ausdruck „Gottesreich“ wieder aufzunehmen; denn weder ihr vor- (vgl. 10,20 neben 18) noch ihr nachösterliches Wirken noch das Leben der Gemeinde ist damit identisch. Wohl aber verkündet Paulus, indem er den Herrn Jesus C hristus (nicht: Jesus den Nazarener, Lk 24,19!) verkündet, das Gottesreich (Apg 28,31). Dieses, also Gottes königliches Wirken, im irdischen Leben Jesu schon sichtbar, ist dem Erhöhten als „sein (Jesu) Reich“ verliehen (Lk 19,12.15; 22,29), weil er in Gottes Namen herrscht. c) Dann läßt sich aber nicht sagen, daß Lukas das irdische Wirken Jesu als Mitte der Zeit verstünde, dem eine andere Periode, der Zeit vor Jesus vergleichbar, folgte, bis Gottes Eingreifen alle Geschichte beendet. Gewiß bezeichnen Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu einen Abschnitt zwischen zwei Zeiten, die durch Lk 2 4 , 5 0 53; Apg 1,1-14 ebenso unterschieden wie als ineinander übergehend bezeichnet werden. Doch betont gerade Lukas die enge Zugehörigkeit (vgl. A. hinter 4,30,b), in der beide Zeiten zusammen als Erfüllung der Propheten (s.o., a, Ende) sich von der Zeit der Weissagung abheben. Zwar sind die Heilsereignisse in Jesu Leben, Sterben und Auferstehen dem Glauben vorgeordnet; aber gerade daß Lukas in Apg auch die Geschichte des, noch einmal durch Gottes Handeln werdenden, Glaubens erzählt, zeigt, daß er weiß, daß sie ohne die Verkündigung und das glaubende Verstehen nicht Heilsereignisse sind (s. zu 4,21 und A. nach 4,30,c). Wenn die Gegenwart des Gottesreiches für Lukas vor allem die Möglichkeit ist, sich ihm zu öffnen und es zu empfangen, dann gilt dies erst recht für die nachösterliche Verkündigung des Herrn, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Mitte der Zeit - Zwischenzeit - Endzeit

dem das Reich schon verliehen ist. Die Fülle des den Jüngern zugesprochenen, nicht mehr „paradoxen“ (5,26) Reiches wird aber erst das endgültige Zusammensein mit Jesus bringen (22,29f.). d) Die erste Gemeinde hat die Zeit nach Ostern noch ganz mit der des irdischen Jesus als Endzeit im eigentlichen Sinn verstehen können, weil sie das Ende so nahe erwartete ( M k 9 , l ; 13,30; l . T h e s s 4 , 1 7 ; 1.Kor 15,51), daß die Verkündigung an Israel, später auch die an die Völker die letzte Frist darstellte. Sie mag sogar die Erfahrung des Geistes als Beginn des Kommens Jesu zum Gericht verstanden haben. Noch Paulus konnte ähnlich denken (l.Thess 4 , 1 7 ; 2.Kor 6,2). Zwei Jahrzehnte nach dem Tod des Paulus, als Lukas schrieb, war das nicht mehr möglich. Mit Jo­ hannes könnte man im Gefolge des Paulus, sagen, mit Jesus sei die Endzeit schon da, weil das, was in ihm geschehen ist, alle Zeiten überspringt und den Menschen, bei dem es zum Glauben kommt, schon ins Heil versetzt und mit C hristus zusammen­ schließt. Das Kommen C hristi und das Endgericht bedeuten dann nur noch, daß die Decke weggezogen und das, was verhüllt schon immer war, allen sichtbar würde. Die Gefahr ist dann die der Gnosis, die nur das Wissen um das schon erreichte Heil wichtig nimmt, so daß alles Leben in der Welt nebensächlich wird (vgl. A. nach 4 , 3 0 , a ) . Dann schwindet auch das Interesse für Gott als Schöpfer der Welt und mit ihm der Einsatz für Natur, Gesellschaft und Staat. Schon Paulus hat darum formu­ liert, daß wir zwar mit Jesus gestorben sind, aber in unserem Lebenswandel mit ihm auferstehen sollen, damit wir einst der endgültigen Auferstehung teilhaftig werden (Röm 6 , 8 - 1 1 ) . Er hat gegenüber den Mißverständnissen in Korinth die Auferste­ hung der Toten als Ereignis der Endzeit scharf von dem unterschieden, was jetzt schon gilt (l.Kor 15,21-28) und hat das bis zu Phil 3,20f. hin (trotz 1,23) festgehal­ ten. Selbst Johannes hat eindeutige Aussagen über die noch ausstehende Totenaufer­ stehung neben die von der schon erfolgten gestellt (wie er 3,5 neben 3,3 übernom­ men hat, s. zu Mt 18,3 f. Einl.) oder ist mindestens später so korrigiert worden (5,28f.; 6,39; vgl. l.Joh 2,28). Gottes endgültiges Handeln, das Menschheit und Welt, nicht nur einige Seelen, zu dem in der Schöpfung von Gott gesehenen Ziel führt, ist dem Glauben wesentlich. Darum kann man es auch wie die Offenbarung, freilich nur in prophetischen Bildern, ins Zentrum stellen und damit all das betonen, was zu Mk 13,1-27 Schl, angeführt ist. Die Gefahr ist dann die Flucht in eine Traumwelt, die wiederum die Welt und die Zeit bis zum erwarteten Ende nicht mehr ernst nimmt. Will man weder der einen noch der andern Gefahr erliegen, muß man mit Lukas an der Erwartung eines alles abschließenden Handelns Gottes festhalten, aber das Hauptgewicht auf das dadurch bestimmte Verhalten des Menschen in der Zwischenzeit legen (s. zu 12,35; 1 8 , 1 ; 2 1 , 3 4 - 3 6 ) . Das ist bei ihm freilich so stark der Fall, daß in der Apostelgeschichte (vgl. auch Lk 16,23; 23,43) nicht mehr deut­ lich wird, ob er Auferstehung und Gericht nur als Abschluß jedes einzelnen Men­ schenlebens, vielleicht sogar unmittelbar nach seinem Tod, erwartet oder als Ziel der Welt. e) Der anderen Gefahr, das Gottesreich mit menschlicher Aktivität frommer oder profaner Art zu verwechseln, entgeht Lukas. Er bindet das Gottesreich streng an Jesus selbst (s.o., c), erwartet Heil von Gottes Endhandeln, sieht das Leben der Ge­ meinde als das des heiligen Geistes, den auch die, die ihn schon empfangen haben, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

B Lk 22, 1-23,56: Passion

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sich immer wieder schenken lassen müssen (Apg4,8.31; 13,9 usw.), und den Glauben als Gottes Geschenk (Lk 17,5; Apg 3, 16: "der durch ihn (geschenkte) Glaube"; 16,14). Der in Jesus schon erfolgte Einbruch Gottes in das Leben des Menschen und die Ausrichtung auf Gottes Vollendung prägen also im Ereignis des Geistes den Menschen in der Zeit der Gemeinde. Dabei spricht er nicht einmal vom Wohnen Christi in uns oder von unserem Leben in ihm wie Paulus und Johannes, sondern vom Erhöhten, uns gegenüber im Himmel Thronenden, der von dorther durch den Geist an uns handelt. Obwohl Lukas auch für diese Zeit keine beschreibbare Heilsgeschichte im Sinne einer Entwicklung zum Ende hin kennt (s. A. nach 4,30, a), meint er doch mehr als nur dies, daß sich das Christus-Ereignis geschichtlich auswirkt oder immer wieder, grundsätzlich in gleicher Weise, als Zeichen für Gottes Willen und Gnade dient (s. ebd., cl. In der Geschichte der Gemeinde schafft sich Gott selbst den Glauben, der das an ihrem Ende kommende Reich ~chon sieht und sich ihm öffnet. Darum beginnen die letzten Zeiten (Apg 2, 17) mit Jesus und der Geistverleihung (s. zu Lk 21,6). BLeiden fesu 22,1-23,56 Obwohl Lukas im wesentlichen dem Aufbau des Markus folgt, unterscheidet er sich hier besonders stark von ihm, s.A. nach 23,25. Passa-Vorbereitung Mt 26, 1-S.14-19

Im

Schatten des Kreuzes 22,1-13, vgl. Mk 14, lf.1O-16;

1 Es nahte sich aber das Fest der ungesäuerten Brote, das Passa genannt wird. Und es suchten die Hohenpriester und Schriftgelehrten, auf welche Weise sie ihn beseitigen könnten; denn sie fürchteten das Volk. 3Der Satan aber fuhr in Judas, der Iskariot genannt wurde, und einer aus der Zahl der Zwölf war. 4 Und er ging hin und redete mit den Hohenpriestern und Hauptleuten, auf welche Weise er ihn ihnen auslieferte. 5 Und sie freuten sich und versprachen, ihm Geld zu geben. t. Und er sagte es ihnen zu und suchte eine gute Gelegenheit, ihn ihnen abseits von der Menge auszuliefern. 7Es kam aber der Tag der ungesäuerten Brote, an dem das Passa geschlachtet werden mußte. H Und er sandte Petrus und Johannes und sprach: Gehet hin, bereitet uns das Passa vor, daß wir es essen. 9 Sie aber sprachen zu ihm: Wo willst du, daß wir es vorbereiten? IUEr aber sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr in die Stadt hineinkommt, wird euch ein Mensch begegnen, der einen Wasserkrug trägt. Folgt ihm in das Haus, in das er hineingeht, 11 und zum Herrn des Hauses werdet ihr sagen: Der Meister sagt dir: Wo ist die Unterkunft, wo ich das Passalamm mit meinen Jüngern essen kann? 12 Und jener wird euch ein großes Obergemach zeigen, mit Teppichen ausgelegt. Dort bereitet es vor. U Als sie aber weggingen, fanden sie es, wie er ihnen gesagt hatte.

2

Durch Auslassung der Salbungsgeschichte (s. zu 7,36-50 Ein!.) rücken Todesbeschluß und Angebot des Judas (Mk 14,1 f.l1Of.) zusammen. Die später vorbereitete Salbung (23,56) wird durch die Auferstehung überholt. Die Frist von zwei Tagen (Mk 14,1) wird weggelassen; Lukas kennt die Einteilung in eine Woche (Palmsonn© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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2 3 4 7 8 6

Lk 11, 1-13: Passavorbcreitung im Schatten des Verrats

tag bis Ostern) nicht (s. zu 19,28—21,38). Die ungenaue Gleichsetzung beider Feste (s. zu Mk 14,1) ist verbreitet (auch Jos., Altert. 3,249; 14,21; 18,29; Krieg 2,10; 17,213; 20,5); aber „der Tag“ (nicht: der erste wie Mk 14, 12) in V.7 ist fast un­ möglich (vgl. aber Jos., Krieg 5,99). Außerdem beginnt der Passatag erst nach Son­ nenuntergang, nicht morgens, wie der Grieche rechnet (vgl. V.34). Freilich wird das Lamm schon vorher geschlachtet und der Sauerteig aus dem Haus entfernt. Wieder ist das Volk deutlicher von den Behörden unterschieden (s. zu 19,48). Der Verrat wird wie Joh 13,2.27 („der Satan [sonst nie so bei Joh!] fuhr in ihn“) auf Satan (s. zu 8,12) zurückgeführt. Ähnlich erzählt Mart.Jes. 3,11 von Beliar (= Satan), er habe sich im Herzen Manasses eingenistet. Es geht nur noch um das Wie (vgl. V.2). Lukas nennt die Tempelpolizei extra (s. zu V.47-53 Einl.), betont die Zustimmung des Judas und gibt den Grund für die Beiziehung des Judas an: Es soll „abseits von der Menge“ geschehen. Sollte er mit dem „mußte“ auf die Notwendigkeit des Todes Jesu (24,26; Apg 8,32) anspielen? Doch versteht er Jesus nicht als Passalamm und V. 15 spricht eher dagegen. Nicht die Jünger (Mk 14,12), sondern Jesus ergreift die Initiative und sendet „Petrus und Johannes“ (s. zu 8,45). Die „gute Gelegenheit“ (V.6) bietet sich noch nicht, da Judas nicht weiß, wo der Saal ist. Passamahl, Zeichen des Dienstes Jesu und seiner Vollendung 22,14—38, vgl. Mk 14,17-31; 10,42-45; Mt 26,20-35; 20,25.28; 19,28; Joh 13,1-38 14 Und als die Stunde kam, legte er sich nieder und die Apostel mit ihm. 15 Und er sprach zu ihnen: Sehnsüchtig habe ich mich danach gesehnt, dieses Passa mit euch zu essen vor meinem Leiden. 16Denn ich sage euch: Ich werde es nicht mehr essen, bis es sich erfüllt im Reiche Gottes. l7 Und er nahm einen Becher, sagte das Dankgebet und sprach: Nehmt diesen und teilt ihn unter euch; l8 denn ich sage euch: Ich werde von nun an nicht mehr vom Gewächs des Weinstocks trinken, bis das Reich Gottes kommt. 19 Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach es und gab es ihnen und sagte: Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Das tut zu meinem Gedächtnis. 20 Und den Kelch ebenso nach dem Essen mit den Worten: Dieser Kelch ist der neue Bund (oder: das neue Testament) in meinem Blut, das für euch vergossen wird. 21 Doch siehe, die Hand dessen, der mich ausliefert, ist mit mir über dem Tisch. 22 Denn der Menschensohn geht, wie es bestimmt ist; doch wehe jenem Men­ schen, durch den er ausgeliefert wird. 23 Und sie begannen untereinander darüber zu fragen, wer unter ihnen es sein könnte, der das tun würde. 24 Es entstand aber auch ein Streit darüber unter ihnen, wer von ihnen als der Größte gelte. 25 Er aber sprach zu ihnen: Die Könige der Völker herrschen über sie, und ihre Mächtigen werden Wohltäter genannt. 26 Ihr aber nicht so, sondern der Größere unter euch werde wie der Jünger, und der Führende wie der Die­ nende. 27 Denn wer ist größer, der zu Tische liegt oder der dient? Nicht der zu Tische liegt? Ich aber bin in eurer Mitte als der Dienende. 28 Ihr aber seid es, die mit mir in meinen Anfechtungen durchgehalten habt. 29 Und ich vermache euch, wie der Vater mir königliche Herrschaft (oder: ein Reich) vermacht hat, 30daß ihr essen und trinken sollt an meinem Tisch in meinem Reich, und ihr werdet auf Thronen sitzen, um die zwölf Stämme Israels zu regieren.

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Lk 22,14-20: Analyse

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31 Simon, Simon, siehe der Satan hat sich ausgebeten, euch wie den Weizen zu sieben. 32 Ich aber habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht versiege. Und du, wenn du dich einst zurückgewendet hast, starke deine Brüder. 33Er aber sprach zu ihm: Herr, mit dir bin ich bereit, auch in Gefängnis und Tod zu gehen. 34 Er aber sprach: Ich sage dir, Petrus, der Hahn wird heute nicht krähen, bis du drei­ mal verleugnet hast, mich zu kennen. 35 Und er sprach zu ihnen: Als ich euch ohne Geldbeutel und Reisetasche und Sandalen aussandte, habt ihr doch nie an etwas Mangel gelitten? Sie aber spra­ chen: An nichts. 36 Er aber sprach zu ihnen: Aber jetzt, wer einen Geldbeutel hat, nehme ihn, gleicherweise auch eine Reisetasche, und wer es nicht hat, verkaufe sein Kleid und kaufe ein Schwert. 37 Denn ich sage euch: Dieses, was geschrieben ist, muß sich an mir vollenden, nämlich: „Und unter die Gesetzlosen wurde er gezählt“. Denn auch was mich angeht, kommt zum Ende. 38 Sie aber sprachen: Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter. Er aber sprach: Es ist genug!

Vers 3 7 : Jes 5.1,21.

Dem Beginn des Mahles (14) entspricht das Weggehen (39), das die Verhaftung einleitet. Durch „Und Jesus sprach zu ihnen“ werden Worte zum Mahl (inkl. Ver­ ratsanzeige, 15-24) und zur Zukunft der Jünger (25-34) und die Mahnung zum Schwertkauf (35-38) eingeleitet. Durch „Denn ich sage euch“ wird hervorgehoben, daß Jesus sein Schicksal voraussagt (16.18.37). Dialogisch sind nur V.3 1-38 (doch vgl. 23 f.). Merkwürdig verschränkt sind die Worte zurn Mahl. Feierliche Einleitung 15-20 und Ausblick auf das Gottesreich laufen in den Worten zu Passa und Becher parallel (16.18). Die Einleitung zum Becherwort hingegen entspricht der zum Brotwort (17. 19), während die Worte vom Verrat ohne Übergang an V.20 anschließen. Zu den Einsetzungsworten vgl. A. zu Mk 14,22-25. V. 19a und 20 Schluß entsprechen Mk 14,22.24 (außer „Dankgebet“ statt „Segen“), V. 19b (von „für euch“ an). 20 (bis „Blut“) der Fassung von l.Kor 1 l,24f., immerhin nicht genau. So lautete wohl die Liturgie, die Lukas in seiner Gemeinde kannte. In einer alten Handschrift fehlen V. 19b.20. In allen übrigen, auch in den mit jener ganz nah verwandten und im älte­ sten Papyrus sind sie aber enthalten. Da V. 19a ohne 19b.20 ein sehr abrupter Schluß wäre und da andere Handschriften oder alte Übersetzungen V. 17f. nach V. 19 (und 20) stellen oder anstelle von 19 b.20 setzen oder weglassen, läßt sich die Kürzung am ehesten erklären als ein anderer Versuch, die zwei Becher (V. 17 vor, V. 20 nach dem Brot) auszumerzen, da beim Abendmahl nur einer verwendet wurde. Merkwürdig ist freilich, daß nicht V. 17f. und daß auch V. 19b (Angleichung an Markus?) gestrichen wurde. In V.20 ist die Wendung „für euch vergossen“ mecha­ nisch aus Mk 14,24 übernommen. Sie steht nämlich im Wer-fall, während „Blut“ im Wem-fall genannt ist. An sich müßte man es auf den Becher beziehen (der im Grie­ chischen sächlichen Geschlechtes ist wie „Blut“); aber der wird ja nicht ausgegossen. ;... in meinem Blut, das für mich vergossene“ zeigt also noch das zusammenstoßen der beiden traditionellen Formeln. So haben wir im Deutschen „Vater unser“ aus dem Lateinischen mechanisch übernommen, obwohl das so unsinnig ist wie „Mutter unsere“; vgl. noch A. zu Mk 14,22-25. Lukas kennt wohl V. 14-18 aus Sondertradi­ tion; sie enthalten unlukanische Wendungen, obwohl auch seine Redaktion sichtbar wird. Daß er von sich aus ohne genauere Kenntnis eines Passamahles einen Becher © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 22,21-38: Analyse

vor dem Brot eingeführt und die Bezeichnung des Verräters umgestellt hätte, so daß Judas noch Brot und Wein empfängt, wäre schwer vorstellbar. Wohl aber muß sie in einem Bericht, der die Worte vor und zu dem ersten Becher nennt, wegen 21 b hier erscheinen (zu „jedoch“ s. Einführung 2,c). Außerdem ist die ungewohnte Beziehung in V. 16/18 auf Lamm und (ersten) Becher eher älter als die auf den Herrenmahl­ becher Mk 14,25. Verwandt damit sind V.29f. Dort wird den Jüngern Anteil gege­ ben an dem, was Jesus für sich selbst erwartet (V. 16.18), am Reich und seinem festlichen Essen und Trinken. Dazwischen schieben sich V. 25-27, die Jesu Dienen, wie es sich jetzt beim Mahl darstellt, aber sein ganzes Leben und Sterben bestimmt, als Grund des Dienens der Jünger aufzeigen. Das Wort selbst ist eine Variante von Mk 10,42-45, die noch nicht zu einer eigentlichen Sühneaussage ausgebaut ist (s. zu Mk 10,35-45 Einl.). Die Überleitung V.24 (vgl. 9,46) ist lukanisch (auch V.28?). Die Form „größer“ steht nur 7,28 (Q); 12,18 (S); 9,46 (Mk) und hier, erscheint jedoch Mt 23,11 als Gegensatz zu „Diener“ (vgl. zu Mk 9,33-37 Einl.); es liegt also wohl Sondertradition vor. Die Abschwächung „herrschen“ gegenüber Mk 10,42, die Vorsilbe bei „zu Tische liegen“ u.a.m. wie auch Doppelfragen (V.27) sind unlukanisch. V.30b ist eine Variante des Sonderwortes Mt 19,28b (s.d.). Der Wechsel der Verbform gegenüber 30a könnte 30b (doch s.d.) als ursprünglich gesondert überlie­ fertes Wort ausweisen. Das Ausscheiden des Judas ist darin auch nicht vorausge­ setzt. Das Wort „vermachen“ ist vom selben Stamm wie „Bund“ (Apg 3,25 stehen beide zusammen, vgl. 2.Sam 5,3 LXX). V.20, der betont davon redet, gehört auch deswegen eher zum ursprünglichen Lukastext. Lag also eine Tradition vor, in der V. 14-18.(25f.)27.29f., vielleicht mit einer dazwischenstehenden Schilderung des Passamahles, verbunden waren? Sie hätte den wieder erneuerten Gottesbund und den Ausblick in die Endvollendung betont. Man hat sogar an eine urchristliche Passafeier gedacht, in der das Kommen des Menschensohns in der Passanacht erwar­ tet wurde (vgl. die Nacht der Erlösung im Judentum: Bill. I 85). Von späteren christ­ lichen Gruppen wird das berichtet; für die vorlukanische Zeit bleibt es reine Vermu­ tung (vgl. zu 17,34f.). In V.31-34 erscheint ein ganz anderes Wort (in unlukani­ schem Stil) an „Simon“ (vgl. zu 5,1-11 Einl.). Lukanisch ist der Name „Petrus“ in V.34. Es klingt nur in der Verratsansage selbst an Mk 14,30 an und ist gegen 14,26 im Abendmahlsraum gesprochen (s. zu V.31). Auch hier liegt also besondere Über­ lieferung vor. Dafür spricht auch die Verwandtschaft mit der johanneischen Tradi­ tion (s. zu V.3), die wie V. 14 von der „Stunde“ Jesu spricht (13,1; vgl. aber Mk 14,35) und eine „spätere“ Nachfolge und Seelsorge des Petrus wie die Anrede „Simon (des Johannes)“ kennt (13,36; 21,25-17). Joh 13,38b steht Lk 22,34 for­ mal näher als Markus. V.21 f. (Joh 13,21) folgen freilich Mk 14,18 (vgl. Ps 41,10 in Joh 13,18). Doch steht auch Joh 13-16 das Wort an Simon Petrus zwischen dem letzten Mahl, das den zur Nachahmung verpflichtenden Dienst Jesu an den Jüngern enthält, und den auf die künftige Vollendung blickenden Abschiedsreden (s.A. zu Mk 14,22-25). V.35-38, wiederum direkt angeschlossen, haben überhaupt keine Parallele. V.36 b ist so schwer zu deuten und widerspricht V.51, daß er Lukas sicher schon vorlag. Auch das dem Hebräischen näherstehende und mit einem unlukanischen Artikel eingeleitete Zitat V.37 hat nicht er eingefügt, schon weil es sonst eher hinter V.53 stünde. Außerdem wird auf das Wort an die (Zweiund)siebzig © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 22,14-23: Abendmahl

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(10,4,Q?) verwiesen statt auf das an die Zwölf. Sind V.36.37 zusammen überliefert und (vorlukanisch, aus Stilgründen) zu einer kleinen Szene ausgebildet worden? Die Schwierigkeit, daß Jesus mit den „Zwölfen“ kommt, obwohl schon zwei vorangegangen sind (Mk 14,17), ist vermieden. Dafür ist der Beginn eines feierlichen Mahles, zu dem man liegt, beschrieben. Die „Stunde“ (vgl. Joh 13,1) ist die des Passamahles (s. zu 2,41), zugleich aber die von Gott für Jesu Abscheiden gesetzte. „Dieses Passa(lamm)“ wird das vor ihnen liegende Lamm bezeichnen, so daß wahrscheinlich gemeint ist, daß Jesus zum letzten Mal davon ißt (nicht: daß er jetzt dar­ auf verzichtet). Die griechische Form könnte einen Schwur bezeichnen, steht aber in Zitaten und traditionellen Jesusworten als reine Zukunftsansage: 1,15; (12,29); 13,35; 18,7; (21,33). Betont ist jedenfalls die endzeitliche Erfüllung, zugleich ist das menschliche Zusammensein als ihr Vor-Bild hervorgehoben. Es ist Lukas wichtig, daß an sich Unvorstellbares schon erfahren, wenn auch nicht genau definiert werden kann. Im neu verstandenen Passa, der Tischgemeinschaft des Herrenmahls, wird schon etwas von der Vollendung (vgl. 14,15-24) vorweg gelebt. Obwohl Lamm und Wein Bestandteile des Passa, nicht des Herrenmahles sind, erinnert das Ergreifen des Bechers und das Dankgebet daran. Den Lobspruch zum ersten Becher (vgl. A. zu Mk 14,12-16) sagt beim Passa und bei feierlichen Gastmählern einer, meist der Hausvater, für alle: „Gepriesen seist du ...; der du die Frucht des Weinstocks (Jes 32,12) schufst“ (Bill. IV 62,621). Er trinkt zuerst. Die Aufforderung zum Teilen betont die Gemeinschaft. Da Jesus nach V. 18 streng genommen den Becher von V.20 nicht mittränke, ist dieses Wort vielleicht in Mk 14,25 nachgestellt worden. Der Zuspruch des Reiches erfolgt V.(19f.)29f. Sollten 14-18.25-30 alte Sondertra­ dition sein, wären Lamm und Wein besonders betont, wozu Festfreude und Erwar­ tung des endzeitlichen Festmahles passen. Dabei bleibt das Kommen des Reiches ganz Gottes Sache; Jesus hat daran teil und verheißt den Seinen Teilnahme, bewirkt es aber nicht. Ob vom Brot dann überhaupt die Rede war, wissen wir nicht. Jeden­ falls läßt sich das „Brotbrechen“ (Apg 2,42.46; 20,7.11) nicht von hier aus als Son­ derform eines Herrenmahls ohne Wein und Sühnegedanken, aber voll endzeitlicher Hoffnung postulieren. „Nehmt hin“ (Mk 14,22) stand V. 17 und wird nicht wieder­ holt. „Gedächtnis“ bedeutet weit mehr als Rückerinnerung. Darin wird das ge­ schichtliche Geschehen so vergegenwärtigt, daß es sich heute auswirkt. Der Becher ist dem neuen Bund (Testament) gleichgesetzt, nicht der Wein dem Blut. Anstelle des Passa tritt die neue Gemeinschaft mit Gott, die in Jesus schon Wirklichkeit wird und (nach V.29f.) einst sichtbar eingelöst werden wird. Dem hingegebenen Leib ent­ spricht das vergossene Blut. So wird das Heil auf Jesu Hingabe am Kreuz, nicht einfach auf das kultische Mahl gegründet. V.21 ist einfacher als Mk 14,20, enthält das Bild vom Eintauchen in die gleiche Schüssel (noch?) nicht, die Person des Verrä­ ters wird mit „Hand“ umschrieben, und der Anklang an Ps 41,10 fehlt. Statt auf die Schrift wird auf das (von Gott) Bestimmte verwiesen (vgl. Apg 2,23). Die Unsicher­ heit der Jünger entspricht Mk 14,19 („unter einander“ aber wie Joh 13,22). Sie zeigt, was es um den Menschen, auch um den Jesus gehorsamen Menschen ist; jeder könnte Judas sein. Vielleicht wird etwas vom Geheimnis des Bösen sichtbar: daß es auch eine (niemanden einfach entschuldigende) Erwählung zum Bösen gibt, das Gott © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 22,24-30: Abschiedsmahl als Testament Jesu

letztlich dient (s. zu Mk 14,10). Durch die Umstellung werden V. 21-23 zum Beginn der Abschiedsgespräche Jesu (vgl. 5.Mose 1,1-5; 32,45-33,1; Tob. 4,3-20; 14,311; Test XII; Joh 14-16; Apg 20,18-38). Die Situationsangabe (s. zu 11,1) gleicht 9,46; doch sind V.25-27 (wie 9,46/48) ohne eine solche schwer denkbar. Daher denkt Lukas kaum an Streit bei der Sitzwahl (Jak 2,2--4). Anders als Mk 10,43 ist von einem gesprochen, der wirklich groß und führend ist; aber eben im Dienst. Das gilt besonders für die Apostel. „Führende“ (Apg 15,22; Hebr 13,7.17.24) und „Junge“ (Apg 5,6.[10]; l.Petr 5,5; vgl. l.Tim 5,lf.; Tit 2,6) könnten auf besondere Stellungen in der Gemeinde weisen, aber höchstens als nachträgliche Deutung (wie 12,42); denn der Ausdruck „Diener“ (Mk 10,43), der auch den Diakon bezeichnet, fehlt hier gerade. Doch ist anders als Apg 2,42f.; 13,1-3 hier wohl schon die Gefahr eines als Herrschaft mißverstandenen Bischofs- oder Presbyteramtes spürbar. Frei­ lich ist nicht von der Demut im allgemeinen die Rede; Jesus vollzieht die von den Jüngern geforderte Haltung im aktiven Dienst. Er redet nicht von einer Tugend, sondern weist auf etwas hin, das er tut. Das entspricht sachlich Joh 13,1-17. Lk 22 (V. 11.15) ist Jesus freilich eher Hausherr, vielleicht denkt Lukas an eine prophe­ tische Zeichenhandlung (wie die Fußwaschung Joh 13), die besagt, was sein ganzes Leben war und vor allem am folgenden Morgen sein wird, und was in unbegreifli­ eher Weise 12,37 erfüllt. V.28 betont das Durchhalten, Mt 19,28 das „Nachfol­ gen“. Dem Rückblick (s. zu 4,13) entspricht der Ausblick. Beides gehört zum Abschiedswort. Der „neue Bund“ (V. 20) wird im bundesmäßigen Zuspruch der vollen Tischgemeinschaft geschlossen; „vermachen“ hat im Griechischen den gleichen Wortstamm wie „Bund“. In den Evangelien einzigartig ist, daß „Reich (Gottes)“ (oder Königsherrschaft) hier ohne Artikel steht. Das ist sonst nur in der Formel l.Kor 6,9f.; 15,50; Gal 5,21 der Fall; darum ist wie oben übersetzt (vgl. Offb 1,9). Gehört der Ausdruck zum Haupt- und zum Nebensatz oder ist nur die Jesus verlie­ hene Herrschaft gemeint? Sachlich ändert sich kaum etwas, da die Jünger jedenfalls daran teilbekommen (vgl. Röm5,17; l.Kor4,8; 6,2f.; l.Petr 2,9; Offb3,21; 5,10; besonders 2.Tim 2,12a). Das wird in V.30 beschrieben. Das doppelte Bild ist zwar nicht gleichzeitig vorstellbar, da der Thron Bild für Gericht und Herrschaft ist (Dan 7,9; Offb 20,4; vgl. l.Kor6,2); doch verbinden auch Offb3,20f. Tischge­ meinschaft und Thronen, und äth.Hen. 62,14 erwartet das Festmahl mit dem Men­ schensohn, der vorher alle Völker richtet. An Ostern verleiht Gott Jesus die Herr­ schaft (Apg 2,36); jetzt sind seine Jünger ihr unterstellt, einst werden sie daran teil­ bekommen (s. zu 1,33 und 23,42). Von einem Herrschen der Kirche über Israel ist also keine Rede; jetzt soll sie ihm gegenüber (leidende) Zeugin sein (21,12f.; Apg 1,8). Wie Test.N. 1 ist Abschiedsmahl auch Zukunft prägendes Testament. Die Worte der Liturgie sprechen zweimal das „für euch“ aus (19f.) Das wird im Zusammenhang entfaltet. Wie Jesu Tischgemeinschaft mit den Zöllnern sie in die Gemeinschaft mit Gott hineinnimmt (5,30; 15,2; 19,7), so vollzieht Gott den neuen Bund mit seinen Menschen schon im gemeinsamen Essen und Trinken Jesu mit seiner Jüngerschar (vgl. 24,13-35 Schl.). Gemeinschaft wird nicht nur behauptet, sie wird vollzogen. Freilich bliebe sie leer, wenn nicht Gott dieses Zeichen einst einlösen würde in einer Gemeinschaft, die nicht fragmentarisch und zeichenhaft bleibt, son© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Der Kreuzestod Jesu

225

dem alles einschließt, was das Leben ausmacht. Daher die große, sich nach der Zu­ kunft ausstreckende Freude der urchristlichen Herrenmahlfeier (s. zu 2,41); sie bliebe fromme Illusion, wenn sie nicht das Leben der Teilnehmer so umprägte, daß es zum Dienst würde. Daher der außergewöhnliche Einsatz, der von der urchristli­ chen Herrenmahlfeier in den Alltag hinausreicht (Apg 2,46.45). So ist Herrenmahl Vor-Erfahrung künftiger Vollendung und Nach-Erfahrung des für uns gelebten Lebens Jesu. Zum Verständnis des Kreuzestodes Jesu a) Lukas überliefert das „für euch“ der Liturgie; aber wie „das vergossene Blut“ 22,20 gar nicht mit dem Satz verbunden ist, so der sich in Apg 20,28 auf Gott statt auf Jesus beziehende Ausdruck „durch sein eigenes Blut“, in einer an Ps 74(73),2 und Offb 5,9 erinnernden Formel. „Retten“ (oder heilen, helfen) steht über 30mal bei Lukas (auch 19,10), nie im Zusammenhang mit dem Tod Jesu. Doch ist Jesu Leiden stärker betont als in den andern Evangelien (s. zu 9,31 und 20,15). Ja, Lukas übernimmt die christliche Neuschöpfung vom „Leiden“ Christi (Mk 8,31; 9,12), das wie auch in der Deutung 2. Kor 4,10; Phil 3,10 sein Sterben meint. In der Gemeinde wurde sie, anders als bei Lukas vor allem ethisch verwendet (2. Kor 1,5-7; Phil 3,10; Kol 1,24; Hebr2,9f.l8; 5,8; 9,26; 13,12; l.Petr 2,21.23; 3,18; 4,1.13; 5,1.9). b) 1. Lukas ist dabei eigenständig; nach ihm ist es geradezu die Funktion des Christus, daß er „leiden muß“. Das ist weder jüdisch noch allgemein christlich. In dieser Funktion wird Jesus als der leidende Gerechte, genauer der leidende Prophet gesehen, über dessen Weg Gottes „Muß“ steht (13,31-33). Dafür hat das Hebrä­ ische keinen Ausdruck, wohl aber griechischer Schicksalsglaube (Herodot 8,53; ganz Attika „mußte“ nach Gottes Weissagung den Persern unterworfen werden); doch nahm jüdische Apokalyptik dieses „muß“ auf. Wie sich der von Gott eingege­ bene Traum in der Endzeit erfüllen „muß“ (Dan 2,28 LXX), so die Weissagung Jesu (Mk 13,7; vgl. Offb 1,1 und zu Lk 3,15-20 Schl.). In Jesu Schicksal sieht Mk 8,31 Gottes endzeitliches Handeln, Lukas (22,37; 24,25-27) Schrifterfüllung. Da das für die kosmischen Endkatastrophen nicht gilt, rückt er das, was geschehen „muß“, in 21,9 (= Mk 13,7) davon ab und bezieht es auf Jesu Tod, Auferstehung und Erhöhung wie auf das dadurch bestimmte Leiden der für ihn Zeugnis ablegenden Gemeinde (auch 17,25; 24,7; Apg 1,16; 9,16; 14,22; 17,3; 19,21; 25,10). 2. Anstelle von Mk 10,45 treten Lk 19,10 und 22,27. Beide Sätze beschreiben Jesu ganzes Leben, nicht nur seinen Tod. Fragt man nach der Heilsbedeutung des zum Tod führenden Dienstes Jesu, dann sieht 19,10 ihn als „Suchen und Retten des Verlorenen“. Darum ist es Lukas so wichtig, daß der Gekreuzigte unter Gottlosen zu finden ist (22,37), sich ihnen zuwendet und ihnen die Umkehr schenkt (19,8; 22,51; 23,32.34[s.d.].40-42), wie er es in seinem ganzen Wirken tat. Während der Gekreu­ zigte nach Mk 15,34 nur die schreckliche Einsamkeit dieses Sterbens betont und nach Joh 19,26-28.30 königlich für Mutter und geliebten Jünger sorgt, die Schrift bewußt erfüllt und mit dem Siegesruf stirbt, zeigen alle drei Kreuzesworte bei Lukas die Zuwendung Jesu zu den Menschen und zu seinem Vater im Himmel. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 22,31-34: Niemand ist vor dem Fall sicher

3. Fragt man nach der Wirkung in der Gemeinde, dann betont 22,27, daß sein dienendes Leiden ihr die Möglichkeit des Dienens, also eine Art „Nach-Erfah­ rung“ (vgl. zu 4,1-13 Schl.) der Kraft Gottes schenkt. Die Bitten des Gekreuzig­ ten wiederholen sich bei Stephanus (Apg7,59f.), von dessen „vergossenem Blut“ gesprochen wird (Apg22,20) wie von dem der Propheten (Lk 1 l,49f., wo die „Apo­ stel“ von Lukas eingeführt werden!) und Jesu selbst (Lk 22,20). Die Reise des Paulus nach Jerusalem erinnert an die Jesu (Apg 19,21; 20,22; 21,4.11-15), auch in ihrem Ablauf (Leidensankündigung durch Gott [Lk 9,31], Abschiedsrede, hoher Rat, römi­ scher Statthalter, herodianischer König: Apg 9,16; 20,18-25; 22,30; 23,33; 25,23). Wie der Menschensohn wird auch Paulus „in die Hände der Heiden übergeben“ (Apg21,ll; Lkl8,32; 24,7; Jub. 1,19). 23,5% der Apg erzählen vom gefange­ nen Paulus, und nach 9,16 ist die Grundlage seiner Erwählung das Leiden für den Namen C hristi („denn“). Wie Jesus muß auch die Gemeinde durch Bedrängnis ins Gottesreich eingehen (Lk 24,26; Apg 14,22). Jesu Passion ist also so geschildert, daß sie den gesamten Dienst Jesu umfaßt, in dem eine neue Möglichkeit menschlichen Lebens und Sterbens geschaffen wird. Wenn Glaube nicht nur Übernahme einer Formel oder eines Schemas ist, muß es gewisse Erfahrungsanalogien zwischen Jesus und Jüngerschar geben (ebenso Phil 2,5-8; 3,10f. ). Vielleicht klingen darum bei Lukas die Bitten des Unservaters so oft nach (22,18.40.42; 23,34), aber auch Mo­ tive jüdischer Martyrien: Anfechtung durch Satan, Ringen, Hoffnung auf himmli­ sche Hilfe und ihr Kommen, politische Anklage, Gerichtsankündigung für die Ver­ folger und Unschuldserklärung (Mart. Jes. 3,6.11; 2. Makk. 7,6.12.14.19.24.30. 31-35; 3. Makk. 4,11; 5,7-9; 6,18; 4. Makk. 6,4.6; 8,6-9; 9,10.30-32; 17,10f.). Darin ist Jesus „der treue Zeuge“, der auch seine Jünger zu solchen macht (Offb 1,5; 2,13). So wird Lk 22,15-30 (38) zur testamentarischen Abschiedsrede. c) Lukas sieht also l.Jesu Wirken in Vollendung alttestamentlichen Propheten­ schicksals als bewußten Gang ins Leiden. Er betont die Größe der Versuchung, die „Macht der Finsternis“ und Jesu Unterordnung unter Gottes Willen. Das wird 2. heilswirksam in Jesu Zuwendung zum Menschen und ermöglicht so 3. den nach­ österlichen Weg der Gemeinde ins Dienen und Leiden. Aber wie in Offb 5,9 (s. unter a) nur Jesus das Lamm ist, das ein Volk für Gott erkauft hat, so bleibt auch für Lukas Jesu Passion unverwechselbare Grundlage aller Nach-Erfahrung, steht doch das Evangelium vor der Apostelgeschichte (vgl. A. nach 21,38). Darin zeigt sich seine Christuswürde. Nur er kann vollmächtig das Reich (22,29f.) und das Paradies (23,43, s.d. Schl.), also das Heil zusprechen. 31 33 34 32 35-38 36a

Anders als Mk 14,26-31 (s.d., Einl.) schließt das Wort an Simon direkt an. Wie Joh 13,37f. ist es also im Abendmahlsraum gesprochen; wie dort redet Petrus Jesus als „Herrn“ an und drückt seine Todesbereitschaft aus (33, nicht Mk 14,29); wie dort formuliert V.34 mit „nicht ... bis ...“. Neben V.21-23 ist also festgehalten, daß niemand vor dem Fall sicher ist, und daß gerade wer sich stark fühlt, seiner Schwäche überlassen wird. Nur durch Umkehr hindurch kommt es immer wieder zu wahrem Glauben, der als Geschenk erfahren wird. Nochmals folgen sich Rückblick und Ausblick, jetzt aber auf eine Zeit, in der man Schwerter braucht. V.36a hebt die Regel 10,4 (= V.35) auf, die nur für die einma© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 22,35-38: Schwerter für Jesusjünger?

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lige Situation der Vorbereitung des Kommens des irdischen Jesus selbst galt, und rät zur Mitnahme des Nötigsten. So hat Paulus gehandelt. Sobald das Evangelium vom ländlichen Palästina, wo man bei Glaubensgenossen Unterkunft fand, in die griechi­ schen Städte kam und ein Missionar in neue Gebiete vorstoßen wollte (Röm 15,20), wurde das unumgänglich, und wer sich wörtlich an Jesu Befehl hielt (s.A. zu Mt 13,23[7J), mußte sich auf schon bestehende C hristengemeinden beschränken. Paulus ist vielleicht gerade das vorgeworfen worden, daß er (selbstverdientes!) Geld (Apg 18,3) mitnahm und nicht nach Lk 10,4 nur auf Gastfreundschaft vertraute (1. Kor 9,6-15). Er hat freilich die gute Sorglosigkeit der Boten Jesu in anderer Weise gelebt (Apg 20,33-35; Phil 4,12-16). Weisungen Jesu sind also für Lukas nicht starre Gesetze (vgl. zu Mt 10,5 f.), wohl aber auch in veränderten Situationen prak­ tisch zu leben (vgl. zu 6,20b). Auffällig ist aber die Mahnung an den, der kein 36b Schwert (oder keinen Beutel) besitzt, ein Schwert zu kaufen. Ist es sprichwörtliche Wendung für eine Notzeit, in der ein Schwert wichtiger wird als die Decke, die nachts vor Frost schützt? Ist die Zeit des Baus der Kirche der von Neb 4,18 ähnlich? Ist gemeint, daß der bloße Besitz eines Schwertes vor Angriffen bewahrt? Jedenfalls stellt Lk 22,49 ausdrücklich die Frage nach dem Schwertgebrauch und beantwortet sie 22,51 negativ. Jesu Antwort V. 38 kann also diesen nicht billigen. Vermutlich ist 38 sie unwirsche Abwehr („genug davon!“, ähnlich l.Kön 19,4; 5.Mose 3,26 in Moses Abschiedsrede), kaum ironische („mehr als genug!“). Denn daß die zwei Schwerter auf die zwei Schwertträger deuten sollten, zwischen denen Jesus gekreuzigt wird, oder daß die Gottlosen von V.37 die Jünger meinten und die zwei Schwerter als 37 Zeugen dafür „genug wären“, ist doch nicht möglich. Noch unmöglicher ist die Annahme, Jesus habe eine bewaffnete Revolution geplant; zwei Schwerter genügen dafür sicher nicht, und die Jünger sind bei der Verhaftung unbehelligt geblieben (V.54). Auch daß man sich in gewissen Fällen verteidigen dürfe, ist schwerlich ge­ meint. Festgestellt wird wohl nur die Änderung der Zeit: Jesu Weg (V.37, vgl. A. nach V.30, b.l.) fordert das Schwert heraus (Mt 10,34; vgl. Lk 12,50/51). Jetzt muß man auch das Nötigste mitnehmen und kann nicht mehr ohne Tasche nur den Frieden ausrufen (10,4 f.). Mit dem tradierten Jesuswort 36b mußte man irgendwie fertig werden. Lukas versteht es sicher bildhaft: wie alles für Jesus in der Passion zur Vollendung kommen muß (vgl. 18,31, lukanisch), so bricht auch für die Jünger harte Zeit an; auch auf Apg 9, 31 folgt 12,1 usw. Aber daß diese Stelle trotz V.51 die Theorie begründete, daß das eine Schwert der Kirche, das andere dem Staat zuge­ höre, zeigt, wie verhängnisvoll es sein kann, nicht verstandene Jesusworte nicht nur zu bewahren, sondern um jeden Preis auch verstehen zu wollen.

Jesu Ringen um den Gottesweg 22,39-46, vgl. Mk 14,32-42; Mt 26, 36-46 Und er ging hinaus und wanderte nach seiner Gewohnheit auf den Ölberg. Es folgten ihm aber auch die Jünger nach. 40 Als er an den Ort kam, sprach er zu ihnen: Betet darum, nicht in Versuchung zu fallen. 4I Und er riß sich von ihnen los, etwa einen Steinwurf weit, und beugte die Knie und betete 42 und sagte: Va­ ter, wenn du willst, laß diesen Becher an mir vorbeigehen; doch nicht mein, son39

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Lk 22,29-46: „Dein Wille soll geschehen“

dem dein Wille soll geschehen. 43Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel, der ihn stärkte. 44 Und da er in äußerste Not geriet, betete er angespannter und sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die zur Erde fallen. 45 Und er stand auf vom Gebet, kam zu den Jüngern und fand sie schlafend vor Kummer. 46 Und er sprach zu ihnen: Was schlaft ihr, steht auf und betet, daß ihr nicht in Versuchung fallt. Übereinstimmung mit Markus findet sich fast nur in einigen Jesusworten, doch fehlen unlukanische Wendungen. Berichtet Lukas nach mündlicher Tradition, die auch Jesu Bitte (Mt 26,42; Lk 22,42!) enthalten hätte, oder nach S? Nach der Ein­ führung beginnt und schließt das Jesuswort (40 b.46) den Abschnitt. Dem Weggehen entspricht das zurückkommen (41.45). Alle vier Verse erwähnen sein Beten. V.4244 bilden die Mitte. 43 f. fehlen in einigen alten Handschriften, sind aber stilistisch so lukanisch, daß sie kaum später geschrieben worden sind. Typisch lukanisch sind auch andauerndes Gebetsringen, Antwort durch Engel und die Parallele zu 9,28-32 (Gebet auf dem Berg - himmlische Boten - Leidenshinweis - Schlaf der Jünger). Ohne sie wäre auch keine rechte Pointe zu sehen. Sie waren wohl späteren Abschrei­ bern zu menschlich. 39 40 41 42

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Erst jetzt verläßt Jesus den Abendmahlsraum und geht zum Ölberg (Mk 14,26; vgl. zu Lk 21,37f.). Der Name Getsemani, den auch Johannes nicht kennt, fehlt wie Golgata. Noch gibt es keine heiligen Stätten. Vielleicht ist die „Nachfolge“ der Jün­ ger betont, weil die Geschichte das Leben der Gemeinde prägen will. Sie werden nicht zum Wachen aufgerufen, wie auch ihr Schlaf ihnen nicht vorgeworfen wird (46), wohl aber (in lukanischem Stil) zum Beten wie V.46. Jesus nimmt auch nicht drei Vertraute mit sich wie Mk 14,33, sondern „reißt sich los“ (Apg 21,l). Wie Apg7,60; 9,40; 20,36 (Abschied); 21,5 (auch l.Kön 8,54) erfolgt das Gebet kniend (nicht stehend wie 18,11.13). Das Gebetswort stimmt in der Mitte mit Mk 14,36 überein („dieser Kelch“ griechisch wie in V.20), ist aber am Anfang und Ende for­ mal verändert (wohl vorlukanisch). Der Kelch bezeichnet im Alten Testament Gottes Gericht, das, da Mk 10,38 (s.d.) bei Lukas fehlt, in der Verwerfung Jesu als ganzer, nicht nur im Tod ergeht. „Dein Wille geschehe“ (Mt 11,10; 26,42 formal etwas anders) fehlt im lukanischen Unservater. Auch die Stunde der Finsternis, ja Satans (V.53.3) kann von Gott gewollt sein. „Stärkung“ durch den Engel ist Dan 10,13.1518 erzählt, jüdisch ähnlich von Abraham, der der Sage nach in den Feuerofen geworfen wurde (Bill. IV 454 zu V. 3; vgl. Jes 42,6 vom Gottesknecht). Sie hebt die „Angst“ nicht auf, aber gibt Kraft, in ihr zu bleiben. Der Wortstamm ist derselbe wie in „ringen“ (s. zu 13,24) und weist so schon auf das „andauernde“ (auch Apg 12,5) Beten hin. „Wie Blutstropfen“ läßt offen, ob sich Blut in den Schweiß mischte, jeden­ falls wird Jesus nicht als Stoiker beschrieben (vgl. Schweiß als Zeichen der Entrü­ stung und Ablehnung und der Reue Jos. As. 4,9; 9,1). Der Schlaf der Jünger wird entschuldigt; nur ist jetzt nicht Zeit dazu. So blickt der Schluß nicht zurück (Mk 14,37b), sondern nur vorwärts. Das Wort vom schwachen Fleisch und die weiteren zwei Gebetsgänge (Mk 14,38-42) fehlen. Wie Hebr2,17; 5,7-10 wird Jesus als der geschildert, der „in allem seinen Brü­ dern gleichgemacht wurde“. Nur so kann sein Leiden ins Leben des Glaubens über© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 22,47-53: Die Stunde der Finsternis

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nommen, nicht bloß gedanklich akzeptiert werden. Was im Exkurs nach V.30 gesagt ist, bestätigt sich: Lukas liegt daran, daß der Glaube an Jesu Weg teilbekommt und sich von ihm prägen läßt; aber nur zu Jesus kommt der Engel, und nur er schläft nicht in der entscheidenden Stunde.

Die Stunde der Finsternis 22,47-53, vgl. Mk 14,43-52; Mt 26,47-56; Joh 18,2-12 47 Während er noch redete, siehe da, eine Menge, und der sogenannte Judas, einer von den Zwòlfen, ging vor ihnen her und näherte sich Jesus, ihn zu küssen. 48 Jesus aber sprach zu ihm: Judas, mit einem Kuß lieferst du den Menschensohn aus? 49 Als die um ihn sahen, was da kommen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert zuschlagen? 50 Und einer von ihnen schlug den Knecht des Hohenpriesters mit dem Schwert und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. 5 1 Jesus aber antwortete und sprach: Laßt es dabei bewenden (oder: dahinkommen), und rührte das Ohr an und heilte ihn. 52 Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Tempelhauptleuten und Ältesten, die gegen ihn herangerückt waren: Wie gegen einen Räuber seid ihr ausgezogen mit Schwertern und Knüppeln; 53 da ich doch täglich mit euch im Tempel war, warum habt ihr eure Hände nicht gegen mich ausgestreckt? Aber dies ist eure Stunde und die Übermacht der Finsternis.

Gegen Markus, ähnlich wie bei Johannes, ist Jesus der eigentlich Handelnde (V.48.51.53 b), erscheint Judas als Führer des Haufens, ist aber auch ein Haupt­ mann (oder mehrere) dabei, bleibt unklar, ob Judas Jesus küßte (dafür V.48 neu), wird das „rechte“ Ohr abgeschlagen, noch bevor Jesus verhaftet wird, und flüchten die Jünger nicht. Einige Wendungen sind von Markus übernommen. Deutlich Unlu­ kanisches findet sich nicht; aber es fällt einiges auf. V.47 spricht wie Mt 26,14 zu Beginn der Passion vom „sogenannten Judas“, als wäre er zum ersten Mal genannt (vgl. Apg3,2; 6,9 und zu Lk21,37f.). Da nur die Jünger (und die Gegner) da sind, ist der Ausdruck „die um ihn“, der Mk 4,10; Apg 13,13 eine unbestimmte Gruppe bezeichnet (vgl. Mt 26,51), seltsam. Endlich werden Hohepriester, Hauptleute und Älteste erst V.52 genannt (vgl. Mk 14,43). Die Hauptleute gehören wohl zur Tem­ pelpolizei, wo Apg 4,1; 5,24.26 freilich nur einen Hauptmann kennt. Sollte hier der Beginn eines alten Passionsberichtes sichtbar werden? Daß auch Mk 14,47 von den „Dabeistehenden“ spricht und der Ausdruck „Jünger“ nach Mk 14,32 (außer 16,7)/ Lk 22,45 nicht mehr erscheint, obwohl Lukas nichts von ihrer Flucht erzählt, zeigt vielleicht, daß sie schon am Anfang der Verhaftung flohen, was selbst in der Tradi­ tion des Lukas noch nachwirkte (vgl. zu 23,49). „Den Menschensohn ausliefern“ ist feste Wendung (9,44; 18,32; 22,22; 24,7; auch Mk 14,41). Eindeutig geht es hier um Verteidigung; die Verhaftung ist noch nicht vollzogen (s. zu V.35-38). Da aber das Schwert nach Mk 14,47f. wirklich gebraucht wurde, kann Lukas Jesu ablehnende Antwort erst hinterher bringen. Sie enthält nur drei (Mt 26,52-54: 42!) Worte (wörtlich: „laßt [ab? es zu?] bis hierher“), dafür eine deutlicher sprechende Handlung. Die Finsternis ist Satans Reich (V.3; Apg 26,18). Jesus selbst stellt das fest und läßt sich verhaften. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 22,54-71: Analyse

Die Frage der Gewalt ist ausdrücklich gestellt. Sie wird beantwortet mit Jesu Be­ reitschaft, zu leiden und selbst den Gegner zu heilen. Beides gehört zum Weg Jesu. Er bestreitet zwar dem Pilatus sein Recht und auch seine militärische Macht nicht; aber für sich selbst verwirft er den Schwertgebrauch. Er will Leben schenken, nicht neh­ men. Damit ist das Problem nicht gelöst, aber doch ein Wegweiser errichtet (vgl. A. nach Mt 7,29, a3 und c2,4). Versagen des Petrus und Bekenntnis Jesu 22,54-71, vgl. Mk 14,53-72; Mt 26,5775; Johl 8, 13-24 54 Da sie ihn aber gefangen genommen hatten, führten sie ihn weg und führten ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus aber folgte ihm von weitem. 55 Da sie aber in der Mitte des Hofes ein Feuer angezündet hatten und zusammensaßen, setzte sich Petrus in ihre Mitte. 5 6 Als ihn aber eine Magd am Feuer sitzen sah und ihn ins Auge faßte, sprach sie: Auch der war mit ihm. 57 Er aber leugnete und sagte: Ich kenne ihn nicht, Frau. 58 Und kurze Zeit danach sah ihn ein anderer und erklärte: Auch du bist einer von ihnen. Petrus aber erklärte: Mensch, ich bin es nicht. 59 Und als etwa eine Stunde vergangen war, behauptete ein anderer: In Wahrheit, auch der war mit ihm; denn er ist auch ein Galiläer. 60 Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was du sagst. Und sogleich, während er noch redete, krähte der Hahn. 61 Und der Herr wandte sich um und sah auf Petrus, und Petrus erinnerte sich an das Wort des Herrn, wie er zu ihm gesprochen hatte: Bevor der Hahn kräht, wirst du mich heute dreimal verleugnen. 62 Und er ging hinaus und weinte bitterlich. 63 Und die Männer, die ihn gefangenhielten, verspotteten und schlugen ihn 64 und verhüllten ihn und fragten: Weissage, wer ist es, der dich schlug? 65 Und viel anderes lästerten sie gegen ihn. 66 Und als es Tag geworden war, versammelte sich der Ältestenrat des Volkes, Hohepriester und Schrift gelehrte, und sie führten ihn in ihr Gericht 67 und sagten: Wenn du der Messias bist, sage es uns. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich es euch sage, werdet ihr keineswegs glauben, 68 wenn ich aber frage, keineswegs antworten. 69 Von nun an wird der Menschensohn zur Rechten der Macht Gottes sitzen. 70 Alle aber sprachen: Bist du also der Sohn Gottes? Er aber erklärte ihnen: Ihr sagt es, ich bin (oder: sei) es. 71 Sie aber sprachen: Was bedürfen wir noch eines Zeugnisses? Denn ihr habt es selbst aus seinem Munde gehört.

Lukas kennt eine nächtliche Verleugnung durch Petrus, aber nur ein Verhör am Morgen (66, vgl. zu Mk 14,53-55 Einl.). Beide Berichte weichen fast so stark von Markus ab wie Johannes. Die Tradition, die Lukas hier höchstwahrscheinlich ver­ wendet, muß in vielem ursprünglich sein. Zwar teilt er einige Ausdrücke mit Mar­ kus, besonders einen Teil des Jesuswortes V.69. Doch stimmen eine ganze Anzahl sprachlicher und sachlicher Einzelheiten mit Johannes überein; auch erinnert V.67 an den Dialog Joh 10, 24 f. Vor allem kennt Lukas einen ähnlichen Prozeßverlauf wie jener (s. A. zu Mk 14,53-72, Durchführung). Noch seltsamer ist, daß V.62 und die Frage V.64 wörtlich Mt 26,75.68 (s.d.) gleich sind. Das läßt sich mit rein münd­ licher Tradition nicht mehr erklären. Unlukanische Wendungen sind zwar nicht häufig; doch ist inhaltlich viel verändert. Liegt die gleiche Quelle vor wie in V . 3 1 34? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 22,54—69: Untreue des Jüngers - Treue Jesu

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Lukas nennt eine Frau, deren Zeugnis damals wenig galt, und zwei Männer, sind doch nach 5. Mose 19,15 mindestens zwei Zeugen gefordert. Nur der zweite Frager spricht Petrus direkt an, während es Mk 14,67.69 umgekehrt ist. Die Versuchung kommt damit näher auf ihn zu. Vorher handelte es sich noch um Geschwätz einer Magd, das ihn doch nicht daran hindern sollte, Jesu Geschick von nahem zu verfol­ gen. Daher zieht sich Petrus auch nicht zurück wie nach Mk 14,68. Der dritte redet eine Stunde später. Vielleicht will Lukas sagen, daß scheinbare Ruhe nicht täuschen soll. Auch hier wird Petrus nicht direkt gefragt und antwortet unverbindlich: „Ich weiß nicht, was du sagst“, ohne direkt zu erklären, er wisse nichts von Jesus, wie nach Mk 14,71. Nur Lukas berichtet die Zuwendung Jesu zu Petrus. Jesus wird offenbar im gleichen Hof gefangen gehalten, in dem auch Petrus weilt. Oder ist er im „Haus“ (V.54) drin, wo Petrus ihn durch ein offenes Fenster sieht. Ist es wie nach Joh 18,13 das Haus des Hannas, der ja Hoherpriester ist (s. zu 3,2)? Jedenfalls wird Jesus erst V. 66 zum Gericht, vielleicht im Palast des Kajafas (Joh 18,24), geführt. Noch als Gefangener bringt er für Petrus die entscheidende Wende, die durch den lukanischen Bericht vom Zeugnis des Petrus nach Ostern in Jerusalem, Samarien und bei Heiden noch stärkeres Gewicht bekommt als in Mt 26,75. Vom „Wort des Herrn“ redet die Apostelgeschichte; in ihm ist der Herr gegenwärtig und hilft zurecht, wo wir uns verirrt haben. Obwohl eben von Petrus die Rede war, bezieht sich „ihn“ auf Jesus; so sehr ist er die Hauptperson. Anders als Mk 14,65 sind es nicht Mitglieder des Rates, sondern ist es die Wachmannschaft im Hof, die ihn „verspottet“ (wie Mk 15,20), Jesu Gesicht verhüllt, ihn schlägt und zum Weissagen auffordert. Die Anklänge an Jes 50,6 sind verschwunden. Dafür versteht Lukas das als (Gottes-) Lästerung. Der Spott ist weniger bösartig als bei Markus; aber auch der nicht böse Mensch „lästert“, wenn er lebt, als ob Gott nicht existierte, und sich das durch sein herausforderndes Tun noch selbst beweisen will. Erst am Morgen wird Jesus dem Gericht vorgeführt. „Älstestenrat“ könnte Gesamtbezeichnung sein, so daß er aus Hohenpriestern und Schriftgelehrten bestünde. Aber 20,1; Apg 22,5, wohl auch 5,21 unterscheiden alle drei Gruppen nebeneinander. Zeugenverhör, Tempelwort und Schweigen Jesu werden übergangen; auch tritt der Hohepriester nicht hervor. Dafür wird sofort die C hristusfrage gestellt, schwerlich darum, weil Lukas an spätere Martyrien angleichen will. Sie interpretiert von vornherein, daß „Sohn Gottes“ (V. 70) alttestamentlich zu verstehen ist, nicht als griechischer Halbgott; auch 4,41 stehen beide Titel nebeneinander (vgl. 1,32-35). Jesus antwortet ähnlich wie Joh 10, 25 f. (vgl. 36, formal auch Jer38, 15). In Wahrheit ist er der Fragende und sie sind die Befragten (vgl. 20,7). Ähnlich wie Joh 18,36f. nimmt Jesus die Frage auf, bejaht sie aber in einem anderen Sinn, als die Frager es meinten. „Von nun an“ (ähnlich Mt 26,64!) betont, daß an die Zeit der Erhöhung, nicht des letzten Kommens ge­ dacht ist; daher ist auch der Satz vom „Kommen mit den Wolken“ und vom künfti­ gen „Sehen“ weggelassen. „Menschensohn“ ist also wie Dan 7,13 (vgl. A. zu Mk 8,27-33) Bezeichnung des zu Gott Erhöhten und kann darum mit „Gottessohn“ (V.70) gleichgesetzt werden. Liegt hier trotz lukanischen Wendungen eine alte Tra­ dition vor, die ursprünglich direkt auf V.67f. folgte? Oder hat sie Jesu prophetische Antwort mit dem geheimnisvollen Hinweis auf den Menschensohn in V.69 im Sinn von Apg 13,33 und Röm 1,4 dahin gedeutet, daß Jesus in der Auferstehung zum © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 22,70-71: Wer ist Jesus?

Gottessohn erhoben werde? Im Judentum des 1. Jh. n.Chr. scheinen Menschensohn und Gottessohn nie identifiziert worden zu sein. 4.Esra 13,3.32 geschieht dies zwar; aber der lateinische Text gibt vermutlich einen ursprünglichen Titel „Gottesknecht“ (nicht „-söhn“) wieder. Äth.Hen. 48,10[49,3]; 52,4 werden Menschensohn und Messias einander gleichgesetzt; aber bei diesem Teil von Henoch wissen wir nicht, wann er geschrieben worden ist. Oder hat Lukas V.70 zugefügt und den Hinweis auf Jesu letztes Kommen, das er freilich 21,27 verkündet, durch den auf die Gottessohn­ schaft ersetzt? „Ihr sagt es“ deutet an, daß sie es im Grunde wissen, oder auch, daß ihre Formulierung noch ungenügend ist, weil Jesus die damit verbundene Herrschaft 71 (l,32f.) erst antreten wird. Obwohl Lukas sonst die Schuld von den Römern auf die Juden verschiebt, übernimmt er das jüdische Todesurteil nicht aus Mk 14,64; auch Lk 18,32 fehlt es. Er folgt offenbar einem anderen Bericht. Formaljuristisch handelt der Rat korrekt, ohne Mißhandlung des Angeklagten; aber die Ablehnung Jesu ist weniger ehrlich und viel tiefgreifender als bei den Knechten im Hof. Noch zentraler als bei Markus und Matthäus ist Jesus hier der Handelnde. Er ist Mittelpunkt des Gesprächs im Hof. Er hilft mit seinem Blick Petrus wieder zurecht, und nur um die Frage, wer er ist, dreht sich das Verhör. Dabei ist nicht das Ende der Welt im Blick, sondern die Zeit der Gemeinde, die um ihren himmlischen Herrn wissen darf, der schon bereit ist, sie zu empfangen (Apg 7,56). „Vor König und Statthalter“ 23,1-25, vgl. Mk 15,1-15; Mt27,1 f.l 1-26; Joh 18,28-19,16 1 Und ihre ganze Schar stand auf und führte ihn zu Pilatus. 2 Sie begannen aber ihn anzuklagen und sagten: Wir fanden, daß dieser unser Volk abwendig macht und daran hindert, dem Kaiser Steuer zu zahlen, und sagt, er sei der Messias­ König. 3 Pilatus aber fragte ihn und sagte: Bist du der König der Juden? Er aber antwortete ihm und erklärte: Du sagst es. 4 Pilatus aber sprach zu den Hohen­ priestern und der Menge: Ich finde keine Schuld an diesem Menschen. 5 Sie aber wurden noch heftiger und sagten: Er wiegelt das Volk auf mit seiner Lehre durch ganz Judäa hindurch, und zwar angefangen von Galiläa bis hierher.6AlsAls Pilatus das aber hörte, fragte er, ob dieser Mensch ein Galiläer sei, 7 und als er erfuhr, daß er aus dem Machtbereich des Herodes sei, schickte er ihn zu Herodes, der gerade auch in Jerusalem war in diesen Tagen. 8 Als Herodes aber Jesus sah, freute er sich sehr; denn er wollte ihn schon eine geraume Zeit lang sehen, weil er von ihm gehört hatte und hoffte, ein von ihm vollbrachtes 2eichen zu sehen. 9 Er befragte ihn aber mit vielen Worten; er aber antwortete ihm nichts. 10Es waren aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten mit heftigen Anklagen gegen ihn aufgetre­ ten. “Herodes aber mit seiner Leibwache verachtete und verspottete ihn, zog ihm ein prächtiges Gewand an und schickte ihn zu Pilatus zurück. 12Herodes und Pilatus wurden aber Freunde miteinander an diesem Tag; denn vorher stan­ den sie in Feindschaft gegeneinander. L1 Pilatus aber rief die Hohenpriester und Führer und das Volk zusammen 14und sprach zu ihnen: Ihr habt diesen Men­ schen als Volksaufwiegler vor mich gebracht, und siehe, ich habe ihn vor euch verhört und an diesem Menschen keine Schuld gefunden, derer ihr ihn angeklagt habt; 15 aber auch Herodes nicht, denn er hat ihn zu uns zurückgeschickt. Siehe,

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Lk 23,1—5: König der Juden

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nichts ist von ihm getan worden, worauf der Tod stünde. l6 Ich will ihn also züch­ tigen und freilassen. ,18Sie aber schrien alle miteinander: Weg mit dem, gib uns Barabbas frei, l9 der wegen eines Aufruhrs, der in der Stadt geschehen war, und Mordes ins Gefängnis geworfen war. 2() Pilatus aber redete nochmals zu ihnen mit dem Willen, Jesus freizulassen. 21 Sie aber riefen dagegen und sagten: Kreuzige, kreuzige. 22 Er aber sprach zum dritten Mal zu ihnen: Was hat dieser denn Böses getan? Ich habe keine Todesschuld an ihm gefunden. Ich will ihn also züchtigen und freilassen. 23 Sie aber setzten ihm mit laut erhobenen Stimmen zu und for­ derten seine Kreuzigung, und ihre Stimmen drangen durch. 24 Und Pilatus ent­ schied, daß ihre Forderung erfüllt werde. 25 Aber den, der wegen Aufruhr und Mord ins Gefängnis geworfen war, den sie gefordert hatten, entließ er; Jesus jedoch lieferte er ihrem Willen aus. Der Prozeß ist gegliedert durch die dreimalige Unschulderklärung durch Pilatus: V.4.16.22; dazwischen stehen die Szene vor Herodes, von der nur Lukas berichtet, und die Barabbas-Diskussion, am Anfang ein kurzes Verhör, am Schluß das Urteil. Die wörtlichen Übereinstimmungen mit Markus gehen kaum über die Frage „Bist du der König der Juden?“ und Jesu Antwort (V.3) hinaus, die beide auch Joh 18,33.37 gleich erscheinen (s. zu V.4). Die „Menge“, die in V. 10 und 13 (s.d.) immer genauer beschrieben wird, kann 1 hier im Zusammenhang nur den Rat bezeichnen (Apg 23,7). Die Fesselung Jesu ( M k l 5 , l ) wird weggelassen; Jesus bleibt der frei Handelnde. Die Anklage steht 2 logisch vor dem Verhör (anders Mk 15,2/3) und ist für das Ohr des römischen Be­ amten formuliert: Gefährdung von Ruhe und Ordnung, finanzielles Risiko, Angriff auf die Würde des Kaisers; darum wird „C hristus“ mit „König“ übersetzt. Der Rat kämpft also scheinbar nur für Roms Interessen (vgl. Joh 11,48-50). ;;Du (griechisch 3 betont) sagst es“ kann man schwerlich als Frage wie Joh 18,34, sondern nur wie 18,37 als Bejahung verstehen (auch Bill. I 990, einziger Beleg!). Sie schließt freilich ein, daß Jesus es anders ausdrücken würde (s. zu Mt 26, 63 f.). Umso auffallender ist 4 die Unschuldserklärung. Versteht Lukas: „DM sagst das (aber es ist nicht so)“? Dann könnte aber der eingeklammerte Satz nicht fehlen. Eher denkt er, Pilatus nehme das nicht ernst. Joh 18,38 folgt fast wörtlich dieselbe Formel auf dieselbe Antwort Jesu; dort erklärt Jesus aber zusätzlich, daß er im geistlichen Sinn König sei. Nun setzt V. 14 voraus, daß Pilatus vor dem Volk, das plötzlich da ist, ohne einge­ führt worden zu sein, ein eigentliches Verhör durchgeführt hat. Folgt Lukas einer Quelle, die mehr erzählte? Warum übernähme er sonst nur V.3 (unverändert!) aus Mk 15,2? V.5 benützt für „Volk“ anders als V.2 den das Gottesvolk bezeichnenden 5 Ausdruck (s. zu 19,48) und setzt wieder den Gegensatz zwischen Führer und Volk voraus. V. 10 und 24,20 sind nur jene beteiligt (s. zu 19,48); auch spottet das Volk nicht, sondern bereut (23,35.48). Ebenso steht in Apg 1-5 das Volk im Gegensatz zu den Behörden auf Seiten der Jünger. Hat erst Lukas die „Menge“ oder das „Volk“ (lukanische Ausdrücke) in 23,4.13 (s.d.). 35 (vgl. 18.23) eingeführt, während die Tradition die Führer als Gegner Jesu deutlich vom Volk unterschied? Auch in der Apg stehen zuerst nur die Behörden, allmählich dann auch das Volk in der Gegner­ schaft gegen die Apostel und das Evangelium. V.5 b entspricht Apg 10,37. Judäa ist © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 23,6-16: Hemdes kann mit Jesus nichts anfangen

wohl das ganze Land (s. zu 4,44), Galiläa wird als Übergang zu V.6 noch angehängt. Mit politischen Verdächtigungen (V.2), deren Unwahrheit der Leser kennt (19,42; 2 0 , 2 5 ; 9,21 f.), wird Anklage erhoben. Das Verhör beschränkt sich auf die in allen Evangelien gleich bezeugte Königsfrage und endet mit der Feststellung der Unschuld Jesu. V . 6 - 1 6 enthalten lukanische Wendungen, kaum Unlukanisches. Waren sie nur mündlich tradiert? Galiläern ist Aufruhr zuzumuten; dort begann der Aufstand gegen Rom in den Sechzigerjahren (vgl. auch 2 2 , 5 9 ; Joh 7,52). Pilatus aber reagiert anders auf das Stichwort: als Galiläer untersteht Jesus dem Herodes. So „sendet“ er ihn, wie mit einem auch V. 15 verwendeten technischen Ausdruck gesagt wird, zu ihm. Das ist politisch klug, wenn auch nicht mutig. Er ehrt damit Herodes und wird vielleicht den schwierigen Fall los. Die von Pilatus verächtlich gebrauchte Bezeich­ nung „der Mensch“ bekommt im Ecce homo („Sieh da, der Mensch“) von Joh 19,5 theologisches Gewicht. Jesus handelt politisch unklug, sachlich mutig und vor allem recht, wobei auch sein Schweigen politische Relevanz hat. Herodes ist offen, falls Gott sich unzweideutig durch Wunder bewiese; aber Zeichen werden nur dem zuteil, der sich von Gott mitnehmen läßt (s. zu Mk 8,11-13 Schi.). Das haben schon 4 , 1 13.23 gezeigt (vgl. zu 1 9 , 1 - 1 0 Schl.). Anklage der Hohenpriester, Schweigen Jesu und Spott mit dem Königsgewand (Jos., Altert. 8,185 f.) werden Mk 15,3 f. 17-20 (s.d.) in der Verhandlung vor Pilatus angesetzt. Sie unterstreichen Jesu Harmlosig­ keit, vor der Herodes nicht einmal Angst hat. V. 11 meint nicht, daß Herodes selbst das weiße Kleid anzog (was textlich möglich wäre); er „spottet“ ja. Darum hat eine alte Übersetzung sogar V. 10-12 gestrichen (wegen V. 15!). Das eine hat Pilatus erreicht, das andere nicht: die Feindschaft mit Herodes (vgl. Philo, Gesandtschaft 24,38) ist behoben, die Verantwortung ihm aber nicht abgenommen. Von Freund­ schaft zwischen Pilatus und Herodes hören wir sonst nicht. Sicher ist nicht nur ein symbolischer Hinweis auf die Versöhnung von Heiden und Juden (Eph 2 , 1 1 - 3 2 ) ge­ meint. Vielleicht hat man diese Freundschaft aus Ps2,2 erschlossen, nach dem sich „Könige“ und „Führer“ gegen den C hristus verschwören. Das ist schon Apg4,26f. auf Herodes und Pilatus bezogen worden. Das muß schon vor Lukas geschehen sein. Nach ihm wollen ja beide Jesus retten, und für ihn ist Herodes kein „König“ (s. zu 9,7). Wenn er von „Führern“ redet (16mal), sind das auch immer jüdische Behörden, außer wenn er das Wort auf Dämonen bezieht. Wie hier unterscheidet auch 24,20 dabei Hohepriester und Führer. Auffällig ist das zusammenrufen der Behörden und des Volkes. Die Ankläger sind ja nach V. 10 mitgezogen; blieb das Volk in der Nähe des Sitzes des Pilatus? Steht dahinter eine mit Joh 18,38.39b; 19,1 gemeinsame Überlieferung? Dort tritt Pilatus auch vor das Volk, bzw. die Juden, erklärt Jesus für unschuldig, schlägt Freilassung vor und züchtigt Jesus. Oder hieß es ursprünglich „Führer des Volkes“ (so 19,47)? Hat Lukas geändert oder das (Gottes-)Volk von sich aus eingeführt, weil es (nach Mk 15,11-34) Barabbas fordert? Jedenfalls wird dadurch das Gewicht der Unschuldserklärung unterstrichen, in der jetzt auch Hero­ des als zweiter Zeuge (5.Mose 19,15) auftritt. Statt von Geißelung ( M k l 5 , 1 5 ) spricht Lukas von Züchtigung und berichtet nie von deren Ausführung. Das Schreien nach Barabbas wird nicht begründet, von der Sitte einer PassaAmnestie nichts gesagt. Es sieht eher wie ein Tauschvorschlag aus. Weiß die luka© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 23, 17-25: Der Verurteilte als der einzig Freie

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nische Tradition noch, daß es ein Einzelfall war (s. zu Mk 15,2-15 Einl.)? Einige Handschriften haben V. 17 diese Sitte wieder erwähnt, weil sonst fast unverständlich ist, wieso Pilatus nachgibt. Die Formulierung „Weg mit dem!“ und die Verdoppe­ lung „Kreuzige, kreuzige“ entsprechen Joh 19,6.15. Sprachlich sind die Verse luka­ nisch, betont ist das „allgemeine“ (s. zu V.5) Schreien nach Barabbas, von dem in scharfem Gegensatz zur Unschuld Jesu (V. 14f. usw.) wie Joh 18,40 erst nachträg­ lich erklärt wird, wer er ist. Nur Lukas berichtet, daß der Aufstand in Jerusalem stattfand. Jesus wird als Revolutionär verklagt; dabei solidarisiert sich das ganze Volk mit dem wirklichen Revolutionär. An die Stelle der Argumente tritt jetzt die Lautstärke (vgl. V.23!). Auf der Kreuzigung liegt der Gottesfluch (5. Mose 21,23, in der Tempelrolle von Qumran betont). Lauter anständige Bürger, die als einzelne von Jesus beeindruckt waren, werden als Masse blind. Zeigt sich darin, daß Barabbas ihnen eben doch vertrauter ist als der in Vielem unheimliche und nie zum voraus durchschaubare Jesus? Wie Joh 18,38; 19,4.6 erklärt Pilatus dreimal „Ich finde keine Schuld an ihm“ (V. 4.14) und macht nochmals den Vorsc hlag von V. 16. Wie Joh 19,2 f. steht die Verspottung Jesu (Lk 23y 11 aber durch herodianische Soldaten) vor der Übergabe zur Kreuzigung. Ein eigentliches Urteil wird nicht gesprochen (doch 24,20). Die Schuld des Freigelassenen wird mit dem Wort von V. 19 wieder­ holt. Jesus wird „ihnen“ übergeben. Da die Soldaten erst V.36 „herzukommen“, müßte der uneingeweihte Leser annehmen, die Juden hätten ihn gekreuzigt (ähnlich 24,20; doch vgl. 20,20; Apg 13,28 und für Subjcktwechsel z.B. Lk 23,32/33). Je­ denfalls beschreibt Lukas den Vollzug durch die Römer nicht ausdrücklich und schiebt die entscheidende Schuld dem Volk zu (Apg 2,23.36; 4,10; 13,28); doch vgl. zu 11,37-12,1 Schl. Die Führer werden von ihrer Angst vor Unruhe bestimmt; das Volk läuft und schreit mit, weil jeder Angst hat, sich anderen gegenüber zu exponieren; der Statthal­ ter meint es gut mit Jesus und will ihn schlau retten, verfällt aber mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht seiner eigenen Diplomatie und kann ihr nicht mehr entrinnen. Ein einziger ist frei; er, der fast nur als Objekt erscheint, verächtlich als „der Mensch da“ bezeichnet. Nur einmal tritt er schweigend als Subjekt auf (V.9) und spricht einmal zwei Worte, mit denen er erst noch die entscheidende Aussage dem andern zuschiebt (V.3). Sonderquelle (S) in der Passionsgeschichte? Die Frage ist nicht sicher zu beant­ worten. Es fehlen: Salbung, Einzelheiten der Getsemaniszene, Flucht der Jünger und ihre Voraussage, nächtliches Verhör, Schweigen Jesu vor dem Rat und Pilatus, Ein­ führung des Barabbas, Verspottung durch römische Soldaten (dafür V.36!) und Volk, Verwunderung des Pilatus, erste Tränkung, Elija-Frage (Mk 14,3-9.26-28. 33f. 38b-2.55-61a.64b; 15,3-5.6-10.16-20a.23.25.29f.34f.44f.). Umgestellt sind: Bezeichnung des Verräters, Gang zum ölberg, Verhaftung Jesu, Verspottung, Kreuzigung der Verbrecher, Tränkung, Inschrift, Vorbereitung zur Salbung (Lk 22,21-23.39.54.63-65; 23,33.36.38.56). Nie sonst ist die Reihenfolge gegen­ über Markus derart verändert, ohne daß zugleich ein anderer Wortlaut auf beson­ dere Überlieferung hinweist: (3,19f.); 4,16-30; 5,1-11; (6,17-19); 8,19-21; © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Sonderquelle in der Passionsgeschichte

10,25-28; 11,14-23.37-41; 12,10; 13,18-21; 14,34f.; 17,1 f.23f. 31. Sonderüber­ lieferungen, die zusammenhängen und mit voranstehenden Sondertraditionen ver­ bunden zu sein scheinen, sind: Abendmahl mit Wort an Simon und Schwertwort, Getsemani, (Petrusverleugnung), Verhör am Morgen, vor Pilatus und Herodes (vgl. 9,9b; 13,31), Wort über Jerusalem (vgl. 19,41—44), Kreuzigung (s. zu V.26-49), Frauen vor und nach dem Grabbesuch (vgl. 8,2 f.), Ostererscheinungen (vgl. 24,6): 22,15-17.24-38.39-53(54-65)66-71; 23,2.4-16,22f.27-32.33b.34a.35-37.3943.46b(47)48.55f.; 24,10b-12.13-53. Hier finden sich auch Schriftwortc, nicht nur allgemeine Verweise auf die Erfüllung: 22,37; 23,30.35.46(49?), s.d. Nun zei­ gen 1./2. Chr., Ps-Philo, Jub., Josephus zwar, wie frei damalige Juden biblische Geschichte wiedergegeben und mit Neuem angereichert haben; aber zweifellos hat Lukas das nicht erfunden. Papias hat ein halbes Jahrhundert später erklärt: „Was aus den Büchern kommt, hielt ich nicht für so wertvoll wie das, was von lebendiger ... Stimme herkommt“ (Euseb, KG III 39,4). Dachte Lukas auch so? Stellt man sich vor, daß er die markinische Passionsgeschichte fast auswendig kannte, dann ist denk­ bar, daß er sie mit mündlicher Tradition angereichert neu und in anderer Reihen­ folge wiedergab. Die Szene im Abendmahlssaal zeigt aber eine Häufung unlukani­ scher Wendungen und vor allem Spannungen bei den beiden Bechern und beim Schwertwort, daß man kaum ohne Annahme einer schriftlichen Quelle durchkommt (vgl. auch zu 23,5.27.29). Dafür sprechen auch die Parallelen mit Johannes: s. zu 22,31-34 Einl., ferner zu 21,37f.; 22,3.14.23.27.31.32.47-53.54-71; 23,4(und Einl. dazu).13.18-25 Einl.; 24,12.40/41 und Einführung 2b. Vielleicht wirkt die Grundlage von Joh 18,22f. sogar in Apg 23,2-5 nach wie Mk 14,53-58 in Apg 6,13 f. Außerdem ist die Kreuzigung anders und öfters mit unlukanischen Wen­ dungen erzählt; sicher hat auch Lukas (23,35, vgl. zu V.49) nicht von sich aus an­ dere Ausdrücke aus Ps 22(21), 8 verwendet als Mk 15,29, weil Lukas zwar LXX-Stil schreiben kann, aber Anspielungen auf bestimmte Verse oft vernachlässigt (19,38?; 20,9; 21,16.25-28.39; 22,21.63; s. zu 23,35). Das Gespräch mit den zwei Verbre­ chern scheint in ein Schema eingefügt zu sein (s. zu 23,33—48 Einl.). Andererseits zeigen die Szenen in Getsemani, vor Pilatus und Herodes lukanische, kaum je nicht­ lukanische Wendungen. In den Ostergeschichten ist beides festzustellen, ohne daß Unlukanisches überwiegt. Doch weichen 24,1-12 stark von Mk ab und setzen Kenntnis jüdischer Gräber mit Rollsteinen voraus (V.2). Die Emmausgeschichte weist deutlich Schichten ihrer Entstehung auf und ist mit der nachher erzählten Erscheinung im Jüngerkreis nicht zu harmonisieren. Auch das Wort an Simon (22,32) und die Szene vor Pilatus (vgl. die Beteiligung des Volkes, das Auftauchen des Barabbas, das Fehlen einer Untersuchung) sind nicht aus einem Guß. Ist denkbar, daß Getsemani, Verhör vor Pilatus (und Herodes?), Kreuzigung und Ostergeschich­ ten in den Gottesdiensten der Gemeinde immer wieder relativ frei erzählt wurden, so daß Lukas bei der Wiedergabe seiner Quellen (Mk und S) in diesen Abschnitten besonders stark seinen Stil einmischte? Weist das eindeutige Überwiegen lukanischer Wendungen in diesen Abschnitten auf besonders starken Einfluß mündlicher Über­ lieferung neben der Übernahme seiner schriftlichen Quellen? Wer z.B. die Weih­ nachtsgeschichte schon öfters gehört und selbst erzählt hat, gibt sie zunehmend in eigener Sprache wieder, auch wenn sie sachlich Mt 1 f. und Lk 1 f. folgt. Er läßt sich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 23,26-56: Analyse

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dabei auch von alttestamentlichen Adventssprüchen beeinflussen, die er einmal im Chor gesprochen, von Weihnachtsliedern, die er auswendig gelernt, von Lagerlöfs oder Timmermanns Legenden, die er gelesen hat usw. Zum ganzen vgl. Einfüh­ rung 2. Das Ende als Hinweis auf den neuen Anfang 23,26-56 Der Ablauf der Kreuzigung Jesu entspricht einigermaßen Markus, aber mit ande­ rem Wortlaut und veränderter Reihenfolge (s.o., A.). Neu sind das mit 19,41-44 verwandte Wort über Jerusalem (s. zu V.28f.), die doppelte Erwähnung der Mitge­ kreuzigten (V.32 [mit der merkwürdigen Formulierung „zwei andere Verbrecher“]. 33 b [„dort“ untypisch für Lk]) und das Gespräch mit ihnen (39-43), die Worte Jesu (34a.46), die Erklärung der Finsternis (45) und die Reaktion des Volkes (49). Über­ einstimmungen mit Mk sind nur in V.26.34b (35b [aber s.d.].38?).44(45b.46a.c. 47?) festzustellen und erscheinen manchmal wie eingeschoben (34b.38). Die sechste und neunte Stunde sind V.44 genannt, nicht aber die dritte (Mk 15,2.5). Jeder der vier Abschnitte (26-32/33-38/39^3/44-49) enthält ein Jesuswort (s. zu V.34). 1. Der Kreuzweg 23,26-32, vgl. Mk 15,20f.; Mt 27,31 f.; Job 19,16f. Und als sie ihn abführten, griffen sie einen gewissen Simon von Cyrene auf, der vom Felde kam, und legten ihm das Kreuz auf, es hinter Jesus herzutragen. 27 Es folgte ihm aber eine große Masse des Volkes und von Frauen nach, die ihn beklagten und beweinten. 28 Jesus aber wendete sich um gegen sie und sprach: Töchter von Jerusalem, weint nicht über mich, jedoch weint über euch und eure Kinder; 29 denn siehe, es kommen Tage, an denen sie sagen werden: Heil den Unfruchtbaren und den Leibern, die nicht geboren, und den Brüsten, die nicht genährt haben. 30 Dann werden sie beginnen zu den Bergen zu sagen: Fallt auf uns, und zu den Hügeln: Bedeckt uns; 3, denn wenn sie dies am grünen Holz verüben, was wird am dürren geschehen? 32Es wurden aber auch zwei andere Verbrecher mit ihm geführt, um hingerichtet zu werden. 26

Vers 30: Hos 10,8.

Nur Lukas fügt zu, daß Simon „das Kreuz hinter Jesus her tragen“ sollte. Er hat 26 auch 9,23; 14,27 das „tägliche Kreuztragen“ betont, freilich mit anderen Wörtern für „tragen“ und „hinterher“. Dennoch sieht er wahrscheinlich in Simon das Bild für die Nachfolge. Vielleicht will er sogar sagen, daß auch unfreiwilliges „Kreuz“ Segen sein kann; denn Simon wird ja für diesen Dienst „aufgegriffen“. „Nötigen“ sagt Lukas dabei nicht wie Mk 15,21, vermutlich weil er auch die römischen Soldaten nicht erwähnt, denen das zusteht. Daneben steht eine andere Nachfolge, die bewuß­ 27 ter und aus freiem Willen erfolgt, aber im Augenblick auch nicht über das Weinen hinauskommt. Das Pronomen „die“ bezieht sich nur auf die Frauen. Hat Lukas die „große Volksmenge“ (ebenso 6,17; vgl. 1,10; Apg l 4 , l ; 15,12; 17,4; 21,36 und oft) in ein Quellenstück eingefügt, das nur von Frauen berichtete und V. 28-31 unlu­ kanische Wendungen enthält? Sach 12,10-14 (s. zu Mt 24,30) werden beim „Bekla­ gen (dasselbe griechische Wort) des einzigen Sohns“ die Frauen besonders erwähnt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 23,26-32: Wort an die Frauen von Jerusalem

28 Jesus sucht aber nicht das Mitleid, sondern Umkehr. Er drückt umgekehrt seinen Schmerz über Jerusalem aus, wie beim Einzug (19,41—44), so beim Auszug (eine ähnliche Wendung Seneca, Agam. 659f.). Beidemal ist das Schicksal der Kinder 29 besonders erwähnt. Nur hier steht wie in LXX die Gegenwartsform „kommen“ (s. zu 19,43), die neben „werden sagen“ auffällt, und der Heilruf scheint durchwegs traditionell zu sein. Er ist auffällig, hat aber mit Ga l4,27, wo Jesu Gemeinde als ursprünglich „unfruchtbare“ Sara bezeichnet wird, nichts zu tun. Ein ähnliches Drohwort stand 21,23 (= Mk 13,17), durch Lukas beidemal eindeutig auf den Fall 30 Jerusalems bezogen (s. A. nach 21,38, a). Offb 6,16 beschreibt dasselbe Zitat end31 zeitliche, kosmische Katastrophen. Wenn Feuer lebendiges, grünes Holz vernichtet, dann erst recht dürres. Jesu Schicksal wird wie das der Propheten erst recht die Geg­ ner treffen (ähnlich Spr 11,31 und Bill, von einem Gerechten, der gekreuzigt wird), vgl. l.Petr4,17f. Weissagung von Schrecken kennt auch der Hellenismus (V.28) und die jüdische Apokalyptik (V.29f.). Daß das Martyrium des Propheten oder Gerechten zur Um­ kehr ruft, weiß das Judentum (vgl. zu 11,37-12,1 Schi.). Aber Jesu Gestalt und seine Trauer über Jerusalem (V.28; 19,41-44) prägen den Abschnitt. Darum gibt es auch den, der das Kreuz hinter ihm herträgt und damit schon in einer verborgenen Weise an Gottes Segen teilhat, und vor allem die von den Jerusalemern deutlich unterschie­ denen Galiläerinnen, die ihm nachfolgen und über seinen Tod hinaus dienen (V.39. SSL). 2. Kreuzigung und Tod Jesu 23,33-49, vgl. Mk 15,22-41; Mt 27,33-56; Joh 19,17-30 Und als sie an den Ort kamen, der Schädel heißt, kreuzigten sie ihn dort und die Verbrecher, einen zur Rechten und einen zur Linken. 34 Jesus aber sagte: Vater, ve.gib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun. „2um Verteilen seiner Kleider aber warfen sie Lose“. 35 Und das Volk stand und schaute zu. Es rümpften aber auch die Führer ihre Nase und sagten: Anderen hat er geholfen, er helfe sich selbst, wenn dieser der C hristus Gottes, der Erwählte, ist. 36Es spotteten aber auch die Soldaten über ihn, die herbeikamen, indem sie ihm Essig herzubrachten 37 und sagten: Wenn du der König der Juden bist, hilf dir selbst. 38 Es war aber auch eine Inschrift über ihm: Der König der Juden ist dieser. 39 Einer aber von den gekreuzigten Verbrechern lästerte ihn: Bist du nicht der C hristus? Hilf dir selbst und uns. 40 Der andere aber antwortete und wies ihn zurecht und erklärte: Fürchtest du Gott nicht, da du doch unter dem gleichen Gericht stehst? 41 Und wir bekommen zwar zu recht, was unserem Tun entspricht. Dieser aber hat nichts Ungehöriges getan. 42 Und er sagte zu Jesus: Erinnere dich an mich, wenn du in deinem Reich kommst. 43 Und er sprach zu ihm: Amen, ich sage dir: heute wirst du mit mir im Paradies sein. 44 Und es war schon um die sechste Stunde, da brach eine Finsternis an über das ganze Land bis zur neunten Stunde, 45 da die Sonne ihren Schein verlor. Der Vorhang des Tempels aber zerriß mittendurch. 46 Und Jesus schrie mit lauter Stimme: Vater, „in deine Hände lege ich meinen Geist“, und als er das gespro33

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Lk 2 3 , 3 3 - 3 5 : Fürbitte für Folterer

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chen hatte, verschied er. 47 Als der Hauptmann aber das Geschehene sah, pries er Gott und sagte: Wahrhaftig, dieser Mensch war gerecht. 48 Und die ganze Volks­ menge, die zu dieser Schau herbeigekommen war und die geschehenen Ereignisse schaute, schlug sich an die Brust und kehrte zurück. 49Es „standen aber“ alle „seine Bekannten von ferne“ und die Frauen, die ihn von Galiläa her begleitet hatten, und sahen dies. Vers 34: Ps 22,19;

Vers 46: Ps 31,6;

Vers 49: Ps 18,12,; 88, 9 f.

Der Bericht erfolgt in viermal drei Schritten: Kreuzigung, Fürbitte Jesu und Klei­ derteilung / Behörde, Soldaten, Verbrecher: „Hilf dir selbst“ (dreimal) / drei zei­ chen: Finsternis, Vorhang, Schrei Jesu / Wirkung auf Hauptmann, Volk und Be­ kannte. Die Bekehrung des einen Verbrechers (V. 40-43) ist in dieses Schema einge­ fügt. Der Name „Golgata“ fehlt (s. zu 22,39), ebenso der Barmherzigkeitstrank 33 (Mk 15,22f.); auch Joh 19,29 nennt nur den Essigtrank (Lk 23,36). Dafür wird die Kreuzigung der schon V.32 erwähnten zwei Verbrecher (wie joh 19,18) am richti­ gen Ort genannt, ohne daß dabei auf die Erfüllung von 22,27 verwiesen wird. Das 34 erste Kreuzeswort (s. A. nach 22,30,c) fehlt im ältesten Papyrus und einigen guten Handschriften. Vielleicht ist es gestrichen worden, weil es die Juden zu entschuldigen scheint. Judenchristen mögen an 3. Mose 4,2 gedacht haben, wonach unwissentliche Sünde durch den Tod des Opfertiers, in diesem Zusammenhang den Tod Jesu ge­ sühnt wird. Eine ähnliche Handschriftengruppe streicht die Entschuldigung der Juden durch ihre Unwissenheit in Apg 13,27, während sie sie bei Heiden gelten läßt (17,23. 30) oder gar neu einführt (16,39), belastet auch 3,17 die von den C hristen unter­ schiedenen Juden stärker. Eine völlig andere Unwissenheit ist im Zusatz Lk 6,5 (s.d.) gemeint. Vers 34 paßt zu Lukas (Apg 3,17; 13,27; vgl. auch Lk 12,48 a), und Ste­ phanus spricht wie Jesu letztes Wort so auch dieses ihm nach, beide freilich in ande­ rem Wortlaut (Apg7,59f.). Außerdem ergeben sich so drei Kreuzesworte (vgl. zu V. 26-32 Einl.), und es tritt an die Stelle des üblichen Schuldbekenntnisses oder der Verwünschung der Feinde durch den Verurteilten (2.Makk. 7,19; 4.Makk. 9,15). Jesu Sterben ist also nicht nur Ruf zur Umkehr (V.31); im Einstehen Jesu sogar für seine Quäler öffnet sich die Möglichkeit göttlicher Vergebung auch für die schwerste Schuld und zugleich ein neuer Weg für seine Jünger, ihrerseits Gottes Liebe weiter­ strahlen zu lassen (s.A. nach 22,30,b2.3.). Anspielungen an Ps 22(21), 19 (V.34b s. zu Mk 15,24).8(V.35); 69,22 (V. 36) sind schwächer (s.A. nach V.25). V.35 ist 35 gegenüber Markus stark verändert. Nicht „alle, die zuschauen“, sondern nur die Führer (s. zu V.5.13) „rümpfen ihre Nase“ (s. zu Mk 15,27-32 Einl.). Das sehr seltene Wort steht auch Lk 16,14. Stammt es hier aus Ps22,8 und ist von Lukas in 16,14 eingefügt worden? Will Lukas gegen seine Tradition mit „aber auch“ andeu­ ten, daß das Volk ebenfalls höhnt? Der Ausdruck „(Gottes-)Volk“ stammt wahr­ scheinlich von ihm. Ferner entfällt die Anspielung auf das Tempelwort Jesu (s. zu 22,66). Der politische Titel „König“ wird den Soldaten in den Mund gelegt (V.37) und hier durch einen gut jüdischen ersetzt („C hristus Gottes“, s. zu 9,20; „der Er­ wählte“ 9,35; vom Messias äth.Hen. 39,6; 40,5; 45,3f.). Daß die Führer bereit wären, wenigstens auf Wunder hin zu glauben, fehlt. Die Aufforderung zur Selbst­ hilfe entspricht Mk 15,31; freilich ist sie als Imperativ der 3.Person formuliert, was © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 23,36-46: Jesu Tod — Gabe ewigen Lebens

36 eher zu Mk 15,30 und 32 stimmt. Sie wird V.37.39 wörtlich wiederholt. Die Trän­ kung mit Essig ist reiner Spott; das Mißverständnis, Jesus habe nach Elija gerufen, 37.38 fehlt. Die Inschrift wird erst hier genannt, wo ihre Lächerlichkeit von den Soldaten 39 hervorgehoben wird. Gegen Mk 15,32 differenziert Lukas und macht so die Mög­ lichkeit des Glaubens als Annahme, des Unglaubens als Ablehnung des Heils an­ schaulich (ähnlich in 7,36-50 statt Mk 14,3-9; auch 15,24-32; 18,9-14). Für Lukas ist Forderung sichtbarer Wunder und Beschränkung auf rein äußere Rettung 40.41 Gotteslästerung. Gottesfurcht (vgl. 1,50; 18,2.4; Apg 10,35) besteht in Selbster­ kenntnis und Annahme des Gerichtes Gottes, aber auch im Zeugnis für Jesu Un­ 42 schuld. Daraus wächst die Bitte, die über das äußerlich Sichtbare hinausreicht. „Erinnere dich an uns, Herr ...“ (Ps 106[105],4) findet sich auf jüdischen Grab­ inschriften (Israel Exploration Journal V/4,234ff.). Diodor von Sizilien (34:2,5-8) erzählt von einem Sklaven, der auf Grund seiner Wunder und Visionen das König­ tum beanspruchte, zum Spaß eingeladen und ermahnt wurde: „Wenn du dann König wirst, erinnere dich an diese Guttat!“ Von Jesu Reich sprechen auch 1,33; 22,30 43 (s.d.). „Heute“ ist besonders betont, wenn man V.42 mit alten Handschriften wie oben liest (statt: „in dein Reich“) oder gar mit einer anderen Gruppe „am Tage deines Kommens“. Jesus stellt dann das heute schon eingetretene Heil einer Hoff­ nung auf einen noch weit entfernten Zeitpunkt entgegen. Vermutlich soll betont werden, daß der „mit Christus“ Lebende schon teilhat an dem in ihm gegenwärtigen Reich und so in die Christusgemeinschaft des Paradieses hinein stirbt, ohne daß über Einzelvorstellungen eines Lebens nach dem Tod nachgedacht wird (s.A. nach 21,38,b, zu 16,23 und zu 8,55 und vgl. Phil 1,23). Das absolut Andere des vollende­ ten Lebens mit Gott wird nicht mehr durch die zeitliche Differenz zum jüngsten Tag ausgedrückt, sondern durch die räumliche zwischen Erde und Paradies. Schwerlich denkt sich Lukas einen paradiesischen Zwischenzustand vor der Auferstehung Jesu an Ostern und des Verbrechers am jüngsten Tag. Wie er das „Heute“ des Heils 4,21 (s.d.) und 19,9 betont, so hier, freilich verbunden mit „du wirst sein“, weil die Erfül­ lung, das „Paradies“, jenseits des irdischen Kampfes und Schmerzes steht. Übrigens steht auch 22,69 „von jetzt an“, obwohl Ostern und Himmelfahrt noch nicht da 44 sind. Ganz unwahrscheinlich ist die Abtrennung: „Ich sage dir heute: ...“.). Die sechste Stunde (mit lukanischem „etwa“) ist genannt, weil Finsternis am Mittag 45 (Am 8,9) auffällig ist. Lukas „erklärt“ durch Sonnenfinsternis, die freilich beim Passa-Vollmond unmöglich ist. Wie bei Jesu Geburt die Nacht erleuchtet wurde, so wird jetzt der Tag verfinstert (vgl. 22,53!). Das zerreißen des Tempelvorhangs wird nach vorne gezogen, nicht erst nach Jesu Tod erwähnt wie Mk 15,38; das „Sehen“ des Hauptmanns (V.47) kann sich ja nicht darauf beziehen, und Wunder im Kosmos 46 und im Tempel stehen so beieinander. Ähnlich wie in Mk 15,34.37 stirbt Jesus „mit lautem Ruf rufend“ (so wörtlich, um die Bedeutung des Augenblicks hervorzuhe­ ben); aber es fehlt der unartikulierte Schrei, und es ist nicht der Ruf der Verlassen­ heit, sondern des glaubenden Vertrauens. In die Hände der Menschen ist Jesus gege­ ben worden (9,44; 20,19; 22,53); aber gerade so übergibt er sich selbst in die Hände seines Vaters. Auch in dem hier zitierten Ps 31(30),6 wird „mein Geist“ mit „mich“ aufgenommen, beschreibt also einfach das Ganze der lebendigen Person. Mk 15,37 steht wörtlich „atmete den Geist aus“; das führte dann zu Mt 27,50 („gab seinen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 23,33—49: Jesu Tod - Gottes Zuwendung zum Menschen

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Geist auf“, s.d.) und Lk 23,46. Der Anruf „Vater“ (wie 10,21; 11,2; 22,42; 23,34) ist Jesus eigen (s. A. zu Mk 14,36). An eine leiblose Existenz des „Geistes“ nach dem Tode ist sicher nicht gedacht (s. zu 8,55). Das ganze „Geschehen“, das Wunder der 47 Finsternis wie die Haltung Jesu, begründet nach V.47 das Gotteslob (s. zu 17,15) und Urteil des Hauptmanns. Statt „Gottessohn“ nennt er ihn einen „Gerechten“. Ändert Lukas, weil „Gottessohn“ in heidnischem Mund falsche Vorstellungen weckt, oder ist es alte Tradition, die Jesus als unschuldig leidenden Gerechten sieht (vgl. Apg 3,14; 7,52; 22,14; A. zu Mk 11,1-16,8 und Mk 15,22-24 Einl.; 15,27­ 32 Schl.)? Selbst an der Volksmenge wird die Wirkung des Todes Jesu sichtbar. 48 Zwar „betrachtet“ sie nur die „Geschehnisse“, was wohl nicht dasselbe ist wie das „Sehen“ des einen, entscheidenden Geschehens in V.47. Im gleichen Sinn unterschei­ den die beiden Verben auch Joh 16,19 äußeres und geistliches Sehen. Sie läßt sich aber erschüttern und spürt etwas von Schuld (wie 18,13!). Sie kehrt schon um - aber nur heim in die Stadt. Wirkliche Umkehr wird erst Apg 2,37f. möglich. Von ihr 49 unterschieden werden die „Bekannten“ Jesu. Die Jünger werden nicht genannt (s. zu 22,47-53 Einl.), wohl aber die Frauen (s. zu 8,2 f.). Sie werden als Galiläerinnen deutlich von den „Töchtern Jerusalems“ (V.28) unterschieden. Ob Ps38[37],12; 88 [87],9 von Einfluß waren, ist unsicher; „von ferne“ steht auch Mk 15,40. Der Tod Jesu wird, noch deutlicher als bei Markus, nicht proklamiert und in seiner Bedeutung verkündet, sondern erzählt (vgl. Rückblick, 3.). Das geschieht aber so, daß eine Fülle verschiedener Beziehungen dazu sichtbar wird. Denn Jesu Sterben ist zugleich Zuwendung zum Menschen. Begründen Sündenerkenntnis, Bekenntnis zu Jesus und Bitte an ihn die Zusage des Heils? Aber die Szene beginnt ja damit, daß Jesus dort ist, wo Verbrecher zu Tode gequält werden (22,37!). In ihm wird Solidari­ tät Gottes mit Menschen sichtbar, die solche Einsicht erst möglich macht. Das Mit­ gekreuzigtwerden und Mitauferstehen von Röm 6 wird also erzählend dargestellt. Dabei ist innerhalb der Gleichheit der Erfahrung die eindeutige Uberordnung Jesu festgehalten; er als der äußerlich genauso Ohnmächtige spricht Königsherrschaft zu. In diesem Sinne wird er auch „für“ diesen Verbrecher gekreuzigt. Man kann fragen, ob man das erzählend anschaulich machen kann. Ohne die Zurückhaltung des Mar­ kus und ohne die lehrhafte Klärung durch Paulus bliebe das zu unbestimmt. Umge­ kehrt aber bliebe Glaube ohne den Beitrag des Lukas weitgehend abstrakt. Die Ein­ zigartigkeit Jesu wird nicht titular erfaßt. Er ist das grüne Holz neben dem dürren (31), der Unschuldige neben den Verbrechern (41), vor allem aber der, der zu Recht „Vater“ sagen (34.46) und der das Paradies zusprechen kann (43). Sonnenfinsternis und Tempelvorhang deuten an, wer hier stirbt. Heil geschieht so, daß in Jesu zu­ wendung zu Exekutoren und Exekutierten (34.43) Gottes Zuwendung zum Men­ schen sichtbar wird und daß es zur Erschütterung des Volkes, zum Gotteslob eines Heiden und zur fälligen Liebestat eines Randsiedlers (50-53) kommt. Schließlich ahnt man schon die kommende Gemeinde hinter dem, der unfreiwillig hinter Jesus hergeht, besonders aber in den Worten Jesu, die später von anderen nachgespro­ chen werden (34.46).

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Lk 23,50-56: Der Dienst des Außenseiters am toten Jesus

3. Die Grablegung Jesu 23,50-56, vgl. Mk 15,42-47; Mt 27,57-61; Joh 19,38-42 Und siehe, ein Mann mit Namen Josef, der ein Ratsherr war, ein guter und gerechter Mann - 51 der hatte ihrem Beschluß und ihrem Handeln nicht zuge­ stimmt - von Arimatäa, einer Stadt der Juden, einer, der auf das Reich Gottes wartete, 52 der ging zu Pilatus und bat um den Leib Jesu. 53 Und er nahm ihn herab und wickelte ihn in Leinwand und setzte ihn in einem gehauenen Grab bei, wo noch niemand gelegen hatte. 54 Und es war der Rüsttag, und der Sabbat leuchtete auf. 55 Die Frauen aber, die mit ihm aus Galiläa gekommen waren, folgten nach und sahen das Grab und wie sein Leib beigesetzt wurde. 56 Sie kehr­ ten aber um, und bereiteten Salben und Öle. Den Sabbat hindurch ruhten sie nach dem Gebot. 50

50 Josef von Arimatäa ist in allen Evangelien genannt. Das beweist, daß kein Jünger 51 da war, um die wichtigste Pietätspflicht zu erfüllen. Wie am Anfang des Lebens Jesu ein „Gerechter“ steht, der auf „den Trost Israels“, das „Gottesreich“ wartet (2,25), 52.53 so am Ende. Neben den Römer (V. 47) tritt der Jude (vgl. Apg 5,34). V. 52 f. gleichen Mt 27,58 f. merkwürdig stark, besonders am Anfang, in dem Wort für „einwickeln“ und in der Kürzung des Markustextes. Wie Joh 19,41 f. ist die Neuheit des Grabes 54 betont und wird erst hier erwähnt, daß es Freitag war. Das „Aufleuchten“ (des Abendsterns oder des Sabbatlichtes?) dieses Sabbats mag für Lukas symbolisch sein: Gottes Verheißung auf Vollendung leuchtet schon über Jesu Grab und seither auch über denen seiner Gemeinde. Daß die Frauen das Grab sahen, also nicht etwa am 55 Ostermorgen zu einem andern gingen (24,1), ist betont. Ihre „Nachfolge“ von Gali­ läa her (V.49) setzt sich fort und erweist sich in einem letzten Dienst (vgl. 8,3). An­ ders als in Mk 16,1 (nach fast allen Handschriften) kaufen sie am Freitagabend ein. 56 Wie in 1,6; 2,22-24.27 der Gehorsam gegen die Gebote betont war, so hier. Es ist der letzte Sabbat vor Anbruch des „Tages des Herrn“ (vgl. Offb 1,10).

C Neuanfang - Gabe des Auferstandenen 24,1-53 Nur V. 1-12 stimmt mit Mk 16,1-8 einigermaßen überein. Alles andere findet sich nur bei Lukas. Gottes Botschaft an die Frauen 24,1-12, vgl. Mk 16,1-8; Mt 28,1-8; Joh 20,1-13 1 Am ersten Tag der Woche aber ganz früh morgens kamen sie ans Grab und brachten die Salben, die sie bereitet hatten. 2Sie fanden aber den Stein weggerollt vom Grab. 3 Sie gingen aber ins Grab hinein und fanden den Leib des Herrn Jesus nicht. 4 Und es geschah in ihrer Ausweglosigkeit darüber, da, siehe, traten zwei Männer zu ihnen in blitzendem Gewand. 5 Da sie in Furcht gerieten und die Gesichter zu Boden neigten, sprachen sie zu ihnen: Sucht ihr den Lebendigen bei den Toten? 6 Er ist nicht hier, sondern wurde auferweckt. Erinnert euch, wie er zu euch redete, als er noch in Galiläa war 7 und vom Menschensohn sagte, daß er

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Lk 24,1-9: Der Lebende ist nicht bei den Toten

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in sündige Menschenhände ausgeliefert und gekreuzigt werden und am dritten Tag auferstehen müsse. 8 Und sie erinnerten sich an seine Worte 9 und kehrten zum Grab zurück und meldeten das alles den Elfen und allen übrigen. 10Es waren aber die Magdalenerin Maria und Johanna und Maria des Jakobus und die übri­ gen mit ihnen. Sie sagten das zu den Aposteln. 11Und diese Worte kamen ihnen vor wie ein Märchen, und sie glaubten ihnen nicht. 12 Petrus aber stand auf und lief ans Grab, bückte sich und erblickte die Leichentücher und lief weg und staunte bei sich selbst über das Geschehene. Außer der Tagesangabe (1), fünf Worten im Satz des Engels und der Wendung „zum/vom Grabe“ stimmt nichts mit Markus überein (vgl. aber zu V.6). Manches könnte vormarkinisch sein. V. 12 fehlt in einem Teil einer Handschriftengruppe; er ähnelt im Wortlaut Joh 20,3-6.10. Er ist aber kaum von dort eingedrungen; warum wäre der andere Jünger (Johannes?) nicht erwähnt, besonders da V.24 mehr als einen Zeugen kennt? Anders als Joh 20,12 fand die Engelerscheinung schon vor dem Kommen des Petrus statt (auch V.23). Stilistisch sind Anfang und Schluß typisch lukanisch, nicht aber die Gegenwartsform „erblickt“ (s. zu 16,23 Einl.) und der Ausdruck „zu (oder: bei) sich selbst“. Man kann ihn mit „staunte“ verbinden wie oben in der Übersetzung oder mit „lief weg“ und dann aufgrund einer aramäischen Wendung übersetzen „lief heim“. So faßt es Joh 20,10 auf. Das läßt vermuten, daß die Originalfassung bei Lk 24,12 lautete: „staunte bei sich selbst“ (ähnlich 18,11) und so Johannes vorlag. Vielleicht wurde der Vers gestrichen, um mit der Erster­ scheinung vor Petrus (V.34) nicht zu konkurrieren. Wie Joh 20,1 wird der Stein erst hier, nicht beim Begräbnis und den Überlegungen der Frauen erwähnt. Er gehört fest zur Ostergeschichte. Wie Joh 20,12 treten die „zwei“ (auch 9,30; Apg 1,10) Engel erst nach Entdeckung des leeren Grabes und der Ungewißheit darüber auf. Daß alle Frauen (V. 10!) das Grab betraten, ist schwer denkbar. Die alte Geschichte dachte wohl nur an die drei namentlich genannten. Ein jüdischer Satz gegen Totenbefra­ gung lautet: „Pflegt man wohl die Toten unter den Lebenden zu suchen, etwa auch die Lebenden unter den Toten?“ (Bill.). Weil Jesus in dem Sinne lebend ist, wie Gott es ist, ist er nicht bei den Toten zu suchen (vgl. zu Mk 12,27), weder als ein endlich erledigter Unruhestifter noch als ein pietätvoll verehrter Lehrer. Der Blick wird geradezu vom Grab weggelenkt. Daran schließt „er ist nicht hier“ (vorangestellt wie Mt 28,6, s.d.) gut an. Die (vorlukanische?) Umformung von Mk 16,7 führt zu der merkwürdigen Erwähnung Galiläas und dem unpassenden „euch“ (Mk 16,7 richtig = den Jüngern). Galiläa ist Vergangenheit; dort passiert nichts Neues mehr (s. zu 4,44), nach Ostern taucht es nur noch einmal auf (Apg 9,31). Die Formel V. 7a erinnert an 9,44; das Wort „sündig“ oder „Sünder“, das Lukas in Apg nie braucht und auch nie von sich aus in Mk-stoff einfügt, an Mk 14,41. „Kreuzigen“ ist in keiner Passionszusammenfassung zu finden. „Auferstehen“ findet sich zwar in den Formeln Lk 24,46; Apg 10,41; 17,3, könnte dort aber traditionell sein, da Lukas das Wort in Mk 8,31; 9,31 verändert oder wegläßt. Die Vorwegnahme von „Men­ schensohn“ ist im Urtext noch merkwürdiger; immerhin ist Apg 13,32 (vgl. Lk 9,31; Gal 4,11) damit vergleichbar. So spricht vieles für eine Lukas schon vorliegende Formel, ohne daß dies eindeutig ist. Anders als Mk 16,8 erfüllen die Frauen ihren Auftrag, aber, anders als Mt 28,9f., ohne C hristus zu begegnen. Erst jetzt (vgl. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 24, 1()—12: Das Rätsel des leeren Grabes

Apg 1, 13 f.) wird gesagt, was für Frauen es waren. Die Namen sind anders als Mk 16,1 (s.d., Einl.): die Stellung von „Magdalena“ vor „Maria“ ist einzigartig (vgl. zu 8,2), zu Johanna s. zu 8,3; Maria des Jakobus müßte dessen Frau bezeichnen (doch vgl. Mk 15,40.47; 16, 1). Noch merkwürdiger ist die Wiederholung von 9b, wobei jetzt der lukanisch gewichtige Aposteltitel (V.9.33 und Apg 2,14: „die Elf“) erscheint. Hat Lukas V. 10 f. in die tradierte Geschichte eingefügt, wobei die Namen 1 1 aber (mündlich?) überliefert waren? Unglaube wird erst Lk 24,11.41 von den Jün­ gern berichtet (vgl. zu Mk 16,9f.). Freilich ist das nicht dasselbe wie die Ablehnung 12 der Auferstehungsverkündigung (Apg 17,18.32). Selbst der Augenschein des Petrus führt nur zum Staunen, in dem freilich auch Offenheit für weitere Erfahrung steckt. „Nicht von Menschen und nicht durch einen Menschen“ (Gal 1,1) ist dem Apostel die Gewitéheit der Auferstehung vermittelt (V.34).

Wort und Sakrament - Gabe des Auferstandenen 24,13-35 Und siehe, zwei von ihnen wanderten an eben dem Tag in ein Dorf, das sech­ zig Stadien von Jerusalem entfernt war, mit Namen Emmaus. l4 Und sie bespra­ chen sich über all diese Ereignisse. 15Und es geschah, während sie sich besprachen und diskutierten, da nahte sich Jesus selbst und wanderte mit ihnen. 16 lhre Augen aber waren gehalten, daß sie ihn nicht kannten. l7 Er sprach aber zu ih­ nen: Was sind das für Worte, die ihr da miteinander wechselt, während ihr dahingeht? Und sie blieben traurigen Blickes stehen. 18Einer mit Namen Kleopas aber antwortete und sprach zu ihm: Weilst du allein in Jerusalem und hast nicht erfahren, was dort geschehen ist in diesen Tagen? l9 Und er sprach zu ihnen: Was denn? Sie aber sprachen zu ihm: Das mit Jesus dem Nazarener, der ein Prophet war, machtvoll in Werk und Wort vor Gott und dem ganzen Volk, 20 wie ihn unsere Hohenpriester und Führer zur Verurteilung zum Tod ausgeliefert und gekreuzigt haben. 21 Wir aber hatten gehofft, daß er der sei, der Israel erlösen sollte. Außerdem ist es auch über dem allem der dritte Tag, seit das geschehen ist. 22 Aber auch einige Frauen von uns haben uns in Aufregung versetzt, die früh­ morgens am Grab waren 23 und da sie seinen Leichnam nicht fanden, kamen und sagten, sie hätten gar eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagten, er lebe. 24 Und einige von denen bei uns gingen weg zum Grab und fanden es so, wie es auch die Frauen gesagt hatten, ihn selbst aber sahen sie nicht. 25 Und er sprach zu ihnen: O, ihr Unverständigen und im Herzen Trägen, dem allem zu glauben, was die Propheten geredet haben. 26 Mußte der Christus nicht solches leiden und in seine Herrlichkeit eingehen? 27 Und er fing bei Mose an und bei allen Prophe­ ten und deutete ihnen in allen Schriften das über ihn Gesagte. 28 Und sie näher­ ten sich dem Dorf, wohin sie wanderten, und er machte Miene, weiterzuwan­ dern. 29 Und sie drängten ihn und sagten: Bleibe bei uns, denn es geht dem Abend zu, und der Tag hat sich schon geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben. 30 Und es geschah, als er mit ihnen zu Tische lag, nahm er das Brot, sprach den Segen und brach es und gab es ihnen. 31 Ihre Augen aber wurden geöffnet und sie erkannten ihn. Und er entschwand ihnen. 32 Und sie sprachen zueinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er auf dem Weg zu uns redete, als er uns die Schriften öffnete? 33 Und sie standen zu der Stunde auf und kehrten nach Jerusa13

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LK 24, 13-35: Analyse

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lern zurück, fanden die Elf und die mit ihnen beieinander, 34 die sagten: Wahrhaf­ tig ist der Herr auferweckt worden und Simon erschienen. 35 Und sie erzählten, was unterwegs geschehen war, und wie er von ihnen am Brotbrechen erkannt wurde. Dem Weggang der beiden Jünger (13 f.), dem Kommen Jesu (15) und ihrem Nicht­ erkennen (16) entsprechen in umgekehrter Reihenfolge ihr Erkennen (31a), Jesu Verschwinden (31 b) und ihre Rückkehr (33-35). In der Mitte steht die Mahlszene (28-30). Ihr vorgeordnet ist ein Gespräch, das mit der Frage Jesu beginnt (17) und seiner belehrenden Antwort (25-27) endet. V.21 b-24 ist Verbindungsstück zu V. 112, wobei „einige“ in V.24 nicht recht zu V. 12 paßt. Die Geschichte entspricht äußerlich dem Schema einer Wundergeschichte: die Einleitung führt Ort und Perso­ nen ein (13 f.), der Heilbringer tritt auf (15), die Schwierigkeiten werden betont (1624), vorläufige Hilfe (25-27) führt zur Bitte der Notleidenden (28f.), der das Heil gewährt wird (30f.), Bekenntnis, Bestätigung und Verkündigung (3 3-35) schließen die Geschichte. Aber gerade darin wird die Besonderheit sichtbar. Das Gespräch 1627 ist außergewöhnlich ausgebaut, und die Hilfe wird nicht dem Jesus entgegenge­ brachten Glauben geschenkt, sondern besteht im Geschenk des Glaubens. Weil das Interesse darauf liegt, wird das Gespräch darüber so wesentlich und werden Wort­ verkündigung und Herrenmahl (vgl. zu V.30) hinter der Geschichte sichtbar. Das Ganze ist stark von lukanischem Stil geprägt. Dazu kommt die Parallele Apg 8,26— 40. Beide Geschichten beginnen unterwegs, dem Unverständnis gegenüber der Schrift wird die Deutung auf Jesu Leiden gewährt; eine Bitte zu verweilen geht voran oder folgt. Mit dem Sakrament, dem Mahl oder der Taufe, und dem Verschwinden des Helfers enden beide Berichte. Unlukanisch ist die Lokalisierung in Emmaus, nicht in Jerusalem, und die Erscheinung Jesu vor zwei Nichtaposteln (Apg 1,1-4; 10,41), während V.26f. ganz dem Interesse des Lukas entsprechen. Eigentümlich für eine Ostergeschichte ist Jesu Auftreten in nicht erkennbarer, auch nicht mit himmli­ schem Glanz umgebener Gestalt, das Erkennen beim Mahl und das Fehlen einer Sendung. Sachlich erinnert das an Joh 21,1 — 14. Hellenistische Legenden erzählen Ähnliches: Romulus sei nach seinem Tod auf dem Weg einem Bauern begegnet, der das in Rom berichtet habe (Dion.HaL Rom. Altert. II 63,3 f.). Kommen und Ver­ schwinden von Engeln sind oft berichtet (z.B. Ri 13,23.9.20; 2.Makk. 3,33f.) von einem Gott Vergil, Aen. 9,656ff., von Helena Eunpides, Hel. 605ff.; Or. 1496ff. Wandern, Erscheinen des Totgeglaubten, aber noch nicht Gestorbenen, und körper­ liche Berührung werden Philostrat, Apoll. 8,11 f. erzählt, vielleicht aber schon von Lukas beeinflußt. Vorgegeben sind sicher: Emmaus, die zwei Jünger und der Name Kleopas, die Mahlszene (etwa 13.15 b. 16.28-3 1 mit der sonst von Lukas bei Markus gestrichenen doppelten Zeitangabc V.29). Lukanische Wiedergabe einer mündlichen Tradition wäre möglich. Aber die deutlichsten nichtlukanischen Wendungen stehen gerade in V. (18.) 19.23-25, wo man am ehesten seine Redaktion vermutete, abgese­ hen von den schon vorgeprägten Sätzen in V. 26.34. Dazu kommt, daß der Anfang „zwei aus ihnen“ nur richtig ist, wenn man ihn an V.9 anschließt, wo neben den Elfen auch „alle übrigen“ erwähnt werden. Nach den, vermutlich von Lukas einge­ fügten Versen l0f. müßte man an die „Apostel“ denken. Wenn Lukas die Geschichte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 24,13-27: Festgefahrener Glaube

frei erzählt hätte, ohne an eine Vorlage gebunden zu sein, hätte er dann nach V.34f., wo beide Gruppen von der Auferstehung Jesu überzeugt sind, noch in V.41 vom Unglauben der Jünger reden können? Auch ist ja die ganze Szene V . 3 6 - 5 3 am glei­ chen Abend unvorstellbar. Hier sind deutlich zwei verschiedene Überlieferungen zusammengestellt worden. Selbst wenn erst Lukas die Formel V.34 zugefügt hätte, um die Ersterscheinung vor dem Apostel festzuhalten, bliebe doch eine solche Span­ nung, daß man für beide Berichte eine schriftliche Quelle annehmen muß, die freilich hier besonders stark überarbeitet und daher nicht genau zu bestimmen ist. 13

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Mit dem Wandermotiv (s. zu 9,51) setzt die Geschichte ein. Der Sonntag nach dem Passa ist Heimkehrtag. Ein Emmaus scheint 32,5 km, ein anderes 6,5 km von Jerusalem entfernt gewesen zu sein (176 oder 35 Stadien). Da die Jünger am gleichen Abend zurückkehren (V.33), kommt nur das zweite in Frage. Oder hat ein früherer Text recht, der „160 Stadien“ liest, und wurde „100“ weggelassen wegen V.33? Wandern gewährt Zeit zum Überdenken des Geschehenen. Dabei fügt Jesus sich in ihre Gemeinschaft ein. Woher er kommt, ist so wenig zu sagen, wie wohin er ent­ schwindet. Wie Joh 21,4 wird der Leser gleich ins Bild gesetzt; er fragt also nicht, wer der Unbekannte ist, sondern wie die beiden ihm begegnen. Der Unglaube liegt wie eine Macht auf ihnen (s. zu 18,34). Aber wesentlich ist, daß ihre Zweifel bewußt werden. Ist Kleopas derselbe wie Klopas? Dieser war nach Euseb (KG III 11) Bru­ der Josefs und Vater Simeons, des Nachfolgers des Jakobus in der Leitung der Jerusalemer Gemeinde. Ist er darum allein genannt? Doch ist das unsicher, noch ungewisser, daß der zweite Jünger Jesu Bruder Jakobus war (l.Kor 15,7). „Weilen“ bezeichnet das Wohnen des Nichtansässigen; weil ein Bürger Bescheid wüßte oder weil Jesus von Lukas als Unterwegsseiender gedacht ist? Als „Mann, ausgezeichnet von Gott durch Krafttaten, Wunder und Zeichen“ erscheint „Jesus der Nazoräer (so immer bei Lukas außer hier und 4,34 = Mk 1,24)“ auch Apg 2,22, als „Prophet“ L k 4 , 2 4 ; 13,33 (s. zu 3 , 1 5 - 2 0 Schl.). Neu ist die Zusammenstellung von Werk (vorangestellt) und Wort (umgekehrt bei Mose Apg 7,22!). Apg 2,22; 10,38 werden nur die Wunder genannt, in summarischen Zusammenfassungen nur sein Lehren (4,18f.44; 8 , 1 ; 1 5 , 1 ; 19,47; 2 0 , 1 ; 21,37) oder sein Heilen (4,40f.; 13,32), außer wenn das Lehren noch zur Tradition von Heilungen hinzugefügt wird (6,6.18; 13,10f.); bei den Jüngern hingegen wird beides verbunden (9,2; 10,9 aufgrund von Q?). Wieder erscheint das „ganze Volk“ getrennt von den Behörden (s. zu 19,48), die die Kreuzigung vollzogen zu haben scheinen (s. zu 23,25). Weder das jüdische noch das römische Volk ist schuldig. Von der „Erlösung“ Israels sprechen 1,68 (2,38). Aber gerade diese fixierte religiöse Erwartung hindert die Jünger, den zu sehen, der „lebt“ (vgl. 2 0 , 3 8 ; 2 4 , 5 ; Apg 1,3; 25,19). Das leere Grab schafft keinen Glauben (vgl. zu V.5). Es ist die Trägheit und Unbeweglichkeit des Herzens, die sich Neuem, den Erwartungen nicht Entsprechendem nicht öffnen kann. Das Schicksal des C hristus ist auf das äußerste verkürzt zusammengefaßt: Leiden und Eingang in die Herrlichkeit, die nach 19,38 „in der Höhe“ herrscht (vgl. A. nach 22,30,b 1.). Darüber steht Gottes Wille (s. zu 9,22), nicht im Sinne einer von der Schöpfung zur Wiederkunft und Endvollendung hin verlaufenden Gesamtgeschichte, sondern so, daß er sich überall in der Fülle biblischer Geschichte und Lehre erweist. Darum wer© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 24,28-35: Das Wunder der Öffnung der Augen

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den auch keine bestimmten Bibelstellen genannt, wohl aber weisen „alle Schriften“ (= „Mose und die Propheten“ und die „Schriften“, d.h. die Psalmen usw., s. V.44) auf C hristus hin, so daß erst von ihm her Israels Geschichte sinnvoll wird (s. A. nach 4,30,b.). Die Schrift deutet also die Jesusereignisse; aber Lukas sucht nicht Belegstel­ len für Einzelereignisse der Jesusgeschichte im A.T., als ob sich dadurch „beweisen“ ließe, daß Gott in ihnen am Werk war. Nochmals erscheint das „Wandern“ Jesu, dem die Bitte um das „Bleiben“, wohl im Haus der beiden Jünger, begegnet. Zwar kommt Jesus V. 15 unvermutet, aber damit er bleibe, ist die Bitte notwendig. Der Satz ist der Situation angepaßt, doch zugleich durchsichtig für eine tiefere Wahrheit, die Offb 3,20 als „Eingehen“ des erhöhten C hristus zum Glaubenden und sein „Es­ sen mit ihm“ beschreibt. Dreimal wird V.29f. das „mit ihnen“ betont. Der Gast wird zum Gastgeber. „(Und sie ließen alle) sich lagern (griechisch = zu Tische lie­ gen); er nahm aber (die fünf) Brot(e) . . . , sprach den Segen ... und brach ... und gab (sie) den Jüngern“ war 9,15 f. zu lesen; dort waren noch Fische dabei (vgl. V.42), aber auch kein Wein, der bei der gewöhnlichen Mahlzeit nicht üblich war. Beide Geschichten erinnern auch an das letzte Mahl Jesu, an dem freilich die zwei nicht teilnahmen (s. Schl.). Auf das Geheimnis des Herrenmahls weist die Öffnung ihrer Augen, die übrigens nicht Voraussetzung, sondern Gabe der Tischgemeinschaft mit Jesus ist, und sein Verschwinden. Mit der vollmächtigen Auslegung der Schrift und der Hinführung zur Tischgemeinschaft mit ihm ist das Ziel erreicht. Festhalten, so wie man einen Freund festhält, um ihn stets verfügbar bei sich zu haben, kann man Jesus nicht. Er kommt im Wort und in der Mahlgemeinschaft; aber nie hat der Mensch ihn einfach zur Verfügung. Wo das Herz so brennt (Ps39[38],4; Test.N. 7,4), daß ein Mensch nicht mehr loskommt von Jesus und ihn um sein Blei­ ben bittet, lebt er schon bei ihm. Freilich erkennen die zwei erst rückblickend, daß sich ihnen die Schriften öffneten, längst bevor sich ihre Augen öffneten. Eine Sen­ düng fehlt; doch führt die Begegnung unmittelbar zum Zeugnis. Ihre Bewegung von Jerusalem weg ist durch den Auferstandenen eingeholt und in die Gegenrichtung verwandelt worden. V.34 ist wohl geprägter Satz der Ostertradition. Er ist wichtig, weil damit die Ersterscheinung vor Simon (vgl. zu 5,8 Einl.; l.Kor 15,5) auch gegen­ über den Emmausjüngern festgehalten bleibt, zweifellos ist wie in den alttestamentlichen Gotteserscheinungen ein wirkliches Sehen gemeint (wörtlich: „er wurde gese­ hen von Simon“); denn l.Kor 9 , 1 ; Joh 20,18.25.29 und sämtliche Ostererzählungen verstehen so. Ausdrücklich wird zum Schluß das Stichwort „Brotbrechen“ genannt: dort tritt der Erhöhte in die Mitte seiner Gemeinde. Die Geschichte beginnt mit dem zerbrechen eines „Kinderglaubens“. Ihre Illusio­ nen sind den beiden Jüngern genommen. Sie haben nur Worte, die nicht weiterhel­ fen. Sichtbar ist der Erfolg der andern; die jüdischen Behörden und die Römer haben ihre Ziele erreicht. Und gerade in diese Situation hinein kommt Jesus mit seinem Zuspruch, unerkannt in Gestalt irgendeines Mitwanderers. Die Ausweglosigkeit mit ihrem Diskutieren schafft einen Freiraum von Zeit, in dem er zum Reden kommen kann. Die beiden lassen sich fragen; dadurch kann sich ihr Kummer und Zweifel artikulieren. Was ihren Glauben hindert, ist ihr Glaube an ein C hristusbild, dem Jesus nicht entspricht. Er müßte doch auf der Seite der Hilfe, nicht der Not stehen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 24, 13-35: Wort und Mahl: Gottes Unverfügbarkcit

Schon drei Tage lang - und das kann lange sein - ist nichts als Katastrophe und Schandtod zu sehen. So ist der Irrglaube seiner sicher, während die Fragen von Jesus kommen. Zwar gibt es Menschen, die am Grabe eine Gotteserfahrung machten, ja Engel, die Heil verkündeten, die zwei können das sogar wiederholen und halten es für wahr; aber es bleibt für sie leere Tradition. Die Wende kommt nicht von irgend­ einem Wunder her, sondern von der Schrift. Freilich müßte sie nicht mit trägem, sondern mit beweglichem Herzen gelesen werden. Sie erschüttert jedoch die Sicher­ heit ihres Unglaubens soweit, daß sie das Gespräch nicht einfach abbrechen. Auch äußerlich setzt der einbrechende Abend und das erreichte Haus ihrem Weiterwan­ dern eine Grenze. So werden sie erst recht zu Empfangenden. In der Tischgemein­ schaft schenkt Jesus die Wirklichkeit seiner Gegenwart; sein Wort nimmt die Gestalt sichtbarer Gabe an. Dabei ist die Tischgemeinschaft mit dem irdischen oder erhöh­ ten Jesus als solche entscheidend, und man kann nicht mehr scharf scheiden zwi­ schen der in der Gemeinschaft des Glaubens genommenen Alltagsspeise und dem Herrenmahl im größeren Kreis der Gemeinde, wo der festliche Wein dazukommt: Lk 5,27-32; 19,1-10; Apg 2,42-46; 20,7-12; 27,35. Schon hinter dem „brennen­ den Herzen“ stand er, noch viel mehr hinter dem Wunder der aufgegangenen Augen. Dabei fehlt aller überirdische Glanz, so eindeutig das nicht von Menschen her erklärliche Wunder des Gotteshandelns ist. Was als „überirdisch“ sichtbar wird, ist merkwürdigerweise nur Jesu Verschwinden. Damit ist in äußerster Zuspitzung ge­ sagt, daß Gott sich dort, wo er sich ins Leben des Menschen hineinbegibt und sich als Gott erweist, nie in dessen Hände gibt, so daß der Mensch ihn dingfest machen könnte. Darum können die beiden auch nur erzählen von seinem Handeln, ohne eine Formel zu haben, mit der sie den Lebendigen bewältigen könnten. Dabei erfahren sie, daß sie selbst gestärkt werden durch die Erfahrung der andern, daß also Glaube, so sehr er dem einzelnen geschenkt wird, sofort Gemeinde schafft. So ist der Leser gefragt, wo er sich auf diesem Weg befindet: bei den Ratlosen, mit denen Jesus doch schon wandert, bei denen, die sich besinnen und sich fragen lassen, die die Verkündi­ gung anderer gehört haben, die sich ihr Herz von der Schrift bewegen lassen, die nicht loskommen davon und ihre Unruhe nicht einfach abbrechen wollen, oder gar bei denen, deren Augen in der Tischgemeinschaft mit dem Auferstandenen aufgetan worden sind, so daß sie ihren Weg zu den andern finden.

Der Weg in die Zukunft der Gemeinde - Gabe des Auferstandenen 24,36-53 36 Während sie das redeten, trat er selbst in ihre Mitte und sagt zu ihnen: Friede mit euch. 37Sie aber erschraken und gerieten in Angst und meinten, einen Geist zu sehen. 38 Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so verwirrt und weswegen steigen Zweifelsgedanken in euren Herzen auf? 39 Seht meine Hände und Füße, daß ich selbst es bin. Berührt mich und seht, daß ein Geist nicht Fleisch und Knochen hat, wie ihr seht, daß ich sie habe. 40 Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und Füße. 41 Da sie aber immer noch ungläubig blieben vor Freude und staunten, sprach er zu ihnen: Habt ihr einen Bissen zu essen hier? 42 Sie aber gaben ihm ein Stück gebratenen Fisch. 43 Und er nahm es und aß vor ihnen. 44 Er sprach aber zu ihnen: Dies sind meine Worte, die ich zu euch geredet

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Lk 24,26-53: Analyse

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habe, als ich noch mit euch war, daß alles, was im Gesetz Moses und in den Pro­ pheten und Psalmen über mich geschrieben ist, erfüllt werden muß. 45 Da öffnete er ihren Sinn, die Schriften zu verstehen. 46 Und er sprach zu ihnen: So steht es geschrieben, daß der Christus leiden und am dritten Tag von den Toten auferste­ hen 47 und daß in seinem Namen Umkehr zur Vergebung der Sünden verkündigt werden muß, angefangen in Jerusalem. 48 Ihr seid Zeugen dafür. 49 Und siehe, ich sende die Verheißung meines Vaters über euch; ihr aber bleibt in der Stadt, bis ihr mit Kraft aus der Höhe bekleidet werdet. 50 Er führte sie aber hinaus bis nach Betanien und erhob seine Hände und segnete sie. 51 Und es geschah, während er sie segnete, da schied er von ihnen und wurde in den Himmel aufgenommen. 52 Und nachdem sie anbetend niedergekniet waren, kehrten sie nach Jerusalem zurück mit großer Freude und waren allezeit im Tempel und segneten Gott. Der Abschnitt beginnt mit dem Auftreten des Helfers. Eine gewisse Not tritt erst als Reaktion auf (V.37, nochmals 41; vgl. zu 5,8). Hilfe wird durch eine Frage und durch sichtbare Zeichen gebracht (38-43), vor allem aber durch Belehrung (aus der Schrift, 44-48). Ihr folgt eine Aufforderung zum Handeln, das die erhoffte Hilfe bestätigen wird, was erst in der Apostelgeschichte geschieht (49). Der Weggang des Helfers bildet den Schluß (50f.), während das Gotteslob in Jerusalem (52f.) das ganze Buch abschließt, wie es dieses auch begonnen hat, zugleich aber schon den Beginn des V.49 Angesagten darstellt. Die Folge von erster Begegnung (36-43), Belehrung aus der Schrift (44-46), Wendung zu den Heiden (47) und weitergehen­ dem Zeugnis (48f.) findet sich ähnlich Apg 28 (17-22/23-25 a/25b-28/30f.), die von Erscheinungen vor einzelnen und vor allen Jüngern Mt 28(9f./16-20) und Joh 20(11-18/19-29). Wie im Vorigen wird Hilfe nicht dem Glauben zuteil, son­ dern besteht in der Gabe des Glaubens. Die Verknüpfung (36 a) mit dem schon V.34f. Erzählten findet sich ähnlich 22,47 = Mk 14,43; 22,60 = S. Sprachlich könnte sie vorlukanisch sein, während die Beschreibung von Furcht und Unglauben in 37.41 den Stil des Lukas zeigt. Ihm liegt daran, den Glauben ganz als Geschenk Jesu, als „durch ihn (geschenkten) Glauben“ (Apg 3,16) darzustellen. Die durch die Tradition vorgegebene Spannung zu V.34f. versteht er wohl so, daß Glaube immer durch Zweifel und Rückfälle, neues Hören und Sehen hindurch wächst und schließ­ lich seine Erfüllung im Ablegen des Zeugnisses für Jesus findet. Der älteste Papyrus und die meisten Handschriften enthalten V. 36 b (mit auffälliger Gegenwartsform, s. zu 16,23 Einl.).40.51b.52a, die in der gleichen Gruppe fehlen wie 22,19b.20; 23,34a; 24,12 (s. Einführung zur Apg, NTD 5, 7.2). Wie dort ist eher an spätere Auslassung als an Hinzufügung zu denken; daß die Himmelfahrt V. 51b schon im Evangelium stand, beweist Apg 1,2. Wurde der Friedensgruß weggelassen, weil er Furcht auslöst, V. 40, weil der Unglaube dann noch unmöglicher erscheint, V. 51b wegen Apg 1,11 (erst nach 40 Tagen!)? Lukanischer Stil ist deutlich; unlukanische Wendungen sind wenig zu verzeichnen; mit Joh 20,19f. stimmen V. 36b.39-41 weithin überein. Vielleicht ist mit mündlicher Überlieferung zu rechnen, die nur einige schon fest geprägte Kernsätze enthielt. Das Geheimnisvolle des Kommens Jesu entspricht seinem Verschwinden in V.31. 36 Der im Zeugnis der Jünger schon Gegenwärtige tritt aus seiner Verborgenheit her© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 24,36-45: Auferstehung des Fleisches

aus, ähnlich wie V.25-27/30f. Mit ihm kommt der Friede über sie. Dabei denkt sich 37 Lukas die Szene wohl beim Mahl (V.41-43; Apg 1,4; 10,41; vgl. Joh 21,13). Die Vorstellung vom Weiterleben eines „Geistes“ erregt bloße Furcht. Ignatius (Sm 3,2) spricht in diesem Zusammenhang von einem „körperlosen Dämon“; für ihn wie für Lukas wäre das nur ein Gespenst (so einige Handschriften wie in Mk 6,49), während die Griechen, für die Körperlosigkeit paradiesisch ist (Lukian, Wahre Gesch. 2,212), 38 die Seligen so bezeichneten. Für die Bibel ist das noch nicht Glaube, sondern bloßes 39 Gedankengespinst. So leibhaft denkt sie, daß ein bloßer „Geist“ nicht mit dem „Ich“ (betont wie Mk 6,50) Jesu gleichgesetzt werden kann, selbst wenn man ihn als En­ gel, nicht als Dämon bezeichnete (vgl. Apg 12,15; 23,8f.). V.39 ist die einzige bi­ blische Stelle, die von „Fleisch und Knochen“ des Auferstandenen spricht. Für die Griechen wäre das der Beweis, daß er noch im irdischen Leben stünde (Philostrat, s. zu 13-35 Einl.). Das widerspricht freilich l.Kor 15,50; zwar ist Auferstehung über­ all leiblich gedacht, aber der neue Leib ist derart anders (l.Kor 15,35-45), daß man ihn nicht mit „Fleisch und Knochen“ gleichsetzen kann (Lk 20,35f.). Das gilt fak­ tisch auch hier, wie Jesu Verschwinden und Kommen zeigt; nur ist eine griechische rein geistige Auferstehungsvorstellung kraß zurückgewiesen. Auch hier unterschei­ den sich also „Fleisch und Knochen“ Jesu total von menschlich-irdischen. Doch verleitet der Ausdruck und die Demonstration des Essens dazu, sich Auferstehung als bloße Wiederbelebung vorzustellen, ohne das menschlich unvorstellbar Andere ernst zu nehmen. „Auferstehung des Fleisches“ ist von da her ins Glaubensbekenntnis eingedrungen. Das ist gegenüber der Reduktion der Auferstehung auf ein Weiterle­ ben irgendeines Geistes verständlich, heute aber höchst mißverständlich geworden. Falls Lukas annimmt, daß Hände und Füße die Nägelmale aufweisen (vgl. Joh 20,25 und zu Mt 27,35), ist wie Offb 5,6 damit festgehalten, daß die Auferstehung das Gekreuzigtsein nicht einfach auslöscht, weil es jetzt erst recht wichtig wird, daß 40 Jesus diesen Weg gegangen ist. V.40 zeigt, daß es nicht nur um Betasten von Körper­ gliedern geht. Dies wie das Essen von Fisch ist Joh 20,27; 21,10 verwandt, ebenso die Freude der Jünger (Joh 20,20). Sie zeigt wie die Trauer von 22,45, daß ihr Un­ glaube nicht prinzipiell, sondern auf die menschlich kaum zu bewältigende Größe des Ereignisses zurückzuführen ist (vgl. zu Mt 28,16-20 Schl.; ähnlich Apg 12,14; 42 Livius XXXIX 49,5). Fisch gab es auch in Jerusalem (Neh 13,16); einige Zeugen fügen Honig hinzu, vielleicht weil er später zu Taufe und Herrenmahl gehörte (und 43 der Fisch Symbol für C hristus wurde). Auch die Gottesgestalten l.Mose 18,8 essen 44 (anders Ri 13,16; Tob. 12,19). Nur hier werden, eingeleitet wie 5.Mose 1,1, im Neuen Testament neben Gesetz und Propheten auch die Psalmen (oder „Schriften“ = alle übrigen Bücher) genannt (s. zu V.27). Lief die vorige Geschichte von der Schriftdeutung zur sichtbaren Begegnung, so hier umgekehrt. Dabei wird wie 24,6 auf Jesu Lehre zurückverwiesen, die für die Auslegung der Schrift verbindlich bleibt. Die nachösterliche Erkenntnis ist also nichts absolut Neues, so sehr der, der als Irdi­ scher „bei ihnen war“ (wie er es jetzt nicht mehr ist!), erst von ihr her den Jüngern verständlich wird. Das entspricht ganz dem Joh 14,26 vom „Beistand“ Gesagten. Auch Paulus verweist nach Apg 20,35, freilich in anderem Zusammenhang, auf Jesu 45 Lehre. Neu ist, daß Jesus jetzt den Jüngern das Verstehen der Schrift schenkt (s. zu V.27). Nur wer ihn versteht, hat also die Schrift verstanden; das aber ist noch einmal © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Lk 24,46-51: Das Leben des Auferstandenen in seinen Zeugen

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Geschenk des Auferstandenen selbst und kann nicht einfach einsichtig gemacht werden. Vom Leiden des Christus sprechen auch 24,26; Apg 3,18; 17,3; Leiden und Auferstehen oder meistens Auferwecktwerden (am dritten Tag: 9,22; 24,7; vgl. Apg 10,40) sind 9,22; Apg 17,3 verbunden. Der Name Jesu, (Umkehr und) Verge­ bung der Sünden und Zeugenschaft der Apostel (= die Zwölf, die freilich in einer größeren Gruppe weilen: 9,33, vgl. 6,13; Apg 1,21) erscheinen auch Apg 2,32f.38; 3,15f. 19; 5,28-32; 10,39.43 zusammen. „Zur Vergebung der Sünden“ steht auch l Qtglob 38, 2f. Es ist für Lukas typisch und zeigt, daß er Vergebung aufgrund der Umkehr, nicht erst beim letzten Gericht erwartet. Dagegen spricht schon das Perfekt in 7,47f., nicht nur im ursprünglichen Verständnis des Gleichnisses, wonach die Dankbarkeit auf die schon gewährte Vergebung folgt, sondern auch in der lukanischen Deutung. Auch 18,14 sagt vom Zöllner, er sei gerechtfertigt worden. Zur „Umkehr“ (s. zu 5,32) gerufen werden Volljuden und Heiden (Apg 17,30), nicht aber Diasporajuden und gottesfürchtige Heiden (10,2.43; 13,16.38; doch vgl. 11,18). Wichtig ist, daß das Heilsgeschehen (Tod und Auferstehung) die Verkündi­ gung einschließt (ebenso Apg 17,3; 26,23; 3,15; 5,30-32; 10,41; 13,30f.); denn V.47 ist immer noch von „ist geschrieben“ abhängig (vgl. „sein Name“!, auch Apg 10,43; 13,47). In seinem „Namen“ ist er selbst gegenwärtig (s. zu 10,17). Das Christusgeschehen umfaßt also auch die Verkündigung in Wort und Tat, weil sich der C hristus durch seine Boten selbst verkündigt. Vor Juden und Gottesfürchtigen wird dabei immer auf die Schrift verwiesen (Apg 10,43; 13,29), vor Griechen gerade für Gottes Nähe auf griechische Dichter (Apg 17,28). Zum erstenmal erscheint die Heidenmission (49; vgl. Mk 13,10 [nicht bei Lk]; Mt 28,19f.), typischerweise zusammen mit dem Begriff der „Zeugen“ (martyres), die dafür auch zu sterben bereit sind (Apg 1,8; 22,20). Den Schriftbeweis dafür findet Justin (D. 109 [in Ab­ wehr jüdischer Gegenmissionen, D. 17,1?]) in Mi 4,1-7. Der Geist wird von Jesus geschickt (wie Apg2,33; Joh 15,26; 16,7; vgl. 20,21-23; von Gott: Apg5,32; Joh 14,16.26). Er ist „Kraft“, die nicht innermenschlich erklärbar ist. Das Bild vom Bekleidetwerden oder Anziehen ist im Alten Testament („Kraft“ Ps 93[92],l und oft) und bei Paulus häufig; vom Geist heißt es umgekehrt, er habe den und den ange­ zogen (Ri6,34; l.C hr 12,19; 2.C hr24,20). Wie am Anfang auf die Schrift ver­ wiesen wird (44), so am Ende auf Jerusalem, das die Kontinuität mit der bisherigen Geschichte Gottes darstellt. Darum muß auch der erste Schritt über Israel hinaus von Jerusalem aus bestätigt werden (Apg 8,14-17; vgl. Röm 15,19f.), ohne daß dieses aber eine kirchenrechtliche Autorität bekäme. Die Kollekte der Heidenchristen für Jerusalem, die auch ein Akt der Anerkennung seiner Stellung war (Gal 2,10), hat Lukas, obwohl er von ihr weiß (Apg24,17), durch eine rein charitative, von charis­ matischen Propheten angeregte Spende ersetzt (Apg 11,27-30). Das Buch schließt damit, daß Jesus tut, was der Priester in 1,22 nicht mehr konnte: er segnet, und zwar seine Jünger zum Dienst. Das Erheben der Hände, wie beim Hohenpriester Sir. 50,20 f., läßt den Segen leibhaft sichtbar werden. Wie vor Ostern bleibt Jesus Führer (vgl. Joh 21,19f.), jetzt nach Betanien (19,29). Wie V.31 folgt das Ver­ schwinden Jesu; doch wird es jetzt als Himmelfahrt beschrieben. Das kann eigentlich nur am Ostersonntag gedacht sein; aber vgl. zu 3,20. Ist sie abschließend oder denkt sich Lukas, daß der Auferstandene vom Himmel her (40 oder „etliche“ Tage lang, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Lk 24,51-53: Himmelfahrt: Übergang zur Verkündigung

Apg l , 3 ; 13,31) seinen Jüngern erscheint? Nach V.26 weilt er ja schon in der „Herrlichkeit“. In der Kirche ist Himmelfahrt erst ein Jahrhundert später auf den 40. Tag gelegt, vorher zu anderem Zeitpunkt, auch mit Ostern zusammen, gefeiert 52.53 worden. Erst hier, nicht im direkten Gegenüber, erfolgt Anbetung, wie sie sonst nur Gott zuteil wird. Lukas kennt zwar auch 5,12; 8,28.41; 17,16 ein Niederfallen vor Jesus, nicht aber ein anbetendes wie Mk5,6 (Mt8,2; 9,18; 14,33; 15,25; 20,20). Vielleicht wählt er hier das andere griechische Wort, weil Himmelfahrt in helleni­ stischen Geschichten zur Anerkennung der Göttlichkeit führt (Sophokles, Oed.-C ol. 1654; Plutarch, Rom.27,8f.; Lukian, Peregr.39; vgl. Ri 13,20; Sir.50,20-22). In ihr hat Gott Jesus „zum Herrn gemacht“ (Apg2,36); die Anbetung der Jünger anerkennt das im Gotteslob. Wie Apg 1,3-8 die Erscheinungen des Auferstandenen erwähnt, so Lk24 schon die Himmelfahrt. Beide Bücher sind so miteinander ver­ zahnt. Wie in den anderen Evangelien ist Auferstehung Jesu nicht Befriedigung menschli­ cher Sehnsüchte; von der Auferstehung der Jünger ist kein Wort gesagt. Er ist aufer­ standen; er ist Herr geworden, vor dem die Jünger auf die Knie fallen. Eher ist es Indienstnahme (auch Gal l,16; l.Kor 9,1), freilich bei Lukas ohne eigentlichen Befehl, in der Form der Verheißung des Geistes (49; vgl. Joh 20,22). Obwohl Lukas solchem Mißverständnis nahekommt, entsteht Glaube auch für ihn nicht durch Erfahrung eines Mirakels. Selbst das Vorzeigen von Händen und Füßen überwindet ja den Unglauben nicht (41; vgl. 23 f.), sondern erst das Wort, das den Jüngern die Schrift öffnet, die Jesu Weg durch Leiden zur Auferstehung als Gottes Weg aufweist. Darauf wies schon der Irdische. Als Auferstandener schenkt er darum auch den Glauben (44-48; Apg 3,16; 16,14), während der Geist den schon Glaubenden, schon Gehorsamen (Apg 2,38; 5,32) gegeben wird als Kraft zum Leben im Glauben, vor allem zur Verkündigung Jesu in Wort und Tat. Wenn Lukas von Fleisch und Knochen spricht, ist das nicht mehr vorstellbar, da Jesus in einer völlig anderen Lebensdimension kommt und verschwindet, auch etwa gleichzeitig dem Petrus er­ scheinen und nach Emmaus wandern kann. Wichtig ist daran aber, daß er selbst sich lebendig erweist. Nicht nur seine Sache geht weiter, sondern der lebt, den man anbe­ ten kann. Auch mit Begriffen wie „er selbst“ oder „seine Person“ kommen wir der Wirklichkeit nur nahe, ohne sie je ganz beschreiben zu können. Daß Apg 1,11 sein Kommen am Ende der Welt analog zu seinem Abscheiden versteht, unterstreicht dasselbe. Auch das ist nicht mehr menschlich vorstellbar; aber das Bild einer Begeg­ nung von Mensch zu Mensch ist dafür offenbar das beste. Ihm selbst werden seine Jünger begegnen, wenn alle Geschichte zu ihrer Vollendung kommt. Darum schließt das Evangelium mit der „großen Freude“, die die Engel 2,10 ausriefen und die jetzt Wirklichkeit geworden ist und immer wieder wird, wo Menschen im Glauben dem lebendigen Herrn begegnen.

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Rückblick 1-2

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Rückblick 1.Lukas enthält keine eindeutige Lehre über Christus. Jesus ist „Prophet“ (13,33; vgl. 7,16; 24,19) oder „der Prophet (wie Mose)“ (Apg3,22f.; 7,37), „Retter“ oder „Anführer“ (Lk2,11; Apg3,15; 6,31; 13,23). Ob „Gottesknecht“ den Leidenden be­ schreibt (Apg3,13.26) oder den König (wie David, Apg4,25-30; Lk l,69), bleibt unklar. Anders als bei Markus und Q heißt schon der irdische Jesus „Herr“ (s. Einführung, 2c); aber Apg2,36 erklärt, Gott habe ihn in der Auferstehung dazu gemacht. „Gottessohn“ ist er nach Lk l,35 durch seine wunderbare Geburt, nach 3,23-38 durch seine Abstammung von Adam, nach Apg l3,33f. durch seine Aufer­ stehung (s. A. nach Mk 15,39). Er ist ein von Gott ausgewiesener „Mann“ (Apg2,22; 17,31) und als solcher „Christus“, „Menschensohn“ und „Gottessohn“, was in Lk 22,67-70 alles gleichwertig zu sein scheint. Das ist jedenfalls nicht sehr klar. Ebenso undeutlich ist die Begründung des Heils (s. zu 7,19) in Jesu Tod. Sie er­ scheint ausdrücklich nur in zwei mechanisch übernommenen Formeln, die nicht einmal in den Zusammenhang eingefügt sind (s.A. nach 22,30,a). Dabei betont Lukas Jesu Leidensweg weit stärker als die anderen Evangelien (s. zu 9,31). Man könnte sogar fragen, ob nicht Menschen wie Elisabeth, Simeon und Hanna in Lk l f. oder Cornelius in Apg 10 Gerechte sind, die nichts weiter als die Erkenntnis Jesu als des Messias nötig haben. Aber gerade Lk 3,7 läßt den Umkehrruf des Johannes allen gelten, 15,1 f. zeigen redaktionell, daß es die 99 Gerechten, die der Umkehr nicht bedürfen, eben doch nicht gibt, und Apg 11,18; 13,38; 15,9.11.19 wissen, daß auch die gottesfürchtigen Heiden Umkehr und Gnade nötig haben. Sondergleichnisse wie Lk 7,40-47; 15,25-32; 18,9-14 (vgl. zu 11,37-12,1 Schl, und 13,1-9 Schl.) sind geradezu gegen die Gerechten gesprochen. Vor allem sieht Lukas die Gefahr der Selbstgerechtigkeit und -Sicherung, freilich nicht nur beim Pharisäer (s.A. nach 21,24,b). Das zeigt die Bedeutung lukanischer Aussagen. Umfaßt Glaube den Men­ schen als ganzen, nicht nur sein Verstehen oder Fühlen, sein Hirn oder Herz, dann muß es Analogien geben zwischen dem, was sich im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu, und dem, was sich bei den Lesern des Evangeliums abspielt; Nach-Erfahrungen (oder bei den Menschen von Lk 1-2 Vor-Erfahrungen), die sich auf das gründen, was sich in Jesus als Wirklichkeit Gottes erwiesen hat (s. zu 1,5-2,52 Einl., A. nach 2,52,b.c und nach 22,30,b 2,3). 2. Jesus hat in Gleichnissen gesprochen, wenn er von Gott und seinem Reich, von Sünde und Vergebung, von Tod und kommendem Leben sprach. Er hat seinen Hö­ rern nie eindeutige, direkte Sätze geliefert, die sie einfach hätten annehmen, für wahr halten und nach Hause tragen, also „bewältigen“ können (s.A. zu Mk 4,1-9). Er hat ihnen auch nie einen Titel gegeben, in dem seine Bedeutung endgültig hätte begriffen und verstandesmäßig übernommen werden können. „Christus“ findet sich im Neuen Testament über 500mal, im Mund des irdischen Jesus nach den ersten drei Evange­ lien nur Mk 9,41 (wo aber Mt 10,42 die ältere Form ohne diesen Titel zeigt); 12,35 (aber nicht eindeutig auf Jesus bezogen); Mt 23,10 (wo aber V.8 die ältere, palästi­ nische Form desselben Wortes ist); Mk 13,21 und Lk24,46 sind nachösterlich. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

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Rückblick 2-4

Andere nennen Jesus „Sohn Gottes“ (Mk 14,61; 15,39; Mt 16,16; 27,43); er selbst spricht höchstens von „Vater“ und „Sohn“, womit die Unterordnung des Sohnes, nicht die Uberordnung über alle andern betont ist. „Gottesknecht“ ist er nur in Apg 3 f. und indirekt in dem Zitat Mt 12,18 genannt. Wahrscheinlich sprach er aber von sich als dem „Menschensohn“; doch war das noch kein anerkannter Titel, son­ dern wies auf das Geheimnis seiner Person hin: war er einfach „Mensch“ wie andere oder „der Mensch“ in einer von Gott geschenkten Einmaligkeit (s.A. zu Mk 8,2733 und zu Mk 8,30; 13,32)? 3. Das hat Lukas verstanden. Darum fehlen bei ihm die direkten Aussagen dar­ über, wer Jesus ist und wie sich das Heil des Menschen in ihm gründet. Sie könnten vom Leser als Definitionen verstanden werden, die ihm das Wissen und die Erkennt­ nis der Wahrheit vermittelten. Die Gleichnisse Jesu hingegen reden nur dann, wenn der Leser sie „von innen her“ verstehen lernt, d.h. wenn er so von ihnen bewegt und mitgenommen wird, daß er gewissermaßen in ihnen lebt. Dann geht ihm ihre Wahr­ heit auf, und obwohl es grundsätzlich die gleiche bleibt, morgen anders als die heute verstandene. Genau dasselbe wiederholt sich, wenn Lukas nicht einfach Lehren über Christus und sein Heil vermittelt, sondern eine Fülle von Geschichten erzählt. Auch sie entfalten sich nur dem, der anfängt, in ihnen zu leben, sich von ihnen mitnehmen zu lassen. Es mag auch heute diese, morgen jene Geschichte sein, in der Gott zu ihm spricht. Wer Jesus ist und was er für den Glauben bedeutet, das kann jedenfalls nur im gesamten Reichtum der Tradition gesagt werden. Dazu gehört Jesu vollmächtiges Heilen genau so wie seine Ohnmacht am Kreuz, sein Zusammensein mit Zöllnern und Dirnen wie seine Verwerfung durch seine Mitbürger, das Wunder seiner Geburt wie seine Abweisung aller Zeichenforderungen, seine Gerichtsreden mit ihrem „Wehe!“ wie seine Gleichnisse von Gottes suchender Liebe. Tatsächlich hat kein anderer im Neuen Testament das Bild Jesu und damit das Leben der Gemeinde derart geprägt: die Weihnachtsgeschichte, den zwölfjährigen mit seinem Wissen um den Vater, den Prediger in Nazaret, den Petrus wunderbar Berufenden, den den einzi­ gen Sohn der Witwe vom Tod Erweckenden, den für die Dirne und den Mitgekreu­ zigten Offenen, den in Getsemani in blutigem Schweiß Ringenden und selbst für seine Folterer noch Betenden, den Wandergefährten der Emmausjünger, den Erzäh­ ler der Gleichnisse vom barmherzigen Samaritaner, vom verlorenen Sohn, vom Pharisäer und Zöllner usw. - das alles und damit eine durch die Jahrhunderte hin­ durch Glauben prägende Verkündigung verdanken wir Lukas. Diese Konzentration auf Jesus und das in ihm liegende Heil unterscheidet daher auch Lk-Apg von den formal verwandten Lebensbeschreibungen der Philosophen durch Diogenes Laertius (3. Jh. n. Chr.!), wo sich Leben des Meisters, Leben der Schüler und Darstellung der Lehre folgen. 4. Stärke und Schwäche der Darstellung treten bei Lukas besonders deutlich zutage. Wie sich Kreuz und Auferstehung, die große Bedeutung des Leidens Jesu im Evangelium und auch des Leidens der Gemeinde in der Apostelgeschichte zu den Wundererfahrungen oder wie sich der Geschenkcharakter des Glaubens zur stark betonten Bekehrung des Menschen verhalten (s. zu 4,31-44 Einl.; 9,31; 22,32; Apg 5,32), ist nicht leicht zu beantworten, zweifellos hat Paulus diese und andere Fragen besser geklärt. In Zeiten der Auseinandersetzung mit Irrglauben bietet er eher © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513620 — ISBN E-Book: 9783647513621

Rückblick 4

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Hilfe. Aber wie ist er mißbraucht worden, z.B. in der gnostischen Bewegung oder in gewissen Sparten moderner Existential-Philosophie, die zwar so etwas wie seine Rechtfertigungslehre übernahmen, aber dazu keinen Jesus von Nazaret mehr nötig hatten! Auch findet sich bei Lukas keine klare, ununterbrochene heilsgeschichtliche Linie vom Alten Testament zu Jesus und von ihm zum Ende aller Zeiten hin. Mt 1, 1-17 und selbst Paulus sind hier deutlicher (s. A. nach 4,14-30,a). Aber wie ist solche Heilsgeschichte mißbraucht worden von denen, die darin die Rechtferti­ gung der scheußlichsten Judenverfolgungen fanden! Dagegen ist der Mißbrauch des Lukas zur Stützung einer von Wundern begleiteten, garantiert von Gott geführten Kirche fast harmlos. Dennoch, wo es um möglichst klare Abgrenzung gegenüber falschem Verständnis geht, sind Paulus und andere Briefverfasser, aber auch die übrigen Evangelien im ganzen hilfreicher. Wo es aber darum geht, zu echtem, das Ganze des Menschen umfassendem Glauben zu führen, ist die lukanische Konzentration auf eine Fülle von Berichten über Wirken und Lehren Jesu mit ihrem Verzicht auf C hristustitel und Lehrsätze, die diese lebendige Fülle einzuschließen vorgeben, der Gleichnisverkündi­ gung und den nicht einfach erklärten Zeichenhandlungen Jesu näher als irgendeine andere Schrift. Lukas hat bei Jesus gelernt, daß man von Gott letztlich nur recht reden kann in der Form der Erzählung, die ständig zurückverweist auf das von Gott mitten in unserer Geschichte Getane. Bei Lukas ist das Wort wirklich Fleisch, Gott wirklich Mensch geworden (vgl. Joh 1,14). So wenig die historischen Einzelheiten gesichert sind, so sehr unterscheidet sich dieser Bericht doch von allen Mythen, die nur eine zeitlos gültige Wahrheit in erzählende Form fassen; denn Lukas verweist eindeutig ständig auf Jesus von Nazaret, der in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gelebt hat, gestorben und auferstanden ist. Darum ist Lukas auch die Einzigartigkeit Gottes so wichtig. Das zeigt schon die Statistik; „Gott“ findet sich in Mk 48-, Mt 5 1 - , Lk 122-, Apg 166mal. Nur er ist von Engeln umgeben (s. zu 21,38), nicht C hristus. Aber dieser Gott ist nirgends anders unzweideutig zu finden als in Jesus von Nazaret. In seinem Handeln an den von ihm erreichten Menschen erweist sich Gott, in der Zeit des irdischen Dienstes Jesu wie in der Gemeinde des Auferstandenen. Daß Lukas nicht nur ein Evangelium, sondern auch eine Apostelgeschichte schrieb, ist die selbstverständliche Konsequenz dieses Verständnisses. Im gesamten Neuen Testament wird die Auferstehung Jesu selbst nie geschildert, also das Han­ deln Gottes an Jesus an und für sich, wohl aber das Gotteshandeln an Jesus, wie es sich an seinen Jüngern auswirkte. Insofern sind Mk 16,1-8; Mt 28 und Joh 20f.; l.Kor 15,5-11 genau so Apostelgeschichten wie das zweite Buch des Lukas. Nur erweist sich darin noch einmal, daß Lukas sehr gut verstanden hat, daß auch vom Wunder Gottes am getöteten und begrabenen Jesus nur in der Fülle der Geschich­ ten, die dieses Handeln Gottes widerspiegeln, erzählt werden kann.

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Namen- und Sachweiser (A. = Themat. Ausführung; An. = Analyse; Z.= Zusammfassung) A

D

Abendmahl, Herrenmahl 14,1-6 An.; 14, 7-14 Z.; 22,15-20 An.; 22,14-19.30; 24,31; 24,13-35 Z. Abschiedsreden 22,21.28; 22,30 A. Kreu­ zestod Jesu Adam 3,23-28 Almosen 12,22-34 Z. Altes Testament 1,1-4 Z.; 1,67-80 An.; 2,38 A. Israel und die Völker; 4,30 A. Heilsgeschichte; 4,31; 9,51-19,27; 10, 17-20 An.; 16,14-18 Z. Apostel 1,2; 4,14-20 An.; 6,13; 20,16; 22,26; 24,12; s.a. Jünger Apostelgeschichte 1,1 Arme 6,20b; 16,19-31 An.; 16,19-21; 16,19-31 Z. Auferstehung - der Toten 9,7.8; 14,14; 16,23; 20,27.34-40; 21,38 A. Endgültiges Kom­ men; 24,39 -Jesu 16,29-31; 24,37-40; 24,36-53 Z. Augustus 2,38 A. Israel und die Völker; 3,2

Dämonen 10,17-20 An.; 11,14.27.28 Darstellung Jesu 2,23-24 Davidssohn 1,26-38 An.; 1,32; 1,69; 1,67-80 Z.; 2,4.5; 18,42 Dreieinigkeit 1,26-38 Z.

B Bekenntnis 19,6 Berg 6,12; 9,28-36 An. Beruf 19,1.2 Berufung(sgeschichte) 1,5-25 An.; 5,1-11 An.; 5,10 Besitz, Geld 12,15; 14,25-35 Z.; 16,8-12; 16,1-13 Z.; 18,15-30 Z. „Besuch“ Gottes 1,68; 1,67-80 Z.; 7,16; 19,43 Beten -» Gebet Bultmann, R. 4,30 A. Heilsgeschichte Bund 13,10-17 Z.; 22,20.29 C Chiasmus 1,67-80 An. Christus 4,17.18.19; 9,20.26; 23,35; Rück­ blick 1.2.

E Elija 1,5-2,52; 1,17; 1,67.76; 3,15-20; 7,11-17 An.; 7,14.15; 9,7.8; 9,31; 9,55; 9,57-62 An.; 23,36 Endzeit 2,38 A. Israel und die Völker; 2,52 A. C hristusverkündigung; 4,14-20 An.; 4,18.19.21; 6,20b; 7,21; 9,35; 10,17-20 An.; 12,52; 13,31-35 Z.; 17,1.2; 17,20-37 Z.; 21,5-38 An.; 21,8.9.24.32; 21,38 A. Endgültiges Kommen; 22,15. 16.18 Engel 1,12.18.19; 1,26; 2,9.13.14; 9,26; 21,27; 22,43; 24,39 Erfahrung 4,30 A. Heilsgeschichte; 5,1-11 Z.; 10,17-20 Z.; 10,21-24 Z.; 22,30 A. Kreuzestod Jesu; Rückblick 1. Erfüllung 1,57; 1,71; 2,26; 2,38 A. Israel und die Völker; 4,14-20 An.; 7,21; 21,22.23; 21,38 A. Endgültiges Kommen Erhöhung-» Himmelfahrt Erwählung 1,29; 2,14; 2,1-20 Z.; 2,32; 9,35; 10,17-20 An.; 17,20-37 Z.; 22,21 Erzählung 1,5-2,52; 2,1-20 An.; 4,30 A. Heilsgeschichte; Rückblick 4. Ethik 3,10-14; 6,20-49; 16,17.18 Evangelium, Frohbotschaft 1,14.19; 1,525 Z.; 2,38 A.Israel und die Völker; 3,11. 10-14; 4,30 A. Heilsgeschichte; 4,43; 21, 24 A. Israel F Frau(en) 1,26-38; 1,39.40; 1,39-56 Z.; 2,36; 8,1-3; 10,39; 13,11-13; 13,10-17 Z.; 14, 26; 23,27; 23,49; 24,3.4.10 Freiheit 15,11-32 An.; 23,1-25 Z.

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Namen- und Sachweiser

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Freude 1,14; 1,5-25 Z.;2,10;15,1-10Z.; 15, 24.32; 15,11-32 Z.; 19,43; 24,36-53 Z. Friede 1,67-80 Z.; 2,14; 2,29; 2,21-40 Z.; 10,5.6; 12,52.49; 19,38.41.42.43 Frohbotschaft -» Evangelium

G Galiläer 13,1-9 An.; 23,6; 24,6 Gebet, Beten 5,33.34; 9,18; 10,2-4; 11,1-13; 18,1; 18,1-8 Z.; 18,9-14 An.; 18,11; 22,39-46 An.; 22,40-46 Gebote -> Gesetz Geist Gottes/Jesu, „heiliger Geist“ 1,17; 1,26-38 An.; 1,43-46; 1,68.80; 2,40; 3,22; 4 , 1 ; 9,26; 11,9-13; 12,10.11; 21,15; 21,38 A. Endgültiges Kommen; 24,49; 24,36-53 Z. Geistbesitz 2,25; 3,16 Geister 10,17-20 An.; 24,37-39 Gerechte 15,1-10 An.; 15,7; 23,26-32 Z.; 23,47; 23,51; Rückblick 1. Gerechtigkeit Gottes 13,1; 16,19-31 Z. Gericht 2,35; 2,21-40 Z.; 3,7-20 An.; 3,16; 4,14-30 An.; 8,16.17.18; 12,3; 12,49; 16,9; 17,32.33; 18,14; 19,11-27 Z.; 21,38 A. Endgültiges Kommen Geschichte - 1 , 2 ; 1,1-4 Z.; 2,3.11; 21,24 -Israels 1,4; 2,38 A. Israel und die Völker Gesetz 1,6; 1,5-25 Z.; 2,21-40 An.; 2,21-22; 2,21-40 Z.; 4,30 A. Heilsge­ schichte; 5,12-6,11 An.; 6,5; 10,32.33. 34.35; 11,41.42; 16,17.18; 18,15-30 Z.; 21,24 A. Israel; 22,36a Gewalt 22,36b; 22,47-53 Z. Glaube(n) 1,38; 1,26-38 Z.; 1,45; 1,57-66 Z.; 2,1-20 An.; 2,16.18; 2,1-20 Z.; 2,52 A. C hristusverkündigung; 4,27; 4,30 A. Heilsgeschichte; 5,1-11 Z.; 5,12-6,11 An.; 7,9; 7,36-50 Z.; 8,18; 8,25; 8,47; 17,5.6; 17,1-10 Z.; 17,11-19 Z.; 19,1-10 Z.; 21,24 A. Israel; 21,38 A. Endgültiges Kommen; 22,30 Kreuzestod Jesu; 22,32; 22,39-46 Z.; 23,39; 23,33-49 Z.; 24,13-35 An.; 24,13-35 Z.; 24,36-53 An.; 24,36-53 Z.; Rück­ blick 1.4. Gleichnisse Jesu 12,37.38; 15,1-10 An.; 15,11-32 Z.; Rückblick 2.3. Gnade 2,35; 2,21-40 Z.; 2,52 A. Christus­ verkündigung; 3,7-20 An.; 4,22; 4,14-30 Z.; 19,9 Gnosis Einl. 3 b; 4,30 A. Heilsgeschichte; 21, 38 A. Endgültiges Kommen; Rückblick 4.

Gott - Einzigartig Rückblick 4. - Unendlich 11,22 - Unverfügbar 13,6-9; 15,11-32 Z.; 18,9-14 Z.; 24,13-35 Z. Gottesdienst 4,14.15.20.16; 4,30 A. Heils­ geschichte Gottesfurcht 1,50; 2,10 Gottesreich 3,15-20.21; 4,43; 6,20b; 9,1. 2.6; 9,27; 10,9; 10,17-20 An.; 10,19; 14, 15; 15,11-32Z.; 16,16; 17,20; 17,20-37 Z.; 18,1-8 Z.; 19,11-27 An.; 19,12.27; 21,31.32; 21,38 A. Endgültiges Kommen; 22,18.29; 23,42.43 Gottessohn 1,26-38 An.; 1,32.35; 1,26-38 Z.; 2,1-20 Z.; 2,49; 3,22.23-28; 9,35; 10,22; 20,15; 22,67.70; Rückblick 2. Gottessohnschaft 2,41-52 An. Griechentum 2,38 A. Israel und die Völker; 4,1-13 An.; 7,11-17 Z.; 8,12-15 H Hannas 3,2 Heiden 2,31; 2,38 A. Israel und die Völker; 2,21-40 Z.; 4,14-20 An.; 4,27; 6,17.18; 8,26.40; 10,1.13; 10,25; 11,37-12,1 Z.; 14,21; 14,15-24 Z.; 21,24; 21,24 A. Israel; 21,38 A. Endgültiges Kommen; 23,34; 24,47 Heidenmission 2,38 A. Israel und die Völ­ ker; 5,4; 7,3-6; 8,40; 14,21; 24,49 Heil 7,36-50 Z.; 17,11-19 Z.; Rückblick 1. Heiland 2,11; 2,38 A. Israel und die Völker Heilruf 12,35-48 An. Heilsgeschichte 1,3; 1,5-25 Z.; 2,52 A. Christusverkündigung; 4,30 A. Heilsge­ schichte; 21,38 A. Endgültiges Kommen; Rückblick 4. Heilung 17,11-19 Z. Hellenismus 2,38 A. Israel und die Völker; 7,11-17 Z.; 21,24 A. Israel; 24,52.53 Herodes 3,19.20; 9,7.8; 13,31; 21,5; 23,7-16 Herr(Kyrios) 2,11; 5,5; 10,40; 21,15 Herrenmahl -» Abendmahl Himmelfahrt 9,31; 9,51; 19,43; 24,51-53 I Israel, Volk 1,54; 2,10; 2,32; 2,38 A. Israel und die Völker; 2,21-40 Z.; 2,52 A. Christusverkündigung; 3,8; 4,27; 4,30 A.

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Namen- und Sachweiser Heilsgeschichte; 11,37-12,1 Z.; 12,2234 An.; 13,10-17 Z.; 13,33; 13,31-35 Z.; 14,21; 14,33; 21,24 A. Israel J Jerusalem Einl. 2a; 5,17; 9,31; 9,51-19,27; 9,51; 12,50; 13,1-9 An.; 13,6-9; 13,2235; 13,33-35; 13,31-35 Z.; 17,11; 17, 20; 19,11; 19,11-27 Z.; 19,39.40.43.46. 47; 21, 20-24 An.; 21,11.20-23; 21,24; 21.24 A.Israel; 21,37.38; 21,38 A. End­ gültiges Kommen; 23,28.30; 24,49 Johannes der Evangelist 11,1; 21,38 A. Endgültiges Kommen; 22,54-71 An.; 23.25 A. Sonderquelle; 24,12 Johannes der Täufer 1,15.17; 2,27; 2,52 A. Christusverkündigung; 3,2.3; 3,7—20 An.; 3,15.15-20; 7,18; 9,7.8; 16,16 Juden 10,25; 11,37-12,1 Z.; 13,6-9; 14,15-24 Z.; 18,12; 21,24 A. Israel; 21,32; 23,25; 23,34; 23,51; 24,47; Rückblick 4. Jünger 6,20a; 8,10; 9,46-49; 10,1; 12,22.33.34; 12,42; 14,33-35; 18,21.24. 25; 18,34; 22,52; s.a. Apostel Jungfrauengeburt 1,5-2,52; 1,27.31.35; 1,26-38 Z.; 2,1-20 An.; 2,7.12 K Kaiafas 3,2 Kindheitsgeschichten Einl. 2 b; 1,5-2,52; 2,52 A. C hristusverkündigung Kleinglauben 1,5-25 Z.; 9,41 Kommen Jesu 12,35—48 An.; 12,35; 12,35-48 Z.; 17,20-37 An.; 17,22.25. 31; 17,20-37 Z.; 19,12.13; 21,27.28.32; 21,38 A. Endgültiges Kommen Kreuz 22,30 A. Kreuzestod Jesu; 23,21; 23,26; 23,33-49 Z. L Leben nach dem Tode 12,5; 16,23; 20,40; 23,43.46; 24,37.39 Lehre Jesu 10,17; 19,47.48; 21,37.38; 24,19; 24,44; Rückblick 3. Leiden 6,21; 9,31; 18,31.34; 22,30 A. Kreuzestod Jesu Licht - Ewiges 11,36.35 - Kinder des 16,8

Liebe - Gottes 14,25-35 Z.; 15,32; 15,11-32 Z. - als Gebot 6,27.28; 7,43.48.49; 10, 25.33.34.35; 10,25-37 Z.; 17,1-10 Z. - als Geschenk 12,49 Lob Gottes 1,39-42; 1,64; 1,68; 2,20; 17,15 Lukas Einl. 3a—c M Mahl -» Abendmahl Maria 1,5-2,52; 1,26-38; 1,27.34-38; 1,39-56; 2,1-20 An.; 2,7.17.19; 2,34. 35; 2,46.50; 2,52 A. C hristusverkündi­ gung; 11,27.28 Maria aus Magdala 8,1-3 Markion, Markioniun Einl. 3 b; 4,31; 10,21; 11,42; 16,14-18 Z. Menschensohn 9,26; 12,8.9; 17,22.26-30; 19,10; 21,27; 22,70; Rückblick 2. Menschwerdung Gottes 1,5-2,52 Messias 1,69.78; 2,8.11; 3,15-20; 4,1-13 An.; 4,18.19; 9,20; 19,11-27 Z. Mission 8,18; 10,1-16 Z.; 21,38 A. Endgül­ tiges Kommen; 22,36a; s.a. Heidenmis­ sion N

Nachfolge 4,1-13 Z.; 5,1-11 An.; 5,11; 5,1-11 Z.; 6,20--49; 9,23; 9,18-27 Z.; 9,37-50 Z.; 9,57-62 An.; 9,59.60; 14,28-32; 14,25-35 Z.; 18,30; 18,15-30 Z.; 19,1-10 Z.; 19,11-27 Z.; 23,26.27; 23,55 Name - Gottes 1,49; 10,17 - Jesu 4,30 A. Heilsgeschichte; 10,17; 24,47 Namengebung 1,5.13; 1,31; 1,59 Nasiräer 1,15 Nazaret 4,14-30 An.;4,29 O Ostern 5,1-11 An.; 7,16; 24,34 P Parusie -> Kommen Jesu Passa 2,41; 22,1; 22,15-20.24-30 An.; 22,15-17.20 Petrus (Simon) 5,1-11 An.; 6,13; 8,45; 9,22; 9,33; 18,28; 22,31-34 An.; 22,31; 22,58-62; 24,2.12

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Namen- und Sachweiser

Pharisäer 11,37.40; 13,31; 13,31-35 Z.; 15,1-10 Z.; 18,11.12; 18,9-14 Z.; 21,24 A. Israel Politik und Glaube 20,20-26 Z.; 22,36b Priester 1,8 Prophet(en) 1,15.19; 1,76; 2,23-24.28; 2,52 A. C hristusverkündigung; 3,15-20; 7,16; 7,40; 9,7.8; 9,26; 10,17-20 An.; 11,37-12,1 Z.; 13,31-35 An.; 13,33; 13,31-35 Z.; 20,9-19 Z.; 23,26-32 Z. Q Quellen Einl. 1 a-c Qumran 1,33; 1,80; 2,38 A. Israel und die Völker; 4,1-13 An.; 15,2 R Rahner, K. 4,30 A. Heilsgeschichte Rechtfertigung 1,48; 14,7-14 Z.; 15,1132 Z.; 18,9-14 An.;. 18,9; 18,15; 21,24 A. Israel Rechtssätze 12,2-12 An. Redequelle Einl. 1.2a-c; 3,15-20; 5,5 Reich Gottes -» Gottesreich Reiche 16,19-31 An.; 16,19-22.24; 16, 19-31 Z.; 18,21; 18,15-30 Z. Retter 2,11 S Sabbat 4,20.16; 6,4.5.1; 13,10-17 An. u.Z. Samaritaner 9,52; 9,51-56 Z. Satan, Teufel Einl. 2a; 4,2.5-12; 4,1-13 Z.; 8,12; 10,17-20 An.; 10,18; 10,17-20 Z.; 22,3 Schöpfung 10,18; 10,17-20 Z.; 21,38 A. Endgültiges Kommen Schrift - Geltung 11,45-52; 11,37-12,1 Z. - Deutung 21,22; 24,27.31; 24,13-35 Z.; 24,44.45.47 Schriftgelehrte 15,1-10 Z. Seele 8,55; 12,4.5; 20,34.35.40 Simon -> Petrus Sohn -» Gottessohn, -> Menschensohn Sondergut Einl. 1.2b-c; 17,5.6; 23,25 A. Sonderquelle Soziale Verhältnisse 1,51.52; 1,39-56 Z.; 1,67-80 Z.; 3,13.10-14; 6,20b; 8,3; 17,20-37 Z. Stichwort 12,2-12 An.; 12,35-48 An.; 17,5.6

Stil Einl. 2 a - b ; 1,1-4 An.; 2,1-20 An.; 5,12-6,11 An.; 7,36-50 An.; 9,28-36 An.; 12,2-12 An.; 15,1-10 An.; 23,25 A. Sonderquelle; 24,36-53 An. Sühne 2,52 A. Christusverkündigung; 23,34 Sünde 5,6-8; 5,1-11 Z.; 7,37.43; 7,36-50 Z. Sündenvergebung -► Vergebung der Sünden Sünder 15,1-10 Z. T Taufe 18,17 „Taufe“ (= Tod) 12,50 Täuferkreise 1,5-2,52; 2,52 A. Christusver­ kündigung Teilhard de C hardin, P. 4,30 A. Heilsge­ schichte Tempel 1,5.11; 1,5-25 Z.; 2,22.27; 2,21-40 Z.; 2,46; 4,9; 4,16; 4,30A. Heilsgeschichte; 19,45.45-48; 21,5-7 Teufel -» Satan Tod Jesu 12,49; 22,30 A. Kreuzestod Jesu Tradition, Überlieferung 1,1.2; 1,1-4 Z.; 24,13-35 Z. U Überlieferung -> Tradition Umkehr 1,16-17.20; 3,7-20 An.; 3,13; 3,7-9; 5,32; 11,37-12,1 Z.; 15,1-10 An.; 19,1-10 An.; 19,5; 22,32; 24,47 V Verfolgung 21,12.13.16.19 Vergebung der Sünden 1,67-80 Z.; 3,7-20 An.; 4,18.19; 5,10; 5,1-11 Z.; 7,36-50 An.; 7,47.48.49; 15,20-22; 17,1-10 Z.; 23,34; 24,47 Verheißung 12,37.38 Verkündigung 10,16; 10,1-16 Z.; 10,17-20 Z.; 24,36-53 Z. Versöhnung 2,52 A. C hristusverkündigung; 18,13; 19,1-10 Z. Versuchung 4 , 1 ; 4,1-13 Z. Volk - 6 , 2 0 a ; 7,29-30.35; 8,10; 23,4.5; 24,20 - Gottes 2,31.32; 2,38 A. Israel und die Völker; 19,48; 20,1; 23,35 > Israel Vollendung 13,10-17 Z.

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261

Namen- und Sachweiser W Wahrheit 10,1; Rückblick 3.4. Wandern 9,51-19,27; 9,51; 9,51-56 Z.; 9,57.58.60; 12,35; 12,50; 13,22-35; 13,33; 19,28; 20,21; 24,13-15; 24,28 Weihnacht 1,26; 2,1-20; 2,38 A. Israel und die Völker; 19,38 Weisheit 2,41-52 An.; 3,15-20; 7,35; 13,31-35 An.; 14,28-32 Wort - Gottes 1,2; 1,37; 1,26-38 Z.; 1,73; 2,15.17.18; 3,2; 4,16.20.17.21; 4,32. 36.33; 5,1.5; 10,16; 10,1-16 Z.; 16,29-31 - Jesu 10,42; 24,31; 24,13-35 Z.

Wunder(geschichten) 1,5-25; 4,31-44 An.; 5,1-11 An.; 7,11-17 Z.; 7,18.21; 7,36-50 An.; 9,40; 9,51-56 Z.; 10,17; 10,21; 13,10-17 An.; 14,1-6; 23,39; 24,13-35 An.; 24,19 Z Zeichen der Zeit 17,20-37 Z.; 21,25.26 Zeit Gottes 12,56.57 Zeuge 1,2; 2,1-20 Z.; 6,13; 24,49 Zöllner 3,13.10-14; 7,29.30; 15,1-10 Z.; 16,19-31 An.; 18,12.13; 18,9-14 Z.; 19,2; 19,1-10 Z. Zwischenzeit 19,11-27 An.; 19,11-27 Z.; 21,38 A. Endgültiges Kommen; 23,43

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Verzeichnis der Abkürzungen Abkürzungen und Reihenfolge der neutestamentlichen Schriften im Gesamtwerk Mk Mt Lk

Joh Apg Röm

l.Kor 2. Kor Gal

Eph Phil Kol

l.Thess 2.Thess Phlm

l.Tim 2. Tim Tit

Hebr Jak l.Petr

2.Petr l.Joh 2. Joh

3.Joh Jud Offb

Altes Testament Am 1., 2. Chr Dan Esth Ez Hab Hag Hos Jer Jes Jos

= = = = = = = = = = =

Arnos 1., 2. Buch der C hronik Daniel Esther Ezechiel (Hesekiel) Habakuk Haggai Hosea Jeremia Jesaja Josua

1., 2.Kön Mal Mi Nah Neh Ps Ri 1., 2.Sam Sach Spr Zeph

= = = = = = = = = = =

1., 2. Buch der Könige Maleachi Micha Nahum Nehemia Psalm Richter 1., 2. Buch Samuel Sacharja Sprüche Zephanja

Allgemeine Abkürzungen Q = Redequelle, S = (lukanisches) Sondergut, s. Einführung 1 A (Thematische Ausführung, Exkurs), Einl., Schl. s. Einführung 1/Bill., Hennecke s. Literatur am Ende der Einführung ebd. = ebenda/Jh. = Jahrhundert/par. = parallel/s. d., o., u. = siehe dort, oben, unten

Jüdisches Schrifttum 2./1. Jh. v. Chr. Achikar Arist. äth.Hen.

Jub. Judt. LXX

= Spruchsammlung, Ursprung 7. Jh. v.C hr. = Aristeasbrief = äthiopischer Henoch (Entstehungszeit je nach Teil verschieden) = Jubiläen (jüd.-priester­ lich, 2. Jh. v.C hr.?) = Judit(LXX) = Septuaginta (griechische Übersetzung des Alten Testaments)

1.-3. Makk. 4.Makk. Mart. Jes. IQ, 4Q

Ps.Sal. Sir. Test. N.usf. Tob. Weish.

= Makkabäerbücher (LXX) = hellenistisch-jüdisch (1. Jh. v.C hr. oder später) = Martyrium des Jesaja = Qumranschriften (s. Lite­ ratur am Ende der Ein­ führung) = Psalmen Salomos (LXX) = Jesus Sirach (LXX) = Testament Naftali (usf.) = Tobias (LXX) = Weisheit Salomos (LXX)

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Verzeichnis der Abkürzungen

263

Jüdisches Schrifttum 1./2. Jh. n. Chr. und später Apk. Esr. M.

= Apokalypse Esras/Moses (christlich bearbeitet) Dam. = Damaskusschrift (Qumran, s.o.) 4. Esr. = 4.Esra (Ende l.Jh.n.C hr.) Himmelf. M. = Himmelfahrt Moses (l.Jh.n. Chr.) Jos. = Josephus, Jüdische Alter­ tümer/Jüdischer Krieg/ Gegen Apion (Ende 1. Jh., Rom) Jos. As. = Joseph und Asenet (christlich-gnostisch überarbeitet?) Leben Adams = mit Apk. M. verwandt (und Evas)

Od.Sal. Philo Ps.-Philo s.Bar. Sib. sl.Hen.

Targ.Jon.

= Oden Salomos (christlichgnostisch beeinflußt) = viele Schriften (Alexan­ drien, bis 50 n.C hr.) = Pseudo-Philo, Altertümer (von Qumran beeinflußt) = syrischer Baruch (Apoka­ lypse, Ende 1.Jh. n.C hr.) = Sibyllinen (Sammlung hellenistisch-jüdischer Weissagungen) = slavischer Henoch (Grundschrift vor 70 n.C hr., später ausge­ staltet) = Targum Jonatan (freie aramäische Nacherzäh­ lung von 1.—5.Mose)

Christliches Schrifttum 1./2. Jh. n.Chr.. und später Act.Tom. Ap. Konst. Barn. l.Clem. Cyrill Did. Didaskalia Epiphanias Euseb

= Tomasakten (3. Jh., Syrien?) = Apostolische Konstitutio­ nen (4. Jh., Syrien; aber ältere Bestandteile) = Barnabasbrief (2. Jh.) = 1. Clemensbrief (Ende 1. Jh.) = C yrill v. Alexandrien (gest. 444) = Didache (Lehre der zwölf Apostel, Ende 1. Jh., Sy­ rien?) = Ap. Konst. 1-6 (3. Jh., Syrien?) = 4. Jh., C ypern = Eusebius v. C aesarea, Kirchengeschichte (gest. 339)

Ev,Eb., Tom. = Evangelium der Ebioniten, des Tomas (2. Jh.?) Herrn. = Der Hirte des Hermas, Visionen, Gebote, Gleich­ nisse, Rom (Mitte 2. Jh.) Ign. = Ignatius von Antiochien (gest. kurz nach 110) Justin = Justin, der Märtyrer, Dialog, (gest. um 165) Ephesus, Rom Markion = verwirft das A.T., Rom (2. Jh.) Origenes = Alexandrien (185-254) Protev.Jac. = Kindheitsevangelium des Jakobus (Ende 2. Jh.) Ps.-Clem. = Pseudo-C lemens (um 300?) Ps.-Cyprian = dem Cyprian (3. Jh.) fälschlich zugeschriebe­ nes Werk

Griechisch-römische Schriftsteller (meistens in deutscher oder englischer Übersetzung vorhanden) vorchristlich: Aristophanes, C icero, Dionysius von Halikarnass, Epiktet, Epikur, Euripides, Herodot, Homer, Livius, Sophokles, Vergil, Xenophon 1./2. Jh. n. Chr.: Aelian, Diodor von Sizilien, Lukian, Plutarch, Seneca, Sueton später: Libanius, Philostrat, Simplicius

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Inhalt Einführung

1

Vorwort: Was Lukas will 1,1-4

7

I. Kindheitsgeschichten: Johannes und Jesus 1,5-2, 52

10

II. Sammlung der Gemeinde 3,1-9,50

44

III. Unterwegs nach Jerusalem 9,51-19,27

108

IV. Passion und Auferstehung 19,28-24,53

197

Rückblick

253

Namen- und Sachweiser

257

Verzeichnis der Abkürzungen

262

Verzeichnis der thematischen Ausführungen (Exkurse) Israel und die Völker

38

Die Christusverkündigung der Vorgeschichte

43

Heilsgeschichte

60

Zur Bedeutung Israels

211

Endgültiges Kommen und Endgeschichte

215

Zum Verständnis des Kreuzestodes Jesu

225

Sonderquelle (S) in der Passionsgeschichte?

235

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